Die Kirchengemeinde - Sozialsystem im Wandel: Analysen und Anregungen für die Reform der evangelischen Gemeindearbeit 9783110806311, 9783110155723

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Die Kirchengemeinde - Sozialsystem im Wandel: Analysen und Anregungen für die Reform der evangelischen Gemeindearbeit
 9783110806311, 9783110155723

Table of contents :
Einleitung
I. Religion-as-practised: Religiosität und Kirchlichkeit vom 16. bis 19.Jahrhundert
1. Die frühen Weichenstellungen
2. Die Durchführung der Reformation im 16. und 17.Jahrhundert
3. Das 18.Jahrhundert
4. Das 19.Jahrhundert
5. Ergebnisse
II. 100 Jahre Reform der evangelischen Gemeindearbeit
1. Die Reformdiskussion zu Beginn des 20. Jahrhunderts
2. Die Spandauer Missionsthesen der VELKD von 1958
3. Konzeptionen der evangelischen Gemeindearbeit seit den 60er Jahren - Die profilierte Spitze der Gemeindearbeit
4. Denkanstöße und Konzeptionen für eine volkskirchlich orientierte Gemeindearbeit
5. Zwei kircheneigene Publikationen über die evangelische Gemeindearbeit
6. Vorschläge zur Verbesserung der Gemeindekultur
7. Ergebnisse und Beurteilung
III. Systemtheoretische Grundlagen
1. Wissenschaftstheoretische Vorüberlegungen
2. Grundbegriffe der Systemtheorie
3. Die Bedeutung des Menschen im Prozeß der Systementstehung - Ein Systementwicklungsmodell
4. Ergebnisse und Übersichtstabellen
IV. Systementstehung - Gemeinde und Kirche im Neuen Testament
1. Jesus verkündigt das "Reich Gottes"
2. Impulse, die über Jesu Tod hinaus weisen
3. Die ecclesia invisibilis als religiöses Referenzsystem der sozialen Systemgründungen
4. Die Vielstimmigkeit der Anfänge christlicher Selbstorganisation
5. Unterwegs zur Einheit der ecclesia visibilis
6. Ergebnisse
V. Die evangelischen Landeskirchen als Sozialsysteme im Wandel
1. Systemtheoretische Überlegungen zum Systemwandel
2. Wandlungsimpulse I: Die Gesellschaft als Umwelt
3. Wandlungsimpulse II: Das Verhältnis von Landeskirche und ecclesia invisiblis
4. Wandlungsimpulse IE: Die Landeskirchen als gealterte Sozialsysteme
5. Wandlungsimpulse IV: Die Landeskirche als ausdifferenzierte Großorganisation
6. Kirche leiten im Wandel: Die Kirchenleitung zwischen Wollen, Können und Dürfen
7. Die Landeskirchen als wandlungsgehemmte Sozialsysteme
VI. Die Religiosität der Kirchenmitglieder
1. Kirchenordnung und Mitgliederfrömmigkeit
2. Empirische Daten über Religiosität und Kirchlichkeit der Kirchenmitglieder
3. Die Religiosität des zerrissenen Menschen - Interpretation der Umfragedaten
4. Ergebnisse
VII. Die Kirchengemeinde im Wandel
1. Spannungen, unter denen sich die Gemeindearbeit vollzieht
2. Systemtheoretische Aspekte der Entstehung informaler Ordnungen
3. Informale Ordnungen in den Ortskirchengemeinden
4. Christsein entfalten - Diskussionsvorschlag für die konzeptionelle Neuordnung der parochialen Gemeindearbeit
VIII. Methodenkritischer Rückblick
Anhang: Aktivitäten einer Kirchengemeinde
Stichwortverzeichnis
Literaturverzeichnis

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Rudolf Roosen Die Kirchengemeinde — Sozialsystem im Wandel

W DE G

Arbeiten zur Praktischen Theologie Herausgegeben von Karl-Heinrich Bieritz, Wilfried Engemann und Christian Grethlein

Band 9

Walter de Gruyter · Berlin · New York

1997

Rudolf Roosen

Die Kirchengemeinde — Sozialsystem im Wandel Analysen und Anregungen für die Reform der evangelischen Gemeindearbeit

Walter de Gruyter · Berlin · New York 1997

® Gedruckt auf säurefreiem Papier, das die US-ANSI-Norm über Haltbarkeit erfüllt.

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Roosen, Rudolf: Die Kirchengemeinde - Sozialsystem im Wandel : Analysen und Anregungen für die Reform der evangelischen Gemeindearbeit / Rudolf Roosen. - Berlin ; New York : de Gruyter, 1997. (Arbeiten zur Praktischen Theologie ; Bd. 9) Zugl.: Mainz, Habil.-Schr., 1996 ISBN 3-11-015572-9 NE: GT

© Copyright 1997 by Walter de Gruyter & Co., D-10785 Berlin Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechdich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Ubersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany Druck: Werner Hildebrand, Berlin Buchbinderische Verarbeitung: Lüderitz & Bauer-GmbH, Berlin

Inhaltsverzeichnis

Einleitung I.

1

Religion-as-practised: Religiosität und Kirchlichkeit vom 16. bis 19.Jahrhundert

21

1. 2. 3. 4. 5.

Die frühen Weichenstellungen Die Durchführung der Reformation im 16. und 17.Jahrhundert Das 18. Jahrhundert Das 19.Jahrhundert Ergebnisse

22 30 44 49 58

II.

100 Jahre Reform der evangelischen Gemeindearbeit

60

1. 2. 3.

60 87

6. 7.

Die Reformdiskussion zu Beginn des 20. Jahrhunderts Die Spandauer Missionsthesen der VELKD von 1958 Konzeptionen der evangelischen Gemeindearbeit seit den 60er Jahren - Die profilierte Spitze der Gemeindearbeit Denkanstöße und Konzeptionen für eine volkskirchlich orientierte Gemeindearbeit Zwei kircheneigene Publikationen über die evangelische Gemeindearbeit Vorschläge zur Verbesserung der Gemeindekultur Ergebnisse und Beurteilung

147 166 168

III.

Systemtheoretische Grundlagen

184

1. 2. 3.

Wissenschaftstheoretische Vorüberlegungen Grundbegriffe der Systemtheorie Die Bedeutung des Menschen im Prozeß der Systementstehung Ein Systementwicklungsmodell Ergebnisse und Übersichtstabellen

184 192 209 229

Systementstehung - Gemeinde und Kirche im Neuen Testament

234

4. 5.

4. IV. 1. 2. 3. 4. 5. 6.

Jesus verkündigt das "Reich Gottes" Impulse, die über Jesu Tod hinausweisen Die ecclesia invisibilis als religiöses Referenzsystem der sozialen Systemgründungen Die Vielstimmigkeit der Anfange christlicher Selbstorganisation Unterwegs zur Einheit der ecclesia visibilis Ergebnisse

108 119

235 251 259 263 282 310

VI

V. 1. 2. 3.

Inhaltsverzeichnis

Die evangelischen Landeskirchen als Sozialsysteme im Wandel

315 317 319

7.

Systemtheoretische Überlegungen zum Systemwandel Wandlungsimpulse I: Die Gesellschaft als Umwelt Wandlungsimpulse II: Das Verhältnis von Landeskirche und ecclesia invisiblis Wandlungsimpulse ΙΠ: Die Landeskirchen als gealterte Sozialsysteme Wandlungsimpulse IV: Die Landeskirche als ausdifferenzierte Großorganisation Kirche leiten im Wandel: Die Kirchenleitung zwischen Wollen, Können und Dürfen Die Landeskirchen als wandlungsgehemmte Sozialsysteme

VI.

Die Religiosität der Kirchenmitglieder

417

1. 2.

418

4.

Kirchenordnung und Mitgliederfrömmigkeit Empirische Daten über Religiosität und Kirchlichkeit der Kirchenmitglieder Die Religiosität des zerrissenen Menschen - Interpretation der Umfragedaten Ergebnisse

VII.

Die Kirchengemeinde im Wandel

524

1. 2.

Spannungen, unter denen sich die Gemeindearbeit vollzieht Systemtheoretische Aspekte der Entstehung informaler Ordnungen Informale Ordnungen in den Ortskirchengemeinden Christsein entfalten - Diskussionsvorschlag für die konzeptionelle Neuordnung der parochialen Gemeindearbeit

525

4. 5. 6.

3.

3. 4.

VIII. Methodenkritischer Rückblick

339 358 382 397 409

421 454 520

532 542 598 616

Anhang: Aktivitäten einer Kirchengemeinde

620

Stichwortverzeichnis

623

Literaturverzeichnis

626

Als dem ersten Menschen die Augen aufgingen und er erkannte, daß er nackt war, trug er Sorge, sich selbst vor den Blicken seines Schöpfers zu verhüllen; so entstand die Geschicklichkeit im Verbergen beinahe zugleich mit der Welt. Torquato Accetto Von der ehrenwerten Verhehlung, 1641

Einleitung Die Refinanzierungsautomatik der evangelischen Landeskirchen ist ins Stottern geraten und hat ins Bewußtsein zurückgerufen, daß die Landeskirchen neben anderem auch hochkomplexe Sozialsysteme sind, die als solche eben nicht nur vom Glauben allein, sondern auch vom Brot leben. Wenn in einer Landeskirche so tiefe Einschnitte erforderlich werden, daß Kirchen zu schließen, Gemeindehäuser zu verkaufen, Gehaltstrukturen zu verschlechtern und Mitarbeiterstellen zu streichen sind, dann läßt sich der Organisationscharakter der Landeskirchen nicht länger übersehen. Auch Landeskirchen lassen sich mit betriebswirtschaftlichen Mitteln rationalisieren und optimieren. Die Priorität der professionellen Finanzsteuerung aber bleibt systemintern nicht ohne mentalitätsverändernde Folgewirkungen. Indem sie die Kosten senken, haben die evangelischen Landeskirchen Geister aufgeweckt, die sie jahrzehntelang erfolgreich verdrängen konnten. Als die Mitgliedskirchen 1948 die "Grundordnung" der EKD verabschiedeten, wollten sie damit auch Konsequenzen aus der jüngsten Vergangenheit ziehen (vgl. Kap.II 2a) und erklärten die EKD unter Bezugnahme auf die Barmer Theologische Erklärung vom 31.5.1934 zu einer "bekennenden Kirche". Der Ertrag des Kirchenkampfes sollte verkirchlicht werden. Daß die gesellschaftlichen Verhältnisse nach 1945 vollkommen andere geworden waren, blieb ebenso außer Acht wie tiefer zurückreichende Erfahrungen und Einsichten in den Organisationscharakter von Volkskirchen. Die Frage, ob denn hochkomplexe Sozialsysteme wie die evangelischen Landeskirchen überhaupt Bekenntnisgemeinschaften sein können, wurde kaum einmal gestellt. Eine der einfachsten Grundregeln der Systementwicklung beantwortet die Frage: Bei anwachsender Systemkomplexität sinkt die Systemkohärenz ab und die systeminternen Kontingenzspielräume wachsen an. Diese Regel besagt nicht weniger, als daß es einer sozialen Großorganisation mit hoher mehrschichtiger Komplexität und ausgeprägten Freiräumen für sämtliche Mitglieder, wie sie die evangelischen Landeskirchen nun einmal darstellen, schlicht und einfach unmöglich ist, den gesamten Lebensalltag ihrer Mitglieder zu durchdringen und

2

Einleitung

zu gestalten. Ein innersystemisches Selbstverständnis, das auf hohe Systemkohärenz, hohe intrinsische Motivation und möglichst geringe Kontingenzspielräume der Mitglieder abzielt, ist (wenn man von den Möglichkeiten autoritärster Führung absieht) grundsätzlich nur in überschaubar kleinen Sozialsystemen realisierbar. In einem Sozialsystem, dem allein in Westdeutschland im Jahr 1950 mehr als 24 Millionen evangelische Christen angehörten^, aber war und ist das schon allein aus numerischen Gründen unrealistisch und unrealisierbar. Man kann nicht beides gleichzeitig haben, eine volkskirchliche Größenordnung und eine hohe intrinsische Glaubensmotivation unter sämtlichen Mitgliedern. Hier muß man sich entscheiden. Faktisch haben sich die Landeskirchen auch entschieden, und zwar für den Bestand der Größenordnung. Konzeptionell aber wollten sie nichts von dieser Entscheidung wissen. Eine Bewußtseinsspaltung griff um sich, die noch heute ohne Schwierigkeiten in vielen kirchenoffiziellen Positionspapieren und Verlautbarungen auszumachen ist (vgl. Kap.Π 2b, 5.1, 5.2). Damit begannen die Probleme für die Praxis der evangelischen Gemeindearbeit. In der Gemeindearbeit geschah weiterhin alles das, was nötig war, um der volkskirchlichen Größenordnung gerecht zu werden: Taufen, Trauungen, Beerdigungen, Konfirmandenunterricht, Schulgottesdienste und Seelsorge an sämtlichen Kirchenmitgliedern blieben selbstverständlicher Bestandteil des pfarramtlichen Aufgabenkatalogs. Darüber aber schob sich das Leitbild von der "bekennenden Gemeinschaft", das im Vollzug der Gemeindearbeit zu operationalisieren war. Die Volkskirchen, die gern bekennende Kirchen sein wollten, haben über Jahrzehnte hinweg erfolglos versucht, ihr Kohärenzniveau gegen den Willen und gegen die Interessen ihrer Mitglieder, aber auch gegen die Grundgesetze der Systementwicklung, anzuheben. Sie wollten die hohe Systemkomplexität einer volkskirchlichen Großorganisation aufrecht erhalten, gleichzeitig aber die Systemkohärenz verdichten und die Mitgliederkontingenzen reduzieren. Deshalb erklärten sie die Volksmission zur vordringlichen Aufgabe. Erklärtes Ziel ihrer Bemühungen wurde die Verkirchlichung der Mitglieder (vgl. Kap.II 2b-e). Systemtheoretisch betrachtet gleicht das dem Versuch einer Quadratur des Kreises. Rückblickend ist man erstaunt, wie zahlreich und umfangreich die Bemühungen sind, die dieses ambitionierte, aber bezogen auf das große Ziel doch letztlich völlig aussichtslose Vorhaben auf allen kirchlichen Ebenen hervorgebracht hat. Daß angesichts der verfehlten Zielvorgaben kaum etwas anderes möglich war, als die Praxis der tatsächlich ja längst bereits vorhandenen parochialen Gemeindearbeit konzeptionell weitgehend auszublenden, wurde erstaunlich selten bemerkt. Nicht der Alltag der parochialen Gemeindearbeit, sondern visionäre Kirchenkonstrukte standen seit den 50er Jahren hoch im Kurs. Viele der seither entstandenen Konzeptionen für die evangelische Gemeindearbeit haben bei allen Unterschieden im Detail eines gemeinsam: sie 1

Vgl. die Tabelle in G.Bormann / S.Bormann-Heischkeil: Theorie und Praxis kirchlicher Organisation, Opladen 1971, S.67

Einleitung

3

werden der vieldimensionalen Komplexität der volkskirchlichen Parochien nicht gerecht. Sie arbeiten mit unzureichenden, verkürzten Leitbildern und Idealvorstellungen von Kirche, die im Arbeitsalltag der Parochien allenfalls marginale Entsprechungen finden. Mit einer Formulierung von Ernst Lange: Sie "erfinden" die Kirche, auf die sie sich beziehen "immer gleich mit".2 Damit aber haben sie die gesellschaftliche Marginalisierung der Landeskirchen und den Rückzug der Mitarbeiter/innen von den Kirchenmitgliedern noch gefördert. Viele Theologengenerationen sind ins Gemeindepfarramt gegangen, die dem Ideal einer religiös hochmotivierten Gruppe, der Gemeinschaft derer, "die mit Ernst Christen sein wollen" (Martin Luther), verpflichtet waren. Was sie aber in ihrem Berufsalltag vorfanden, waren Großkirchengemeinden mit tausenden von Mitgliedern, wenig Engagement, niedriger Motivation und einer eher unübersichtlich, diffusen Kirchlichkeit. Beides paßte nicht zusammen und hat nicht selten dazu geführt, daß Pfarrerinnen und Pfarrer über viele Jahrzehnte ihres Berufslebens hinweg in Kirchengemeinden arbeiten, deren Strukturen und Spielregeln sie innerlich nicht akzeptieren und gleichzeitig an der Idee von einer freien, engagierten und motivierten Gemeinde festhalten, die eine volkskirchliche Parochie nicht ist und auch nicht sein kann. Die vorliegende Arbeit möchte einen Anstoß dazu geben, das verschüttete Bewußtsein für den System- und Organisationscharakter von Kirchengemeinden und Landeskirchen zurückzugewinnen. Sie wurde in der Hoffnung geschrieben, daß sich das autistisch anmutende Interim, in dem sich die Konzeptionsentwicklung für die evangelische Gemeindearbeit befand, seit der "Wende" des Jahres 1989 dem Ende entgegen neigt. Die kostensenkende Kirche ist eine Kirche, die sich ihrer Systemsteuerungsmöglichkeiten bedient und dadurch das Bewußtsein für ihren Organisationscharakter revitalisiert. Die Ortskirchengemeinde ist nur einer der Bereiche, in dem die Gesamtentwicklung, von der die Landeskirchen zur Zeit betroffen sind, deutlich wird. Sie ist exemplarisch ausgewählt worden, weil sie nach wie vor als das schlagende Herz der evangelischen Landeskirchen anzusehen ist. Auch die Ortskirchengemeinden stehen heute unter massiven internen wie externen Wandlungs- und Anpassungsimpulsen. Auch sie sind "Sozialsysteme im Wandel". Die Ergebnisse der kirchensoziologischen Umfragen deuten darauf hin, daß die Mitgliederzahlen in absehbarer Zeit kleiner werden, aber wohl nicht ins Bodenlose absinken werden. 3 Die Erwartungen an die Kirchengemeinden bleiben ungebrochen hoch und die Arbeitsfelder, auf denen ein kirchliches Engagement ge-

2

E.Lange: Überlegungen zu einer Theorie kirchlichen Handelns (1972), in: Kirche für die Welt. Aufsätze zur Theorie kirchlichen Handelns, hg.v. R.Schloz, München 1981, S.208 3 Studien- und Planungsgruppe der EKD (Hg.): Fremde Heimat Kirche. Erste Ergebnisse der dritten EKD-Umfrage über Kirchenmitgliedschaft, Selbstverlag Hannover 1993, S.9; Spiegel-Umfrage: Was glauben die Deutschen?, in: Der Spiegel Nr.25 vom lS.Juni 1992 (46.Jgg.) S.57

4

Einleitung

wünscht wird, könnten sogar noch weiter zunehmen.4 Gleichzeitig aber sind die organisatorischen und personellen Schwierigkeiten in den Ortskirchengemeinden stark angewachsen. Im Blick auf die Parochien vermittelt sich also ein ambivalenter Eindruck: Einerseits scheint die parochiale Organisationsstruktur der Volkskirche auch auf mittlere Sicht nicht ernsthaft gefährdet zu sein. Die Parochie verfügt ebenso wie die Gemeindefrömmigkeit über ein starkes Beharrungsvermögen. Schon dieses Beharrungsvermögen legt es nahe, die Parochien nicht länger konzeptionell abzuschreiben^, sondern sich ihnen zuzuwenden, um sie besser als bisher zu verstehen. Auf der anderen Seite aber mehren sich Anzeichen dafür, daß die bewährte Konzeption der evangelischen Gemeindearbeit, die "Evangelische Gemeindepflege"6, in den letzten Jahrzehnten zunehmend an Grenzen stößt. Nahezu ungebrochen hat das Konzept, das sich zu Beginn unseres Jahrhunderts, also noch in der Kaiserzeit, aus einer Krise der evangelischen Gemeindearbeit heraus entwickelte, die Weimarer Republik und das Dritte Reich überlebt und schließlich nach dem zweiten Weltkrieg im Zuge ständig ansteigender finanzieller Möglichkeiten und anschwellender Mitarbeiterzahlen sogar eine neue Blüte erlebt. In Zeiten zunehmend überalternder Gemeindegruppen, unübersehbar gewordener Milieuverengung, schwindender Teilnahmebereitschaft und sinkender Geldmittel zeichnet sich nun aber eine Trendwende ab. Das Gemeindepflegekonzept selbst wird zur Diposition gestellt werden müssen, weil es vor Ort zunehmend schwerer wird, bei insgesamt schrumpfenden Möglichkeiten die im Laufe von Jahrzehnten additiv angewachsene und breit diversifizierte Angebotspalette aufrecht zu erhalten. Es geht also nicht um ein prognostiziertes "Ende der Parochie", wohl aber um den Eindruck, daß die traditionellen Arbeitsformen und damit einhergehend auch das traditionelle Selbstverständnis der Mitarbeiter/innen, sich einem Ende entgegenneigen. Die konzeptionelle Erneuerung der parochialen Arbeit wird notwendig. Aber ohne eine "wirklichkeitsgerechte, auch den vorfindlichen Zustand begreifende Theorie der Volkskirche" und der Ortskirchengemeinde ist sie nicht zu haben. Beides zu entwickeln ist das Bestreben der hier vorliegenden Arbeit.

Acht Vorbemerkungen zur Orientierung Die nachfolgenden acht Vorbemerkungen sollen einer ersten Orientierung über den Zuschnitt der Arbeit und die verwendete Methode dienen:

4

5

6

J.Hanselmann u.a. (Hg.): Was wird aus der Kirche? Ergebnisse der zweiten EKD-Umfrage über die Kirchenmitgliedschaft, Gütersloh 1984, bes. S. 121-137 (im folgenden zitiert als "EKD II"); Fremde Heimat, bes. S. 15-21 Schon bei Sülze und Hilbert findet man die Behauptung: "Parochien sind keine Gemeinden" - E.Sulze: Die evangelische Gemeinde (1891), Leipzig ^1912, S.35f u.ö., aber auch G.Hilbert: Ecclesiola in ecclesia. Luthers Anschauungen von Volkskirche und Freiwilligkeitskirche in ihrer Bedeutung für die Gegenwart, Leibzig u.ö. 1920, S.54 u.ö. J.Schoell: Evangelische Gemeindepflege. Handbuch für evangelisch-kirchliche Gemeindearbeit, Heilbronn 1911

Acht Vorbemerkungen

5

1. Modelltheoretischer Ansatz: Vor dem Hintergrund einer theologischen Forschungslandschaft, in der sich in den vergangenen Jahrzehnten in rascher Folge neue Ansätze, Zugänge, Theorien und Methoden abwechselten, deren Gemeinsamkeit zuweilen auch darin bestand, nach beträchtlichem Terminologie- und Theoriegetöse ein unscheinbares Mäuslein der Erkenntnis hervorzubringen, sind Ernüchterungs- und Ermüdungserscheinungen angesichts "neuer" Methoden verständlich. Da sich auch die vorliegende Arbeit nicht nur in altvertrauten Bahnen bewegen wird, sondern die soziologische Systemtheorie rezipiert, die nicht unbedingt zum gängigen Methodenarsenal der Theologie gehört, ist eine wissenschaftstheoretische Vorbemerkung erforderlich.^ Die Arbeit basiert methodisch auf einem modelltheoretischen Wissenschaftsverständnis.^ Alle Beschreibungsmodelle reduzieren die Komplexität der Wirklichkeit, indem sie einzelne Faktoren, Aspekte oder Relationen herausstellen, andere dagegen ausblenden. Das bringt Vorteile, aber auch angebbare Nachteile mit sich. Gute Modelle zeichnen sich häufig schon durch ihre Einfachheit aus. Ihre Qualität läßt sich auch daran erkennn, daß sie mit wenigen Strichen Wesentliches darzustellen und zu verstehen erlauben, gleichzeitig aber auch weitreichende Folgerungen ermöglichen. Wird ein derartiges Modell einem Untersuchungsgegenstand konfrontiert (z.B. die allgemeinen Systemgesetze und die Verhältnisse in den Landeskirchen und den Ortskirchengemeinden), dann lassen sich Übereinstimmungen und Abweichungen feststellen. Modelltheoretisches Arbeiten ist also, schlicht formuliert, zunächst einmal die Suche nach Identität und Differenz zwischen Modell und Untersuchungsgegenstand. Aus beidem erwächst wissenschaftliche Erkenntnis. Wenn methodisch sauber gearbeitet wird, läßt sich stets angeben, wie die vorgelegten Forschungsergebnisse zustande gekommen sind. Sie lassen sich nachvollziehen, überprüfen und kritisieren und unterscheiden sich in dieser Hinsicht grundlegend von einem bloßen Diskurs privater Überzeugungen, Meinungen oder Ansichten. Ein weiteres kommt hinzu. Wer modelltheoretisch arbeitet, weiß, daß er stets nur mit Bruchstücken einer sehr viel komplexeren Wirklichkeit operiert. Schon die selektive Auswahl der Aspekte, aus denen ein Modell zusammengesetzt ist, hält das Wissen um die Vorläufigkeit, die Beschränktheit und die prinzipielle Revidierbarkeit der modelltheoretisch erarbeiteten Forschungsergebnisse wach. Wenn die Annahme richtig ist, daß volkskirchliche Parochien auch (!) soziale Systeme sind, dann wird es möglich sein, die Gesetzmäßigkeiten der allgemeinen Systemtheorie - als Übereinstimmung oder Abweichung - in ihnen wiederzufinden. Was von daher über die Landeskirchen und die Kirchenge7 8

Eine differenziertere Darstellung erfolgt in Kap. III 1 Schon in meiner Dissertation (unter meinem Geburtsnamen: R.Fleischer) habe ich diesen modelltheoretischen Ansatz verfolgt. Dort wurden mit Hilfe der Semiotik die "Verständnisbedingungen religiöser Symbole" erhellt, was implizierte, die Zeichenklassen sauber zu analysieren. Hier wird nun mit Hilfe der Systemtheorie ein Modell der Systementwicklungsstadien erarbeitet werden, das weitreichende Konsequenzen für die Frage nach einer sinnvollen Konzeption für eine dezidiert volkskirchlich orientierte Gemeindearbeit hat.

6

Einleitung

meinden gesagt werden kann, ist, wie sich zeigen wird, nicht wenig. Aber es ist gewiß nicht alles, was insgesamt über sie zu sagen wäre. Das modelltheoretische Verfahren bringt es mit sich, daß der Anspruch nicht erhoben werden kann, mit Hilfe der Systemtheorie allein lasse sich ein lückenloses Gesamtbild der Parochie erstellen. Die Analysen werden sich vielmehr auf die Aspekte beschränken, die mit dem Instrumentarium der Systemtheorie zu erfassen sind. Sie dienen insbesondere der verbesserten Selbsteinschätzung und Selbsterkenntnis der evangelischen Landeskirchen. Im Verlauf der Untersuchung wird sich an einem wichtigen Punkt zeigen, wie begrenzt der Theorierahmen der Systemtheorie ist. Um die Logik der Mitgliederreligiosität zu verstehen, war es erforderlich, den Rahmen der Systemtheorie zu verlassen und ein anderes Theoriegebäude, die "Spieltheorie", heranzuziehen (s.u. Kap. VI 3.2).9 2. System, Organisation, Institution - Begriffsabgrenzungen: Die Begriffe "System", "Organisation" und "Institution" überschneiden sich in ihrem Bedeutungsgehalt. Wenn der Systembegriff hier den anderen beiden vorgezogen worden ist, dann ist das kurz zu begründen.^ Der Institutionenbegriff beinhaltet eine kulturelle Dimension und ist unter soziologischem Aspekt zu wenig trennscharf. "Den im eigentlichen Sinn faßbaren Bestandteil der Institution bildet ihre Organisation". 11 Organisationen sind zwar immer soziale Systeme, aber umgekehrt gilt das nicht. Es gibt soziale Systeme (z.B. Vereine, Gruppen oder Familien), die unterhalb der Komplexitätsschwelle von sozialen Großorganisationen liegen. Gerade diese "kleineren" Sozialsysteme aber sind im Innenleben der Ortskirchengemeinden vielfaltig präsent. Sie befinden sich in einem Systementwicklungsstadium, in dem sie, verglichen mit komplexeren Systemen, deutlich anderen Systemgesetzen unterliegen. Weiter unten wird das dargestellt werden. Von daher erschien es sinnvoll, den Systembegriff als Oberbegriff zu verwenden. Innerhalb dieses Beschreibungsrahmens werden mehrere Systementwicklungsstadien mit anwachsendem Komplexitätsgrad unterschieden werden. Die "Organisation" stellt in diesem Schema lediglich einen Systemtyp dar. Wo es im folgenden um Sozialsysteme dieser Größenordnung gehen wird, wird der Forschungsstand der Organisationsforschung einbezogen und auch der Organisationsbegriff häufiger verwendet werden. Im übrigen wird der Systembegriff als Leitbegriff verwendet.

9

Was damit über die Grenzen von Erklärungsmodellen gesagt ist, ist auch vom Autor selbst zu sagen. Er versteht sich nicht als "Systemtheoretiker" und behält sich vor, in einer späteren Publikation wohl dem modelltheoretischen Wissenschaftsverständnis, nicht aber der Systemtheorie treu zu bleiben. 10 Vgl. den Diskussionsüberblick bei E.Harms: Religion und Organisation, in: Ders.(Hg.): Erfahrbare Kirche, Tübingen 1990, S.51f Anm.10; B. Kappenberg : Kommunikationstheorie und Kirche, Frankfurt/M. 1981, S. 116-134 11 D.Rössler: Die Institutionalisierung der Religion, in: W.Lohff / L.Mohaupt (Hg.): Volkskirche - Kirche der Zukunft?, Hamburg 1977, S.48 12 W.Girschner: Theorie sozialer Organisationen, Weinheim u.ö. 1990

Acht Vorbemerkungen

7

3. Volkskirchlicher Ansatz: Der Begriff "volkskirchlich" ist, wo er im folgenden verwendet wird, dem Sprachgebrauch der kybernetischen Theoriebildung entnommen. Faktisch gibt es - im engen Wortsinn - aufgrund des Nebeneinanders der großen Konfessionskirchen in Deutschland schon seit der Reformation keine Volkskirche mehr. 13 in der Diskussion über Konzeptionen der evangelischen Gemeindearbeit aber sind die Begriffe "bekenntnisgemeindlich" bzw. "missionarisch" einerseits und "volkskirchlich" andererseits zur Abgrenzung der widerstreitenden Konzeptionsansätze eingebürgert. Der signifikanteste Unterschied zwischen beiden Konzeptionstypen liegt wohl im anvisierten Komplexitätsgrad der jeweiligen Gemeinde. Während die erstgenannten Ansätze am Leitbild kleinerer Gruppengemeinschaften orientiert sind (familiäre Kommunikationsstrukturen, Geborgenheit in der Gruppe, wenige hundert Mitglieder, relativ homogene Glaubens- und Wertorientierungen), gehen volkskirchliche Ansätze von einer deutlich höheren, mehrdimensionalen Komplexität und Inhomogenität in den Gemeinden aus. Als "volkskirchliche Parochien" in diesem Sinne gelten Kirchengemeinden mit folgenden Merkmalen: Vollmitgliedschaft von Menschen aus allen sozialen Schichten, unterschiedlichsten Bildungsniveaus, unterschiedlichster Glaubensüberzeugungen und mit stark divergierendem Teilnahmeverhalten; pastorale Zuständigkeit für mehrere tausend Kirchenmitglieder, deren verbindendes Merkmal ihr Wohnsitz innerhalb eines lokal eindeutig begrenzten Raumes ist (Parochialprinzip); "Gemeindeleben" unter selektiver und partieller Beteiligung von Gemeindemitgliedern. 4. Vorsätzliche Mitgliederorientierung: Es gibt keine Konzeptionsentwicklung für die evangelische Gemeindearbeit, die nicht mit einem impliziten oder explizierten Bild von den Kirchen- und Gemeindemitgliedern arbeitet. 14 Wer die Gemeindemitglieder als "kirchenfern" ansieht, wird darauf bedacht sein, sie näher an die Kirche heranzuholen und über Strategien der "Einladung" und der missionarischen "Verdichtung" von Gemeinde nachdenken. 15 Wer sie "in der Halbdistanz" sieht, wird das Katechumenat wiederentdecken usw. Von daher erscheint es angebracht, an dieser Stelle bereits darauf hinzuweisen, daß die Frömmigkeit und das Teilnahmeverhalten der Kirchenmitglieder im folgenden keiner qualitativen Vorabbewertung unterworfen werden. Die Eigenarten der Mitgliederreligiosität werden als quantitativ signifikant ausgeprägtes und damit auch nicht ignorierbares Faktum zunächst einmal hingenommen. Die Untersuchung interessiert sich besonders für die evangelische "Normalfrömmigkeit", für die Mitgliedschaftsmotivationen und das Teilnahmeverhalten, das vom weit überwiegenden Teil aller Kirchenmitglieder an den Tag gelegt wird. Sie wird 13 Zur Begriffsverwendung vgl. T.Koch: Die Volkskirche - meine Kirche, in: PTh 73/1984, S. 170-183; C.Möller: Lehre vom Gemeindeaufbau, Bd.I, Göttingen 2 1987, S.30f 14 Ebenso gibt es keine Konzeption, die nicht mit einem impliziten oder explizierten Bild von der Kirche, der Zeit und der Gesellschaft arbeitet: K.-F.Daiber: Funktion und Leistungsfähigkeit von Konzepten und Strategieüberlegungen für den Gemeindeaufbau, in: PTh 78/1989, S.362-380 (s.u. Kap.II 5.1e 1.) 15 Typisch für volksmissionarische Ansätze s.u. Kap.II 2b und II 3.2 16 L.Mohaupt: Volkskirche? Volkskirche!, in: PTh 84/1995, S.646-649

8

Einleitung

versuchen, diese Normalfrömmigkeit in ihrer eigenen Plausibilität und ihrer eigenen Logik zu verstehen. Von den so gewonnenen Analysedaten her wird sie denken und auf sie hin wird sie einen Vorschlag für die Neukonzeption der evangelischen Gemeindearbeit entwickeln. Die Konzeptentwicklung wird vorsätzlich darauf verzichten, die zur Realisierung der Konzeption erforderlichen Gemeindemitglieder gleich mit zu erdenken. Eine derartige Verzichtsleistung ist in Publikationen über die evangelische Gemeindearbeit zur Zeit leider noch nicht selbstverständlich. Die dritte EKD-Umfrage zeigt, wieviel Umdenken gerade an diesem Punkt in den Landeskirchen noch erforderlich ist: Nach der "Wende" des Jahres 1989 konnten nämlich erstmals auch die Kirchenmitglieder in den neuen Bundesländern befragt werden. Während der sozialistischen Diktatur haben sich dort große Teile der Bevölkerung von den Kirchen abgewandt. Waren im Jahr 1950 noch 80,6% der Bevölkerung evangelisch, 11% katholisch und 7,6% konfessionslos, so gab es 1991 noch 28,8% Evangelische, 5,5% Katholiken und 64,7% K o n f e s s i o n s l o s e . ^ Unter den westdeutschen Theologen war kurz nach dem Fall der Mauer die Annahme verbreitet, die ehemaligen DDR-Kirchen hätten sich durch diesen Aderlaß gewissermaßen "gesund geschrumpft". Zurückgeblieben seien "harte Kerne" von wirklich engagierten Christen. Die verbliebenen Gemeinden könnten mithin einer im geistlichen Sinne geradezu idealen Zukunft entgegen sehen. Die Vorstellung, "Kirche fur andere" zu sein, eine Konzeption der 60er und 70er Jahre, schien in greifbare Nähe zu rücken und realisierbar zu werden. Doch diese Erwartung trog. Die dritte EKD-Umfrage hat eindeutig belegt, daß das differenzierte, immer wieder als "distanziert" mißverstandene Mitgliederverhalten in einer Volkskirchen geradezu konstitutiv ist. Es bleibt nahezu unverändert auch dann erhalten, wenn viele oder sogar sehr viele sich von der Kirche abwenden. "Die Hoffnung, daß die Kirche sich mit der Verringerung der Mitgliederzahlen sozusagen automatisch gesundschrumpfen würde, hat sich nicht e r f ü l l t " . ^ Es gibt auch auf dem stark herabgesetzten Mitgliedschaftsniveau der neuen Bundesländer nur wenige Gruppengemeindechristen. Aber es gibt nach wie vor viele, die ihre Mitgliedschaft anders verstehen und seltener praktizieren. Das Mitgliedschaftsverhalten des überwiegenden Teils der Kirchenmitglieder unterliegt einem stabilen Muster und einer eigenen Plausibilität. Ein wenig plakativ könnte man formulieren: Eher brechen ganze "Kerngemeinden" weg, als daß die Evangelischen anfangen, in hellen Scharen in die Sonntagsgottesdienste zu strömen. In den östlichen Gliedkirchen kann man das heute bereits in einem fortgeschrittenen Stadium der Entwicklung beobachten. Für die Neukonzeption der evangelischen Gemeindearbeit bedeutet das Umfrageergebnis der dritten EKD-Umfrage zweierlei: Zum einen ist die "volksmissionarische" Option fragwürdig geworden. Sie wird weder der volks17 M . T e r w e y : Zur aktuellen Situation von Glauben und Kirche im vereinigten Deutschland, in: ZA-Information 30/1992, S.61 18 F r e m d e Heimat, S.39/1

Acht Vorbemerkungen

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kirchlichen Komplexität noch der volkskirchlichen Tradition der evangelischen Landeskirchen gerecht. Konzeptionen für eine derartige Gemeindearbeit orientieren sich an innerkirchlichen Zuständen, die es unter den historisch gewachsenen Bedingungen der evangelischen Landeskirchen immer nur als Nebenströmungen gab. Zum anderen legt die Stabilität des Teilnahmemusters der Mitgliedermehrheit die Entscheidung nahe, die Grundausrichtung der parochialen Gemeindearbeit zu verändern. Sie sollte sich nicht länger auf die Pflege von Sozialformen und Religionskultur einer längst schon unzeitgemäß gewordenen Kirchlichkeit beschränken. Es erscheint geboten, die prinzipielle Ausrichtung der parochialen Gemeindearbeit zu überprüfen, um der volkskirchlichen Größenordnung und der volkskirchlichen Qualität der Landeskirchen konzeptionell besser gerecht zu werden als es bisher der Fall ist. 5. Wer anders fragt, bekommt andere Ergebnisse: Neue Methoden bringen veränderte Fragestellungen, veränderte Sichtweisen und folglich auch veränderte Erkenntnisse hervor. Insofern verspricht die noch keineswegs selbstverständlich gewordene Anwendung der Systemtheorie auf den Untersuchungsgegenstand Ortskirchengemeinde eine ganze Reihe von interessanten, vielleicht sogar auch überraschenden Ergebnissen. Drei Punkte, an denen das besonders deutlich wird, sollen hier exemplarisch vorausgeschickt werden: * Das Verhältnis der sichtbaren, irdischen Kirche zur erglaubten, unsichtbaren Kirche Jesu Christi wird systemtheoretisch von der ecclesia visibilis her, vom Sozialsystem her, bedacht werden. In der Theologie ist der umgekehrte Weg geläufiger. Die sichtbare Kirche erhält also in der systemtheoretischen Perspektive ein deutlich stärkeres Eigengewicht. Sie ist mehr als eine äußere Hülle, die heute so, morgen aber durchaus auch ganz anders aussehen könnte. Selbst wenn die reformatorischen Landeskirchen gewohnt sind, sich selbst als "ecclesiae semper reformandae" anzusehen und damit ihren Organisationscharakter theologisch zu relativieren, wird die Systemtheorie darauf beharren, daß die Landeskirchen auch soziale Großorganisationen sind. Als Sozialsysteme verfügen sie, wie jedes Großsystem, über ein ausgeprägtes Beharrungsvermögen. Dieses Beharrungsvermögen mag, theologisch betrachtet, Makulatur sein, es ist dennoch eingehender Beschäftigung wert. * Die Systemtheorie ist zuweilen als strukturkonservative Methode kritisiert worden. Dieser Vorwurf ist zwar heute nicht mehr zutreffend, weil die Systemtheorie sehr wohl kritische Systemzustände oder wünschenswerte Systemzustände zu ermitteln erlaubt und damit auch den Weg zu begründeten Strukturreformen weist. Er birgt jedoch eine richtige Beobachtung. Systemtheoretische Beschreibungen orientieren sich an vorfindlichen Sachverhalten. Eine Systemanalyse wird nicht von "wesensmäßigen" oder von "wünschenswerten" Zuständen ausgehen. Sie wird sich zunächst an vorhandenen Gegebenheiten orientieren und sie zu erfassen versuchen. In diesem Sinne knüpft die Systemtheorie an den status quo, an die vorfindlichen Praxis, an. Die Systemanalyse der Parochie wird sich z.B. ausgiebig mit den Kirchenmitgliedern und der Logik ihrer Reli-

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giosität und Kirchlichkeit beschäftigen. Wenn das geschieht, läßt sich zeigen, daß das schon im Kirchengesangbuch als "schlaff und glaubensarm" (EKG 108,2) bezeichnete Teilnahme- und Mitgliedschaftsverhalten der evangelischen Gemeindemitglieder systeminduziert, d.h. durch innersystemische Bedingungen miterzeugt worden ist. Ohne es wahrhaben zu wollen, hat das Parochialsystem seit langem schon genau den Typus von Kirchenmitgliedern erzeugt und reproduziert, den nicht wenige landeskirchliche Funktionsträger als "Taufscheinchristen", als "Fernstehende", als "Neuheiden" usw. bezeichnen. Mit Blick auf die Sachzwänge, in die die Gesellschaft ihre Mitglieder - also auch alle Kirchenmitglieder - einspannt, wird sich darüberhinaus auch zeigen lassen, daß die oft gescholtene volkskirchliche "Normalfrömmigkeit" geradezu als intelligentes Konfliktlösungsverhalten des Menschen in der (post)modernen Umwelt interpretiert werden kann. Das bedeutet auch, daß der zunehmend diskutierte "religiöse Wandel" ein Teil des gesellschaftlichen Wandels ist, und daß er sich längst bereits innerhalb der Landeskirchen selbst vollzieht. Er findet nicht irgendwo an den Rändern der Landeskirchen statt, wo irgendetwas abbröckelt. Er ist so umwälzend und tiefgreifend, daß es nicht mehr ausreicht, von einem bloßen Gestaltwandel des Christentums zu sprechen, der lediglich eine Hülle verändert, den Kern aber unangetastet läßt. Was sich innerhalb der Landeskirchen heute vollzieht, ist ein Prozeß des Gestalt- und Inhaltswandels des Christentums und der Kirchlichkeit. * In jedem komplexen Sozialsystem entwickeln sich sogenannte "informale Ordnungen", geheime Spielregeln, die im Verborgenen wirken und zuweilen sogar unter Tabuschutz stehen. Offiziell werden sie kaum beachtet. Faktisch aber sind sie nachhaltig wirksam. Unter anderem bestimmen sie mit über die Entwicklungsrichtung, die ein Sozialsystem im Wandel einschlägt. In der Kirchenreformdiskussion sind die "geheimen Spielregeln" der evangelischen Gemeindearbeit bisher weder beschrieben noch beachtet worden. Nicht wenige innerkirchliche Reformvorhaben der letzten Jahrzehnte sind u.a. auch deshalb versandet, weil sie die Verbreitung und die Wirkkraft der informalen Ordnungen unterschätzt haben, und weil sie unbeachtet ließen, daß informale Ordnung gegenüber hehren Zielvorgaben und grauer Theorie geradezu immun sind. Die informalen Ordnungen der Gemeindearbeit werden im Schlußkapitel der Arbeit eingehend dargestellt. 6. Weit gesteckter Untersuchungshorizont und "geistige Väter": Die drei genannten Beispiele zeigen bereits, wie weit der Untersuchungshorizont gesteckt ist, den die Systemtheorie erschließt. Dies liegt an einer weiteren Eigenart der Systemtheorie, an ihrem relationalen Charakter. Die Systemtheorie geht nicht nur von der Annahme intensiver Verknüpfungen und Wechselbeziehungen zwischen den einzelnen Systemelementen aus, sie verweist auch auf die relationalen Beziehungen, die jedes Sozialsystem in seine Umwelten einbetten. Es gibt kein Sozialsystem ohne wechselseitige Umweltbeziehungen. Das wird auch für die Untersuchung der Kirchengemeinden als Sozialsysteme gelten. Wo vieles mit vielem in Beziehung steht und Veränderungen in einem Bereich stets zu

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Veränderungen in anderen Teilbereichen führen (s.o.: Kirchenaustritte - Steuerausfälle - Rationalisierungseinschnitte - Mentalitätsveränderungen usw.), erfordert die Systemanalyse der Kirchengemeinde die Einarbeitung in einen weitgespannten Untersuchungsbereich: Themenfelder wie die System- und Organisationstheorie, die Theorie der Gruppe, die Geschichte der Gemeindearbeit, das Pfarramt, die Kirchenordnungen, die Gemeindeleitung, Religiosität und Mitgliedschaftsverhalten der Kirchenmitglieder u.a. werden einbezogen werden. Hinzu kommen Arbeiten, die im Umfeld einer Theorie religiöser Systeme angesiedelt sind. Erst die Vielzahl der einzelnen Aspekte läßt in der Zusammenschau die wechselseitigen Beziehungen und Abhängigkeiten erkennen, aber auch die Brüche und Spannungen, unter denen sich die tägliche Arbeit in den Ortskirchengemeinden vollzieht. Bei isolierter Betrachtung der einzelnen Aspekte bleibt das Verständnis für die komplexen Wirkungszusammenhänge und damit auch für die Entstehungsursachen der informalen Ordnungen defizitär. Das hat methodische Konsequenzen. Forschungspraktisch erfordert das komplexe Gegenstandsfeld zahlreiche (teilweise schmerzhafte) Selbstbeschränkungen und eine explizierte Auswahl der Grundoptionen. Um einige der konzeptionellen Ansätze zu nennen und damit zugleich auch Hinweise auf die "geistigen Väter" zu geben, denen sich die Arbeit verdankt: Für das Religionsverständnis ist der Begriff des "Heiligen" bei Rudolf Otto und Mircea Eliade 2 0 , sowie der Begriff des "mythischen Raumes" bei Ernst Cassirer 2 ^ zu nennen. Das Verhältnis von Kirche und Gesellschaft wird in der Orientierung am Säkularisierungsverständnis von Joachim Matthes 2 2 und der Religionssoziologie von Frank-Xaver Kaufmann 2 ^ beschrieben. Die vorsätzliche Praxisnähe der Arbeit weiß sich im kybernetischen Konzept Alfred Jägers 2 ^ theoretisch fundiert. Neben Niklas Luhmanns Gesellschaftstheorie 2 ^ war auch die Theorie der Milieugesellschaft 2 ^ wichtig. Für das Verständnis der System-Umwelt-Beziehungen und die Analyse der Entstehungsbedingungen informaler Ordnungen

19 R.Otto: Das Heilige. Über das Irrationale in der Idee des Göttlichen und sein Verhältnis zum Rationalen (Breslau 1917), München 2 8 1958 20 M.Eliade: Die Religionen und das Heilige (1954), Darmstadt 1976 21 E.Cassirer: Philosophie der symbolischen Formen, Bd.II. Das mythische Denken (1924), Darmstadt 1977, S. 104-128 22 J.Matthes: Einführung in die Religionssoziologie, 2 Bde.: Religion und Gesellschaft, Reinbek 1967 und Kirche und Gesellschaft, Reinbek 1969 23 F.-X.Kaufmann: Religion und Modernität, Tübingen 1989 24 A.Jäger: Konzepte der Kirchenleitung für die Zukunft, Gütersloh 1993 bes. S.71-135; Vgl. auch G.Breitenbach: Gemeinde leiten. Eine praktisch-theologische Kybernetik, Stuttgart u.ö. 1994 25 Eine kurze, leicht verständliche Einführung findet sich in: N.Luhmann: Ökologische Kommunikation, Opladen ^1990; Vgl. auch U.Beck: Risikogesellschaft. Auf dem Weg in eine andere Moderne, Frankfurt/M. 1986 26 M.Vester u.a.: Soziale Milieus im gesellschaftlichen Strukturwandel, Köln 1993; G.Schulze: Die Erlebnisgesellschaft. Kultursoziologie der Gegenwart, Frankfurt/M. u.ö. 1993

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ist der semiotisch interpretierte Situationsbegriff nach Rainer Volp grundlegend. 7. Systemtheorie in der praktisch-theologischen Diskussion über die evangelische Gemeindearbeit: Die Behauptung, Kirchengemeinden seien soziale Systeme, ist nicht neu. Gegen Ende der 60er Jahre lag sie schon einmal geradezu in der L u f t . D i e erste EKD-Umfrage hat damals ein explizit systemtheoretisches Kirchenverständnis verwendet.29 Nicht allein Joachim Matthes hatte den systemtheoretischen Ansatz vertreten. Auch Ernst Langes^ und Karl-Wilhelm Dahms^l Arbeiten zur funktionalen Theorie kirchlichen Handelns sind vor diesem Hintergrund entstanden. Yorick S p i e g e l ^ , Wolf-Dieter M a r s c h ^ und Günter K e h r e r ^ U m nur einige der Autoren zu nennen, haben damals ebenfalls im Theorierahmen der System- und Organisationstheorie gearbeitet. 1977 hat mit Helmut Kaefer ein katholischer Theologe Luhmanns Systemtheorie zur Beschreibung der Kirche v e r w e n d e t . S e i t den 70er Jahren sind die Begriffe "System" und "Organisation" nie völlig aus der praktisch-theologischen Diskussion um die Kirche und die kirchliche Gemeindearbeit verschwunden. im Umkreis der Kirchensoziologie sind sie ohnehin stets zu Hause geblieben. Man findet sie erneut in der Auswertung der zweiten EKD-Mitgliederbefragung und in jüngster Zeit in der Habilitationschrift von Herbert Lindner. ^ Auch syste-

27 R.Volp: Situation als Weltsegment und Sinnmarge, in: Ders.(Hg.): Zeichen. Semiotik in Theologie und Gottesdienst, München 1982, S. 146-168 28 Luhmann hat bereits in einer frühen Phase seiner Arbeit die Kirchen untersucht. N.Luhmann: Die Organisierbarkeit von Religionen und Kirchen, in: J.Wössner (Hg.): Religion im Umbruch, Stuttgart 1972, S.245-285; N.Luhmann: Religion als System. Thesen bzw. Religiöse Dogmatik und gesellschaftliche Evolution, in: K.-W.Dahm / N.Luhmann / D.Stoodt: Religion - System und Sozialisation, Darmstadt u.ö. 1972, S. 11-13 bzw. S. 15-132 29 Die Kirche wird als "soziales System" bezeichnet, der Ansatz versteht sich als ein "systemtheoretischer Ansatz" - H.Hild (Hg.): Wie stabil ist die Kirche?, Gelnhausen 1974, S.l und S.4. Ernst Lange war Mitglied des Vorbereitungskreises und gemeinsam mit Rüdiger Schloz und Jürgen Linnewedel Verfasser des Berichtstextes - A.Feige: Kirchenmitgliedschaft, S.158. 30 E.Lange: Überlegungen 31 K.-W.Dahm: Beruf: Pfarrer. Empirische Aspekte zur Funktion von Kirche und Religion in unserer Gesellschaft, München 1971 32 Y.Spiegel: Kirche als bürokratische Organisation, München 1969 33 W.-D.Marsch: Institution im Übergang, Göttingen 1970 34 G.Kehrer: Gemeinde, in: G.Otto (Hg.): Praktisch-Theologisches Handbuch, Stuttgart u.ö. 2 1975, S.250-263 35 H.Kaefer: Religion und Kirche als soziale Systeme. Luhmanns soziologische Theorien und die Pastoraltheologie, Freiburg 1977, bes. S.225-280. Kaefers Dissertation nimmt Luhmanns frühe Arbeiten zur Organisationstheorie auf und diskutiert dessen Vorschlag, die Kirche als "Dienstleistungsorganisation" anzusehen (S.232 und S.241). 36 Vgl. K.-F.Daiber: Grundriß der Praktischen Theologie als Handlungswissenschaft, München 1977, S.220-242; W.Lück: Praxis: Kirchengemeinde, Stuttgart u.ö. 1978 37 H.Lindner: Kirche am Ort. Eine Gemeindetheorie, Stuttgart u.ö. 1994. Lindners Arbeit entfaltet die These, Kirchengemeinden seien "soziale Organisationen" (S.108 u.ö.) und nimmt von daher auch die Systemtheorie in den Blick. Vgl. auch K.-F.Daiber: Einleitung. Organi-

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matische Theologen wie Ellert Herms^S, Michael W e l k e r ^ oder Alfred Jäger^O nehmen Bezug auf die Systemtheorie. Das organisationstheoretisches Kirchen- und Gemeindeverständnis ist aber deutlich älter. Um die Jahrhundertwende findet man es u.a. bei Ernst Troeltsch^!, in Lehrbüchern der Praktischen Theologie^ und in zahlreichen Arbeiten über die Konzeption der evangelischen G e m e i n d e a r b e i t . U n d schließlich findet sich der Organisationsbegriff im Kirchenverständnis Friedrich Schleiermachers: "Wie der Begriff der Kirche sich wissenschaftlich nur ergibt im Zusammenhang mit denen aller andern aus dem Begriff der Menschheit sich entwicklenden Organisationen gemeinsamen Lebens: so muß nun auch von der christlichen Kirche nachgewiesen werden, daß sie ihrem eigentümlichen Wesen nach mit allen jenen Organisationen zusammenbestehen kann" .44 In der Forschungsgeschichte gibt es also einen unübersehbaren Strom systemtheoretischen Denkens und Argumentierens. Aber ebenso unübersehbar ist, daß sich neben diesem Strom stets auch anderes bewegt und nicht selten auch behauptet hat. So begünstigte der Zeitgeist zu Beginn der 70er Jahre eher "systemkritische" Konzeptionen. Die Systemtheorie war als "Funktionalismus" mit dem Odium einer tendenziell systemstabilisierenden, zu "purer Anpassung" neigenden Theorie behaftet und galt von daher als wenig zeitgemäß.45 Andere Arbeiten setzten methodisch andere Prämissen und verzichteten auf den Systembegriff.46 Wieder andere benutzten zwar den Systembegriff, ließen sein Erklärungspotential jedoch unausgeschöpft, etwa weil schon die grundlegende Gesellschaftsanalyse durch eine kirchenspezifische Situationswahrnehmung verzerrt war.47 Ein defizitäres oder auch gänzlich fehlendes Systembewußtsein hat

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sationshandeln in theologischer Verantwortung, in: P.C.Bloth u.a. (Hg.): Handbuch der Praktischen Theologie, Bd.4, Gütersloh 1987, S.601-614 E.Herms: Theologische Implikationen von Gesellschaftstheorie, in: ZEE 21/1977, S.61-67; E.Herms: Erfahrbare Kirche, Tübingen 1990 Für die hier behandelte Fragestellung bes. M.Welker: Kirche ohne Kurs, Neukirchen 1987; W.Krawietz / M.Welker (Hg.): Kritik der Theorie sozialer Systeme, Frankfurt 1992 A.Jäger: Konzepte E.Troeltsch: Die Soziallehren der christlichen Kirchen und Gruppen (1911), GS I, Tübingen 1922, Neudruck Aalen 1961 F.Niebergall: Praktische Theologie I, Tübingen 1918, § 27: Organisation (S.474ff) Etwa bei Emil Sülze und bei Jakob Schoell; vgl. Anm.6 und 7 F.Schleiermacher: Kurze Darstellung des theologischen Studiums, § 48, hg.v. H.Scholz, Nachdruck Darmstadt 1977, S.20f G.Otto: Praktische Theologie als kritische Theorie religiös vermittelter Praxis in der Gesellschaft, in: Ders. (Hg.): Handbuch, S.14 So etwa biblisch-theologische Grundannahmen über "das Wesen" der christlichen Gemeinde. Normative Leitvorstellungen für die Organisationsgestalt der Kirchengemeinde und die Inhalte der Gemeindearbeit werden aus diesen Grundannahmen abgeleitet. Besonders deutlich geschieht das in volksmissionarisch orientierten Konzeptentwürfen, z.B. F.Schwarz / C.Schwarz: Theologie des Gemeindeaufbaus, Neukirchen-Vluyn, 1984, aber auch in kirchenoffiziellen Studien, z.B. "Was gilt in der Kirche?", Votum des Theologischen Ausschusses der Arnoldshainer Konferenz, Neukirchen 1985 Die EKD-Studie "Christsein gestalten", Gütersloh 1986 beschreibt den gesellschaftlichen Wandel unter wertenden Kategorien wie "nachlassende Traditionslenkung" und "abneh-

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immer wieder dazu geführt, daß die tatsächliche Größenordnung und die vieldimensionale Komplexität der evangelischen Landeskirchen konzeptionell verniedlicht wurden. Leider hat der systemtheoretische Impuls im innerkirchlichen Gespräch zu wenig Resonanz gefunden. Rückschauend hat Andreas Feige davon gesprochen, "wie nötig - aber auch, wie teilweise vergeblich - der Ansatz der EKD-Studie war" .48 Die Optionen für einen "missionarischen Gemeindea u f b a u "49 oder für andere Konzeptionen evangelischer Gemeindearbeit, die sich gegenüber der als eher "weltlich" und sachfremd empfundenen Systemtheorie als unmittelbarer theologisch begründet ausweisen konnten, haben einen deutlich stärkeren Zuspruch erfahren. Das hat dazu geführt, daß der innerkirchliche Reformdiskurs weit hinter den theoretisch längst vorhandenen Möglichkeiten zurückgeblieben ist (und selbst von Schleiermacher noch lernen könnte, etwa was die Beurteilung der Kirchenmitglieder anbelangt). Die Systemtheorie kann, das wird im Verlauf der Arbeit eingehend belegt werden, sowohl als Analyseinstrument zur Verbesserung des theoretischen Verständnisses der Landeskirchen und der Parochien verwendet werden als auch dazu beitragen, Reformvorschläge für die Praxis der evangelischen Gemeindearbeit zu begründen. 8. Konkretionen und Themeneingrenzungen: Eine zehnjähige Tätigkeit im Gemeindepfarrdienst der Evangelischen Kirche im Rheinland bildet den unmittelbaren Erfahrungshintergrund der vorliegenden Arbeit. Es lag von daher nahe, dort, wo es um Details der innerkirchlichen Organisation oder der Gemeindearbeit geht, auf Erfahrungen aus der Rheinischen Kirche zurückzugreifen. Generell wird die Arbeit jedoch den weiteren Horizont der EKD-Kirchen im Blick zu haben. Die vorliegenden Publikationen, deren Autoren in anderen Landeskirchen tätig sind bzw. tätig waren, zeigen, daß die Grundbedingungen auch anderenorts nicht völlig anders sind. Einzig im Blick auf die evangelischen Landeskirchen in den neuen Bundesländern scheint eine deutlichere Einschränkung angebracht zu sein. Zwar gibt es auch hier viele Übereinstimmungen mit den westlichen Landeskirchen, etwa im Parochialsystem, in der Pfarrerzentrierung der Gemeinden und im Mitgliederverhalten. Auch sind die organisatorischen Rahmenbedingungen seit der Wende weitgehend angeglichen worden. Aber die Entwicklung nach 1945 verlief völlig anders, so daß sich die Position der Ortskirchengemeinden im gesellschaftlichen Umfeld deutlich anders dar-

mende Bindungsbereitschaft" und gibt damit Wirkungen als Ursachen aus. Die EKHNStudie "Person und Institution. Volkskirche auf dem Weg in die Zukunft", Frankfurt/M. 1992 greift zu kurz, wenn sie zwar vom gesamtgesellschaftlichen "Differenzierungsschub" spricht (S. 15-21), aber den Komplementäreffekt, die Milieubildung, marginalisiert. Vgl. die Grundsatzkritik von A.Feige: Kirchenmitgliedschaft in der Bundesrepublik Deutschland, Gütersloh 1990, S.343, der die Binnenperspektive kirchlicher Selbstwahrnehmung kritisiert und von einem "pfarrsoziographischen Kirchturmblick" gesprochen hat. 48 A.Feige: Kirchenmitgliedschaft, S.211 49 Vgl. etwa die "missionarische Doppelstrategie" der VELKD oder das Missionskonzept "neu anfangen" in der EKD - s.u. Kap.II 3.2a und 2b

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stellt als im ehemaligen Westen. Hier wäre eine Spezialuntersuchung erforderlich gewesen. Sie war nicht zu leisten. So muß es an dieser Stelle bei dem Hinweis bleiben, daß die Arbeit in wichtigen Punkten westliche Gegebenheiten im Blick hat, auch wenn immer wieder Hinweise auf die Kirchenmitglieder oder die Landeskirchen in den östlichen Bundesländern gegeben werden (und vieles andere durchaus übertragbar ist). Hinweise auf Kirchen der christlichen Ökumene oder auf die katholische Kirche werden eher spärlich sein. Die Verhältnisse liegen dort oft so vollkommen anders, daß es nicht sinnvoll erschien, sie im Rahmen der hier verfolgten Fragestellung durchgängig einzubeziehen. Allerdings soll doch darauf hingewiesen werden, daß die Bemühungen der katholischen Kirche um eine Strukturreform ihrer Gemeindearbeit in einigen Punkten bereits zu Ergebnissen geführt haben, die mit dem, was im Schlußteil der Arbeit zur Diskussion gestellt werden wird, durchaus vergleichbar sind.

Gliederungsübersicht Die Arbeit ist in sieben Kapitel gegliedert. Zunächst werden in einem historischen Schnelldurchgang Aspekte der evangelischen Volksfrömmigkeit dargestellt, um den Blick für die Bedeutung der Kirchenmitglieder zu schärfen. Dabei wird sich zeigen, daß die Mitgliederreligiosität (religion-as-practised) schon seit Reformationszeiten ein eigenständiges Profil besitzt und auch in vergangenen Jahrhunderten schon von den Normvorstellungen und den Normerwartungen der Theologen (religion-as-prescribed) abgewichen ist. Leider sind der eigenständige Charakter und die fundamentale Bedeutung der evangelischen Volksfrömmigkeit in der Diskussion über Konzeptionen der Gemeindearbeit bisher zu selten berücksichtigt worden. Die Diskussion bewegt sich zu stark im Bereich der religion-as-prescribed und bleibt praxisfern, weil sie die Ebene der gelebten Religiosität und Kirchlichkeit zu wenig im Blick hat. (Kapitel I: "Aus der Geschichte der evangelischen Volksfrömmigkeit") * Das zweite Kapitel kommentiert die Diskussionsgeschichte über die Reform der evangelischen Gemeindearbeit im 20.Jahrhundert. Die maßgeblichen Stichworte und Konfliktlinien wurden bereits in den ersten Jahrzehnten unseres Jahrhunderts ausgebildet. Autoren wie Emil Sülze oder Gerhard Hilbert steckten den Problemhorizont ab: Gemeindeorganisation oder Volksmission, Volkskirche oder bekennende Gemeinschaft überzeugter Christen, Gemeindearbeit oder Gemeindeaufbau, so lauteten Alternativen, um die damals schon heftig gerungen wurde. Bis in die jüngste Zeit hinein setzen sich diese Kontroversen fort. Auch das Gemeindepflege-Konzept, das die Praxis der volkskirchlichen Gemeindearbeit bis heute bestimmt, entstand bereits zu Beginn des Jahrhunderts und wurde 1911 von Jakob Schoell dargestellt. In den 50er Jahren suchten die "Spandauer Thesen" der VELKD nach Möglichkeiten für eine missionarische Durchdringung der volkskirchlichen Parochien. Die 60er und 70er Jahre brachten eine breitgefächerte "Kirchenreformbewegung" hervor. Schwachstel-

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len der parochialen Gemeindeorganisation, aber auch der Gemeindearbeit, wurden damals erkannt: die parochiale Insidermentalität mit ihrem ausgeprägten Mangel an vorsätzlicher Mitgliederorientierung^O, die Problematik der übergroßen Ortskirchengemeinden51, die Defizite in Raumordnungs- und Strukturfragen52, die Verkrustungen der kirchlichen Institutionen^ und auch der "Rückzug der Kirche aus der Gesellschaft".54 Ein Zweig der Kirchenreformbewegung ließ sich im Streben nach "missionarischen Strukturen" auch von ökumenischen Impulsen leiten und öffnete damit den Blick für das Christsein außerhalb der Kirchen. Neuere missionarische und volkskirchliche Konzeptionen aus den 80er und 90er Jahren runden die Darstellung ab, die in eine Thesenreihe einmündet, in der Anforderungen an die Neukonzeption der volkskirchlichen Gemeindearbeit benannt sind. (Kapitel II: "100 Jahre Reform der evangelischen Gemeindearbeit") * Im dritten Kapitel wird eine Einführung in die allgemeine Systemtheorie gegeben. Maßgeblich ist der Diskussionstand, der 1984 mit Niklas Luhmanns Publikation "Soziale Systeme. Grundriß einer allgemeinen Theorie" erreicht und in den Folgejahren entfaltet worden ist.^5 Der Grundriß überholt einige ältere, in der Praktischen Theologie bekanntere D a r s t e l l u n g e n ^ und wird von vielen Luhmann Rezensenten als Wendemarke in seiner Systemtheorie angesehen. Neben Luhmanns Arbeiten wird auch die "Systemtheorie" seines Schülers Helmut Willke verwendet. ^ Der Untersuchungsgegenstand der Arbeit erfordert es, die Schwerpunkte der Darstellung gegenüber Luhmanns Theoriedesign teilweise erheblich zu verschieben. Es wurde bereits erwähnt, daß in Sozialsystemen unterschiedlicher Komplexitätsgrade unterschiedliche Systemgesetzmäßigkeiten gelten. Ein Schwerpunkt der Darstellung wird folglich auf Systementwicklungsstadien entfallen. Aber auch die Bedeutung der Menschen für die Sozialsysteme und innerhalb von Sozialsystemen ist eingehender darzustellen. Kirchenmitglieder verfügen ja, um ein Beispiel zu nennen, über die Freiheit, jederzeit aus der Kirche auszutreten. Was bedeutet das für die allgemeine Systemtheorie? Die Freiheitsgrade, aber auch die Bindungsgrade, mit denen Menschen sich an ein Sozialsystem binden bzw. mit denen Sozialsysteme Menschen binden können, werden genauer untersucht werden. Gleichwohl bewegt 50 W.Jetter: Was wird aus der Kirche? Beobachtungen - Fragen - Vorschläge, Stuttgart 1968 51 H.Schnell: Die überschaubare Gemeinde, Hamburg u.ö. ^1965 52 ROSTA. Raumordnungs- und Strukturausschuß der Evangelischen Kirche im Rheinland: Vorschläge zur Neugestaltung des kirchlichen Dienstes in den Gemeinden, o.O. 1970; Vorschläge zur Neuordnung des Dienstes in den Kirchenkreisen, o.O. 1971 53 W.D.Marsch: Institution; G.Bormann / S.Bormann-Heischkeil: Theorie 54 J.Matthes: Die Emigration der Kirche aus der Gesellschaft, Hamburg 1964 55 N.Luhmann: Soziale Systeme. Grundriß einer allgemeinen Theorie (1984 - stw 666), Frankfurt/M. 4 1991; N.Luhmann: Ökologische Kommunikation, Opladen ^1990; N.Luhmann: Gesellschaftsstruktur und Semantik, 3 Bde., Frankfurt 1980, 1981, 1989 56 Etwa K.-W.Dahm / N.Luhmann / D.Stoodt: Religion - System und Sozialisation, Darmstadt u.ö. 1972 oder N.Luhmann: Funktion der Religion, Frankfurt/M. 1977 57 H.Willke: Systemtheorie, Stuttgart u.ö. 4 1993; H.Willke: Ironie des Staates, Frankfurt/M. 1992

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sich die Darstellung im Rahmen des Luhmannschen Ansatzes. Einen "programmatischen Antihumanismus", wie er bisweilen in seiner Systemtheorie festgestellt wurde, belegen Luhmanns Aussagen m.E. nicht. (Kapitel III: "Systemtheoretische Grundlagen") * Das vierte Kapitel wendet sich den neutestamentlichen Fundamenten der christlichen Kirchen zu. Die Bibel bietet zweierlei: Zum einen erlaubt sie die inhaltliche Bestimmung der Reich-Gottes-Predigt Jesu. Zum anderen läßt sich zeigen, daß die neutestamentlichen Schriften einen Systementstehungsprozeß dokumentieren, einen zunehmenden Organisationsgrad des irdischen Christentums. Eine irdische Großkirche war ja programmatisch in der Predigt Jesu von Nazareth gar nicht vorgesehen. Er verkündete das "Reich Gottes" und dieses Reich war gerade keine irdische Größe. Gleichwohl konnte sich das erste Christentum der Systementwicklungsdynamik nicht entziehen. Wie alle sozialen Gebilde unterlag es dem Zwang, entweder Organisationsstrukturen auszubilden oder zu zerfallen und zu verschwinden. Die Christenheit des ersten Jahrhunderts bildete - wie rudimentär sie im einzelnen zunächst auch gewesen sein mögen - Organisationsstrukturen aus. In diesem Prozeß der Systementstehung ist es gelungen, einige der bedeutendsten Normen der Christuspredigt erfolgreich festzuhalten und damit auch den Referenzbezug der sich herausbildenden irdischen Christenheit auf das von Christus verkündete Reich Gottes zu bewahren. Dieser Referenzbezug ist bis heute für alle christlichen Kirchen konstitutiv geblieben. (Kapitel IV: "Systementstehung: Das Reich-Gottes und die Herausbildung der irdischen Christenheit") * Im fünften Kapitel werden die evangelischen Landeskirchen behandelt. Die evangelischen Landeskirchen geben den Ortskirchengemeinden verbindliche Rahmenordnungen vor (StaatsVerträge, Kirchenrecht, Kirchenordnungen, Verwaltungsordnungen, Pfarrdienstgesetze usw.) und legen so maßgebliche Bedingungen für die lokale Gemeindearbeit fest. Ebenso wie alle anderen Sozialsysteme sind auch die Landeskirchen externen wie internen Wandlungsimpulsen ausgesetzt. Vier dieser Wandlungsimpulse werden behandelt: - Die Gesellschaft als "Umwelt" der Landeskirchen. Die Landeskirchen stehen der Gesellschaft nicht gegenüber, sie sind mit ihr in vielfältiger Weise wechselseitig verflochten. Die Gesellschaft befindet sich ihrerseits im Wandel. Sie durchläuft einen Prozeß der kontinuierlichen inneren Ausdifferenzierung. Im Zuge dieses Prozesses verändert sich zum einen die Position der organisierten christlichen Kirchen in der Gesellschaft, es verändern sich aber auch die Aufgaben, vor die sie gestellt sind. - Die ecclesia invisibilis ist im systemtheoretischen Sinn ebenfalls als "Umwelt" der Landeskirche anzusehen. Mit Hilfe eines systemtheoretischen Beschreibungsmodells wird (auf der Grundlage des neutestamentlichen Befunds) das besondere Referenzverhältnis zwischen den sichtbaren Kirchen und der unsichtbaren Kirche herausgearbeitet werden.

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Einleitung - Die Landeskirchen sind nicht nur externen, sondern auch internen Wandlungsimpulsen ausgesetzt. Interne Wandlungsimpulse resultieren u.a. aus der zeitlichen Alterung und aus dem mehrdimensionalen Anschwellen der Komplexität des Sozialsystems Landeskirche. Die Systemalterung verschärft nicht nur die hermeneutische Problematik. Sie hat die protestantischen Kirchen auch in ein systemspezifisches Dilemma hineingeführt. Mit der Betonung der religiösen Subjektivität und der Unterstellung der kirchlichen Organisation unter ein landesherrliches Kirchenregiment haben die protestantischen Kirchen, mit Michel Serres' und Niklas Luhmanns Worten, zwei "Parasiten" in das Systemgefiige eingelassen, die dort zu wuchern begonnen haben. Sie untergruben die Systemkohärenz und verdunkelten die Zugehörigkeit des Systems zum Religionssegment der Gesellschaft. Die Landeskirche wurde zu einem Teil der staatlichen Obrigkeit. Sie organisierte und verhielt sich entsprechend. Beides bereitet den evangelischen Landeskirchen auch heute noch erhebliche mentalitätsmäßige, konzeptionelle und organisatorische Schwierigkeiten. Hinzu kommt, daß die innere Ausdifferenzierung der kirchlichen Organisation nicht nur zu Kohärenzproblemen geführt, sondern auch ein verändertes Systemsteuerungsverhalten erzwungen hat. Die daraus resultierenden Probleme, vor die die Kirchenleitungen gestellt sind, werden dargelegt werden.

In der Summe lassen sich die evangelischen Landeskirchen als "Sozialsysteme im Wandel" darstellen, die den Wandlungsimpulsen, denen sie ausgesetzt sind, massive Wandlungshemmungen entgegensetzen. (Kapitel V: "Die Landeskirchen als Sozialsysteme im Wandel") * Das sechste Kapitel wendet sich den Kirchenmitgliedern zu. Im systemtheoretischen Sinne können sie sowohl als Träger von landeskirchlichen Mitgliedschaftsrollen angesehen werden, als auch der Umwelt des Sozialsystems Kirche bzw. Kirchengemeinde zugerechnet werden. Sie gehören bald diesem, bald jenem Bereich an. Zur Rekonstruktion von Mitgliederreligiosität und -kirchlichkeit wurden vor allem Allbusdaten^S und Ergebnisse der drei EKD-Mitgliederbefragungen59 verwendet. Tendenziell sind die Umfrageergebnisse bereits seit 58 "Allbus" steht als Abkürzung für "Allgemeine Bevölkerungsumfrage der Sozialwissenschaften" hg.v. Zentralinstitut für Empirische Sozialforschung an der Universität Köln ( = ZA: Bachemer Str.40, 50931 Köln) und dem Zentrum für Umfragen, Methoden und Analysen ( = Z U M A : Postfach 122155 , 68072 Mannheim). Das jährlich erscheinende Codebuch mit den Umfragedaten ist dort direkt zu beziehen. Zur Einführung: M.Braun / P.Möhler: Die Allgemeine Bevölkerungsumfrage der Sozialwissenschaften: Rückblick und Ausblick in die neunziger Jahre, in: ZUMA-Nachrichten Nr.29, Selbstverlag Mannheim 1991, S.7-28 59 Die erste Umfrage wurde im Sommer 1972 durchgeführt: H.Hild (Hg.): Wie stabil ist die Kirche?, Gelnhausen 1974 (im folgenden zitiert als: " E K D I"); Die zweite Umfrage wurde im Herbst 1982 durchgeführt: J.Hanselmann u.a. (Hg.): Was wird aus der Kirche?, Gütersloh 1984 (im folgenden zitiert als: " E K D II"); Eine differenzierte Auswertung der dritten Mitgliederbefragung (durchgeführt Oktober bis Dezember 1992) ist zum Zeitpunkt der Abfassung der vorliegenden Arbeit (1995) noch nicht erschienen. Sie ist für 1996 angekündigt.

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mehr als 20 Jahren kaum verändert. An die Datenerhebung wird sich die Interpretation der Umfragedaten anschließen. Für die Dateninterpretation wurde ein völlig neuer Zugang gewählt. Innerkirchliche Interpretationsansätze ("Traditionsabbruch" u.ä.) werden ebenso abgelehnt, wie die Behauptung der kirchen- und glaubenszersetzenden Kraft der rationalen Vernunft ("Säkularisierungsfortschritte"). Stattdessen wird der Nachweis erbracht werden, daß das Profil der Mitgliederreligiosität von den Anforderungen her verstehbar ist, vor die die ausdifferenzierte Gesellschaft ihre Mitglieder stellt. Sie macht den Menschen zu einem Grenzgänger zwischen den verschiedenartigsten, untereinander nicht mehr vollständig kompatiblen Systemwelten. Das Profil der Mitgliederreligiosität trägt diesem Phänomen bis in Details hinein Rechnung. Hier gibt es nicht nur funktionale Entsprechungen, es gibt auch eine plausible innere Logik der Kirchenmitgliedschaft, der Glaubensüberzeugungen und des Teilnahmeverhaltens. Religiosität und Kirchlichkeit der "Grenzgänger zwischen den Systemwelten" lassen sich als sinnvolle Konfliktlösungsstrategie verstehen, als Aufrechterhaltung von Anschlußfähigkeit unter den Bedingungen externer wie interner Unsicherheit. (Kapitel VI: "Die Kirchenmitglieder - Religiosität im Wandel") * Das siebte Kapitel bündelt die Ergebnisse der vorherigen Kapitel im Blick auf die Praxis der evangelischen Gemeindearbeit in den Ortskirchengemeinden. In den Kirchengemeinden prallen die verschiedenartigen Wandlungsimpulse aufeinander: Erwartungen und Anforderungen der ausdifferenzierten Gesellschaft, der landeskirchlichen Organisation, des Kirchenrechts, der erglaubten ecclesia invisibilis, der praktisch-theologischen Theoriebildung, der Gemeindeleitungsorgane, der Mitarbeiter/innen und der Mitgliederreligiosität sind hier miteinander verknüpft und fortwährend aufeinander zu beziehen. Konflikte, die sich aus den widerstreitenden Anforderungen ergeben, können hier nicht vertagt werden. Sie sind im Alltag der Gemeindearbeit unmittelbar zu bearbeiten, selbst dann, wenn sie sich beispielsweise mit Hilfe der landeskirchlichen Ordnungen überhaupt nicht bearbeiten lassen. Das bedeutet, daß die evangelische Gemeindearbeit sich ständig unter strukturell bedingten Spannungen und Belastungen vollzieht: Was geschieht etwa, wenn die Gemeindeleitung am Ideal eines sichtbar florierenden Gemeindelebens orientiert ist, die Gemeindemitglieder aber auf der selbstbestimmten Gestaltung ihres Teilnahmeverhaltens, der Freiheit ihrer Glaubensüberzeugungen und der Distanz zur Ortskirchengemeinde bestehen? Was geschieht, wenn die Gemeindepfarrer/innen einer kaum überschaubaren Aufgabenfülle ausgesetzt sind, die Kirchenleitungen sie auf die Einhaltung einer wirklichkeitsfernen Kirchenordnung verpflichten und die Presbyterien dem Erhalt des status quo verpflichtet sind, weil ihnen aufgrund ihrer unzureichenden Vor- und Ausbildung realisierbare Alternativen nicht bekannt sind? Was geWo auf die dritte Umfrage Bezug genommen wird, werden die Daten aus der Vorabauswertung zitiert, die unter dem Titel "Fremde Heimat Kirche", hg.v. Studien- und Planungsgruppe der EKD, Hannover 1993 (Selbstverlag der EKD, Postfach 210220, 30402 Hannover) erschienen ist. (im folgenden zitiert als "Fremde Heimat")

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Einleitung

schieht, wenn auch unter diesen Bedingungen tagtäglich weitergearbeitet werden muß, weil Sozialsysteme nicht wegen dringend erforderlicher Renovierungs- und Umbaumaßnahmen vorübergehend geschlossen werden können? Im Schlußteil des siebten Kapitels wird die These aufgestellt, daß es unter den vorher dargestellten Bedingungen zu einer großflächigen und wildwüchsigen Entwicklung informaler Systemordnungen kommt. Die evangelische Gemeindearbeit vollzieht sich in wesentlichen Teilen in der Orientierung an heimlichen und verheimlichten Spielregeln. Nicht die landeskirchlichen Ordnungen sichern die Kohärenz und die Zukunftsfähigkeit des Sozialsystems Kirchengemeinde, sondern die generalisierten Mitgliedschaftsmotivationen der Kirchenmitglieder und die informalen Spielregeln der Gemeindeleitung, der Pfarramtsfuhrung und des Gemeindelebens. Ihre Entstehungsbedingungen werden dargestellt und ihre Inhalte beschrieben werden. Abschließend wird ein Diskussionsvorschlag für die Strukturreform der evangelischen Gemeindearbeit vorgelegt, der den Entstehungsbedingungen der informalen Ordnungen Rechnung trägt und das allgemeine Priestertum zu stärken versucht: Christsein entfalten. (Kapitel VII: "Die Kirchengemeinde im Wandel") Die Arbeit wurde dem Fachbereich Evangelische Theologie der Johannes Gutenberg-Universität Mainz als Habilitationsschrift vorgelegt. Die Gutachten haben Herr Prof. Volp und Herr Prof. Knobloch geschrieben. Ein Habilitationsstipendium der "Deutschen Forschungsgemeinschaft" hat die Realisierung des Vorhabens ermöglicht. Für hilfreiche Gespräche, praxisnahe Anregungen und kollegiale Kritik danke ich Frau Pfarrerin Kroniger, Frau Pfarrerin Meinecke-Appelt, Herrn Pfarrer Apel, Herrn Pfarrer Appelt, Herrn Pfarrer Fleckner. Herr Dr. Frenschkowski hat dankenswerterweise eine kritische Durchsicht des vierten Kapitels besorgt. Mein Dank gilt auch den beiden Gutachtern der DFG, die mir persönlich unbekannt geblieben sind. Herr Prof. Cornehl möchte ich für seine Bereitschaft zum Gedankenaustausch danken. Besonders aber danke ich meinem verehrten Lehrer, Herrn Prof. Volp, der mich zum Stipendienantrag ermuntert und den Werdegang der Arbeit hilfreich begleitet hat. Frau Becher und Herrn Bachem danke ich für die Hilfestellungen in den Untiefen der Texterstellung und der Textformatierung. Mein Dank gilt auch den Herausgebern für die Aufnahme des Buches in die Reihe der "Arbeiten zur Praktischen Theologie" und den Mitarbeiter/innen des Verlags für die aufmerksame und freundliche Unterstützung. Schließlich danke ich meiner Frau, die mich bei der Grenzgängerei zwischen den Systemwelten beraten, begleitet und ertragen hat.

I. Religion-as-practised: Religiosität und Kirchlichkeit vom 16. bis 19. Jahrhundert

Die Veränderung eines historisch gewachsenen Sozialsystems ist immer ein Eingriff in ein hochkomplexes Gefiige. Wer es umbauen oder neu strukturieren möchte, kann zwar Impulse setzen und Rahmenbedingungen festschreiben, was letztlich aber dabei herauskommt, ist auch von einer Vielzahl mitwirkender und einwirkender Faktoren abhängig, die vom Schreibtisch aus nicht vollständig zu erfassen sind. Von daher mag es noch relativ leicht sein, eine Reform der Kirche zu erdenken, eine andere Sache ist es, sie mit Leben zu erfüllen. Das Konzil, auf das Martin Luther gehofft hat, als er sich im Jahr 1520 "An den christlichen Adel deutscher Nation" wandte, hat in der Form, wie er es sich vorstellte, niemals stattgefunden. Stattdessen aber wurde er zum Begründer einer eigenständigen Konfessionskirche, was er sich seinerseits nicht vorgestellt hatte. Nicht anders verhielt es sich mit der christlichen Bevölkerung, die die Reformation zunächst in überwältigendem Ausmaß begrüßt hat, nicht zuletzt, weil sie sich in der Ablehnung der vorfindlichen Zustände einig war.l Aus dieser Tatsache darf man aber nicht schließen, daß auch die religiösen Neuerungen, die die Reformation dann mit sich brachte, mit ebenso großer innerer Zustimmung aufgenommen und akzeptiert worden wären. Wie in vielen Dingen, so bestand auch in Religionsfragen ein deutlicher Unterschied zwischen der Kritik an den bestehenden Mißständen und der inneren Akzeptanz der eingeleiteten Neuerungen. Daß auch Martin Luther sich dessen durchaus bewußt war, geht aus einer Äußerung in der "Formula missae" (1523) hervor, wo er die Mentalität und die mangelnde religiöse Motivation der "losen und leichtfertigen Geister" beklagt, "welche als unflätige Säu, ohne Glauben, ohne Verstand einherfallen, suchen nur ihren Fürwitz, wenn etwas Neues aufkömmt; so bald es aber nimmer neue ist, werden sie sein müde" (WA 12,205f^). Die vielfachen Unterschiede von Kritik und Konstruktion, von Aufbruch und Alltag, von Theologeneinsicht und gelebter Religion sind auch im Hinblick auf das Verständnis der evangelischen Kirchengemeinden und der evangelischen Gemeindearbeit bisher zu wenig beachtet worden. Die Religiosität der evangelischen Kirchenmitglieder steht auch heute noch in einer geschichtlichen Kontinuität, die sich bis auf die Reformationszeit, ja teilweise sogar darüber hinaus, zurückverfolgen läßt. Um sie zu verstehen, sollen in diesem ersten Kapitel Aspekte der Frömmigkeitsgeschichte der evangelischen Bevölkerung vom 16. bis 19.Jahrhundert nachgezeichnet werden. 1 2

R.Stupperich rechnet damit, daß noch um 1550 90% der deutschen Bevölkerung innerlich für die Reformation waren. - Die Reformation in Deutschland, München 1972, S.142 Wortlaut nach der von Luther authorisierten dt. Übersetzung von Paul Speratus, Wittenberg 1524 (Borcherdt/Merz, S . I I I )

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I. Religion-as-practised

1. Die frühen Weichenstellungen a) Das Parochialsystem Die Anfänge der Untergliederung christlicher Territorien in lokal begrenzte Pfarreien ( = Parochien) gehen auf die karolingische Zeit zurück.^ Zwischen dem elften und dreizehnten Jahrhundert entwickelte sich in einer Zeit starker Bevölkerungszunahme das Parochialsystem. Sämtliche Christen, die innerhalb eines fest umrissenen Bezirks lebten, sollten durch einen für sie zuständigen Priester betreut werden. Die Pfarreien wurden zu Landdekanaten zusammengefaßt, von denen wiederum mehrere ein Bistum bildeten. Neueinrichtungen, Teilungen oder Vereinigungen der Parochien wurden durch den jeweiligen Bischof vorgenommen. Er nominierte auch den jeweils zuständigen Priester. Den wechselnden lokalen Gegebenheiten entsprechend konnte dieser "parochus" oder "rector ecclesiae" darüber hinaus auch von einem Patron abhängig sein, an eine Klostergemeinde angebunden sein oder sogar auch schon durch Gemeindewahl^ bestimmt werden. Die Aufgaben der Priester umfaßten damals bereits den Kernbestand der Tätigkeiten, für die die Pfarrerschaft auch heute noch allgemein zuständig ist: die Durchführung der Messen, Taufen und Begräbnisse und die Seelsorge ("cura animarum"). Zur cura animarum gehörte neben der Beichte auch die Jurisdiktion im Bußverfahren. Im zwölften Jahrhundert durfte der Ortspriester auch Strafsanktionen wie die Exkommunikation selbst vornehmen. Er genoß eine Reihe von Privilegien, die ihn deutlich aus dem Kreis der Laien heraushoben und nicht selten auch zu Spannungen zwischen dem Klerus und den Laien führten: * das "Privilegium fori" (Befreiung von der weltlichen Gerichtsbarkeit) * das "Privilegium canonis" (Körperverletzung oder schwere Beleidigungen von Priestern konnten mit Exkommunikation bestraft werden) * das "beneficium competentiae" (das zum Lebensunterhalt Notwendige durfte auch im Zwangsvollstreckungsverfahren nicht genommen werden) und * das "Privilegium immunitatis" (allgemeine Abgabenfreiheit des Klerus). b) Luthers Gemeindetheologie In seiner Schrift Macht habe, alle zen: Grund und stimmt, was eine 3 4 5

"Daß eine christliche Versammlung oder Gemeinde Recht und Lehre zu beurteilen und Lehrer zu berufen, ein- und abzusetUrsach aus der Schrift"^ von 1523 hat Martin Luther be"christliche Gemeinde" ist. Eine christliche Gemeinde ist da,

G.Holtz: Die Parochie, Gütersloh o.J., S.lOff; P.Landau: Art.: Kirchenverfassungen, in: T R E 19, S.136f "Regelmäßig in den Alpenländern, aber auch in den italienischen Städten." - P. Landau, Kirchenverfassungen, S.137 W A 11,408-416

1. Die frühen Weichenstellungen

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"wo das lautere Evangelium gepredigt wird" (WA 11,408,90- Bekannter ist die Definition der Confessio augustana von 1530: "Es wird auch gelehret, daß alle Zeit musse eine heilige christliche Kirche sein und bleiben, welche ist die Versammlung aller Gläubigen, bei welchen das Evangelium rein gepredigt und die heiligen Sakrament lauts des Evangelii gereicht werden" (CA VII). Wie eine solche Gemeinde organisiert wird, ist in beiden Stellen nicht gesagt. Hinsichtlich der sichtbaren Kirche hat Luther 1523 allerdings eine negative Abgrenzung vorgenommen, als er schrieb, daß Bischöfe, Äbte oder Klöster als solche noch keine Gemeinden seien und ihnen die Rechte einer Gemeinde (u.a. Pfarrerwahl) folglich auch nicht zustünden. Luther argumentierte hier von seinem Verständnis des "allgemeinen Priestertums" her, das er schon in den drei großen reformatorischen Schriften des Jahres 1520 vertreten hatte.6 Jedes einzelne Gemeindemitglied ist berechtigt, in Notzeiten das Predigtamt selbst zu übernehmen, denn "niemand kann leugnen, daß ein jeglicher Christ Gottes Wort hat ... so sind sie auch schuldig, dasselbe zu bekennen, zu lehren und auszubreiten" (WA ll,411,31ff). Wo hingegen keine Not herrscht, kann und darf die gesamte Gemeinde zusammentreten, um einen Prediger zu berufen. Sie ist in ihrer Wahl nicht abhängig von der Bestätigung eines Landesherrn (WA ll,414,14f). Das Predigtamt ist das höchste Amt in der Gemeinde, von dem alle anderen Tätigkeiten abgeleitet und abhängig sind.7 In seiner Vorrede zur "Deutschen Messe und Ordnung des Gottesdienstes" von 1525 hat Luther drei verschiedene Formen des Gottesdienstes unterschieden und dabei mit der dritten Form auch ein Modell intensiven religiösen Gemeindelebens skizziert. Den lateinischen Gottesdienst wollte er auch weiterhin aufrechterhalten. Daneben stellte er aber eine "deutsche Messe". Sie sollte der "öffentlichen Reizung zum Glauben und zum Christentum" dienen. Luther wußte, daß in der Kirche viele versammelt sind, "die noch nicht glauben oder Christen sind, sondern das mehrer Teil da steht und gaffet, daß sie auch etwas Neues sehen" (WA 19,74,25-27). In dieser Situation sollte die deutsche Messe mithelfen, die christliche Grundbildung im Volk zu verankern und ein Glaubensfundament zu schaffen: "Allermeist aber geschiehts um der Einfaltigen und des jungen Volkes willen, welches soll und muß täglich in der Schrift und Wort Gottes geübt und erzogen werden, daß sie der Schrift gewohnet, geschickt, geläufig und kundig drinnen werden, ihren Glauben zu vertreten und andere mit der Zeit zu lehren, und das Reich Christi helfen mehren" (WA 19,73,17-22). Schließlich sprach Luther von einer "dritten Weise" des Gottesdienstes und entwarf mit wenigen Sätzen das Programm einer christlichen Hausgemeinde für 6

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An den christlichen Adel deutscher Nation: von des christlichen Standes Besserung (WA 6,404-469); Von der babylonischen Gefangenschaft der Kirche, ein Vorspiel Dr. Martin Luthers (WA 6,497-573); Von der Freiheit eines Christenmenschen (WA 7,49-73) Von diesem Gedanken leitet Luther auch das Recht eines Predigers her, Teile seiner Arbeit anderen zu übertragen, zu delegieren: "Darum wem das Predigtamt aufgelegt wird, dem wird das höchste Amt auferlegt in der Christenheit. Derselbe mag danach auch taufen, Messe halten und alle Seelsorge tragen; oder so er nicht will, mag er an dem Predigen allein bleiben, und Taufen und andere Unteramt andern lassen" (WA 11,415,30 bis 416,2).

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diejenigen, "so mit Ernst Christen wollen sein und das Evangelium mit Hand und Mund bekennen". Sie "müßten mit Namen sich einzeichnen und etwa in einem Hause allein sich versammeln zum Gebet, zu lesen, zu taufen, das Sakrament zu empfangen und andere christliche Werk zu üben. In dieser Ordnung könnte man die, so sich nicht christlich hielten, kennen, strafen, bessern, ausstoßen oder in den Bann tun nach der Regel Christi, Matth 18,15f ... Hier bedürfte es nicht viel und groß Gesänges. Hier könnte man auch eine kurze Weise mit der Taufe und Sakrament halten und alles aufs Wort und Gebet und die Liebe richten. Hier müßte man einen kurzen Katechismus haben über den Glauben, zehn Gebote und Vaterunser. Kürzlich, wenn man die Leute und Personen hätte, die mit Ernst Christen zu sein begehrten, die Ordnungen und Weisen wären bald gemacht" (WA 19,75,6-18). Da aber Luther nach eigenem Bekunden, "die Leute" noch nicht hatte, wollte er es zunächst bei den zwei ersten Weisen des Gottesdienstes bewenden lassen, zumal er durchaus schon gesehen hatte, daß in der dritten Weise die Gefahr der "Rotterei", also der Sektiererei, schlummert (WA 19,75,27f). c) Das landesherrliche Kirchenregiment Die beiden programmatischen Schriften Martin Luthers sind weder für die Organisation der neu entstandenen protestantischen Kirchen (Pfarrwahlrecht der Gemeinden) noch für die Frömmigkeitspraxis der Gemeindemitglieder (Priestertum aller Gläubigen in persönlicher Aktivität und eigener Verantwortung) bestimmend geworden. In beiden Fällen hat die Praxis der Reformation andere Wege beschritten als sie die theologische Theoriebildung vorgedacht hatte. Die gegebenen Umstände zwangen dazu, andere Entscheidungen zu treffen und andere Wege zu beschreiten. Nicht nur mit Blick auf die Bedeutung der "Kuratorien" in den Lutherischen Landeskirchen oder die "heidnischen Reste" im evangelischen Volksglauben bestätigte sich im Prozeß der Konfessionsbildung einmal mehr die Allerweltsweisheit, daß es gerade Provisorien und Übergangslösungen sind, die oftmals am längsten Bestand haben. Luther hatte sich schon mit seiner großen reformatorischen Programmschrift von 1520 "An den christlichen Adel deutscher Nation" sehr bewußt einen mächtigen Bündnispartner für seine Auseinandersetzung mit der katholischen Kirche verschafft. Er stellte sich auf die Seite der weltlichen Gewalt, der Fürsten und der Stadträte, und stärkte ihnen den Rücken gegenüber Machtansprüchen der katholischen Kirche. Er widersprach dem Privilegium fori und begab sich gleichzeitig in den Schutz der weltlichen Herren: "Weil die weltliche Gewalt von Gott geordnet ist, die Bösen zu strafen und die Frommen zu schützen, soll man ihr Amt frei und ungehindert durch den ganzen Körper der Christenheit gehen lassen, niemand angesehen, sie treffe Papst, Bischöfe, Pfaffen, Mönche, Nonnen oder was es ist" (WA 6,409,16-20).

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Auch fur die Wiederherstellung und Aufrechterhaltung der moralischen Ordnung sollte die weltliche Macht zuständig sein: "Es folgt der Mißbrauch des Fressens und Saufens, davon wir Deutschen als einem besonderen Laster keinen guten Ruf in fremden Landen haben. Mit Predigen ist dem nicht mehr zu raten, so sehr ist es eingerissen und hat es überhand genommen. Der Schaden am Gut wäre noch das geringste, wenn nicht daraus Mord, Ehebruch, Stehlen, Gottesunehre und alle Untugend folgten. Es mag das weltliche Schwert hier etwas wehren ... Zuletzt: ist das nicht ein jämmerlich Ding, daß wir Christen unter uns halten sollen freie, gemeine Frauenhäuser? ... Ich will damit angezeigt haben, wie viele gute Werke die weltliche Obrigkeit tun könnte, und was aller Obrigkeit Amt sein sollte ... Denn die Obrigkeit ist schuldig, der Untertanen Bestes zu suchen" (WA 6,467,7-33). So hat Luther schon sehr frühzeitig Fürsten und Stadträten Verantwortung auf dem Gebiet der Moralerziehung zugewiesen und damit den bereits vorhandenen Keil zwischen dem katholischem Klerus und der weltlichen Obrigkeit absichtsvoll vertieft. Das sicherte ihm einerseits Sympathien bei der weltlichen Obrigkeit, trug ihm aber auch die Abhängigkeit von den keineswegs uneigennützigen Interessen eben dieser Sympathisanten ein. d) Die "richtigen" Leute und der Argwohn der Fürsten Es kommt hinzu, daß zahlreiche Facetten seiner Theologie mehrdeutig waren und durchaus auch unterschiedlich gedeutet worden sind. Fürsten, Bürger, Stadträte und Bauern konnten sich in der Anfangszeit der Reformation mit ihren sehr unterschiedlichen Anliegen und Interessen auf ihn berufen und haben es auch getan, ohne daß dies immer auch berechtigt gewesen wäre. Das macht seine Größe aus, war aber sicher auch eine Schwäche des reformatorischen Anliegens. Der Name Luthers bürgte für viele Interessen, nicht nur für seine eigenen. Die Betonung einer unmittelbaren Glaubensbeziehung des einzelnen Christen und die Proklamation des Priestertums aller Gläubigen ließen vielfache Freiheitssehnsüchte zum Ausbruch kommen. Was im Keim oftmals schon sehr viel früher angelegt war, verstärkte sich und führte zu religiösen und sozialen Eruptionen, von denen sich Luther u.a. 1525 energisch distanzierte. In Luthers Augen haben die falschen Leute seine durchaus richtigen Ideen aufgegriffen. Das traf aber letztlich auch die Ideen selbst und ließ ihn von ihrer Realisierung Abstand nehmen. Gerade hinsichtlich der organisatorischen Umsetzung seiner Vorstellungen hat sich Luther stark auf Melanchton gestützt. Die "richtigen" Leute hatte er eben noch nicht, wie er selbst sagte.

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Daß sie sehr wohl vorhanden waren, zeigt der rege religiöse Aktivismus des sogenannten "linken Flügels der R e f o r m a t i o n " d e r gerade tiefreligiöse Menschen erfolgreich ansprach. Immer wieder formierten sich religiöse Gruppen, die sich strikt auf die heilige Schrift beriefen und eine wahre Kirche zu verwirklichen suchten. Sie nahmen die urchristlichen Zustände zum Vorbild, sie förderten den freiwilligen Zusammenschluß der Gläubigen zu selbständigen und freien Gemeinden und orientierten sich nicht selten an der radikalen Ethik der Bergpredigt. Aber sie scheiterten in aller Regel am Argwohn und der Ablehnung der Fürsten. Hier verlief eine wirksame Trennlinie. Wer ernsthaft urchristliche Zustände mit kleinen, aber glaubensstarken Gemeinden und einer Verchristlichung des Alltags herbeiführen wollte, stand schnell ohne Schutz da und war der Verfolgung ausgesetzt.9 Wer aber das ganze Volk erreichen wollte, und Luther wollte das ohne Zweifel^, der brauchte die Loyalität der Fürsten, und diese Loyalität hatte ihren Preis. Der Preis, der zu entrichten war, war das landesherrliche Kirchenregiment.il Hier zeigt sich eine Grundspannung zwischen volkskirchlichem Anspruch und kleingemeindlichem Ideal, aber auch zwischen theologischen Einsichten und systemischen Erfordernissen, die in der evangelischen Kirche nie beseitigt oder aufgelöst worden ist. Die evangelische Kirche lebt seit ihrer Geburt mit, aber auch von dieser ungelösten Spannung. Noch im 20.Jahrhundert hinterläßt sie in der Diskussion über Methoden und Zielvorstellungen der evangelischen Gemeindearbeit tiefe Spuren. Die Unterstellung der Kirche unter das landesherrliche Regiment brachte zunächst einmal einen beiderseitigen Nutzen mit sich. Der Landesherr behielt die Fäden in der Hand und war vor unangenehmen Überraschungen seitens der Kirche sicher. Spätestens seit 1525 konnte niemand mehr diese Einstellung verübeln. Die kirchenleitenden "Kuratorien" waren (paritätisch besetzte) staatliche Behörden. Die Pfarrer wurden nicht von der Gemeinde gewählt, sondern vom Kuratorium eingesetzt. Die evangelische Kirche aber profitierte von der Macht der Staatsgewalt und konnte mit ihrer organisatorischen Hilfe die Visitationen durchführen, die unerläßlich waren, um den geistlichen Stand "auf Linie" zu bringen und die flächendeckende Verbreitung der protestantischen Lehre durchzusetzen.

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F.H.Littell: Das Selbstverständnis der Täufer, Kassel 1966, S.81 u.ö.; G.Holtz: Pfarrer, Sp.276 "Die weltlichen Obrigkeiten ließen es keineswegs bei der Strafandrohung bewenden, das Täufertum, das einen großen Zulauf hatte, wurde rigoros unterdrückt. In Oberdeutschland wurden rund 800 Männer und Frauen hingerichtet, die Zahl in Niederdeutschland dürfte noch größer sein ... Nach der Jahrhundertmitte begnügte man sich auch zusehends mit der Landesverweisung" - R.van Dülmen: Kultur und Stadt in der frühen Neuzeit. Bd.2: Dorf und Stadt, München 1992, S.260 Was schon daraus ersichtlich ist, daß seine Schrift "An den christlichen Adel" an den neugewählten Kaiser Karl gerichtet ist. Luther hat selbst ebenfalls an die Bildung von freien Kerngemeinden als Multiplikatoren für die Entstehung einer christlichen Volkskirche gedacht (WA 12,485 und 19,72-78). In der Praxis ist die Reformation aber anders verlaufen.

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Wenn man es systemtheoretisch betrachtet, dann haben tnassiv wirksame "Umweltfaktoren" die Entscheidung erzwungen, von der 1523 formulierten und theologisch sicher vollkommen zutreffenden Überzeugung abzurücken. Wer das ganze Volk erreichen wollte (Zielpriorität), der hatte nur die Wahl, sich den vorhandenen Gegebenheiten anzupassen oder sein Ziel aufzugeben. Die folgenschweren Konsequenzen, die sich später dann aus dem landesherrlichen Kirchenregiment und seiner Begründung für die Systemstabilität der Protestantischen Kirchen ergaben, werden in dem Kapitel über "die Landeskirchen als Sozialsysteme im Wandel" noch eingehender dargestellt werden. In den beiden genannten Schriften hat Luther dennoch nicht einfach theologische Seifenblasen formuliert. Ihre starke und nachhaltige Wirksamkeit haben sie allerdings erst in späteren Jahrhunderten entfalten können, als veränderte Situationen, ein stabilisierter konfessioneller Rahmen und die "richtigen Leute" eine konfliktfreiere Umsetzung anzustreben gestatteten. Der Pietismus fand Brücken zum abgespaltenen Erbe der lutherischen Reformation. Zunächst aber war das alles nicht gegeben. Die Systementwicklung nahm einen anderen Verlauf. e) Anlaufschwierigkeiten 1. Verwilderung der Pfarrerschaft: Die Reformation konnte auf das bereits bestehende Parochialsystem der katholischen Kirche zurückgreifen. Das aber bedeutete auch, daß man sich damit gleichzeitig die "alten" Pfarrer einhandelte. Daneben wurden vor allem Mönche, die das Kloster verlassen, zu wichtigen Stützen der Reformation. Einen festen Lehrkonsens gab es noch nicht. Von daher ist kaum verwunderlich, daß die Pfarrerschaft der Gründungsjahre ein überaus schillerndes Bild bot. Neben den ernsthaften und erfolgreich wirkenden Pfarrern gab es viele andere: "Das Niveau war tief. Charakterlose hielten in benachbarten Dörfern an einem Tag evangelischen und katholischen Gottesdienst, die Pfarrmägde wurden geheiratet, sittliche Verwilderung (Trunk, Verflechtung in Gemeindeskandale) hielt an und steigerte sich, weil sich die Disziplin lockerte, Pfarrgüter wurden beraubt, 'wilde' Stellenbesetzungen unter unwürdigen Auflagen (Antreten bei Treibjagden und als Diener bei Gastereien) kamen vor, die Not im Pfarrhaus mit jetzt legitimer Familie bei sinkenden und entfremdeten Einkünften wuchs, die Achtung der Volksmassen schwand weiter ... Frauen, die sich durch Hökerei und Branntweinausschank einen Nebenerwerb schafften, gehören zu den Schattenseiten des Bildes".

Um diese Mängel zu beseitigen, erhielten die Pfarrer Unterweisung und Unterstützung, u.a. durch Gottesdienstordnungen, Katechismen und Postillen. Unter organisatorischer Mithilfe der Landesherren wurden Visitationen der Pfarrer

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G.Holtz: Pfarrer, Sp.276

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und der Gemeinden durchgeführt. 13 "Etwa 10% der Geistlichen mußten nach Visitationen abgesetzt w e r d e n " . D i e Pfarrer wurden in eine strenge Dienstaufsicht eingebunden. Sie unterstanden einem Superintendenten, der wiederum dem Konsistorium unterstand. "Schon 1528 enthielt der 'evangelische Priestereid' die Verpflichtung: 'den regierenden fürsten als einer von Gott verordneten obrigkeit getreu, gewer und gehorsam (zu) s e i n ' . Hatte Luther zunächst vom "Notepiskopat" der Landesherren gesprochen und Melanchton vom "Wächteramt über die 10 [Gebots-]Tafeln", das die Fürsten innehatten, so führte der Augsburger Religionsfriede von 1555 dazu, daß die kirchliche Jurisdiktion in protestantischen Territorien offiziell aufgehoben wurde und die geistliche Gerichtsbarkeit auf die jeweiligen Landesherren überging. Mit den "Konsistorien" entstanden eigene weltliche Behörden für Kirchen(rechts)fragen. In der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts ist dann auch die Mehrzahl der protestantischen Kirchenordnungen erlassen worden. "Selbst die dazugehörenden Ordnungen des Amtes und des Gottesdienstes, die Berufung ins Amt und die Verhütung der Irrlehre gerieten in die Hände der Fürsten. Gerade das, was die Reformation nicht gewollt hatte, war geschehen".^ Damit aber war die organisatorische Grundlage für eine effektive Durchsetzung der Reformation geschaffen. Das Kirchenvolk konnte flächendeckend erfaßt, religiös ausgebildet und staatlich-kirchlich kontrolliert werden. 2. Territoriales Nebeneinander und Ineinander der Konfessionen: Viele der neuen Protestanten lebten in enger Nachbarschaft mit denen, die nach wie vor katholisch waren. Nach dem Augsburger Religionsfrieden konnte kaum jemand völlig ausschließen, daß nicht doch über Nacht die "offizielle" Konfession der Bevölkerung wechseln würde. In einigen, zumeist kleineren Gebieten ist das sogar mehrfach geschehen. Auch gab es Territorien, die von mehreren Herren unterschiedlicher Konfession gemeinsam verwaltet wurden. Es gab alte Parochialgrenzen, die sich nicht immer mit den Landesgrenzen deckten. Das führte dann dazu, daß protestantische Christen teilweise in offiziell katholischen Ländereien wohnten. Wo die zuständigen Fürsten schwach oder sogar desinteressiert waren, konnte der Schritt zum Konfessionswechsel durchaus auch gegen Ende des 16.Jahrhunderts noch von Ortsgeistlichen a u s g e h e n . Weitere lokale Besonderheiten kommen hinzu. Der theologische Wahrheitsanspruch der protestantischen Konfessionen war faktisch seit 1555 durch die territorialen und realpolitischen Verhältnisse untergraben.

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In Kursachsen fand die erste Visitation 1528 statt; Eine Übersicht über gedruckte und ungedruckte Visitationsberichte bietet: E.W. Zeeden / H. Molitor (Hg.): Die Visitation im Dienste der kirchlichen Reform, Münster 1967, S.49-91 bzw. S.92-126 G.Holtz: Pfarrer, Sp.276 G.Gretlein: Das Pfarrer-Dienst-Recht in Bayern, in: K.Kreßel / K.Weber (Hg.): 100 Jahre Pfarrer- und Pfarrerinnenverein in Bayern, Selbstverlag Nürnberg 1991, S.59 G.Gretlein: Pfarrer-Dienst-Recht, S.60 z.B. A. Witteborg: Geschichte der Evgl.-luth. Gemeinde Barmen-Wupperfeld von 1777 bis 1927, Barmen (Selbstverlag) 1927, S.28-31

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3. Ungefragt evangelisch: Große Teile der deutschen Bevölkerung waren geradezu "über Nacht" protestantisch geworden, ohne sich der Konsequenzen vollauf bewußt zu s e i n . 1 8 sie fanden sich unverhofft und ungefragt unter einem landesherrlichen Kirchenregiment wieder und mußten sich auf stark veränderte Prioritäten der offiziellen Religion einstellen. Im ló.Jahrhundert lebten etwa 80% der Bevölkerung auf dem Land. 19 Der überwiegende Teil der Landbevölkerung konnte weder lesen noch schreiben. Das fällt besonders ins Gewicht, wenn man sich klar macht, daß die Reformation in Akademikerkreisen erdacht wurde und ihre Erfolge den guten Kontakten zur Obrigkeit und der relativ leichten Zugänglichkeit der großen Städte und eines Bürgertums verdankte, das sich insbesondere auch für humanistische Gedanken erwärmen konnte. 4. Anspruchsvolle Forderungen der protestantischen Theologen: Die Reformatoren waren durchweg hochgebildete Theologen, die der christlichen Frömmigkeit ein markant neues Profil geben wollten. Die Wortverkündigung stand im Zentrum der neuen Konfession. Im Gottesdienst war jetzt konzentriertes Zuhören und pietätvolles Verhalten gefordert. Bänke wurden in die Kirchen gestellt, um das zu gewährleisten. Das Abendmahl wurde nur noch selten empfangen. Die sieben Sakramente wurden auf zwei^O reduziert. Gerade dieser Einschnitt gab der christlichen Religion eine neue Ausrichtung. War vorher das religiöse Leben und Erleben durch die sieben Sakramente von der Wiege bis zur Bahre umfassend sakramentalisiert, so haben die Reformatoren den symbolhaften und sinnlich erfahrbaren Religionsvollzug weitestgehend suspendiert und an seine Stelle Formen der intellektuellen und spirituellen Religionsausübung zu setzen versucht.21 Die Anzahl der kirchlichen Festtage wurde stark beschnitten, Wallfahrten und Heiligenkulte abgeschafft. Von jedem Gemeindemitglied wurde ein sittenstrenges und moralisch absolut einwandfreies Verhalten erwartet. Dieses Verhalten wurde vor Ort überwacht. Der "Spaß an der Freude" wurde zurückgedrängt, das "fromme" Leben war eine ernste Aufgabe: Weltliche Vergnügungen, Feste, Feiern, Traditionen wurden weitgehend abgelehnt und, wo es möglich war, unterdrückt oder verboten. Es fällt nicht schwer, nachzuvollziehen, daß die Umstellung auf die neuen Glaubensgrundsätze für die große Mehrheit der Betroffenen mit einem gewaltigen Traditionsabbruch verbunden war, den man wohl schwerlich unterschätzen kann.

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Das waren wohl nicht einmal die Reformatoren selbst, denn vieles entwickelte sich ja überhaupt erst im Prozeß der fortschreitenden Reformation. H.Lehmann: Frömmigkeitsgeschichtliche Auswirkungen der 'Kleinen Eiszeit', in: W.Schieder (Hg.): Volksreligiosität, S.43: "mehr als 80%"; R. van Dülmen: Kultur II, S.12: "70-80% der Bevölkerung" bzw. drei, wenn man das Beichtsakrament hinzunimmt (obligatorische Beichte als Voraussetzung für den Abendmahlsempfang auch bei Luther). Mit der Entsinnlichung des Glaubens ging nicht allein die Spiritualisierung des Glaubens einher. Unbeabsichtigt war damit auch ein "Säkularisierungsimpuls" verbunden: Wer fünf von sieben Sakramenten abschafft, darf sich nicht wundern, wenn die Gläubigen ihrerseits auch hinsichtlich der verbliebenen beiden Sakramente ins Grübeln geraten.

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2. Die Durchführung der Reformation im 16. und 17.Jahrhundert Die eben genannten Faktoren können unmöglich ohne Folgen auf das Religionsverständnis und das religiöse Verhalten der Bevölkerung geblieben sein. Deshalb soll nun im folgenden dargestellt werden, auf welche religiösen Voraussetzungen die Theologie der Reformatoren in der Bevölkerung gestoßen ist (a), wie der erforderliche Traditionsabbruch organisatorisch vollzogen wurde (b) und zu welchen Ergebnissen er schließlich geführt hat (c). a) Die religiösen Voraussetzungen in der Landbevölkerung Frömmigkeit ist das Resultat einer "individuellen und personenspezifischen Aneignung des christlichen Glaubens".22 Neben die christliche Wahrheit und die christliche Überlieferung tritt als weiterer konstitutiver Faktor die persönliche Erfahrung im Kontext des jeweiligen sozialen und kulturellen Milieus. Für die Landbevölkerung des 16.Jahrhunderts bedeutete dies dreierlei: "Die Religiosität des einfachen Volkes war nie abgehoben von der konkreten Lebenserfahrung. Eine mystische oder moralische Religiosität, wie sie Mönche oder Reformatoren propagierten, war dem in handgreifliche Arbeitsprozesse eingebundenen einfachen Volk letztlich fremd. Rein geistlicher Zuspruch und die Vertröstungen auf ein abstraktes Jenseits übten weniger Wirkung aus als magisch-rituelle Praktiken. Von Zaubersprüchen und Segnungen, aber auch von Anrufungen der Heiligen und dem Empfang der heiligen Sakramente erhofften die Menschen Hilfe vor Unheil wie Unfruchtbarkeit, Unwetter, Krankheit, Feuersbrunst und Feinden ... In einer Zeit, in der der Mensch unmittelbar von der Natur abhängig war, war die konkrete Lebenssicherung die wichtigste Funktion der Religion".23 Martin Luther war selbst vom Glauben an Teufel und Hölle tief geprägt.24 Aber nicht nur er allein. Seine Zeitgenossen lebten in einer Welt voller Geister, Hexen und Dämonen, voller magischer Praktiken, schützender Vorsorgemaßnahmen und (später als "abergläubisch" bezeichneter) Sprichworte, die präzise 22 23

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F.Wintzen Frömmigkeit III, in: TRE 11, S.685 R.van Dülmen: Volksfrömmigkeit und konfessionelles Christentum im 16. und 17.Jahrhundert, in: W.Schieder (Hg.): Volksreligiosität in der modernen Sozialgeschichte, Göttingen 1986, S.20f. Wer als Pfarrer die Sprachlosigkeit der Eltern in den Taufgesprächen kennengelernt hat, weiß, daß derartige religiöse Vorstellungen auch mehr als 400 Jahre später durchaus noch lebendig sind. H.A.Oberman: Luther. Mensch zwischen Gott und Teufel, Berlin 1982; deutlich auch in vielen Lutherliedern aus dem Evangelischen Kirchengesangbuch (z.B. EKG 146,6; 201,3; 239,2 u.ö.). Wie ja überhaupt der Teufel seinen Stammplatz im Evangelischen Kirchengesangbuch, wenn auch unter ständiger Anfechtung, bis heute erfolgreich behauptet.

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festlegten, wer warum, wann, wo und unter welchem Umständen etwas (nicht) tun durfte. Zwischen Magie und Religion gab es keine klare Grenze. Kaum jemand verstand den Sinngehalt des Sakramentenvollzugs. Was er aber in den gottesdienstlichen Ritualen erlebte, wenn er sie kognitiv nicht verstand, war dann tatsächlich von einem magischen Ritenvollzug nicht mehr zu unterscheiden. Zudem war Religion zuerst und vor allem religiöses Erlebnis. Lesen konnte man ja nicht. Also wirkten vor allem die persönlichen Eindrücke, die man im Zusammenhang mit Religion und Kirche machen konnte und gemacht hatte. Eindrücke aus dem Kirchengebäude, aus Bildern und Predigten, die Texte der Kirchenlieder, Erfahrungen im Umgang mit den Pfarrern, all das wurde wichtig genommen und prägte das Bild und die Einstellung zur christlichen Religion. Differenziertes religiöses Sachwissen war kaum vorhanden und deshalb in der gelebten Religiosität auch von verschwindend geringer Bedeut u n g . D i e heilige Schrift galt als "Wunder- und Orakelbuch". Sie übte "mehr eine magisch-abergläubische denn eine erbaulich-moralische Funktion" aus.26 Schließlich war die Existenz einer christlichen Kirche eine pure Selbstverständlichkeit. Man kannte und erwartete nichts anderes. Aber gerade deshalb hatte die Bevölkerung in Jahrhunderten gelernt, die Kirche für die jeweils aktuellen Bedürfnisse nutzbar zu machen. Auch handfeste "weltliche" Interessen wurden im Rahmen kirchlicher Veranstaltungen ausgelebt. Das machte ein gutes Stück der Attraktivität aus, die von Wallfahrten und Feiertagen ausging. Die Reformatoren wurden nicht müde, dieses Ineinander zu beklagen, und verurteilten scharf, daß den "reinen" religiösen Intentionen nur am Rande entsprochen wurde. Stellt man die tief verwurzelte Einstellung in Rechnung, Religionsausübung müsse immer auch einen unmittelbaren persönlichen Nutzwert haben, dann ist leicht nachvollziehbar, warum das von den evangelischen Kirchen vertretene "Ideal einer Religiosität, die von materiellen Interessen befreit und allein auf moralische Verwirklichung des Glaubens gerichtet war, dem Volk lange Schwierigkeiten machte "27 und keineswegs als selbstverständlich empfunden wurde. Der Widerstand, der den reformatorischen Neuerungen entgegengestellt wurde, war hoch und, mittelfristig betrachtet, auch keineswegs erfolglos.

b) Wie der Traditionswandel organisatorisch vollzogen wurde Martin Luther hatte gerade im Gottesdienst die große Chance gesehen, das Volk "zum Glauben zu reizen". Die Breitenwirkung des Gottesdienstes und der Predigten sollte nicht unterschätzt werden. Auch lagen mit den Katechismen Lehrbücher für den kirchlichen Unterricht vor, die schnell weite Verbreitung fanden. Aber viele Menschen konnten nicht lesen. So bildeten vor allem die 25 26 27

R.van Dülmen: Volksfrömmigkeit, S.19 R.van Dülmen: Volksfrömmigkeit, S.20 R.van Dülmen: Volksfrömmigkeit, S.22

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Kirchenlieder, die in zahlreichen Strophen die Kernthemen des Glaubens darstellten (Weihnachten, Karfreitag, Ostern, Taufe, Abendmahl, Rechtfertigungslehre u.a.), die Hauptquelle des christlichen Sachwissens der Bevölkerung. Gesangbücher für die Gemeindemitglieder gab es noch nicht. Die Lieder wurden auswendig g e s u n g e n . 2 8 Luthers Hoffnung, das "Evangelium" werde sich geradezu von selbst durchsetzen und landauf landab die freudige Bereitschaft wekken, das Alte abzutun und den neuen Glauben zu verinnerlichen, erfüllte sich allerdings nicht. Vor dem Hintergrund eines über Jahrhunderte hinweg gewachsenen Religionsverständnisses war das im Grunde auch gar nicht anders zu erwarten. So vollzog sich die breitenwirksame und flächendeckende Durchsetzung des neuen Glaubens faktisch unter erheblichem religiösen, sozialen und politischen Druck. Eine Reihe von Maßnahmen griffen ineinander und verstärkten sich in ihrer Wirkung: die Beichtvorschriften, die dörflichen Selbstüberwachungsinstitutionen und die kontinuierlich stattfindenden Visitationen. In der Summe ergänzte sich das zu einer straff organisierten Kirchenzucht. 1. Beichtvorschriften: Schon in der "Formula missae" hatte Martin Luther die Zulassung zum Abendmahl von einer bestandenen Prüfung abhängig gemacht. Ebenso wie bei der Anmeldung zur Taufe sollten sich die Christen auch persönlich zur Teilnahme am Abendmahl anmelden. "Aber hierin soll man eben die Weise oder Ordnung haben, die man bei der Taufe hält, nämlich daß erstlich dem Bischof oder Pfarrherrn angezeigt werde, wer sie sind, so das Sakrament empfangen wollen, und sie selbst sollen bitten, daß er ihnen das heilige Sakrament wollt reichen, auf daß er ihre Namen kenne und, was sie für ein Leben führen, wissen möge. Danach, ob sie gleich darum bitten, soll er sie doch nicht ehe zulassen, sie haben denn Anwort gegeben ihres Glaubens und sonderlich auf die Frage Bericht getan, ob sie verstehen, was das Sakrament sei, was es nütze und gebe und wozu sie es wollen brauchen" (WA 12,215,18-23). In den lutherischen Kirchenordnungen des 16.Jahrhunderts wurde die regelmäßige Abendmahlsteilnahme und damit auch das regelmäßige Beichtverhör zur Pflicht gemacht. "Ich achte aber, daß genug sei, daß der, so das Sakrament begehrt, einst im Jahr auf diese Weise gefragt und erforschet werde" (WA 12,215,29f). An dieses Glaubensverhör konnte sich, nach Luther, noch eine persönliche Beichte anschließen. In der Praxis vermischten sich aber beide Teile. "Das Verhör ging unmerklich in die Beichte über und umgekehrt. Die Bezeichnungen wurden austauschbar. Der Umstand, daß das Verhör mit der Absolution durch den Pfarrer schloß, begünstigte diese Entwicklung: Aus dem Pflichtverhör war wieder die Pflichtbeichte geworden, die zur Pflichtkommunion dazugehörte. Die für das Luthertum typische Form der stark katechetisch 28

P.Graff: Geschichte der Auflösung der alten gottesdienstlichen Formen, Göttingen 1921, S.255 beklagt: "Die Folge war, daß der Wortlaut der Lieder beim Singen oft entsetzlich entstellt und ohne Andacht mitgesungen wurde".

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orientierten Privatbeichte war geboren".29 Die katechetische Ausrichtung und die große Zahl der Verhöre, die vor Ostern durchzuführen waren, förderten die "Formelhaftigkeit des Verfahrens".30 2. Visitationen: Jedes Mitglied der Gemeinde war dem allgemeinen Landrecht und der Kirchenordnung unterworfen. Das allgemeine Landrecht regelte das soziale, ökonomische, sittliche und religiöse Verhalten des Volkes. Es verpflichtete in der Familienordnung den Hausvater zur sittlichen und religiösen Erziehung sämtlicher Personen seines H a u s e s . D i e Kirchenordnungen verpflichteten alle Gemeindemitglieder zum Gottesdienstbesuch, zum Empfang der Sakramente und zu einem moralisch einwandfreiem Lebenswandel: "Daß die Unterthanen fleißig in die Predigt und zur Lehr des Catechismi zu gehen vermahnet, und wie die, so solches mutwilliglich verseumen, gestraffet werden sollen".32 i n regelmäßigen Visitationen wurde geprüft, ob auch alle dem Gesetz Folge geleistet hätten. Es ist informativ, sich einmal vor Augen zu führen, wie das in einem konkreten Einzelfall aussehen konnte, auch wenn man diesen Einzelfall natürlich nicht verallgemeinern darf. Walter Rummel hat das Beispiel der lutherischen Gemeinde Winningen in der Hinteren Grafschaft Sponheim untersucht. Es handelte sich um eine Diasporagemeinde, die vollständig von katholischen Gebieten umgeben war. Die Grafschaft hatte im Jahr 1559 durch Herzog Wolfgang von Zweibrücken eine lutherische Kirchenordnung erhalten. 33 Neben den Regelungen für die einzelnen Gemeindemitglieder sah die Kirchenordnung ein Gremium verordneter "uffseher und censores" vor, ein ständiges Organ zur innergemeindlichen Selbstüberwachung. Daneben aber sollten auch regelmäßige Visitationen für eine straffe Kirchenzucht sorgen. 1559 wurde die Kirchenordnung erlassen. Die ersten Visitationen folgten in den Jahren 1560, 1567, 1575 und 1580. Bei diesen Visitationen wurde das Katechismuswissen und der Lebenswandel der einzelnen Gemeindemitglieder überprüft. Aber auch die Pfarrer wurden bei den Visitationen der Beurteilung durch die versammelte Gemeinde ausgesetzt. Rummel zeigt, daß das Verfahren im Laufe von Jahrzehnten durchaus Wirkungen hervorgebracht hat. Während die ersten Visitationsberichte über Winningen "angefüllt sind mit Klagen der Pfarrer über die

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E.Bezzel: Beichte III: Reformationszeit, in: TRE 5, S.423 E.Bezzel: Beichte, S.424. Zur Beichte gehörte auch die Bezahlung des Beichtgeldes hinzu. Das "Beichtgeld", das an den Pfarrer zu entrichten war, machte einen gesicherten Anteil an dessen Einkommen aus. In der Regel lebten die Pfarrer damals eher schlecht als recht von den Erträgen, die der Pfarracker abwarf, den sie in Nebenerwerbslandwirtschaft selbst zu bestellen hatten. R.van Dülmen: Kultur und Alltag in der frühen Neuzeit. Bd.l: Das Haus und seine Menschen, München 1990 Kapitelüberschrift der Nassau-Saarbrücken'sehen Kirchenordnung von 1576 - D.E.Knoth: Die von den Grafen Albrecht und Philipp im Jahr 1576 publizierte Nassau-Saarbrükken'sche Kirchenordnung und Agende und ihre Weiterentwicklung, Herborn 1905, S.19 W.Rummel: Die 'Ausrottung des abscheulichen Hexerey Lasters', in: W.Schieder (Hg.): Volksreligiosität in der modernen Sozialgeschichte, Göttingen 1986, S.51-72

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zahlreichen, noch immer gebräuchlichen 'papistischen' Abgöttereien und andere Unsitten", zeigen die Visitationsberichte nach 1600 ein anderes Bild von der Gemeinde: "Die Zensoren wußten niemanden anzugeben, der dem Abendmahl ferngeblieben sei, und bei der Examinierung des Katechismus, zu der die Gemeinde vollständig erschienen war, bewiesen etliche Bürger und Bürgersfrauen, daß sie ihn nicht nur dem Wortlaut nach, sondern gleich mit der Auslegung in seinen Hauptteilen erzählen konnten. Sie wurden dafür von den Visitatoren gelobt, natürlich mit der Ermahnung, 'in solchem löblichen Anfang beständig fortzufahren'." 3 4 Dieses relativ positive Ergebnis wird durch eine territorial breiter angelegte Untersuchung von Bernard Vogler über die "Entstehung der protestantischen Volksfrömmigkeit in der rheinischen Pfalz zwischen 1555 und 1619" differenziert. 35 Gerade das Katechismuswissen, nach reformatorischem Anspruch Kernbestandteil des neuen christlichen Glaubens, ließ im einzelnen doch arg zu wünschen übrig, denn angelerntes Wissen war noch lange kein anwendbares Wissen. Vogler schreibt: "Die Mehrheit kennt diese Punkte [ = Kernstücke des Katechismus: 10 Gebote; Glaubensbekenntnis; Vater Unser; Taufe; Abendmahl] allmählich auswendig. Jedoch ist nur eine kleine Minderheit imstande, selbst nur bruchstückhaft den tieferen Sinn des Ganzen im Kopf zu behalten ... oft bleibt nur ein fragmentarisches Wissen übrig, das beim Erwachsenwerden wieder verloren geht. Noch bis ins Jahr 1619 bleibt das Niveau der Erwachsenen so mangelhaft, daß manche sogar nicht einmal das Glaubensbekenntnis oder das Vater Unser kennen".36 3. Die "kleine Eiszeit": Die Konfessionalisierung der Bevölkerung wurde nicht nur durch kirchliche und staatliche Erziehungsmaßnahmen bewirkt, sie ist zu einem gewissen Teil auch das Produkt äußerer, überraschenderweise sogar auch klimatischer Umstände, die die Wendezeit vom 16. zum 17.Jahrhundert bestimmten. Im letzten Drittel des 16.Jahrhunderts kumulierten eine Reihe von negativen Entwicklungen in sehr unterschiedlichen Bereichen zu einem Szenario, das man als "Krise des 16.Jahrhunderts" bezeichnet hat.37 Die wirtschaftliche Konjunktur, die vorher einen langanhaltenden Aufschwung beschert hatte, brach ab. Der Ausbau der Wirtschaft und die Fortschritte der Landwirtschaft hielten nicht mehr Schritt mit dem demographischen Wachstum. Es kam zur Verknappung der Lebensmittel. Die sozialen Spannungen in der Bevölkerung stiegen an. Gleichzeitig sanken im letzten Drittel des 16.Jahrhunderts "die Durchschnittstemperaturen mit der Folge, daß es seit den 1570er und 1580er Jahren zu einer Häufung von extrem nassen und kalten Sommern und von extrem langen und kalten Wintern - in zahlreichen europäischen Ländern zu einer aus diesem ungünstigen Klima resultierenden ungewöhnlichen Serie von außer34 35 36 37

Beide Zitate W.Rummel: Ausrottung, S.63 in: Archiv für Reformationsgeschichte 72/1981, S. 158-195; Vogler untersucht die Kurpfalz, das Herzogtum Zweibrücken und die hintere Grafschaft Sponheim. B.Vogler: Entstehung, S. 159 Zum folgenden: H.Lehmann: Auswirkungen, S.31-50; R.van Dülmen: Kultur

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ordentlich schlechten Ernten und nicht selten sogar völligen Mißernten - kam. Erst im zweiten Drittel des 18.Jahrhunderts sollten sich die klimatischen Bedingungen erneut stabilisieren und sich erst im frühen 19.Jahrhundert grundlegend bessern". Diese äußeren Faktoren hatten auch Auswirkungen auf das protestantische Projekt der religiösen Umerziehung der Bevölkerung. Einerseits kam es zu einer Erneuerung der Eschatologie. Man interpretierte die Vielzahl sich häufender negativer Entwicklungen als Vorzeichen des unmittelbar bevorstehenden Jüngsten Gerichts. In der heiligen Schrift waren die Zeichen ja genannt und vieles traf tatsächlich auf die Gegenwart zu: Die Pestepidemien von 1566, 1580 und 1583, die Erdbeben von 1552, 1570 und 1590, die Kriege, die Mißernten, Hungersnöte. Alle diese Beobachtungen fielen so lange besonders ins Gewicht, wie viele Menschen lebten, die sich an die besseren Zeiten noch persönlich erinnern konnten. Ihnen mußte die Entwicklung besonders dramatisch erscheinen. "Angst lehrt beten" lautet ein altes Sprichwort. Es sieht so aus, als ob diese äußeren Entwicklungen viele Menschen dazu gebracht hätten, sich intensiver mit der heiligen Schrift und der christlichen Verkündigung zu beschäftigen. Dafür spricht die Zunahme der Erbauungsliteratur gegen Ende des 16.Jahrhunderts. Wie stets in solchen Zeiten gab es auch Versuche, das Jahr der Wiederkunft Christi exakt zu berechnen. 39 Wenn die Wiederkunft Christi nahte, dann blieb den einzelnen Christen nicht mehr viel Zeit, um sich zu bekehren und auf diese Art ihre Seele zu retten. Zwar war die Lektüre von Büchern den wohlhabenderen Kreisen vorbehalten, der Zusammenhang zwischen den eschatologischen Erwartungen, einem zunehmenden Interesse an religiöser Bildung und der Intensivierung der persönlichen Frömmigkeit ist dennoch evident. 4. Hexenverfolgungen: Eine zweite Form der Krisenreaktion hat den Konfessionalisierungsschub wahrscheinlich noch sehr viel nachhaltiger beflügelt, die Hexenverfolgungen.40 Es gab drei große Verfolgungswellen, um 1590, um 1630 und um 1660. Die mittlere Welle umfaßt einen Zeitraum von etwa 5 Jahren (1627 bis 1632). Die 1. und 3. Welle umfassen jeweils Zeiträume von etwa 15 Jahren.41 in der Forschung ist noch nicht abschließend geklärt, was die Verfolgungen in den verschiedenen Staaten Europas genau ausgelöst hat und wer warum im einzelnen betroffen war.42 Deutlich ist aber, daß an der Verfolgung der Hexen beide Konfessionen beteiligt waren und "alle gesellschaftlichen Kräfte" mitwirkten. Die Volksreligiosität hatte das Hexenbild geliefert, "die Obrigkeiten hatten ihre Justizapparate zur Verfügung gestellt und die Gemeinden hatten durch Denunziation erheblich bei der Vernichtung unschuldiger 38 39 40

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H.Lehmann: Auswirkungen, S.33 Unter anderen ermittelte Philipp Nicolai das Jahr 1670 - H.Lehmann: Auswirkungen, S.49 Zum folgenden G.Schormann: Hexen, in: TRE 15, S.297-304; W.Rummel: Ausrottung; R.van Dülmen: Kultur und Alltag in der frühen Neuzeit Bd.3: Religion, Magie, Aufklärung, München 1994, bes. S.78-96 G.Schormann: Hexen, S.300 Einen Überblick über den Diskussionsstand bietet Schormann: Hexen, S.301-303; R.van Dülmen: Kultur III, S.96

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Menschen mitgeholfen" .43 Auch scheint es unterschiedliche Motive zu geben, die den einzelnen Verfolgungsphasen zugrunde liegen. So fiel die erst Verfolgungswelle in eine Zeit starker Unwetter und Mißernten.44 Entsprechend häufig findet man Anklagen wegen "Schadenzauber". Ein "Sündenbock" wurde gesucht und gefunden, oftmals soziale Außenseiter oder ältere, alleinstehende Frauen, denen man unterstellte, für die Mißernten verantwortlich zu sein. In diesem Sinne ist auffallend, daß Hexenprozesse in Deutschland in den kargeren Mittelgebirgsregionen generell häufiger waren als in den Flachlandregionen. In der zweiten Welle findet man dagegen häufiger Anklagen wegen individueller Befindlichkeiten, aufgrund von abweichendem Sozialverhalten oder Verletzung sittlich-religiöser Normen.^^ Eingeleitet wurden die Hexenprozesse oftmals durch "Gerüchte"46 in der Dorf- oder Stadtgemeinschaft, die sich hartnäckig verfestigten und nahezu zwingend mit dem Tod der Beschuldigten endeten, da die Folter im Hexenprozeß obligatorisch war. Ein solches Gerücht aber konnte praktisch jeden jederzeit treffen. Gerade das machte das Willkürliche und Perfide der Hexenprozesse aus. Es zwang die Menschen dazu, um nahezu jeden Preis dem "Gerücht" vorzubeugen, was bedeutete, daß sie sich absolut sozialkonform verhalten mußten, um nicht selbst in die Todesmaschine hineingezogen zu werden. "Sozialkonform" hieß im 16. und 17.Jahrhundert vor allem "fromm und gut". Denn in den Prozessen wurde die Frage der Schuld oder Unschuld einer Beklagten mit der Frage nach ihrer Frömmigkeit eng verknüpft. Hexen hatten einen Pakt mit dem Teufel geschlossen, konnten also der Logik der Anklage entsprechend unmöglich "fromm und gut" sein. "Fromm" zu sein, barg mithin zumindest theoretisch die Chance, nicht vom Gerücht erfaßt zu werden. Selbst wenn heute nachgewiesen ist, daß die Hexenprozesse von den großen Konfessionskirchen nicht gezielt forciert worden sind, um "heidnische Vorstellungen und Bräuche" im Volk auszurotten, so läßt sich doch nicht abstreiten, daß die Hexenprozesse für beide Konfessionskirchen in gleicher Weise funktional waren. Die Hexenprozesse waren mehr als bloße "Begleiterscheinungen der K o n f e s s i o n a l i s i e r u n g " ^ sie waren, von ihrer Wirkung her beurteilt, hocheffektive Mittel zur Durchset-

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R.van Dülmen: Kultur III, S.95 R.van Dülmen: Kultur III, S.93 W.Rummel: Ausrottung, bes. S.61 Nach G.Schormann, war das "Gerücht" das am häufigsten verwendete Indiz. - Hexen, S.299 G.Schormann: Hexen, S.302, der hier zurecht auch darauf hinweist, daß es sich bei der Hexenverfolgung "um einen gemeinsamen Gegner aller Konfessionen handelt und nicht etwa um ein Kampfinstrument gegen Andersgläubige". W.Rummel schreibt dazu: "Die religiöse Konkurrenzsituation führte (bei den Hexenverfolgungen in Winningen) sogar zu einer überkonfessionellen Kooperation, da der lutherische Pfalzgraf, Georg Wilhelm von Birkenfeld, aus Gründen der verfolgungstechnischen Organisation dazu bereit war, kurtrierische Juristen, zumeist Mitglieder des Koblenzer Hofgerichts, die ihm die Winninger vorgeschlagen hatten, mit der Begutachtung der Akten und der Durchführung der Verhöre zu betrauen." - Ausrottung, S.70

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zung der neu entstandenen Konfessionsprofile .48 sie beschleunigten den Konfessionalisierungsprozeß und brachten einen Konfessionalisierungsstandard hervor, der durch den obrigkeitlichen Druck allein wohl kaum in dieser Geschwindigkeit erreicht worden wäre. c) Die Ergebnisse des Konfessionalisierungsprozesses 1. Ideale Zustände in der Kirche: Zur Bewertung der Ergebnisse des Konfessionalisierungsprozesses der frühen Neuzeit ist es sinnvoll, eine Begriffspräzisierung einzuführen, die William A. Christian vorgeschlagen hat. Er unterscheidet "religion-as-practiced", also die Religionsausübung der Bevölkerung, und "religion-as-prescribed", die Normvorgaben der Theologen und der Kirchenordnungen. Übernimmt man diese Begrifflichkeit und die ihr inhärenten Beurteilungskriterien, dann stellen sich die Resultate des Konfessionalisierungsprozesses aus kirchenoffizieller Sicht völlig anders dar als aus der Sicht der umerzogenen Bevölkerung. Aus kirchenoffizieller Sicht herrschten in der Kirche etwa seit Mitte des 17.Jahrhunderts nahezu ideale Verhältnisse. Gottesdienstbesuch und Abendmahlsteilnahme waren zur regelmäßigen Gewohnheit geworden. Die Perikopenordnung und die Detemporelieder bewirkten, daß die Gottesdienstteilnehmer im Verlauf der Jahre immer wieder die gleichen Bibeltexte hörten und die gleichen Lieder sagen. So wurde der Kernbestand des christlichen Glaubens verinnerlicht. "Der Kirchenbesucher wußte nicht nur, worüber gepredigt, sondern ziemlich genau auch, was gesungen wurde. Der Kantor brauchte bloß anzustimmen. Es ist aber fraglich, ob man die in den Verzeichnissen angeführten Gesänge auch alle auswendig konnte ... Gerber [1732] berichtet, er habe als Knabe immer nur dieselben acht Lieder und die Festlieder gehört, da in den Dörfern außer dem Kantor niemand ein Gesangbuch besessen hätte" .50 Die 48

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Walter Rummel ist in seiner Bewertung der Hexenprozesse von Winningen, die während der zweiten Verfolgungswelle stattfanden, sogar noch einen Schritt weitergegangen und hat versucht, zu belegen, daß "der 'löbliche' Eifer der Winninger bei der Verfolgung der 'Hexen' zumindest teilweise von der intensivierten obrigkeitlichen Glaubens- und Verhaltensdisziplinierung stimuliert wurde ... Die in den meisten Zeugenaussagen enthaltenen Beschreibungen von verdächtigen Situationen und Verhaltensweisen offenbaren eine persönliche Kontrollbereitschaft, deren Verwandtschaft mit der von der Landesregierung verordneten Zensur durch das Kirchengericht nicht zu leugnen ist. Die Obrigkeit selbst hatte die Entstehung einer solchen zensorischen Haltung der Dorfbewohner ... gefördert, indem sie sowohl deren Mitglieder als auch die Geistlichen der Pfarrei bei den Visitationen der Beurteilung durch die versammelte Gemeinde aussetzte ... Die zur Identifizierung und Stigmatisierung der Winninger 'Hexen' verwendeten normativen Kriterien entsprechen zum großen Teil exakt den in der sponheimischen Kirchenordnung für Visitatoren und Zensoren vorgeschriebenen Berichts- und Aufsichtspunkten: Lästerungen und alles unbedachte Reden, Trunckenheit und Seufferei', Ehebruch, 'uneheliche beywohnung' und jeglicher eheliche Zwist sowie der Kirchenbesuch". - Ausrottung, S.63f Local Religion in Sixteenth-Century Spain, Princeton 1981, S.178 P.Graff: Geschichte, S. 134

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Entwicklungen im Schulwesen trugen ihrerseits Früchte und verbreiterten die Bildungsbasis der Bevölkerung, was nicht zuletzt auch die religiöse Bildung förderte. "Christliche Normen waren verbreitet, alte Traditionen zurückgedrängt und aufklärerische noch nicht vorhanden, jedenfalls gab es kaum gesellschaftliche Gruppen, die nicht von der christlichen Botschaft berührt waren".51 Die Ansprüche des evangelischen Glaubens waren weitgehend verinnerlicht, die Ausbildung eines christlichen Gewissens geglückt, Sündenbewußtsein und der Wunsch, "rein" zu leben, in der Bevölkerung verankert. Da dieser Zustand noch bis ins 18.Jahrhundert (in Restbeständen bis ins 20.Jahrhundert) hinein erhalten blieb, läßt sich durchaus begründet behaupten, daß die evangelischen Kirchen in dieser Zeit ihren größten denkbaren Einfluß ausübten. Im späten 17.Jahrhundert war Wirklichkeit, was bsiweilen heute noch ersehnt wird: Getaufter Christ zu sein, hieß, regelmäßig am Gottesdienst der nahezu vollständig versammelten Gemeinde teilzunehmen. Allerdings sollte über diesem äußerlich so positiven Bild nicht in Vergessenheit geraten, wie es zustande gekommen ist. Der neue Glaube war mit Hilfe einer starken religiös-sozialen Disziplinierung der Bevölkerung durchgesetzt worden. Die Obrigkeit, die dabei mithalf, hatte ihrerseits ein erhebliches Eigeninteresse an der religiösen Disziplinierung ihrer Bürger, denn die religiöse Disziplinierung war gleichzeitig auch soziale Disziplinierung und stellte als solche ein wichtiges Erfordernis im Prozeß der Entstehung der frühmodernen Staaten dar. Dieser Faktor hat manches überhaupt erst ermöglicht, weil der Staat sich das Recht nahm, bis tief in die sozialen, familialen und religiösen Verhältnisse hineinzuregieren. Von der Bevölkerung wurde das keineswegs als illegitim empfunden, denn er setzte lediglich auf einer qualitativ anderen Ebene fort, was die Menschen vorher bereits auf der Ebene der Zunftordnungen oder der dörflichen Selbstverwaltungen eingeübt hatten. Neu war nicht die umfassende Sozialkontrolle, neu war die Tatsache, daß sämtliche Untertanen innerhalb eines Territoriums zumindest theoretisch denselben Zielen unterworfen wurden. 2. Die Kirche wird Obrigkeit: Die Allianz von Kirche und Staat war für beide Seiten vorteilhaft. Es wurde geradezu selbstverständlich, daß niemand ein öffentliches Amt ausüben konnte, ohne auch sein öffentliches und bewußtes Bekenntnis zur Kirche dokumentiert zu haben. Das blieb aber umgekehrt nicht ohne Folgen für die Kirche: die evangelische Kirche wurde "obrigkeitlich". Die gehobenen Schichten der Bevölkerung profitierten von ihrer Nähe zur Kirche, während andererseits die Pfarrer über der Aufgabe, die Aufrechterhaltung der öffentlichen Moral zu überwachen, zu "Kirchenpolizisten" wurden. Sie bedienten sich der staatlichen Polizei zur Durchsetzung ihrer Forderungen. Die Folgen für das Pfarrerbild der Gemeindemitglieder liegen auf der Hand. Ein Pfarrer kann eben nur sehr schwer in einer Person Seelsorger der Gemeinde und verlängerter Arm der Staatsgewalt sein. Das kirchliche Amts Verständnis, der 51 52

R.van Dülmen: Kultur III, S. 137 R.van Dülmen: Kultur II, S.282. Beim Adel ist das nur bedingt geglückt.

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herausgehobene Bildungsstand der Pfarrerschaft und die internalisierten Funktionserwartungen des Staates ergänzten sich in ihrer Wirkung und verstärkten die Distanz zwischen Pfarrern und Gemeindemitgliedern. Nicht der "Seelsorger", sondern der "Erzieher" wurde zum Leitbild für das Selbstverständnis der Pfarrerschaft. Im biblischen Bild des "Hirten" waren beide Aspekte enthalten, die Praxis bestimmte nur einer von ihnen. Im einzelnen wäre das Bild stark zu differenzieren, was hier leider nicht geschehen kann. Von Region zu Region gab es Unterschiede. Aber auch die konfessionsspezifischen Differenzen zwischen Lutheranern und Reformierten haben sich prägend ausgewirkt. Die reformierten Gemeinden haben dem Engagement des mündigen Laien stärkeres Gewicht eingeräumt. Sie haben die Spiritualisierung der christlichen Religion konsequenter vorangetrieben als die Lutheraner und waren nicht zuletzt auch mit ihrer Prädestinationslehre und ihrem Arbeitsethos besser präpariert, um in den Umbrüchen der Neuzeit auf vielen Gebieten Führungsrollen übernehmen zu können. Aber sie haben auch den stärkeren Sozialdruck auf ihre Mitglieder ausgeübt. "Viele zeigten sich überhaupt dem Druck der Gemeinden nicht gewachsen. Die religiöse Passivität dürfte im Calvinismus besonders groß gewesen sein. Aufgrund seiner starken Abstraktion und Rationalität wurde der Calvinismus letztlich mehr zu einer Religion 'höherer' Stände, die das Bedürfnis hatten, sich in jeder Weise vom einfachen Volk abzusetzen, einem Volk, das dem rigiden Lebensstil der Calvinisten nur bedingt entsprechen konnte".53 3. Die Ziele der Reformatoren wurden nicht vollständig erreicht: Zwar ist die Aneignung der Konfessionsinhalte in der Bevölkerung weithin geglückt. Die Visitationsberichte vom 16. bis zum 18Jahrhundert bestätigen diesen Befund. Nach wie vor wurden Mißstände und Laster beklagt. Aber der Blick der Schreiber hatte sich verändert. "Einerseits war er liberaler geworden - die Protokolle hatten vor bestimmtem Brauchtum kapituliert -, andererseits rügen sie mit Strenge moralische Mißstände, die früher kaum erwähnt worden war e n " . A b e r das hohe Religionsniveau, das die Reformatoren angestrebt hatten, ist dennoch nie erreicht worden. Einige Ursachen für dieses Scheitern sollen hier kurz zusammengestellt werden: * Trotz aller Rigidität in ihren Grundsatzforderungen sind gerade die lutherischen Theologen in der Praxis oftmals äußerst behutsam mit der Religion der Bevölkerung umgegangen. Hier wurde vieles auch sehr lange geduldet, um die Leute durch Belehrung, Behutsamkeit und Milde zum besseren Glauben "zu locken". * Es war immer schon zweierlei Ding, Verordnungen zu erlassen und sie auch in der Praxis des Alltags umzusetzen. Oft fehlte es dem frühneuzeitlichen Staat nicht nur an Überwachungskapazität, sondern auch am Verfolgungswillen. Zwar hat man versucht, bis in die Familiensphäre hineinzuregieren, was sich 53 54

R.van Dülmen: Volksfrömmigkeit, S.27 R.van Dülmen: Kultur III, S.137

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dann aber tatsächlich in den Häusern abspielte, stand auf einem anderen Blatt und entzog sich letztlich doch weitgehend der Eingriffs- und Gestaltungsmöglichkeit des Staates. Die Präsenz des Staates war insgesamt deutlich geringer als sein Einflußwille. * Gegen allzu rigide Vorschriften wußte sich die Bevölkerung mit passivem Widerstand zu Wehr zu setzen. So beklagt sich der Superintendent von Monheim im Jahr 1586 in einem Schreiben an seinen Landesherrn, "daß vom jungen Gesinde und Ehehalten, seither die Tänze eingestellt worden, nicht der dritte Teil mehr zur Kinderlehr, wie zuvor befohlen, kommen w o l l e n " . 5 5 D ¡ e Kirche hatte die feuchtfröhlichen sonntäglichen Tanzfeiern verbieten lassen, um die Sonntagsheiligung durchzusetzen. Die jungen Leute reagierten prompt und boykottierten den kirchlichen Unterricht. * Dieses Beispiel läßt sich verallgemeinern und erklärt besonders eindrucksvoll, warum die Volksreligiosität überall ein eigenständiges religiöses Profil erzeugt hat, das nie deckungsgleich mit den reformatorischen Vorgaben war. Wenn der überwiegende Teil der Bevölkerung hartnäckig an alten Sitten und überlieferten Gebräuchen festhielt, waren Verbote auf die Dauer kaum durchzusetzen, insbesondere dann, wenn die Obrigkeit selbst Gefallen daran hatte. Man konnte schwerlich 2/3 der Bevölkerung in Haft nehmen. In solchen Fällen hatte sich die Kirche mit den Verhältnissen zu arrangieren, und das hat sie auch getan. Letztlich bestimmten also die Durchschnittskenntnisse und das Durchschnittsverhalten der Menschen die Meßlatte. Nicht das Ideal, sondern die statistische Normalverteilung überführte den Abweichler. So findet man in der Nassau-Saarbrücken'sehen Kirchenordnung von 1576 ein strenges Verbot der Kirmes, in dem nicht nur hohe Bußgelder für die jeweilige Gemeinde und jeden einzelnen Bürger angedroht waren, sondern sogar die Amtsenthebung des Pfarrers, der dieses Fest noch weiterhin dulden würde. In der Fassung von 1618 war das Verbot wieder aufgehoben, weil es sich als undurchführbar erwiesen hatte. 5 6 * Die intellektuellen Defizite der Bevölkerung wurden bereits angesprochen. Was nützen die besten Ideen, wenn die Menschen sie nicht begreifen? * Nicht in jedem Fall stimmte das Interesse der Obrigkeit mit dem Theologeninteresse überein. Wo die lutherischen Theologen sich untereinander nicht einigen konnten, entschied die Obrigkeit im 16.Jahrhundert auf juristischem Weg. Für die Bevölkerung war vielleicht noch bedeutsamer, daß sogar Volksbräuche wie die Herbst- und Erntefeste, die die Kirchen gern abgeschafft hätten, gegen den Willen der Kirchen von der Obrigkeit unterstützt und bewahrt w u r d e n . * Die große räumliche Nähe zu den anderskonfessionellen Nachbarn und regelmäßige Kontakte etwa auf den Jahrmärkten und bei großen Volksfesten 55 56 57

Zit. nach: R.van Dülmen: Kultur II, S.314 Anm.14 D.E.Knoth: Nassau-Saarbrücken'sehe Kirchenordnung, S.27 R.van Dülmen: Kultur II, S.137f

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hielten auch das Wissen um die Glaubensinhalte und Glaubensformen der jeweils anderen Konfessionen wach und relativierten die religiösen Anforderungen der eigenen Konfession. * Auch die in der Folge des Augsburger Religionsfriedens möglich gewordenen Konfessionswechsel ganzer Landesteile, die bisweilen sogar mehrfach über eine Bevölkerung hinweggingen, haben die Konfessionsprofile relativiert und ihren absoluten Geltungsanspruch fragwürdig gemacht. Sie ließen den Konfessionseifer erlahmen und prägten das Bewußtsein für die Vergänglichkeit konfessioneller Ordnungen. Auch setzte der Verfall des Grundsatzes "cuius regio eius religio" bereits im 17.Jahrhundert e i n . S o haben die evangelischen Landeskirchen den Zenit ihrer Macht über die Kirchenmitglieder wohl schon zu einer Zeit überschritten, als sie selbst ihn nicht einmal zu erreichen geglaubt hatten. Gottfried Holtz hat den Beginn der Entkirchlichung aller Stände auf die Zeit um 1650 datiert. "Den Pfarrern entglitt die Führung des geistigen Lebens". 5 9 d) Religion-as-practised - Merkmale protestantischer Volksreligiosität Die Bevölkerung war nicht nur Rezipient der kirchlichen Normen. Sie hat Art und Umfang ihres Religionslebens teilweise sogar aktiv mitbestimmt und mitgestaltet: 1. Die "kleinen" Laster: Zunächst fallt auf, daß die "kleinen Laster" durchweg nicht besiegt werden konnten. Zwar haben die Kirchen diese Laster hartnäckig und zäh durch Jahrhunderte hindurch bekämpft^, früher oder später haben sie aber schließlich doch kapituliert, die Maßstäbe herabgesetzt und sie geduldet. Dazu gehört der Kampf um die Reinigung der Sprache, der Kampf gegen das Fluchen, das Verwünschen, die magischen Sprichworte, den Müßiggang. Auch

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Als Kurfürst Sigismund von Brandenburg im Jahr 1613 wegen der Erbschaft des Herzogtums Cleve und Mark zur reformierten Konfession übertrat, beließ er in Brandenburg die lutherische Konfession. Er verzichtete auf die Anwendung des 'cuius regio'-Prinzips, blieb aber gleichwohl summus episcopus der Lutheraner in Brandenburg. Ahnlich auch 1665 in Hannover: Dort wurde Herzog Johann Friedrich katholisch, gleichwohl blieb das Herzogtum Calenberg auch von 1665-1679 lutherisch. "Als August (II) der Starke von Sachsen, um König von Polen werden zu können, im Jahr 1697 katholisch wurde, dachte niemand mehr daran, daß Kursachsen rekatholisiert werden könnte. Man begnügte sich wie in Berlin und zeitweise in Hannover mit der Einrichtung einer Hofkirche anderer Konfession; das Land blieb lutherisch." - H.Brunotte: Die Evangelische Kirche in Deutschland. Geschichte, Organisation und Gestalt der EKD, Gütersloh 1964, S.22 G.Holtz: Pfarrer, S.278 Beispielsweise wurden in der Gemeinde Gemarke nach Ausweis der Gemeindegeschichte in den Jahren 1634, 1706, 1718, 1783, 1792, 1806, 1831 und 1855 Beschlüsse gegen die "sittiche Verkommenheit" gefaßt. Aber die menschlichen Laster waren offensichtlich nicht aus der Welt zu schaffen. - Geschichte der Evangelisch-reformierten Gemeinde Gemarke in (Wuppertal-)Barmen, neu hg. v. A.Lauffs, Selbstverlag Barmen 1927

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der "Spielteufel" und der "Tanzteufel"61 konnten zu keiner Zeit besiegt werden. Die Wirtshauskultur wurde zwar immer wieder reglementiert, aber sie blieb dauerhaft erhalten und bildete eine stabile Gegenwelt, nicht selten auch im räumlich unmittelbaren Gegenüber zur Kirche. 2. Gottesdienstteilnahme: Auch das reformatorische Ideal, den Kirchenbesuch zu einer "reinen", ausschließlich religiösen Betätigung zu machen, konnte nicht durchgesetzt werden. Zwar wurde die Ruhe und Disziplin im Gottesdienst durch Überwachung aufrechterhalten und Frauen und Männer im Gottesdienst getrennt, jedoch konnte niemand den Leuten verwehren, während der Predigt eigenen Gedanken nachzugehen, sich vor und nach dem Gottesdienst zu treffen, um zu "schwätzen" und den Rest des Sonntags in eigener Regie zu gestalten. Vergeblich hat man gegen die diversen Unsitten angepredigt, mit denen die Sonntagsheiligung unterlaufen wurde. Auch die Reduktion der anschaulichen Gottesdienstelemente und der Sakramentenzahl hat sich vermutlich auf die Religiosität der Bevölkerung dämpfend ausgewirkt: "Die zahlenmäßige Reduktion von Abendmahlsfeiern, die die Absicht hatte, die Majestät Christi besonders herausragend zu feiern, kippte in eine Reduktion von Sinn um".62 Das Abendmahl wurde nur noch als "rituelle Pflicht" absolviert. Im Gottesdienstverhalten zeigt sich ein Grundmodell volksnaher Frömmigkeitsgestaltung, das sich auch in anderen Zusammenhängen immer wieder nachweisen läßt. Nach reformatorischer Überzeugung hatten sämtliche religiösen Aktivitäten vollkommen frei von irgendwelchen weltlichen Interessen zu sein (wie ja umgekehrt nach Luther auch die Welt als eigenständiger Bereich der weltlichen Gesetzgebung unterlag). Mit diesem Anliegen haben sich die evangelischen Kirchen nicht durchsetzen können. Im engsten Umfeld des Heiligen haben die Gemeindemitglieder aller Schichten die hochkirchlichen Vorstellungen unterlaufen, indem sie gewissermaßen im Schutz und Schatten der offiziell verpflichtenden Glaubensäußerungen ihre tradionellen Vorstellungen und ihre persönlichen und sozialen Interessen einbrachten und verfolgten. So war die protestantische christliche Volksreligiosität zwar unbestreitbar von den offiziellen Normvorgaben geprägt, aber sie nutzte die verbleibenden Spielräume und entwickelte sich keineswegs in widerspruchsfreier Übernahme der vorgegebenen Normen: "Die Feiern zur Hochzeit, zur Kindstaufe und zu Begräbnissen waren Feste der Verschwendung in jeder Hinsicht".63 Die Feierlichkeiten anläßlich der Trauungen, die in der Regel aus Platzgründen im Wirtshaus stattfanden, konnten mehrere Tage lang dauern. Auch die Beerdigungsfeiern wurden genutzt, um zu ausführlicher Geselligkeit zusammenzutreffen. Die Kirche

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Noch im Jahr 1718 heißt es in einem Bericht aus derselben Gemeinde: "daß man vor der Proclamation und Copulation die Copulandos wegen des üppigen Tanzes warnen und ihnen dabei bekannt machen sollte, daß sie solches thuende nach abgefaßtem Consistorialbeschluß in censuram würden genommen werden." - Geschichte, S.121 R.Volp: Liturgik. Die Kunst, Gott zu feiern. Bd. 2: Theorie und Gestaltung, Gütersloh 1994, S.759 R.van Dülmen: Kultur II, S.238

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hat vergeblich dagegen angepredigt. Kirchliches Fest und weltliche Feier ließen sich nicht voneinander trennen. Keines wurde zu Gunsten des anderen aufgegeben. In diesem Punkt blieb die Bevölkerung beharrlich. 3. Die Art der Festtagsgestaltung: Zwar wurden die sogenannten "papistischen Mißbräuche" (Wallfahrten, ein Großteil der Festtage und der Heiligenkult) weitestgehend beendet^, aber gerade da, wo auch die evangelische Kirche ein Eigeninteresse am Erhalt eines Festes hatte, etwa zu Weihnachten, zu Ostern oder zu Pfingsten, konnten sich auch allerlei "heidnische" Sitten und Bräuche aus dem alten katholischen Volksglauben erfolgreich behaupten. Sie hielten sich im "Schatten" des eigentlichen Ereignisses und reicherten es nicht selten überhaupt erst mit Farbe und Leben an. Die Kultur des Weihnachtsfestes war einfach nicht restlos zu "reinigen". Hier überlebte der Engelglaube, und hier begegnen uns noch heute Relikte mittelalterlicher Riten und Gebräuche, vom Weihnachtsbaumschmuck über Knecht Ruprecht bis hin zu den Heiligen Martin und Nikolaus. In großer Zahl haben sich auch Osterbräuche gehalten. Ferner die Maifeiern (Walpurgisnacht; Maibaum; Mailehen), das Pfingstfest als Gemeinschaftsfest (Rituale wie l.Mai; Pfingstochse; Orts- und Grenzumgehungen; Vogelschießen; Festessen und Tanz), der Johannistag (Sonnenwendfeier; Johannisfeuer). Er wurde in Nürnberg erst 1622 verboten. Richard van Dülmen schreibt dazu, und dies ist nun nicht mehr sehr verwunderlich: "Diese und ähnliche Verbote zeigten meist wenig Wirkung. Lange erhielten sich im Umkreis dieses Festes der Gesundheit und Fruchtbarkeit zahlreiche Wahrsage- und andere magische Bräuche" (u.a. J o h a n n i s k r ä u t e r ) . U n d natürlich waren auch alle diese offiziellen kirchlichen Feste willkommene Anlässe für gemeinschaftliche und familiale Feierlichkeiten. 4. Magische Vorstellungen: Neben der flexiblen Anpassung und Indienstnahme, der die kirchlichen Erwartungen durch das christliche Volk unterzogen wurden, hielten sich im Volksglauben noch lange Zeit tiefsitzende religiöse Überzeugungen, gewissermaßen Relikte vorreformatorischen Glaubens: So war die Vorstellung weit verbreitet, "daß die Gebete des Pfarrers zur Erlangung des Seelenheils ausreichen und daß er dafür bezahlt wird".66 Die exakte Formulierung der Gebete besitze die gleiche magische Wirksamkeit wie die katholischen Riten. Insbesondere am Sterbebett, so meinte man, garantiere das Gebet des Pfarrers und das Abendmahl "den direkten Zugang zum P a r a d i e s " . 6 7 Weite Teile der Bevölkerung glaubten weiterhin an die Heiligkeit der Friedhöfe und der Kirchen. Die lutherische Taufordnung mag auch hier dazu beigetragen haben. 68 Die Sitte, in der Not oder im Affekt biblische Personen anzurufen, blieb lange erhalten. Der Kampf gegen Holz- und Steinkreuze war energisch, aber 64 65 66 67 68

Die Prozession vom Trauerhaus zum Friedhof blieb auch in evangelischen Gemeinden üblich. K u l t u r » , S. 137 B.Vogler: Entstehung, S. 191 B.Vogler: Entstehung, S.166 Vgl. R.Roosen: Taufe lebendig. Taufsymbolik neu verstehen, Hannover 1990, S.72

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erfolglos. Auch die Reformation hat trotz des Vorsatzes, in religiösen Dingen alle Menschen gleich zu behandeln, "gewisse vom Geld abhängige Privilegien nicht zu verhindern vermocht ".69 Auch Fruchtbarkeitsmagie und Erntezauber blieben lange im Volk verankert, was durchaus verständlich ist, wenn man sich die agrarischen Strukturen, die absolut mangelhafte medizinische Versorgung und die Kindersterblichkeitsrate von ca. 50% vor Augen hält. Aberglaube und magisch-religiöse Sprichworte haben sich vielfach noch bis in unser Jahrhundert hinein neben der offiziellen Kirchlichkeit erhalten. Man hatte gelernt, zu unterscheiden, was der Pfarrer hören wollte und was man besser im kleineren Kreis für sich behielt. Die Neujahrsfeiern und die Fastnachtsbräuche mit ihren starken Geister- und Dämonenkomponenten, aber auch ihrer sozialen Ventilfunktion konnten trotz aller Bemühungen nicht beseitigt werden, obwohl sie besonders der reformierten Geistlichkeit ein steter Dorn im Auge waren. Zusammenfassend läßt sich festhalten: Die protestantische Volksreligiosität hat sich keineswegs auf bloßen "Druck von oben" hin entwickelt. Bei aller Fügsamkeit und Duldsamkeit hat sie sich doch gleichzeitig auch in absichtsvoller Gegenwehr, in flexibler Beharrlichkeit und in selbstbestimmter Kontinuität herausgebildet. In der Einstellung zur Kirche, im Verständnis der christlichen Religion und in der religiösen Festkultur haben sich vielfach vorreformatorische religiöse Einstellungen, Empfindungen und Verhaltensweisen erhalten.

3. Das 18. Jahrhundert a) Toleranz und Kirchenzucht Was unter Druck entsteht, ist auf die Aufrechterhaltung des Drucks angewiesen. Nimmt man den Deckel weg, ist der Dampf bald entwichen. Genau das ist auch in den evangelischen Landeskirchen geschehen. Nachdem der Deckel angehoben wurde, zeigte sich, daß man mit strenger Disziplinierung die Herzen der Menschen nicht erreichen kann. Die Pfarrer standen in niedrigem Anseh e n ^ , und die innere Distanz der Menschen gegenüber der Kirche war groß. Die Dorfgemeinschaft hat Pfarrer kaum einmal in ihre Mitte aufgenommen. Sie kamen als Fremde und gingen als Fremde. Auch die Stadtbürger blieben mehrheitlich reserviert. Gleichwohl konnte sich gerade die evangelische Kirche der bleibenden Unterstützung und Förderung durch den Staat sicher sein. Die rationale Ideenwelt der Aufklärung blieb noch lange einem kleinen Kreis von Hochgebildeten vorbehalten. Aber der Toleranzgedanke wurde, nachdem er einmal in die Welt gesetzt war, doch ständig stärker und mit ihm auch die Kritik am

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B.Vogler: Entstehung, S.174 G.Holtz: Pfarrer, S.278

3. Das 18.Jahrhundert

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Gewissenszwang. Der Ruf nach Religionsfreiheit wurde lauter.71 Breitenwirkung hat dieses Gedankengut nur langsam und in starker zeitlicher Verzögerung e n t f a l t e t . 7 2 Allerdings gab es auch unmittelbare, administerielle Auswirkungen auf das Gemeindeleben: Die offizielle staatliche Kirchenzuchtgesetzgebung wurde im 18.Jahrhundert in den meisten evangelischen Ländern nach und nach a u f g e h o b e n ^ nachdem sich das Disziplinarverfahren bereits nur noch auf Verstöße gegen das 6. Gebot (Ehebruch) und die Sonntagsheiligung konzentriert hatte.74 Das Allgemeine Preußische Landrecht von 1794 machte die Kirchenzucht zu einer Angelegenheit der jeweiligen "Kirchengesellschaft" und ließ sie qua Verordnung zum "zahnlosen Tiger" werden: § 50: "Jedes Mitglied einer Kirchengesellschaft ist schuldig, sich der darin eingeführten Kirchenzucht zu unterwerfen. Die Kirchenzucht soll bloß zur Abstellung des öffentlichen Ärgernisses abzielen. " § 52: "Sie darf niemals in Strafen an Leib, Ehre und Vermögen der Mitglieder ausarten. " § 53: "Sind dergleichen Strafen zur Aufrechterhaltung der Ordnung, Ruhe und Sicherheit notwendig, so muß die Verfügung der vom Staate gesetzten Obrigkeit überlassen werden. " § 54: "Wenn einzelne Mitglieder durch öffentliche Handlungen eine Verachtung des Gottesdienstes und der Religionsbräuche zu erkennen geben, oder andere in ihrer Andacht stören, so ist die Kirchengesellschaft befugt, dergleichen unwürdigen Mitgliedern den Zutritt zu ihren Versammlungen zu versagen." § 55: "Wegen bloßer, von dem gemeinsamen Glaubensbekenntnisse abweichender Meinungen kann kein Mitglied ausgeschlossen werden. " § 56: "Wenn über die Rechtmäßigkeit der Ausschließung Streit entsteht, so gebührt die Entscheidung dem S t a a t e " . 7 5 71

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K.Scheinen Toleranz, in: O.Brunner u.a. (Hg.): Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, Bd.6, Stuttgart 1990, S.442494; G.Birtsch: Religions- und Gewissensfreiheit in Preußen von 1780-1817, in: Zeitschrift für historische Forschung 11/1984, S. 177-204 "Zweifellos hatten bereits der Humanismus und vor allem die 'modernen' Wissenschaften seit dem frühen 17.Jahrhundert religiöse Begründungen und christliche Legitimierungen zurückgedrängt, doch die Gesamtheit der Gesellschaft war mit Ausnahme einer kleinen Elite christlich-gläubig geblieben. Auch indifferente Leute zweifelten nicht an den Grundwahrheiten des Christentums. Selbst die großen Philosophen des 17.Jahrhunderts haben bezeichnenderweise noch immer nach Kompromissen gesucht." - R.van Dülmen: Kultur III, S.137f Friedrich der Große hob 1746 die Kirchenbuße "in Ansehen der Personen, so contra sextum sich vergangen", vollständig auf und ersetzte sie durch eine Ermahnung, die der zuständige Pfarrer auszusprechen hatte. Daß in der Kirchenzucht mit zweierlei Maß gemessen wurde, kann man bei Carl Immanuel Nitzsch nachlesen: "Schon die Kenntnisnahme und dann die Jurisdiction wurden schwach dem aristokratischen Geiste gegenüber." - Praktische Theologie Bd. III/2: Die kirchliche Ordnung, Bonn 1867, S.188 Zit. nach C.I.Nitzsch: Praktische Theologie III/2, S.208

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Die Verordnungen schützten die Religionsgesellschaften, gleichzeitig aber auch die Freiheit abweichender Meinungen, insbesondere im Bereich der Dogmatik. Damit war die strikte Akzeptanz und Orientierung am Konfessionsprofil nicht mehr maßgebliches Mitgliedschaftskriterium innerhalb der jeweiligen "Religionsgesellschaft". Fortan konnte und durfte jeder glauben, was er persönlich für richtig erachtete, immer vorausgesetzt, er behielt seine Überzeugungen für sich und entwickelte keinen missionarischen Ehrgeiz in der Öffentlichkeit. An diese Vorgaben hat sich die große Mehrheit der Kirchenmitglieder gehalten und sich in Sachen Gottesdienstbesuch, Dogmatik und christlicher Lebensgestaltung mehr oder weniger im Stillen "ihren Teil gedacht". Als der Deckel abgehoben und der Druck entwichen war, konnten sich die tatsächlichen religiösen Anliegen und Bedürfhisse der Bevölkerung in einem bedeutend freieren Spiel der Kräfte entfalten. Die Kirchenzucht war damit im Grunde erledigt, wenngleich den Gemeinden immer noch Möglichkeiten blieben, im Zusammenhang mit Amtshandlungen, Mitgliedschaftsrechten oder Abendmahlsteilnahme Sanktionen zu verhängen. b) Vernunftreligion als Bürgerpflicht und Professionalisierung der Pfarrerschaft Neben der Aufhebung der Kirchenzuchtgesetzgebung brachte das letzte Drittel des 18.Jahrhunderts mit den religionstheoretischen Überlegungen der Polizeiwissenschaft und ihrer Umsetzung einen weiteren Impuls für das Gemeindeleben. Die Polizeiwissenschaft betrachtete "die Religion ganz diesseitig als Instrument zur Verhaltenssteuerung einer Gesellschaft".Π Sie konnte dabei an Gedanken anknüpfen, die im Zuge der philosophischen Diskussion über das Verhältnis von Staat, Kirche und Staatsbürger zum Thema Gewissensfreiheit und Toleranzgebot von Denkern wie Hermann Conring (1606-1681)78 oder

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Daß den Konfessionalisten staatlicherseits Zähne und Klauen gezogen worden waren, haben sie jahrzehntelang nicht bemerkt, bzw. sie wollten es nicht bemerken. Noch 1856 beschloß der Kirchentag von Lübeck, die Kirchenzucht erneut zu beleben, denn die "evangelische Kirche bedarf einer geordneten, mütterlichen, weisen Disciplin, besonders in den Local-Gemeinden". Wer auf die Perspektive achtet, aus der heraus diese Forderung formuliert worden ist, der wird unschwer erkennen, warum hier das "Wollen" und das "Vollbringen" so weit auseinanderlagen. Die Betroffenen waren nicht anwesend. Ihre Interessen wurden aber doch insofern berücksichtigt, als der Kirchentag einschränkend hinzufügte, die Disziplinierung habe mit Vorsicht und unter Berücksichtigung der örtlichen und zeitlichen Umstände zu erfolgen. "Die Kirchendisciplin darf nirgends als Ausfluß der Staatsgewalt erscheinen, soll keine Strafen an Leib und Gut zufügen und richte sich nur gegen solche, welche nicht sich selbst ausdrücklich von der Kirche ausschließen" (zit. nach C.I.Nitzsch: Praktische Theologie III/2, S.209). Als dieser Beschluß gefaßt wurde, war er längst anachronistisch. Hier und zum folgenden vgl. C.Dipper: Volksreligiosität, S.83 Sohn eines lutherischen Pfarrers, ab 1632 Prof. für Naturphilosophie, später auch Medizin und Politik; vgl. D.Pirson: Hermann Conring, in: TRE 8, S. 177-179

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Samuel Freiherr von Pufendorf (1632-1694)79 entwickelt worden waren. Beide hatten die "interna" des individuellen Glaubens (für die Gewissenfreiheit gilt) von den "externa" der Religion unterschieden, die der Staatsgewalt unterliegen. Die "externa" umfassen nur die "natürliche Religion", die der allgemeinen Vernunft zugänglich ist. Diesen Gedanken machte sich die Polizeiwissenschaft zu eigen, um ihn in ihrem Sinn zu konkretisieren: Die Kirchen könnten mit ihrem flächendeckenden Netz und ihren Erziehungsmöglichkeiten, die bis in jedes Haus hineinreichten, hervorragende Partner des Staates sein, wenn es darum ginge, die allgemeinen Bürgerpflichten einzuüben. Dieses Potential sollte durch gezielte staatliche Eingriffe gepflegt und in Dienst genommen werden. Vor allem eine rationale, d.h. von konfessionellen Streitereien, antiquierten Formularen und katholischen Mißbräuchen gereinigte Religionsausübung das Wallfahrtswesen galt hier aus polizeilicher Sicht wegen der unkontrollierbaren Volksmassen als besonders suspekt - würde dem Staat helfen, treue, arbeitsame und ordentliche Bürger zu erziehen. Joseph von Sonnenfels schrieb damals: "Der Regent muß also diesen Leitriemen in seinen Händen nicht vernachlässigen und seine Sorgfalt muß darauf gerichtet sein, daß jeder Bürger Religion habe".81 Von daher kam die Polizeiwissenschaft zu einer ganzen Reihe von sehr konkreten Forderungen: Alle Staatsdiener sollten selbstverständlich "Religion" haben und damit ihre Treue zum Staat unter Beweis stellen. Der Landesherr sollte selbst für die gleichmäßige und flächendeckende Versorgung des Landes mit Pfarrstellen sorgen. Die Professionalisierung der Pfarrerschaft sollte vorangetrieben werden, die Nebenerwerbslandwirtschaft abgeschafft und eine leistungsgerechte "fixe Besoldung" eingeführt werden. Gleichzeitig solle man die Geistlichen verstärkt unter Kontrolle halten, was insbesondere bei Stellenbesetzungen leicht möglich wäre. Die Obrigkeit hätte für "Ruhe und Stille" in den Kirchen, für "Anstand und Ordnung" außerhalb der Kirchen und schließlich auch für eine strenge Bestrafung der "Religionsspötter" zu sorgen. Durch Schließen der Wirtshäuser während der Gottesdienstzeit solle die Bevölkerung zur Andacht erzogen werden. 82 Wenn dieses Programm auch nur in Ansätzen realisiert worden ist, weil die Widerstände gegen eine rationale Funktionalisierung durch den Staat in beiden Kirchen sehr groß waren, die Ereignisse von 1789 bald andere Prioritäten erzwangen und die starke Bevölkerungszunahme die Kirchen geradezu überrollt hat (s.u.), so zeigt sich doch in beiden Entwicklungen des späteren 18.Jahrhunderts ein unverkennberer Zug zur Entkonfessionalisierung der Kirchen. Aus miteinander streitenden christlichen Konfessionen sollten würdevolle und 79 80

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Lutheraner; Prof. für Natur- und Völkerrecht; vgl. H.Hohlwein: Pufendorf, in: RGG 3 , Bd.S, Sp.721 H.Dreitzel: Gewissensfreiheit und soziale Ordnung. Religionstoleranz als Problem der politischen Theorie am Ausgang des 17.Jahrhunderts, in: Politische Vierteljahresschrift 36/1995, S.3-34 Joseph von Sonnenfels: Grundsätze der Polizey-Handlungs- und Finanzwissenschaft, Bd.l, Wien 3 1777, S.79; zitiert nach C:Dipper: Volksreligiosität, S.78 Nachweise bei C:Dipper: Volksreligiosität, S.80f

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sittsame "Religionsgesellschaften" unter den Fittichen des Staates werden. Dabei ging es vor allem um das äußere Erscheinungsbild der Religion. Ruhe, Ordnung und treue Berufserfiillung wurden als sichtbarer Ausdruck einer inneren christlichen Lebenshaltung gewertet. Dieses funktionale Religionsverständnis ist nachhaltig wirksam geworden. c) Bevölkerungsexplosion Das größte organisatorische Problem, vor das die christlichen Kirchen im 18.Jahrhundert gestellt wurden, war die pastorale Betreuung der im Zuge von Industrialisierung und Verstädterung rapide anwachsenden Bevölkerung. Schnellwachsende Mitgliederzahlen sprengten alle vertrauten Dimensionen und stellten die Gemeinden vor schwierigste Aufgaben: Nach wie vor standen die Gemeinden im Kampf gegen die "grassierenden Unsitten" (trotz guter Kontakte zur Polizeigewalt) auf verlorenem Posten. Es fehlte überall an der nötigen Infrastruktur. Kirchen und Schulen waren zu klein oder fehlten ganz. Die kirchlich getragene Krankenpflege und die Armenfürsorge waren überfordert. 83 Gemeindeneugründungen wurden zu lange hinausgezögert. Es gab zu wenige Pfarrstellen und die Pfarrer waren überlastet. Das Beziehungsgeflecht zwischen Pfarrern und Gemeindemitgliedern zerfiel. Systembedingt nahmen die Freiheiten in der Art der Religionsausübung für den einzelnen stark zu. Es gab erheblich mehr Spielräume, und sie wurden sehr unterschiedlich genutzt. Zwischen traditioneller oder sogar konfessionstreuer Kirchlichkeit und selbstbestimmter Schwerpunktsetzung entwickelte sich ein breites Feld individuell nutzbarer Möglichkeiten. Hinzu kam, daß das Honoratiorenwesen, das die evangelischen Kirchen schon seit Anbeginn begleitet hatte, seine äußerlich sichtbaren Konturen verschärfte. Nicht selten haben die Angehörigen weniger herausragender Familien über Generationen hinweg die Entwicklung "ihrer" Kirchengemeinde maßgeblich bestimmt und gefördert. Sie gehörten häufig den gehobenen Bildungs- und Besitzschichten an und sorgten durch ihren hohen persönlichen und materiellen Einsatz für die Anpassung ihrer Kirchengemeinde an die Erfordernisse der Zeit. Wo die Kirchenbänke verpachtet wurden, waren ihnen die fest zugeteilten, "besseren" Plätze vorbehalten. Und wenn darüberhinaus, was auch belegt ist, die Plätze auf der Empore billiger waren als die Plätze im unteren Kirchenraum, dann war die am Sonntag versammelte Gemeinde ein halbwegs getreues Abbild der sozialen Schichtung, die auch in der Woche galt und zu beachten war. Es konnte nicht ausbleiben, daß die ohnehin überlasteten Pfarrer ihre Aufmerksamkeit besonders diesem Gemeindeteil zuwandten und viele andere Mitglieder der Gemeinde weniger Aufmerksamkeit erhielten. Die Kirchen-

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E.Gatz: Kirche und Krankenpflege im 19.Jahrhundert, Paderborn 1971; C.Sachße / F.Tennstedt: Geschichte der Annenfürsorge in Deutschland, Stuttgart 1980

4. Das 19. Jahrhundert

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gemeinde reproduzierte subtil, aber unübersehbar die sich mehr und mehr herausbildende soziale Schichtung der Gesellschaft. Das ehrgeizigste Ziel der Reformation, die Spiritualisierung des Glaubens durch die Förderung einer persönlichen, christozentrisch ausgerichteten (inneren) Glaubenshaltung war zu dieser Zeit, bezogen auf die große Mehrheit der Gemeindemitglieder, bereits gescheitert. Ihre Mitglieder haben die Landeskirchen dennoch nicht verloren, denn es gehörte nach wie vor zu den Selbstverständlichkeiten, einer Kirche anzugehören und "Religion" zu haben. Die Kirchenaustritte blieben bis ins 20.Jahrhundert hinein verschwindend gering.

4. Das 19. Jahrhundert a) Innerkirchliche Entwicklungen 1. Die Dekonfessionalisierung wurde institutionell gestoppt: Geprägt von den Anforderungen und den Nachwirkungen der Freiheitskriege begann das 19.Jahrhundert mit einer Verstärkung der nationalkirchlichen Bestrebungen. Akademische Kreise träumten von einer einheitlich christlichen Reichskirche für alle Deutschen. Die Konfessionsgrenzen wären damit endgültig beseitigt worden. "Ein Gott! Ein Vaterland! Ein Haus! Eine Liebe!" (Jahn). Das Wartburgfest 1817 endete mit einer "gemeinsamen Abendmahlsfeier, an welcher die Studenten ohne Rücksicht auf Bekenntnisgebundenheit teilnahmen".^ Die Entwicklung der Konfessionskirchen nahm freilich einen ganz anderen Lauf. 1864/66 sicherte Preußen seine Vorherrschaft über Norddeutschland durch Annexion von Schleswig-Holstein, Hannover und Kurhessen. Alle drei Provinzen wurden, anders als es von vielen erwartet worden war, nicht der Preußischen Union eingegliedert. Die Landeskirchen behielten ihre Selbständigkeit. Die lutherischen Kirchenregierungen gründeten 1868 die "Allgemeine lutherische Konferenz", u.a. um zu verhindern, daß der Bekenntnisstand der lutherischen Kirchen auf politischem Wege beseitigt würde. Nachdem schließlich auch die Verfassung des Deutschen Reichs, das 1870/71 gegründet wurde, keine staatskirchenrechtlichen Bestimmungen enthielt, hatte dies zur Folge, daß alle kirchlichen Angelegenheiten in der Zuständigkeit der Bundesstaaten blieben. Noch die Beschlüsse des Deutsch-Evangelischen Kirchenausschusses, der 1905 durch königlichen Erlaß zu einer Körperschaft des öffentlichen Rechtes wurde, bedurften der Zustimmung jeder einzelnen Landeskirche. Der Prozeß der Dekonfessionalisierung des Christentums wurde also gestoppt, ehe er auch die Ebene der Kirchenleitungen erfaßt hatte. Die konfessionell eigenständigen Landeskirchen blieben erhalten. Fortan gab es in Deutschland konfessions84

H.-W. Krumwiede: Geschichte des Christentums III: Neuzeit, Stuttgart u.ö. 2. durchges. Aufl. 1987, S.125

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orientierte Kirchenleitungen und ein weitgehend dekonfessionalisiertes Kirchenvolk. Zwischen beiden Gruppen stand die Pfarrerschaft, die von den Kirchenleitungen mit den Mitteln des Dienst- und Anstellungsrechtes auf Konfessionskurs gehalten wurde.85 Auch auf katholischer Seite kam es zu einem eindeutigen Ende des konfessionellen Erosionsprozesses, nachdem das Erste Vatikanische Konzil (1870), was für viele in Deutschland schlicht unbegreiflich war, den Ultramontanismus bestätigt und die katholische Kirche in eine radikal antimodernistische Frontstellung zurückversetzt hatte. 2. Die Mitbestimmungsmöglichkeiten wurden verbessert: Die Mitbestimmungsrechte des überwiegenden Teils der Gemeindemitglieder wurden im 19.Jahrhundert formal deutlich verbessert. So konnten zunächst vor allem in der Rheinisch-westfälischen Kirchenordnung von 1835 die Traditionen des reformierten Presbyterial- und Synodalsystems erfolgreich eingebracht werden, wenn sie auch durch konsistoriale Elemente eingeschränkt wurden. Insgesamt flössen in die Kirchenordnungsdebatte auch Ideen aus der politischen Diskussion über Konstitutionalismus und Gewaltenteilung ein. "Die Gemeinde, als 'Kirchenvolk' verstanden, brauche, so hieß es, 'Repräsentation' gegenüber der 'Kirchenregierung' und deshalb ein Presbyterium sowie Bezirks- und Provinzialsynoden, hervorgegangen aus allgemeiner Wahl; diese Synoden stellte man dann den 'regierenden' Kirchenleitungen als ausschließliche 'Gesetzgebungsorgane' entgegen und gab (entsprechend) den Gemeindekirchenräten und ausschüssen das (alleinige) Satzungsrecht für die Gemeinde (so auch noch die Verfassung der Vereinigten Evangelisch-protestantischen Landeskirche Badens von 1919 §11,22 [7], 38-39)". 86 Faktisch änderte sich an der Unterrepräsentanz der "schlichten" Gemeindemitglieder in den kirchenleitenden Gremien nichts. Durch das Filterwahlsystem waren die Gremien, die breitenwirksame Entscheidungen treffen konnten, nahezu perfekt abgeschottet. Querdenker, innerkirchliche Oppositionelle oder gar "Volkes Stimme" hatten keine Chancen, hier durchzudringen. "Die Laien waren schon in den Kirchenvorständen, eher orthodox und klerikal, etwa gegenüber liberaleren Pfarrern ... nur in Berlin gab es in den 70er Jahren eine liberale Synodalmehrheit. Im ganzen vertrat das gewählte Kirchenestablishment die eher konservative Kernkirche, nicht die breitere bürgerliche Randkirche. Liberale Zurückhaltung begünstigte konservative Mehrheiten, diese Mehrheiten verstärkten wieder solche Zurückhaltung. Auch sozial waren die Synoden vom alten Establishment bestimmt - viel Adel und Beamte, wenig Wirtschaft und Bildung bei den Laien und bei den Theologen eher die höheren Chargen. Es waren eher feudal-obrigkeitliche als bürgerliche Versammlungen". 8 ^ Es kam hinzu, daß die Synoden selten tagten

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Über einzelne "Konfessionsdissidenten" unter der Pfarrerschaft des ausgehenden 19.Jahrhunderts T.Nipperdey: Religion im Umbruch. Deutschland 1870-1918, München 1988, S.91f E.Wolf: Gemeinde II: rechtlich, in: R G G 3 Sp.1334 T.Nipperdey: Religion, S.88. In reformierten Repräsentanzen konnten sich dagegen auch Wirtschaftsführer und Industrielle in größerer Zahl finden.

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und wenig zu sagen hatten. So brachte die Neuordnung der Kirchenverfassungen insgesamt keine Impulse zur Stärkung des Mitgliedschaftsgefühls und Mitgliedschaftsverhaltens der Mehrheit der Gemeindemitglieder hervor. "Die Kirche blieb vorwiegend Anstalt. Insgesamt war die Kirche doch - auch jenseits der Rechtssätze - staatlich geprägt, nicht gesellschaftlich, sie 'roch' mehr nach Staat, gerade in ihrer organisatorischen Gestalt der Amtskirche. Das prägte den Geist". 8 8 3. Massenkirchengemeinden: Das starke Anwachsen der Stadtbevölkerung stellte die Landeskirchen auch weiterhin vor massive organisatorische Probleme. Leipzig hatte 1889 vier Parochien: Petri (54000 Gemeindemitglieder); Thomas (48000); Matthäi (42000) und Nicolai (36000). In Hamburg stieg die Seelenzahl gegen Ende des Jahrhunderts in einzelnen Gemeinden bis auf 70000 Gemeindemitglieder an, "wobei der Gottesdienstbesuch auf 1,58% absank". 8 9 Der Frankfurter Paulskirchenpfarrer Karl Veidt schrieb in seinen Lebenserinnerungen über seine Zeit bei der Berliner Stadtmission (um die Jahrhundertwende): "Man darf nicht vergessen: die große Masse der Berliner Bevölkerung war der Kirche entfremdet. Da gab es Gemeinden von über 100000 Seelen, zu einer Kirche gehörig. Ich habe öfter festgestellt, daß den meisten Kirche und Gemeinde ein völlig nebelhafter Begriff war. Sie wußten nicht nur nicht, zu welcher Kirche und Gemeinde sie gehörten, sie wußten kaum noch, daß es so etwas wie einen evangelischen Gottesdienst gab ... Fast alle Großstädte ... boten dasselbe Bild".90 Bei Emil Sülze kann man nachlesen, daß die Kirchenleitungen die unzumutbaren Zustände viel zu lange ignorierten und auch absichtsvoll vertagten. 91 Das ist allerdings nur die halbe Wahrheit. Die Negativentwicklung wurde auch durch Sachzwänge verschärft. An gutem Willen hat es wohl nicht gefehlt. Aber es fehlte an Geld. Kirchbau war immens teuer, und die Kirchensteuereinnahmen reichten in keiner Weise zur Finanzierung der großen Anzahl benötigter Neubauten a u s . Z u d e m herrschte Pfarrermangel. Während die Bevölkerung in Sachsen von 1875-1891 um fast 50% zunahm (von 2,27 Mio auf 3,34 Mio), stieg die Zahl der Pfarrer dort nur um 14% (von 1114 auf 1268). 9 3 Viele Pfarreien waren deshalb unversorgt. Und selbst wo beides geregelt war, gab es bei konkreten Teilungsplänen häufig Streit um die Einnahmen aus den Pfarrpfründen, die bei der Gemeindeteilung partiell auf die neu gebildete Gemeinde übergingen. "Es soll vorgekommen sein, daß die Gegner der Parochieteilung den Befürwortern vorwarfen, sie seien Kommunisten, weil sie anderen das ih88 89 90 91 92 93

T.Nipperdey: Religion, S.89 H.Schnell: Gemeinde, S. 15 zit. nach H.C.Stoodt: Formen kirchlicher Arbeit an der Schwelle von Industrie- und Risikogesellschaft, in: Pth 80/1991, S.120 E.Sülze: Gemeinde, S.VIII u.ö. Vgl. H.Schnell: Gemeinde, S. 15-18 Weitere Zahlen ebd. S. 106-113

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nen zustehende Einkommen w e g n e h m e n " . 9 4 Wo auch immer man also im einzelnen Ursachen, Versäumnisse oder gar Schuld suchen und finden möchte, unbestreitbar bleibt, daß eine seelsorgerliche Betreuung von Gemeindemitgliedern durch die Strukturbedingungen der Massengemeinden unmöglich gemacht worden ist. 4. Kirchen- und Gemeindekultur: Die protestantische Kirchenkultur war schon seit ihrer Entstehung obrigkeitlich orientiert und von äußerem Zwang begleitet. Die Pfarrer waren Quasi-Staatsbeamte mit höherer Bildung und zumindest bis 1875 sogar explizit obrigkeitlichen Funktionen. Entsprechend gebärdeten sie sich. Die Gemeinde- und Frömmigkeitskultur der evangelischen Landeskirchen war überwiegend kleinbürgerlich und kleinstädtisch orientiert und hatte keinen Anschluß an die Arbeitswelt und die Arbeiterschaft gefunden. Daß dies ein genuin protestantisches Defizit ist, dessen Ursachen u.a. auch in der protestantischen Religionskultur zu suchen sind, zeigt die Arbeit der katholischen Kirche, die es gerade im letzten Drittel des 19.Jahrhunderts erfolgreich geschafft hat, sich in allen Kreisen der katholischen Bevölkerung fest zu v e r a n k e r n . 9 5 b) Die Religiosität der Kirchenmitglieder 1. Religion ist "Privatsache": Die Entwicklungen, die die kirchliche Statistik im 19.Jahrhundert aufgedeckt hat, waren keineswegs ausschließlich dem Rationalismus mit seinem Ideal einer dekonfessionalisierten Religiosität oder der Säkularisierung mit ihrer Fundamentalopposition gegenüber Kirchen und Glaubenslehren anzulasten. Als Wirkungsfaktoren aber fanden beide Faktoren dennoch ihren Niederschlag: Das Wissen um die Existenz derartiger Denk- und Glaubensmöglichkeiten breitete sich in der Bevölkerung aus. Glaubensfragen wurden damit mehr und mehr zu ernsthaften Entscheidungsfragen, vor die jeder einzelne persönlich gestellt war oder doch zumindest gestellt sein konnte. Ganz gleich, wie man die Fragen letztlich beantwortete, man tat dies stets in dem Wissen, daß auch andere Antworten und andere Grundeinstellungen möglich und vorhanden waren. Die Selbstverständlichkeit der religiösen Orientierungen und der verbindende Konsens der Gesamtgesellschaft waren zerbrochen. Die christliche Religion wurde zumindest partiell schon im 19.Jahrhundert zur "Privatsache", auch wenn die öffentliche Bedeutung der Kirchen davon unberührt blieb. Zumindest theoretisch mußte jeder selbst die Auswahl aus dem Angebot des religiös und weltanschaulich Denkbaren vornehmen und verantworten, wenngleich der Staat, berufliche Wünsche und Verpflichtungen, Traditionen und Erziehung immer noch sehr vielen die Last der Entscheidung abgenommen haben. 2. Veränderte Lebensgewohnheiten: Die Industrialisierung hatte tief in die Sozialstruktur der Gesellschaft und Lebensgestaltungsmöglichkeiten der Men94 95

H.Schnell: Gemeinde, S. 17 Vgl. T.Nipperdey: Religion, S.24-31

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sehen eingegriffen. Arbeit und Freizeit wurden neuen Rhythmen unterworfen, Wohnort und Arbeitsplatz wurden getrennt. Die Schichtenstruktur der Gesellschaft vertiefte sich. In den größeren Städten entstanden große schichtspezifische Wohnquartiere. Das "Samstagsvergnügen" wurde zum Allerweltsspaß. Die Gesamtkultur hatte sich verschoben, die Kirche war aus ihrer Zentralstellung in der Gesellschaft verdrängt und zu einem Teilsegment geworden. Das Leben neben der Kirche kannte noch andere wichtige und bestimmende Teilbereiche. Die Themen "Arbeit" und "Familie" wurden zu den neuen Mittelpunkten und sinnstiftenden Dimensionen des Lebens. Damit waren sie religiös besetzt und traten in ein unmittelbares Konkurrenzverhältnis zu den traditionellen Vorstellungen, die das offizielle Christentum vom Sinn des Lebens hatte. "Die evangelische Kirche im Volksbewußtsein ist herabgesunken zu einer kirchlichen Anstalt, die ihre 'Sakramente' spendet ... Und das Volk zählt deren nach Durchstreichung des Abendmahls vier ... [Taufe, Konfirmation, Trauung und Beerdigung]... Dann zieht man einen langen Strich und setzt darunter das Wort, das ein feiner Satiriker vor Jahren in der Christlichen Welt schrieb: 'Daß du uns im übrigen zufrieden läßt, liebe evangelische Kirche, und dir bewußt bleibst, daß wir auch ohne dich leben können'. "96 3. Die Auswirkungen der Massengemeinden: Die Massengemeinden hatten nicht nur eine zersetzende Wirkung auf die Gemeindebindung der einzelnen Mitglieder, sie haben auch das R e l i g i o n s v e r s t ä n d n i s ^ u n d die Formen der Religionsausübung bleibend geprägt. Innerhalb dieser riesigen Gemeindegebilde konnte es schon allein aus strukturellen Gründen nur noch allgemeine "Kirchenzugehörigkeit" geben, aber kaum noch eine persönliche Gemeindebindung. Vor allem aber wird auch unter solchen Systembedingungen Mitgliedschaftsverhalten eingeübt. Die Menschen bilden sich ihr Urteil immer unter den jeweils gegebenen Verhältnissen. Sie warten nicht mit der Urteilsbildung, ob möglicherweise 20 oder 30 Jahre später andere Verhältnisse eintreten, oder ob die Verhältnisse "im Prinzip" ganz anders gedacht sind. Wenn aber die Pfarrerschaft über Jahrzehnte hinweg dauerhaft überlastet ist, dann lernen die Gemeindemitglieder, man habe sich nur dann beim Pfarrer zu melden, wenn man ihn auch benötigt. Auf diese Situation haben sich die evangelischen Gemeindemitglieder eingestellt. Sie haben verinnerlicht und über Generationen hinweg wei-

96 97

Stock: Der evangelische Gemeindegedanke in den beiden letzten Jahrzehnten und seine Bedeutung für die Zukunft, in: Die Christliche Welt 23/1909, Sp.1067 Daß auch die Konfessionsbindung in den Regionen, wo lutherische und reformierte Gemeinden auf dem gleichen Territorium nebeneinander vorhanden waren, von der Bevölkerung durchaus pragmatisch gehandhabt wurde, belegt eine Notiz aus der Gemeindeschichte der Evangelisch-reformierten Gemeinde (Wuppertal) Barmen-Gemarke. Die reformierte Gemeinde sah sich im 19.Jahrhundert gezwungen, im Nachbarort "Wupperfeld" eine eigene Kirche zu bauen, weil vielen Gemeindemitgliedern der Weg zur Gemarker Kirche zu weit war und sie ihre Kinder deshalb in den Konfirmandenunterricht der dortigen lutherischen Gemeinde schickten. - Geschichte, S.304

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tergereicht, wie man sich im Umgang mit einem Pfarrer zu verhalten hat: man stört ihn nur, wenn man ihn unbedingt braucht. 4. Statistische Daten zum Teilnahme verhalten der Kirchenmitglieder: Im 19. Jahrhundert ist das Mitgliedschaftsverhalten der evangelischen Christen erstmals in größerer Breite quantitativ erfaßt worden. Die Entwicklung des Mitgliedschaftsverhaltens folgte weiterhin dem Trend, der bereits im 18.Jahrhundert vorhanden war. Die verstärkt aufkommende Religions- und Kirchenkritik hat einen anhaltenden Druck auf die scharfen Kanten der Konfessionsprofile ausgeübt und gewiß auch manch einen dazu veranlaßt, die offiziellen Anforderungen und Glaubensüberzeugungen der Kirche persönlich nicht mehr allzu verbindlich zu sehen. Im Kirchenliedgut hat das schon zu Beginn des 19.Jahrhunderts seinen Niederschlag gefunden. Christian Gottlob Barth beklagte 1827 in der 2. Strophe des Liedes "Sonne der Gerechtigkeit" die "tote Christenheit" und ihren "Schlaf der Sicherheit" (EKG 218,2). Philipp Spitta rief im gleichen Jahr angesichts der "schlaffen und glaubensarmen Zeit" nach den "scharf geschliffenen Waffen der ersten Christenheit" (EKG 108,2). Die Abendmahlsteilnahme ging rasant zurück. Hatte man in Nürnberg 1785 noch 126% Abendmahlsteilnahme gezählt^, was bedeutet, daß jedes Gemeindemitglied in diesem Jahr durchschnittlich 1,26 mal zum Abendmahl gekommen war, so sank die Zahl in ganz Bayern zwischen 1867 und 1913 von 11% auf 43%. In Württemberg sank sie von 70% (1861/62) auf 41% (1913), in Baden auf 44% (in Mannheim auf 8%). "In Thüringen von 39% auf 30%, in Sachsen von (1861) 72% auf 35%, in Hannover von (1861) 63% auf 48%, in Westpreußen (1880) von 44% auf 41%, in Westfalen von 38% auf 29%, in der Rheinprovinz von 41 % auf 21 %. In Breslau lag die Abendmahlsfrequenz in den 90er Jahren bei 10%, in Görlitz 5-6%, in Dresden bei 3 , 5 % " . " Diese Zahlen spiegeln indirekt die innere Nähe bzw. Distanz der Gemeindemitglieder zum evangelischen Konfessionsideal, das ja mit der Reduzierung der Sakramentenzahl einen besonderen Akzent gesetzt hatte. Auch nach dem 1.Weltkrieg, der viele wieder näher an die Kirchen herangebracht hatte, blieben 100% Beteiligung in weiter Ferne. Die Teilnahmestatistik für ganz Deutschland schwankt 1918 zwischen den Extremwerten von Hamburg (7,3%) und Schaumburg-Lippe (59,3%). Der Durchschnitt in ganz Preußen betrug 27,6%. Der allgemeine Gottesdienstbesuch lag in Baden 1872 bei 29% und 1906 bei 23%, wobei zu berücksichtigen ist, daß diese Zahlen auch die Kinder einschließen, die nicht selten 1/3 der Gottesdienstbesucher stellten. Im Norden Deutschlands waren die Zahlen sehr viel niedriger. Plön (Schleswig-Holstein) hatte 1913 noch 3,5% Gottesdienstbesuch, Berlin schon im Jahr 1872 nur noch 2%, Bochum um 1880 etwa 10%. 98

99

F.Niebergall: Praktische Theologie. Lehre von der kirchlichen Gemeindeerziehung auf religionswissenschaftlicher Grundlage. Bd. 1: Grundlagen, Tübingen 1918, S.214; vgl. zum folgenden auch M. Schian: Grundriß der Praktischen Theologie, Gießen 1922 und T.Nipperdey: Religion; weitere Lit. bei R.Volp: Liturgik, S.780 T.Nipperdey: Religion, S. 119

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Damals wurde bereits festgestellt, daß der Gottesdienstbesuch anläßlich der hohen Festtage des Jahres überdurchschnittlich hoch blieb und häufig zwischen 25% und 35% schwankte, bisweilen sogar 50% erreichte (was auch eine Frage der vorhandenen Raumkapazitäten war). Die festlichen Gottesdienste anläßlich der großen Feste des Jahres waren die Termine, an denen die evangelischen Gemeindemitglieder ihre Religions- und Kirchenbindung anschaulich machten. Hier waren sie auch öffentlich präsent, obwohl doch gerade das 19.Jahrhundert auch die Ausgestaltung der großen Festtage zu intensiv erlebten Familienfesten gebracht hatte. Im religiösen Bewußtsein der Bevölkerung aber war beides nie zur Alternative geworden. Auch die Nachfrage nach den Kasualhandlungen verharrte auf sehr hohem Niveau. Taufe und Konfirmation blieben fast ungebrochen in Geltung. Auch "in sozialdemokratisch verseuchten G e b i e t e n " 100 lagen die Zahlen über 90%. Interessant ist hier besonders die Entwicklung nach der Einführung der Zivilstandsgesetzgebung (1875). Bis 1875 war der Vollzug der kirchlichen Amtshandlungen durch Gesetz erzwungen worden. Als dieser Zwang entfiel, brachen die Zahlen in Berlin zunächst massiv ein. Die Zahl der Trauungen sank auf etwa 1/4 des alten Standes, von 11331 auf 2642. Die Zahl der Taufen ging etwa um 1/3 zurück, von 32073 auf 19291. Aber die Zahlen erholten sich nach dem ersten Einbruch durchweg wieder. Die Kirche blieb in den Krisen des Lebens gefragt, auch ohne die staatliche Unterstützung. Der Verlauf dokumentiert die Existenz eines eigenständigen religiösen Interesses in der protestantischen Bevölkerung. So gab es 1914 in Berlin schon wieder zu 86% kirchliche Beerdigungen nach einem Tiefstand von 64% im Jahr 1880. Es ist bekannt, daß durch statistische Erhebungen lokale Besonderheiten oder Differenzen nivelliert werden, weil sie in der jeweils gewählten Größenordnung nicht ins Gewicht fallen. So gab es im Teilnahmeverhalten ein deutliches Nord-Süd-Gefalle (mit Ausnahme Hannovers). Ursächlich war in Schleswig Holstein u.a. ein eklatanter Mangel an Kirchen und Pfarrern: "Seit der Christianisierung bis zum Jahr 1530 wurden dort 330 Kirchen gebaut, von 1530 bis 1945 105 Kirchen. Seit der Reformation wuchs die Bevölkerung aber gleichzeitig von 400000 auf 2600000 Menschen an. Einem Bevölkerungszuwachs von 550% stand also lediglich eine Vermehrung der Gotteshäuser von 31,7% gegenüber".101 Auch das Stadt-Land-Gefälle war deutlich zu erkennen: "In Sachsen lag der Gottesdienstbesuch vor 1914 in 'richtigen' Dörfern zwischen 20 und 40%, in den Industriegemeinden zwischen 2,5 und 8%, in den typischen Arbeitervororten bei 1%".102 Geschlechtsspezifische Unterschiede konnten nachgewiesen werden: Männer stellen "in einem südhannoverschen Landgebiet 1910 nur 10% der Kirchenbesucher, in Baden waren 1904 immerhin noch 43% der Abendmahlsbesucher M ä n n e r " . 103 Schließlich lassen sich 100 101 102 103

F.Niebergall: Praktische Theologie, S.215 H.Schnell: Gemeinde, S . l l f T.Nipperdey: Religion, S.120 T.Nipperdey: Religion, S.120

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I. Religion-as-practised

auch langanhaltende Nachwirkungen historischer Umstände in großer Zahl in den einzelnen Regionen aufweisen. Viele dieser lokalen Besonderheiten haben sich bis in das 20. Jahrhundert hinein erhalten. Die statistischen Zahlen des 19.Jahrhunderts zeigen deutlich, daß die Gemeindemitglieder bis weit hinein in die kritisch-distanzierten Schichten am unteren und oberen Ende der Sozialpyramide den Formen, und damit implizit auch dem Religionsverständnis, der vorprotestantischen Frömmigkeit treu geblieben sind: kasusbezogen, symbolhaft, erlebnisorientiert und so fröhlich, wie es die jeweiligen Umstände gerade erlaubten. Friedrich Niebergall resümiert in seiner "Praktischen Theologie": "Der eigentliche kirchliche Sinn, der den Einzelnen zur Anstalt oder Gemeinschaft treibt, geht in unseren Zeiten zurück; dagegen bedient sich noch immer die Einzelfrömmigkeit aus verschiedenen Beweggründen der Kirche, wenn sie durch allerlei Lebensereignisse besonders angeregt ist". 104 c) Die Reaktionen der Pfarrerschaft 1. Klagen über die "schlaffen" Gemeindemitglieder: Die Pfarrer haben die anlaßbezogene Religiosität der Bevölkerung in der Regel mit Mißfallen und Besorgnis zur Kenntnis genommen. Mit ihrer mentalen Prägung unter dem landesherrlichen Kirchenregiment und ihren normierten Vorstellungen von den Formen und Pflichten christlicher Lebensführung (religion-as-prescribed) konnten sie das Christentum der Bevölkerung schwerlich als "wirklich" christlich akzeptieren. Es war ihnen nicht möglich, die tiefverwurzelte und gegen alle Widerstände durchgehaltene religiöse Substanz zu erkennen und anzuerkennen, mit der die Kirchenmitglieder lebten. Was als Wiederherstellung der religiösen Autonomie zu verstehen war, wurde als religiöser Substanzverlust und grassierende Zunahme der Unkirchlichkeit gedeutet. Schon 1820 schrieb der Gothaer Oberkonsistorialrat und Generalsuperintendent Karl Gottlieb Bretschneider: "Jetzt aber finden wir die Unkirchlichkeit nicht bei einzelnen, sondern bei vielen, nicht als Ausnahme, sondern in manchen Ständen und Städten als Regel ... Die Erscheinung, die sonst sporadisch war, ist endemisch g e w o r d e n " . 105 Als die Emanzipation von den Obrigkeiten um sich griff, saßen die Pfarrer im anderen Boot. Sie wurden von der demokratischen Entwicklung und der Weltanschauungskonkurrenz überrollt. Sie orientierten sich an der vergangenen Größe und beklagten verklärend den Verlust der alten Zeit und ihrer Sitten. Das Spektrum pastoraler Einstellungen zur Religionspraxis der Bevölkerung reichte von resignierender und resignierter K e n n t n i s n a h m e ! ^ über ironisch-bittere 104 F.Niebergall: Praktische Theologie, S.214 105 K.G.Bretschneider: Über die Unkirchlichkeit dieser Zeit im protestantischen Deutschlande, zit. nach V.Drehsen: Erosion - Auswanderung - Selbstparalysierung. Vermutungen über Schwund und Distanz protestantischer Kirchenbindung, in: F.W.Graf / K.Tanner (Hg.): Identität, S.206 (205-222) 106 Stock: Gemeindegedanke, Sp.1067

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Selbsterkenntnis bis hin zu massiver Fundamentalkritik am "ungläubigen" Kirchenvolk. Hatte schon die deutsche Spätaufklärung gelegentlich vernichtende Urteile über die "Religion des Pöbels" gekannt so wurden die gebetsmühlenhaft wiederholten Klagen der Pfarrerschaft über die "schlaffen und glaubensarmen Zeiten" im 19.Jahrhundert e n d e m i s c h . 108 2. Moralprediger: Als Reaktion auf ihre Lage wollten die Theologen Apologetik treiben, Widerstand leisten, die Auflösungstendenzen stoppen. Da man aber die Strukturbedingungen der Massengemeinden nicht in Rechnung und die obrigkeitliche Kirchenkultur nicht in Frage stellte (sondern ihr nachtrauerte) und obendrein der Geist der Zeit einen heftigen Gegenwind erzeugte, blieb dieses Mühen erfolglos. Der "alte Adam" führte ein erfolgloses Rückzugsgefecht. Die Apologetik machte die Kirche nicht attraktiver unter den nicht versammelten Christen. Der Kommunikation des Evangeliums fehlte die einladende und ansprechende Kraft. Ein anderer Weg war da erfolgreicher. War die Dogmatik auch verschlissen und der Privatisierung der Glaubensüberzeugungen zum Opfer gefallen, so blieb doch die Ethik. Die Pfarrer machten sich erfolgreich zu Hütern der Moral. Die traditionell kirchliche Aufgabe der Sozialdisziplinierung der Gesellschaft mutierte mangels schwindender Macht und fehlender Durchsetzungsfähigkeit zur Moraldisziplinierung der Bevölkerung. Mit dem Themenschwerpunkt "Moral" konnte man die Enge der innerkirchlichen Zirkel hinter sich lassen und fand immer noch die Zustimmung breiterer bürgerlicher Schichten. Es entstand - in gegenseitigem Einvernehmen - der sprichwörtlich gewordene "Moralprotestantismus" des 19.Jahrhunderts "mit strenger Ehe-, Familien- und Sexualnorm, einem herben Rigorismus der Wahrhaftigkeit und Pflicht, einer Scheu und Abneigung gegen allen Ausdruck von Emotionen ".HO 1872 schon gab Wilhelm Busch, ein in Theologenkreisen weniger beachteter Sproß evangelischer Pfarrhauserziehung, dem Moralprotestantismus mit den Schlußversen seiner "frommen Helene" ein Motto mit auf den Weg: "Das Gute - dieser Satz steht fest - ist stets das Böse, das man läßt! Ei ja! Da bin ich wirklich froh! Denn, Gott sei Dank! Ich bin nicht so!"

107 "Es ist wahr, die Religion des Pöbels erstrecket sich allenthalben ebensowenig auf das Wahre und Wesentliche der Religion und es ist sehr zweifelhaft, ob dasjenige, was der Pöbel in allen Landen von der Religion kennt, diesen Namen in der Tat verdient". - Johann Heinrich Gottlob von Justi: Natur und Wesen der Staaten als Quelle aller Regierungswissenschaften und Gesetze, hg.v. Heinrich Gottfried Scheidemantel, Mitau ^1771, Neudruck Aalen 1969, S.363 zit. nach Chr. Dipper: Volksreligiosität, S.73 108 Vgl. V.Drehsen, Erosion, S.205-207 109 Stock beklagte 1909 die "vielen Mittel und Mittelchen, die heute Der, morgen Jener anpreist. Kirchenmusik und moderne Predigt, Überwindung der Glaubenshindernisse durch intellektualistische Belehrung, hier durch die neuere Theologie, dort durch apologetische Vorträge, Diskussionen mit sozialdemokratischen Arbeitern und schließlich noch Organisation der Gemeinde oder von allem etwas" - Gemeindegedanke, Sp. 1067 110 Beide Zitate T.Nipperdey: Religion, S.77

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I. Religion-as-practised

5. Ergebnisse 1. Die Unterscheidung von religion-as-prescribed und religion-as-practised läßt erkennen, daß die Religiosität der Gemeindemitglieder ein eigenständiger Faktor ist, der nicht wie selbstverständlich mit den Vorstellungen und Normvorgaben der Reformationstheologen übereinstimmt. 2. Eine blinde Übernahme der Theologennormen in die Praxis des gelebten Glaubens gab es nicht. Vielmehr zeigte sich ein differenziertes Bild. So lange die äußeren Umstände hart waren, zeigten sich deutliche Erfolge der kirchlichen und staatlichen Sozialisationsbemühungen. Wo aber der Duchsetzungswille fehlte oder der Druck nachließ und Freiräume für die persönliche religiöse Entfaltung entstanden, da wurden die Freiräume genutzt, um das Intensitätsniveau der institutionalisierten Religiosität wieder zu verringern. 3. In weiten Teilen der evangelischen Christenheit blieb das vorreformatorische Verständnis vom Nutzen der Religion intakt und wurde über Generationen und Jahrhunderte hinweg weitergegeben, m Auch die evangelische Kirche blieb eine Institution, die man familial und sozial funktionalisierte. Ihre Aufgabe war es, den Festen des Lebens die "höheren Weihen" zu erteilen.! 12 Auch blieb es dabei, daß sich die Erfahrung der Religon weniger im spirituellen Ereignis und der domestizierten Gesinnung vollzog als im unmittelbaren, situationsgeprägten Erlebnis. Religion wurde in der Gemeinschaft der unmittelbar Betroffenen gelebt und erlebt. Sie war in die Höhen und Tiefen des Lebens hineinverwoben. Sie ging einher mit Freude, Spaß und Übermut, mit Rausch und festlichem Beisammensein, nicht nur mit stiller Demut und innengerichteter Kontemplation. Sie wurde auch nicht auf Vorrat erarbeitet ("Spare in der Zeit, so hast du in der Not"), sie wurde abgerufen, wenn sie gebraucht wurde. Sie diente der Sicherung des konkreten Lebens und der Stärkung angesichts eingetretener Schadensfalle des Lebens. In all diesen Überzeugungen zeigen sich die "Tiefenstrukturen" der christlichen Religiosität, die m.E., gerade weil sie weitgehend unbewußt waren (und sind), den Prozeß der Konfessionalisierung unbeschadet überdauert haben und zu geheimen Regeln geworden sind, an denen evangelische Gemeindemitglieder selbst heute noch ihre religiösen Einstellungen und ihr Frömmigkeitsverhalten orientieren.

111 C.Dipper hat eine ähnliche Interpretation vorgelegt, wenn er die Volksreligiosität als eine "Residualkategorie" bezeichnet, "die in dem Augenblick sichtbar wurde, als Bildungseliten beider Konfessionen im Verein mit fortschrittlich eingestellten Obrigkeiten ein neues Frömmigkeitsideal entwickelten, das mit den traditionellen Formen der Religiosität nicht einfach konkurrierte, sondern in Konflikt geriet, weil es allgemeinverbindlich gemacht und durchgesetzt werden sollte." - Volksreligiosität und Obrigkeit im 18.Jahrhundert, in: W.Schieder (Hg.): Volksreligiosität, S.75 112 R.van Dülmen: Kultur II, S.7. Deshalb hatten gerade "säkulare" Freizeitbeschäftigungen bei Wallfahrten oder während des Kirchenbesuchs ein so großes Eigengewicht.

Ergebnisse

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4. Da die Reformatoren ein völlig anderes Verständnis vom Christsein der Kirchenmitglieder gehabt hatten, läßt sich die Behauptung aufstellen, daß die Gemeindemitglieder der Konfession, der sie im 16. Jahrhundert über Nacht teilhaftig wurden, in einem zähen Ringen, ein freudigeres und lebensnäheres Gesicht gegeben haben. In einer nutzenorientierten Anpassungsleistung wurde die "religion-as-prescribed " transformiert. 5. Der kurze Blick auf die Kirchlichkeit des 18. und 19. Jahrhunderts hat gezeigt, wie alt viele der "Probleme", vor die sich die Pfarrerschaft heute gestellt sieht, tatsächlich bereits sind. Form und Intensität der Religionsausübung sind bereits seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert in rechtlich abgesicherter Form Privatsache der Kirchenmitglieder. Die Inhalte des Glaubens unterliegen der Glaubens- und Gewissensfreiheit. Eine selbstbestimmte und selbstgewählte Kirchlichkeit war schon im 19.Jahrhundert die Regel, nicht mehr die Ausnahme. Kirchenzucht, konfessionelle Enge und pastorale Weisungsambitionen waren damals bereits anachronistisch. Das fehlende Verständnis für die Mitgliederreligiosität zeichnete schon die Pfarrerschaft vergangener Jahrhunderte aus. Autoritäre Weisungs- und Erziehungsansprüche gehören zu den mentalen Folgewirkungen der jahrhundertelangen funktionalen Einbindung der evangelischen Landeskirchen in ein landesherrliches Kirchenregiment. 6. Um das religiöse Teilnahme- und Mitgliedschaftsverhalten der Protestanten zu verstehen, reicht es nicht aus, sich nur auf theologische Schriften oder landesherrliche Verordnungen zu konzentrieren. Es ist sinnvoll, schon bei der historischen Rekonstruktion zwischen "religion-as-prescribed" und "religion-aspracticed" zu unterscheiden.

II. 100 Jahre Reform der evangelischen Gemeindearbeit

1. Die Reformdiskussion zu Beginn des 20. Jahrhunderts Gegen Ende des 19.Jahrhunderts entwickelte sich nicht zuletzt unter dem Eindruck der statistischen Entwicklungen in den Kirchengemeinden eine rege Diskussion über die Gemeindearbeit der Zukunft. 1 In dieser Diskussion, die sich unter den veränderten Vorzeichen des Jahres 1918 bis in die zwanziger Jahre des neuen Jahrhunderts hinein fortsetzte, finden sich bereits nahezu alle Stichworte und Vorstellungen, aber auch sämtliche Aporien der gegenwärtigen Diskussion über Gemeindearbeit in der Volkskirche. Es ging damals bereits um Alternativen wie "Volkskirche" oder "gruppengemeindliche Ekklesiola", um die Parochialgemeinde und die Personalgemeinde, um die Organisationsformen "Verein" und "Körperschaft", um die "Pastorenkirche" und das "Priestertum aller Gläubigen", um die Frage nach einer Situationsorientierung oder einer Bekenntnisorientierung der Kirche, um offene (plurale) oder geschlossene Gemeindekultur, um die Bewertung der unterschiedlichen Formen des Mitgliedschaftsverhaltens mit passiven und aktiven Gemeindemitgliedern, um die Intensivierung des Glaubenslebens und den Dienst der Kirche in der Welt, das Verhältnis von sichtbarer und unsichtbarer Kirche und nicht zuletzt auch um die Grundfragen der theologischen Anthropologie, um den unbekümmerten Sünder und den bewußten Christen, der um die Heiligung im Alltag und die Heiligung des Alltags ringt. Insofern kann niemand, der sich heute der Theorie der Gemeindearbeit zuwendet, das Rad noch einmal erfinden. Die Eckpfeiler der Diskussion sind bereits eingeschlagen. Vieles von dem, was seither publiziert worden ist, läßt sich den damals vertretenen Positionen zuordnen. Mit den Arbeiten von Emil Sülze, Gerhard Hilbert und Jakob Schoell werden im folgenden drei der profiliertesten Entwürfe dieser Diskussion vorgestellt. In jede Konzeption der Gemeindearbeit gehen immer auch Beurteilungen der gesamtgesellschaftlichen Situation^ und des Mitgliedschaftsverhaltens der evangelischen Gemeindemitglieder ein, denn Kirchengemeinden sind soziale und religiöse Teilsysteme innerhalb der übergreifenden Sozialsysteme Staat und Gesellschaft. Daß Konzeptionen der Gemeindearbeit aber darüberhinaus auch stets von den biographischen Erfahrungen des jeweiligen Autors beeinflußt

1 2

Vgl. C.Möller: Lehre, S. 138-154 : M.Herbst: Missionarischer Gemeindeaufbau in der Volkskirche, Stuttgart 2 1988, S. 165-168 K.-F.Daiber: Funktion und Leistungsfähigkeit von Konzepten und Strategieüberlegungen für den Gemeindeaufbau, in: PTh 78/1989, S.362

1. Die Reformdiskussion zu Beginn des Jahrhunderts

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sind, läßt sich gerade bei den im folgenden dargestellten Autoren, bei Sülze, Hilbert und Schoell, deutlich zeigen. 3

1.1 Emil Sülze: Die überschaubare, selbsttätige Gemeinde Emil Sülze war jahrzehntelang Gemeindepfarrer.4 Er kannte den Gemeindebetrieb und sprach aus Erfahrung, wenn er ihn kritisierte. Das staatskirchliche Selbstbewußtsein, das in Jahrhunderten unter dem landesherrlichen Kirchenregiment gewachsen war, und das damals die Mehrheit der Pfarrerschaft prägte, hatte auch er verinnerlicht. Es bestimmte sein Denken und seine Lösungsvorschläge. Er litt, wie viele andere mit ihm, unter der dahingehenden Staatskirchenherrlichkeit und hatte große Schwierigkeiten, mit den veränderten gesellschaftlichen Verhältnissen zurecht zu kommen: "Man mag sagen, was man will, es bleibt doch unumstößlich der Satz: Der Mammonismus und Materialismus der Zeit, unsere Sozialdemokratie, die ganz auf den sittlichen Ruin unseres Volkes gerichtete materialistische und atheistische Strömung der Gegenwart ist nur dadurch verschuldet, daß wir nicht zur rechten Zeit Kirchgemeinden gegründet haben, die Ansehen und Macht genug besaßen, die Erziehung zur Gotteskindschaft als dem eigentlichen Zweck und Inhalt des Lebens in Anerkennung und in Kraft unter uns zu erhalten" (S.9). Ein zweiter Punkt kommt hinzu. Emil Sülze konnte und wollte die Vereinzelung der Kasualchristen nicht akzeptieren. "Der Einzelne ist ein leicht verwehendes Blatt. Ohnmächtig ist sein Glaube. In der Gemeinde, die ihn hält und trägt, quillt volle Glaubenskraft ihm zu".(S. 10)5 Sülze war geradezu beseelt vom Gemeindegedanken. Gemeinden "sind und bleiben die Feder in der Uhr, die alle Räder bewegt; das Herz, das in unablässiger Wechselwirkung mit allen Gliedern den Umlauf des Blutes bedingt" (S.8). Und schließlich war Sülze auch ein Pfarrer, der die Arbeit nicht scheute. Er erwartete und forderte von seinen Pfarrkollegen, bienenfleißig zu sein. Das konnte so weit gehen, daß er vor3 4

5

Vgl. auch W.Lück: Praxis, S.67 Emil Sulzes Buch "Die evangelische Gemeinde" ist 1891 in erster Auflage erschienen. Nach seinem Buch "Die Reform der evangelischen Landeskirchen nach den Grundsätzen des neueren Protestantismus", Berlin 1906, hat Sülze 1912 noch eine "2. zum Teil neu bearbeitete Auflage" seiner "evangelischen Gemeinde" publiziert. In diese 2. Auflage ist auch die Auseinandersetzung mit seinen Kritikern eingeflossen. Aus diesem Grund liegt der folgenden Darstellung die 2. Auflage von 1912 zugrunde, nicht die erste Auflage von 1891. Die zentralen Forderungen sind auch in der 2. Auflage erhalten geblieben. Sülze referiert auf S.59 den Dialog mit einem Kollegen, der das sehr schön zum Ausdruck bringt: "Er sagte mir: Ihre Bezirkseinteilung mache ich Ihnen nicht nach. Ich fragte: warum nicht? Er antwortete: ich will Pastor meiner ganzen Gemeinde sein. Er war der erste von vier Geistlichen . Ich fragte: wieviele Mitglieder hat ihre Gemeinde? Er antwortete 40000. Erschrocken erwiderte ich: dann werden sie Pastor von gar keiner Gemeinde sein".

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II. 100 Jahre Reform

schlug, dauerhaft erkrankte Pfarrer zwangspensionieren zu lassen (S.156). "In dieser gefahrvollen Zeit sollte man doch arbeitsfreudige Kräfte nicht hindern" (S.VIII). Emil Sülze war bereit, viel und hart zu arbeiten. Aber er wollte im Rahmen eines sinnvollen Projektes arbeiten und seine Arbeitskraft nicht sinnlos verschleißen. Dieses Anliegen ist bis heute aktuell geblieben. Was Sülze über die Maßen ärgerte, war die "zerstreuende Vielgeschäftigkeit" der Pfarrer (S.67), die aufreibende Sinnlosigkeit der Arbeit in einer entpersönlichten und hoffnungslos überdimensionierten Großgemeinde. Dabei wußte er genau, wovon er sprach. 1872 war er in die Johannesgemeinde nach Chemnitz berufen worden, die zu dieser Zeit 47000 Mitglieder hatte. Jeder einzelne Pfarrer hatte dort zwischen 8000 und 15000 Gemeindemitgliedern zu betreuen. Wenn die Menschen nicht mehr zur Kirche kommen, so argumentierte Sülze, dann muß die Kirche eben zu den Menschen gehen und sie dort aufsuchen, wo sie zu Hause sind. Aus dem Verfall der Seelsorge folgte seiner Meinung nach der Verfall des sittlichen Lebens und die Ohnmacht der Kirche. Die Seelsorge wurde ihm zum Schlüssel für die Lösung des Problems. Sie mußte folglich verbessert werden. Vor diesem Hintergrund entwarf er seine Lösungsvorschläge. Daß er mit seinen Organisationsvorstellungen zu weit gegangen ist, hat viel Widerspruch hervorgebracht und es seinen Kritikern (bis heute) leicht gemacht. Aber die Organisationsfrage ist nicht alles, was Sülze zu bieten hat. Man wird ihm besser gerecht, wenn man drei Ebenen seines Werks unterscheidet, den "Gesellschaftserzieher" (a), den Praktiker (b) und den Strukturreformer (c). Der Gesellschaftsreformer hing dem vergehenden Traum von der christlichen Gesellschaft unter dem (staats-)kirchlichen Regiment an und überlegte, wie er doch noch zu realisieren sei. Der Praktiker wußte, "wo die Glokken hingen", und daß Bäume der Gemeindearbeit nicht über Nacht in den Himmel wachsen. Und der Strukturreformer wollte die kirchlichen Strukturen so verbessern, daß aus toten Parochien wieder "lebendige Gemeinden" (S.26 und S.35f) werden könnten.

a) Der Gesellschaftserzieher "Erziehung zur Gotteskindschaft" (S.7) war Emil Sulzes Programm, "Organisation" das Mittel, um es zu verwirklichen. Er forderte, die übergroßen Mammutgemeinden zu zerlegen und innerhalb der verkleinerten Kirchengemeinden Pfarrbezirke einzurichten. Jedem Pfarrbezirk sollte ein Pfarrer zugeteilt werden. Der Pfarrer sollte eine "innige persönliche Bindung" zu den Gemeindemitgliedern seines Pfarrbezirks aufbauen, ein langwieriger Prozeß, der nicht über das Knie zu brechen ist. Er sollten deshalb grundsätzlich auch lange an ihre jeweilige Gemeinde gebunden sein. (S. 156) "Keine Kraft der Welt wächst so langsam empor wie das Vertrauen" (S.49). Mit der Pfarrbezirkseinteilung hat Sülze die Organisationsform angeregt, die längst schon zur Normalform der Kirchengemeinde geworden ist. Hier liegt sein bleibendes Verdienst.

1.1 Emil Sülze

63

Mit realistischem Blick hat Sülze auch schon die Bedeutung der Finanzfrage für den Fortbestand der Organisation erkannt. Die Gemeinde ist ein "sozialer Organismus", "der bleibend nur dann bestehen kann, wenn er bleibende, zuverlässige Einkünfte hat" (S.221).6 Aber Sulzes Organisationsvorstellungen reichten noch bedeutend weiter. Er wollte die Parochien straff durchorganisieren. Sie sollten vollständig in Quartiere und Nachbarschaften eingeteilt werden. Jedem Quartier sollte ein Presbyter vorstehen, der die kontinuierliche Seelsorgearbeit zu leisten hätte. Die "tüchtigsten Hausväter" sollten zu Mitarbeitern des jeweiligen Presbyters gemacht und in "Hausväterverbänden" gesammelt werden (S.38-40). Auf diese Art wäre ein flächendeckendes Kontroll- und Erziehungsnetz entstanden, das bis in jedes Haus hineinreichte. Nachdrücklich forderte Sülze auch, daß stets nur ein Geistlicher die Gesamtleitung innehaben dürfe und daß es innerhalb dieses Systems "keine unbeschränkt freie" (S.52) Pfarrerwahl für die Gemeindemitglieder geben d ü r f e t Er forderte, daß grundsätzlich alle Pfarrer gleichberechtigt und gleichrangig sein sollten. Alle sollten gleich viel verdienen (S.148f)· Ränge, Titel, Würden und Hochwürden wollte er abschaffen. "Dieser ganze Apparat weltlicher Herrlichkeit muß unerbittlich vernichtet werden" (S.142). Mit all diesen Forderungen hat er sich nicht durchgesetzt. Auf die Rückfrage seiner Kritiker, ob seine Vorstellungen nicht auf eine "Gemeindetyrannei" hinausliefen, antwortete er, dies sei eine Frage der Auswahl der jeweils zuständigen Presbyter, fügte dann aber hinzu: "Übrigens bekenne ich offen, daß ich unser Volk lieber unter der Tyrannei der Calvinischen, nicht der Gemeinde entspringenden Kirchenzucht wüßte, als unter der Tyrannei der sozialdemokratischen und atheistischen Agitatoren, deren Macht unablässig wächst" (S.62). In solchen Äußerungen zeigt sich sein traditionsverhaftetes Denken, das bisweilen durchaus verklärende Züge annehmen kann. Er ignoriert (in Übereinstimmung mit vielen Pfarrern seiner Zeit) die Mitverantwortung, die die Kirche an den herrschenden Zuständen hatte. Auch war ihm nicht unbekannt, daß zu seiner Zeit bereits viele Sozialdemokraten in den Kirchenvorständen tätig waren (S.64), nur wollte er das wohl nicht wissen. b) Der Praktiker Emil Sulzes Schrift enthält zahlreiche Details, Erfahrungen und Beobachtungen aus der Gemeindepraxis, die nach wie vor gültig und beachtenswert sind. Das gilt für Sulzes Kritik der "aufreibenden Vielgeschäftigkeit" (S.93), die die 6

7

Vgl. S.221-235. Er sprach sich gegen eine Finanzierung der Kirche durch Honorare, Gebühren oder "freiwillige Liebesgaben" aus. Vor allem bei den letzteren kritisierte er die Möglichkeiten der Vorteilsnahme oder der eigennützigen Einflußnahme. "Wes Brot ich eß, des Lied ich sing". Diese Finanzierungsformen, so meinte er, seien eines der "äußerlichsten Gebrechen" der Kirche und zugleich eines ihrer "Grundgebrechen" (S.146). Sonst "wenden sich diejenigen, mit denen ein Geistlicher einmal ein ernstes Wort zu reden hatte, beim nächsten Bedarf an einen anderen". - E.Sulze: Gemeinde, S.52

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II. 100 Jahre Reform

Qualität der pastoralen Gemeindearbeit mindert. Er suchte nach einem sinnvollen Schwerpunkt der Arbeit und fand ihn in der Gemeindeseelsorge: "Alles kommt darauf an, daß für energische Arbeit in der Seelsorge kein Hindernis entsteht" (S. 156). Folglich plädierte er dafür, die gesamte restliche Arbeit auf andere zu übertragen. Dazu gehörte etwa der Vorsitz der Pfarrer im Gemeindevorstand: "Diese Last beschränkt in hohem Grade die Zeit, die er der Seelsorge in seinem Bezirk zu widmen hätte. Des Aktenschreibens ist oft kein Ende" (S.57). Eine reflektierte Schwerpunktbildung und innergemeindliche Arbeitsteilung sind nötig: Der Pfarrer "muß bei der Gründung der Familie, bei der Taufe und bei der Konfirmation eines Kindes, in Not und Krankheit und bei Sterbefällen seine Gemeindemitglieder, insbesondere aber die Neuanziehenden, besuchen und mit Rat und Hilfe ihnen zur Seite stehen. Die fortgehende Arbeit an den einzelnen aber hat er, so viel als möglich ist, den Presbytern und Hausväterverbänden zu überlassen" (S.68). Jeder Pfarrer benötigt Mitarbeiter und ist verpflichtet, diese Mitarbeiter zu suchen: "Wer aber für ein Arbeitsfeld die rechten Personen nicht aufsucht, sie nicht in Arbeit nimmt und nicht ihre Verpflichtung ihnen auferlegt - dessen Arbeit wird ungetan bleiben" (S.60). Über die Anzahl der Gemeindemitglieder, die ein Pfarrer betreuen kann, hat Sülze sich ungern geäußert. Ihm war bewußt, daß hier immer äußere Umstände zu berücksichtigen sind. Allerdings forderte er, der "Umfang muß möglichst gering sein", damit die Gemeinde für den Pfarrer "durchsichtig" bleibt (S.36). c) Der Strukturreformer: Vereinsleben und Selbsttätigkeit der Gemeindemitglieder Weil die soziale und religiöse Komplexität der Volkskirche seine Ziele unerreichbar machte (S.35), forderte Sülze, die Parochien in kirchliche Vereine umzuwandeln, die sich als "Genossenschaften" organisieren sollten. "Im letzten Grunde ist unser Bestreben darauf gerichtet, die kirchlichen Gemeinden in Vereine umzuwandeln, deren Mitglieder sich kennen und lieben und ihre Liebe untereinander durch die Tat, vor allem durch ernste seelsorgerische Arbeit beweisen" (S.196). Alle Gemeindemitglieder wären dann "Vereinsgenossen" (S.214). Das Gemeindeleben wäre Vereinsleben und würde bis weit in die Gestaltung des persönlichen Alltags hineinreichen. Man könnte so "durch edle kirchliche Geselligkeit auch dem sozialdemokratischen Vereinsleben eine Macht entgegensetzen" (S.166). Vor allem aber wären die Voraussetzungen geschaffen, "eine wahre Kirchenzucht zu üben ... Jede Genossenschaft hat das Recht der Selbsterhaltung ... Man kann von niemandem verlangen, daß er mit Unkeuschen, Lieblosen und mit solchen, die unredlich in ihrem geschäftlichen Leben sind, in intimen Verkehr trete" (S.164f). Kam der Vorschlag auch aus konservativer Quelle, so hatte er durchaus richtungweisenden Charakter, nicht nur im Blick auf die Ereignisse nach 1918. Der Verein schien Sülze die eigentlich ideale Organisationsform der evangelischen Kirche zu sein. Hier müßte möglich sein, was im Schmelztiegel der Parochie unerreichbar blieb.

1.1 Emil Sülze

65

Sülze entwickelte den Gedanken der "Selbstverwaltung" (S.33) und der "Selbsttätigkeit der Gemeinde" (S.34). Er vertraute in die Potentiale, die in einem solchen Verein versammelt sein würden und war deshalb auch davon überzeugt, daß ein solcher kirchlicher Verein bei wirklich breiter Entfaltung aller seiner inneren Kräfte einen Entwicklungsprozeß in Gang setzen würde, den man im systemtheoretischen Sinn durchaus als "autodynamisch" bezeichnen kann. "Unser Streben ist darauf gerichtet, daß der Glaube, die Seelsorge, die Liebestätigkeit [,das Bekenntnis] und der Gottesdienst der Gemeinde frei aus ihrem inneren Leben herauswachse" (S.174). Vom Gedanken der Selbsttätigkeit ist auch sein Vorschlag für die Gestaltung der Amtshandlungen bestimmt: "Das Ideal steht freilich fest: es muß bei all diesen Handlungen dazu kommen, daß die Gemeinde bei ihnen irgendwie mitwirkt. Nur dann können sie ihre volle Wirksamkeit und Bedeutung gewinnen" (S.91). Gemeindeseelsorge und Gemeindegottesdienst gehören zusammen. "Sie fördern sich gegenseitig. Sie sind absolut unentbehrlich" (S.90). Insbesondere das Abendmahl in der Herrnhuter Weise (S.88f) galt ihm als Zentralereignis des Gemeindelebens. In der Hoffnung auf die autodynamische Entwicklung des Vereinslebens weigerte sich Sülze auch, ein Konfessionsbekenntnis an den Anfang seiner Ausführungen zu stellen. Bekenntnisformeln galten ihm als ein "menschliches Werk. Sie bringen das Christentum in der Denkweise des sechzehnten Jahrhunderts zum Ausdruck" (S.157). Sülze hat die Auswirkungen der Aufklärung auf das Bekenntnis nicht ignoriert, sondern in Rechnung gestellt und von daher die Ansicht vertreten, "daß hier nichts gemacht und anbefohlen werden kann, sondern daß man durch die selbstverleugnendste, unermüdlichste Arbeit das langsame Werden zu fördern, die Hauptsache aber Gott zu überlassen hat. Das Bekenntnis ist die Blüte, die nach der ernstesten Arbeit und durch reiche Erfahrung von innen sich entfaltet, nicht eine Etikette, die auf obrigkeitlichen Befehl anzuheften ist" (S. 110). Das Bekenntnis ist immer eine Sache der Gemeindekultur und des Gemeindelebens (S.112) und nicht bloß ein "starrer, toter Buchstabe ".8 Es wird sich innerhalb der genossenschaftlichen Vereinsstruktur nach und nach ausbilden und entfalten. Der Pfarrer hat diesen Prozeß zwar leitend und führend an maßgeblicher Stelle zu begleiten, er hat ihn aber nicht ohne Rücksicht auf den Entwicklungsstand der Gemeinde zu antizipieren. Sülze war sich der Tatsache bewußt, daß ein solcher Prozeß sich nicht über Nacht herbeiführen läßt, sondern daß er "lange Jahre nötig" hat (S.40). Er war bereit, in solchen Zeiträumen zu denken. Es entspricht diesem Denken, daß Sülze durchaus differenziert und bisweilen sogar sehr positiv von den Fähigkeiten der einzelnen Gemeindemitglieder reden konnte. "Die Gemeindemitglieder", das war für ihn sehr viel mehr als eine bloße unkonturierte Masse. "Nach meiner eigenen Erfahrung muß ich die Furcht [der Pfarrer!] vor den Gemeinden für durchaus unbegründet halten. Welch herrliche, 8

Daraus ergab sich auch die Zurückweisung der Bekenntnisfrage als Anstellungskriterium für die Pfarrerschaft ( S . l l l f ) · "Das Bekenntnis ist ein starrer, toter Buchstabe, wird es nicht in den Fluß der lebendigen Überlieferung aufgenommen". (S.117)

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wahrhaft christliche Charaktere findet man unter unseren Beamten, Lehrern, Ärzten, Fabrikanten und Kaufleuten, in unserem Bürgerstande, ja selbst unter den Lohnarbeitern ... Sie wissen aus dem Leben und aus der Erfahrung heraus ganz anders die richtige Tat und das rechte Wort zu finden, als wir Männer der Theorie" (S.65). Sülze schreibt hier der Pfarrerschaft zwei Dinge ins Stammbuch: Die Angst vor der Gemeinde zu überwinden und sich selbst zurückzunehmen. Wer wirklich eine lebendige Gemeinde will, muß die Furcht vor der Gemeinde ablegen und braucht die Fähigkeit, sich selbst zurückzunehmen, um den Kompetenzen der Mitarbeiter/innen Entfaltungsräume zu geben. Dazu braucht es Mut, auch den Mut zu einer mit Mängeln behafteten Arbeit. Sülze hat ihn besessen: "Eine Gemeinde kann die Seelsorge nur dann lernen, wenn man sie ihr anvertraut. Ich will lieber ein törichtes Presbyterium^ neben mir haben, als gar keines" (S.64). Zum Vertrauen in die geistlichen Kompetenzen der Gemeindemitglieder gehört auch die Einsicht in die eigenen Unzulänglichkeiten. Weder religiös noch geistlich ist der Pfarrer als der bessere Christ anzusehen (S.70). d) Biographie und Konzeptionsentwicklung Woher hat Sülze die Hochschätzung der Vereine, die sich bei ihm mit dem Ruf nach möglichst kleinen, überschaubaren ("durchsichtigen") Gemeinden verbunden hat? Um diese Frage zu beantworten, soll ein Blick auf Sulzes Lebenslauf geworfen werden. Hier findet man zwei biographische Erfahrungen, die die Entstehung seiner Gemeindereformideen erklären helfen. In der Einleitung seines Buches nennt er beide. Er berichtet, in seiner Heimat, der Oberlausitz, habe er "die glückliche Zeit noch erlebt, in der dort, von Herrnhut beeinflußt, allgemein die innigste Frömmigkeit herrschte" (S.VII). Diese Erfahrungen seiner Jugendzeit scheinen in ihm einen bleibenden Eindruck hinterlassen zu haben: überschaubare gemeindliche Verhältnisse, geprägt von der Herrnhuter Frömmigkeit. Nur hat er es in seinen Großkirchengemeinden eben mit absolut unüberschaubaren Verhältnissen zu tun gehabt. Was lag näher, als darüber nachzudenken, wie innerhalb dieser Verhältnisse kleine und überschaubare Strukturen herzustellen seien? Herrnhut ist das Modell, an dem er sich in seinem Buch immer wieder o r i e n t i e r t . Eine weitere prägende Station war die Arbeit in einer seiner ersten Gemeinden, in Osnabrück. In dieser Gemeinde herrschten anfangs offensichtlich noch halbwegs überschaubare Verhältnisse. 9

10

Bei Sülze ist der Begriff "Presbyterium" zu unterscheiden von dem Begriff "Kirchenvorstand". Das Presbyterium ist der Kreis der Mitarbeiter(innen), der speziell für die innergemeindliche Seelsorge und die individuelle Betreuung der Bedürftigen (vgl. S.40) zuständig ist. So verweist er sowohl in der Einleitung wie auch im Zusammenhang der Katechumenenunterweisung (S.97), bei seinen Ausführungen über die "Familienabende" in der Gemeinde (S.170) und bei der Darstellung seines Abendmahlsverständnisses (S.255) auf das Vorbild Herrnhut.

1.1 Emil Sülze

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Als die Gemeinde wuchs, bat er um die Zuteilung eines kleineren Pfarrbezirks, damit er auch weiterhin seiner Verpflichtung nachkommen könne, jedes Gemeindemitglied einmal jährlich zu besuchen. Nach seiner Darstellung hat die Ablehnung seines Gesuchs zum Wechsel der Pfarrstelle geführt (S.VII). Den Vereinsgedanken hat er vermutlich nicht nur der Sozialdemokratie, sondern auch der katholischen Kirche abgeschaut, die sich gegen Ende des 19.Jahrhunderts über das Vereinswesen fest in sämtlichen Kreisen der Bevölkerung verankert hatte. Aus seiner Zeit in der Marienkirchengemeinde Osnabrück (ab 1857) berichtet er außerordentlich positiv über die katholischen Kollegen: "Ich konnte 15 Jahre lang die unvergleichliche Arbeitstüchtigkeit der römischen Kirche kennen lernen. Sie kennen ihre Gemeindeglieder, sie führen Verzeichnisse von ihnen und halten sie fest im Gottesdienst und in der Seelsorge zusammen." (S.VII). Den gesamtgesellschaftlichen Hintergrund erschließt eine Analyse des Historikers Thomas Nipperdey. Er schreibt: "Das, was für die Zeit des Kaiserreiches nach der ultramontanen Ausrichtung der [kath.] Kirche wichtig ist, ist die Bildung des 'katholischen Milieus', einer katholischen 'Subkultur' von unerhörter Dichte und Intensität. Träger dieses Milieus waren, neben einer eigenen Presse, die katholischen Vereine: Der deutsche Katholizismus wurde zum Vereins- und Verbandskatholizismus".H Die katholischen Vereine und Verbände haben mit ihrer starken Laienorientierung, mit einer ausgeprägt praktischen, beruflichen oder sozialen Ausrichtung und mit ihrem hohen numerischen Gewicht das ultramontane Element im Katholizismus erfolgreich zurückgedrängt. Sie förderten die "ungeplante Modernität" (S.27) der katholischen Kirche und die sozialintegrative Kraft des Katholizismus. Ihre Attraktivität und ihr Erfolg beruhten auf einer sehr weitgehenden Unabhängigkeit von der "offiziellen" Kirche. Diese Erfolge des Katholizismus haben Emil Sülze vor Augen gestanden, als er seine Vorstellungen vom durchorganisierten Vereinsprotestantismus aufzeichnete. Er hat dabei allerdings außer acht gelassen, daß die Ausgangsvoraussetzungen beider Kirchen doch sehr unterschiedlich waren. In den katholischen Vereinen kam nicht allein ein Laienelement zum tragen. Hier etablierte sich auch eine katholische Gegenwelt innerhalb eines weitgehend protestantisch beherrschten Staates. Auch das Umfeld schweißte zusammen, nicht allein die gemeinsame Konfessionszugehörigkeit. Die evangelischen Vereine dagegen, die seit der Mitte des 19.Jahrhunderts vor allem in Kreisen der neupietistischen Gemeinschaftsbewegung entstanden^, waren schon in ihren Zielsetzungen und ihrer Vereinskultur deutlich weniger volkstümlich. Sie waren spürbar kirchennäher und deutlich stärker "puritanisch" ausgerichtet als die katholischen Vereine. Es ist Sülze nicht ernsthaft in den Sinn gekommen, Adolf Kolpings Forderung nachzusprechen: "Soll das Volksleben kirchlicher sein, dann muß die Kir11 12

T.Nipperdey: Religion, S.24 Blaues Kreuz; Weißes Kreuz; Jugendbund für entschiedenes Christentum; CVJM; Dt. Christliche Studentenvereinigung; Vereinigung christlicher Postbeamter und Eisenbahner u.a. - vgl. dazu: J.Cochlovius: Gemeinschaftsbewegung, in: TRE 12, S.355-368

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II. 100 Jahre Reform

che volkstümlicher s e i n " . Er hatte weniger den Typus des freien katholischen Vereins vor Augen als vielmehr einen streng protestantischen "Sittlichkeitsverein" Herrnhuter Prägung, der von der starken Hand eines einzigen Pfarrers geleitet werden sollte (S.67). "Ohnehin soll das Leben in den Gemeinden für das Leben überhaupt vorbildlich sein. Es muß darum auch für den alltäglichen geselligen Verkehr vorbildlich sein, ihn veredeln und erheben ... Offenbar ist der gesellige Verkehr vielfach entartet. Das gewohnheitsmäßige Wirtshausleben und die oft die Sittlichkeit gefährdenden Tanzvergnügen müssen überwunden werden" (S.162). Eben diese erzieherisch-autoritäre Programmatik aber mußte Sulzes Idee der Breitenwirksamkeit und Attraktivität berauben, die die Vereinsidee an sich damals durchaus besaß. Das aber konnte und wollte Emil Sülze wohl nicht sehen, dazu war er zu sehr mit Leib und Seele ein aufrechter, "preußischer" Pfarrer mit einem nie erloschenen Funken Pietismus im Herzen. Sulzes Reorganisationsvorschlag ist gescheitert. Die große Mehrheit der evangelischen Gemeindemitglieder wußte die Vorteile der abgesunkenen Systemkohärenz durchaus zu schätzen: "Die Personalgemeinde entsprach den religiösen Vorstellungen des bürgerlichen Durchschnittschristen des 19.Jahrhunderts. Der Pfarrer hatte sich unter Verzicht auf Seelsorge auf Predigt und Kasualhandlungen zu b e s c h r ä n k e n " . ^ Knapp 20 Jahre nach Sulzes erster Veröffentlichung der "Evangelischen Gemeinde" zog Stock im Jahr 1909 eine Art Zwischenbilanz und bestätigte dabei die mangelnden Erfolge der kybernetischen Verdichtungsanstrengungen: "Unsere sozialdemokratischen Arbeiter haben sich durch keine noch so treue und vorurteilslose Gemeindearbeit der Kirche zuführen lassen. Unser Bürgertum ist durch nichts aus seiner sündhaften Indifferenz herauszubringen. Unsere gebildete Männerwelt unterstellt sich nicht der geistigen Führung der Pastoren zum Zweck der Gemeindeorganisation und hat, wo sie sich überhaupt für die Volkserziehung interessiert, andere Wege und andere Weisen der Betätigung, als die Mitarbeit am kirchlichen Gemeindeleben. Die kirchlich konservativen Kräfte entziehen sich in nicht wenigen Fällen dem Gemeindepfarrer, der nicht ganz und gar ihr Mann ist".

1.2 Gerhard Hilbert: Die "Kirchentreuen" und die "lebendige Kerngemeinde" Gerhard Hilberts kleine Schrift "Ecclesiola in ecclesia. Luthers Anschauungen von Volkskirche und Freiwilligkeitskirche in ihrer Bedeutung für die Gegen13 14 15

Zit. nach H.-W.Krumwiede: Geschichte III, S.181 H.Schnell: Gemeinde, S.17 Stock: Gemeindegedanke, Sp.1067

1.2 Gerhard Hilbert

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von 1920 ist eine betont kämpferische Programmschrift, die in unmittelbarer Anknüpfung an die Ereignisse seiner Zeit geschrieben worden ist. Die evangelische Kirche war nach fast 400 Jahren des landesherrlichen Kirchenregiments beraubt worden und sah sich plötzlich allein gelassen. Am 11. August 1919 hatte die Nationalversammlung die Weimarer Reichsverfassung verabschiedet. Darin war im §136 die Religionsfreiheit festgeschrieben und im §137 die Trennung von Kirche und Staat vollzogen worden: "Es besteht keine Staatskirche". Den Kirchen blieb allerdings der Rechtsmantel einer "Körperschaft des öffentlichen Rechtes". Entgegen anderslautender Bestrebungen wurden sie nicht zu privaten Vereinen. Niemand konnte 1919 absehen, wie sich das auf ihre Gestalt und ihr zukünftiges Leben auswirken würde. Auf diese Ereignisse bezieht sich Hilbert im ersten Satz seiner Schrift, wo es heißt: wart"

"Die Trennung von Kirche und Staat ist vollzogen: das Staatskirchentum, das seit den Tagen der Reformation für die evangelischen Kirchen Deutschlands charakteristisch war, ist von der Sturmflut der Revolution hinweggespült. Damit sind unsere Landeskirchen einer mächtigen Stütze beraubt worden ... zugleich aber haben sie jetzt zum ersten Male die Freiheit erlangt, sich ganz auf sich selbst zu stellen und sich eine Gestalt zu geben, die ihrem inneren Wesen entspricht" (S.l). Man spürt deutlich, wie sich in diesen Ausführungen Zeitbeobachtung mit Traditions Verbundenheit und Ohnmachtsgefühlen mischen. Hilbert hat aus innerer Sorge um die Zukunft der evangelischen Volkskirche heraus zur Feder gegriffen und versucht, ihr einen Weg aus den Wirrnissen der Zeit zu weisen. Er legte ein volksmissionarisches Konzept vor, das er als Rettungsanker zur Existenzsicherung der volkskirchlichen Organisation ansah: "Der Fortbestand unserer Landeskirchen als Volkskirchen hängt meiner Überzeugung nach davon ab, ob es gelingt, innerhalb der volkskirchlichen Parochien Kerngemeinden solcher zu bilden, die mit Ernst Christen wollen sein, im Sinne und Geist Martin Luthers" (Vorwort). a) Gerhard Hilberts Sicht der Volkskirche und ihrer Parochien Die Art, wie er die Lage der Volkskirche beschreibt, steht in deutlichem Zusammenhang mit dem Lösungsweg, den er vorgeben möchte: "Die Massen der Volkskirche stehen durchaus nicht mehr auf dem Boden des Bekenntnisses. Gerade auch viele, die noch in der Volkskirche zu bleiben gewillt sind, eifern wider jegliche 'Dogmen' und fordern eine Preisgabe des alten Evangeliums und eine Umbildung des Glaubens der Väter im Sinne und Geist der modernen Religiosität. Ist das 16

Vgl. ferner G.Hilbert: Kirchliche Volksmission, Leipzig 1916; G.Hilbert: Volksmission und innere Mission, Leipzig 1917; G.Hilbert: Wie kommen wir zu "lebendigen Gemeinden"?, Leipzig 1922 und G.Hilbert: Art.: Volksmission I: Evangelische Volksmission, in: RGG 2 (1928) Sp. 1677-1680

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II. 100 Jahre Reform

Wesen der Kirche Zuwachskirche, so wird die Majorität ihrer Glieder nie aus wirklichen Christusgläubigen bestehen ... Auf die Massen der Volkskirche darf demnach niemand bauen. Die Losung: 'Man muß Vertrauen haben zum Kirchenvolk' ist dem heller Wahnwitz, der die Dinge sieht, wie sie sind. Soll denn die unselige deutsche Vertrauensseligkeit auch noch die evangelische Volkskirche zerstören, wie sie den deutschen Staat an den Abgrund des Verderbens gebracht?" (S.49) Parochien sind keine "wirklichen" Gemeinden. "Wir müssen offen und klar sagen, daß Parochien noch keine wirklichen Gemeinden sind und es nie werden können ... dieses falsche Ideal verleitet dazu, unmögliche Anforderungen an die Gemeinden und an die Glieder der Volkskirche zu stellen, und der Gesamtheit Pflichten aufzuerlegen, für die sie in keiner Weise reif ist" (S.54). Anders als Sülze hatte Hilbert allerdings kein Vertrauen in die Christlichkeit der "Masse des Kirchenvolkes". Er hielt Sulzes Idee einer Selbstorganisation und Selbstentfaltung des Christentums für "völlig irreführend" und kritisierte ihn: "Er ging von einer Illusion aus; er glaubte an die Christlichkeit der Massen . . . i m tiefsten Grunde an den guten Willen des natürlichen Menschen" (S.53). An diesem Punkt ging Hilbert konzeptionell eigene Wege: Wirkliche Gemeinden, so meinte er, müßten erst noch geschaffen werden, indem die Kirche ihrem Auftrag als "Missionsanstalt und Erziehungsanstalt" (S.64) nachkommt. In Übereinstimmung mit Johann Hinrich Wichern sah er Deutschland als ein "Missionsland" an. 17 Um die tote Christenheit aus ihrem Schlaf aufzuwecken, sind Evangelisation und Erweckung e r f o r d e r l i c h . ^ "Der Zustand der großen volkskirchlichen Massen ist vor allem durch den Zusammenbruch der christlichen Sitte ein derartiger, daß hier erst einmal Grund gelegt werden muß: es ist kein Grund da, auf dem man bauen könnte; der geistliche Mensch muß erst erzeugt werden, ehe man ihn pflegen und erziehen kann" (S.65). Von daher wird die Aufgabe, die "bloßen Parochien" in "lebendige Gemeinden" umzubilden, zu einer Überlebensfrage für die Volkskirche (S.51). Hilbert hatte erkannt, daß derart weitreichende Veränderungen auch vor dem Pfarrerstand nicht Halt machen. Die Pfarrer standen ohnehin unter dem Druck der konkurrierenden geistigen Strömungen. Nun kamen die sich überstürzenden historischen Ereignisse hinzu. "Ist es ein Wunder, daß es dem Geistlichen der Gegenwart schon ungemein schwer fällt, sich selbst in seinem Glaubensbestand dem Druck der Zeitströmung gegenüber zu behaupten, ein Wunder, daß so viele innerlich erlahmen und in ihrer Wirksamkeit die Kraft 17 18

G.Hilbert: Kirchliche Volksmission, S.9 unter Verweis auf J.H.Wichern: Die Innere Mission der Deutschen Evangelischen Kirche. Eine Denkschrift an die deutsche Nation, 1849 Mit M.Kähler (Angewandte Dogmen, 1908, S.475) betonte er: "Christen werden nicht geboren, auch von christlichen Eltern nicht" und fuhr fort: "Der ererbte und anerzogene Besitz muß zum persönlichen Eigentum werden, das unbewußte Chistentum zu bewußtem." (S.61)

1.2 Gerhard Hilbert

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und Freudigkeit des Glaubens vermissen lassen ... Wie soll die kleine und schwache Schar der Pastoren in ihrer jetzigen Isoliertheit die ganze Last der Volkskirche tragen"? (S.51) Hilberts Vorschlag verstand sich damit auch als ein Beitrag zur Entlastung der Pfarrerschaft. b) Transformation der Volkskirche durch lebendige Gemeindekerne und Kerngemeinden Von diesen Eindrücken her suchte Gerhard Hilbert nach einem richtungweisenden Modell für die Zukunft der Volkskirche und nach Entlastungsmöglichkeiten für die Pfarrerschaft. Hilbert fand den Schlüssel zur Verkirchlichung der entchristlichten Massen in Martin Luthers "Deutscher Messe" (s.o. Kap.I,lb). Luther hatte in seiner "Deutschen Messe" von einer "dritten Weise" des Gottesdienstes gesprochen und dabei auch in aller Kürze ein Gemeindemodell skizziert. Diese dritte Weise wurde Hilbert zum Leitmodell für seine Vorstellung von einer "Ecclesiola", einer "wirklichen Glaubens- und Liebesgemeinschaft" (S.54f) derer, die "mit Ernst Christen sein wollen". Innerhalb der Volkskirche soll sich eine "Freiwilligkeitskirche" bilden, getragen von einem "Kern ernsthafter Christen" (S.55). Das Verhältnis beider Kirchen zueinander beschrieb er bildhaft mit dem Modell zweier ineinander liegender Kreise (S.94) und erklärte, diese beiden Kreise seien wechselseitig aufeinander angewiesen und bezogen: "Die Volkskirche ist für die Freiwilligkeitskirche der Boden, auf dem sie ruht und den sie zu bearbeiten hat; die Freiwilligkeitskirche dagegen ist das Ziel, das der Volkskirche gesetzt ist" (S.43). Die Bekennergemeinde hätte die Aufgabe innerhalb der Gesamtgemeinde als "Missionskern" und "Sauerteig" zu wirken (S.34). Diese Konstruktion, so meinte er, entspräche Luthers Vorstellung von Gemeinde am besten: "Luthers 'Ideal' ist demnach weder die ecclesia noch die ecclesiola, sondern die ecclesiola in ecclesia, d.h. die ecclesiola ist der innerlich lebendige Kern der ecclesia" (S.43). Die Ausbildung missionarisch aktiver "lebendiger Kerngemeinden" (S.43;S.93) innerhalb der abgestorbenen Volkskirchengemeinden galt ihm als Gebot der Stunde. Ehe er seine Vorschläge inhaltlich präzisierte, untersuchte er Luthers Kirchenverständnis (mit der grundlegenden Unterscheidung von ecclesia visibilis und ecclesia invisibilis). Er betonte, daß die ecclesia invisibilis nur in ihren "notae", also in Wort und Sakrament, wahrnehmbar ist und zitierte Luther: "Wo die tauff und Evangelium ist, da sol niemant zweyffeln, es sein heyligen da, und soltens gleich eytel kind in der wigen sein". 19 Da aber niemand dem anderen ins Herz sehen kann, kann auch niemand festlegen, wer tatsächlich zum Reich Christi (ecclesia invisibilis) hinzu gehört. Allein Christus kennt seine Schafe. Die Gläubigen bleiben sich grundsätzlich gegenseitig verborgen. Diese Einsicht führte Hilbert zu der wiederholten Feststellung, daß die von ihm anvisierte Bekennnergemeinde "nicht als Erscheinung der unsichtbaren Kirche" 19 WA 6, S.301,5f

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verstanden werden darf, sondern daß sie als eigene "Organisation" (S.58) innerhalb der ecclesia visibilis (S.42 und S.75) zu verstehen ist. Innerhalb dieser "lebendigen Kerngemeinde" herrscht ein besonders enges Gefühl der Zusammengehörigkeit, ein "wirkliches Gemeinschaftsleben" (S.81), das die "bewußte seelsorgerliche Tätigkeit der einzelnen Glieder der Gemeinde" aneinander einschließt (S.78). Kirchenzucht ist in diesem Kreis möglich und geboten (S.78). "Hausgemeinden" (S.82) sollen sich zur Erbauung durch Gottes Wort, zu Gebet und gemeinsamer Liebesarbeit versammeln (S.84). Besonders wichtig ist die Bibelstunde (S.86). In seinem Artikel "Volksmission I" in der 2.Auflage der RGG hat er das Inhaltsspektrum noch ergänzt um "Freizeiten", "Vortragswesen" und "öffentliche Mission" durch das gesprochene und gedruckte Wort, "durch Straßenpredigt, Vorträge, Presse, Plakate, Flugblätter" (Sp.1679). Hier hat er auch deutlicher ausgesprochen, was mit den Menschen geschehen soll, die zur "Lebensgemeinschaft mit Christus" geführt worden sind. "Von entscheidender Bedeutung aber ist, daß die von der Volksmission Erfaßten sofort zur festen Formung ihres Glaubens durch Einführung in die christliche Sitte veranlaßt und zwecks Bewahrung vor innerer Vereinsamung zu bewußter Kirchlichkeit erzogen werden". In heutigen Ohren klingen derartige Forderungen eher befremdlich als einladend. Sie entsprangen aber Hilberts hohem Gemeindeideal. Das zeigt sich, wenn Hilbert fortfährt: "Denn nur in der lebendigen Gemeinschaft von Kirche, Gemeinde und Haus kann der Glaube sich behaupten und voll entwickeln" (Sp.1679). c) Innere Abstufung der Gemeindemitglieder Gerhard Hilbert schreibt, wie die pietistische Frömmigkeitskultur der Gemeinschaftsbewegung, die er gern zur Normalkultur der evangelischen Kirchen erheben wollte, in den Kirchengemeinden verankert werden kann. "Die Bildung der Kerngemeinden geschieht durch einfache Selbstauslese" (S.93) im Abendmahlsgottesdienst und in der Bibelstunde. Zum Abendmahlsgottesdienst versammelt sich ja immer schon der "Kern der Volkskirchengemeinde", so daß man nur noch diesen bereits versammelten Kern "herauszuheben und zu persönlicher Fühlungnahme zusammenzuschließen" hat (S.88). Daneben soll jede Gemeinde Bibelstunden einrichten und dazu einladen. Auch hier greift das Prinzip der Selbstselektion, denn "zur Bibelstunde kommen erfahrungsgemäß nur die, so da 'mehr begehren' [Luther], die, so mit Ernst Christen wollen sein" (S.93). An diesen beiden Orten, Abendmahlsgottesdienst und Bibelstunde, versammelt sich immer schon der "innere Kreis" der Volkskirchengemeinde. Wer es als Pfarrer versteht, hier die Angel auszuwerfen, findet hier auch die dringend benötigte "Helferschar" (S.94). Das Laienelement der Kirche wird gestärkt. Gleichzeitig aber bleibt alles unter fester Kontrolle: "Geistlich geförderten und charismatisch begabten Persönlichkeiten muß in Zukunft Raum geschaffen werden in der Kirche, und gerade der engere Kreis ist der Ort, in dem

1.2 Gerhard Hilbert

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dies unbedingt geschehen kann und muß. Nur daß der Geistliche sich nicht ausschalten lassen darf, nur daß er die letzte Leitung in der Hand behält!" (S.95) Die "innere Abstufung der Gemeinde" (S.88) führt zu einer Aufwertung der Sakramente. Während sich "ganz von selbst" die Kerngemeinde zum Abendmahl versammelt, könnte die Taufe von einem expliziten Versprechen der Eltern zur christlichen Erziehung ihres Kindes abhängig gemacht werden (S.89). Zwar sollte die Kerngemeinde grundsätzlich für Neuzugänge aus dem Kreis der Volkskirchengemeinde offen sein und offen bleiben. Sie dürfe "nicht vereinsmäßig" gestaltet werden (S.93). Aber sie braucht doch gewisse "Schutzmaßregeln" (S.72), um nicht von liberalen oder säkularen Kräften in der Gemeinde unterwandert zu werden. Dazu gehört ein Bekenntnisgelübde, das alle Gewählten abzulegen haben. Wirkungsvoller ist es allerdings, zur Wahl des Gemeindevorstandes nur vorsortierte Bewerber zuzulassen (S.73).20 d) Würdigung und Kritik Was Hilbert 1920 publiziert hat, ist bis heute für missionarische Gemeindeaufbaukonzepte grundlegend geblieben. Das beginnt bereits bei seiner Wortwahl und seiner Vorstellungswelt, in der sich zahlreiche Begriffe und Metaphern finden, die bis heute noch im Sprachschatz volksmissionarischer Gemeindeaufbaukonzeptionen zu finden sind: "lebendig", "wahrhaft", "wirklich", "Kerngemeinde", "Kirchentreue", "innerer Kreis" und die jeweiligen Komplementärbegriffe. 21 Auch die Grundannahmen der Anthropologie, die Vorstellung von einer Zwei-Stufen-Mitgliedschaft in der Volkskirche, ja selbst methodische Schritte, wie etwa die Schlüsselstellung von Hauskreisen und Bibelstunden gehören nach wie vor zum Standard.22 Hilberts Vorschläge waren schon zu ihrer Entstehungszeit nicht unumstritten. Seine Vorstellung von einem Zwei-Stufen Christentum, die einherging mit der impliziten Annahme, daß sich im "Kern" die besten Glieder der Gemeinde versammeln, wurde stark kritisiert. So schrieb Walter Bülck: "Es ist besser, alles zu vermeiden, was zur Züchtung geistlichen Hochmutes und zur Unterscheidung von Gemeindegliedern erster und zweiter Klasse führen kann, also auch Namen wie 'Kerngemeinde'. Darin liegt schon die Gefahr der Überhebung, und es ist keineswegs sicher, daß es immer die besten Christen sind, die zu den besonderen Veranstaltungen, wie den Bibelstunden, kommen und zur 20 21

22

Ein Gedanke, den man ebenfalls schon bei Sülze findet (S.65f). Lediglich den Begriff "Femstehende" konnte ich bei Hilbert nicht ermitteln. Allerdings gibt es einen Beleg aus dem Jahr 1927 in der "Geschichte der Evangelisch-reformierten Gemeinde Barmen-Gemarke". Der Autor, Pfarrer Adolf Lauffs, bezeichnet hier die aus der Kirche Ausgetretenen als "Fernstehende" (S.493). Der Begriff hat also möglicherweise einen Bedeutungswandel durchlaufen. Seit den 50er Jahren bezeichnet der Begriff "Fernstehende" evangelische Gemeindemitglieder. Die Konnotation "Ausgetretene" ist ihm gleichwohl erhalten geblieben. Vgl. etwa K.Lorenz / H.Relier: Alternative: Glauben. Missionarische Arbeitsformen in der Volkskirche heute, Gütersloh 1985, S.63-118; M.Herbst: Gemeindeaufbau, S.393-409

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Π. 100 Jahre Reform

Mitarbeit sich drängen".23 Friedrich Niebergall hatte schon 1918 auf den "sozialisierenden" Effekt der Mitarbeit in einer Kirchengemeinde hingewiesen, der selbst bei denen einsetzt, die anfangs mit kirchlicher Dogmatik und Gemeindefrömmigkeit herzlich wenig im Sinn haben. "Darum ist es nicht wohlgetan, irgendeinen Unterschied in der Gemeinde festzulegen zwischen tätigen und untätigen Mitgliedern oder gar zwischen bekehrten und unbekehrten, ein Unterschied, der durch irgendwelche Erklärung oder Auslese in Erscheinung treten soll. Zusammenfassen heißt dann gar zu leicht, abschneiden".24 Schon Martin Luther hatte kurz und einprägsam formuliert: "Es soll nicht ein Esel den anderen 'Sackträger' nennen, denn wir sind alle aus einem Fleisch geboren".25 Auch die Annahme, die Abendmahlsgemeinde sei als solche schon eine Kerngemeinde, die man nur zum Dienst zu sammeln brauche, fand schon damals keine Bestätigung in der Praxis der Gemeindearbeit. Die Motivation, am Abendmahl teilzunehmen, kann aus völlig anderen Quellen gespeist sein als die Motivation, sich am religiösen "Vereinsleben" der Kirchengemeinde zu beteiligen. Schließlich konnte Hilbert bereits wissen, daß die Gemeinschaftsbewegung, deren pietistisch gepägtes Vereins- und Gemeindeleben er in den Kirchengemeinden zur maßgeblichen Norm erheben wollte, selbst kein unproblematisches Vorbild war. e) Die neupietistische Gemeinschaftsbewegung und ihre Problematik 1. Minderheitenströmung im Protestantismus: Der Begriff "Gemeinschaftsbewegung" ist ein Sammelname für verschiedene neupietistische Gruppierungen, die sich im Verlauf des 19.Jahrhunderts gebildet hatten.26 Sie war keineswegs theologisch oder sozial homogen. Quantitativ ist sie über den Status einer hochaktiven Minderheitsströmung innerhalb des Protestantismus nicht hinausgekommen. Lokal konnte sie aber durchaus profilbildende Wirksamkeit entfalten. Jakob Schoell gibt für die Zeit um 1910 eine Zahl von "etwa 150000 Mitgliedern von Gemeinschaften" und 300 "Berufsarbeiten!" (=Predigern)

23

24

25 26

Die evangelische Gemeinde. Ihr Wesen und ihre Organisation, Tübingen 1926, S.43; zitiert nach C.Möller: Lehre I, S.154 Anm.35; vgl. auch Martin Luthers Predigt über Rom 12,6ff in der Fastenpostille von 1525: "Das ist zu mal ein fein klar Gleichnis ... denn es zumal fein lehret wie alle Christen am einigen gemein Glauben sollen gleich und satt sein, und die gaben, wie mancherlei oder groß sie sind, nicht also behandeln, als wäre jemand dadurch vor Gott fromm, selig oder besser als der andere". - WA 1711,33,20-25 Praktische Theologie I, S.275; F.Niebergall unterschied in seiner Praktischen Theologie bereits sechs "Grade der Kirchlichkeit" (Bd.I, S.204-211): ablehnend, abgestoßen, kein wesentliches Stück des Lebens, dulden und benutzen, religiöse Individualisten und Kirchliche. Unter den Kirchlichen aber unterschied er "Stumpfe", "Naive" und "Bewußte". Von derartigen Differenzierungen ist Hilberts Darstellung weit entfernt. WA 10111,218,15f; ähnlich 220,32 bis 221,5 Vgl. die Darstellung von G.A.Benrath: Erweckung / Erweckungsbewegungen I, in: TRE 10, S.210-215

1.2 Gerhard Hilbert

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an.27 Im Jahr 1910 gab es in Deutschland über 31 Millionen evangelische C h r i s t e n ^ , w a s bedeutet, daß etwa 0,5% der evangelischen Christen der Gemeinschaftsbewegung zuzurechnen waren. Mit diesen Zahlen ist bereits die Problematik des Miteinanders von Gemeinschaftschristen und volkskirchlich sozialisierten Christen angesprochen. Wo das Gemeinschaftschristentum sich ausbreitete, war es stets umstritten. Seine Verbreitung folgte nicht selten einer auffälligen Logik: "Blieb man in der Minderheit, so hielt man Distanz zur Ortsgemeinde und ihrem Gottesdienst, setzte sich polemisch ab und verschanzte sich im eigenen Milieu".29 Nur wenn es gelang, mit Hilfe eines pietistischen Pfarrers das religiöse Profil des Gemeindelebens zu prägen, fand man auch zu einer starken Verbundenheit mit dem volkskirchlichen Gottesdienst. Diese defensive Grundstruktur hat Hilbert nicht gesehen. Die neupietistische "Ecclesiola" war gerade nicht der harte Kern und die geistliche Avantgarde der Volkskirchengemeinde. Sie stand der Volkskirche und dem in ihr geduldeten Frömmigkeitsspektrum vielmehr in kritischer Distanz gegenüber. "Für die wahren Kinder Gottes ist die Reichgottesarbeit das eigentlich Wichtige, Evangelisation, Gemeindepflege, Werke der Barmherzigkeit, in denen man am liebsten auch nicht mehr mit den 'Weltkindern', kaum noch mit Vertretern der Inneren Mission zusammengeht; mit Nachdruck aber wird auch auf persönliche Sündenerkenntnis und Selbstdemütigung vor Gott ... und auf ernste Selbstzucht gedrungen".30 Von daher urteilte Jakob Schoell schon im Jahr 1911, daß es sich bei der Gemeinschaftsbewegung um einen signifikanten Frömmigkeitstyp, "um die Pflege einer ganzen bestimmten Christlichkeit" handelte. 31 2. Für volkskirchliche Dimensionen ungeeignet: Hilbert hat ein Konzept zur Rettung und Bewahrung der Volkskirche empfohlen, dem der weit überwiegende Teil der Kirchenmitglieder skeptisch bis ablehnend gegenüberstand. Die Systemtheorie lehrt, daß die soziale Basis verkleinert wird, wenn ein Sozialsystem die Normerwartungen an seine Mitglieder verschärft (s.u. Kap.III 4). Die Evangelisationserfolge der Gemeinschaftsbewegung belegen diese systemtheoretische Einsicht. Noch einmal Jakob Schoell: "Was den inneren Erfolg betrifft, so kann keineswegs von einer Bekehrung gottentfremdeter Massen die Rede sein ... Einzelne Ungläubige aus jenen Kreisen mögen gewonnen worden sein, aber viele sind es 27

28 29 30 31

Gemeindepflege, S. 114; Das Monatsblatt des "Deutschen Komitees fiir evangelische Gemeinschaftspflege" mit dem Namen "Philadelphia" hatte im Jahr 1902 eine Auflage von 8000 Exemplaren. - J.Cochlovius: Gemeinschaftsbewegung, S.359 H.Schnell: Gemeinde, S.105: Tabelle nennt die Zahl 31.026.810. P.Cornehl: Gottesdienst VIII: Evangelischer Gottesdienst von der Reformation bis zur Gegenwart, in: TRE 14, S.67 J.Schoell: Gemeindepflege, S. 115f J.Schoell: Gemeindepflege, S.114; In einer im Jahr 1956 durchgeführten Befragung von "kirchentreuen" Gemeindemitgliedern hat Reinhard Köster immer noch Hinweise auf die parochiekritische Grundeinstellung dieses Frömmigkeitstyps gefunden - Die Kirchentreuen, Stuttgart 1959, S.79-81

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schwerlich. So erstreckt sich die konstatierbare Wirkung der Evangelisation weit mehr auf die kirchlichen als auf die unkirchlichen Kreise. Ob aber diese Wirkung mehr gemeindebauend oder mehr gemeindeauflösend ist, darüber wird gerade immer noch gestritten".32 3. Pfarrbenifsspezifischer Frömmigkeitstyp: Die Gemeinschaftsbewegung hat sich stets für die Rechte der Laien in der Kirche und die Verwirklichung des allgemeinen Preistertums eingesetzt. Darüber wird leicht übersehen, daß die Gesellschaft längst schon begonnen hatte, sich funktional auszudifferenzieren. Im Zuge dieser Ausdifferenzierung hatte sie zahlreiche neue Berufsrollen hervorgebracht. Die Inhaber dieser neuen Berufe erledigten vielfach Aufgaben, die traditionell von den Menschen selbst abgedeckt worden waren. Die Pfarrerrolle wurde zwar nicht neu hervorgebracht (sie ist in Gestalt des Priesteramtes bereits alttestamentlichen Ursprungs), aber die Bewertung der Pfarrerrolle folgte dem gesamtgesellschaftlichen Prozeß. Wie es nun in vielen Bereichen professionelle Spezialisten gab, so auch im Bereich der religiösen Versorgung. Religiöse Praxis und religiöse Versorgung wurden zur "Profession", die man erlernen konnte und mußte.33 Die tägliche Sammlung um das Wort der Schrift, die Gebetspraxis, der stets wache missionarische Eifer, das Ethos der "brüderlichen Gemeinschaft", all das konnte man schon im 19.Jahrhundert "von Berufs wegen" von der Pfarrerschaft erwarten. Nur für sie war ja ein derartiges Tun tatsächlich das "tägliche Brot". Die Gemeinschaftsbewegung hat sich der skizzierten Bewertung widersetzt und sich darum bemüht, die Berufsstandards des Pfarrerstandes auch weiterhin als allgemein verpflichtende Norm aufrechtzuerhalten. Sie repräsentiert damit einen pfarrberufsspezifischen Frömmigkeitstyp. Von daher verwundert es nicht, wenn trotz andersgerichteter Bemühungen vielfach gerade Pfarrer die Schlüsselpositionen der entsprechenden Organisationen besetzt und damit auch den Stil und die Inhalte geprägt h a b e n . 34 Volkskirchlich sozialisierte Gemeindemitglieder aber sind in aller Regel keine Berufschristen. In ihrer Lebensführung ist ein pfarramtsspezifischer Frömmigkeitsstil nicht funktional und trifft schon von daher auf Zurückweisung. 4. Die Heiligung und die Pfingstbewegung: Besondere Probleme hatte die Gemeinschaftsbewegung mit der Frage der "Heiligung" und der "Heiligkeit", die in ihren theologischen Vorstellungen einen festen Platz einnahm.35 Es war eine Sache, Luthers Anschauungen von den verschiedenen Formen der Teilhabe an der ecclesia invisibilis zu referieren, eine andere war es, sich tatsächlich von der Illusion freizumachen, man könne den "geistlichen Menschen erzeugen", 32 33

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35

J.Schoell: Gemeindepflege, S. 110 Über die Umdefinition des Verständnisses des Begriffs "Beruf" seit dem 18.Jahrhundert im Sinne eines "Fachmannes" mit persönlicher Eignung und Neigung vgl. H.-H.Schrey: Beruf III: Protestantismus und Katholizismus der Neuzeit, in: TRE 5, S.671f Die l.Pfingstkonferenz der Gemeinschaftsbewegung in Gnadau (22.-24.5.1888) hatte 142 Teilnehmer: 68 von ihnen waren Theologen und 74 waren Laien. - J.Cochlovius: Gemeinschaftsbewegung, S.359 J.Schoell: Gemeindepflege, S. 115

1.2 Gerhard Hilbert

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was Hilbert (S.65) als Aufgabe missionierender Kerngemeinden bezeichnet. Vor dem Hintergrund der These vom pfarramtsspezifischen Frömmigkeitstyp erscheint es nicht als Zufall, daß gerade ein Pfarrer, der Pommersche Pastor Jonathan Paul, auf der Gnadauer Pfingstkonferenz 1904 versichte, er könne seinen "alten Menschen" nicht mehr spüren. Ihn beseelte das Streben nach einem "unablässigem Bleiben in Jesus" und nach völliger Erlösung von jedem Hang zur Sünde. "Obwohl dieser übersteigerten Heiligungslehre stark widersprochen wurde, pflanzte sie sich in vielen Gemeinschaftskreisen weiter fort und bereitete den Boden für den Einbruch der Pfingstbewegung "36, der die Gemeinschaftsbewegung von 1906 bis 1909 erschütterte und auseinanderbrechen ließ. Paul war ab 1909 Redaktionsleiter der von der Pfingstbewegung herausgegebenen Zeitschrift "Pfingstgrüße". Dieser Vorgang ist paradigmatisch dafür, daß gerade erwecklich ausgerichtete Bewegungen die Tendenz besitzen, aus dem volkskirchlichen Organisationsgefüge herauszudriften. "Oft emigrierte der missionarische Gemeindeaufbau in die freien Werke der Kirche oder auch in Gruppen am Rande der Kirche, zuweilen auch aus ihr heraus in neue, freikirchliche Gemeinschaften".37 Martin Luther hatte davor gewarnt, daß in der "dritten Weise" die Gefahr der "Rotterei" schlummert.38 Wie schwer es ist, dieser Gefahr nicht zu erliegen, hat auch die Gemeinschaftsbewegung erfahren, in der es an Kritik und Selbstkritik nicht fehlte: "Als Schwächen und Fehler wurden eingestanden ein maßloser Subjektivismus der Geistgetauften, ein ebenso maßloser Personenkultus ... die Uneinigkeit unter den Gläubigen, die Geringschätzung der Reformation, die Unklarheit in der Lehre und endlich die verhängnisvolle Gleichung: heiliger Geist gleich unbewußtes Wirken und Reden, vernünftig gleich unerleuchtet. Man macht eben auch in diesen Kreisen die Erfahrung, daß der böse Feind Unkraut sät und ... noch recht viel unheilige Menschlichkeiten mitunterlaufen". f) Vergleich der Konzeptionen von Emil Sülze und Gerhard Hilbert Zwischen beiden Autoren gibt es eine ganze Reihe von Übereinstimmungen. Beide legen ein Modell für die Gemeindearbeit in der ecclesia visibilis vor und 36 37 38

39

J.Cochlovius: Gemeinschaftsbewegung, S.360 M.Herbst: Gemeindeaufbau, S.248 Um nicht mißverstanden zu werden: Luther konnte sich die "dritte Weise" durchaus als eine Existenzform von Christen innerhalb der Kirche konnte, die zu seiner Zeit noch echte Volkskirche war. Auch sollen die sozialen, diakonischen und missionarischen Leistungen der Gemeinschaftsbewegung nicht geschmälert werden. Wohl aber soll auf die Anfälligkeiten dieses Frömmigkeitstyps hingewiesen werden, die m.E. auch von der Mehrheit der evangelischen Gemeindemitglieder immer schon erkannt und beachtet worden sind. Sie hielt sich auf Distanz gegenüber denen, die als "ganz fromm" bezeichnet wurden. J. Schoell : Gemeindepflege, S. 116

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wollen die Volkskirche nicht nur erhalten, sondern qualitativ verbessern. Beide gelangen von einen pietistisch geprägten Hintergrund aus zu Konzeptionen, die sich am besten innerhalb von vereinskirchlichen Strukturen verwirklichen lassen. Beide plädieren dafür, die Laienaktivität in der Kirche zu verstärken. Beide sehen den Gottesdienst und die Sakramente als Herzstücke des Gemeindelebens an. Für beide ist die Kirche eine "Erziehungsanstalt". Sie sind davon überzeugt, daß die Gemeindemitglieder erzogen oder herangezogen werden müssen, um zu besseren Gemeindemitgliedern zu werden. Beide haben sie die Menschen letztlich nicht gefragt, ob sie das denn auch wollen. Beide haben sich über die Interessen der evangelischen Gemeindemitglieder hinweggesetzt. Während aber der eine mit großem Mut auf die Selbsttätigkeit und die Fähigkeiten der Laien setzte, hielt der andere nichts von unbekehrten Christen. Durchgängig spricht Hilbert von der "Masse" der Gemeindemitglieder. "Aber die Massen unseres 'Kirchenvolkes' haben weder den Willen noch die Fähigkeit zur Erfüllung so hoher, geistlicher Aufgaben. Die Massen der volkskirchlichen Gemeinden können immer nur Objekt, nie aber Subjekt des kirchlichen Handelns sein" (S.53). In solchen Spitzensätzen zeigt sich, daß Hilbert möglicherweise doch Schwierigkeiten mit der bei Luther gewonnenen Einsicht hatte, daß die Mitglieder der ecclesia invisibilis einander unbekannt sind. Demgegenüber konnte Sülze differenzierter auf Fähigkeiten, Stärken und Begabungen einzelner Gemeindemit(!)glieder eingehen. Die Kirchengemeinde stand ihm insgesamt persönlicher vor Augen. Das Wort "Gemeinde" war ihm mit den prägenden Gesichtern einzelner Menschen verbunden. So gingen beide an diesem Punkt getrennte Wege. Die Fragen, die sie aufwarfen, sind in der praktisch-theologischen Diskussion über Wege der evangelischen Gemeindearbeit bis heute nicht abschließend beantwortet: Ist die überwiegende Mehrheit der Kirchenmitglieder als ein Volk von getauften Heiden zu betrachten, oder gibt es in der Bevölkerung echtes christliches Potential und tiefverwurzelte christliche Überzeugungen? Ist "kein Grund da, um zu bauen", oder gibt es in jeder Kirchengemeinde eine reiche Vielfalt an Gaben und Erscheinungsweisen christlicher Existenz? Ist die Volksmission überhaupt ein Weg, der den evangelischen Landeskirchen offen steht, oder ist ihre konsequente Umsetzung ein Schritt hin zur Selbstauflösung und zur Zerstörung der historisch gewachsenen Systemkomplexität? Sind Mission, persönliche Bekehrung und pietistische Frömmigkeitskultur unabdingbare Aufgaben der parochialen Gemeindearbeit, oder hat die Gemeindearbeit nicht gerade die vorhandenen Gaben zu entdecken, zu fördern und ihre Entfaltung zu ermöglichen?

g) Fazit und Ausblick: Theologischer Paradigmenwechsel und die Bekennende Kirche als Organisation In diesen entscheidenden Fragen konnten in den ersten Jahrzehnten des 20.Jahrhunderts keine eindeutigen Entscheidungen getroffen werden. Externe Faktoren spielten stets in die Urteilsbildung mit hinein. So haben in den 20er

1.2 Gerhard Hilbert

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Jahren steil ansteigende Kirchenaustrittszahlen dem Gedanken der Volksmission Auftrieb gegeben. Hatten sich die Austrittszahlen zwischen 1908 und 1914 noch zwischen 18000 und 29000 bewegt, so stiegen sie nach einer Beruhigungsphase während des 1.Weltkriegs im Jahr 1920 sprunghaft auf 314000.40 Dj e evangelischen Kirchen reagierten auf die Austrittswelle reflexhaft mit dem Ruf nach verstärkter Volksmission. Die "christlichen Massen" aber blieben auch in den 20er Jahren wiederum nahezu resistent gegenüber den volksmissionarischen Offensiven. Die Diskussion über richtungweisende Konzepte für eine volkskirchliche Gemeindearbeit unter den Bedingungen des entkirchlichten Christentums wurde letztlich nicht entschieden. Sie wurde abgebrochen. Karl Barth legte zu Beginn der 20er Jahre mit der "dialektischen Theologie" einen Neuansatz vor, in dessen Fahrwasser auch die Praktische Theologie geriet. Barth ließ die strittigen Fragen unbeantwortet und verschob die Diskussionsebene von der ecclesia visibilis auf die ecclesia invisibilis. Man würde heute davon sprechen, daß Barth einen "Paradigmenwechsel" einleitete.^! Im Zuge dieses Paradigmenwechsels verschwand das empirische und soziale Bewußtsein für den Organisationscharakter der Landeskirchen samt seinen Implikationen von Religiosität, Mitgliederfrömmigkeit, Teilnahmeverhalten und Konzeptentwicklung für die Praxis einer evangelisch-volkskirchlichen Gemeindearbeit hinter dem dichten Vorhang einer radikal christozentrischen Problemsicht: "Es gibt nur eine Lösung, und die ist in Gott selbst". 4 2 "Um Gott handelt es sich, um die Bewegung von Gott her, um unser Bewegtsein durch ihn, nicht um Religion ... Christus ist das unbedingt Neue von oben, der Weg, die Wahrheit und das Leben Gottes unter den Menschen, der Menschensohn, in welchem sich die Menschheit ihrer Unmittelbarkeit zu Gott bewußt wird. Aber Distanz wahren! Keine noch so feine psychische Dinglichkeit der Form dieses Bewußtseins darf die wahre Transzendenz dieses Inhalts ersetzen oder verschleiern ... nicht unser allfalliges Erfahren und Erleben Gottes, nicht unsere allfallige Frömmigkeit ist diese Lebensbewegung, nicht ein Erlebnis neben anderen Erlebnissen, sondern - ich rede nun absichtlich so abstrakt und theoretisch als möglich, damit alle emotionalen Mißverständnisses heute einmal ausgeschaltet seien - die senkrechte Linie, die

40 41

42

EKD I, S.15; Vgl. die Tabelle "Kirchenaustritte aus der evangelischen Kirche 1900 bis 1971" auf S. 16 Wobei darauf hinzuweisen ist, daß die historischen Wurzeln einer praxisfernen Ekklesiologie wohl tiefer liegen. F.W.Graf hat sie bereits in der altprotestantischen Orthodoxie gesehen. - F.W.Graf: Innerlichkeit, S.385-387 Das Zitat bezieht sich nicht auf die Problematik der Konzeptentwicklung für die volkskirchliche Gemeindearbeit, sondern auf die Stellung des Christen in der Gesellschaft. Es trifft aber auch Barths Einstellung zu der hier behandelten Frage, wie das nachfolgende Zitat belegt. - K.Barth: Der Christ in der Gesellschaft (1920), abgedruckt in: J.Moltmann (Hg.): Anfänge der dialektischen Theologie I, München 4 1977, S.9

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durch alle unsere Frömmigkeiten und Erlebnisse hindurch- und großenteils auch daran v o r b e i g e h t " . Innerhalb dieses Wahrnehmungshorizontes war kein Platz für die praktischen Fragen der Pfarramtsführung oder für das religiöse Selbstverständnis der Kirchenmitglieder. Die dialektische Theologie verdankt ihren langanhaltenden Erfolg nicht nur der Radikalität des Paradigmenwechsels, sondern wohl auch den äußeren, politischen Entwicklungen und Zeitumständen, in die sie hineinkam. Das dritte Reich stellte die evangelischen Kirchen sehr schnell vor fundamentale Identitätsfragen. In dieser Situation hat sich u.a. Karl Barths Neuansatz als theologisches Programm für eine kleine, aber fest auf dem Boden christologischer und reformatorischer Prinzipien stehende Minderheitenkirche bewährt. Nach dem zweiten Weltkrieg, als Mitglieder der "Bekennenden Kirche" in die Leitungspositionen der evangelischen Landeskirchen aufgestiegen waren und Karl Barths Theologie mehr und mehr zum Ausbildungsstandard für die nachrückenden Theologengenerationen wurde, hat man sich erstaunlich selten einmal klar gemacht, daß selbst die Bekennende Kirche auf Organisationsstrukturen nicht verzichtet hat. Auch eine christozentrische Theologie und Weltsicht entbindet nicht von dem Zwang, dem alle sozialen Gebilde unterliegen, entweder Organisationsstrukturen auszubilden oder sich aufzulösen und zu verschwinden. Aus dieser Einsicht heraus hatten die Mitglieder der Bekennenden Kirche schon während des zweiten Weltkriegs damit begonnen, fur die Zeit nach dem Krieg ihr Dasein als Untergrundkirche organisatorisch vorzubereit e n . ^ Früher oder später hätten also auch sie die Fragen zu beantworten gehabt, die nach Sülze und Hilbert unerledigt liegengeblieben waren.

1.3 Jakob Schoell: "Evangelische Gemeindepflege" Gemeindearbeit zwischen Kirchturm und Gemeindehaus Wo brennende Probleme nicht konzeptionell gelöst werden können, beantwortet die Praxis sie auf ihre eigene Weise, sukzessiv, pragmatisch und stets auf dem Weg des geringsten Widerstandes. Einen solchen Weg ist auch die Entwicklung der evangelischen Gemeindearbeit gegangen. Etwa um 1890 herum bildete sich das Konzept der "Evangelischen Gemeindepflege" heraus, das schon vor dem ersten Weltkrieg zum richtungweisenden Standardkonzept für die evangelische Gemeindearbeit wurde und diese Position bis in unsere Tage hinein behauptet hat. Jakob Schoell hat das Konzept in seinem Buch "Die evangelische Gemeindepflege. Handbuch fur evangelisch-kirchliche Gemeindearbeit" im Jahr 1911 dargestellt, also zu einer Zeit, als es sich vielfach bereits etabliert hatte. Wer 43 44

K.Barth: Christ, S . l l f C.Möller: Lehre I, S. 195-218 und C.Möller: Gemeindeaufbau jenseits von 'Volkskirche und Ecclesia', in: ThBe 17/1986, S. 128-130

1.3 Jakob Schoell

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sich für die gewachsenen Strukturen des evangelischen Gemeindelebens interessiert, der stößt bei Schoell auf dessen W u r z e l n . 4 5 In Schoells Darstellung finden sich fortwährend Verweise auf die Arbeiten Emil Sulzes. Sülze war damals mit seinem Gemeindeganken geradezu zu einem "Propheten der kirchlichen Gegenwart" avanciert.Allerdings unterscheidet sich Schoells Darstellung von Sulzes Überlegungen in einem sehr wesentlichen Punkt: Die Radikalität von Sulzes Forderungen und Visionen ist bei Schoell pragmatisch abgemildert. Jakob Schoell war Professor am Predigerseminar Friedberg und für die Ausbildung der Pfarramtskandidaten zuständig. Seine berufliche Stellung prägte offensichtlich auch seine Problemsicht. Er hatte seine Schüler auf die Pfarramtspraxis vorzubereiten und bemühte sich deshalb darum, ihnen nicht nur ein konzeptionelles Verständnis für die vorfindlichen Gegebenheiten zu vermitteln, sondern ihnen auch ein theologisches Rüstzeug für ihren Arbeitsalltag in volkskirchlichen Parochien mitzugeben. Über seiner Darstellung des Konzeptes einer "evangelischen Gemeindepflege" hat er auch eine Reihe von ecclesiologischen Überzeugungen formuliert, die in dieser Klarheit selbst heute noch mit großem Gewinn zu lesen sind. Zunächst werden Schoells ecclesiologische Grundüberzeugungen referiert, anschließend wird das Konzept selbst dargestellt. a) Jakob Schoells volkskirchliche Grundüberzeugungen 1. "Die religiöse Gemeinschaft ist immer schon da" (S.2). So lautet der erste Satz des Buches. Sie existiert bereits, wie unvollständig und mangelhaft auch immer. Von daher stellt sich nicht mehr die Frage, wie man eine religiöse Gemeinschaft erst noch schaffen könnte. Vielmehr hat die Konzeptionsentwicklung für die evangelische Gemeindearbeit bei der längst schon ausgebildeten Gestalt der Kirche anzusetzen. "Man zerstört berechtigterweise doch nur, was man zerstören muß. Bloß deswegen weil sie Mängel hat, die Volkskirche zerstören, wäre ein ganz unverantwortliches Beginnen, zumal jede andere kirchliche Form auch ihre schwachen Stellen hat" (S.28). 2. Die Kirchengemeine ist eine Organisation. Als solche hat sie zeit- und personenübergreifende Ordnungen: Gemeindeordnungen, Gemeindebekenntnisse, Gemeindezuchtregeln und Gemeindeämter (S.6). Sie unterliegt auch als kirchliche Organisation den gleichen Gesetzmäßigkeiten, die generell in Organisationen vorfindlich und wirksam sind. Schoell spricht das unumwunden aus und nennt gleich konkrete Beispiele: Jede Organisation ist zum kontrollierten Einsatz der vorhandenen (Finanz-)Mittel verpflichtet. "Es wäre gar nicht übel, wenn größere Gemeinden einmal ihre gesamte Vereins- und Gemeindearbeit etwa von einem erfahrenen Betriebsleiter eines größeren Unternehmens bloß unter dem Gesichtspunkte prüfen ließen, inwieweit die vorhandenen Mittel ra45 46

Vgl. auch D.Mahling: Gemeindepflege, in: RGG 2 (1928), Sp.992-994 Stock: Gemeindegedanke, Sp.1065

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tionell verwendet werden" (S.48). "Ist es nicht rein ökonomisch angesehen eine Verschwendung, die teure Arbeitskraft des Pfarrers für hunderterlei kleine Dinge in Anspruch zu nehmen, die jeder andere gewissenhafte Mensch ebensogut und billiger besorgen kann?" (S.67) Jede Organisation unterliegt der Gefahr einer schleichenden Bürokratisierung. Wie alle Organisationen, so hat auch die kirchliche "eine unheimliche Tendenz, immer weiter um sich zu greifen. Da wird dann so lange reglementiert, bis die freie Selbständigkeit ertötet und jede Freudigkeit zu kräftiger Initiative gründlich ausgetrieben ist" (S.7). Nur wer die Fehlentwicklungen so konkret ins Auge faßt, kann sich darum bemühen, sie zu verhindern. Schoell fordert deshalb, daß die Verantwortlichen es nicht versäumen sollten, fortwährend "im Leben der Gemeinde auf Verinnerlichung, Weiterbildung und Selbständigwerdung zu drängen" (S.8). 3. Organisationsentwicklung vollzieht sich zwangsläufig, ob man sie nun begrüßt oder nicht. Sie vollzieht sich selbst dann, wenn man programmatisch vorgibt, keine Organisation zu sein oder sein zu wollen: "Die Entwicklung zur organisierten Gemeinde hin wäre gar nicht aufzuhalten, auch wenn wir uns noch so sehr dagegen stemmten" (S.8). Schoell hat klar erkannt, daß auch freie Gemeinden und religiöse Gemeinschaften diesem Organisationsentwicklungsprozeß unterworfen sind: "Immer wieder zeigt sich dieselbe Entwicklung. Mit herber Kritik an dem vorhandenen Kirchentum setzt eine neue religiöse Bewegung ein. Man erklärt, von kirchlichen Formen und Ordnungen gar nichts mehr wissen zu wollen und ganz dem Geiste zu vertrauen. Dann fängt man langsam an, selber wieder zu organisieren, wählt vielleicht andere Namen und sagt statt Kirche Kapelle, statt Pfarrer Prediger oder leitender Bruder, statt Kirchengemeinde Gemeinschaft, statt Gottesdienst Stunde oder Versammlung und hat mit alledem mutatis mutandis dasselbe, was man an der verpönten kirchlichen Ordnung tadelte. Woran man eben sieht, daß die Logik der Tatsachen ganz unbekümmert um individuelle Liebhabereien ihren eigenen Weg geht. Über das Mehr oder Weniger von Ordnungen kann man streiten, über das Wie im einzelnen Fall erst recht, nicht aber über das Daß. Die Notwendigkeit der Gemeindebildung liegt klar zutage" (S.8). 4. Eine volkskirchliche Gemeinde ist immer ein corpus permixtum. "Will man nicht ins Phantastische geraten, so darf man bei der Bestimmung des Gemeindeideals die Tatsache nicht außer acht lassen, daß der Glaube nicht jedermanns Ding ist und das innere Widerstreben gegen das Gute bei vielen unüberwindlich ist. Man kann darum vernünftigerweise das Ziel der Gemeindearbeit nicht in der Schaffung einer Gemeinde von lauter wahren Christen sehen ... Unter irdischen Verhältnissen wird dem Weizen immer auch Unkraut beigemengt sein. Alle Versuche, eine Gemeinschaft der Heiligen herzustellen, sind gescheitert, ja oft genug hat hierbei, was im Geiste begonnen war in der

1.3 Jakob Schoell

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übelsten Weise im Fleische geendet. Darum entspricht es der christlichen Nüchternheit, damit zu rechnen, daß in der Gemeinde allezeit eine ziemliche Anzahl ungläubiger und unguter Leute vorhanden sein werden und das nicht bloß in unseren volkskirchlichen Gemeinden, sondern auch in strengen Bekenntniskirchen" (S.22f). Das bedeutet auch, daß in jeder volkskirchlichen Gemeinde immer ein großes Spektrum an unterschiedlichen Glaubensüberzeugungen vorhanden ist. Jakob Schoell hatte keine Probleme mit dieser Vorstellung: "Eine evangelische Gemeinde erträgt gewiß viel Mannigfaltigkeit und soll ja nicht gleich ängstlich nach rechts und links sich abzuschließen suchen" (S. 112). Die Vielgestaltigkeit der Glaubensüberzeugungen und des religiösen Verhaltens ist zu achten und zu bewahren. "Die religiöse Gemeinschaft soll sich in der Tat hüten, mit täppischer Hand den innerlichsten Eigenbesitz eines frommen Menschen antasten und seine letzten Überzeugungen nur so kurzerhand modeln und uniformieren zu wollen. Sie würde sich dadurch nicht bloß der innerlichsten Menschen berauben, sondern auch denen, die ihr treu bleiben, schweren Seelenschaden zufügen" (S.3). Das gilt vor allem für die Pfarrerschaft. Ein Pfarrer ist erst dann berechtigterweise als Gemeinde-pfarrer zu bezeichnen, wenn er dieser Einsicht in seinem Verhalten und in seiner Predigt Rechnung trägt: "Wieviel ist allein schon damit gewonnen, daß der Pietist nicht mehr meint, wer überhaupt evangelisch fromm sein wolle, müsse Pietist werden, und daß der spezifisch Moderne grundsätzlich darauf verzichtet, seine Gemeindeglieder samt und sonders modern christlich machen zu wollen. Wo ein Mensch wirklich den Glauben vertritt, von dem er selber lebt, da wird ganz gewiß auch derjenige eine Glaubensförderung erleben, der für sich selbst den edlen Schatz in anderen Gefäßen aufbewahrt. Der Begriff des Gemeindepfarrers ist kein Widerspruch in sich selber" (S.65). Mit diesen Ansichten war Jakob Schoell vielen um Jahrzehnte voraus. 5. Die vielfältigen Begabungen der Laien sind für die Gemeindearbeit unverzichtbar. Schoell betont, "daß eine durchgreifende Gemeindepflege ohne weitgehende Beiziehung der Laien schlechterdings unmöglich ist ... Eine Gemeinde kann auch dadurch geistlich tot gemacht werden, daß ein einzelner in ihr alles tut" (S.43f). Die Pfarrer sollen lernen, die Gemeindemitglieder aus ihrer "billigen Zuschauerrolle" (S.44) herauszuholen. Damit werden sie nicht nur ihrem eigenen Interesse, sondern auch einem Bedürfiiis der Gemeindemitglieder gerecht, denn "der Mensch der Gegenwart will nicht bloß hören, er will auch arbeiten" (S.73). Es kommt darauf an, Vertrauen in die Fähigkeiten der Gemeindemitglieder zu haben und ihnen bedeutungsvolle Aufgaben zu übertragen. "Wir aber geben den Unsrigen im großen und ganzen zu wenig Aufgaben" (S.72f). Wer als Pfarrer gelernt hat, Aufgaben anderen zu übertragen, der hat auch Zeit, zu sich selbst zu kommen.

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"Man darf uns nicht unterschieben, daß wir an dem Typus des abgearbeiteten, nervösen, zappeligen Pfarrers, wie er zuweilen in den Städten zu sehen ist, ein besonderes Wohlgefallen hätten. Nichts ist dem Wirken des Seelsorgers hinderlicher, als wenn man den Eindruck gewinnen muß, der Mann habe zu nichts Zeit und in sich selber nicht Ruhe noch Stille" (S.65). b) Das Konzept der "Evangelischen Gemeindepflege" Es wurde bereits erwähnt, daß Jakob Schoell das Gemeindepflege-Konzept nur dargestellt, nicht aber selbst entwickelt hat.47 Das Konzept ist in der Praxis der Gemeindearbeit selbst entstanden. Unter dem Eindruck des Gemeindegedankens adaptierten viele Kirchengemeinden seit der Jahrhundertwende den Vereinsgedanken. Nach und nach etablierten sich in loser Anbindung an die Kirchengemeinde oder unter ihrem Dach kirchliche Vereine für Männer- und Frauenarbeit, für Jugendpflege, für Diakonie und anderes. Auf diese Art entstand ein gemeindenahes oder auch gemeindeeigenes Vereinsleben, das "Gemeindeleben". Diese neue Gemeinschaftsorientierung der Kirchengemeinden fand ihren sichtbarsten Ausdruck in der Institution des "Gemeindehauses". Das Gemeindehaus war dem Vorbild des Vereinshauses der Inneren Mission abgeschaut, wie auch der Gemeindebrief dem Vorbild der Vereinsnachrichten und die Gemeindeversammlung der Vereinsvollversammlung nachempfunden wurde. Diese Entwicklung führte zu einer signifikanten Doppelung der gemeindeeigenen Gebäude. Fortan war das typische Bild einer evangelischen Kirchengemeinde nicht mehr allein durch den Kirchturm bestimmt, sondern auch durch ein zweites Gebäude, das Gemeindehaus. Die Kirchengemeinde wird damit, im Schaubild dargestellt, zu einer Ellipse mit zwei Brennpunkten: dem Kirchturm und dem Gemeindehaus. Das Gemeindehaus entsprach architektonisch den Erfordernissen eines mitgliedsnahen Vereins- und Dienstleistungschristentums. Im Gemeindehaus befanden sich ein großer Saal für Gemeindeversammlungen und zahlreiche kleinere Funktionsräume: Räume für die Frauen- und Männervereine, für die weibliche und die männliche Jugend, ein Übungsraum für die Chöre, Lese- und Bibliothekszimmer, eine angeschlossene Diakoniestation, Krabbelstube und Kindergarten. Auch die Wohnungen für den Diakon oder die Gemeindeschwe-

47

Die Ansichten Jakob Schoells sind zwar in vieler Hinsicht repräsentativ für die Grundannahmen der Gemeindepflege. Im einzelnen finden sich aber bei anderen Autoren durchaus andere Schwerpunktsetzungen. So hat etwa bei Mahling Sulzes Organisationsgedanke ein sehr viel stärkeres Gewicht behalten. Mahling schlägt 1928 vor, die Seelsorgebezirke einheitlich auszustatten und personell zu versorgen. Ein Pfarrbezirk sollte 1500 Gemeindemitglieder umfassen und neben dem Pfarrer durch einen Kirchenvorsteher, zwei Vertreter und sechs "freiwillige Kräfte" als Gemeindepflegerinnen und Gemeindepfleger versorgt werden. Jede dieser ehrenamtlichen Kräfte hätte zu 250 Personen Kontakt zu halten und ggf. den Pfarrer zu vermitteln. - D.Mahling: Gemeindepflege, Sp.994

1.3 Jakob Schoell

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stern (Kinderpflege und Krankenpflege) konnten hier untergebracht sein.48 Was sich im Gemeindehaus abspielte, konnte inhaltlich weit über das hinaus gehen, was zum Kernbestand kirchlicher Aktivitäten gehört. Neben Bibelstunden konnten zahlreiche andere Aktivitäten stattfinden, Vortragsveranstaltungen, Konzerte, Bildungsmaßnahmen, Ausflüge, Sport, Spiel, Unterhaltung und Basteln. Was im einzelnen geschah, stand im Ermessen der jeweiligen Gemeindeleitung. Das Gemeindehaus wurde damit zum Mittelpunkt eines "Gemeindelebens" und strahlte mit seinen Aktivitäten bis tief in die Ortsgemeinde hinein. Es bot sich an als "zweite Heimat" an und bildete neben der Kirche ein eigenständiges und sehr bald auch unverzichtbares Zentrum der Parochie. Durch Gemeindeteilungen und Pfarrbezirkszuweisungen, sowie durch die Anstellung von zusätzlichen hauptamtlichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern wurde eine Entlastung der Pfarrerschaft erreicht. Gemeindehelfer/innen, Gemeindeschwestern, Diakonissen, Diakone oder Pfarrgehilfinnen trugen die Verantwortung für einzelne Teilbereiche der umfangreichen Gemeindearbeit. Sie erledigten Verwaltungsaufgaben in der Gemeinde (Kirchenbücher, Kassenführung u.a.), übernahmen die Jugendarbeit^, die Krankenpflege und die "Wohlfahrtspflege" der Gemeinde. Und sie sorgten für die Organisation des Vereinslebens innerhalb der Gemeinde: "für die Aufstellung des Programms, für die Leitung des Posaunenchors, für Turnen, Sport, Spiele, Ausflüge, für Bestellung von Vorträgen u.ä.".50 Die Pfarrerschaft sollte dagegen ihr Hauptaugenmerk der pastoralen Grundversorgung aller Gemeindemitglieder zuwenden. Das Vereinsleben sollte zwar geistlich betreut, nicht aber pastoral geleitet werden. Aber schon in den 20er Jahren verstärkte sich die personelle Anbindung des Gemeindehauses an die Kirchengemeinde. Die Pfarrer wurden zunehmend in die Gemeindehausarbeit hineingezogen oder suchten von sich aus einen stärkeren Zugriff auf das Gemeindehaus.

c) Würdigung und Kritik Das Konzept der "evangelischen Gemeindepflege" hat sich im Verlauf eines Jahrhunderts umfassend bewährt. Es wurde noch in der Kaiserzeit enwickelt, überstand unbeschadet aller politischen Wechsel die Weimarer Republik und die Zeit des Nationalsozialismus und erlebte schließlich nach dem zweiten Weltkrieg im Zuge ansteigender finanzieller Möglichkeiten sogar noch eine neue Blütezeit. Seine Stärke liegt in seiner enormen Flexibilität und vielseitigen Ausgestaltbarkeit. Die Anzahl der hauptberuflich tätigen Mitarbeiter kann in Abhängigkeit von den finanziellen Möglichkeiten der Gemeinde stark schwanken. Das Gemeindehausleben kann von der Gemeinde selbst organisiert oder auch von assoziierten Vereinen durchgeführt werden. Das Konzept ist nicht an 48 49 50

Zu den architektonischen Anforderungen an ein Gemeindehaus vgl. D.Mahling: Gemeindepflege, Sp.994 damals "Jugendpflege" incl. Jugendfürsorge und Jugendgerichtshilfe D.Mahling: Gemeindepflege, Sp.993

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II. 100 Jahre Reform

Personen gebunden, es ist aufgabenorientiert. Für die ehrenamtliche Mitarbeit der Gemeindemitglieder stehen viele Türen offen. Beliebig können einzelne Aufgabenbereiche neu hinzugefügt oder auch eingestellt werden. Das Konzept ist nicht an ein spezifisches Frömmigkeitsprofil gebunden. Es gibt keine konfessionellen, schichtspezifischen oder politischen Vorbehalte. Auch ausgesprochen "weltliche" Aktivitäten (z.B. Sport) sind möglich. Alle diese Möglichkeiten konnten und können von Gemeinde zu Gemeinde unterschiedlich genutzt werden. Das Konzept ist also insgesamt überaus flexibel, anpassungs- und entwicklungsfähig. Seine zahlreichen Optionen haben die Erstarrung in kollektiver Uniformität verhindert und die Anpassung an jeweils wechselnde örtliche Gegebenheiten ermöglicht. Die Gemeindevereine spannten zwar ein Netz über die ganze Gemeinde, aber dieses Netz war grobmaschig genug, um jedem, der hindurchschlüpfen wollte, die Möglichkeit zu bieten, dies auch zu tun. Der Freiwilligkeitscharakter des "Gemeindelebens" blieb gewahrt und wurde dem vorhandenen Pluralismus der Anschauungen besser gerecht als jede egalisierende Subgruppenbildung. Das alles begründet den anhaltenden Erfolg des Konzepts. Die Probleme des Gemeindehauses aber steckten, wie so häufig, im Detail: 1. Die Gemeindehauskultur, die ursprünglich einmal als Einladung an alle Mitglieder der Kirchengemeinde gedacht war, ist in der Praxis stets ein sozialselektives Angebot gewesen. Schon Jakob Schoell hat auf den sozialselektiven Mechanismus des alten Vereinshauses hingewiesen: "Es ist bekannt, wie der besondere Raum auch eine besondere Art von Christentum umschloß und erzeugte. Das typische Vereinshauschristentum kam auf: vom Pietismus hatte es seine weichere und weltflüchtige Stimmung, von der mit dem Pietismus verbündeten Orthodoxie sein Mißtrauen gegen freiere Regungen und Richtungen und schon von dem besonderen Raum das Gefühl, daß man neben den bloßen Kirchenchristen doch noch etwas Besonderes sei. Die wenig angenehme Folge war die, daß sich andererseits eine große Anzahl gut kirchlich gesinnter Gemeindeglieder vom Vereinshaus und allem, was darin getrieben wurde, geflissentlich fern hielt". Dem Gemeindehaus ist es nicht anders ergangen. Es hat eine eigene "Gemeindehauskultur" hervorgebracht, und auch die war und ist nicht jedermanns Ding. Das Gemeindehaus mit seiner steingewordenen Idee vom sichtbaren "Gemeindeleben" hat nie alle Schichten und Kreise der Bevölkerung erreichen und ansprechen können. Es blieb ein Angebot für viele, nie aber für alle. 2. Schon sehr früh wurde deutlich, daß das christliche Vereinsleben einen eigenen Sog hin zum Freizeitleben entwickelt. Das Gemeindehaus ist letztlich ein Vereinshaus geblieben, ein Ort des geselligen Miteinanders. Die Zusammenkünfte der "versammelten Gemeinde" dienten nicht allein der Pflege einer "kultivierten Christlichkeit". Sie dienten immer schon und nicht selten sogar zum 51

J.Schoell: Gemeindepflege, S.79f

1.3 Jakob Schoell

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überwiegenden Teil der Befriedigung anderer Gemeinschaftsbedürfnisse. Damit aber war die Hoffnung zu begraben, mit dem Gemeindehaus das volkskirchliche Defizit an vorsätzlicher Glaubensgemeinschaft beseitigen zu können. Das Gemeindehaus ließ sich weder religiös monopolisieren noch zu erzieherischen Zwecken uniformieren. 3. Die Entwicklung eines parochialen "Gemeindelebens" war nach dem Additionsprinzip erfolgt. Man nahm etwas Neues hinzu, ohne sich von Altem definitiv trennen zu wollen oder auch nur zu können. Die pastorale Versorgung aller Gemeindemitglieder wurde durch den Bau eines Gemeindehauses nicht überflüssig. Das hatte Konsequenzen. Zum einen blieb die Schlüsselrolle der Pfarrer in der Gesamtgemeinde erhalten. Zum anderen aber kam ein weiteres Arbeitsfeld hinzu. Je enger das Gemeindehaus in den Kompetenzbereich der Kirchengemeinden hineinrückte, desto offensichtlicher wurde, daß die Zuständigkeiten und die Kompetenzen nicht klar genug getrennt waren und vieles auf die Pfarrer zurückfiel, was konzeptionell einmal durchaus anders gedacht war. Die Pfarrer, die mehr und mehr in die Gemeindehausarbeit hineinwuchsen, wurden letztlich nicht nur entlastet, sie wurden auch mit neuen Aufgaben belastet. Darüberhinaus war auch weiterhin "des Aktenschreibens" kein Ende . Zusammenfassend läßt sich die "Evangelische Gemeindepflege" als ein wirklichkeitsgerechtes Konzept volkskirchlicher Gemeindearbeit bezeichnen. Es hat sich einerseits als Reaktion auf drängende Probleme der Parochie herausgebildet, andererseits aber die Möglichkeiten und Grenzen der volkskirchlichen Dimension berücksichtigt. Die Reichweite des Gemeindehauses ist begrenzt. Es konnte seine Herkunft aus dem Vereinshaus nie abstreifen und es brachte neue Verpflichtungen für die Gemeindepfarrer mit sich. Gleichwohl aber ist es ein Ort der Gemeinschaft geworden, ein Haus, das im Verlauf eines Jahrhunderts zum festen Begriff geworden ist, und dessen Ausstrahlungskraft bis weit in die Ortsgemeinde hineinreicht. So sehr die Idee einer additiven Ergänzung der pastoralen Dienste durch ein Gemeindehaus mit konzeptionellen Mängeln behaftet ist, sie stellt doch eine praktikable Synthese aus dem theologisch Wünschenswerten und dem volkskirchlich Machbaren dar.

2. Die Spandauer Missionsthesen der VELKD von 1958 - Missionarische Durchdringung der Volkskirche a) Der geschichtliche Hintergrund der Missionsthesen 1. "Distanzierte" Volkskirchlichkeit nach 1945: Nach dem zweiten Weltkrieg hatten die Kirchengemeinden im wahrsten Sinne des Wortes "alle Hände voll zu tun". Die Not der Bevölkerung war riesig. Flüchtlingselend, Schicksalsschläge, Kriegsschäden, Wohnraumnot, Versorgungslücken und vieles mehr machte die

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diakonische Arbeit und den seelsorgerlichen Einsatz der Kirchengemeinden unverzichtbar. In dieser Situation haben sich besonders die organisatorischen Strukturen der "Gemeindepflege" bewährt. In den Kirchengemeinden standen neben den Pfarrern noch weitere haupt- und ehrenamtliche Kräfte zur Verfügung, die hilfreich tätig werden konnten. Der hohe persönliche Einsatz hat vielen Aktiven in den Kirchengemeinden langanhaltende Sympathien eingetragen. Mit wachsendem zeitlichen Abstand beruhigte sich auch die gemeindliche Situation wieder. Zahl und Umfang der akuten Aufgaben und Verpflichtungen nahm ab. Die Menschen konnten zunehmend auf die Hilfestellungen der Kirchengemeinden verzichten. In die Kirchengemeinden begann der Alltag einzuziehen. In den Kirchengemeinden regenerierte sich eben die Gemeindehauskultur, auf deren sozial integrative Defizite und frömmigkeitsspezifische Einseitigkeiten Jakob Schoell bereits 1911 aufmerksam gemacht hatte. Gruppen, Kreise und Vereine pflegten ein überwiegend selbstbezogenes "Gemeindeleben". Zwar hatten die Kriegs- und Leidenserfahrungen bei vielen Kirchenmitgliedern zu einer neuen Gottesbeziehung und zu intensivierten Glaubensüberzeugungen gef ü h r t ^ , aber das wurde nicht unbedingt auch äußerlich sichtbar. Vieles blieb im Verborgenen, im Familien- oder Freundeskreis. Zu einer massenhaften Verbreitung oder Übernahme der Frömmigkeitskultur des Gemeindehauses kam es im Nachkriegsprotestantismus nicht. Statistisch signifikant war dagegen das Abebben der Wiedereintrittszahlen. 1945 waren 47000 Wiedereintritte zu verzeichnen, 1946 waren es 75000. Schon 1949 standen 43000 Eintritten 86000 Austritte gegenüber. Die starke Austrittsbewegung der Jahre 1933 bis 1939, wo 1,3 Mio Gemeindemitglieder aus der evangelischen Kirche ausgetreten waren, konnte nicht wieder ausgeglichen werden. "Spätestens ab 1947 war abzusehen, daß sich die großen Erwartungen, die mit der 'Stunde der Kirche' und einem allgemeinen Rechristianisierungsprogramm verbunden waren, nicht erfüllen würden" .53 Der Zusammenbruch des 3. Reichs hatte mentalitätsändernde Wirkungen, die auch die Kirchen zu spüren bekamen. Es kam zur reflexorischen Abkehr von allen Formen der "Weltanschauung". Die Menschen waren "gebrannte Kinder". Sie gingen gegenüber "großen Ideen" auf Distanz. Man wollte sich nicht mehr "versammeln müssen" und reagierte auch gegenüber kirchlichen Teilnahme- und Mitgliedschaftserwartungen empfindsam. "Nicht noch einmal" lautete das Motto der Stunde. "Wiederaufbau" hieß die Aufgabe, die allen plausibel war und die Kräfte unmittelbar in Anspruch nahm. Die Sinnorientierung verlagerte sich wie schon gegen Ende des 19.Jahrhunderts erneut auf den überschaubaren, inneren Kreis der persönlichen Beziehungen. Der Sinn des Lebens wurde familiär defi-

52 53

Vgl. die Motive in der Tabelle bei R.Köster: Die Kirchentreuen, Stuttgart 1959, S.59 C.Vollnhals: Die evangelische Kirche zwischen Traditionswahrung und Neuorientierung, in: M.Broszat u.a. (Hg.): Von Stalingrad zur Währungsreform. Zur Sozialgeschichte des Umbruchs in Deutschland, München 1990, S.164

2. Die Spandauer Missionsthesen

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niert.54 Man lebte und arbeitete für die Kinder, die "es einmal besser haben" sollten. Daneben trat mit wachsendem Wohlstand auch ein kompensatorisches Bedürfnis: Es galt, soweit dies überhaupt möglich war, nachzuholen, was man lange Zeit entbehren mußte.^5 Hoher Fettkonsum und süße Spätleseweine wurden zu symbolträchtigen Ausdrucksformen einer wiedererwachenden Gegenwarts- und Genußorientierung. 56 Die evangelische Bevölkerung fand zurück zum altbewährten, anlaßbezogenen Teilnahme- und Mitgliedschaftsverhalten und hielt es nicht für erforderlich, sich weitergehenden kirchlichen Wünschen unterzuordnen. "Bereits in den ersten Nachkriegsjahren sah sich die evangelische Kirche mit dem Dilemma konfrontiert, daß die staatliche Durchsetzung konfessioneller Ansprüche von einer deutlichen Mehrheit der Protestanten abgelehnt wurde".57 Die Wiedereinführung der Konfessionschule als Regelschule für den Volksschulbereich wurde in einer Umfrage von 67% der Protestanten abgelehnt. Bei der ersten Bundestagswahl 1949 stimmten 64% der evangelischen Christen für laizistische Parteien (39% SPD; 17% FDP; 8% KPD), 26 % wählten CDU oder CSU. Schon 1949 war also klar ersichtlich, daß die Mehrheit der evangelischen Gemeindemitglieder die Leitbilder und Präferenzen der kirchlichen Amtsträger nicht teilte und nicht bereit war, ihren Vorstellungen gehorsam zu entsprechen. 2. Die Volkskirche und die Kirchensteuer: Ein weiterer Gesichtspunkt ist zum Verständnis der Spandauer Thesen unerläßlich. Die volkskirchliche Option und die Reaktivierung der Gemeindepflegestrukturen hatten sich nach dem zweiten Weltkrieg keineswegs von selbst verstanden. Während des Dritten Reichs hatte die "Bekennende Kirche" nicht daran denken können, einmal zur tonangebenden Kraft in einer "Volkskirche" zu werden. Sie war sie eine bibel- und bekenntnisorientierte Minderheitenfraktion gewesen, die das Kirchesein der Kirche und die Wahrheit des christlichen Bekenntnisses gegenüber staatlichen Ansprüchen und Eingriffen konsequent verteidigte.Mitglieder der Bekennenden Kirche hatten ihre Kritik am totalitären Führerkult selbst unter Verfolgung, Verhaftungen und Terror aufrecht gehalten. Von daher wäre es durchaus vorstellbar gewesen, wenn die Repräsentanten dieser Kirche, denen nach 1945 die Führungsaufgaben in den evangelischen Kirchen zufielen^, die Kirche auf der Grundlage persönlicher Bekenntnisorientierung und Bekenntnisverpflichtung als Vereinskirche reorganisiert hätten. Daß das nicht geschehen ist, hat historische 54 55 56 57 58

59

B.Schäfers: Gesellschaftlicher Wandel in Deutschland. Ein Studienbuch zur Sozialstruktur und Sozialgeschichte der Bundesrepublik, Stuttgart 5 1990, S. 114-116 Über "Lebenslauf und Biographie als 'Bett' der Lebensstilentwicklung" vgl. H.Liidtke: Expressive Ungleichheit. Zur Soziologie der Lebensstile, Opladen 1989, S. 63-64 E. Holder: Im Zug der Zeit, Stuttgart 1989 C.Vollnhals: Kirche, S. 166 K.Scholder: Die theologische Grundlage des Kirchenkampfes, in: EvTh 44/1984, S.505524; J.Mehlhausen: Kirchenkampf als Identitätssurrogat? Die Verkirchlichung des deutschen Protestantismus nach 1933, in: F.W.Graf / K.Tanner (Hg.): Identität, S. 192-203; A.Jäger: Konzepte, S.271-277 Vgl. die differenzierte Darstellung von C.Vollnhals: Kirche, S. 116-130

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II. 100 Jahre Reform

Gründe. Die Kirchen waren nach dem zweiten Weltkrieg "fast die einzigen gesprächsfähigen Partner der Besatzungsmächte" .60 Das führte dazu, daß sie mit einer Fülle von Kompetenzen und gesamtgesellschaftlichen Aufgaben überschüttet und organisatorisch in die neu entstehende demokratische Gesellschaft eingebunden wurden. Nur in der späteren Deutschen Demokratischen Republik kam es zu einer aufgezwungenen Trennung von Kirche und Staat. Das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland übernahm die Artikel 136-139 der Weimarer Reichsverfassung. Damit blieben die großen christlichen Kirchen "Körperschaften des öffentlichen Rechts" und waren wieder angesehene, staatstragende Organisationen. "Mit dem entscheidenden 'Sündenfall', der darin bestand, den Staat mit dem Einzug der Kirchensteuer zu beauftragen, hat sich die Kirche als ein zur Stabilität verpflichtender Faktor der Gesellschaft etabliert. Wäre sie 'Freiwilligkeitskirche1 geworden, hätte dies eine wesentliche Schrumpfung ihres Bestandes zur Folge gehabt".61 Das Kirchensteuersystem spülte, da die Steuer völlig ohne den Nachweis persönlicher Bekenntnistreue oder irgendwelcher Mitgliedschafts Verpflichtungen eingenommen wurde, mit wachsendem Wohlstand immer größere Mengen Geld in die Kirchenkassen. "Man hat sich sehr rasch den Chancen hingegeben, die jetzt unter der neuen Situation auf die Kirche zukamen. Die Kirche wurde mächtig, wurde reich".62 Sie hatte nicht nur gegenüber dem Staat den Preis der Loyalität zu entrichten, sie stand auch bei den zahlenden Mitgliedern in der Pflicht. Daß sie das selbst nicht gern so sehen wollte, ist in den Spandauer Thesen deutlich zu erkennen. Aber mit der Entscheidung für die Kirchensteuerfinanzierung waren Fakten geschaffen, hinter die man trotz aller theologisch und sicher auch biographisch begründeten Bedenken nicht mehr zurück ging. Die Beharrungskräfte der neu gefestigten Organisation waren letztlich wirksamer als alle theologischen Bedenken. Eine ungestüme Restaurationsphase setzte ein. Man hat sie später als "Gründerzeit" b e z e i c h n e t . E s war die Zeit der Kirchenneubauten, der finanziell kaum gebremsten Vermehrung kirchlicher Aufgabenfelder, Spezialpfarrämter, landeskirchlicher Ämter, Akademien und einer rasanten Horizonterweiterung durch weltweite ökumenische Kontakte und Aktivitäten. 3. Die Kirchenordnungen und das Selbstverständnis der evangelischen Kirchen: Die innere Substanz der Bekennenden Kirche, die Erfahrungen des Kircheseins unter den Bedingungen einer totalitären Herrschaft haben, obwohl sie für die Organisationsform der Nachkriegskirche nicht bestimmend wurden, gleichwohl Eingang in die Kirchenordnungen gefunden. Die kirchenleitenden Kräfte brachten die Überzeugung mit, daß nur schrift- und bekenntnisgebundene Gemeinden aus aktiven und engagierten Christinnen und Christen in der Lage sind, das

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H.-W.Krumwiede: Geschichte, S.252 E.Stammler: Politische Strömungen im deutschen Protestantismus, in: D.Oberndörfer u.a. (Hg.): Wandel, S.243 E.Stammler: Strömungen, S.239 J.Matthes: Die Emigration der Kirche aus der Gesellschaft, Hamburg 1964, S.44

2. Die Spandauer Missionsthesen

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Wesen der Kirche authentisch zu verkörpern. 64 Diese Überzeugung schrieben sie in den neu entstehenden Kirchenordnungen fest. Der Ertrag des Kirchenkampfes sollte " v e r k i r c h l i c h t " 6 5 werden. Die Verfassung der Vereinigten Evangelisch-Lutherischen Kirche Deutschlands (VELKD) betont im Artikel 2: "Die Vereinigte Kirche ... wahrt und fördert die im Kampf um das Bekenntnis geschenkte, auf der Bekenntnissynode von Barmen 1934 bezeugte Gemeinschaft. Die dort ausgesprochenen Verwerfungen bleiben in der Auslegung durch das lutherische Bekenntnis für ihr kirchliches Handeln m a ß g e b e n d ".66 Auch die "Grundordnung" der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD), die fünf Tage nach der Verfassung der VELKD am 13.7.1948 auf der Kirchenversammlung in Eisenach einstimmig angenommen wurde, bezeichnet die EKD mit Blick auf das Selbstverständnis von Barmen 1934 als eine "bekennende Kirche", die sich dazu verpflichtet weiß, "die Erkenntnisse des Kirchenkampfes über Wesen, Auftrag und Ordnung der Kirche zur Auswirkung zu bringen" (Art. 1,2). Wie aber sollte das im Rahmen einer volkskirchlichen Gemeindeorganisation und einer Gemeindearbeit, die konzeptionell nach wie vor von den Grundstrukturen der alten Gemeindepflege bestimmt war, überhaupt möglich sein? Wie sollte eine Volksmassenkirche gleichzeitig "bekennende Kirche" sein können, wo ihr doch die alten Machtinstrumente des landesherrlichen Kirchenregiments längst nicht mehr zur Verfügung standen und sie ihrerseits, dem Prinzip der Liebe Christi verpflichtet, auch keinerlei Gebrauch davon hätte machen wollen? Die EKD wollte 1948 auf der Ebene ihrer eigenen Grundordnung etwas anderes sein, als sie von ihrer volkskirchlichen Dimension her tatsächlich war. Kirchenleitungen mögen mit einem solchen Widerspruch leben können. Die gespaltene Identität aber zieht fatale Konsequenzen nach sich. Sie schlägt als Irritation und latente Verunsicherung bis auf die Ebene der Zielfindung und der Arbeitsformen der Kirchengemeinden durch. Sie stiftet Zielkonflikte, Unsicherheiten und Unfrieden. An welchem Leitbild sollten sich die Gemeinden 64

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In der programmatischen "Vereinbarung" des Bruderrats vom 15.5.1945 heißt es mit Blick auf die Rheinische Kirche: "Zur Wiederherstellung einer kirchlichen Ordnung und Leitung, die auf klarer Bekenntnis- und Rechtsgrundlage steht, ist eine ordnungsgemäße Provinzialsynode zu bilden, der die Aufgabe zufallt, der Evangelischen Kirche der Rheinprovinz eine erneuerte presbyterial-synodale Ordnung und eine eindeutig bekenntnisgebundene Leitung zu geben". - zit. nach J.Mehlhausen: Bekenntnis und Bekenntnisstand in der Evgl. Kirche im Rheinland, in: Monatshefte für die Evgl. Kirchengeschichte des Rheinlands 32/1983, S.139 J.Mehlhausen: Kirchenkampf, S.201 Ordnungen und Kundgebungen der Vereingten Evangelisch-Lutherischen Kirche Deutschlands, nach dem Stand vom 31.Dezember 1953 im Auftrag der Kirchenleitung hg.v. Lutherischen Kirchenamt Hannover, Berlin 1954, S.10; vgl. P.Fleisch: Das Werden der VELKD, in: ZEvKR 1/1951, S.15-55 H.Brunotte: Die Grundordnung der Evangelischen Kirche in Deutschland. Ihre Entstehung und ihre Probleme, Berlin 1954, S.319

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Π. 100 Jahre Reform

fortan orientieren, an den durch Kirchensteuereinzug genährten Erwartungen der volkskirchlich sozialisierten Mitglieder oder an der Vorgabe der Kirchenordnung, die die evangelische Kirche als eine "bekennende Kirche" ansah und damit ein sehr viel höheres Kohärenzniveau anvisierte? Man hatte übersehen, daß sich ein unter konkreten historischen Bedingungen gewachsenes und erprobtes Selbstverständnis nicht bruchlos in eine neue gesellschaftliche Situation hineinverpflanzen läßt. Bekenntnisse konservieren immer auch Elemente ihrer Entstehungsbedingungen. Was Emil Sülze über die reformatorischen Bekenntnisse sagte, gilt auch für das Barmer Bekenntnis. Es ist das Produkt einer nicht mehr wiederholbaren historischen Konstellation. Da diese Einsicht nicht berücksichtigt wurde, verpflichteten die Synodenbeschlüsse die deutschen Nachkriegsgemeinden darauf, beides gleichzeitig zu sein: Volkskirche und Bekenntnisgemeinschaft, oder besser: bekennende Volkskirche und volkskirchliche Bekenntnisgemeinschaft. Bis heute ist die Frage nicht beantwortet, wie so etwas ohne massive Eingriffe in die Mitgliedersubstanz organisatorisch umzusetzen ist. Die Versuchung, den Spagat zu wagen, scheint sich dennoch in den evangelischen Landeskirchen nahezu unausrottbar verankert zu haben. Noch 1986 hat Christian Möller geschrieben: "Wer die kirchenpolitische Szene unserer Tage kennt, der wird wissen, daß die Sehnsucht, endlich wieder eine "Bekennende Kirche" zu werden, gar nicht gering ist, weil man endlich wieder klare Fronten haben möchte und den volkskirchlichen Nebel, der über allem liegt, am liebsten mit einem Schlag wegblasen will".68 In derartigen Überzeugungen verbinden sich zwei Fehler: Zum einen kann vor dem Versuch, den "Nebel wegzublasen", nur eindringlich gewarnt werden. Wer immer ihn unternehmen würde, hätte anschließend festzustellen, daß es sich nicht um Nebel handelt, sondern um Mehltau, der hartnäckig und zäh auf jeder denkbaren und möglichen Form der ecclesia visibilis haftet. Zum anderen aber prolongiert eine derartige Einstellung das gespaltene Identitätsbewußtsein der Landeskirchen und vertagt die überfällige Entscheidung. Ernst Lange hat darauf bereits vor Jahren hingewiesen: "Die Institution kann solange keine Prioritäten setzen, wie sie sich über sich selbst, ihr Mandat, ihre Funktion in der Gesellschaft und die dieser Funktion angemessenen Strukturen nicht klar und vor allem intern nicht einig werden kann". In prophetischer Weitsicht fügte er hinzu: "Ein Konsensus der herkömmlichen Art, das heißt, ein Konsensus einheitlicher Lösungen, ist aber ... auf absehbare Zeit nicht zu erwarten ... Der Pfarrer wird also noch eine Weile auf klare Prioritäten warten müssen".69

b) Missionarische Verdichtung der Gemeinde Am 6.Mai 1958 verabschiedete die lutherische Generalsynode in Berlin-Spandau 22 Thesen zum Thema "Die missionierende Kirche". Die Thesen kombi-

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C.Möller: Gemeindeaufbau, S.130 E.Lange: Die Schwierigkeit, Pfarrer zu sein, in: Predigtstudien 1973/74, S.17 (14-33)

2. Die Spandauer Missionsthesen

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nieren das kirchliche Selbstverständnis mit einem aus nordamerikanischen Freiwilligkeitsgemeinden stammenden K o n z e p t . 70 Jedes Gemeindemitglied wird aufgefordert, sich mit seinen Gaben an den Aufgaben der Gemeinde zu beteiligen. Die volkskirchlichen Kirchengemeinden sollten durch eine engere Bindung an Schrift und Bekenntnis stärker verchristlicht werden. Ein dezidiert kirchliches Gemeindeleben sollte für alle evangelischen Christen verbindlich sein. Regelmäßige Gottesdienstteilnahme und aktiver Zeugendienst aller an allen wurden zum erklärten Ziel der Arbeit. "Das Leitbild ... ist die missionarisch ausgerichtete, in allen ihren Gliedern tätige, überschaubare und gegliederte Gemeinde ". 7 1 Die Thesen legen zunächst ein missionstheologisches Fundament: Die Kirche ist grundsätzlich dazu verpflichtet, "das Evangelium vom Reich allen Menschen zu bezeugen (These 1). Von daher hat die Kirche "nicht zu entscheiden, ob sie Mission treiben will" (These 2), sondern hat in Erfüllung ihres Auftrages lediglich darüber nachzudenken, wie sie es zu tun hat. Die Sendung der Kirche gilt "auch den getauften aber entfremdeten Gliedern der Gemeinde" (These 3), denn "die Kirche ist in die gefallene Welt gesandt. Deshalb ist sie bis zu ihrer Vollendung ständig bedroht vom Einbruch der Mächte der Verfuhrung, der Lauheit, der Sattheit und des geistlichen Todes" (These 4). "Träger der Volksmission ist die Gemeinde in der Gesamtheit ihrer tätigen Glieder" (These 14). Wie in allen Konzeptionen für die evangelische Gemeindearbeit, läßt sich auch hier ein charakteristisches Gemeindebild ausmachen, dessen Implikationen bereits den Lösungsansatz und den Lösungsweg Vorzeichen. In diesem Fall wird die Kirchengemeinde unter Verwendung von Hilberts Raummetaphern beschrieben. Es gibt eine "Kerngemeinde", und es gibt "Randsiedler", deren quantitativer Umfang nicht näher bestimmt wird. Durch die volksmissionarische Arbeit sind nun "die lauen toten Glieder zu erwecken" und "die Gemeinde Jesu Christi zum Dienst in der Welt zu ertüchtigen und dadurch zu erneuern" (These 5). Die "Entfremdeten" und die "Fernstehenden" sollen durch "bekenntnisgemäße" (These 9) volksmissionarische Verkündigung "in die Gemeinde zurückgeholt" (These 12) und "die neugewonnenen Menschen in der Gemeinde heimisch werden" (These 16). "Der Dienst der Volksmission gilt dem Menschen. Sein Ziel kann immer nur sein, die Menschen zum Glauben 70

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Bei dem "Stewardship"-Konzept handelte es sich ursprünglich um ein Konzept zur Beseitigung von Finanzproblemen, das dann aber auf alle Formen von "Gaben" der Gemeindemitglieder ausgedehnt wurde. Jedes einzelne Mitglied wurde aufgefordert, "für die Gemeinde eine Haltung planvoller, angemessener Hingabe von Zeit, Fähigkeiten und materiellen Gaben zu entfalten, weil es ja Gaben seien, die Gott dem Menschen anvertraut hat, damit er sie für andere gebrauche." - C.Möller: Lehre I, S.224; C.Mau: Stewardship Haushalterschaft, in: Sammlung und Sendung, FS für H.Rendtorff zum 70.Geb., Berlin 1958, S.290-299; R.Schloz: Art.: Kirchenreform, in: TRE 19, Berlin u.ö. 1990, S.52 G.Knospe / H.Schnell (Hg.): Gemeindeaufbau, S.8; "Wenn die Kirche heute ihrem Auftrag gerecht werden soll, braucht die Ortsgemeinde ein neues Leitbild". - ebd.; Den Begriff "Leitbild" verwenden auch ROSTA (s.u.); EKD (Hg.): Christsein, S. 123-125; H. Lindner: Kirche am Ort. Eine Gemeindetheorie, Stuttgart u.ö. 1994, S. 117-138 u.ö.

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Π. 100 Jahre Reform

und zum Handeln aus Glauben zu führen" (These 5). Der Begriff "Volksmission" ist in den Thesen sehr weit gefaßt. Er beschränkt sich nicht auf die missionarische Arbeit in Evangelisationsveranstaltungen. Vielmehr wird betont: "Alle kirchliche Verkündigung kann Volksmission sein". Besonders die Formen direkter zwischenmenschlicher Kommunikation sind geeignet. "Gesprächsführung von Mensch zu Mensch und in Gruppen ist nötig; denn viele Entfremdete öffnen sich der Botschaft der Kirche erst dann, wenn auch sie zu Wort kommen" (These 10). Die Aufgaben zwischen Pfarrer und Gemeinde sollen neu verteilt werden: "Der uferlos gewordene Dienst des Pfarrers bedarf wieder klarer Akzentsetzung" (These 17). Nicht nur der Amtsträger, alle Gemeindemitglieder sind zur missionarischen Arbeit gerufen. "Die Kirche kann das Glaubensleben ihrer Glieder nur soweit erhalten, als diese bereit sind, es im Zeugnis weiterzutragen" (These 4). "Jeder, der in seiner Verkündigung Entfremdete erreicht, wirkt und redet volksmissionarisch" (These 9). "Indem das Gemeindeglied verantwortlich in der Gemeinde mitarbeitet und die ihm von Gott verliehenen Gaben in den Dienst des Aufbaus der Gemeinde stellt (Haushalterschaft), bewährt es das Priestertum aller Gläubigen" (These 17). "Alle Gemeindekreise und -vereine müssen von Selbstbeschränkung und Selbstgenügsamkeit befreit und in den volksmissionarischen Dienst an den Kirchenfernen einbezogen werden". Gleichzeitig sind flankierende Strukturberichtigungen durch die Kirchenleitungen vorzunehmen. "Da in den Massengemeinden Übersichtlichkeit und Zusammengehörigkeitsgefühl fehlen, sind Grundsätze für Aufbau und Umfang neuer Gemeinden aufzustellen" (These 18)72 c) Die Handreichungen zu den Thesen Diese Spandauer Thesen wurden zur Diskussion in die Gemeinden gegeben und 1962 bzw. 1965 durch zwei "Handreichungen zu den Spandauer Thesen" mit den Titeln "Missionarischer Gemeindeaufbau" und "Die offene Gemeinde" ergänzt und inhaltlich p r ä z i s i e r t . D i e beiden Handreichungen verfolgten das Ziel, praktikable Vorschläge für die konkrete Umsetzung der Thesen in die evangelische Gemeindearbeit vorzulegen. Man wollte die volkskirchliche Größenordnung und die gewachsene Doppelstruktur von Kirchturm und Gemeinde72

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Die restlichen Thesen gehen über den Rahmen der Kirchengemeinde hinaus. Sie behandeln die Notwendigkeit saisonaler und akzidentieller Begleitung von Gemeindemitgliedem, die übergemeindliche Volksmission, die Aufgaben der Werke, landeskirchlichen Ämter und Akademien, die Notwendigkeit flankierender empirischer Datenerhebung. Die Thesen schließen mit 1 Kor 15,58: "Darum, meine lieben Brüder, seid fest, unbeweglich und nehmet immer zu in dem Werk des Herrn, weil ihr wisset, daß eure Arbeit nicht vergeblich ist in dem Herrn". Vers 58a überrascht, denn die Synode wollte doch die Gemeinden mit ihren Thesen gerade zu mehr Beweglichkeit ermuntern - eine Fehlleistung aufgrund tieferer Einsicht? Hg.v. G.Knospe und H.Schnell als Heft 1 und Heft 8 der Publikationsreihe "Misssionierende Gemeinde"

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haus(leben) nicht beseitigen. Wohl aber sollte das gesamte volkskirchliche Christentum spürbarer in den Dienst der missionarischen Aufgabe gestellt werden. Drei Themenkreise werden im folgenden kurz referiert: Die Gottesdienstkultur (1.), die Selbstgenügsamkeit des Gemeindehauslebens (2.) und die Laienaktivität (3.). 1. "Der Gottesdienst ist die Mitte des Gemeindelebens" (S.16). Von dieser Überzeugung her entwickelte Band I der Handreichungen detaillierte Vorschläge und ging dabei weit über die bestehende Form des sonntäglichen Hauptgottesdienstes hinaus. "Der Hauptgottesdienst am Sonntagmorgen ist nicht die einzig mögliche Form des Gemeindegottesdienstes. Er muß in eine Fülle anderer Gottesdienste ausstrahlen. Weitere Gottesdienstzeiten sind nötig" (S.10). Nicht nur zur üblichen Sonntagszeit, auch schon frühmorgens, am späteren Vormittag "für solche, die ausschlafen wollen", oder am Abend sollten Gottesdienste stattfinden. An Wochentagen "z.B. am Tage des Wochenmarktes um 9.00 Uhr für Hausfrauen" (S.10). Neue Gottesdienstformen hätten das bekannte Spektrum zu ergänzen: "Der Hauptgottesdienst wird in einer strengen, geprägten Form gehalten. Die Gemeinde sollte es sich aber nicht ersparen, andere Gottesdienstformen zu suchen, zu denen der gottesdienst-entfremdete Mensch leichter Zugang findet ... Die Kirche hat die Verheißung zu bleiben. Von Gottesdienstformen gilt das nicht. Bei alten und neuen Formen soll sich die Gemeinde fragen, ob sie damit ihren Auftrag erfüllt, den Weg des Evangeliums in die Welt zu bereiten" (S.lOf). Vorgeschlagen werden stille Andachten und Meditationen (S.56f), Waldgottesdienste, Familiengottesdienste, besonders gestaltete Gottesdienste mit frei gewählten Elementen, Dokumenten und Medien, Dialog- und Diskussionsgottesdienste (S.ll) und die Entwicklung einer ausgeprägten Andachtskultur (S.57). Die Autoren der Spandauer Thesen hatten erkannt, daß der Gottesdienst nur dann zur "Mitte der Gemeinde" werden kann, wenn man die liturgischen Freiheiten und die liturgische Flexibilität deutlich ausweitet. Der Gottesdienst war ja faktisch in den 50er Jahren gerade nicht das Zentrum der Gemeinde. Zentrum war das Gemeindehaus. Das sichtbare Gemeindeleben spielte sich im Gemeindehaus ab und nicht in der Kirche. Die Gemeindekreise waren häufig noch als Vereine (mit eigener Kasse) organisiert und mit der geselligeren und selbstbezogeneren Form des "Gemeindehauschristentums" wohl durchaus zufrieden. Das erklärt, warum nun in These 18 explizit und nachdrücklich betont werden mußte, daß der Gottesdienst (nicht aber das Gemeindehaus) die Mitte des Gemeindelebens ist. Die Verhältnisse hatten sich längst schon anders entwickelt. Schon Sülze hatte die Gottesdienstteilnehmer als mehr oder weniger isolierte Besucher bezeichnet, die nicht mehr miteinander gemeinsam hätten, als die Kirchensteuerverpflichtung. Insofern war es dringend erforderlich, den Gottesdienst erst einmal zu dem zu machen, was er nach Maßgabe des Konzeptes bereits sein sollte: die Mitte des Gem&mádebens. Die Autoren der Handreichung haben dafür richtungweisende Vorschläge ausgearbeitet.

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2. Die Selbstgenügsamkeit des Gemeindehauslebens aufbrechen: Das Gemeindehausleben sollte sich konzeptionell vom bloßen Additivum zum Zentrum und zur Drehscheibe der Gemeindearbeit weiterentwickeln. "Die Gemeinde muß Möglichkeiten schaffen, Menschen, die der Gemeinde noch mit Vorbehalten gegenüberstehen, aufzunehmen. Sie sollen merken, daß die Gemeinde Heimat gibt, daß ihre Lebensfragen - mögen sie noch so weltlich diesseitig sein - ernstgenommen werden und daß sie Hilfe zu einer Einübung im Glauben finden" (S.ll). Um dieses Ziel zu erreichen, sind verstärkte pädagogische und sozialisatorische Anstrengungen nötig. "In der Gemeinde muß Lehre und Information vermittelt werden ... Die Gemeinde muß zur Einübung im Glauben helfen ... In den Gemeindegruppen muß Lebenshilfe gegeben werden" (S.12). Durchweg gilt es, die unmündigen und in Glaubens- wie Lebensfragen unerfahrenen (!) Gemeindemitglieder auf den rechten Weg zu bringen. Die "Gemeinde" im allgemeinen und die Pfarrerschaft im besonderen sind aufgefordert, den "Entfremdeten" mit Kompetenz und Autorität hilfreich führend und wegweisend zur Seite zu stehen. "Die Gliederung der Gemeinde muß zu Gemeinschaften im überschaubaren Kreis führen" (S.17). Allerdings gilt es, die Schwächen und Mängel der bereits bestehenden Gruppen zu beseitigen und das gesamte Gruppen- und Vereinsleben dem missionarischen Ziel unterzuordnen: "Die Gemeindegruppen müssen zu allen hin offen sein, die zur Gemeinde gehören. Nicht gesellige, geistige und geistliche Selbstversorgung, sondern nur die missionarische Ausrichtung der Arbeit rechtfertigt die Existenz der Gruppen und Kreise" (S.17). Eine "lebendige Gemeinde" ist angestrebt. Um dieses Ziel zu verwirklichen, soll die Gemeindeleitung entschlußfreudig neuen Gruppen Raum geben, "unter Umständen auch alte, steril gewordene Kreise abbauen" (S.17) und die Geselligkeit fördern (S.46f). Die naturständische Gliederung des Gemeindelebens ist ergänzungsbedürftig. "Send- und Dienstgruppen" sollen gebildet werden. "Jede Gemeinde benötigt Gruppen für missionarische und diakonische Aufgaben" (S.17).74 Mehrere Helferkreise und ein Fürbittenkreis werden benötigt, um ein kommunikatives, diakonisches und seelsorgerliches Netz über der Parochie auszuwerfen (S.18). Der Pfarrer ist verpflichtet, regelmäßig Hausbesuche zu machen und jedes Gemeindemitglied mindestens alle zwei Jahre zu besuchen (S.18). Ergänzend soll ein Besuchsdienstkreis tätig werden. Sulzes Vorschläge kommen damit erneut zu Ehren. 3. Das Laienelement stärken, Pfarrerüberlastung reduzieren: Das alles sollte freilich geleistet werden, ohne den Pfarrern noch mehr Arbeit aufzuladen: "Diese Handreichung will dem Gemeindepfarrer nicht noch mehr Arbeit aufbürden, als er sowieso schon hat" (S.8). Die Handreichung stellt sich dem Problem der Pfarrerüberlastung und verwendet viel Raum darauf, konkrete Vorschläge vorzulegen und zu erläutern. Das Schlüsselwort zur Entlastung der 74

Auch diese Forderung ist bis heute aktuell geblieben. Zuletzt u.a. wieder in Christsein gestalten, S.88 u.ö. und H.Lindner: Kirche, S.100, 218 u.ö.

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Pfarrerschaft heißt "Laienaktivität", biblisch begründet durch das Bild vom Leib und den Gliedern: "Nicht der Pfarrer, sondern Christus ist das Haupt der Gemeinde. In der Öffentlichkeit, aber auch in der Gemeinde wird die Kirche weithin mit dem Pfarrer identifiziert. Dieses Mißverständnis kann nur dort überwunden werden, wo sich Gemeinde als der Leib Christi versteht, als ein lebendiger Organismus, dem Christus eine Fülle von Gaben schenkt und dessen Glieder er in mannigfaltigen Diensten gebraucht, um sein Werk zu tun" (S.24). Im Sinne dieser Metapher wird der Laie als "Missionar des 20.Jahrhunderts" (S.20-23) angesehen und ausführlich vorgestellt. Jeder ist an seinem Ort zum Zeugendienst berufen und verpflichtet. Laien sind "Repräsentanten der Kirche in der Welt". Sie sind aber auch "Repräsentanten der Welt in der Kirche". Sie können und sollen die Kirchengemeinden "vor Milieuverengung und falschem Traditionalismus" (S.20) bewahren und auf den "Lebensstil der Gemeinde" Einfluß nehmen (S.20). Unter der Überschrift "Alte und neue Möglichkeiten für die Mitarbeit von Laien in der Gemeinde" (S.29-33) werden nicht weniger als 80 Aufgaben und Tätigkeiten aufgezählt, die von Laien in der Kirchengemeinde und für die Kirchengemeinde ausgeführt werden können. Ein weiteres Kapitel trägt die Überschrift "Was der Pfarrer an Gemeindeglieder abgeben kann" (S.24-28). Hier wird u.a. vorgeschlagen, die Leitung sämtlicher Gruppen und Kreise in die Hand von Gemeindemitgliedern zu legen und "den Pfarrer von Verwaltungsaufgaben zu entlasten. Es kann nicht verantwortet werden, daß der Pfarrer zahlreiche Kassen selber führt, Abrechnungen fertigt, Steuerfragen klärt, Grundstücke verwaltet ... Reparaturen und Bauten vorbereitet und durchführt, Finanzierungen sicherstellt und unzählige technische Einzelfragen selbst regelt" (S.28). Allein vom Umfang der Ausführungen her kann kein Zweifel daran bestehen, daß die Handreichungen ernsthaft bemüht sind, das Problem der Pfarrerüberlastung gründlich anzugehen, um für Abhilfe zu sorgen.

d) Unstimmigkeiten der Konzeption Mit der Vorstellung, man könne ein komplexes Sozialsystem wie eine evangelische Landeskirche mit volksmissionarischen Methoden verdichten, gingen die Spandauer dem gespaltenen Selbstbewußtsein der deutschen Nachkriegskirchen auf den Leim. Die Kirchen, die theologisch etwas anders sein wollten als sie organisatorisch waren, verfielen auf unrealistische Zielvorgaben für die parochiale Gemeindearbeit. Dieses Dilemma wirft einen langen Schatten auf die gesamte Thesenreihe und erklärt die offenkundigen Ungereimtheiten, die zahlreichen Halbherzigkeiten und Perspektivbrüche des vorgelegten Innovationskonzeptes. Vier Aspekte werden dargestellt: Die vorsätzliche Vernachlässigung der Gemeindemitglieder (1.), der überdehnte Missionsbegriff (2.), die Anatomie der Kirchentreuen (3.), die diffuse Begrifflichkeit (4.). 1. Die vorsätzliche Vernachlässigung der Gemeindemitglieder: Mit großer Selbstverständlichkeit wird den Gemeindemitgliedern der "schwarze Peter" zugeschoben. Die Kirche, so lautete die stillschweigend vorausgesetzte Diagnose,

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leidet nicht unter dem Widerspruch zwischen ihrem ekklesiologischen Selbstverständnis und ihrer volkskirchlichen Größenordnung. Sie leidet nur begrenzt unter ihrer autoritären Vergangenheit und den niederschmetternden, aber durchaus auch hausgemachten Resultaten der religiösen Sozialisation in Massenkirchengemeinden. Sie leidet vor allem unter den Mitgliedern, die nicht so sein wollen, wie die Kirche sie gern hätte. Diese einseitig (pastoral) verzerrte Situationswahrnehmung legte eine einseitig verzerrte Lösungsstrategie nahe: die Mitglieder sollen durch eine missionarische Initiative wieder zurückgewonnen und in das "Gemeindeleben" reintegriert werden. Die Mitglieder selbst aber wurden nicht gefragt, ob sie denn überhaupt der Meinung sind, der Gemeinde "entfremdet" zu sein. Hätte man sie gefragt, dann hätte man schon damals die Antwort bekommen, daß die Kirchenmitglieder sich durchaus nicht als mängelbehafteter Randsiedler ansahen. Das Profil ihrer Kirchlichkeit war ja seit vielen Jahrzehnten völlig unverändert geblieben. Verändert hatte sich lediglich die Beurteilungsperspektive der Kirchenleitungen. Die Spandauer Thesen haben das ignoriert, denn ihre Meßlatte war sehr viel höher angelegt. Sie entsprang einer unglücklichen Synthese aus biographisch verankerten Erfahrungen, freikirchlichen Idealen, unreflektierter Verallgemeinerung berufsspezifischen Frömmigkeitsverhaltens (Betriebsblindheit) und der hartnäckigen Überlebensfähigkeit längst obsolet gewordener Normvorstellungen aus der Frühzeit des landesherrlichen Kirchenregiments (als sich Gemeindemitglieder noch zu besonderen Anlässen vollständig zu versammeln hatten). So gab man sich der irrigen Ansicht hin, eine Volkskirche könne noch in den 50er Jahren unseres Jahrhunderts von all ihren Mitgliedern ein Teilnahme- und Mitgliedschaftsverhalten erwarten, das an den Normen einer bekennenden, missionarisch aktiven Gemeinschaft orientiert war. Die Synode, die Kirchenleitungen und Teile der Pfarrerschaft hatten sich von ihren Mitgliedern verabschiedet und waren auf der Suche nach einem neuen, einem anderen Kirchenvolk. Joachim Matthes hat den evangelischen Kirchen in seiner 1964 erschienenen Publikation "Die Emigration der Kirche aus der Gesellschaft" vorgeworfen, ihre Selbstwahrnehmung sei milieuverengt. Sie seien nicht mehr in der Lage, die tatsächlichen gesellschaftlichen und volkskirchlichen Gegebenheiten unvoreingenommen zu erkennen. Die volkskirchliche Organisation ist ein soziales System, in dem ein weites Spektrum von Partizipationsformen möglich und sinnvoll ist. Matthes kam von dieser Ansicht her zu einer völlig anderen Beurteilung des Phänomens der "distanzierten" Kirchlichkeit: "Ist nicht diese distanzierte Kirchlichkeit unter spezifischen sozialen Bedingungen eine durchaus sachentsprechende Form der Kirchlichkeit,

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In einer Umfrage aus dem Jahr 1956 (unter Gemeindemitgliedern in einem Stadtteil Hamburgs) hat Reinhard Köster belegen können, daß sich auch die Gemeindemitglieder, die ihre Mitgliedschaft in den traditionellen Formen der anlaßbezogenen Teilnahme leben, nicht "für unchristlich oder ungläubig halten". - Die Kirchentreuen, S.72

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die als solche keineswegs dazu berechtigt, bereits von Entkirchlichung zu sprechen? "76 Ist es nicht die eingetrübte Wahrnehmungsperspektive der Theologen, die zu verfehlten Lösungsvorschlägen führt? "So lange der soziale Funktionswandel der Kirchengemeinde ohne weiteres als Verlust interpretiert wird, so lange die soziale Differenzierung der Kirchlichkeit als gesellschaftliche Emigration der Kirche gedeutet wird ... so lange muß auch der immer nur partiell institutionalisierbaren Volkskirche ihr wahrer volkskirchlicher Bestand verborgen bleiben". Π Dieser treffenden Deutung ist bis heute nichts hinzuzufügen. Von seiner positiven Würdigung des differenzierten Mitgliedschaftsverhaltens her konnte Matthes auch bereits das gesamte kirchliche Vorhaben kritisieren: "Der positive Aspekt, den diese 'distanzierte Kirchlichkeit' an sich hat, wird immer wieder verkannt. Stattdessen werden alle Energien auf den untauglichen Versuch konzentriert, Rollen der Kirchlichkeit einzurichten und zu aktivieren ... Man verengt die Definition der Kirchlichkeit immer mehr ... Der als unkirchlich definierte Bereich wird dementsprechend immer umfänglicher" (S.38). Es kam seiner Meinung nach "nicht darauf an, aus gewissen Funktionsverlusten der Kirchengemeinde unvermittelt strukturelle Konsequenzen zu ziehen und etwa das juristisch-organisatorische Prinzip der Volkskirche zugunsten eines Prinzips der freiwilligen Minoritätskirche aufzugeben" (S.42). Wohl aber sah er die Notwendigkeit, den gesellschaftlichen Wandel durch eine "Vertiefung und Differenzierung des seelsorgerlichen Handelns" (S.40) zu begleiten. Auch diese Forderung hat nach wie vor ihre Berechtigung behalten. 2. Der überdehnte Missionsbegriff: Mit ihrer volksmissionarischen Zielsetzung knüpfen die Thesen überraschenderweise bruchlos an die Diskussion zu Beginn des 20.Jahrhunderts an, als hätten die langjährigen Erfahrungen (vgl. schon die Beurteilung von Jakob Schoell) und die unübersehbaren Mißerfolge der volksmissionarischen Bemühungen noch nicht ausgereicht, um die faktische Wirkungslosigkeit dieser Konzeption unter großkirchlichen Organisationsbedingungen zu erweisen. Erneut wiederholten sich die längst bekannten Aporien der volksmissionarischen Ansätze. Getaufte und regelmäßig zur Steuer veranlagte Vollmitglieder der Kirche werden als Quasi-Mitglieder angesehen, als "Entfremdete" und "laue, tote Glieder" (These 5) bezeichnet. Wer aber kann die "lauen" oder sogar die "toten" Glieder von den "tätigen" Gliedern unterscheiden? Wer also soll das Unkraut vom Weizen trennen? Die hohe mehrdimensionale Komplexität in einer evangelischen Landeskirche ließ eine konsequente Umsetzung der Misisonsforderung überhaupt nicht zu. Das ist auch schon den Autoren der Thesen und der Handreichungen bewußt gewesen. So kann es nicht verwundern, daß das Missionsverständnis stark überdehnt werden mußte, um für volkskirchliche Verhältnisse passend gemacht zu werden.

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J.Matthes: Emigration, S.40 J.Matthes: Emigration, S.42

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Die Thesen behaupten, der gesamten Gemeinde sei die Aufgabe der Volksmission gestellt. Ihr wird gleichzeitig auch die Kompetenz (These 9) zur Volksmission zugesprochen. Das "Priestertum aller Gläubigen" sollte zur Wirkung kommen. Die tätigen Glieder im Leib Christi sollen aktiviert werden, "indem das Gemeindeglied verantwortlich in der Gemeinde mitarbeitet und die ihm von Gott verliehenen Gaben in den Dienst des Aufbaus der Gemeinde stellt" (These 17). Exegetisch betrachtet, hat der Blick in die Bibel an diesem Punkt das Realitätsbewußtsein getrübt. Der erste Korintherbrief wurde ja gerade geschrieben, weil das Harmonieprogramm der Leib-Metapher schon in dieser kleinen Gemeinde nicht funktionierte. Zur Restrukturierung einer sozialen Großorganisation mit volkskirchlichen Komplexitätsbedingungen aber ist es schlicht unrealistisch. W o alle jederzeit in gleicher Weise zuständig und gefordert sind, da ist erfahrungsgemäß niemand mehr für irgendetwas zuständig. Vielleicht wird die Missionsverpflichtung aus diesem Grund an anderer Stelle wieder von den Schultern der Allgemeinheit abgenommen und wenigen Gemeindemitgliedern auferlegt, die den Ehrentitel "tätige Glieder" erhalten. Damit taucht aber die theologisch hochproblematische - Zwei-Klassen-Mitgliedschaft in der Kirche konzeptionell wieder auf, die schon zu Beginn des Jahrhunderts umstritten war. Ahnlich verhält es sich mit der Forderung, die an das Gemeindehauschristentum gerichtet wird. Die Thesen fordern: Die Gemeindekreise und Vereine "müssen von Selbstbeschränkung und Selbstgenügsamkeit befreit" und missionarisch ausgerichtet werden (These 18). Wer aber soll das tun und wie soll das möglich sein? W o gruppendynamische Eigengesetzlichkeiten ignoriert werden, ist Mißerfolg vorprogrammiert. Der Missionsbegriff wird nicht nur überdehnt, er wird auch konzeptionell bis zur Unkenntlichkeit verwässert. Allen Kirchengemeinden werden Ratschläge gegeben, wie sie der volksmissionarischen Verpflichtung nachkommen können. Betrachtet man die Ratschläge näher, dann fallt auf, daß sie zum überwiegenden Teil lediglich eine inhaltliche Verbesserung der Gemeindepflegewirklichkeit intendieren. Das ist bedenklich. Wenn alles, was innerhalb einer Kirchengemeinde geschieht, als "Mission" deklariert wird, wenn also beispielsweise das Kaffeetrinken im Anschluß an den Gottesdienst schon zur missionarischen Aktion wird, dann ist jede Volkskirchengemeinde längst schon eine missionarische Gemeinde, ganz gleich, wie sie arbeitet und was sie tut. Der Missionsbegriff wird dann sinnentleert. Es ist kein Zufall, daß es zu dieser Verwässerung des Missionsbegriffs kam. Sie wird durch die vorfindlichen Gegebenheiten geradezu erzwungen. Nur Anregungen aus dem Bereich der Gemeindepflege waren tatsächlich unter volkskirchlichen Bedingungen großflächig zu realisieren. Die semantische Entleerung des Missionsbegriffs hat Schule gemacht. Im Zuge der sogenannten "Kirchenreformbewegung" haben viele Kirchenleitungen in den 60er und 70er Jahren intensiv an der Neuordnung der Arbeits- und Strukturbedingungen in den Parochien gearbeitet. Richtungweisend waren etwa die Arbeit von Hugo Schnell über die "überschaubare Gemeinde" (s.u. 4.1)

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oder in der Rheinischen Kirche die "Vorschläge zur Neuordnung des kirchlichen Dienstes", die seit 1966 von einem "Raumordnungs- und Strukturausschuß" (ROSTA) erarbeitet worden waren. Konzeptionell handelte es sich bei beiden Publikationen eindeutig um Versuche, die traditionellen Formen der "Gemeindepflege" unter volkskirchlichen Rahmenbedingungen zu verbessern und zeitgemäß anzupassen. Gleichwohl glaubten beide, nicht auf das Etikett "missionarische Arbeit" verzichten zu dürfen. So erschien Schnells Publikation in zweiter Auflage als Heft 5 der Reihe "missionierende Gemeinde" hg.v. Ausschuß der VELKD für Fragen des G e m e i n d e l e b e n s ^ . Und das ROSTA-Papier, in dem nicht Hilberts, sondern eindeutig Schoells Gemeindeverständnis maßgeblich ist, betont im Vorwort, alle Vorschläge seien "von der Grunderkenntnis getragen, daß Mission die gesamte Gestalt der Kirche bestimmen muß"79 Der Missionsbegriff war und blieb verwässert. Er hatte seine programmatischen Konturen verloren. Daß die Landeskirchen eben keine missionarischen Großorganisationen waren, führte seit den 50er Jahren immer wieder zu einem Gegenschlag des Pendels. Jederzeit konnte man auf das Vakuum im Bereich einer programmatischen und zielgerichteten Mission hinweisen und sich damit zum nagenden Gewissen in den prosperierenden Landeskirchen entwickeln. Konzeptionelle Klarheit tat Not, aber diese Klarheit wurde nicht geschaffen. 3. Die Anatomie der Kirchentreuen: Reinhard Köster hat in seiner Studie über die "Kirchentreuen" eindeutige Hinweise darauf gefunden, daß die Gruppe der "Kirchentreuen", die konzeptionell schon bei Gerhard Hilbert zu Hoffnungsträgern des missionarischen Gemeindeaufbaus avanciert war, für diese Aufgabe überhaupt nicht geeignet ist. 80 "Es ist bekannt, daß die Gruppe der Kirchentreuen gegenüber der Gruppe der Minimalerfüller eine Minderheit darstellt. Man bezeichnet sie gerne als Kerngemeinde. Es scheint mir jedoch fraglich, ob dieser Ausdruck glücklich ist. Er führt zu der Vorstellung, daß es sich um eine Gruppe mit starkem Innenkontakt handelt. Schon die flüchtige Beobachtung zeigt, daß diese Vorstellung nicht zutreffend ist" (S.4). Als "kirchentreu" galten in Kösters Untersuchung Gemeindemitglieder, die mindestens einmal monatlich den Gottesdienst besuchten. Aufgrund dieses Kriteriums ermittelte er drei verschiedene Typen von Gottesdienstbesuchern: solche, die gelegentlich, aber keineswegs immer den Gottesdienst besuchten, solche, die nur dann den Gottesdienst besuchten, wenn "ihr" Pastor predigte, und solche, die nahezu jeden 78 79 80

Hamburg u.ö. 2 1965 ROSTA (Hg.): Vorschläge zur Neuordnung des kirchlichen Dienstes in den Gemeinden, o.O. [Düsseldorf] 1971, S.2 Vgl. auch T.Rendtorff: Die Kerngemeinde im Verständnis des Gemeindepfarrers, in: D.Goldschmidt u.a. (Hg.): Soziologie der Kirchengemeinde, Stuttgart 1960, S. 153-162. Rendtorff zitiert dort einen Pfarer mit den Worten: "Wenn man missionarisch tätig sein will, dann beschweren sich die Treuen, weil sie zu kurz kommen" (S.159) und weist auf die strukturelle Spannung hin: "Der Pfarrer ... kann sich zur Verwirklichung seiner Aufgabe nur bedingt auf die treuen Glieder der Gemeinde stützen, sieht sich aber doch auf die Kerngemeinde angewiesen, weil es nur in diesem Kreis zu kontinuierlicher Teilnahme am kirchlichen Leben im engeren Sinn kommt" (S.160).

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Sonntag am Gottesdienst teilnahmen. In den drei Gruppen zeigten sich deutliche Motivationsunterschiede (S.74). Tendenziell ließen sich auch drei verschiedenartige Kirchenverständnisse nachweisen. Es gab eine Gruppe, die die Kirche als ein moralisches Institut verstand, das die allgemeingültigen, überzeitlichen und in der religiösen Autorität begründeten Normen vertrat. Diesen Normen hatte man sich grundsätzlich unterzuordnen und folglich einen konsequent "ordentlichen Lebenswandel" im Sinne der traditionell bürgerlichen Moralvorstellungen zu fuhren (S.76-78). Eine zweite Gruppe verstand die Kirche als eine Gesinnungsgemeinschaft. "Die Kirche als Gesinnungsgemeinschaft ist nicht die bestehende Institution, sondern etwas, das durch besondere Anstrengungen erst hergestellt werden muß. Ihr Fundament soll ja nichts anderes sein als die Übereinstimmung in der Gesinnung. In dieser Übereinstimmung soll sich Lebensgemeinschaft darstellen" (S.79). Man könnte geneigt sein, in dieser Gruppe mögliche Mitarbeiter für die missionarische Initiative in den Parochien zu sehen, wird jedoch durch die weiteren Ergebnisse Kösters enttäuscht. Es zeigt sich, daß diese Gruppe die weitaus besten Kenntnisse der Sekten und Freikirchen aufweist. "Die volkskirchliche Tradition wird äußerst kritisch betrachtet ... Oft wird dafür plädiert, volkskirchliche Elemente abzustoßen und die reine Form der freiwilligen Gesinnungsgemeinschaft herzustellen" (S.80). Auch hier zeigt sich also wieder die Affinität von Missionsorientierung und freikirchlichem Milieu. In den Dienst der Volkskirche, die bewußt auch Volkskirche bleiben will, ist diese Teilgruppe der "Kirchentreuen" nur sehr bedingt zu stellen. Die dritte Teilgruppe zeigte sogar ausgepägt antimissionarische Überzeugungen. Eine dezidiert undogmatische Gläubigkeit wurde gepflegt. "Eine inhaltlich artikulierte Überzeugung ruft unter Umständen geradezu Unbehagen hervor" (S.83). Charakteristische Aussagen sind: "Ich hasse diese großen Worte"; "Menschenworte sind leer, auch wenn sie gut gemeint sind"; "Ein Christ läßt jeden in Ruhe, ist nicht stur und engherzig dem anderen gegenüber". Statt eines missionarischen Ehrgeizes ermittelte Köster ein ausgeprägtes Bedürfnis nach feierlicher Erbauung, nach Geselligkeit und nach Anerkennung insbesondere durch die Pfarrerin oder den Pfarrer. Diese nach pastoralen Maßstäben eher "sekundären" Motivationen führten auch die Angehörigen dieser Gruppe zu regelmäßiger Gottesdienstteilnahme und machten sie damit zu "Kirchentreuen" im Sinne der Definition. Köster war Soziologe und bewertete das Verhalten der "Kirchentreuen" unbekümmert und frei von theologischen Bedenken als "abweichende Kirchlichkeit" (S.4). Die große Mehrheit der evangelischen Gemeindemitglieder zeigte ein anderes Mitgliedschafts verhalten und schuf damit den gültigen Standard. Von daher stellte sich Köster die Frage, warum denn die Kirchentreuen überhaupt ein "abweichendes" Mitgliedschaftsverhalten an den Tag legen: "Die Gruppe der Kirchentreuen zeigt eine Reihe von Besonderheiten hinsichtlich der sozialen Daten: die höheren Altersstufen, die Frauen und Witwen überwiegen, ein verhältnismäßig großer Anteil ist in der beruflichen Stellung des Beamten tätig gewesen, nicht nur von den kir-

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chentreuen Männern, sondern auch von den Ehemännern der kirchentreuen Frauen. Nur wenige Arbeiter sind unter den Kirchentreuen. Diese Besonderheiten sind Ausdruck bestimmter sozialer Bedürfnisse, die bei der Entstehung und Motivation des kirchentreuen Verhaltens eine Rolle spielen dürften. ... einmal gehört zu ihnen das tatsächliche oder vermeintliche Fehlen von Chancen der Selbstbestätigung nach den Maßstäben der gegenwärtigen Gesellschaft, zum anderen die Besinnung auf vergangenes Ansehen. Die Kirche gibt die Möglichkeit einer Selbstbestätigung unabhängig von den Maßstäben der gegenwärtigen Gesellschaft" (S.107f). Auch von daher wurde klar, daß "die Kerngemeinde" keineswegs als Speerspitze einer misionarischen Großoffensive angesehen werden durfte. Für das Konzept der Spandauer Thesen bedeutete das, daß die Leute, auf die man gebaut hatte, um die missionarische Lawine in Gang zu setzen, überhaupt nicht vorhanden waren. Man hatte ein Luftschloß ersonnen. Köster hat das erkannt und die Kirchen davor gewarnt, ihre maßgeblichen Systemnormen zu verschärfen: "Der Weg, der mit der Forcierung dieser Normen im Raum der Ortskirchengemeinde beschritten wird, geht in Richtung auf die Isolierung einer kleinen Gruppe" (S. 108). 4. Die diffuse Begrifflichkeit: Eine oszillierende und diffuse Begrifflichkeit, die sich keineswegs nur auf Randbereiche der Terminologie erstreckt, sondern auch Grundbegriffe betrifft, erschüttert die Verständlichkeit der Thesen. Selbst der Begriff "Gemeinde", mit dessen semantischer Präzision die Nachvollziehbarkeit des gesamten Konzepts steht und fällt, verharrt in schillernder Mehrdeutigkeit. Wer und was ist gemeint, wenn es heißt: "Die Gemeinde muß zur Einübung im Glauben helfen"? (S.12) Bezeichnet der Begriff zuerst und vor allem die Dienstpflichten der Pfarrerschaft, etwa im Sinne von Dienstanweisungsvorschriften? Verpflichtet er den kleinen Kreis der "tätigen Glieder" zu missionarischem Zeugnis? Bezeichnet er das Kirchenvolk in seiner Gesamtheit, das als sozialisierendes Gesamtmilieu zu wirken hat? Ahnlich verhält es sich mit anderem Grundbegriffen wie "Glauben", "Gemeindeglied", "Gemeindeleben" oder "lebendige Gemeinde". Keiner der Begriffe versteht sich von selbst. Aber keiner von ihnen wird eindeutig präzisiert. Sie alle sind semantisch nebulös. Damit aber stellt sich eine schwerwiegende Frage: Konnte man denn tatsächlich voraussetzen, daß alle Leser die korrekte bekenntniskirchliche Bedeutung der Begriffe mit ihrer subtilen Konnotation eines Mehrklassenchristentums schon richtig verstehen würden, oder wurden die Unklarheiten in Kauf genommen, aus Furcht vor der decouvrierenden Wirkung der Konkretion? Diese mangelnde Präzision im Wesentlichen läßt sich seit den 50er Jahren in vielen Publikationen über die Gemeindearbeit nachweisen. "Die Gemeinde hat die Aufgabe ...", "Eine Gemeinde weiß sich ... gerufen", "Wo Gemeinde 81

So auch J.Matthes: Religionssoziologie I, S.79, der von einer "ghettoisierten Religion" spricht.

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wirklich Gemeinde ist, da ..." Wer sich mit der Literatur über die Gemeindearbeit beschäftigt, der stellt schnell fest, daß der Kirchengemeinde geradezu uferlose Verpflichtungen übertragen werden. Demgegenüber muß die tatsächliche Gemeindepraxis geradezu erbärmlich anmuten. Es wäre viel gewonnen, wenn der Satz "Die Gemeinde hat die Aufgabe ..." in der Literatur häufiger durch präzise Angaben wie "Das Presbyterium hat die Aufgabe ..." oder "Die Pfarrerin hat die Aufgabe ..." ersetzt würde. Die changierende Begrifflichkeit hat Konsequenzen. Sie belastet die Kommunikationsfähigkeit zwischen theologisch und nichttheologisch ausgebildeten Gemeindemitgliedern. Beide haben nicht selten schon in fundamentalen Begriffen keine gemeinsame Verständigungsbasis mehr. Woher sollen Gemeindemitglieder denn wissen, was Theologen wirklich meinen, wenn sie Worte wie "Gemeinde", "Kirchentreue" oder "Gemeindeleben" benutzen? Wie sollen sie verstehen, daß in den Aussagen der Theologen subtile Differenzaspekte und qualifizierte Unterscheidungen, ja bisweilen sogar Zurückweisungen mitschwingen? Sie können nicht ahnen, daß sich die Begriffsverwendung unter der Hand an bekenntnisgemeindlichen Leitbildern und Deutungskategorien orientiert, die mit volkskirchlichen Gegebenheiten häufig nur in selektiver oder metaphorischer Weise kompatibel sind (s.u. Kap.V 4.2e). e) Beurteilung: Die evangelischen Kirchen auf dem Weg in eine selbstgewählte Isolation Rückblickend läßt sich erkennen, daß die Konzeption evangelischer Gemeindearbeit, die in den Spandauer Thesen anvisiert wurde, unzeitgemäß und unpraktikabel war. Sie wurde selbst von denen nicht konsequent ernstgenommen, die sie verabschiedet hatten. Autoren wie Reinhard Köster, Joachim Matthes oder Trutz Rendtorff82 haben das frühzeitig erkannt und vor den Konsequenzen gewarnt. Erfolg hatte ihr Einspruch nicht. 1. Die Konzeption war unzeitgemäß und förderte den mentalen Rückzug der Theologen aus der Gesellschaft: Reinhard Köster hat 1959 eine Interpretation des Konzepts vorgelegt, die so verblüffend ist und doch so plausibel erscheint, daß sie hier ausführlicher zitiert wird: "Der Versuch, der Auflösung der herkömmlichen Formen [des kirchlichen Mitgliedschafts Verhaltens] entgegenzuwirken, führt dazu, daß die 82

Nicht nur Soziologen und Praktische Theologen, auch der Systematiker T.Rendtorff hat sich über viele jähre hinweg mit diesem Themenkreis beschäftigt: T.Rendtorff: Die soziale Struktur der Gemeinde, Hamburg 1958; T.Rendtorff: Das Pfarramt - gesellschaftliche Situation und kirchliche Interpretation, in: G.Wurzbacher (Hg.): Der Pfarrer in der modernen Gesellschaft, Hamburg 1960, S.79-102; T.Rendtorff: Kerngemeinde; T.Rendtorff: Kirchengemeinde und Kerngemeinde, in: F.Fürstenberg (Hg.): Religionssoziologie, Neuwied 1964, S.235-247; T.Rendtorff: Vom Christentum in unserer Gesellschaft, in: Kirchentreu und Kirchenfern, Wuppertal 1967, S.7-18; T.Rendtorff: Christentum außerhalb der Kirche, Hamburg 1969

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Normen in besonderer Weise betont werden und dadurch eine Verschärfung erfahren. Es kommt zu einem Versuch der Reindarstellung des Kirchlichen ohne Rücksicht auf die Chancen der Durchsetzung. Daher werden Elemente vorsubjektivistischer Epochen bevorzugt, repristiniert und in den Vordergrund geschoben. ... Die Orientierung am Vorbild vorsubjektivistischer Epochen ist ein Gegenzug zu der Verinnerlichung des Glaubens Verständnisses, wie es sich in den letzten Jahrhunderten vollzogen hatte. Es scheint, als ließe sich die überkommene Gestalt der Ortskirchengemeinde nicht erhalten, wenn man den Tendenzen nach Verinnerlichung nachgibt ... So führt die bewußte Reaktion zugunsten des Bestandes zu einer Veräußerlichung: Verhaltensnormen verdrängen Gesinnungsnormen. Sie werden aber dabei mit dem eigentümlichen Gewicht von Gesinnungsnormen belegt. Schließlich gehört zu den Verschiebungen auch eine Akzentverlagerung von den Normen, die das Verhältnis des Christen zu Welt und Gesellschaft betreffen, zu den Normen, die sich auf das unmittelbar institutionsgebundene christliche Leben beziehen. Vornehmliches Ziel kirchlicher Arbeit in den Ortskirchengemeinden ist mehr und mehr die Verkirchlichung des Menschen geworden, d.h. sein normgerechtes Verhalten gegenüber der Institution der Kirche s e l b s t " . Das kirchliche Engagement sollte der Bestandswahrung der Institution dienen. Es war sehr viel weniger als behauptet, geeignet, die Christlichkeit in der Gesellschaft zu intensivieren. Die Thesen sind Ausdruck einer Verwechselung und einer tiefen Verunsicherung. Die Kirchen kamen von den Erfahrungen her, die sie mit einem totalitären Staat gemacht hatten. Hier hatte sich Fundamentalopposition bewährt. Der nationalsozialistische Staat war völlig zurecht als Gegegenüber der Bekennenden Kirche angesehen worden. Nun aber ging es darum, die eigene Position in der Gesellschaft zu bestimmen. Und diese Position unterschied sich deutlich von der Position, die die Bekennende Kirche gegenüber dem Staat eingenommen hatte. Die Kirchen waren als Teil der Gesellschaft schon über ihre Mitglieder und die Folgewirkungen ihrer eigenen Geschichte vielfältig und wechselseitig in die Gesellschaft hineinverwoben. Das haben sie nicht erkannt. Sie sahen die Gesellschaft als eine unreligiöse und unchristliche ("säkulare") Gesellschaft an. Ein falsch verstandener Säkularisierungsbegriff machte es ihnen unmöglich, ihre tatsächlich vorhandenen Stärken und ihre tiefe Verwurzelung in der Gesellschaft wahrzunehmen und sich konzeptionell auf sie einzustellen. Die Kirchen empfanden sich schon in den 50er Jahren als sehr viel stärker bedroht, als sie es - rückblickend geurteilt - tatsächlich waren. Deshalb versuchte man, die Kirche in ihrer vomeuzeitlichen Form als weisungsmächtige Institution zu retten, selbst wenn der Preis dafür hoch sein würde. Der volksmissionarische Weg sollte, das wäre die verblüffende Konsequenz dieser Deutung,

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R.Köster: Die Kirchentreuen, S.6f; Hervorhebungen von mir.

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konzeptionell die "Emigration der Kirche aus der G e s e l l s c h a f t " ^ beschleunigen und die Organisation in einen zwar deutlich bescheideneren, aber doch auch sichereren Hafen führen. Gesucht war der Typus des willigen, dienstbereiten Gemeindemitglieds, anvisiert war eine Kirche, die ihre Mitglieder unter psychologischen Aspekten rekrutiert und sich darüber als Zielgruppenkirche stabilisiert. In dieser Kirche konnte nur der ein gutes Mitglied sein, der Weisung suchte und geführt werden wollte, wie auch umgekehrt eine Kirche, die sich derartige Mitglieder wünscht, wieder unangefochten tun könnte, was sie im 16. und 17. Jahrhundert schon einmal tun konnte: Weisung erteilen und Weisung durchsetzen. Die wahrhaft "Distanzierten" und "Fernstehenden" wären also die Kirchen gewesen. Sie hatten sich auf die prinzipielle Andersartigkeit und Eigenständigkeit der Kirche im Gegenüber zum Staat verständigt, ohne darüber jedoch ihre enge Verflochtenheit und ihr vieldimensionales Eingebundensein in die Gesellschaft wahrzunehmen. 2. Die Konzeption war unpraktikabel: Bei näherem Hinsehen entdeckt man in den "Spandauer Thesen" (und den Handreichungen) so viele Ungereimtheiten und Probleme, daß man sich im Nachhinein nur erstaunt fragen kann, wie es möglich war, daß diese Thesen damals überhaupt verabschiedet worden sind. Die Wahrnehmungspersepktive, unter der die Gemeindemitglieder dargestellt wurden, war einseitig pastoral verzerrt. Es war längst bekannt, daß volkskirchlich sozialisierte Kirchenmitglieder nicht auf volksmissionarische Strategien ansprechen. Die Hoffnung auf den missionarisch aktiven Gemeindekern, der sich im sonntäglichen Hauptgottesdienst versammelt, war spätestens mit Kösters Publikation zu Grabe zu tragen. Der kirchentreue Felsen, auf den eine missionarische Kirche gebaut werden konnte, existierte nicht. 3. Der fehlende Veränderungswille der Kirchenleitungen: Hätte man allen Ernstes eine flächendeckende Transformation der Volkskirche erreichen wollen, dann hätte es durchgreifender kirchenleitender Maßnahmen u.a im Pfarrdienstrecht bedurft. Derartige Einschnitte aber blieben aus. Schon die Handreichungen verzichten in auffälliger Weise darauf, das vorgegebene Leitziel in präzise und operationalisierbare Teilziele und Aufgabenstellungen für die Praxis der Gemeindearbeit zu zerlegen. Stattdessen wird vieles angesprochen, manches empfohlen, nahezu nichts aber wird unzweideutig festgelegt. Eine klare und eindeutige Verteilung der Kompetenzen und der Verpflichtungen sucht man vergebens. Jedes Mitglied der Kirchengemeinde darf im Rahmen seiner Begabungen mitarbeiten, aber niemand ist definitiv für irgendetwas nicht zuständig. Gerade die fehlende Präzision der Ziele und das ausgeprägte Niemandsland der Verantwortlichkeiten läßt auf einen Mangel an kirchenleitendem Durchsetzungswillen schließen. Der kirchenkundige Leser begriff schnell, daß die Praxis 84

So lautet der Titel eines Buches von J.Matthes, Hamburg 1964, in dem er darauf hinweist, daß die Vorstellung eines schroffen Gegenübers von Kirche und Gesellschaft unzutreffend ist. Wie ihre Mitglieder so sind auch die Kirchen (als Organisationen) Teile der Gesellschaft. Faktisch kann die Kirche in keiner Sozialgestalt aus der Gesellschaft emigrieren.

2. Die Spandauer Missionsthesen

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der Gemeindearbeit gar nicht unbedingt verändert werden mußte. Jeder konnte - bei etwas Phantasie - seine eigene Gemeindearbeit irgendwo in der Handreichung wiederfinden und als "missionarische Gemeindearbeit" (im Sinne des weitgefaßten Missionsbegriffs) etikettieren. Vom fröhlichen Gemeindehaustreiben bis hin zur ernsten Bibelkreisfrömmigkeit fiel alles "irgendwie" unter diesen Missionsbegriff. 4. Die Aufsplitterung des pastoralen Berufsrollenverständnisses und die Kirchenkultur des "schlechten Gewissens": Dennoch hat, was als Quadratur des Kreises angelegt war, fortdauernde Konsequenzen in der Organisation nach sich gezogen. Die Landeskirche, die sich nicht entscheiden wollte, ließ damit auch die volksmissionarische Option offen und delegierte die Probleme, die sich daraus ergaben, an die Organisationsbasis. Kirchliche Mitarbeiter/innen, die im Rahmen pietistischer oder charismatischer Formen des Christentums sozialisiert waren, wurden durch die Thesen ermutigt, ihre parochiale Arbeit auf volksmissionarische Vorgaben, Bewertungen und Ziele hin auszurichten. Das hatte zwei Konsequenzen. Es begünstigte tiefgreifende Differenzen und Zerwürfnisse in der Pfarrerschaft, und es leistete einer Kirchenkultur des "schlechten Gewissens" Vorschub. Fortan gab es in den Landeskirchen keine Übereinstimmung mehr hinsichtlich der richtigen und der angemessenen Arbeitsformen in der Parochie. Die Einheitlichkeit des pastoralen Berufsrollenverständnisses ist darüber zerbrochen. Bis heute gibt es in den evangelischen Landeskirchen kein Berufsbild mehr, das für alle Amtsinhaber/innen in gleicher Weise verbindlich und verbindend ist. Darüberhinaus entwickelte sich eine Kirchenkultur des schlechten Gewissens. Über Jahrzehnte hinweg wurden die Gemeindemitglieder mit der pastoralen Erwartung konfrontiert, im Gemeinde(haus)leben und im Gottesdienst deutlich stärker präsent zu sein. Wenn sie auch dieser Forderung kaum einmal nachkamen, weil sie ganz andere Standards mit ihrer Mitgliedschaft verbanden, so lernten sie doch, die pastoralen Anforderungen zu antizipieren. So ist erklärbar, daß viele Hausbesuche damit beginnen, daß die besuchten Gemeindemitglieder ihr schlechtes Gewissen zum Ausdruck bringen, weil sie ja den Anforderungen "der Kirche" so wenig nachkommen. Wenn sie sich dann umständlich bemühen, ihr Verhalten zu rechtfertigen und deutlich zu machen, warum sie dennoch gute Christen sind, ist gleich zu Beginn des Hausbesuchs ein Hierarchiegefálle entstanden, das eine echte zwischenmenschliche Begegnung kaum noch möglich macht. Wo die Vertrauensgrundlage beschädigt ist, kann kein hilfreiches Seelsorgegespräch stattfinden. Das Autoritäts- und Hierarchiegefalle zwischen Institutionsvertretern und Kirchenmitgliedern ist nicht erst in den 50er Jahren entstanden. Es hatte jahrhundertealte Wurzeln. Insofern stellte es die Kirchenmitglieder nicht vor eine neue Situation. Problematisch wird ein derart verspanntes Verhältnis zwischen dem System und seinen Mitgliedern erst, wenn sich Grundeinstellungen verändern, wenn die Mitglieder mündiger werden und sich fragen, ob es richtig ist, in einer Institution Mitglied zu bleiben, die für sich beansprucht, derart massiv

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Π. 100 Jahre Reform

in die private Lebensführung ihrer Mitglieder hineinzuregieren. Dieser Punkt war in den 50er Jahren noch nicht erreicht. Auch hat der größte Teil der Kirchenmitglieder vermutlich gar nicht mitbekommen, was in den Führungsetagen der Landeskirchen konzeptionell diskutiert worden ist. Im Erleben der Gemeindemitglieder verblieb die Praxis der evangelischen Gemeindearbeit ja weithin in den erwarteten und den vertrauten Bahnen. Die Kirchengemeinden hatten mit ihren Kindergärten, Schulgottesdiensten, Gemeindeschwestern, Helferkreisen und seelsorgerlichen oder diakonischen Aktivitäten ein vertrautes und berechenbares Spektrum an Aktivitäten entwickelt. Nach wie vor überließen sie es weitgehend jedem selbst, das Ausmaß und den Umfang seiner persönlichen Partizipation zu bestimmen. Damit änderte sich faktisch für viele Kirchenmitglieder überhaupt nichts. Die Theologen und die relativ wenigen Nichttheologen, die in der Lage waren, den Diskussionsprozeß einzusehen und mitzuvollziehen, sind in der ganzen Diskussion weitgehend unter sich geblieben.

3. Konzeptionen der evangelischen Gemeindearbeit seit den 60er Jahren - Die "profilierte Spitze" der Gemeindearbeit Die praktisch-theologische Diskussion über angemessene und erforderliche Methoden der evangelischen Gemeindearbeit hat sich nach Kösters Publikation über die "Kirchentreuen" vom Gemeindehaus und vom Gemeindehauschristentum abgewandt. Dieses Arbeitsfeld wurde fortan konzeptionell weitgehend ignoriert und den Praktikern überlassen. Zwei andere Bereiche der evangelischen Gemeindearbeit blieben in der Diskussion: Einerseits wurde mit viel theologischem Scharfsinn und nicht ohne persönliches Engagement an der konzeptionellen Verbesserung oder der Neuinterpretation des von den Spandauer Thesen erneut ins Gespräch gebrachten "missionarischen" Kerns gearbeitet. Andererseits wurde um ein besseres Verständnis der volkskirchlichen Gegebenheiten und der parochialen Arbeit gerungen. Diese beiden Aspekte werden im folgenden nacheinander dargestellt. Zunächst geht es um die Entwicklung des "missionarischen Kerns" der Gemeindearbeit. Seit den 50er Jahren bemühten sich zahlreiche Kirchengemeinden darum, dem als "lau" und "tot" (These 5) empfundenen Körper der Volkskirche einen "lebendigen", manchmal sogar missionarisch aktiven Kern zu implementieren. Da sie das aber nicht von der Verpflichtung entband, auch weiterhin die pastorale Versorgung aller Gemeindemitglieder zu gewährleisten und auch das Gemeindehausleben ein trotziges Beharrungsvermögen an den Tag legte, entwickelte sich dieses Anliegen zu einer "profilierten Spitze" der Gemeindearbeit neben den bereits bestehenden Arbeitsfeldern. Das inhaltliche Profil der jeweils favorisierten "Spitze" konnte unterschiedlich bestimmt werden. Dargestellt werden die "ökumenische Spitze" (3.1) und die "volksmissionarische Spitze" (3.2) der volkskirchlichen Gemeindearbeit.

3.1 Der ökumenische Impuls: "Kirche für andere"

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3.1 Der ökumenische Impuls: "Kirche für andere" a) Grundüberzeugungen: Teilnahme der Kirche an der "missio Dei" In den 60er Jahren setzte die Ökumene einen Impuls, der weitreichende Konsequenzen bis in die Arbeit der Kirchengemeinden hinein hatte. 85 Richtungweisend waren theologische Einsichten zu drei Themenkreisen, die im Geist reformierter Theologie vom Gedanken der Königsherrschaft Christi her neu bedacht worden waren: Welt, Mission und Kirche. Die Welt wurde als nichtchristlich und nichtreligiös v e r s t a n d e n . I n dieser profanen Welt gilt es, Gottes Spuren zu entdecken und sichtbar zu machen. Mission vollzieht sich nicht etwa durch das Handeln der gläubigen Christen, sondern ist Gottes ureigene Sache. Gott ist in der Welt immer schon missionarisch am Werk. Die Kirchen schließlich können sich immer nur in diesen Dienst hineinnehmen lassen. Sie sind Werkzeuge Gottes, nicht mehr. Das führte zu einer deutlichen Relativierung der kirchlichen Organisationsformen. Kirche ist grundsätzlich nur dann Kirche, wenn und soweit sie "Kirche in Mission" ist. Ihre jeweils vorfindliche Sozialgestalt ist demgegenüber relativ. Sie besitzt keinerlei Eigenwert, vielmehr hat sie sich an ihrer missionarischen Aufgabe zu bewähren. Wortverkündigung, soziale Diakonie und Gemeinschaft sind die Wesensmerkmale der Kirche Gottes. Die Kirche ist zur Solidarität mit den Ausgestoßenen und Benachteiligten in der nichtchristlichen Welt verpflichtet. 87 Von diesem theologischen Ansatz her wurden die gewachsenen Organisationsstrukturen der Kirche wurden in Frage gestellt und dem missionarischen Auftrag in einer als unchristlich und unkirchlich ("säkular") verstandenen Welt untergeordnet. Ein konsequenter Umbau der Volkskirchen nach diesem Leitbild wäre erforderlich gewesen. Er hätte das Ende der traditionellen Parochie bedeu85

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Die 3. Vollversammlung des Ökumenischen Rates der Kirchen in Neu Delhi (1961) hatte ein Studienprojekt über "Die missionarische Struktur der Gemeinde" beschlossen, das im "Referat für Fragen der Verkündigung" unter der Leitung von Hans-Jochen Margull im Verlauf der 60er Jahre durchgeführt wurde. Der Zwischenbericht der westeuropäischen Arbeitsgruppe trägt den Titel "Mission als Strukturprinzip. Ein Arbeitsbuch zur Frage missionarischer Gemeinden", hg.v. H.-J.Margull, ORK Genf 1965. Der Schlußbericht der westeuropäischen und nordamerikanischen AG erschien unter dem ebenfalls programmatischen Titel "Die Kirche für andere und die Kirche im Ringen um Strukturen missionarischer Gemeinden", ORK Genf 1967. Theologisch wurden besonders Gedanken des holländischen Missionswissenschaftlers Johannes Christiaan Hoekendijk wirksam: Die Zukunft der Kirche und die Kirche der Zukunft, Stuttgart u.ö. 1964. Eine Interpretation des Begriffs "Säkularisierung", in: H.-J.Margull (Hg.): Mission, S.8386. Joachim Matthes hat damals vergeblich gegen diese Interpretation argumentiert: Welt Geschichte - Eschatologie, in: H.-J.Margull (Hg.): Mission, S.78-82 Vgl. auch die Darstellungen von K.Raiser: Ökumene im Übergang. Paradigmenwechsel in der ökumenischen Bewegung, München 1989; W.Ratzmann: Missionarische Gemeinde, Berlin (Ost) 1980; M.Herbst: Missionarischer Gemeindeaufbau in der Volkskirche, Stuttgart 2 1988, S. 172-209; W.Krusche: Kirche der Zukunft: Kirche für die anderen, in: PTh 58/1969, S.84-93

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II. 100 Jahre Reform

tet und die Bildung kleiner, aber hochmotivierter christlicher "Basisgemeinden" erfordertes, die, getragen vom Glauben an die biblischen Verheißungen, einen sozialen und diakonischen Dienst in der Gesellschaft zu leisten gehabt hätten. Das ist nicht gemacht worden. Die Faszination, die das Konzept ausgelöst hatte, schwand schon bald w i e d e r . A b e r die intensive Beschäftigung mit der ökumenischen Dimension des christlichen Glaubens und die daraus resultierende Horizonterweiterung in vielen Kirchengemeinden hat doch zur Ausbildung eines weiteren Segments der evangelischen Gemeindearbeit geführt: Ökumenische Partnergemeinden oder Patenschaftsprojekte entstanden. Auch bekam die ökumenische Vision von einer lebendigen Gemeinde auf den Spuren Gottes zahlreiche Kinder: Vorhaben und Formen "alternativer" Gemeindearbeit^O oder Gemeindeorganisation^l, aber auch Konzeptionen "solidarischer" Gemeindearbeit oder Stadtteil- und umfeldbezogener Gemeinwesenarbeit^^ beriefen sich auf den ökumenischen Impuls. Ihm kam zugute, daß die allgemeine Aufbruchstimmung der späten 60er Jahre das gesellschaftspolitische Interesse und das Engagement vieler Pfarrer/innen verstärkt hatte. Der Deutsche Evangelische Kirchentag entwickelte sich in dieser Zeit zu einem Umschlagplatz neuer Ideen. b) Innerkirchliche Klimaveränderungen im Gefolge des ökumenischen Impulses Neben der Bereicherung der parochialen Arbeit hat die Aufbruchstimmung der späten 60er Jahre auch das innerkirchliche "Klima" im positiven wie negativen Sinn verändert. Einige Aspekte dieser Entwicklung sollen genannt werden: 1. Die Nähe zum Mitmenschen: Das ökumenische Missionsverständnis steigerte die Sensibilität für die Lebenslagen der Menschen. Sie galten nicht mehr nur 88 89

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R.J.Kleiner: Basisgemeinden in der Kirche, Graz u.ö. 1976; H.Frankemölle (Hg.): Kirche von unten: alternative Gemeinden, München u.ö. 1981 W.Ratzmann: "Die Faszination von damals für die 'missionarische Gemeinde', für die 'Kirche für andere'... ist heute weithin verschwunden" - Gemeinde für andere - Gemeinde mit anderen, in: Werkstatt Gemeinde 3/1985, S.268; ähnlich urteilt auch E.Winkler: "Zwar wäre es falsch, von Ergebnislosigkeit zu sprechen, aber ... Man ist versucht, mit bitterer Übertreibung zu sagen: in der Tat, die Kirche treibt nicht Mission, sie redet nur von Mission". - Zur Theologie des Gemeindeaufbaus, in: ThLZ 111/1986, Sp.482 Vgl. die Beispiele in K.Lorenz / H.Relier: Alternative, S. 157-181; R.Lingscheid / G. Wegner (Hg.): Aktivierende Gemeindearbeit, Stuttgart u.ö. 1990, S. 57-110 Über das Projekt einer "Evangelischen Gemeinde am Brunsbütteler Damm" in BerlinSpandau, das bereis in den frühen 50er Jahren geplant wurde und zu Beginn der 60er Jahre realisiert werden konnte, vgl.: A.Butenuth / (E.Lange): Aus der 'Bilanz 65', in: E.Lange: Kirche für die Welt. Aufsätze zur Theorie kirchlichen Handelns, hg.v. R.Schloz, München u.ö. 1981, S.36-160 H.-E.Bahr /R.Gronemeyer (Hg.): Konfliktorientierte Gemeinwesenarbeit. Niederlagen und Modelle, Darmstadt u.ö. 1977; C.Heitmann: Gemeindeleben und Bürgerinitiative, in: Das missionarische Wort 29/1976, S.104-108; U.Kleinert: Zur Rolle der Kirche zwischen Bürgerinitiativen und Staatsautorität, in: WPKG 66/1977, S.266-278; D.Sheppard: Solidarische Kirche für eine menschliche Stadt. Ein Wegweiser in die Praxis, München 1978; J.Krauß-Siemann: Kirchliche Stadtteilarbeit, Mainz 1983 (dort weitere Lit.)

3.1 Der ökumenische Impuls: "Kirche für andere"

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allgemein als "die Fernstehenden", sondern wurden nun auch mit ihren spezifischen Nöten und Belastungen erfaßt. Dies gilt zum einen für die internationale Perspektive der Ökumene, die die ausbeuterischen Strukturen einer weltweiten Arbeitsteilung zu Gunsten der reichen Industrienationen beklagte und die notleidenden Menschen als Opfer dieser Strukturen erkannte. Es gilt aber auch für eine deutlich gesteigerte Sensibilität für die Lage der Menschen in der eigenen Gesellschaft. Ernst Lange hat die Gemeinde damals als ein "Ensemble der Opfer der Zeit"93 und als "Sammelplatz der Beunruhigten"^ beschrieben. Von daher gelangte er zu der Forderung, den Glauben und das Evangelium nicht länger über die Köpfe der betroffenen Menschen hinweg zu verkündigen. Er forderte eine "hörerorientierte" H o m i l e t i k . V o r dem gleichen Hintergrund wandte sich Rainer Volp der semiotischen Gottesdienstanalyse zu und entwikkelte sein Programm einer teilnehmerorientierten L i t u r g i k . 9 6 2. Verzerrte Wahrnehmung der Volkskirche: Das ökumenische Kirchenverständnis verstärkte die ohnehin theologisch vorhandene Infragestellung der volkskirchlichen Organisation ("semper reformanda"). Zur volksmissionarisch motivierten Hoffnung auf lebendige Freiwilligkeitsgemeinden gesellte sich auch die Hoffnung auf gesellschaftlich engagierte Basisgemeinschaften. Insbesondere unter den nachrückenden Theologengenerationen, die in der Regel ja der wirksamste Motor mittelfristiger Veränderungen der kirchlichen Zustände sind, fiel der Traum von einer "ganz anderen" Kirche auf fruchtbaren Boden. Fortan konnte man zwar unter volkskirchlichen Bedingungen arbeiten, gleichzeitig aber zutiefst davon überzeugt sein, daß ganz andere Organisationsstrukturen der Kirche Jesu Christi deutlich angemessener wären. Die innere Distanz gegenüber dem Arbeitgeber Kirche wuchs. Wo die Loyalitäten gegenüber dem Dienstherrn zerbrachen, konnte man sich paradoxerweise sogar auf die Kirchenordnungen selbst berufen, sofern sie sich die Barmer Bekenntnisthesen zu eigen gemacht hatten: "Die verschiedenen Ämter in der Kirche begründen keine Herrschaft der einen über die anderen, sondern die Ausübung des der ganzen Gemeinde anvertrauten und befohlenen Dienstes" (Barmen IV). Die Zunahme der inneren Distanz zur Volkskirche vollzog sich im Rahmen von materiell gut abgesicherten Arbeitsverhältnissen. Die Pfarrerschaft war in Westdeutschland durch das an das Berufsbeamtentum angekoppelte Besoldungssystem von materiellen Existenzsorgen weitgehend freigestellt. Insofern kostete 93

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E.Lange: Plädoyer für den Normalfall, in: Ders.: Chancen des Alltags. Überlegungen zur Funktion des christlichen Gottesdienstes in der Gegenwart, hg.v. P.Cornehl, München 1984, S.295 u.ö. (290-308) E.Lange: Plädoyer, S.300 E.Lange: Chancen; P.Bukowski: Predigt wahrnehmen. Homiletische Perspektiven, Neukirchen -Vluyn 2 1992 G.Schiwy / Rainer Volp u.a.: Zeichen im Gottesdienst, München u.ö. 1976. Zur rezipientenorientierten Perspektive auch K.-F. Daiber u.a.: Gemeinden erleben ihre Gottesdienste, Gütersloh 1978. Auch in anderen Teilbereichen der Praktischen Theologie vollzog sich in dieser Zeit eine Hinwendung zu den Menschen und ihren Problemen, etwa in der Seelsorge oder der Religionspädagogik.

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II. 100 Jahre Reform

es nicht viel, von veränderten Verhältnissen zu träumen. Von daher ist es wohl auch kein Zufall, daß es Theologen aus der damaligen DDR waren, die die Wirklichkeitsferne vieler Gemeindearbeitskonzeptionen kritisierten^7 und die Stärken der Volkskirche gegenüber den Westkritikern verteidigten. Sie waren andere Verhältnisse gewohnt und haben sehr viel deutlicher erkennen können, welchen Wert eine volkskirchliche Organisation hat. Eberhard Winkler schrieb 1986 in seinem Aufsatz "Zur Theologie des Gemeindeaufbaus": "Manche Kritiker der Volkskirche verwerfen das Bemühen, Kirchenmitgliedschaft zu stabilisieren, als eigennütziges Tun ... Sicher muß die Kirche sich immer vor selbstsüchtigem Denken und Handeln warnen lassen, doch ist es kurzsichtig, das Bemühen um Bestandserhaltung als Eigennutz zu verurteilen und die missionarische Aufgabe dagegenzusetzen. Dabei wird übersehen, was Wichern schon vor 150 Jahren erkannt hat: Die mit den volkskirchlichen Strukturen gegebenen positiven Möglichkeiten - und um diese geht es bei der 'Stabilisierung von Kirchenmitgliedschaft' ! - lassen sich nur durch missionarisch-diakonische Tätigkeit erhalten. Bestanderhaltung und missionarische Aufgabe sind keineswegs Gegensätze, sondern eins dient dem anderen, und das Fehlen des einen schadet dem anderen".98 3. Milieuverengte Form des Mitgliedschaftsverhaltens: Gewiß haben die zahlreichen Aufbrüche die Anpassung der Gemeindearbeit an veränderte gesellschaftliche Bedingungen konstruktiv gefördert. Es entwickelte sich ein Reichtum an Arbeitsformen und Zielsetzungen, der den Zeiterfordernissen besser gerecht wurde als jede programmatische E i n s e i t i g k e i t . Darüber entstand viel Unruhe, aber durchaus auch konstruktive Unruhe. Gravierender war ein anderes Defizit. Alle Konzeptionen und Aktivitäten besaßen eine implizite Zielgruppenausrichtung. "Sie sprachen vorrangig hoch motivierte Kirchenmitglieder an, die das Bedürfnis nach Vertiefung und Verinnerlichung des Glaubens verspüren, den sozialen Verkehr mit Gleichgesinnten suchen und von ihrer Lebens97

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Schon 1975 hatte Winkler gemeinsam mit Gottfried Kretzschmar formuliert: "Es gibt kein von der gesellschaftlichen Wirklichkeit isolierbares Gemeindeleben. Die Gemeinden in der DDR erkennen in zunehmendem Maß, daß ihr Standort innerhalb der sozialistischen Gesellschaft zu suchen und zu finden ist und daß die Kirche weder eine Nachhut der Reaktion noch die Avandgarde einer anderen Gesellschaftsordnung zu sein hat, sondern die Gemeinschaft derer, die in dieser Gesellschaft als Christen leben und wirken möchten. Diese Haltung hat nichts zu tun mit Tendenzen einiger Gruppen in der Bundesrepublik, die Kirche revolutionär im Sinne eines utopischen Sozialismus umzufunktionieren. Für diese Gruppen verliert der Gemeindeaufbau seinen Sinn. Solchen Tendenzen ist in der DDR jedes Fundament entzogen". - E.Winkler / G.Kretzschmar: Der Aufbau der Kirche zum Dienst, in: Handbuch der Praktischen Theologie Bd.I, Berlin (Ost) 1975, S.182f E.Winkler: Theologie, Sp.489 Es entwickelte sich "eine Vielzahl von 'kleinen' Verkehrskreisen und Denominationen, die - sämtlich in der Freizeit- und Privatsphäre angesiedelt - sich auf der Basis sozialer, biographischer und frömmigkeitstypischer Merkmale voneinander abgrenzten und darum konkurrierten, zurecht das Prädikat 'Kirche' oder 'Gemeinde' in Anspruch nehmen zu können". - EKD (Hg.): Christsein, S.52

3.1 Der ökumenische Impuls: "Kirche für andere"

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weit her bereit und auch dazu in der Lage sind, dafür Zeit und Energie zu inves t i e r e n " . ! ^ D i g profilierte Spitze der Kirchengemeinde war letztlich ebenso milieuverengt wie das belächelte Gemeindehauschristentum, nur in anderer Weise. Hier versammelten sich die selbstbewußten Träger gehobener Bildung. Sie konnten ebensowenig wie die bestandsorientierten Gemeindehauschristen für sich in Anspruch nehmen, "die" Gemeinde insgesamt zu repräsentieren. 4. Ernüchterung und Erschöpfung: Wenn in der Fachliteratur dieser Jahre von "den Aufgaben der Gemeinde" gesprochen wird, ist eine ausgeprägte Tendenz zur Flucht in changierende Aufgabenzuweisungen und Verantwortlichkeitsbereiche feststellbar. Es gibt nicht wenige Publikationen, die weitgesteckte Ziele und anspruchsvolle Aufgaben der Gemeinde festlegen, ohne ein Wort über die Pflichten der Pfarrer/innen zu verlieren. 101 Es ist nicht verwunderlich, daß die hauptsächlich Angesprochenen unter solchen Bedingungen ihre Erwartungen an die Praxisrelevanz der Theoriebildung deutlich reduzierten. Ein weiterer Aspekt kam hinzu. Was immer die Gemeindepfarrer/innen mit viel Kraft und Mühe ins Werk setzten, es verblieben ihnen darüber stets auch die beiden ersten Säulen der Gemeindearbeit. Der konzeptionelle Neuaufbruch vermehrte lediglich die Anzahl der Arbeitsfelder. Nach wie vor waren die Pfarrer/innen für sämtliche Mitglieder der Volkskirche zuständig. Sie hatten in mehr oder weniger großem Umfang das Gemeindehausleben zu begleiten. Und schließlich waren sie nun auch noch gemeinsam mit anderen (Gleichgesinnten) intensiv und engagiert an der Entwicklung und Profilierung einer "lebendigen Spitze" der Gemeinde(arbeit) beteiligt. Ernst Lange urteilte über diesen Zustand: "Die Schwierigkeit, Pfarrer zu sein, ist in dieser Perspektive vor allem die, im Schnittpunkt von Erwartungen zu stehen, die sich zu einem Teil widersprechen und in der Summe viel zu groß sind, als das man sie erfüllen könnte". 102 y o n daher ist verständlich, warum die Aufbruchstimmung abebbte. Zurückgeblieben ist in den Kirchengemeinden vielfach eine deutlich vergrößerte Offenheit für neue Elemente und persönliche Arbeitsschwerpunkte der Gemeindepfarrer/innen.

3.2 Volksmissionarische Impulse Neben dem ökumenischen Impuls und seinen zahlreichen Früchten wirkte in den Landeskirchen immer auch der volksmissionarische Impuls weiter. Überschaut man die Konzeptionsgeschichte der evangelischen Gemeindearbeit, dann zeigt sich, daß sich in diesem Bereich immer wieder aufs neue die längst be100 EKD (Hg.): Christsein, S.51 101 Vor allem den äußerst vage umschriebenen "Dienstgruppen" fällt konzeptionell der Löwenanteil der Arbeit zu und implizit auch die Aufgabe, die in der Praxis ja stets unmittelbar betroffenen Hauptamtlichen versöhnlich zu stimmen. Auch in Christsein gestalten, S.88 oder H.Lindner: Kirche, S.100. 102 E.Lange: Schwierigkeit, S.20

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kannten Argumentationsmuster, Beurteilungen und Strategievorschläge wiederholen. In Wellenbewegungen taucht der volksmissionarische Gedanke immer wieder auf, wächst an, wird wieder schwächer, bleibt aber doch stets präsent. a) Grundmuster volksmissionarischer Gemeindearbeit - Konzepte der 70er und 80er Jahre Seit dem Ende der 70er Jahre nehmen die Bemühungen um die Wiederaufnahme und Fortentwicklung des volksmissionarischen Programms der Gemeindearbeit erneut deutlich zu. 103 Michael Herbst hat einen detaillierten Überblick über die Literatur und die konzeptionellen Unterschiede v o r g e l e g t . viele Publikationen knüpfen bewußt an die parochial-volkskirchlichen Gegebenheiten an, um dann einen Schritt weiterzugehen und ein Konzept missionarischen Gemeinde"aufbaus" innerhalb des parochialen Gefüges vorzulegen. Bei der Lektüre wird man immer wieder an die Diskussion um die Jahrhundertwende erinnert: Parochien sind noch keine Gemeinden. Vielmehr müssen die "wirklichen" Gemeinden erst noch aus den Parochien herausgefiltert werden. Innerhalb der bestehenden Kirchengemeinden sollen zunächst missionarische "Kerne" gebildet werden, die dann die Missionsanstrengungen multiplizieren und zur Entstehung missionarischer Gemeinden fuhren sollen. Dieses Denkmodell ist im einzelnen in vielerlei Facetten entwickelt worden. Im volksmissionarischen Spektrum gibt es mehrere "Fraktionen", aber auch theologisch bedeutsame Unterschiede, etwa in der Christologie (Jesus oder Christus als Bezugsperson) oder der Pneumatologie (charismatische Gruppen). Nach wie vor ist das volksmissionarische Denken bestechend einfach und von daher dann auch einfach bestechend. Schon programmatisch wird das Interesse an überschaubaren Verhältnissen betont. 106 Die Kirchenwelt ist in zwei klar geschiedene Bereiche geteilt: Es gibt die "Fernstehenden" auf der einen Seite, sie sind die "anderen", die dem Ruf des Evangeliums nicht Folge leisten und sich nicht in Dienst nehmen lassen. Und es gibt die eigenen, diejenigen, 103 T.Sorg: Wie wird Kirche neu? Wuppertal 1977; T.Sorg: Christus vertrauen - Gemeinde erneuern. Gemeindeaufbau in der Volkskirche, Stuttgart 2 1988; F .Schwarz u.a.: Uberschaubare Gemeinde, 3 Bde. Gladbeck 1980; F.Schwarz / C.Schwarz; Theologie des Gemeindeaufbaus, Neukirchen 1984; M.Seitz: Erneuerung der Gemeinde, Göttingen 1985; M.Seitz: Missionarische Kirche - Gemeindeaufbau in den 80er Jahren, in: EvKomm 17/1984, S. 188-192; Besprechungen und Kritik: R.Weth (Hg.): Diskussion zur Theologie des Gemeindeaufbaus, Neukirchen 1986; H.Lindner: Programme; E.Winkler: Theologie; C.Möller: Gemeindeaufbau; Ders.: Lehre I, S.70-132; K.-F.Daiber: Konzepte 104 M.Herbst: Missionarischer Gemeindeaufbau in der Volkskirche, Stuttgart 2 1988 (Lit.) 105 In derartigen Formulierungen zeigt sich immer auch der schon bei Hilbert vorhandene "Jargon der Eigentlichkeit". Vgl. F.Schwarz / C.Schwarz: Theologie des Gemeindeaufbaus. Ein Versuch, Neukirchen-Vluyn 3 1987, S.14: "Zum Beispiel fragte eine Bezirksfrau: 'Sie reden von Gemeindeaufbau. Was soll das eigentlich? Wir haben doch eine Gemeinde!' - Wir waren gezwungen, darüber nachzudenken, welche Gemeinde wir eigentlich bauen wollen". 106 Der Titel des dreibändigen Werks von F.Schwarz u.a. lautet: "Überschaubare Gemeinde"

3.2 Volksmissionarische Impulse

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"die mit Ernst Christen sein wollen". Zwischen beiden Gruppen verläuft die "Grenze zwischen Glauben und Unglauben". Daraus resultiert die Aufgabenstellung für die evangelische Gemeindearbeit: Der harte Kern derer, die sich von Gott rufen lassen, ist in einer "Ecclesiola" zu sammeln. Nicht selten gelten Umkehr, Bekehrung und das persönliche Bekenntnis als u n v e r z i c h t b a r . 108 Manfred Seitz hat ein "kybernetisches Programm" entwickelt, das ein schrittweises und zielgerichtetes Vorgehen innerhalb der Parochie ermöglichen soll. Michael Herbst hat dieses Programm dann in seiner Dissertation ausführlich entfaltet: Zunächst wird lediglich eine kleine Schar von Gleichgesinnten gesucht. Diese wird in einem intensiven Prozeß gemeinsamen geistlichen Lebens zu Mitarbeitern und Multiplikatoren ausgebildet. Der Mitarbeiterkreis ist der eigentliche Träger der Volksmission. Hauptaufgabe der Geistlichen wird es später nur noch sein, den Mitarbeiterkreis zu begleiten und in seinem geistlichen Leben zu s t ä r k e n . 109 Die Frömmigkeitskultur der missionarischen Kerngemeinden ist eindeutig traditionsorientiert. Es geht vor allem um die Inhalte, die immer schon unverzichtbare Bestandteile pietistisch-geistlichen Lebens gewesen sind: Bibellektüre, Andachten, regelmäßige Gottesdienstteilnahme, Hauskreise und diakonisches Engagement (seit den 80er Jahren auch sozialpolitisches Engagement und Mitarbeit in Bürgerbewegungen). Wer neu zur Kerngemeinde hinzustößt, wird mit diesen Formen vertraut gemacht und auf ihre Einhaltung verpflichtet. 110 Ein Erziehungsprozeß setzt ein, der in der Praxis von dem jeweils gewählten Ausmaß an gruppeninterner "Verbindlichkeit" bestimmt ist. 111 107 F.Schwarz / C.Schwarz: Theologie, S.45 108 Erklärtes Ziel ist es, "Menschen zu gewinnen, die zum lebendigen Glauben gefunden haben, um in der verpflichtenden Gemeinschaft mit anderen Christen zu leben, so im Glauben zu wachsen und dem Evangelium in unserer Welt konkrete Gestalt zu verleihen" (F.Schwarz u.a.: Überschaubare Gemeinde III, S.45). "Eine Erneuerung der Kirche, das Lebendigwerden unserer Gemeinden ist aber nicht zu denken ohne erneuerte Menschen, die auf Christus ihr Vertrauen setzen; ohne erweckte Christen, die sich ... durch Jesu Ruf haben befreien lassen zu einem Leben, das in seiner Umgebung in einem positiven Sinne ansteckend wirkt". - T.Sorg: Christus, S.17 109 Vgl. das Schaubild in F.Schwarz / A.Schwarz: Theologie, S.213, wo auch die supervisorische Begleitung durch einen ortsfremden Mitarbeiter vorgesehen ist. Der Zeithorizont ist groß. Ein Zeitraum von 5-10 Jahren für die Umsetzung des Konzeptes wird anvisiert: S.215 110 Bei M.Seitz: Erneuerung, S.44 ist dies der programmatische dritte Schritt. Auf die "Vergewisserung der Taufe" und die "Änderung der Einstellung" folgt die "Einweisung in die Gemeinde". 111 Im Konfliktfall kann der Erziehungsprozeß auch mit der Trennung von einzelnen Mitgliedern enden, sofern durch abweichende Meinung oder abweichendes Verhalten in Grundsatzfragen die Kohärenz der Normen und der gruppeninternen Ansichten bedroht wird. Die Gruppendynamik folgt in diesem Punkt anderen Regeln als die biblisch-theologische Einsicht. Zum Problem der Einheit des Leibes Christi und der gemeindeintemen "Querelen" vgl. F.Schwarz: Ich verweigere mich oder: von der Schönheit des Glaubens, NeukirchenVluyn 21986; W.Liick urteilt schärfer: "Die Kirchengemeinde wird zum Ortsverein mit strenger Parteidisziplin und Stabilisierung der Mitglieder untereinander". - Praxis: Kirchengemeinde, Stuttgart u.ö. 1978, S.71

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b) "Kaninchen kriegen immer nur Kaninchen" - Programmierte Erfolglosigkeit Auch in den volksmissionarischen Initiativen der letzten Jahrzehnte hat sich wieder die bereits von Jakob Schoell geschilderte Tatsache bestätigt, daß die unter volkskirchlichen Bedingungen sozialisierten Mitglieder der evangelischen Landeskirchen mit volksmissionarischen Strategien nicht zu erreichen sind. Die "missionarische Doppelstrategie" m , d¡ e a i s Antwort der VELKD auf die große Kirchenaustrittswelle der 70er Jahre konzipiert und den Gemeinden empfohlen worden ist, empfahl die Leitformel "Öffnen und Verdichten". Zwar wurden bei der Darstellung der "öffnenden Elemente" in der Gemeindearbeit sogar Forderungen der funktionalen Theorie nach einer "intergrierten Amtshandlungspraxis" u.a. aufgenommen. Aber die Vorschläge für "verdichtende Arbeitsformen" waren doch überwiegend auf das traditionell kirchenfromme Milieu hin zugeschnitten. 1982 wiederholten sich viele der Fehleinschätzungen von 1920 und 1958. Erneut blieb ein anspruchsvoll erdachtes volksmissionarisches Konzept, gemessen an dem hohen Anspruch seiner Zielvorgabe, ohne breitenwirksame Resonanz. Man hatte an den Kirchenmitgliedern vorbeigeplant.114 Diese Erfahrung ist auch in dem Missionsprojekt "neu anfangen" mehrfach bestätigt worden. Das Projekt "Neu anfangen. Christen laden ein zum Gespräch" wurde zunächst als "Erfolgsprojekt des missionarischen Gemeindeaufbaus" angesehen und ist von der Arbeitsgemeinschaft Missionarischer Dienste in der EKD ebenso positiv bewertet worden wie von der Generalsynode satzfragen die Kohärenz der Normen und der gruppeninternen Ansichten bedroht wird. Die Gruppendynamik folgt in diesem Punkt anderen Regeln als die biblisch-theologische Einsicht. Zum Problem der Einheit des Leibes Christi und der gemeindeinternen "Querelen" vgl. F.Schwarz: Ich verweigere mich oder: von der Schönheit des Glaubens, NeukirchenVluyn ^1986; W.Lück urteilt schärfer: "Die Kirchengemeinde wird zum Ortsverein mit strenger Parteidisziplin und Stabilisierung der Mitglieder untereinander". - Praxis: Kirchengemeinde, Stuttgart u.ö. 1978, S.71 112 W.Lohff / L.Mohaupt (Hg.): Volkskirche - Kirche der Zukunft? Leitlinien der Augsburgischen Konfession für das Kirchenverständnis heute, Hamburg 1977; "Zur Entwicklung von Kirchenmitgliedschaft - Aspekte der missionarischen Doppelstrategie", Texte aus der VELKD Nr. 21/1982. 113 Vgl. die Beispiele in dem Arbeitsbuch zur missionarischen Doppelstrategie von K.Lorenz / H.Relier: Alternative 114 H.Lindner hat zu zeigen versucht, daß man die Doppelstrategie nicht nur volksmissionarisch interpretieren kann, sondern sie durchaus auch als Anregung betrachten kann, die Selbstbezogenheit der Kirchengemeinden aufzubrechen: "Sie wenden sich distanzierten Kirchenmitgliedern zu. Deren Glaube wird gewisser. Aber das Ergebnis wird nicht eingefordert. Eigenständige Glaubens- und Lebensformen im 'Wirkraum' der Volkskirche werden akzeptiert. Der ekklesiologische Zielpunkt ist weniger das Bleiben, vielmehr das Wiederkommen". Allerdings fragt Lindner selbst schon, ob damit die Doppelstrategie noch "authentisch interpretiert" ist. - beide Zitate in: Programme - Strategien - Visionen. Eine Analyse neuerer Gemeindeaufbaukonzepte, in: PTh 75/1986, S.225 115 H.Dreier: Neu anfangen. Kirchliche Mission nach fundamentalistischen Rezepten?, in: U.Birnstein (Hg.): Gottes einzige Antwort. Christlicher Fundamentalismus als Herausforderung an Kirche und Gesellschaft, Wuppertal 1990, S.174

3.2 Volksmissionarische Impulse

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der VELKD (1988). Im Rahmen dieses aufwendigen Projektes wurden, begleitet von einer Informationskampagne in den Massenmedien, seit 1987 in mehreren Landeskirchen sämtliche Gemeindemitglieder ganzer Kirchenkreise angerufen. Man bot ihnen ein kostenloses Taschenbuch an, das vielfaltige Statements von Gemeindemitgliedern enthielt ("Warum ich Christ bin") und lud sie dann später auch in Hauskreise ein. Auch dieser Versuch einer großflächigen Einbindung evangelischer Gemeindemitglieder in ein Netz von Hauskreisen ist gescheitert. Etwa 80% der Gemeindemitglieder wurden telefonisch erreicht. Ein Teil der Angerufenen ließ sich auch das Taschenbuch schicken (40-63%).H6 Der Einladung zum ersten Hauskreisgespräch folgten allerdings nur noch wenige. Zu den Wiederholungstreffen erschien fast niemand mehr. 117 Das Fazit fiel eindeutig aus: "Nach dem Grundsatz 'Kaninchen kriegen immer nur Kaninchen' sind in der Regel auch genau die Typen von Menschen angesprochen worden, die im Mitarbeiterkreis [vorher schon] vertreten waren. Gelang hier der Schritt über den Graben der üblicherweise in der Gemeinde Versammelten nicht, dann hatte das seine Folgen auch für das Echo auf die Einladung in die Gesprächsrunden. Der große Schritt - hin zu möglichst allen Menschen in der Region - wurde über das Telefon und über die Medien getan. Aufgemerkt haben viele ... Aber die Grenzen der Gemeinde - in der sozialen Schichtung, in der Sprache, im Frömmigkeitsstil - haben sich doch auch als sehr hartnäckig g e z e i g t " . ! "Es sieht so aus, daß sich bewährte 'normale' Angebote der Gemeinde durch das Projekt nicht e r ü b r i g e n " . ! 19 Bleibend und unverzichtbar ist demnach eine kompetente und reflektierte volkskirchliche Gemeindearbeit. Die Mehrheit der Gemeindemitglieder sträubt sich dagegen, sich durch enge kirchliche Vorgaben vereinnahmen oder gar umerziehen zu l a s s e n . 120 Da das aber längst schon bekannt und belegt war, ist man geneigt, zu vermuten, daß sich hinter dem Phänomen einer ständig wiederkehrenden Renaissance volksmissionarischer Kon116 Zahlen aus dem offiziellen Projektprospekt "Neu anfangen", hg.v. Gemeindedienst der Nordelbischen Ev. Luth. Kirche und Gemeindekolleg der VELKD o.O., o.J. (nach 1990) 117 Persönlicher Bericht aus dem Kirchenkreis Köln-Rechtsrheinisch; Aus dem Zahlenmaterial von O.Diehn u.a. (Hg.): Neu anfangen. Christen laden ein zum Gespräch. Ein missionarisches Projekt öffnet Türen, Gütersloh 1988, S.49 läßt sich ein ähnliches Ergebnis herauslesen, obwohl die Vergleichsbasis mehrfach wechselt und das Ergebnis verschleiert. Rückblickend haben die meisten der beteiligten Kirchengemeinden wohl lediglich die intensive Schulung ihrer (vorher bereits vorhandenen) ehrenamtlichen Mitarbeiter/innen, die im Rahmen der Projektvorbereitung erfolgte, als deutlich positive Erfahrung verbuchen können. 118 O.Diehn: Die notwendige Ernüchterung, in: Ders. u.a.: Neu anfangen, S.67 119 O.Diehn: Ernüchterung, S.68 120 "Evangelisation erreicht die gänzlich Kirchenfremden weit weniger als erhofft wird. Evangelisation leistet in der Regel eine Stärkung der bereits engagierten Gemeindemitglieder" (K.-F. Daiber: Funktion, S.365). Volksmissionarische Veranstaltungen haben einen so großen Zulauf, weil gerade "die Bekehrten" das Klima solcher Veranstaltungen suchen. F.Schwarz / C.Schwarz: Theologie, S.104, vgl. S.87f

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zepte ganz andere Motivationen verbergen als die, die gesamte Bevölkerung missionarisch zu erfassen. c) Volksmission - gut für die Pfarrer Herbert Lindner ist zuzustimmen, wenn er schreibt: "Nüchtern betrachtet wird eine Kirche nach den hier angebotenen Pfaden nur begrenzt wachsen können. Wer eine Verbreiterung des Glaubens will, muß eine grundlegende Pluralität, wie sie im Neuen Testament angelegt ist, akzeptieren und fördern und darf sich nicht einem Formzwang u n t e r s t e l l e n " . 121 Warum also dennoch immer wieder "Volksmission"? Was macht derartige Konzepte für Pfarrer/innen so attraktiv? An dieser Stelle soll keine theologisch begündete Antwort versucht werden, sondern eine, die vom Blick auf die heterogenen Arbeitsverhältnisse im Pfarramt her begründet ist. Das volksmissionarische Konzept besitzt eindeutige Vorteile. Schon die Situationsanalyse ist erfrischend einfach: Kern und fern. Normvorgaben und Handlungsanweisungen für alle Beteiligten sind konzeptintern schlüssig begründet. Sie sind überschaubar, verbindlich und verbindend zugleich. Vor allem aber sind sie operationalisierbar. Ein Pfarrer oder eine Pfarrerin kann sehr genau aus dem Konzept ableiten, was vor Ort in welcher Reihenfolge und mit welchen Zuständigkeiten zu tun ist. Schließlich ist auch das berufsspezifische Frömmigkeitsprofil, das hier zur Norm erhoben wird, für Pfarrer/innen sehr attraktiv. Pfarrerzentrierte Frömmigkeit garantiert Gefühle von Geborgenheit und Nestwärme. Man ist unter "Seinesgleichen". Die Konzeptvorgaben sichern den Pfarrer/innen die Schlüsselrolle. Sie sind diejenigen, die als Theologen und als Seelenführer gefragt sind. Ihnen wird die erforderliche Kompetenz zugesprochen. Das Gefühl der Sinnlosigkeit des eigenen Tuns irgendwo zwischen Seniorengeburtstag und Frauenhilfskaffee, das in der Massenparochie leicht zum ständigen Begleiter des Amtsträgers wird, kann sich darüber nicht so schnell einstellen. Wer nach einem solchen Konzept arbeitet, wird sich so schnell nicht fragen, wozu er eigentlich Theologie studiert hat. Schließlich ist das Konzept dem Geist einer freikirchlichen Existenz entsprungen, und kommt damit vielen entgegen, die unter der volkskirchlichen Laschheit und dem unübersichtlichen "Markt der religiösen Möglichkeiten" leiden. Selbst wenn gewiß nicht jedes Motiv bei jedem vorhanden ist, so erscheint es doch denkbar, daß das volksmissionarische Konzept besonders für Pfarrerinnen und Pfarrer attraktiv ist. Es verhilft zu klaren Ziel- und Handlungsvorgaben, zu einer geregelten Sicht der Dinge und zur Kompetenzerweiterung des Pfarrberufs. Es hilft Überflüssigkeitsphantasien zu bekämpfen und trifft damit eine weit verbreitete Bedürfnis(k)lage der Pfarrerschaft. 122 y o n daher kann man die 121 H.Lindner: Kirche, S.239 Anm.22 122 Bei F.Schwarz / C.Schwarz: Theologie, S.238f findet man eine Passage, die diese These möglicherweise ungewollt bestätigt: "Nicht die Überforderung des Pfarrers darf das entscheidende Argument für den Aufbau einer Gemeinschaft von Brüdern und Schwestern sein. Der entscheidende Grund ist ein theologischer: ...." Wenn es auch ihrer Meinung

4.1 Hugo Schnell

119

Renaissance volksmissionarischer Konzepte auch als Antwort der Praktiker auf die unüberschaubaren Verhältnisse in volkskirchlichen Größenordnungen und die anhaltende Vermehrung der Aufgabenfelder und Arbeitsverpflichtungen im Parochialpfarramt ansehen. Eine zweite Deutung hat Herbert Lindner in der gerade zitierten Anmerkung vorgeschlagen. Daß das volksmissionarische Projekt nicht funktionieren kann, ist ja längst bekannt. Braucht es vielleicht gar nicht zu funktionieren? Selbst indem es scheitert, erfüllt es doch noch eine positive Funktion für die Amtsträger. Die verbal vertretene Attitüde oder der gescheiterte Versuch beweist ihnen immerhin, daß sie ihrer volksmissionarischen Aufgabe nachkommen wollten. Daß das Bemühen dann scheitert, liegt jedenfalls nicht an fehlendem Wollen. Ist das Konzept auch in landeskirchlichen Größenordnungen von vornherein unrealistisch und unbrauchbar, so ist es ist also dennoch zu etwas nütze. Es beruhigt die Gewissen der Gemeindepfarrer/innen. Diese Erklärung ist natürlich sehr spekulativ. Wäre sie zutreffend, fände sich damit erneut ein Hinweis auf den weit fortgeschrittenen Rückzug des Mitarbeitersegments der Landeskirchen von der eigenen Mitgliederbasis.

4. Denkanstöße und Konzeptionen für eine volkskirchlich orientierte Gemeindearbeit Gegegnüber den Konzeptionen, die sich um die Entwicklung einer "profilierten Spitze" für die evangelische Gemeindearbeit bemühen, gibt es auch einige Arbeiten, die vom volkskirchlichen Charakter der Landeskirchen ausgehen und über Verbesserungsmöglichkeiten nachdenken. Einige von ihnen werden im folgenden dargestellt: Hugo Schnell (4.1), ROSTA (4.2), die erste EKD-Umfrage, Wolfgang Lück (4.4) und Herbert Lindner (4.5).

4.1 Hugo Schnell: Die überschaubare Gemeinde Hugo Schnell hat 1962 eine kleine Schrift mit programmatischem Titel vorgelegt: Die "überschaubare" G e m e i n d e . 123 Sein Ansatz unterschied sich grundsätzlich von vielem anderen, was damals diskutiert und vorgeschlagen worden ist. Schnell ging von Zahlen aus. Er stellte in einem historischen Längsschnitt die Zunahme der evangelischen Bevölkerung seit dem 19Jahrhundert dar und setzte die vorhandenen Zahlen über durchschnittliche Gemeindegrößen, die An-

nach nicht der entscheidende Grund ist, so wissen die Autoren doch wohl offensichtlich um das Gewicht dieses Gesichtspunktes. (Hervorhebung von mir.) 123 1962; in zweiter Auflage Berlin u.ö. 1965 erschienen als Heft 5 der von Ausschuß für Fragen des Gemeindelebens der VELKD herausgegebenen Reihe "Missionierende Gemeinde". Alle Zitate nach der 2. Auflage.

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zahl der Pfarrstellen und die Gottesdienstteilnahmefrequenz daneben. Anhand dieser Zahlenreihen belegte er einen unmittelbaren Zusammenhang zwischen der kirchlichen Präsenz (Gemeindegröße) und dem Ausmaß der "Entkirchlichung" der Kirchenmitglieder gemessen in den Variablen Gottesdienstteilnahme und A b e n d m a h l s t e i l n a h m e . 124 Unter Verweis auf eine deutlich detailliertere Untersuchung des schwedischen Bischofs Bo G i e r t z ^ 5 formulierte er als Ergebnis: "Die Massengemeinden lähmen die geistliche Kraft der Kirche" (Erster Satz des Vorwortes). "Die Massengemeinde fordert Entkirchlichung und Entchristlichung geradezu heraus ... Flammende Anklagen und bewegte Klagen können nicht darüber hinwegtäuschen, daß die Kirche selbst das Notwendigste versäumt hat. Der Schaden kommt nicht von außen ... Die Massengemeinden wurden zum 'Agenten der Entkirchlichung' (Paul Winninger). 'Man kann ruhig die Behauptung wagen, daß niemand ein wirksameres System hätte ausdenken können, um die Kirche lahmzulegen' (Bo Giertz)" (S.27). Sein Analyseergebnis veranlaßte ihn zu der Forderung: "Dem Aufbau überschaubarer Gemeinden kommt in der Vielfalt kirchlicher Erneuerungsbemühungen eine vorrangige Schlüsselstellung zu" (Vorwort). Im Schlußteil des Buches kommt er noch einmal auf diese Forderung zurück und betont nachdrücklich: "Die überschaubare Gemeinde ist kein Reformvorschlag neben vielen anderen. Sie ist unabdingbare Voraussetzung für ein fruchtbares Wirken der Kirche, die Grundlage, auf der alle anderen Anstrengungen erst wirksam werden können. Keine noch so sorgsame soziographische Bestandsaufnahme, keines der modernen Massenmedien, keine neue Taktik und Technik, keine liturgische Reform, kein neuer Predigtstil, kein Experiment und keine Bewegung werden uns weiterhelfen, wenn wir uns nicht endlich um jene Gemeinde bemühen, die als Gemeinde funktionieren kann" (S. 101). Schnell wollte den Hebel bei der Gemeindegröße ansetzen. Hier sah er die entscheidende Schlüsselvariable, die zu verändern ist, um durch menschengerechtere und arbeitnehmerfreundlichere Struktur- und Rahmenbedingungen zu einer qualitativen Verbesserung des gemeindlichen Lebens zu kommen. Er zitierte u.a. den Bericht des bayerischen Landesbischofs vor der Landessynode 1962, in dem darauf hingewiesen wurde, daß eine Zählung der Ehrenamtlichen zu dem überraschenden Ergebnis geführt hat, daß "in Gemeinden von 2000, 1500 und 1000 Gliedern die Gesamtzahl aller in irgendeinem gemeindlichen Dienst 124 Einen ähnlichen Nachweis liefert H.Lindner mit einer Korrelation der Gemeindegröße und der Wahlbeteiligung bei Kirchenvorstandswahlen in Bayern aus dem Jahr 1988. Auch hier sind die Zusammenhänge unbestreitbar. Je kleiner die Kirchengeminde, desto größer die Wahlbeteiligung. Erst oberhalb von 7000 Gemeindemitgliedern pro Gemeinde wird das Bild uneinheitlicher. - vgl. das Schaubild in: Kirche, S.170 125 Brytningstider, Göteborg 1957

4.1 Hugo Schnell

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mitwirkenden Laien fast genau gleich groß ist, nämlich 120. Das bedeutet, daß sich in einer Gemeinde von 1000 Seelen jeweils jedes 8., in einer Gemeinde von 2000 Seelen nur jeweils jedes 15. Gemeindeglied für einen gemeindlichen Dienst gewinnnen ließ" (S.63). Mitwirkungs- und Mitgestaltungsmöglichkeiten stärken die Gemeindebindung. Schon Jakob Schoell hatte das 1911 geschrieben. Auch auf die Arbeitsbedingungen der Pfarrerschaft fiel von daher ein erhellendes Licht. Massengemeinden überfordern die Arbeitskraft der Pfarrer/innen und zwingen zu flexiblen, aber kontraproduktiven Anpassungsleistungen: "Der überforderte Pfarrer ist gezwungen, die Gemeinde als einen Block zu behandeln, der ihm gegenübersteht. Er ist außerstande, diesen Block durch persönlichen Kontakt und seelsorgerliches Gespräch aufzulösen und zu verlebendigen. Da er die Aussichtslosigkeit seines Mühens schnell erfahren muß, konzentriert er seinen Dienst auf einen kleinen Kreis und überläßt die übrigen Gemeindemitglieder faktisch sich selbst. Es kommt zu der dem Wesen der Gemeinde widersprechenden Aufspaltung in Kerngemeinde und Randsiedler" (S.36). Emil Sülze hatte auf dem Hintergrund ähnlicher Erfahrungen von der "Angst der Pfarrer vor der Gemeinde" sprechen können. Schnell warnte jedoch vor übereilten Schuld vorwürfen. Die Pfarrer sind vor allem Opfer der Strukturbedingungen, unter denen sie arbeiten müssen: "Die Gemeinde klagt über den mangelnden Hausbesuch des Pfarrers, weil sie den Umfang des Dienstes in der Massengemeinde nicht abzuschätzen vermag. Sie sollte das System anklagen, das für eine der wichtigsten Aufgaben des Hirtenamtes so wenig Raum läßt" (S.37). Hugo Schnell dachte an eine Richtzahl von etwa 1000 Gemeindemitgliedern pro Kirchengemeinde. Dabei kam es ihm aber sehr viel weniger auf die numerische Gleichheit der Seelenzahl pro Pfarrbezirk an (S.60) als vielmehr auf eine konsequente Berücksichtigung der lokalen Gegebenheiten. In dieser Hinsicht hat er sehr präzise Vorstellungen entwickelt. Die Kirchengemeinden sollten sich vor der Neuordnung ihrer Gemeindegrenzen an der Vorgehensweise von Marktforschungsinstituten orientieren. Sie sollten Stadtplanungsdaten und statistische Entwicklungen einholen. Sie sollten sich kompetent von Spezialisten (Städtebauer, Architekten, Soziologen, Betriebswirtschaftler (S.48)) beraten lassen. Vor allem aber sollten sie die "menschlichen Zonen" (S.57-60) berücksichtigen. Selbst äußerlich hochkomplexe Großstadträume zerfallen häufig in sehr viel kleinere, in sich geschlossene Lebensräume, die durch "gemeinsame wirtschaftliche, soziale, geschichtliche, kulturelle und religiöse Probleme bestimmt" sind (S.58). Die Mehrheit der Anwohner lebt in einem "Lebensradius", der milieuspezifisch ausgeformt ist und unterschiedlich groß sein kann. Die Gemeinden sollten darauf achten, daß ihr Einzugsbereich nach Möglichkeit mit den "Lebensräumen" der Menschen deckungsgleich ist und ihre Bemühungen auf die Bildung "homogener Regionen" abstellen. Besonders gilt das für die Einzugsbereiche von Schulen. Auch auf die zertrennende und abgrenzende Wirkung von Eisenbahnlinien, Parks, Friedhöfen oder verkehrsreichen Straßen

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II. 100 Jahre Reform

ist zu achten. Alle diese Hinweise sind auch heute noch gültig. Manch ein Pfarrer hat sich schon verzweifelt gefragt, was er denn noch tun muß, damit die Menschen, die jenseits einer Bahnlinie oder jenseits einer Hauptverkehrsstraße wohnen, auch einmal den Weg in seine Kirche finden. Aber Schnell dachte nicht nur in Raumordnungsvariablen, er forderte auch, daß die Pfarrer/innen möglichst lange in "ihrer" Gemeinde bleiben, damit durch Kontakte, Bekanntschaften, Begegnungen und Seelsorge eine starke wechselseitige Verbundenheit von Pfarrer/in und Gemeindemitgliedern wachsen kann (S.62). Dazu paßt, daß Schnell die Kerngemeindefixierung der Pfarrerschaft überwinden und möglichst vielen Gemeindemitgliedern Möglichkeiten eröffnen wollte, in ihrer Kirchengemeinde aktiv mitzuarbeiten. Die Reduzierung der Mitgliederzahlen und die Neubestimmung der Gemeindegrenzen unter Einbeziehung der lokalen Strukturen erschienen ihm als geeignete Maßnahmen zur Lösung dieser Aufgabenstellung. Sein Vorschlag kam völlig ohne Vorgaben hinsichtlich erforderlicher Inhalte, Überzeugungen oder Gesinnungen aus und wurde damit der Vielfalt der Gaben, Milieus und Schichten, die innerhalb einer Parochie zusammenleben, deutlich besser gerecht als milieu- oder mentalitätsverengte Konzepte. Rückblickend läßt sich feststellen, daß Schnells Thesen nicht ungehört geblieben sind. Zwar sind seine Idealvorstellungen nur selten einmal eingelöst und umgesetzt wordenl26( aber er hat doch die Richtung vorgegeben, der die Landeskirchen langsam, aber stetig über fast 30 Jahre hinweg gefolgt sind. In vielfaltigen Bemühungen haben sie an der Verkleinerung der Parochien, vor allem aber an der Verkleinerung der Pfarrbezirke gearbeitet. Erst in den letzten Jahren kommt es aufgrund von zurückgehenden Finanzmitteln zur Umkehr des Trends. Die Freigaberichtlinien für Parochialpfarrstellen werden wieder verschärft. Neu besetzte Pfarrstellen sind mit einer höheren Grundbelastung für die Stelleninhaber/innen verbunden sein. Hugo Schnell ist vergessen.

4.2 ROSTA: Die in Pfarrbezirke und Fachbereiche gegliederte Gesamtgemeinde Mit den "Vorschlägen zur Neuordnung des kirchlichen Dienstes in den Gemeind e n " ! ^ ihj-es "Raumordnungs- und Strukturausschusses" (ROSTA) hat die Evgl. Kirche im Rheinland 1970 einen Versuch unternommen, ihre Organisa126 "In Schweinfurt wurde H.Schnells Konzept konsequent durchgeführt. Nach Wahrnehmung von Gemeindepfarrem konnten die dadurch entstandenen kleinen Gemeinden die Wanderungsbewegungen an die Peripherie nicht auffangen. Sie versuchten, wichtige Mitarbeiter zu halten, auch wenn sie in eine andere Gemeinde umzogen. Paradoxerweise haben diese wohl zu klein angelegten Gemeinden durch die vielen Umpfarrungen das Prinzip der Ortsgemeinde untergraben". - H.Lindner: Kirche, S.171 Anm.44 127 Hg.v. Raumordnungs- und Strukturausschuß der Evgl. Kirche im Rheinland (ROSTA), o.O, o.J. (Selbstverlag Düsseldorf 1970)

4.2 ROSTA

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tionsstrukturen der ecclesia visibilis in zupackender Weise zu erneuern und zu verbessern. "Die Arbeit des ROSTA will mit helfen, daß der kirchliche Dienst möglichst zeitnah und wirksam ausgerichtet wird ... Wir machen uns gegenüber unserem Auftrag schuldig, wenn wir zu seiner Erfüllung nicht mit allen uns zur Verfügung stehenden Möglichkeiten beitragen. Dazu gehört auch der Versuch, Kirche so zu organisieren, daß keine Energie ohne Nutzeffekte verbraucht wird. Diese Mühe um gegenwartsnahen Dienst müssen wir uns geben, weil das zu unserem Missionsauftrag gehört" (S.35). Mehrfach ist in dem Papier die Sorge angesprochen, daß auf absehbare Zeit die Finanzmittel der Kirche kleiner werden und der Personalbestand sinken w i r d . 128 Angesichts der drohenden Ressourcenverknappung denkt der ROSTA über Möglichkeiten nach, die Gemeindearbeit "verantwortlich und rationell" (S.8), "effektiv" (S.8) und "möglichst zeitnah und wirksam" (S.35) zu gestalten. Man ist überrascht, eine solche leistungs- und effizienzorientierte Terminologie in einem kirchenoffiziellen Papier anzutreffen, aber die befürchtete Ressourcenverknappung begründet die Wortwahl in überzeugender Weise. Man glaubte, keine andere Wahl zu haben. Der gleiche Vorgang hat sich auf der Rheinischen Landessynode im Januar 1995 wiederholt, wo das ROSTA-Papier angesichts rückläufiger Kirchensteuereinnahmen erneut ins Gespräch kam. Diese Beobachtungen begründen den Anfangsverdacht, daß die Finanzlage einer Landeskirche das Ausmaß ihres Organisationsbewußtseins bestimmt. a) Die Analyse der Gemeindesituation Auch im ROSTA-Papier findet man eine kurze Darstellung der Gemeindesituation, auf die sich das Konzept bezieht: Die Mitwirkungsmöglichkeiten der Laien mit ihren vielfältigen Begabungen sind in den Gemeinden unterentwikkelt, "weil unser Dienst mehr auf Versorgung als auf die Entfaltung eigener Initiativen angelegt ist. Die ROSTA-Vorschläge wollen darum Ernst machen mit dem Ziel, möglichst viele an Dienst und Verantwortung zu beteiligen" (S.18). Die Vielfalt der Anforderungen an eine Kirchengemeinde ist im Zuge der gesellschaftlichen Entwicklung so stark angestiegen, daß die Gemeinden ihnen selbst bei bestem Bemühen nicht mehr nachkommen können. "Da außerdem die Ortsgemeinde um der Überschaubarkeit willen möglichst klein bleiben muß, führt die Fülle der vorgegebenen Aufgaben zur Verzettelung der verhältnismäßig geringen Kräfte - oder viele Aufgaben bleiben unerledigt" (S.15). Die Aufgaben, die den Presbyterien durch die Kirchenordnung aufgetragen sind, sind so zahlreich, daß man sich fragen muß, "ob die Vielfalt der Aufgaben ei128

S.8, S . 1 6 u n d S . 3 1

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nes Presbyteriums (das ja überwiegend aus ehrenamtlichen Mitgliedern besteht und in der Regel nur einmal im Monat zusammentritt) nicht in vielen Fällen die Möglichkeit ausschließt, sachlich angemessene Entscheidungen zu fallen" (S.12). Eine Auflistung sämtlicher Verpflichtungen, die eine Pfarrerin oder ein Pfarrer nach Maßgabe der Kirchenordnung wahrzunehmen hat, führt zu der Einsicht, daß die Pfarrerschaft überfordert ist. "Die Pfarrer der Rheinischen Landeskirche haben sich nach Kräften und oft auch über ihre Kräfte darum bemüht, diesen Anweisungen zu entsprechen und dabei eine Arbeit geleistet, deren Umfang kein Einsichtiger verkennen kann ... Doch es liegt auf der Hand, daß dies alles die Möglichkeiten eines einzelnen bei weitem übersteigt. Denn wie kann man neben gründlicher theologischer Ausbildung zugleich beispielsweise die Fähigkeiten eines ausgebildeten Pädagogen, die eines Psychologen, Jugendleiters und Verwaltungsspezialisten aufweisen? Dies und noch mehr wird von einem Gemeindepfarrer aber einfach erwartet" (S.10). b) Lösungsvorschläge des ROSTA Das ROSTA-Papier unterbreitet Vorschläge, die den genannten Problemen Rechnung tragen und gleichzeitig sicherstellen wollen, daß die Kirchengemeinden zukünftig auch neuen E n t w i c k l u n g e n ^ < j Gemeindearbeit gerecht werden können. Erklärtes Ziel der Bemühungen ist es, das Aufgabenspektrum der Kirchengemeinde zu überprüfen, das Leistungsangebot zu koordinieren, einzelne Arbeitsfelder zu zentralisieren und grundsätzlich so zusammenzuarbeiten, daß doppelte Arbeit, ineffektive Gruppengrößen oder persönliche Überforderungen vermieden werden. Die Grenzen aller Organisationsebenen bis hinauf zur Kirchenkreisebene sollen "funktional durchlässig" gemacht werden (S.17). Die einzelnen Kirchengemeinden sollen Schwerpunkte ihrer Arbeit festlegen und "weniger dringende [Aufgaben] vernachlässigen" (S.30). Schließlich soll stets "geprüft werden, ob die als notwendig erkannten Aufgaben in der eigenen Gemeinde wahrgenommen werden können, ob eine Nachbargemeinde diese mitübernehmen kann oder ob gar der Kirchenkreis die geeignete Handlungsebene ist" (S.29). So entstehen die Umrisse eines gut koordinierten, leistungsfähigen Gesamtgefüges, innerhalb dessen von jedem einzelnen Subsegment nur noch ein kleiner, überschaubarer Teil der Arbeit erledigt wird. er

"Von wirtschaftlichen Gesichtspunkten her ist es erforderlich, die Handlungsebene der Ortsgemeinden je nach den örtlichen Voraussetzungen so zu vergrößern, daß dort alle in der Gemeinde nötigen Dien129 Genannt werden: Spezialgottesdienste; Gemeindeseminare; Religionsunterricht; spezielle Seelsorgebereiche (Telefon, Erziehungs- und Lebenberatung, Studenten, Krankenhaus, Altenheime); Sachbezogene Gruppenarbeit; Erwachsenenbildung mit einzelnen Zielgruppen; Mitarbeiterschulung; Öffentlichkeitsarbeit - S.22

4.2 ROSTA

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ste eingerichtet und durchgeführt werden können. Dieser Weg wird mit der engen Zusammenarbeit benachbarter Gemeinden beginnen und über Verbandsbildungen zum Zusammenschluß in eine neue größere Gemeinde führen. 'Überschaubarkeit' wird so nicht mehr durch geringere Größe der Gemeinde erreicht, sondern durch Gliederung in Pfarrbezirke einerseits, die vor allem der persönlichen Begegnung und Seelsorge dienen, und in spezielle Aufgabenbereiche für die ganze Gemeinde ('gegliederte Gesamtgemeinde') andererseits" (S.20). Aus finanziellen und organisationstheoretischen Erwägungen heraus schlug der ROSTA die Vergrößerung der Kirchengemeinden vor, "um für die wichtigsten Spezialaufgaben in der Kirche einen ausreichenden Einzugsbereich, sachkundige Mitarbeiter und Geld genug gewährleistet zu wissen" (S.32). Angestrebt werden Kirchengemeinden mit 5-7 Pfarrstellen, "in der Regel 13000 bis 20000 Mitglieder" und einer Obergrenze in städtischen Ballungsräumen von 30000 bis 50000 Mitgliedern (S.31). Bei der Neuordnung der Gemeindegrenzen sollen die Gegebenheiten des jeweiligen kommunalen L e b e n s r ä u m e 130 berücksichtigt werden. Alle Kirchengemeinden sollen durch Pfarrbezirke und Fachausschüsse gegliedert sein. Jedem Pfarrbezirk wird ein Bezirkspresbyterium zugeordnet, das die Bezirksangelegenheiten regelt. Die Fachausschüsse sollen die Einbeziehung sachkundiger Laien ermöglichen und damit eine Verbreiterung der Mitarbeiterbasis bewirken. Die bestehenden Verwaltungsämter sollen zu leistungsfähigen und kostengünstigen Einheiten zusammengeschlossen werden (S. 29). 131 Die Bildung von Gemeindeverbänden wird angeregt. Der Kirchenkreis soll "von einer Aufsichts- zu einer Arbeitsebene" (S.29) weiterentwickelt werden. Er soll neben Landeskirche und Kirchengemeinden zum eigenständigen Anstellungsträger werden. Auch die Tätigkeit im Pfarramt wird neu geordnet. Jeder Pfarrstelle werden drei Tätigkeitsbereiche zugewiesen: die Bezirksarbeit in einem Pfarrbezirk, überbezirkliche Spezialfunktionen und schließlich übergemeindliche (Kirchenkreis; Landeskirche) Aufgaben. Schließlich sollen auch neue Möglichkeiten der ehrenamtlichen Mitarbeit erprobt werden. Neben den herkömmlichen Arbeitsfeldern und Aktivitäten wird die Einrichtung von "Dienstgruppen" (S.25), von Teamarbeit und von befristeten Teilzeitverträgen empfohlen. c) Die Musterdienstanweisung für einen Bezirkspfarrer Im Anhang des ROSTA-Papiers ist die Dienstanweisung eines Parochialpfarrers abgedruckt ( S . 3 7 - 3 9 ) 1 ^ a u s der sich entnehmen läßt, wie man sich die 130 vgl. Schnell; W.Jetter: Die Chancen der Ortsgemeinde, in: WPKG 66/1977, S.2-18 131 Im Anhang des ROSTA-Papiers finden sich "Vorschläge zur Neuordnung der kirchlichen Verwaltung" - S.51-64 132 Sie ist konkreter als die Formulierungen im "Merkblatt für die Aufstellung und Prüfung der Dienstanweisung der Gemeindepfarrer" im Kirchlichen Amtsblatt der Rheinischen Kirche November 1971, S.268f, die 1995 noch in Kraft sind.

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Neuordnung des Pfarrdienstes konkret vorzustellen hat. Die Dienstanweisung gliedert sich in drei Teile: Aufgaben im Pfarrbezirk, gesamtgemeindliche Aufgaben und übergemeindliche Aufgaben. Im einzelnen ist hier aufgeführt: * Bezirksaufgaben: Hausbesuche, Amtshandlungen, Kirchlicher Unterricht, "Aufbau, Zurüstung und Einsatz eines Helferkreises im Bezirk". * Gesamtgemeindliche Aufgaben: Gottesdienste, Wochengottesdienste, Gottesdienste an vier weiteren Orten, Kinder- und Schulgottesdienste jeweils im Wechsel mit den Inhabern der anderen beiden Pfarrstellen. "In der Arbeitsgruppe sind Sie bis auf weiteres zuständig für Taufseminare, Kinder- und Jugendgruppen, kirchlichen Unterricht, Freizeiten, Verbindung zu Elternhaus und Schule, Arbeitskreis 'Fragen der Entwicklungshilfe". 133 * Übergemeindliche Aufgaben: Zusammenarbeit mit den Nachbargemeinden, Mitarbeit am Aufbau regionaler Funktionen, Pflege der Beziehungen zu Werken und Verbänden der Kirchen in Deutschland und der Ökumene. "Sie sollen mit den Lehrern und Schulen ihres Bezirkes vertrauensvoll zusammenarbeiten und sind verpflichtet, an den Arbeitsgemeinschaften für Pfarrer und Lehrer regelmäßig teilzunehmen. Wenn erforderlich, übernehmen Sie Religionsunterricht ... Wenn Sie in städtische Ausschüsse berufen werden, erwartet das Presbyterium, daß Sie die damit verbundenen Aufgaben übernehmen. ... Den Vorsitz im Presbyterium führen Sie in jedem 3. Jahr" (S.38f). * Der Schlußabsatz der Musterdienstanweisung lautet: "Mit der vorliegenden Dienstanweisung ist Ihnen ein Arbeitsfeld abgesteckt, auf dem Sie nach dem Maß ihrer Kräfte und Fähigkeiten tätig sein sollen. Das Presbyterium bittet Sie, darauf zu achten, daß Ihr Dienst nicht einem Leistungszwang verfällt und so die dem Evangelium gemäße Menschlichkeit sich selbst, Ihrer Familie und der Gemeinde gegenüber gefährdet" (39). 134

133 Die anderen beiden Pfarrstelleninhaber/innen sind ihrerseits zuständig für "Gottesdienstplanung, Kirchenmusik, Kindergottesdiensthelferkreis, Ökumenischer Arbeitskreis, Frauenhilfe, Altenbetreuung. Krankenhausbesuche, Aktion 'Mutter hat frei', Dienstgruppe 'Besuche in Grafenberg', diakonische Veranstaltungen" bzw. für "Planung von Gemeindeseminaren und Vortragsveranstaltungen, Bibelgespräche, Hauskreise, Mütterkreis, Öffentlichkeitsarbeit (Gemeindebriefe, Presse, Werbung), Dienstgruppe 'Besuche und Kontakte', Arbeitskreis für gesellschaftliche Verantwortung" (S.38). 134 Der Schlußsatz der Musterdienstanweisung hat sich mittlerweile zum standardisierten Nachsatz rheinischer Pfarrerdienstanweisungen entwickelt. Der Satz ist kommentierungswürdig. Einerseits möchte das Presbyterium den neuen Pfarrstelleninhaber offenbar dazu veranlassen, seinen zahlreichen Dienstverpflichtungen nachzukommen. Gleichzeitig aber deutet der Nachsatz darauf hin, daß das Presbyterium weiß, daß der erwartete Arbeitsumfang zu hoch ist. Es möchte sich jedoch nicht vorwerfen lassen, durch das Übermaß an Anforderungen die Gesundheit, das Familienleben oder die Leistungsmotivation des Betroffenen zu gefährden. Wie kommt das Presbyterium aus dieser Zwickmühle heraus: Es schreibt einfach beides in die Dienstanweisung, die überhöhten Arbeitsanforderungen und die Verpflichtung, die Menschlichkeit zu wahren, und überläßt es dem Gewählten, irgendwie damit zurecht zu kommen. Bei diesem Vorgehen drängt sich eine Rückfrage ge-

4.2 ROSTA

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d) Erfahrungen bei der Umsetzung des Konzepts Schon wenige Jahre nach der Verabschiedung der "Vorschläge" hat der ROSTA unter dem Titel "Erfahrungen und Folgerungen 1971-1973" eine Zwischenbilanz der Aktivitäten v o r g e l e g t . 135 Durch seine Praxisnähe hat der Vorstoß der Kirchenleitung viele Kirchengemeinden ermutigt, aktiv eingefahrene Gleise der Arbeit zu verlassen und nach Entlastungs- und Rationalisierungsmöglichkeiten zu suchen. Die Verwaltungen wurden überprüft, das Leitungsverhalten der Presbyterien zur Diskussion gestellt, die Mitsprachemöglichkeiten von sachkundigen Laien wurden instituionell verbessert, die gemeindeinterne Kommunikation und Kooperation intensiviert. Rückblickend läßt sich dennoch feststellen, daß gerade das Hauptanliegen des ROSTA-Papiers nicht erreicht worden ist, die Bildung von großen oder sehr großen Kirchengemeinden, die in einem Leistungsverbund zusammengeschlossen sind und koordiniert in der Öffentlichkeit auftreten. Auch hier steckten die Probleme mit der Umsetzung des Konzepts im Detail. 1. Das Beharrungsvermögen der Kirchengemeinden: Man hatte das Beharrungsvermögen und den Beharrungswillen der Kirchengemeinden offensichtlich unterschätzt. So wurden zwar die Zwischenschritte, Kooperation von Nachbargemeinden, Koordination der Angebote, Bildung von gemeinsamen Verbänden, vollzogen, aber der letzte Schritt ist in der Regel ausgeblieben. Ein gewachsenes Traditionsbewußtsein mag sich mit einer Art "Vollservice-Mentalität" verbunden haben. Der Wunsch, trotz aller Belastungen auf kleinem Raum ein möglichst umfassendes Gemeindeleben aus einer Hand zu organisieren, war letztlich doch stärker als alle Fusionsvorschläge. Das Rationalisierungs- und Kooperationspotential wurde in städtischen Gemeinden vor allem gemeindeintern ausgeschöpft. Wo man aber mit der Gründung von Verbänden bereits erste Schritte zu einer Fusion der Gemeinden getan hatte, ergaben sich nicht selten negative Folgen, wenn der weiterführende Schritt, die Fusion der Einzelkirchengemeinden, ausblieb. Die neuen Verbände vergrößerten den Leitungsaufwand und die zwischengemeindliche Bürokratie. Die ehrenamtlichen Mitglieder der Presbyterien hatten nun noch mehr Sitzungstermine, nicht, wie ursprünglich beabsichtigt, weniger. Die (auf halbem Weg stehengebliebenen) Kirchengemeinden quälen sich teilweise noch heute mit den belastenden Konsequenzen ihrer eigenen Kompromisse mit den ROSTA-Vorschlägen, denn die Presbyterien sind häufig zu klein, um die neu entstandenen Gremien und Ausschüsse personell ohne Schwierigkeiten besetzen zu können. Als hinderlich erwies sich auch eine "bürokratische Mentalität" in den Presbyterien. Zwar radezu auf: Wäre es nicht sinnvoller, jede rheinische Dienstanweisung gleich so mitarbeiterfreundlich zu formulieren, daß ein derart peinlicher Nachsatz überflüssig wird? Bei Ernst Lange findet man eine ähnliche Kritik an den Pfarrdienstordnungen der Landeskirchen, die ihre Pfarrer zunächst "mit einem absurden Pflichtenkatalog" belasten, es ihnen dann aber auf der anderen Seite "in einem erstaunlichen Maß" selbst überlassen, wie sie mit diesem Pflichten fertig werden. - Schwierigkeit, S.19 135 Selbstverlag o.O., o.J. [Düsseldorf 1973 oder 1974]

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II. 100 Jahre Reform

wurde vieles satzungsmäßig geregelt, aber oft blieben die abgetretenen Kompetenzen weit hinter dem Ausmaß des Vorstellbaren zurück. Satzungsgemäße, aber zeitaufwendige Doppelarbeit nahm zu und verstärkte die Verbürokratisierung der Gemeindeleitung. Die letzten Entscheidungsbefugnisse blieben ohnehin in der Hand der Gesamtpresbyterien. So hatte es die Kirchenordnung festgeschrieben. Die Ausschußarbeit konnte darüber leicht zu einem demotivierenden "Demokratiespiel" verkommen. Besonders die Laien, die ihre Freizeit für Ausschußsitzungen opfern, klagten darüber. 2. Die Pfarrerüberlastung bestand weiter: Zwar wurden eine ganze Reihe von Entlastungmöglichkeiten für die hauptamtlichen Mitarbeiter/innen vorgeschlagen, die in den Gemeinden auch zügig aufgegriffen und umgesetzt worden sind. Aber schon bei näherem Hinsehen entdeckt man zeitaufwendige Verschiebungen. Alle Formen von Kooperation und Koordination erhöhen den Zeitbedarf. Dies gilt um so mehr in einer Organisation, die nicht hierarchisch, sondern horizontal geordnet ist. Das ROSTA-Papier hat über diese Tatsache allzu leichtfertig hinweggesehen. In horizontal gegliederten Organisationen kann man nicht, wie das in hierarchischen Organisationen selbstverständlich ist, Rahmenbedingungen oder Zielvorgaben festlegen, die Verfahrensabläufe selbst auf nachgeordnete Ebenen delegieren und anschließend den gesamten Vorgang bis zur Wiedervorlage vergessen. Kirchengemeinden arbeiten von ihrer Organisationsstruktur her mit sehr zeitaufwendigen Rückkopplungsschleifen. Mitarbeitsverpflichtungen sind längst nicht so leicht zu delegieren wie Arbeitsaufträge in Firmen. Kompetente Zuarbeit ist selten. Gerade die Teamarbeit, die in den 70er Jahren viele Freunde gewonnen hat, ist ein anspruchsvolles und zeitintensives Verfahren, wenn gewährleistet werden soll, daß alle Teilnehmer wirklich gleichberechtigt mitarbeiten können. Unter dem Strich half das ROSTA-Papier, Entlastungsmöglichkeiten zu realisieren, es weckte aber auch hohe Erwartungen an eine neue Kommunikationskultur in den Kirchengemeinden, deren zeitraubende Begleiteffekte eindeutig unterschätzt wurden. Erstaunlich geringes Interesse erfährt in den ROSTA-Anregungen die eigentliche pastorale "Kernarbeit" für und mit den Gemeindemitgliedern eines Pfarrbezirks. Herbert Linder, der die Arbeitsanforderungen, die aus einem Pfarrbezirk erwachsen, aus langjähriger Tätigkeit als Gemeindeberater in der Bayerischen Landeskirche sehr gut einzuschätzen vermag, hat darauf hingewiesen, daß allein diese bezirklichen Tätigkeiten (incl. Gottesdienste), wenn sie ernsthaft verfolgt werden, ausreichen, um eine normale Arbeitswoche zu füllen. "Frei ist der Pfarrberuf allenfalls im 'Wie' - und für Tätigkeiten jenseits einer 'normalen' Arbeitswoche -, das 'Was' ist in hohem Maße durch Grundaufgaben f e s t g e l e g t " . 136 Gerade die Kernarbeit der Gemeindepfarrer läuft in den ROSTA-Vorschlägen konzeptionell eher am Rande mit. 3. Laienengagement unter pastoraler Kontrolle: Die im Anhang abgedruckte ROSTA-Dienstanweisung schreibt die "Verantwortlichkeiten" der drei Bezirks136 H.Linder: Kirche, S.298f

4.2 ROSTA

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pfarrer für jedes einzelne Teilgebiet der gesamten Gemeindearbeit fest. Diese lückenlose und vollständige Aufzählung muß nicht unbedingt bedeuten, daß die angestellen Pfarrer/innen tatsächlich alle diese Arbeiten zu übernehmen hätten. Sie kann das aber sehr wohl bedeuten, und sie wird es mit einiger Wahrscheinlichkeit immer dann bedeuten, wenn irgendwo Engpässe auftreten. Die Pfarrer/innen wurden qua Musterdienstanweisung zu "Mädchen für alles" gemacht. Wo die Handreichung zu den Spandauer Thesen noch erklären konnte, es sei Aufgabe der ehrenamtlichen Mitarbeiter/innen, das Gemeindehausleben zu leiten, zementierte das ROSTA-Papier die Verantwortung und im Zweifelsfall eben auch die Dienstverpflichtung der Pfarrerschaft. Gegenüber den Spandauer Thesen war das ein Rückschritt. Pastorale Letztverantwortlichkeiten, noch dazu, wenn sie in Dienstanweisungen fixiert sind, sind ungeeignet, den evangelischen Gemeindemitgliedern "die Entfaltung eigener Initiativen" (S.18) zu ermöglichen. Entgegen der erklärten Absicht verstärkte man durch diese Verantwortlichkeitregelung die Allzuständigkeit der Hauptamtlichen und schwächte die Stellung der ehrenamtlichen Mitarbeiter/innen. Wer die Selbständigkeit der Gemeindemitglieder stärken möchte, darf nicht davor zurückschrecken, klar definierte Kompetenzen in rechtlich verbindlicher Form auf Laien zu übertragen. Eine Konstruktion, in der den Hauptamtlichen potentiell jederzeit Feuerwehr- und Notnagelfunktionen zufallen können, ist dazu ungeeignet. Unter der rechtsverbindlich festgeschriebenen und dienstvertraglich geregelten Ägide der Pfarrerschaft kann sich die Freiheit der Gemeindemitglieder unmöglich entfalten. 4. Geist der Ordnung: Obwohl das Gegenteil behauptet w i r d * ^ s i n ( j die Vorschläge des ROSTA sind in spürbarer Weise von einem "Geist der Ordnung" geprägt. Sie sind mentalitätsverengt. Die Inhalte einer möglichen Gemeindearbeit sind sehr viel weniger im Blick als die Leitungs- und Aufsichtsstrukturen der Gemeinde. Das Papier zielt auf die "Amtsträger", Presbyterium und Pfarrer. Die Musterdienstanweisung überrascht mit der Feststellung, daß alle Gemeindeaktivitäten einer pastoralen Verantwortung unterstellt sind. Wie selbstverständlich übernimmt der angestellte Pfarrer die Leitung des von der Gemeinde gewählten Presbyteriums. Die unzeitgemäße Rahmenordnung für den Dienst des Presbyteriums (Art. 105 K 0 ^ 8 ) w i r ( i z w a r ausführlich referiert, bleibt aber in der Sache vollkommen unangetastet (S.12). Wer Leitungsverantwortung tragen soll, braucht klare, unzweideutig formulierte Kompetenz- und Rahmenrichtlinien. Beides fehlt. Wenn Wissen Macht ist, dann besitzen auch in der ROSTA-Gemeinde die Theologen die Macht, weil den Laien das notwendige Leitungswissen vorenthalten wird. Demgegenüber wird geregelt, daß die 137 "Unser Leitbild ist freilich nicht ein möglichst perfekt funktionierender Dienstleistungsbetrieb" - S.35 138 "Das Presbyterium hat die Aufgabe ... Sorge zu tragen, daß der missionarische Auftrag der Gemeinde erfüllt wird und die Gebote Gottes auch im öffentlichen Leben zur Geltung kommen ... insbesondere denen nachzugehen, die der Wortverkündigung und dem heiligen Abendmahl fernbleiben ..."

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"sachkundigen Laien" in ein formales Ordnungsgefüge aus Fachausschüssen eingebunden werden sollen, die grundsätzlich dem Gesamtpresbyterium unterstellt sind. Mitwirkung kommt, soweit das erkennbar ist, vor allem als Mitwirkung in derartigen Fachausschüssen in den Blick. Für engagierte und einsatzfreudige Mitarbeiter/innen aber gehört gerade dieser Bereich oft zu den unerfreulichsten Seiten des gesamten Gemeindebetriebs. Insgesamt drängt sich der Eindruck auf, daß die Autoren des ROSTA-Papiers der großen Tradition des Laienengagements in der Rheinischen Kirche nicht gerecht geworden sind. e) Richtungweisendes Die Erfahrungen mit dem ROSTA-Papier erlauben einige richtungweisende Schlußfolgerungen: 1. Konzepte und Vorschläge zur Praxis der Gemeindearbeit werden um so wirksamer und praktikabler, je genauer sie die volkskirchliche Wirklichkeit erfassen und auf die vor Ort tatsächlich vorhandenen Probleme und Schwierigkeiten eingehen. 2. Die Vollservice-Mentalität führt die Kirchengemeinden im Zusammenwirken mit bürokratischer Schwerfälligkeit und mangelnder Entschlußfreudigkeit in eine Dauerüberlastungskrise. 3. Die Bedeutung der pastoralen Arbeit in den Pfarrbezirken sollte nicht unterschätzt werden. Die Pfarrerschaft sollte vorrangig in diesem Arbeitsfeld eingesetzt und von allen übrigen dienstvertraglich festgeschriebenen Verpflichtungen so weit als irgend möglich befreit werden. 4. Wer das Engagement und die Selbsttätigkeit der Gemeindemitglieder stärken will, muß rechtsverbindlich Rahmenbedingungen festschreiben, unter denen das möglich ist. Es darf keine diffusen Grauzonen der Zuständigkeit mehr geben, keine pastorale Letztverantwortlichkeit und keine Richtlinienkompetenz der Hauptamtlichen. 5. Wer die Pfarrerschaft entlasten will, muß verbindlich regeln, was die Pfarrer/innen nicht mehr tun dürfen. Was sie noch alles tun könnten, wissen sie selbst am besten.

4.3 Die erste EKD-Umfrage: Evangelische Kirche als System und Organisation Im Sommer 1972 fand eine große empirische Befragung von evangelischen Kirchenmitgliedern statt, die von der EKD, der EKHN und dem Evangelischen Gemeindeverband Frankfurt getragen und finanziert wurde. Ausgelöst war sie

4.3 Die erste EKD-Umfrage

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durch einen starken Anstieg der Kirchenaustritte. Von ca. 44000 im Jahr 1967 erhöhte sich die Zahl der Kirchenaustritte in kurzer Zeit über 61000 im Jahr 1968 und 112000 im Jahr 1969 auf ca. 203000 im Jahr 1970. 1 3 9 Die Austrittswelle signalisierte vordergründig ein zunehmenden "Abschied von der Volkskirche" und weckte Existenzsorgen. In dieser Situation griff man zum Mittel der Mitgliederbefragung, um genauere Aufschlüsse über die zu erwartende Entwicklung zu bekommen. Allein die Tatsache, daß das geschah, ist kommentierungswürdig. Unter streng bekenntnisgemeindlichen Gesichtspunkten hätte die Austrittsbewegung eigentlich als "Flurbereinigung" begrüßt werden müssen. Menschen, die ohnehin keinen Zugang zum "Kern" der Gemeinden hatten, verabschiedeten sich aus der Organisation, die sie konzeptionell als Missionsobjekt betrachtet, nicht aber als vollwertige Mitglieder geschätzt hatte. Von daher hätte es eigentlich gar keinen Grund zur Beunruhigung geben dürfen, sondern eher Grund zur Erleichterung. Diesen Widerspruch haben die Autoren der Umfrage^O deutlich empfunden und vielleicht sogar ein wenig süffisant kommentiert: "Obwohl nach den Kriterien der Kirche die formale Zugehörigkeit weit geringeres Gewicht hat als die aktive Teilnahme am sogenannten kirchlichen Leben, also am Veranstaltungshandeln der Kirche, und erst recht geringer gewertet wird als die innerliche Bindung, erwecken steigende Austrittszahlen die intensivste Aufmerksamkeit und Aktivität des Kommentierens, Interpretierens und Analysierens" (S.21). a) Der konzeptionelle Ansatz: Kirche als Sozialsystem Die EKD-Umfrage hat ein Beschreibungsmodell gewählt, das darauf bedacht war, sich nicht in den Fallstricken des innerkirchlichen Selbstverständnisses zu verfangen. Sie benutzte einen streng soziologischen Verständnis- und Beschreibungsrahmen für die Volkskirche und verstand die Kirche im Anschluß an Joachim M a t t h e s ^ 1 und Niklas Luhmann^2 a i s e j n soziales System. Die Kirche ist nicht nur eine "geistliche Größe" (S.l), eine ecclesia invisibilis, sie ist als Landeskirche auch eine gesellschaftliche Größe und als solche ist sie ein 139 EKD I, S.7 140 Ernst Lange, Rüdiger Schloz, Jürgen Linnewedel (A.Feige: Kirchenmitgliedschaft, S.158); Ernst Lange, Rüdiger Schloz, Jürgen Linnewedel, Günter Eisenheim (W.Marhold: Bürgerreligion, in: ThPr 9/1974, S.308/1) 141 Joachim Matthes: Einführung II, S.92; Nach W.Marhold hat Hartmut Krebber den systemtheoretischen und organisationstheoretischen Erklärungsrahmen im engen Anschluß an Niklas Luhmanns Arbeiten konzipiert.- Bürgerreligion, S.305/2 142 Die Umfrage verweist auf folgende Publikationen Luhmanns: N.Luhmann: Funktionen und Folgen formaler Organisation, Berlin 1964; ders.: Zweckbegriff und Systemrationalität, Tübingen 1968; N.Luhmann: Die Organisierbarkeit von Religionen und Kirchen, in: J.Wössner: Religion im Umbruch, Stuttgart 1972, S.245-285 (S.35 Anm.44) und N.Luhmann: Religion als System, in: K.-W.Dahm / N.Luhmann / D.Stoodt: Religion System und Sozialisation, Darmstadt u.ö. 1972, S.l 1-132 (S.25 Anm.27); Zu ergänzen wäre noch: N.Luhmann: Soziologie als Theorie sozialer Systeme (1967), in: Soziologische Aufklärung I, Opladen 6 1991, S.l 13-136; vgl. A.Feige: Kirchenmitgliedschaft, S. 160-164

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soziales System mit einer bürokratischen Kernorganisation. 143 Schon aus der gewählten Beschreibungs- und Verständnisperspektive der Volkskirche ergaben sich eine Reihe von Korrekturen an verbreiteten Ansichten und Vorstellungen: 1. Die Kirche ist ein Teilsystem der Gesellschaft: Veränderungen des innerkirchlichen Teilnahme- und Mitgliedschaftsverhaltens lassen sich als Teil des gesamtgesellschaftlichen Wandels begreifen. Die Kirchen stehen nie außerhalb der gesellschaftlichen Entwicklungen, sondern sind ihrerseits einem ständigen Veränderungsdruck ausgesetzt. Da die Kirchen bestimmte religiöse Normvorgaben als verbindlich festgeschrieben haben, bleibt der soziale Wandel nicht ohne Folgen auf die Einstellung der Mitglieder zur kirchlichen Institution selbst. Die Zukunftsfahigkeit der Kirche entscheidet sich an der Frage, ob sie in der Lage sind, sich im Blick auf eine sich wandelnde Gegenwart kontinuierlich und selbstkritisch zu überprüfen. Damit ihr das möglich ist, muß sie sich zum einen selbst gut kennen und zum anderen muß sie die Mitgliedschaftsmotivationen und Erwartungen ihrer Mitglieder kennen. Beides wollte die EKD-Umfrage untersuchen. 2. Kirchenmitgliedschaft und Religiosität sind zu unterscheiden: Betrachtet man die Kirchen als Sozialsystem innerhalb der Gesamtgesellschaft, dann zeigt sich deutlich, daß keine der christlichen Kirchen ein Vertretungsmonopol für das Christentum als solches besitzt. Neben den großen christlichen Kirchen haben sich auch kleinere in der Gesellschaft angesiedelt. Von daher ist die Gleichung, wer aus der Kirche austritt, tritt aus dem Glauben aus, nicht aufrecht zu erhalten. Nicht jeder Konfessionslose ist ein Ungläubiger. Auch die Kirchenmitgliedschaft, gleich in welcher Organisation sie ausgeübt wird, ist nur ein Teilsegment der sehr viel umfangreicheren und differenzierteren Religiosität, die in der Gesamtgesellschaft vorhandenen ist. 144 3. Säkularisierung, Form- und Funktionswandel der Kirchlichkeit: Joachim Matthes hatte das Phänomen der "Säkularisierung" nicht als Auflösung oder schleichenden Totalverlust von Religiosität und Kirchlichkeit ansehen wollen, sondern es als "Differenzierungsschub" im Rahmen des gesamtgesellschaftlichen Entwicklungsprozesses verstanden. 145 Die großen christlichen Kirchen haben nicht mehr, wie noch im 16. und 17.Jahrhundert, die Aufgabe, die gesamte Gesellschaft sinnhaft und normativ zu integrieren. Die Gesellschaft ist vielmehr in autonome und teilautonome Subsysteme und Systembereiche zerfallen. Im Zuge dieser Entwicklung haben sich auch die Aufgaben und die Anfor143 so J.Matthes: Kirche, S.92; Y.Spiegel: Kirche 144 "Demnach wären zwar die Segmentierung der Gesellschaft und religiöse Pluralität für die Zukunft das Gegebene, zugleich damit aber stünden alle Formen eines 'Christentums außerhalb der Kirche' offen, und es gäbe 'Spielraum für Experimente mit verschiedenen sozialen Formen der Religion'." (S.26) - Unter Verweis auf Formulierungen von T.Rendtorff und P.L.Berger 145 Vgl. J.Matthes: Anmerkungen, S.78-82; J.Matthes: Bemerkungen zur Säkularisierungsthese in der neueren Religionssoziologie, in: D.Goldschmidt / J.Matthes: Probleme der Religionssoziologie ( = K Z S SH 6), Köln 1962, S.65-77

4.3 Die erste EKD-Umfrage

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derungen an die Kirchen verändert. Die 1. EKD-Umfrage ist diesem korrigierten Säkularisierungsverständnis verpflichtet und geht von der Annahme eines "Funktionswandels" der Kirchen in der Gesellschaft aus. Dem Funktionswandel der Kirchen muß nach Ansicht der Autoren ein innerer "Formenwandel" folgen, wenn die Kirchen nicht Gefahr laufen wollen, als gesamtgesellschaftliche Institution dysfunktional zu werden (S.26). Wo die Kirchen auf einen solchen "Formenwandel" verzichten, verschwenden sie systemeigene Ressourcen, um Angebote zu machen, die kein Interesse mehr finden, während andererseits die tatsächlich vorhandenen Erwartungen und Anfragen der Kirchenmitglieder ins Leere laufen und unbeantwortet bleiben. Wandlungsgehemmte Landeskirchen beschleunigen beides gleichzeitig, den Mitgliederschwund und die Auszehrung der systemeigenen Ressourcen. Darüberhinaus forcieren sie noch die Entwicklung konkurrierender Sozialsysteme im gesellschaftlichen Systembereich Religion. 4. Vorsätzliche Mitgliederorientierung: Die Orientierung der Kirche an den Fragen, Einstellungen und Problemen ihrer Mitglieder wird von daher nicht nur zu einer Selbstverständlichkeit, sie gewinnt potentiell existenzsichernden Charakter. Der Theorieansatz, den die EKD-Umfrage gewählt hat, ist von daher bereits ein Stück weit mit dem notwendigen Therapiekonzept für die Landeskirchen identisch. Er beinhaltet den dringlichen Hinweis, die evangelischen Landeskirchen sollten sich konzeptionell verstärkt ihrer Mitgliederbasis zuwenden. "In Wahrheit erlaubt nur eine gründliche Analyse des Bewußtseins der Mitglieder von ihrer Kirche eine Deutung der Austrittsbewegung und eine Bestimmung der Situation der Kirche" (S.26). b) Umfrageergebnisse Die Umfrage erbrachte eine ganze Reihe von "unerwartet positiven" (S.2) Ergebnissen: "Die Notwendigkeit von Kirche wird von der überwiegenden Mehrheit ihrer Mitglieder eindeutig bejaht. Selbst in dem Personenkreis, der aus der [pastorenspezifischen] Sicht der Ortsgemeinde als kirchlich distanziert einzustufen ist, bekennen viele eine über die formale Zustimmung hinausgehende persönliche Verbundenheit. Dem Pfarrer, in dem man weithin den Repräsentanten der Kirche sieht, stehen nahezu alle Türen offen. Die kirchliche Arbeit wird von hohen Erwartungen begleitet, die einen breiten Katalog individueller und gesellschaftlicher Aufgaben umfassen. Insgesamt zeigt sich, daß der empirisch faßbare Bestand der Kirche auf einer soliden Basis ruht" (S.2f). "Die Basis ist stabiler als vermutet, aber sie ist nicht starr und unveränderlich" (S.204). Gleichzeitig konnte die Vermutung bestätigt werden, daß sich in einer pluralen Gesellschaft auch die Formen und Inhalte des christlichen Glaubens und der kirchlich-christlichen Aktivitäten pluralisieren. In der Kirche existiert ein ganzes Spektrum von Überzeugungen und Verhaltensweisen nebeneinander. Auch gibt es Bereiche, in denen die Abweichung von den kirchenoffiziellen Vorstellungen und Normvorgaben relativ gering ist, in anderen ist sie sehr

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II. 100 Jahre Reform

groß. Deutlich abweichend ist das Gottesdienstteilnahmeverhalten. Auch für Menschen, die sich selbst in die Gruppe derjenigen eingestuft hatten, die der Kirche "stärker verbunden" sind (die Gruppe mit der zweitstärksten Verbundenheit), ergab die Umfrage, daß bei ihnen "mit einigermaßen regelmäßigem Gottesdienstbesuch ... nicht mehr zu rechnen" ist. 146 Dagegen erfreute sich die Taufe breitester Akzeptanz. "Trotz nach eigenen Angaben völlig fehlender Bindung an die Kirche meint noch immer nahezu jeder Zweite [aus dieser Gruppe], er würde sich wohl doch für die Taufe entscheiden. Aufgrund dieses Ergebnisses kann man schließen, daß die Zustimmung zu den kirchlichen Kasualangeboten ... einer der wesentlichen Inhalte kirchlichen Verbundenheitsgefühls auch bei jenen Mitgliedern darstellt, die ihre rituelle Praxis erheblich eingeschränkt haben". 147 ¡ n der Zusammenfassung der Ergebnisse wird dieser Befund durchaus zutreffend verallgemeinert: "Je stärker das liturgische Handeln und die Predigt der Kirche auf die lebensgeschichtlichen und sozialen Bedürfnisse der Mitglieder ... eingehen, desto größer ist die Nachfrage und die Teilnahme" (S.240). Aber die Kirchenmitglieder kommen nicht als "treue Schäfchen". Sie pflegen in unterschiedlichem Ausmaß eigenständige bzw. abweichende Einstellungen und Glaubensüberzeugungen. Auch das hat die EKD-Umfrage nachweisen können: "Demnach sprechen die Ergebnisse im ganzen dafür, daß 'Religion noch soziale Selbstverständlichkeit' sei, wenn auch die Schwerpunkte der religiösen Einstellung durchaus abweichen vom Schema der kirchlichen Erwartungen: diese Schwerpunkte sind der Glaube an ein höheres Wesen, der häufig an die Stelle von Glauben an Gott [oder gar Jesus Christus] tritt, die religiöse Kindererziehung und die kirchliche Beerdigung. Die Kirchenbindung, insbesondere gegenüber der Ortsgemeinde, sowie die Bindung an rituelle und sexualethische Normen erwiesen sich dagegen als wenig ausgeprägt, und zwar ohne wesentliche Verschiebung zwischen den Jahren 1964 und 1970" (S.31). Die Normerwartungen der Kirchenordnung werden von den Mitgliedern einem Transformationsprozeß unterzogen. Die Kirchenmitglieder orientieren sich dabei an einer ererbten religiösen Prioritätenliste, die von den Wechselfällen der Geschichte des 20.Jahrhunderts ebenso unberührt geblieben ist wie von der Veränderung des kirchlichen Selbstverständnisses (1934 Barmen / 1948 Grundordnung der EKD): anlaß- und situationsbezogene Teilnahme, Familienbezug, Erfahrungs-, Erlebnis- und F e s t o r i e n t i e r u n g . 148 146 I. und W.Lukatis: Die volkskirchliche 'Mitte'. Sozialdaten - Erfahrungshintergründe Ausdrucksformen von Kirchlichkeit, in: WPKG 64/1975, S.162; der Artikel berücksichtigt auch Ergebnisse der VELKD-Umfrage über den Gottesdienst: G.Schmidtchen: Gottesdienst in einer rationalen Welt, Stuttgart 1973 147 I. und W.Lukatis: Mitte, S.164 148 Darüberhinaus war auch eine deutliche Abhängigkeit der Kirchenmitgliedschaft von der persönlichen Wertschätzung der Kirche zu vermerken. Zu Beginn der 70er Jahre erwies

4.3 Die erste EKD-Umfrage

135

Die Untersuchung erlaubte auch gezielte Hinweise auf problematische Entwicklungen in der Kirche. "So wird deutlich, daß die Bindung an die Kirche im starken Maße mit der frühkindlichen Erziehung und der Erfahrung christlicher Gemeinschaft verknüpft ist ..daß die Distanz zur Kirche mit der Bildungsstufe wächst ... [daß] viele Kirchenmitglieder offenbar keinen Kontakt zu ihrer örtlichen Gemeinde" (S.3) haben. Daraus erwachsen der Kirche Aufgaben. Die Bemühungen um die christliche Sozialisation sind zu verstärken. Das Verhältnis der Kirche zur gehobenen Bildung muß überprüft werden. Die Kirchengemeinden haben ein Kontaktdefizit. Sie sind zu wenig bei ihren Mitgliedern präsent. Dem steht gegenüber, daß "das Verlangen nach zweckfreier Gemeinschaft, nach Zuwendung und Begleitung, nach Beratung und Seelsorge unverkennbar" (S.3) ist. Der Pfarrerschaft fällt an diesem Punkt die Hauptaufgabe zu. Denn nur den Pfarrer/innen öffnen sich noch nahezu sämtliche Türen, auch Türen von Menschen, die der Kirche als Institution skeptisch oder sogar sehr skeptisch gegenüber stehen. Der Pfarrer ist "wahrscheinlich die entscheidende Bezugsperson" (S. 162). 149 Dig Autoren der Umfrage plädierten deshalb dafür, die Mitgliedererwartungen und die Pfarreraktivitäten an diesem Punkt konzeptionell und konzentriert zu verschränken: "Die größte Gemeinsamkeit der Evangelischen ist durch den Zyklus der Amtshandlungen und die personale Präsenz des Pfarrers bezeichnet. Wo das Angebot der Kirche sich mit den Problemen der Identität und des Lebenszyklus der Mitglieder verschränkt, da findet die Kirche die größte und breiteste Zustimmung" (S.286). c) Probleme 1. Die Mitgliederorientierung verschwimmt: Die EKD-Studie hat ihren systemtheoretischen Ansatz nicht konsequent durchgehalten. Schon in der Einleitung wird der Ansatz von der allgemeinen Systemtheorie zur Organisationstheorie hin verengt (S.35-39). Das hat dazu geführt, daß die Untersuchung deutlich hinter den Fragehorizonten, den die Systemtheorie auch damals schon hätte erschließen können, zurückgeblieben i s t . 150 i n späteren R e z e n s i o n e n ^ 1 ist die sich die Antwort auf die Frage, ob die Kirche "zeitgemäß" sei, geradezu als Schlüsselvariable für die Prognose des individuellen Verbundenheitsgefühls mit der Kirche. Mit einer eindeutigen Bejahung oder Verneinung dieser Frage ging bei etwa der Hälfte der Kirchenmitglieder eine entsprechende Zustimmung oder Ablehnung der Kirche insgesamt einher. "Die generelle Vorstellung der Adäquanz oder Diskrepanz von Kirche und Gegenwart scheint damit wesentlich stärker als viele innerkirchliche Fragen das Gefühl der Verbundenheit mit der Kirche zu begleiten". - I. und W.Lukatis: Mitte, S.165. Es ist zu vermuten, daß diese Schlüsselvariable ihrerseits zeitbedingt war und heute nicht mehr in gleicher Weise erklärungsstark ist. 149 Vgl. W.Marhold: Der Pfarrer in der Sicht der Kirchenmitglieder, in: WPKG 64/1975, S.168-181 150 Vgl. die kritischen Ergänzungen von T.Schöfthaler: Religion paradox: Der systemtheoretische Ansatz in der deutschsprachigen Religionssoziologie, in: K.-F.Daiber / T.Luckmann (Hg.): Religion, S. 145-147

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II. 100 Jahre Reform

konzeptionelle Relevanz der Systemtheorie nicht immer im vollen Umfang erkannt worden. Man sprach vom organisationstheoretischen Ansatz der Umfrage. 152 Daß die Landeskirchen aber nur als Organisationen verstanden wurden, hatte zur Folge, daß auch das Teilnahmeverhalten der Mitglieder unter Organisationsgesichtspunkten interpretiert wurde. Damit wurde einer der wichtigsten Impulse, den der systemtheoretische Ansatz impliziert, marginalisiert. Das wachgerüttelte Interesse am einzelnen Mitglied wurde durch die organisationstheoretische Interpretation der Mitgliedermotivation als "generalisiertes Mitgliedschaftsverhalten" (S.37) eingeschläfert. Die Frage nach ihrer inneren Logik und Plausibilität, wurde nicht weiter verfolgt. 2. Die Verbundenheitsskala: Während der Befragung stuften die Befragten sich selbst in eine fünfstufige Verbundenheitsskala ein: "sehr verbunden", "ziemlich verbunden", "etwas verbunden", "kaum verbunden", "überhaupt nicht verbunden" (S.166). Dieses Schema war vorgegeben. Man konnte es nicht hinterfragen, sondern mußte unter Abwägung eines "Gesamteindrucks" für eine der Einstufungen votieren. Es ist folglich auch nicht klar, woran die Menschen eigentlich gedacht haben, als sie sich gefühlsmäßig zuordneten. Hat ihre emotionale Beziehung zum Pfarrer den Ausschlag gegeben oder die Beziehung zum Gemeindehausleben, die Institution EKD, der Inhalt des Glaubensbekenntnisses, die Frage der Modernität von Kirche oder möglicherweise sogar die Überlegung, wie "man" denn üblicherweise so über Kirche denkt? Haben sie sich vielleicht sogar an einer vermuteten Fremdbeurteilung der Kirche orientiert, um hier nichts Falsches zu sagen? Die Selbsteinstufungen der Befragten wurden statistisch ausgewertet. Nicht nur in der Pfarrerschaft, auch in der Fachliteratur zur Gemeindearbeit findet man seither die Behauptung, die Existenz unterschiedlicher Mitgliedergruppen sei empirisch nachgewiesen: "Die Ergebnisse der EKD-Umfragen legen es nahe, von intensiv mit der Kirche verbundenen Mitgliedern (Kerngemeinde), von positiv-distanzierten Mitgliedern (Kasualgemeinde), von kritisch-distanzierten Mitgliedern (engagierte Gruppen) und von fernstehenden Mitgliedern auszugehen. Empirisch ist diese Kategorisierung weder bestritten noch auch ernsthaft bestreitbar". Diese Behauptung verwechselt Datenerhebung und Dateninterpretation. Unbestreitbar sind sie Antworten der befragten Menschen, die sich auf der Skala zugeordnet haben. Aber sie haben sich nicht selbst als "positivdistanziert" oder als "fernstehend" zugeordnet. Die Interpretation der Umfragedaten erfolgte mit Hilfe eines inkonsistenten Modellkonstrukts. Ein umfassen151 K.-F.Daiber: Wie stabil soll die Kirche sein?, in: LM 10/1974, S.509-513; W.Marhold: Bürgerreligion, S.304-312; M.Seitz: Vorwort, in: Ders. / L.Mohaupt (Hg.): Gottesdienst und öffentliche Meinung, Stuttgart 1977, S.7f 152 Eine Ausnahme bildet die Kritik von Gerhard Schmidtchen, der an der EKD-Studie bemängelt hat: "Wesentliche Elemente der Systemtheorie, die gerade die Gefahrdung sozialer Organismen hätten aufzeigen können, fehlen in der Argumentation". - G.Schmidtchen: Machtverlust der Kirchen und religiöse Entwicklung der Gesellschaft, in: M.Seitz / L.Mohaupt (Hg.): Gottesdienst, S.42 153 M.Herbst, Gemeindeaufbau, S.125

4.3 Die erste EKD-Umfrage

137

der Erklärungs- und Gültigkeitsanspruch dieses Modells kann mit guten Gründen zurückgewiesen werden: Interpretationsergebnisse, die aus der Korrelation der fünfstufigen Skala mit anderen Fragekomplexen gewonnen wurden, schaffen neue Unklarheiten. Ingrid und Wolfgang Lukatis haben die mangelnde Trennschärfe dieser Skala bei der Analyse der Korrelationen von Verbundenheit und Ausbildungsniveau bemerkt und kritisiert: "Insgesamt zeigt sich bei der Aufgliederung nach Ausbildungsgängen, daß eigentlich keine der hier gebildeten Merkmalsklassen bei den verschiedenen Graden mittlerer Verbundenheit in besonderer Weise bestimmend erscheint. Die Unterschiede zwischen den einzelnen Kategorien kirchlicher Bindung erweisen sich als verhältnismäßig g e r i n g " . 154 Auch bei der zentralen Frage nach den Ursachen des Kirchenaustritts und der Kirchenaustrittsneigung zeigt sich deutlich eine Schwäche des hypothetischen Modells. Es ist nicht gelungen, eindeutige Antworten hinsichtlich der Austrittsneigung aus der Selbsteinstufung der Befragten herauszulesen. In den Skalenbereichen, in die sich die Mehrheit der Gemeindemitglieder eingestuft hatte, gibt es eine deutliche Unschärfe, und das bedeutet, es gibt ein beträchtliches Erklärungsdefizit. Zwar gingen tatsächlich sehr hohe Verbundenheit und fehlende Austrittsneigung miteinander einher. Aber schon von den "etwas Verbundenen" (=mittlerer Verbundenheitsgrad) erklärten 10% zum Austritt entschlossen zu sein, weitere 23 % hatten schon einmal daran gedacht, die Entscheidung jedoch noch nicht getroffen. Andererseits betonten 68% der "kaum Verbundenen", daß der Kirchenaustritt für sie nicht in Frage käme. Selbst von denen, die sich "überhaupt nicht verbunden" fühlten, kam der Austritt für 38% nicht in Frage (S. 121). Drei Viertel der "kaum Verbundenen" befürworteten die Kindertaufe, von den "überhaupt nicht Verbundenen" war es fast jeder Z w e i t e . 155 Kurz, man hat Ergebnisse bekommen, die sich nicht in das vorher erarbeitete Erklärungsmodell fügen wollen. "Verbundenheit mit der Kirche" ist offenbar ein komplexes Faktorenbündel, kein Faktor, der sich abfragen und dann problemlos für statistische Korrelationen verwenden läßt. Auch ist fraglich, ob sich die Frage der Kirchenzugehörigkeit und der Austrittsneigung tatsächlich allein auf der emotionalen Ebene (Verbundenheitsgefühl) entscheidet. Daß sie einen bedeutenden Faktor darstellt, ist unbestreitbar. Allerdings spricht die deutliche Befürwortung der religiösen Sozialisationsleistungen der Kirche (Kindergarten, Kinderbibelwoche, Konfirmandenunterricht) und die hohe Akzeptanz ihrer (sozial)diakonischen Arbeit für die Annahme, daß auch bewußte Überlegungen und rationale Entscheidungen hier eine Rolle spielen. Auch gibt es eine Handlungsebene der Kirchlichkeit, über die schon viele, die sich selbst im persönlichen Gespräch keineswegs als "sehr verbunden" bezeichnen, sogar bis in das Leitungssegment (Presbyterium) der Kirchengemeinden vorgedrungen sind (vgl. Friedrich Niebergall; Jakob Schoell). Ist das selbsteingeschätzte Verbundenheitsgefühl überhaupt so stabil, 154 I. und W.Lukatis: Mitte, S.155 155 I. und W.Lukatis: Mitte, S.164

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das es statistische Korrelationen erlaubt, die über den jeweiligen Tag der Umfrage hinausreichen? Die Autoren der EKD-Umfirage wollten die konzeptionellen Schwächen einer "Barrikadentheologie" (S.24) überwinden, die aus einem verfehlten Säkularisierungsverständnis heraus den überwiegenden Teil der Gemeindemitglieder als Missionsobjekt betrachtet (S.23f). Unbeabsichtigt haben sie aber mit dem Verbundenheitsschema das Zwei-Klassen-Modell der Mitgliedschaft um ein Fünf-Klassen-Schema ergänzt. Das Verbundenheitsschema ist im kircheninternen Rezeptionsprozeß eine Synthese mit der "Kern- und fern"-Metapher eingegangen. Die Kernmetapher sagt, "fern" ist falsch. Das Verbundenheitsschema aber suggeriert, je weniger sich jemand der Kirche verbunden fühlt, desto eher wird er ihr den Rücken kehren und sie verlassen. Aus beidem folgt die in Pfarrerkreisen nicht unpopuläre Synthese: Die Fernstehenden sind Menschen, die ohnehin bald die Kirche verlassen werden. Sie befinden sich bereits auf einer Rutschbahn, an deren Ende unwiderruflich der Kirchenaustritt stehen wird. Wenn diese Metaphernkombination einstellungswirksam wird, entsteht daraus der Handlungsgrundsatz: Bei den Fernstehenden ("den Distanzierten") ist Hopfen und Malz verloren. Sie sind ohnehin nur noch Mitglieder auf Zeit. Warum soll man sich da noch groß um sie bemühen? Man sieht, wie aus der Kombination zweier Metaphern eine nachhaltig wirksame Handlungsorientierung entspringen kann. Metaphernorientierung ist zählebig, weil sie mit einem Anschein von Plausibilität operiert. Wenn sie sich darüberhinaus im Berufsalltag bewährt - sie hat ja entlastende Konsequenzen: weniger Anstrengung, weniger Bemühung, weniger Zeitaufwand - wird sie nicht mehr zur Disposition gestellt. Wer im Berufsalltag des Pfarramtes mit derartigen Einstufungen operiert, läuft Gefahr, zum Opfer ihrer Suggestivkraft zu werden. Voreingenommenheiten ersetzen dann Erfahrungen. Sie begünstigen verfehlte Schwerpunktsetzungen der Gemeindearbeit, sie fördern die Nischenmentalität, und sie verhindern die Entwicklung einer konstruktiven Dienstleistungsbewußtseins unter den Hauptamtlichen. Die Autoren der EKD-Umfrage haben das nicht gewollt und sich deutlich gegen das Zwei-Stufen-Modell der Kirchenmitgliedschaft ausgesprochen. 156 Sie sind jedoch nicht ganz unschuldig an der Fehldeutung. Es wäre wünschenswert, im Interpretationsteil empirischer Umfragen zur Kirchenmitgliedschaft grundsätzlich auf wertende Kategorien und Erklärungsmodelle (z.B. "die Distanzierten") zu v e r z i c h t e n . 157 i m Kapitel VI dieser Arbeit wird die Mitgliederreligiosität ausführlich darstellt werden. Es wird sich dann zeigen, daß man ohne eine metapherngeleitete Dateninterpretation zu völlig anderen Interpretationsergebnissen und Beurteilungen kommt. 156 Auch im Zusammenhang mit der nachgewiesenen Wertschätzung der Amtshandlungen durch sämtliche Gemeindemitglieder heißt es in diesem Sinne: "War die Identitätsproblematik schon von jeher von der Art, ... daß die organisierte Religion hier einen entscheidenden Funktionsbereich hatte, so ist zunächst nicht einzusehen, mit welchem Recht das Sich-Durchhalten dieses Bedürfnisses angesichts der verschärften Identitätsproblematik als 'Entfremdung'. 'Entkirchlichung', 'Zerfall' abqualifiziert wird." - S.237 157 Vgl. A.Feige: Kirchenmitgliedschaft, S.342-345

4.3 Die erste EKD-Umfrage

139

3. Fehlende Umsetzung der Ergebnisse: Obwohl die erste EKD-Umfrage sowohl hinsichtlich ihrer Methode als auch ihrer Untersuchungsergebnisse richtungweisende Impulse gegeben hat, sind in den Landeskirchen keine konzeptionellen Konsequenzen für die Organisation der evangelischen Gemeindearbeit gezogen worden. Der systemtheoretische Impuls verhallte ebenso ungehört wie der Hinweis, konzeptionell bei den Mitgliedern anzusetzen. Andreas Feige hat rückblickend davon gesprochen, "wie nötig - aber auch, wie teilweise vergeblich - der Ansatz der EKD-Studie war". 158 Di e evangelische Gemeindearbeit verblieb auch weiterhin in den eingefahrenen Bahnen der Gemeindepflege, zwischen Kirchturm und Gemeindehaus, angereichert durch eine profilierte Spitze. d) Richtungweisendes Der konzeptionelle Ansatz der ersten EKD-Umfrage führte zu einer Reihe von neuen Einsichten und neuen Bewertungen. 1. Die unreflektierte Identifizierung von Religiosität und Kirchlichkeit wird aufgehoben. Es gibt Religiosität außerhalb der organisierten Kirchlichkeit. 2. Die Kirche wird als ein Teilsystem der pluralistischen Gesellschaft begriffen und ist ihrerseits ein soziales System. Ein innerer Pluralismus gehört zu ihren Wesensmerkmalen, wenn und so lange wie sie "Volkskirche" mit gesamtgesellschaftlicher Einbettung sein will. 3. Die systemtheoretische Perspektive erlaubt die Abkehr von einer innerkirchlichen, theologischen, programmatischen Sicht der Kirche und die Hinwendung zur Mitgliedschaftsmotivation der Kirchenmitglieder. 4. Die Gemeindepfarrer/innen sind ein wichtiges, teilweise sogar das einzige Bindeglied zwischen persönlicher Lebenswelt und institutionalisierter Kirche. Sie repräsentieren die Kirche, weil sich viele der Mitgliedererwartungen unmittelbar auf sie beziehen.

4.4 Wolfgang Lück: Die additive und integrierte Kirchengemeinde Mit seinem Buch "Praxis: Kirchengemeinde" 159 hat Wolfgang Lück 1978 versucht, die Ergebnisse der ersten EKD-Mitgliederbefragung für eine Konzeption der parochialen Gemeindearbeit fruchtbar zu machen. Lück war viele Jahre Gemeindepfarrer und schrieb sein Buch unter deutlicher Bezugnahme auf die Berufserfahrungen, die er in seiner Gemeindearbeit gesammelt hatte (S.67). Seine 158 A.Feige: Kirchernnitgliedschaft, S.211 159 Stuttgart u.ö. 1978

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These ist, daß es in den "Denkstrukturen und Motivationen" (S.12) der Kirchenmitglieder "einen Traditionsstrom über Generationen hinweg in den Familien gibt, der von den erzieherischen Maßnahmen der Institution Kirche in Religions· und Konfirmandenunterricht nahezu unberührt dahin fließt" (S.12). Die Erwartungshaltungen an die Kirche sind nicht erst gestern entstanden, sie wurden bereits vor Generationen geprägt. Das Denkmodell der "alten Kirchengemeinde" des 19.Jahrhunderts ist nach wie vor in der Erwartungshaltung der evangelischen Christen lebendig. a) Die "alte" Kirchengemeinde Die alte Kirchengemeinde kannte noch kein Gemeindehausleben, wohl aber eine signifikante Trias: Es gab erstens die Kirchengemeinde als integrierten Bestandteil des öffentlichen Lebens. "Die 'alte' Kirchengemeinde hatte Anstaltscharakter. Sie diente am Ort der Versorgung auf dem Gebiet 'Religion', wie die Rentenanstalt der finanziellen Versorgung im Alter dient" (S.29). Zweitens gab es den Pfarrer, der die religiöse Versorgung der Gemeindemitglieder auf Anfrage hin zu gewährleisten hatte. Und drittens gab es das evangelische Pfarrerhaus als Teil des öffentlichen Lebens. Im Pfarrhaus lebte die Pfarrerfamilie ein "Modell christlicher Lebensführung" (S.35) vor, integrierte sich aber auch als Nachbar, Gesprächspartner, Berater und Begleiter in das Leben vor Ort. Die erste EKD-Umfrage belegt, daß das Vorstellungsmodell der "alten Kirchengemeinde" und ihrer traditionellen Funktionen nach wie vor in den Erwartungen der Kirchenmitglieder präsent ist. Erwartet wird nach wie vor: Die Begleitung der Familien, die Unterstützung der Bedürftigen und die Präsenz in der kommunalen Öffentlichkeit. Von daher drängt sich eine überraschende Schlußfolgerung auf: "Die Mitgliedschaft in der religiösen Versorgungsanstalt hat nicht unbedingt etwas mit der eigenen Einstellung zu tun ... Solange die erwarteten Dienstleistungen erbracht werden, ist die Mitgliedschaft in der Kirche sinnvoll" (S.29f). Im Verständnis ihrer Mitglieder ist die Kirche eine "religiöse Versorgungsanstalt" (S.29). Zu diesem Bild paßt auch der empirische Befund, daß "ein großer Teil der Mitglieder ... keine Verinnerlichung des christlichen Glaubens von Seiten der Kirchengemeinde" (S.49) wünscht. Erwartet werden Dienstleistungen, nicht nur für sich selbst oder die eigene Familie, nein, durchaus auch "für andere", die Hilfe brauchen, aber auch für das gesamte Gemeinwesen.

b) Das Nebeneinander von Kirchenkultur und Vereinskultur In seinem Bestreben, die Gegenwart der volkskirchlichen Gemeinden aus ihrer Vergangenheit heraus zu verstehen, hat Wolfgang Lück noch einen weiteren wichtigen Gesichtspunkt erschlossen. Seit dem 19.Jahrhundert haben sich die christliche Vereinskultur und die christliche Kirchenkultur zunächst parallel,

4.4 Wolfgang Lück

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nach 1945 aber verstärkt gemeindeintern entwickelt. Das Gemeindehauschristentum hat die ehedem freien christlichen Vereine aufgesogen (S.43). Die christlichen Vereine waren Hilfsvereine und Selbsthilfevereine gewesen. "Was in den Kreisen und Gruppen der Kirchengemeinde heute geleistet wird, ist ... weithin noch die diakonische Arbeit entsprechender Vereine des vergangenen Jahrhunderts" (S.43f). Der Absorptionsprozeß brachte eine Reihe von negativen Entwicklungen mit sich. Das Laienelement wurde kirchlich domestiziert und damit gleichzeitig auch spürbar reduziert (S.43). Die Vereinschristentum hatte auch aus einer Distanz zur verfaßten Kirche heraus gelebt. Es vertrat die Normen einer abweichenden Christlichkeit und formulierte inkompatible Ansprüche, war aber in vielen Gemeindevorständen stark präsent. Ziel- und Leitbildkonflikte belasteten in der Folgezeit dann die Arbeit der Presbyterien. Plötzlich waren die Aufgaben und die Handlungsziele der Pfarrerschaft umstritten. Die Pfarrer/innen, die, nach alter Gemeindetradition, allen Gemeindemitgliedern in gleicher Weise gerecht zu werden hatten, wurden durch diese veränderte Konstellation in einen zermürbenden Spagat zwischen inkompatible religiöse Vorstellungswelten hineingezwungen. Lück weist mit dieser These darauf hin, daß die Identitätsdiffusion der Landeskirchen nicht nur eine Ursache in ihrem ungeklärten kirchlichen Selbstverständnis nach 1945 hat, sondern schon vom Prozeß der Assimilation des Vereinshauschristentums angestoßen wurde.

c) Lücks Konzept: Allgemeines Priestertum und integrierte Kirchengemeinde Lück plädiert für eine saubere Unterscheidung von ecclesia visibilis und ecclesia invisibilis. "Die communio sanctorum muß als ganze eine geglaubte Größe bleiben ... Die Soziologisierung ekklesiologischer Erkenntnisse erzeugt lediglich gesetzlichen Druck" (S.82). Von dieser Grundüberzeugung her unterbreitet er seinen Vorschlag zur konzeptionellen Neuordnung der Gemeindearbeit in der ecclesia visibilis. Zum einen ist den Erwartungen an die "alte Kirche" n a c h z u k o m m e n . 160 D¡ e Kirchengemeinde ist und bleibt die "Kirche am Ort". 161 Zum anderen soll sich die Kirchengemeinde für die Interessen und Impulse ihrer volkskirchlichen Mitglieder öffnen. 1. Allgemeines Priestertum: Um die theologische Berechtigung der volkskirchlichen Christlichkeit zu begründen, nimmt Lück den Begriff des "allgemeinen Priestertums" auf und läßt ihm eine erfrischende Deutung zukommen. Für ihn bedeutet der Begriff, daß alle Gemeindemitglieder "als Christen ernst genommen werden" (S.82) müssen. "Wer vom Priestertum aller Getauften ausgeht, 160 Die funktionale Theorie Karl-Wilhelm Dahms hat das Bewußtsein für die Bedeutung dieses Segments pfarramtlichen Handelns neu erschlossen (K.-W.Dahm: Beruf, S.99-166). "Mit der funktionalen Theorie gewinnt die Kirche zumindest theoretisch ihre Öffentlichkeit zurück" (S.77). 161 Die Formulierung, die von W.Jetter in seinem Aufsatz "Die Chancen der Ortsgemeinde", in: WPKG 66/1977, S.7 u.ö. entfaltet worden ist, ist Buchtitel der Gemeindetheorie von Herbert Lindner.

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kann nicht wie ein Lehrer Zensuren nach einem vorgegebenen Lehrplan verteilen" (S.82). Stattdessen sind alle Getauften "im Sinne des allgemeinen Priestertums als in den meisten Dingen selbständige Mitglieder der Kirche anzusprechen" (S.81). Von dieser Grundüberzeugung her vertraut auch Lück, wie vor ihm etwa Jakob Schoell, in die Fähigkeiten und in das Potential, das unter den evangelischen Gemeindemitgliedern immer schon vorhanden ist. Zwar sind nicht alle Kirchenmitglieder zur Mitarbeit im Gemeindehaus bereit, aber doch einige. Auf sie möchte Lück setzen: "Teile dieser Christenheit mögen sich die notwendigen Gemeinschaftsformen selbst schaffen können" (S.83). 2. Integrierte Gemeinde - Fachbereiche und Kompetenzaufteilung: "Die Kirchengemeinde ist ein komplexes Handlungssystem von Menschen. Arbeitsformen, Inhalte und Menschen in diesem System sind vielfältig. Das ist die Chance der Kirchengemeinde in einer pluralistischen Gesellschaft" (S. 114). Für die konkreten Inhalte des Gemeindelebens und der Gemeindearbeit bedeutet das: Wenn in einer pluralistischen Gesellschaft die Formen des Christseins, der Aktivierbarkeit und der Teilnahme vielfältig sind, dann muß sich die Kirchengemeinde auf diese Vielfalt einstellen und versuchen, dieser Vielfalt organisatorisch Raum zu geben. "Die Arbeit in der Kirchengemeinde könnte als ein Angebot verstanden werden für die verschiedenen Möglichkeiten der Konkretisierung des Glaubens. Die Kirchengemeinde müßte - wenn man von der Christenheit ausgeht - nicht eine Gestalt von Kirche repräsentieren, sondern könnte die verschiedenen Gestalten anbieten" (S.83). Eine "integrierte Kirchengemeinde" (S.130) könnte dieser Vorstellung Gestalt verschaffen. Unter dem Dach der integrierten Gemeinde wäre Platz für die unterschiedlichsten Arbeitsformen, Glaubensinhalte und Aktivitäten (S.85). Lück plädiert, wie vor ihm schon ROSTA, fur eine Fachbereichseinteilung der gesamten Gemeindearbeit. "Der Vorteil der Einteilung in Fachbereiche ist, daß die Kirchengemeinde ein differenziertes Angebot machen und auch auf bestimmten Gebieten hoch spezialisierte Arbeit leisten kann" (S.135). Die einzelnen Fachbereiche können von verschiedenen Mitarbeiter/innen geleitet werden und zum überwiegenden Teil unabhängig voneinander arbeiten. Aus der Summe der Einzelaktivitäten setzt sich die gesamte Gemeindearbeit additiv zusammen (S.130). Die Pfarrer/innen könnten sich dann auf das beschränken, was sie tatsächlich gelernt haben. "Experte ist der Pfarrer für das Fach Theologie. Spezialist ist er für Gottesdienst und Seelsorge" (S. 119f). In allen anderen Bereichen sollte er sich zurücknehmen. "Er muß nicht im Kirchenvorstand und in Gruppen der Machtführer sein" (S. 119). Statt sich in der Rollendiffusion zu verschleißen, soll er sich auf das pastorale Rollenverständnis eines "Einflußführers" beschränken: "Der Einflußführer ist Ratgeber, Freund und Außenseiter, weitgehend unabhängig von den Machtverhältnissen, eine Art Hebamme für Gedanken und Taten der Menschen und Gruppen, die er beeinflußt. Seine Aufgabe ist, anzuregen, zu pflanzen und zu säen und sich so schnell wie möglich wieder zurückzuziehen, weil Gruppen wie Kinder fernab von zuviel elterlichem Rat, wo es auf ihr eigenes Urteil ankommt, am besten

4.4 Wolfgang Lück

143

gedeihen" (S. 120). 162 ¡ n dieser Selbstbeschränkung auf die Rolle eines "Einflußfiihrers" sieht Lück einen wichtigen Schritt hin zur Entwicklung einer "lebbaren und verkraftbaren" (S.119) Pfarrerrolle. Die Überlastung im Pfarrdienst soll durch eine strategische Reduktion der Aktivitäten und Zuständigkeiten überwunden werden. "Das 'Amt' ist nicht Herrschaftsinstrument des Amtsträgers, sondern Schutz für ihn. Wenn sich der Pfarrer auf sein 'Amt' beruft, kann er deutlich machen, daß er nicht einzelnen Mitgliedern oder Gruppen von Mitgliedern verpflichtet ist, seine Verpflichtungen vielmehr umfassender sind" (S.120). Für die erforderliche Integration der Kirchengemeinde sorgen ein konziliares Bewußtsein und ein konziliares Bestreben der einzelnen Mitarbeiter: "Die Kirchengemeinde müßte konziliare Struktur haben. Sie müßte angstfreies Gespräch ermöglichen und dürfte nicht Gegenstand von Aggressionen sein. Praktisch bedeutet das, daß die Mitglieder innerhalb der Institution unterschiedliche Positionen erkennen können sollten, die durch den verstehenden Dialog miteinander verbunden sind" (S.87). d) Die Kirche als Dienstleister - ein falscher Zungenschlag? Wolfgang Lück hat die Impulse, die durch die erste EKD-Umfrage gesetzt worden waren, in ein Modell volkskirchlicher Gemeindearbeit umgesetzt. Er hat die Wurzeln des organisatorischen Durcheinanders und der Zielkonftision in den Kirchengemeinden plausibel erklärt (wenn auch weitere Faktoren hinzuzunehmen sind), und er hat darauf hingewiesen, daß die Kirchenmitglieder die theologisch begründeten Umschwünge des kirchlichen Selbstverständnisses nach 1945 nicht mitgemacht haben. Er hat den Wert der pastoralen Dienstleistungen unterstrichen und den Gedanken des Priestertums aller Gläubigen konstruktiv aufgenommen. In all diesen Punkten ist seine Arbeit richtungweisend. Von daher ist es bedauerlich, daß seine Analysen und Ideen so wenig Resonanz gefunden haben. An Plausibilität und Kohärenz hat es seiner Konzeption deutlich weniger gefehlt als vielem, was seither in kirchenleitenden Gremien eingehend und ernsthaft erwogen wurde. Über die Gründe für die innerkirchliche Nichtbeachtung von Lücks Publikation kann man nur spekulieren. Aber auch das ist nicht ganz unsinnig, denn Lück hat möglicherweise einen wunden Punkt im Selbstbewußtsein der Kirchen getroffen. Er hat den evangelischen Landeskirchen unzweideutig mitgeteilt, daß sie in den Augen ihrer Mitglieder "religiöse Versorgungsanstalten" (S.29) sind, "Dienstleister", die man in Anspruch nimmt, wenn man ihre Dienste benötigt. So unmißverständlich und klar hatte das vor Lück lange niemand zu sagen gewagt (vgl. aber Stock 1909). Möglicherweise hat er damit die Widerstände geweckt, die seiner Publikation die Resonanz genommen haben. Bis heute ist jedenfalls in der Pfarrerschaft eine ausgeprägte Aversion gegen den Dienstleistungsgedanken feststellbar. So

162 Lück zitiert hier R. und H.Hauser: Die kommende Gesellschaft, München u.ö. 1971, S.43

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verwirrend die Konkurrenz der Gemeindearbeitskonzepte auch sein mag, so sehr der Gemeindepfarr-"dienst" auch belastet, eines, so scheint es, will man auf gar keinen Fall sein: ein religiöser Dienstleister. "Unser Leitbild ist freilich nicht ein möglichst perfekt funktionierender Dienstleistungsbetrieb". 163 Aber Lück hatte den Landeskirchen ja nicht gesagt, "m.E. seid ihr religiöse Dienstleistungsunternehmen", was den Kirchen dann die Möglichkeit geben würde, zu sagen: "Nein, das sind wir nicht". Lück hat die Landeskirchen darauf hingewiesen, daß sie in den Augen ihrer Mitglieder schon seit mehr als einem Jahrhundert ein religiöser Dienstleister sind. Hat man den Boten geschlagen, der die ungeliebte Nachricht überbrachte? Wenn es um den Dienstcharakter der kirchlichen Arbeit geht, leidet die kirchliche Mitarbeiterschaft an einer geradezu erstaunlichen Verdrängungsgeschichte. Die Kirchen führen das Wort "dienen" im Zusammenhang mit ihrer Arbeit nahezu ununterbrochen im Munde. Man spricht vom "Dienst" des Pfarrers, von den pfarramtlichen "Grunddiensten", darunter verschiedene Formen von Gottes "diensten", von der "Dienstgemeinschaft" aller kirchlichen Mitarbeiter, von den kirchlichen "Diensten", die neben den Parochien eingerichtet worden sind usw. Demnach müßten die Landeskirchen sich eigentlich sogar mit großer innerer Zustimmung dem Gedanken öffnen, daß sie von ihren Mitgliedern als "Dienst-Leister" angesehen und angefragt werden. Auf der anderen Seite aber stößt gerade der Dienstleistungsbegriff auf massive Ablehnung. Die kirchlichen Mitarbeiter/innen haben Schwierigkeiten mit der Vorstellung, zu "dienen". 164 Ein Blick in die Geschichte beweist, daß die Pfarrerschaft es unter dem landesherrlichen Kirchenregiment jahrhundertelang nicht nötig hatte, zu dienen. Sie war Würdenträger und Erzieher. Sie war lokale Obrigkeit und Sittenpolizei. Ihr verlängerter Arm reichte bis in jedes Haus hinein. Hat sich dieses Amtsverständnis möglicherweise ebenso über die Jahrhunderte hinweg erhalten wie die Erwartungshaltungen der Gemeindemitglieder gegenüber der Institution Kirche? Und, wenn das tatsächlich so ist, wäre es dann nicht an der Zeit, umzudenken und sich mit dem Gedanken vertraut zu machen, daß die Botschaft Jesu Christi zuerst und vor allem im Dienen weitergegeben wird? Jesus hat den Rangstreit seiner Jünger mit dem "Dienstgebot" beendet: "Wer groß sein will unter euch, der sei euer Diener" (Mt 20,26). Schreibt man den Begriff einmal absichtsvoll mit Bindestrich, so erscheinen zwei Worte, die durchaus anspruchsvoll klingen. Es wäre die Aufgabe der Pfarrer zu "dienen", 163 ROSTA: Vorschläge, S.35 164 Dieser Eindruck wird von einem Psychologen bestätigt, der mit den innerkirchlichen Verhältnissen gut vertraut ist. David Jordahl glaubt, in den Landeskirchen eine fest etablierte Machthierarchie feststellen zu können: "1. Ordinierte Pfarrer / Pfarrerinnen mit Macht. 2. Ordinierte Pfarrer / Pfarrerinnen ohne Macht. 3. Auch in den Landeskirchen, die sich rühmen, progressiv und besonders demokratisch zu sein: die Laien, auch wenn sie von ihrer Stellung her scheinbar Macht haben. 4. Nicht ordinierte kirchliche Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen, die normalerweise entmachtet sind ... (Die allerunterste Kaste bilden mehr als 90% der Kirchensteuerzahler"). - D.Jordahl: Die zehn Ängste der Kirche, Zürich 1993, S.75

4.4 Wolfgang Lück

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indem sie sich unter den ständig wechselnden Gegebenheiten der personalen Begegnung um eine situations- und menschengerechte Verkündigung bemühen. Durch den Dienst an jedem einzelnen Menschen wird der Boden bereitet, damit der Dienst am Wort fruchtbar sein kann. Gleichzeitig wäre auch eine echte "Leistung" gefragt, eine umsichtige und anspruchsvolle Bemühung in jedem einzelnen Fall. So betrachtet wäre ein kirchliches und parochiales Selbstverständnis als "Dienst-Leister" dem christlichen Verkündigungsanliegen in höchstem Maße angemessen.

4.5 Herbert Lindner: Die Kirchengemeinde als vernetztes System Auch die 1994 erschienene Habilitationsschrift von Herbert L i n d n e r ^ 5 verfolgt einen volkskirchlichen Ansatz und orientiert sich an der ecclesia visibilis: "Die Volkskirche ist weder theologisch noch organisatorisch ein auslaufendes Modell oder eine Illusion" (S.53). Lindners Arbeit soll an dieser Stelle nur noch kurz kommentiert werden, weil die zentralen Begriffe und Vorstellungen, mit denen er arbeitet, bereits ausführlich vorgestellt worden sind und viele Details seiner Argumentation im Verlauf der weiteren Ausführungen noch aufgegriffen werden. Lindner wählt den Organisationsbegriff als Beschreibungsmodell für die Kirchengemeinde und knüpft damit an die älteren Arbeiten von Schoell und Sülze, vor allem aber an die beiden EKD-Untersuchungen zur Kirchenmitgliedschaft an: "Gemeinde und Kirche werden als soziale Organisationen betrachtet". 166 i n seiner Studie entfaltet er sorgsam die Umweltfaktoren, die auf die Kirchengemeinde einwirken, aber auch die organisationsintern wirksamen Faktoren. Beides wird aufeinander bezogen, so daß sich die Kirchengemeinde als "Netzwerk" (S.43, S.47 u.ö.), bzw. als ein "vernetztes System" (S.64) darstellt. Bei der inhaltlichen Beschreibung der Ortskirchengemeinde bewegt sich die Arbeit in den Bahnen, die bereits vorgezeichnet sind: Hugo Schnelle Einsicht in die Bedeutung des Lebensraumes wird programmatisch im Titel aufgenommen: "Kirche am Ort" (vgl. auch Jetter und ROSTA). Das ökumenische Programm der Konziliarität (Lange, Lück, Christsein gestalten, Person und Institution) gewinnt tragende Bedeutung für die Binnenkommunikation in der vernetzten Ortsgemeinde. Das Konzept einer "gegliederten Gesamtgemeinde" aus dem ROSTA-Papier (Lück) wird ebenso aufgegriffen wie der " Leitbild "Begriff aus den Spandauer Thesen (Christsein gestalten).

165 H.Lindner: Kirche am Ort. Eine Gemeindetheorie, Stuttgart u.ö. 1994 166 H.Lindner: Kirche, S. 108; S.78 u.ö.; Lit. zur Organisationstheorie: S.44-48; vgl. G.Kehrer: Art.: Gemeinde, S.254: "Jede Gemeinde kann ... mit dem Instrumentarium der Organisationssoziologie beschrieben werden" S.254 (249-263).

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Auch bei Lindner bestätigt sich wieder, was bereits bei Schoell zu beobachten war. Ein konzeptioneller Ansatz beim Organisationsbegriff führt die Darstellung spürbar dichter an die Praxis der evangelischen Gemeindearbeit heran. Lindners Überlegungen zeugen von detaillierten Kenntnissen der innerkirchlichen Organisationswirklichkeit. Hier liegt eine der Stärken seines Buches. Es gewinnt durch zahlreiche konkrete Bezüge zum Gemeindealltag, sowie treffsichere Beurteilungen und Schlußfolgerungen. Leider operiert auch Lindner mit der Wunschvorstellung von "zu gründenden Dienstgruppen und Projektgemeinden". Diese Dienstgruppen sollen zwar "Teilsouveränität haben", aber doch "unter der kohärenten Leitung durch die 'Muttergemeinde'" stehen (S.218). 167 Auch gilt ihm das Konzil als "zukunftsträchtiges Leitbild" dynamischer Gemeinden (S.84). Daß beide Vorstellungen unter volkskirchlichen Größenverhältnissen undurchführbar und deshalb unrealistisch sind, weiß Lindner. Warum wollte er es nicht wissen? Ein weiterer Punkt ist ebenfalls kritisch. Lindner hat darauf hingewiesen, daß die Binnenpluralität in den Kirchengemeinden unterschiedliche Formen von Kirchenmitgliedschaft und Teilnahmeverhalten hervorgebracht hat: kontinuierliche Teilnahme, privaten Glauben und innovative Gruppenbildungen (S.215). Dieser Unterschiedlichkeit, so fordert er, soll die evangelische Gemeindearbeit mit unterschiedlichen Angeboten gerecht werden. Da die Gemeinde aber als Netzwerk (S.23, S.344 u.ö.) gedacht wird, ist gleichzeitig eine Vernetzung der Aktivitäten und Angebotsstrukturen anzustreben. Diese beiden Überlegungen führen Lindner dazu, der evangelischen Gemeindearbeit ein wahres Mammutprogramm aufzuerlegen: " Jeder Teilbereich [der Kirchengemeinde] sollte ebenso Lebensraum, wie offener Treffpunkt der Verschiedenen, Herberge und Relaisstation oder Sprungbrett der Engagierten sein" (S.215). 1 6 8 "Es soll [in einer Kirchengemeinde] offene Engagierte, mündige Gemeindechristen, informierte Wählende, konsequent Feiernde geben" (S.343). Selbst bei bestem Willen kann sich keine Parochialpfarrerin und kein Bezirkspfarrer mehr vorstellen, wie so etwas in seiner Kirchengemeinde zu realisieren sein soll. Hier liegt eine (im übrigen ja weit verbreitete) Schwäche der Theoriebildung vor: Konzeptionen der evangelischen Gemeindearbeit sollten nicht auf "Hoffnungsbilder" (S.316 u.ö.) aufbauen, sondern die Zielvorgaben nachvollziehbar eng an der Wirklichkeit der volkskirchlichen Gemeinde orientieren. Auch Visionen brauchen konkrete Anknüpfungspunkte, sonst ergeht es den Praktikern in der Gemeindearbeit wie dem Fuchs mit den Trauben, die so wunderschön anzusehen sind, aber leider viel zu hoch hängen.

167 Vgl. die Kritik von P.Cornehl, Theorie, S.47: "Man erlag der Faszination der Bilder von einer mobilen missionarischen Kirche aus Dienstgruppen und Aktionskernen. " 168 Hervorhebung von mir.R.R.

5.1 Christsein gestalten

147

5. Zwei kircheneigene Publikationen über die evangelische Gemeindearbeit Die EKD-Studie "Christsein gestalten" bemüht sich darum, einen Weg aus der festgefahrenen Diskussion zwischen Vertretern volkskirchlicher und Vertretern volksmissionarischer Gemeindearbeit zu weisen (5.1). Die EKHN-Studie "Person und Institution" schlägt vor, dem Differenzierungsschub in der Gesellschaft durch eine Binnendifferenzierung der Parochie zu entsprechen (5.2).

5.1 Christsein gestalten: Konziliarer Lernprozeß, missionarische Dienstgemeinschaft und differenzierter Gemeindeaufbau a) Entstehungssituation und konziliare Verständigungsintention Die EKD-Studie "Christsein g e s t a l t e n " entstand kurz nach der Veröffentlichung der Umfrageergebnisse der zweiten EKD-Mitgliederbefragung vor dem Hintergrund einer festgefahrenen Diskussion über die Kirchengemeinde und die erforderliche Konzeption für die evangelische Gemeindearbeit. 1. Dissens im Grundlegenden: Das ungeklärte Selbstverständnis der EKD als "bekennender Kirche" und die immer wieder vertagte Prioritätenproblematik in der Gemeindearbeit hatten dazu geführt, daß sich - in grober Zuweisung - entlang der Schnittlinie "Volkskirche" oder "Bekenntniskirche" die Geister schieden. Die Fragen, über die keine Einigung zustande kam, lauteten: Wer sind wir (Selbstverständnis) und welche Prioritäten (volkskirchliche oder bekenntnisgemeindliche) müssen in der evangelischen Gemeindearbeit der Zukunft gesetzt werden? Wenn man sich daran erinnert, daß auch der Begriff "Bekenntniskirche" in sich keineswegs einheitlich interpretiert wurde, sondern volksmissionarische, aber auch ökumenische und sozialdiakonische Positionen umfaßte, ist leicht nachzuvollziehen, warum die Gesprächslage zu Beginn der 80er Jahre als überaus verhärtet empfunden wurde. Vor diesem Hintergrund ist die Studie "Christsein gestalten" entstanden. Die Studie unternimmt den in der damaligen Situation durchaus gewagten Versuch, zu einer neuen gemeinsamen Verständigungsbasis zu finden. Sie versteht die Vielfalt der unterschiedlichen Konzeptionen als Ausdruck des Reichtums der Kirche. Behutsam arbeitet sie, die Gemeinsamkeiten der verschiedenen Konzeptionen heraus und belegt, daß sich die unterschiedlichen Denkansätze durchaus gegenseitig ergänzen und befruchten könnten. Dieser Vorstoß ist vom Denkmodell des "konziliaren Prozesses" inspiriert, das sich auf der öku169 EKD (Hg.): Christsein gestalten. Eine Studie zum Weg der Kirche, Gütersloh 1986 170 Den Interpretationsansatz verdanke ich hilfreichen Erläuterungen von Peter Cornehl.

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menischen Ebene im zwischenkirchlichen Dialog entwickelt und bewährt hatte. 171 Es war vorher bereits von Ernst Lange 172 und Wolfgang Lück vorgeschlagen worden war, um das Verständnis der Gemeindeleitungen für die plurale Religiosität der Kirchenmitglieder zu verbessern und auch von der zweiten EKD-Mitgliederbeftagung wieder ins Gespräch gebracht worden. 173 Ein fairer Diskussionsprozeß wird angestrebt, in dem sich alle Beteiligten der Tatsache bewußt sein sollen, daß jeder von ihnen nur ein Stück der ganzen Wahrheit vertritt, die in der Kirche Jesu Christi als verborgene Wahrheit präsent ist: "Wenn aber keiner über die Wahrheit verfügt, ist damit zu rechnen, daß jeder nur ein Stück von ihr vertritt. Es geht dann nicht so sehr um Bestreitung von Unwahrheit als um das Zusammentragen der Stücke, der particulae veri, um die Versöhnung von Wahrheitselementen, wie sie unterschiedliche Menschen in verschiedenen Lebenszusammenhängen entdecken und vertreten ... (1 Kor 13,12) Als konziliare Gemeinschaft weiß sich die Kirche unterwegs zu erweiterter und vertiefter Erkenntnis der Wahrheit. Sie läßt sich bestimmen von einer Haltung des Respekts gegenüber der Unverfügbarkeit des Geistes Gottes, der auf vielfältige Weise wirksam ist, wo und wie es Gott gefällt. Unterschiedliche Ausprägungen des Glaubens werden so aufeinander bezogen und bleiben miteinander unterwegs. Indem Menschen unterschiedlicher Glaubensausprägungen aufeinander zugehen, ... gewinnt der Glaube an Weite und Tiefe, gewinnt er Weltbezug und vermehrte Gotteserkenntnis" (S.47). Im Sinne dieser Vorgaben läßt sich die Studie selbst als ein konziliares Bemühen lesen. Das Buch läßt die unterschiedlichen Ansichten zu Wort kommen, ohne sie gleich zu bewerten und demonstriert damit schon in seiner Anlage, was es von allen Beteiligten des Diskussionsprozesses fordert: konziliare Offenheit. 2. Die zweite EKD-Umfrage: Die Studie nimmt die Ergebnisse der zweiten EKD-Umfrage von 1982 auf. Die zweite EKD-Umfrage hatte den Organisationsbegriff konzeptionell stärker in den Vordergrund gestellt (S.20). Viele der Ergebnisse, die bereits von der ersten EKD-Umfrage her bekannt waren, waren 171 vgl. Die Konziliarität und die Zukunft der ökumenischen Bewegung, in: K.Raiser (Hg.): Löwen 1971. Studienberichte und Dokumente der Sitzung der Kommission für Glauben und Kirchenverfassung, Stuttgart 1971, S.226-230: "Unter Konziliarität verstehen wir das Zusammenkommen von Christen - örtlich, regional, weltweit - zu gemeinsamem Gebet, zu Beratung und Entscheidung in dem Glauben, daß der Heilige Geist solche Zusammenkunft für seine eigenen Zwecke der Versöhnung, Erneuerung und Umgestaltung der Kirche benützen kann, indem er sie zur Fülle der Wahrheit und der Liebe hinführt". - S.226 172 E.Lange: Überlegungen, S.209-21 X; E.Lange: Die ökumenische Utopie oder was bewegt die ökumenische Bewegung, Stuttgart u.ö. 1972 173 EKD II, S.78f; vgl. H.Lindner: Konziliarität und Gemeindepraxis, in: J.Matthes (Hg.): Kirchenmitgliedschaft, S.99-117

5.1 Christsein gestalten

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durch die zweite Umfrage noch einmal bestätigt worden. Grundsätzlich wurde festgestellt: "Es finden sich keine Hinweise darauf, daß sich das allgemeine Meinungsklima im Blick auf die Kirche gegenüber 1972 verschlechtert hat" (S.24). Auch weiterhin erfreute sich die Kirche einer statistisch kaum veränderten persönlichen Verbundenheit, die einherging mit hohen Erwartungen an die Arbeit der Kirche. Man wünschte sich eine stärkere Zuwendung zu den Problemen der Arbeitslosigkeit und der Arbeitswelt, zu den Sorgen und Nöten der einzelnen Menschen, eine Mitwirkung in kommunalen Fragen und eine zeitgemäßere und modernere Verkündigung (S.121 bis 124). Erneut bestätigte sich auch die "Schlüsselrolle" der Pfarrer/innen: "Der Pfarrer erscheint als der zentrale Repräsentant von Kirche" (S.19). b) Was alle Konzeptionen evangelischer Gemeindearbeit verbindet Die EKD-Studie unterscheidet "lebensweltbestimmte Ansätze" und "kirchenbildbestimmte Ansätze" der evangelischen Gemeindearbeit. Die "lebensweitbestimmten" Ansätze gehen von der Situation der Menschen und ihrer spezifischen, zeitgeprägten oder gesellschaftlich bedingten Lage aus. Sie fragen von daher dann nach der Aufgabe, vor die die Christen angesichts dieser speziellen Situation gestellt sind. Der Denkweg der "kirchenbildbestimmten" Ansätze verläuft gerade umgekehrt. Zunächst wird nach dem Wesen und der Aufgabe von Kirche gefragt, um dann daraus Vorschläge abzuleiten, wie dieser Aufgabe unter den gegebenen lebensweltlichen Bedingungen denn nachzukommen sei. In beiden Fällen geht es um die Korrelation von Lebenswelt und Kirchenbild. Beide Konzeptionstypen stehen vor der gleichen Aufgabe: letztlich haben sie beiden Anforderungsfeldern gerecht zu werden. Nur der Denkweg, den sie einschlagen, verläuft entgegengesetzt. Sie benutzen unterschiedliche Wahrnehmungsperspektiven und setzen unterschiedliche Prioritäten. Beide besitzen konzeptspezifische Schwächen, beide haben aber auch Wichtiges und Wegweisendes erkannt. Der Vergleich gipfelt in der Beobachtung, "daß im Grunde alle Konzeptionen des Gemeindeaufbaus in ihrem Kern Programme intensivierter Erwachsenen- und Laienbildung sind" (S.85). Alle Konzeptionen diagnostizieren ein religiöses Defizit und unterbreiten anschließend Vorschläge zu seiner Beseitigung.

c) Zwei Konzepte für die Praxis der Gemeindearbeit ineinander gewoben Mit diesem Konzeptionenvergleich und seinen überraschenden Einsichten in die verborgenen Gemeinsamkeiten des vermeintlich so Verschiedenartigen und Entgegengesetzten war das konziliare Anliegen, eine neue Verständigungsbasis zu finden, im Grunde bereits erfüllt. Die Studie geht dann aber noch einen Schritt weiter und versucht, aus dem Geiste der Konziliarität heraus nun auch selbst eine Konzeption für die Gemeindearbeit vorzulegen, in der jeder der bei-

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den Ansätze zu seinem Recht kommt. Das führt dazu, daß die Studie zwei unterschiedliche Konzeptionen evangelischer Gemeindearbeit vorlegt, die textlich ineinander verwoben sind. Aus analytischen Gründen werden sie im folgenden entflochten und separat dargestellt. Man findet in der Studie "Christsein gestalten" zwei unterschiedliche Situationsbeschreibungen, eine mitgliederorientierte (1.) und eine innerkirchliche (2.). Dann findet man zwei unterschiedliche Kirchenbilder, ein "volkskirchliches" (3.) und ein "volksmisionarisches" (4.). Und man findet zwei verschiedene Vorschläge für die Praxis der Gemeindearbeit, einen konziliaren (5.) und einen gemeindepflegerischen (6.) Vorschlag. 1. Mitgliederorientierte Situationsbeschreibung: "Christsein gestalten" referiert grundlegende Einsichten und Ergebnisse der zweiten EKD-Umfrage. Das Teilnahmeverhalten der "durchschnittlichen Evangelischen" (S.28) besitzt eine innere Plausibilität. Die Gemeindemitglieder haben in ihrer weit überwiegenden Mehrheit die Gewohnheit, sich gewissermaßen selektiv aus dem reichen "Schatz der Kirche" zu bedienen und nur das zu übernehmen, was im Rahmen ihrer eigenen Lebenswelt plausibel erscheint und integrierbar ist. Zwischen beiden Bereichen gibt es eine eindeutige Rangordnung: "Der primäre Lebenskontext stellt den Bezugsrahmen dar, von dem her sie [Verbundenheit mit Kirche und Christentum] erlebt wird: Glaube und Kirche werden ... in der eigenen Lebenswelt 'untergebracht' und gelebt. Die Kirchenbeziehung wird vom primären Lebenskontext her auf ihn hin geordnet, nicht umgekehrt die eigene Lebenswelt von der Kirche her ... geformt. Es ist notwendig, sich diesen Sachverhalt klar im Auge zu behalten, um nicht einer standpunktbedingten perspektivischen Verkürzung zum Opfer zu fallen und in positivistischer Weise Glauben und Christsein mit äußerlich zählbarer Teilnahme an der 'veranstalteten Kirche' gleichzusetzen" (S.28). Einen hohen Stellenwert besitzt die persönliche Entscheidungsfreiheit der Kirchenmitglieder ("selbstgesteuerte Aneignung"; "Neubewertungen"; "Zwang zur Selbstbestimmung" S.34-36) und die persönliche Motivation (S.79). 2. Innerkirchliche Situationsbeschreibung: An anderer Stelle verändern sich Blickrichtung und Fragehorizont gegenüber den gerade zitierten Beurteilungen erheblich. Beides wirkt stärker binnenorientiert und pfarrerspezifisch. Ein "pfarrsoziographischer Kirchturmsblick" 174 beherrscht die Vorstellungswelt und die Bewertungen. Das zeigt sich besonders deutlich bei der Darstellung und Bewertung der Folgen des gesellschaftlichen Wandels. Der soziale Wandel wird als "nachlassende Traditionslenkung" und als "Traditionsabbruch" beschrieben. Die Details der Darstellung lesen sich (mit Ausnahme des 6.Punktes) wie ein einziger Negativkatalog: Die Bindung der Eltern an die Kirche geht zurück (S.14). Der Religionsunterricht bringt "nur eine geringe Bindewirkung an die Institution Kirche" (S.16) zustande. Der Konfirmandenunterricht hat "keine dauerhafte Bindung an das kirchliche Leben zur Folge" (S.17). "Die Kirchenbindung steht in Konkurrenz zu anderen Sinndeutungs- und Orientierungsange174 A.Feige: Kirchenmitgliedschaft, S.343

5.1 Christsein gestalten

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boten" (S.17). "Der höhere Bildungsgrad und die damit verbundene Reflexionsfáhigkeit fördert den Prozeß der Entscheidung über das Verhältnis zur Kirche und die Kirchenmitgliedschaft. Insbesondere junge Hochschulabsolventen stehen der Kirche kritisch gegenüber und sind überdurchschnittlich austrittsgeneigt" (S.17f). Intellektuelle Meinungsführer höhlen die "Norm der Kirchenmitgliedschaft" aus (S.18). "Werte wie Pflicht und Gehorsam und Tradition haben an Gewicht verloren ... hedonistische Lebenseinstellungen traten stärker in Erscheinung" (S.18). Geburtenrückgang und Überalterung bedrohen die finanzielle Basis der Kirche. "Für die evangelische Kirche dürften sich daraus finanzielle Einbußen ergeben, die Auswirkungen auf die Personalsituation und Arbeitsmöglichkeiten der verschiedenen kirchlichen Handlungsfelder haben" (S.21f). Aus derartigen Bewertungen spricht eine tiefe Sorge um den Erhalt der volkskirchlichen Mitgliederquote. 175 3. Volkskirchliches Kirchenbild: Die Volkskirche wird als eine pluralistische Kirche angesehen, in der "aus der evangelischen Freiheit" heraus eine große "Vielfalt der Formen und Ausdrucksweisen des Glaubens" (S.46) existiert. Dieser "Binnenpluralismus" wird als "Reichtum unserer Kirche" (S.80) begrüßt. Die Vorstellung von einer Zwei-Stufen-Mitgliedschaft in der Kirche wird unzweideutig zurückgewiesen. "Vielfach wird die 'Kerngemeinde' der 'Kirchentreuen' den 'Taufscheinchristen' bzw. 'Distanzierten' gegenübergestellt ... Die christliche Gemeinde ist die Gemeinschaft aller Getauften - soviel ist gewiß; jede nähere Bestimmung wird theologisch und faktisch fragwürdig" (S.87). "Die Kirche als Gemeinschaft der Getauften ist stets ein corpus permixtum aus solchen, die gegenwärtig im Glauben stehen, solchen, die um ihn ringen, und anderen, denen er entglitten ist oder die ihn noch nie ergriffen haben" (S.44). 4. Volksmissionarisches Kirchenbild: "Mission ist dem Glauben von seinem Ursprung her eingestiftet (Mt 28,18-20)" (S.82). Mission ist ein "elementares Strukturprinzip christlicher und kirchlicher Existenz in der Welt und Geschichte" (S.82). Gefordert sind "neue missionarische Impulse und Aktivitäten im Sinne von Missionierung und Evangelisation" (S.83f). Die "permanente Evangelisation", die allein schon durch die bloße Existenz und Ausstrahlung der Kirche in die Öffentlichkeit hinein geschieht, bedarf "immer wieder der Ergänzung durch herausgehobene ... besondere Aktionen und Impulse der kontingenten Evangelisation. Dazu zählen z.B. Evangelisationswochen, Zeltmission, Besuchsdienstaktionen" (S.84). Die Autoren wissen zwar, daß volksmissionarische Aktivitäten in der Bevölkerung ohne Resonanz bleiben (S.32 und S.85), aber sie setzen sich über die eigenen Einsichten hinweg und fordern, die Kirche müsse auf die schwieriger gewordene Situation antworten, indem sie ihre "missionarische Kompetenz" erhöht. Gebraucht wird sowohl "eine diesen An-

175 so urteilt etwa G. Czell: "Zu sehr ist der Blick dort gefangen vom Ziel der volkskirchlichen Bestandssicherung. Zu wenig wird erkannt, daß Kirche und Gemeinde beim krampfhaften Versuch zu stabilisieren, was ist, zunehmend ärmer werden, auszehren." 'Christsein gestalten' als Prozeß, in: ThPr 24/1989, S.264

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forderungen gerecht werdende Aus- und Weiterbildung hauptamtlicher kirchlicher Mitarbeiter" als auch die "Stärkung der 'missionarischen Kompetenz1 aller Kirchenmitglieder im Sinne des allgemeinen Priestertums" (S.85). Woher die Zuversicht stammt, trotz aller selbst geäußerten Vorbehalte durch eine Erhöhung der missionarischen Kompetenz doch noch erfolgreich zu sein, bleibt unbegründet. In aller Behutsamkeit tauchen auch die "Kirchentreuen" und die "Fernstehenden" wieder auf, hier nun als "Näherstehende" bezeichnet. Anknüpfend an die Einsicht, daß eine christliche Gemeinde die "Gemeinschaft aller Getauften" ist, fahren die Autoren fort: "Trotzdem sind die Unterschiede da und sollen ernstgenommen, ja als in vielen Fällen selbstgewählte Zuordnung der Kirchenmitglieder respektiert werden. Aus den unterschiedlichen Selbstdefinitionen ... ergeben sich aber unterschiedliche Grade der Ansprechbarkeit auf die Mitwirkung im Sinne von Zeugnis, Dienst und Gemeinschaft" (S.88). Es gibt eine Gruppe von Menschen, "die dem kirchlichen Dienst Näherstehenden" (S.88), auf die sich die Gemeindearbeit der Zukunft konzeptionell stützen soll. Um der Zwei-Klassen-Vorstellung zu entgehen, ohne die volksmissionarische Konzeptionen der Gemeindearbeit schwerlich auskommen, wird betont: "Die dem kirchlichen Dienst Näherstehenden dürfen sich nicht als die 'eigentliche' Gemeinde verstehen und die anderen Christen tendenziell 'exkommunizieren'." Daß die hohe Motivation missionarisch aktiver Gruppen gerade aus diesem Selbstverständnis entspringt, bleibt unerwähnt. Alternativ wird der Vorschlag unterbreitet, die Näherstehenden "können sich aber bewußt als Dienstgemeinschaft begreifen und ihren Dienst der größeren Gemeinschaft der christlichen Gemeinde und darüberhinaus der Gesellschaft zuwenden" (S.88). 5. Konziliare Gemeindearbeit: Wie man in der Studie zwei Wahrnehmungsperspektiven und zwei Gemeinde- und Kirchenbilder findet, so findet man auch zwei Konzepte für die evangelische Gemeindearbeit. Das Konzept einer konziliaren Gemeindearbeit gründet in der Einsicht "nachlassender Traditionslenkung". Die Folgeschäden der nachlassenden Traditionslenkung sollen mit Hilfe der konziliaren Gemeindearbeit eingedämmt werden: "Der einzelne Christ ist mit der Aufgabe, sein Christsein zu gestalten, heute weithin überfordert. In dem Maße, in dem Traditionslenkung sich abschwächt, wird er zunehmend auf neue, überzeugende Gestaltungshilfen angewiesen" (S.12). Aus dieser Behauptung wird die Aufgabe der Gemeindearbeit abgeleitet: "Das kirchliche Handeln muß sich dementsprechend bewußt der Aufgabe stellen, 176 Auch im Zusammenhang mit der Darstellung des konziliaren Anliegens hatte sich die Redeweise von "Kirchennahen" und "Kirchenfernen" (S.13) bereits eingestellt. Zweifel sind angebracht, ob ein Verständigungsprozeß tatsächlich wechselseitig offen und lernbereit sein kann, wenn das Gespräch gleichzeitig mit der Hypothek belastet ist, daß ein Teil der Anwesenden von vornherein davon ausgeht, "kirchennah" zu sein und auf Menschen zu treffen, die "kirchenfern" sind.

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Hilfe zur selbstverantwortlichen Gestaltung von Christsein zu bieten" (S.12). Eine weitere Behauptung kommt hinzu: "Der individuelle Glaube als verletzliche fundamentale Vertrauenseinstellung zu Gott bedarf eines beschützenden Rahmens, in dem er nicht in Frage gestellt, sondern vergewissert, bestärkt und ausgedrückt wird" (S.48). Der Glaube braucht die Kirchengemeinde. Leitbild ist "eine Gemeinde, die helfen will, Christsein zu gestalten" (S.12). Evangelische Gemeindearbeit damit wird zum geistlichen N a c h h i l f e u n t e r r i c h t ^ : Die Pädagogik kennt drei Erziehungsstile, "den autoritären, den laissez-faire-Stil und den sozialintegrativen bzw. demokratischen ... Allein die zuletzt beschriebene Erziehungshaltung kann auch als Modell für die Haltung dienen, aus welcher in unserer Situation effektive Hilfe zur Gestaltung des Christseins erwachsen kann. Es ist eine Haltung, die dafür Raum schafft, überlieferte christliche Haltungen auf ihre Tragfähigkeit hin zu überprüfen, sie weiterzuentwickeln und neu zu erproben. Es geht um die Gewinnung eines 'Lernklimas' für Christen, die der 'missio Dei' folgen möchten, und für jene, die sich nur mit kleinerem oder größerem Vorbehalt oder gar nicht als Christen verstehen: was haben beide einander zu sagen?" (S.75) Die Autoren sind bemüht, nicht nur von den Zöglingen, sondern auch vom Lehrer das erforderliche Maß an Offenheit und Selbstöffnung einzufordern. Eine Gemeinde, "die helfen will, Christsein zu gestalten ... [kann] nicht im überlieferten, festen Gehäuse bleiben" (S.12). "Vor allem wird sie offen sein dafür, durch neue Erfahrung und neue Begegnung sich verändern zu lassen. Sie wird sich nicht als der innere Kreis begreifen, in den die äußeren Kreise möglichst hereingezogen, 'eingemeindet' werden müssen" (S.12). Hier liegt eine deutliche Kritik an der Enge des Ekklesiola-Konzeptes vor. Beide Seiten sollen sich aufeinander zubewegen (S.75). "Wer sich anderen wirklich zuwendet und öffnet, wird Neues erfahren, hinzulernen und dabei selbst verwandelt werden. Ein wechselseitiger, partnerschaftlicher Lernprozeß zwischen den sogenannten 177 Schon seit den 60er Jahren ist ein Verständnis der "Kirche als einer Lemgemeinschaft" in der Diskussion, (vgl. C.Möller: Lehre II, S.333-337) Die Pädagogisierung der Gemeindearbeit war auch 1982 von der Kammer für Bildung und Erziehung der EKD vorgeschlagen worden: Zusammenhang von Leben, Glauben und Lernen. Empfehlungen zur Gemeindepädagogik, Gütersloh 1982: "alle Teilaufgaben können nur sachgemäß verwirklicht werden, wenn Verkündigung, Seelsorge, Sozialarbeit als Aspekt im pädagogischen Handeln berücksichtigt werden" (S.50). Ausgangspunkt war ebenfalls eine "Verfallsanalyse": "In den letzten Jahrzehnten macht sich eine fortschreitende Auszehrung bemerkbar, ein Verlust an Erfahrung christlicher Lebensformen und der Begegnung mit Vorbildern, durch die Botschaft und Überlieferung der Kirche anschaulich und erfahrbar werden" (S.43). Gefordert wurde ein anderes Gemeindeverständnis und ein konziliares Bemühen: "In seinem Mittelpunkt stehen Menschen und Gruppen, die eigenständig und situationsbezogen miteinander leben, glauben und lernen" (S.55). Kritisch gegenüber einem solchen Kirchenverständnis: D.Jordahl: Ängste, S.44-46. Er vermutet hinter dem Konzept "Kirche als Lerngemeinschaft" die Angst der Kirche vor der Religiosität ihrer eigenen Mitglieder und urteilt, die Pädagogisierung der Glaubenswelt sei "langweilig und lebensfern" (S.45). Statt einer "Lerngemeinschaft" wünscht er eine religiöse "Feiergemeinschaft".

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'Kirchennahen' und 'Kirchenfernen', in dem sie einander ihre unterschiedlichen Erfahrungen und Orientierungen vermitteln, wird einsetzen" (S. 13). 1 7 8 Mit diesen Forderungen schließt die Studie an das Denkmodell von der Kirche als einer "konziliaren Gemeinschaft" an. 179 Di e Einsicht in die Vielzahl der christlichen Kirchen und die Pluralität der Glaubensformen hatte die ökumenische Bewegung bereits in den 60er Jahren zu der Überzeugung geführt, daß es "keinen Weg aus dieser Vielfalt zurück in die bergende Einheit" (S.46) mehr gibt. Das ökumenische Lösungsmodell soll auf die innerkirchliche Konfliktlage zwischen "Kirchentreuen" und "Fernstehenden" übertragen werden: "Wir werden die Unterschiede unserer Kirchenbeziehungen, unserer Frömmigkeitstypen aushalten müssen, niemand kann den absoluten Standpunkt 'außerhalb' einnehmen, von dem aus er alle anderen relativieren könnte. Dies schließt ein, daß wir uns von unseren relativen, subjektiven Standpunkten aus miteinander auseinandersetzen müssen um der absoluten Wahrheit willen, die in Jesus Christus - unverfugbar -liegt" (S.46). 6. Gemeindepflege als Aufgabe der evangelischen Gemeindearbeit: Im sechsten Kapitel ("Gestaltungsschwerpunkte") unterbreitet die Studie noch ein zweites Konzept für die evangelische Gemeindearbeit. Dieses Konzept wird in der Einleitung als "differenzierter Gemeindeaufbau" angekündigt (S.13). Wie dies schon aus den Handreichungen zu den Spandauer Thesen bekannt ist, wird auch hier der volksmissionarische Impetus lediglich als eine Art Etikett benutzt, um darunter die Inhalte einer zeitgerecht modifizierten evangelischen Gemeindepflege zu präsentieren (vgl. S.84 mit S.llOf). Zwar bleiben die "Näherstehenden" weiterhin konzeptionell unverzichtbar: "Ein Reifestadium der Teilhabe an der Gabe des Evangeliums ist die Teilhabe an der 'missio Dei1, die Mitarbeit" (S.lll). Aber es wird doch realistisch einschränkend hinzugefügt: "Freilich gibt es auch Mitarbeit aus Lust und Neigung, weil man darin Befriedigung und Selbstbestätigung findet, weil man nicht 'nein' sagen konnte, als man darauf angesprochen wurde ... Es wäre sicher falsch, den Mitarbeiterkreis einfach mit dem 'inneren Kreis' der Gemeinde gleichzusetzen. Das Bild der konzentrischen Kreise ist denkbar ungeeignet zur Beschreibung der christlichen Gemeinde in unserer Zeit. Weder Mitarbeit noch Teilnahme sind zureichende Kriterien zur Beurteilung von Distanz und Nähe" (S.lll). Auch unter den "Kirchenfernen" können sich durchaus Menschen befinden, die sehr viel tiefer im Glauben stehen, als unter denen, die regelmäßig an Veranstaltungen der Kirchengemeinde teilnehmen: "Es gibt gewiß Mitarbeiter, deren geistliche Bindungen weniger eng sind als die von unregelmäßigen Teilnehmern" (S.lll). Gleichzeitig werden auch die "Fernstehenden" deutlich liberaler beurteilt:

178 H.Lindner, der ebenfalls die Vorstellung vom konziliaren Prozeß auf die Praxis der parochialen Arbeit übertragen möchte, hat diesen Gedanken zum "Bild [von der Kirchengemeinde als] einer offenen Lerngemeinschaft" weiterentwickelt. - Kirche, S.289f 179 E. Lange: Utopie; W.Lück: Praxis, S.83-88; H.Lindner: Kirche, S.84-106

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"Auch wenn noch so viel Gemeindehaus 'geboten' wird, bleibt es nur für begrenzte Teile der Gemeinde reizvoll, und viele lassen sich von diesen Angeboten einfach nicht erreichen ... Wer sich von solchen Angeboten ansprechen läßt, ist zunächst, nüchtern gesagt, ein kirchlicher 'Konsument'. Die Konsumentenhaltung wird gewöhnlich verunglimpft, ist aber im Lichte des Evangeliums durchaus legitim: Christsein besteht zuerst und zunächst im Empfangen. Oft wird viel zu rasch aus der Gabe eine Forderung abgeleitet. Ehe man 'etwas davon hatte', wird man schon engagiert. Das hat schon manchen verschreckt und abgestoßen" (S.llOf). Volkskirchliche Weite zeigt sich nicht nur in der differenzierten Wahrnehmung der Mitarbeiter und der Gemeindemitglieder, sondern auch in den Vorschlägen zur Form der Gemeindearbeit. Die Zuwendung Gottes, die allen Gemeindemitgliedern ohne Unterschied gilt, erfordert eine "unaufdringlich werbende Bemühung des kirchlichen Dienstes auf seinen unterschiedlichen Ebenen. Dazu gehört auch eine differenzierte Angebotspalette, der liebevoll gestaltete Gottesdienst, geeignete Gruppen und Kreise, die Menschen in gemeinsamer Lebenslage und mit vergleichbaren Interessen wie Jugendliche, Alte, Alleinerziehende, Frauen usw. zusammenführen, auch thematische Angebote, die es erlauben, je nach Interesse sich gelegentlich einmal ansprechen zu lassen" (S.110). Es ist das alte Konzept der Gemeindepflege, das hier neu präsentiert wird. In diesem Sinne findet man im sechsten Kapitel eine nahezu vollständige Aufzählung all dessen, was in der volkskirchlichen Gemeindearbeit heute schon möglich und notwendig ist. Dazu gehören etwa der Vorschlag einer 'integralen Amtshandlungspraxis ' (Joachim Matthes) und einer 'integralen Festzeitpraxis' (Peter Cornehl), Überlegungen zur christlichen Erziehung und zur Verbindung von Gemeinde und Wohnwelt. Auch Sulzes Organisationsgedanke taucht wieder auf. "Nachbarschaftszonen" sollen berücksichtigt und für etwa 12- 15 Haushalte eine "Verbindungsfrau" bzw ein "Verbindungsmann" gesucht werden (S.107). Es findet sich ein Plädoyer für die Weiterentwicklung und Ausdifferenzierung der Gottesdienstkultur. Ausführlich wird auch auf Kooperationsmöglichkeiten zwischen der parochialen Arbeit und den außerparochialen Instanzen, Schule, kirchliche Werke und Ämter hingewiesen. Um mit der umfangreichen Liste allerdings nicht gleich den Überlastungsnerv der Hauptamtlichen zu treffen, wird vorab betont: "Solche Beispiele wollen nicht ein ohnehin verbreitetes Gefühl der Überforderung verstärken. Es muß ausgewählt werden" (S.90). Drei Punkte werden von den Autoren mit Nachdruck angemahnt: * Sämtliche Mitarbeiter/innen der Kirche sollen sich als "Dienstgemeinschaft" verstehen und in diesem Sinne handeln. Es ist "unumgänglich, die Gesamtheit kirchlichen Handelns als Einheit zu begreifen" (S. 113). Die ecclesia visibilis ist als Ganze "eine Zeugnis- und Dienstgemeinschaft" (S.78).Die Parochie ist "nur ein Teil eines arbeitsteiligen Funktionsgefüges" (S.76). Neben der Parochie haben sich längst die funktionalen Dienste angesiedelt und das Gesicht der Kirche verändert. "In großer Vielfalt werden auf den verschiedensten Ebenen kirch-

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liehe Aktivitäten entfaltet, die alle nur einem gemeinsamen Ziel dienen: Christsein gestalten zu helfen in unserer komplizierten neuzeitlichen Lebenswelt. Aber wenig entwickelt ist das Bewußtsein von der Notwendigkeit dieser Vielfalt und ihrer inneren Zusammengehörigkeit" (S.77). Dieses Defizit soll behoben werden, indem angeregt wird, "die unterschiedlichen Arbeitsfelder aufeinander zu beziehen und die Kooperation der Handlungsträger zu fördern, um so ihre Gesamtwirkung zu stärken" (S.113). * Die Motivation der Mitarbeiter/innen ist das Kapital der Kirche. Man sollte aber nicht vergessen, daß es sich um ein äußerst zerbrechliches Kapital handelt. "Alle kirchlichen Dienste leben in hohem Maße von der Eigenmotivation der Mitarbeiter. Durch Gängelung und Dekretieren läßt sich nichts erreichen, ein überzogener Führungsanspruch zerstört die Motivaton von Mitarbeitern ... Auch gegenüber den Mitarbeitern geht es also letztlich um eine respektvolle Haltung und Sensibilität für das richtige Maß: motivierender Vertrauensvorschuß mit dem Angebot der Gestaltungshilfe zu verbinden" (S.79). Das gilt auch im Blick auf die ehrenamtlichen Mitarbeiter/innen der Kirchengemeinde. Sie wollen sich "nicht nur als Auftragsempfänger und Handlanger verstehen", sondern sollen an der "Verantwortung mitbeteiligt" werden ( S . l l l ) . * Die gleiche Wertschätzung und Achtung, die für den Umgang der kirchlichen Mitarbeiter/innen untereinander gefordert wird, soll auch den Umgang mit allen Gemeindemitgliedern (die Studie spricht hier leider nur von den "Konsumenten") auszeichnen. Alles, was in einer Gemeinde geschieht, soll als "Dienst" verstanden werden, der die Menschen "nicht vereinnahmen möchte, sondern den Menschen nahekommen" (S.89) will. Wo man in dieser Weise den Menschen behutsam und hilfreich begegnet, ohne gleich jede Begegnung mit Bekehrungs- und Bekenntniseifer zu gestalten oder immer schon den Hintergedanken zu verfolgen, möglicherweise eine neue Mitarbeiterin zu gewinnen, da strahlt ganz von allein "das Zeugnis für Jesus Christus aus, [da] werden Vorbehalte und Hemmungen ... abgebaut" (S.89). Immer wieder kann man erleben, daß gerade dann, wenn wir von unserem "machen wollen" abgelassen haben, "die empfangene Gabe recht wahrgenommen werden und reifen konnte zu jenem Überfluß, aus dem heraus das Weitergeben fast selbstverständlich wird" (S.lll). d) Beobachtungen, Irritationen Die Studie "Christsein gestalten" ist vor dem besonderen Hintergrund zu bewerten, auf dem sie entstanden ist. Es ging darum, eine festgefahrene Diskussion aus der Sackgasse heraus zu holen. Rückblickend betrachtet, ist dieser Versuch durchaus erfolgreich gewesen. Das Bewußtsein dafür, daß innerhalb einer pluralen Volkskirche auch eine Vielfalt von Konzeptionen und Arbeitsformen nebeneinander existieren kann, wurde gefestigt. Durch diese Einsicht, die sich ja auch im Alltag der Kirchengemeinden bewährt, wo Nachbargemein-

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den sehr unproblematisch unterschiedliche Arbeitsschwerpunkte verfolgen können, ist die Gesprächsatmosphäre nachhaltig entspannt worden. "Christsein gestalten" hat entscheidend dazu beigetragen. Dieser positive Effekt ist vor allem durch den konziliaren Verständigungsappell erreicht worden, den die Studie implizit an die Diskussionsteilnehmer gerichtet hat. Dagegen hat die konziliare Behutsamkeit, die bei der Darstellung der vorliegenden Entwürfe für eine evangelische Gemeindearbeit und bei dem eigenen Konzeptentwurf zu verspüren ist, die Klarheit der Studie eindeutig negativ beeinflußt. Die erforderliche Zweigleisigkeit in der Konzeptentwicklung und die durchgängige Vermittlungsabsicht zwischen inkompatiblen Positionen führte immer wieder zu unterdrückten Konsequenzen, zu theologisch-semantischen Leerstellen und zur Flucht in traditionelle, aber keineswegs problemfreie Versatzstücke. In scheinbarer Selbstverständlichkeit findet man in "Christsein gestalten" Gegensätzliches und sogar Unvereinbares nebeneinander. Einiges davon soll hier kurz angesprochen werden. 1. Unterdrückte Konsequenzen: Immer wieder verfangen sich die Autoren in den Assoziationsketten der pfarrerspezifischen, metaphorischen Gemeindewahrnehmung, obwohl sie sie konzeptionell ablehnen. Die "inneren Kreise", die Näher- und die Fernerstehenden, das Gravitationsfeld um Jesus Christus (S.13; S . l l l ) , all dies sind Metaphern, deren Bildspendebereich ungewollt ausgedeutet und fälschlicherweise mit dem Bildempfangsbereich identifiziert w i r c j 180 Di e Gemeindewirklichkeit aber hat mit der Bildwelt dieser Metaphern nichts gemein. Sie erschließen weder die Sozialzusammensetzung, noch die tatsächlich vorhandenen christlich-religiösen Überzeugungen oder das Aufgabenspektrum der Kirchengemeinden. Sie sind nicht hilfreich, sondern irreführend. Die Autoren wissen das. Dennoch ist es ihnen nicht gelungen, sie gänzlich zu vermeiden. 2. Theologisch-semantische Leerstellen: Selbst Schlüsselbegriffe der Konzeption bleiben diffus und in ihrer Bedeutung schillernd: Im Schlußkapitel weitet sich unversehens die Bedeutung des Wortes "Mission" und selbst der Begriff "Evangelisation", ein Leitbegriff der Volksmission, wird aufgeweicht. "Permanente Evangelisation" geschieht schon durch die bloße Präsenz der Kirche, ihrer Türme, ihrer Glocken, ihrer Mitarbeiter. Sie ereignet sich - mit einer Formulierung von Christian Möller - in der "unaufdringlichen Predigt der Steine und S y m b o l e " . Es fragt sich, ob man für diese keineswegs unzutreffende Behauptung einen so besetzten Begriff wie "Evangelisation" verwenden sollte. Das Wort Gemeinde"aufbau", ebenfalls ein Begriff, der sich plausibel in das Kirchenbild der Ecclesiola-Theologie einfügt, erscheint im Schlußteil plötzlich in der Gestalt einer zeitgerecht weiterentwickelten, sensiblen Gemeindepflege. Wäre es nicht angebracht gewesen, dafür den klareren Begriff "Gemeindearbeit" zu verwenden? Auch die changierende Verwendung des Wortes 180 Zu diesen beiden Grundbegriffen der Metapherntheorie vgl. R.Roosen: Taufe, S.87f 181 C.Möller: Lehre II, S.297

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"Kirche" begegnet wieder: "Das kirchliche Handeln muß sich dementsprechend bewußt der Aufgabe stellen, Hilfe zur selbstverantwortlichen Gestaltung von Christsein zu bieten [ecclesia visibilis]. Wer aber ist die Kirche? Sie ist die Gemeinschaft der Gläubigen [ecclesia invisibilis], die sich in unterschiedlichen Formen und auf verschiedenen Ebenen organisiert" [ecclesia visibilis] (S.12; vgl. auch S.39) Mehrfach vermischen sich in dieser Weise Aussagen über die ecclesia visibilis und Aussagen über die ecclesia invisibilis. Aus der "Gemeinschaft der Gläubigen" wird wie selbstverständlich die "Dienstgemeinschaft der Näherstehenden". Ebenso changierend ist der Gemeindebegriff. "Eine Gemeinde, die helfen will, Christsein zu gestalten ... wird nicht nur die Kirchentüren offenhalten für alle und ihnen aufgeschlossen begegnen; sie wird auch hingehen zu denen, die Hemmungen und Widerstände verspüren zu kommen" (S.12). Die Gemeinde kann aber nicht "hingehen". Wer also ist hier angesprochen? Ist es die Pfarrerin oder der Besuchsdienstkreis, sind es die Gemeindehauschristen oder ist es gar die "missionarische Dienstgemeinschaft der Näherstehenden"? Keinesfalls kann es die "Gemeinschaft aller Getauften" sein, als die die Gemeinde auf Seite 87 definiert wird. 3. Versatzstücke: Auch die EKD-Studie operiert mit einer Reihe von "Mogelpackungen". Seit Kösters Publikation über die Kirchentreuen ist bekannt, daß höhere Verbundenheit mit christlichen Glaubensüberzeugungen keineswegs mit einem höheren Grad an Ansprechbarkeit für den missionarischen Dienst einhergeht. Diejenigen, die sich unter den Systembedingungen der Volkskirche "kirchentreu" verhalten, sind keineswegs der "harte Kern" einer "Dienstgemeinschaft" (Köster; Rendtorff). Dennoch wird genau das behauptet (S.88). Auch handelt es sich bei denen, die in ihren Kirchengemeinden nicht selten über viele Jahre hinweg aktiv sind, keineswegs um einen homogenen Kreis. Dieser Einsicht ungeachtet, übernimmt die Konzeption auch die Vorstellung von "missionarischen Dienstgruppen" unter der koordinierenden Begleitung der Pfarrerschaft, die es in der weit überwiegenden Zahl aller Parochien mit großer Sicherheit weder gibt, noch überhaupt geben kann, weil die Voraussetzungen dazu überhaupt nicht vorhanden sind. In jeder Kirchengemeinde ereignet sich ständig sehr viel mehr christliches Leben als die Funktionsträger jemals erfahren werden. Auch in diesem Punkt wiederholt die Studie die Engführung der Spandauer Thesen. Sie richtet ihr Augenmerk nur auf einen einsehbaren Nahbereich rund um das Pfarr- und Gemeindehaus. Veräußerlichte Formen des Christseins stehen nach wie vor im Zentrum des Interesses. Sichtbare Präsenz ("Konsumenten") und sichtbare Mitarbeit signalisieren enge kirchliche Verbundenheit und "gute" Christlichkeit. 182 In geradezu skurriler Weise wechselt die Ebene zwischen dem ersten und dem zweiten Absatz auf Seite 86: Hier wird die Kirche zunächst mit Barmen III als "Gemeinde von Brüdern" bestimmt, die in der Welt als "Zeugnis- und Dienstgemeinschaft" tätig wird. Unmittelbar auf diesen Gedanken folgt der Satz: "Tatsächlich stellt sich die Kirche als ein weit verzweigtes Netz von 'Diensten" dar. Wir sprechen von Gemeindedienst und Kirchlichem Dienst in der Arbeitswelt, von Diakonie in Anstalten und Sozialstationen ..."

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Die Überzeugung, daß eine wirklichkeitsnahe Konzeption der Gemeindearbeit von der Tatsache ausgehen muß, daß der weitaus größte Teil der Gemeindemitglieder auch heute schon gänzlich ohne kirchliche Kontrolle, Begleitung oder Fortbildung "Christsein gestaltet", wird leider nicht vertreten. Dabei hätte sich diese Folgerung ohne Schwierigkeiten aus den Aussagen des zweiten Kapitels ableiten lassen. 4. Gegensätzliches und Unvereinbares nebeneinander: Es ist trotz aller Bemühungen nicht überzeugend gelungen, die beiden seit der Jahrhundertwende konkurrierenden Modelle der evangelischen Gemeindearbeit (Volksmission contra Gemeindepflege) spannungsfrei nebeneinander zu stellen. Unwillkürlich fragt man sich beim Lesen doch immer wieder: Worum geht es eigentlich? Geht es um Volksmission oder geht es um Gemeindepflege? Geht es darum, daß der Gemeinde neue Christen "hingetan" (S.83) werden (vgl. nordamerikanische Freikirchen als Vorbild auf S.122), oder geht es darum, als Christ in einer Gemeinschaft von Christen zu leben, die sich in ihrer volkskirchlich-parochialen Form nun einmal definitiv als ein "Ensemble verschiedenster S o z i a l f o r m e n " darstellt? Es konnte nicht ausbleiben, daß die Studie in ihrem Rezeptionsprozeß aus beiden Richtungen kritisiert worden ist. Die Volkskirchler irritierte die Offenheit gegenüber volksmissionarischen Methoden, und umgekehrt warf man der EKD ein halsstarriges Beharren auf einem unbiblischen Holzweg vor. In all diesen Aspekten gleicht die EKD-Studie stellenweise mehr einem Flickenteppich als einer in sich stringenten Konzeption. Die Studie ist nicht leicht zu lesen und noch schwerer zu verstehen. e) Fehler Einige der Grundannahmen halten einer näheren Überprüfung nicht stand. Es handelt sich um die Behauptung, zwischen lebensweltorientierten und kirchenbildbestimmten Konzeptionen gäbe es konzeptübergreifende Gemeinsamkeiten (1.), um das Verständnis des gesellschaftlichen Wandels (2.) und um die Behauptung, alle Konzeptionen der Gemeindearbeit gingen von der Annahme eines religiösen "Defizits" bei den Gemeindemitgliedern aus (3.) 1. Konzeptübergreifende Gemeinsamkeiten: Die Studie vertritt die These, zwischen lebensweltorientierten und kirchenbildbestimmten Konzeptionen gäbe es konzeptübergreifende Gemeinsamkeiten. Alle Konzeptionen diagnostizieren zunächst ein religiöses Defizit und machen anschließend Vorschläge zu seiner Beseitigung. Der Unterschied zwischen beiden Konzeptionstypen bestehe lediglich in entgegengesetzten Wahrnehmungsrichtungen. Karl-Fritz Daiber hat dieser Behauptung widersprochen. 184 j n e ¡ n e r Analyse missionarischer, ökumenischer und funktionaler Ansätze hat er nachgewiesen, daß seit mehr als 100 Jahren 183 H.Lindner: Kirche, S.43 184 Karl-Fritz Daiber: Funktion

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schon in der Theoriebildung oftmals umgekehrt verfahren worden ist, als man es erwarten könnte. Er stellte fest, daß es stets eine favorisierte Problemlösung gab, und diese Problemlösung prägte bereits die Wahrnehmung der gesellschaftlichen Situation. Wollte jemand also die Notwendigkeit der Volksmission begründen, so stellte er den Zustand der Gesamtgesellschaft als "säkularisiert und kirchenfern" dar. Als Problemlösungsstrategie ergab sich dann konsequenterweise "Mission" und als Ziel der Bemühungen die Gemeindetreue der Christen. Damit aber ist die Situationsanalyse gerade kein Fundament, das alle konzeptionellen Richtungen verbindet. Stattdessen ist schon die Gesellschaftsanalyse ein Objekt von Auseinandersetzungen und unterschiedlichen Bewertungen. Ahnliches läßt sich auch für die Auslegung der biblischen Texte zeigen. Es gibt ja nicht nur ein einziges biblisches Leitbild von Gemeinde. Vielmehr überliefert das Neue Testament den Entwicklungsprozeß unterschiedlicher Nachfolge- und Gemeindemodelle. Aus diesem Fundus läßt sich ohne Schwierigkeiten das eine, aber auch das andere Modell herauslösen und zur Norm erheben. Christian Möller hat das übliche methodische Vorgehen beschrieben und kritisiert. "Die Bildrede vom Leib Christi oder vom Haus der lebendigen Steine bietet nicht Standpunkte an, von denen aus sich entwerfen oder fordern ließe, wie Gemeinde eigentlich auszusehen habe. Es sind auch nicht dogmatische Begriffe, aus denen sich dann Handlungsanweisungen ableiten l i e ß e n " . 185 Damit aber ist zugleich erwiesen, daß der Verständigungsversuch der EKD-Studie in zwei grundlegenden Punkten allzu sehr auf Harmonie gegründet ist. Die Differenzen in der Einschätzung von Bibel und Gesellschaft sind eindeutig größer, als sie in "Christsein gestalten" dargestellt werden. 2. Gesellschaftlicher Wandel: Die Interpretation des gesellschaftlichen Wandels unter Begriffen wie "nachlassende Traditionslenkung" und "Traditionsabbruch" ist eine Gleichung, die keinesfalls aufgeht. 186 Damit beschränkt sich die Wahrnehmung auf Begleitphänomene, die aus einer kirchlichen Binnenperspektive heraus als bedrohlich e r s c h e i n e n . 187 Ursächlich ist nicht der Traditionsabbruch. Er ist vielmehr lediglich ein Begleitphänomen der gesellschaftlichen Ausdifferenzierung und der Auswirkungen, die von diesem Prozeß auf die einzelnen Mitglieder der Gesellschaft ausgeübt werden (s.u. Kap.V,l und V,2; VI,3). 3. Religiöses Defizit der Gemeindemitglieder: Die Behauptung, die Kirchenmitglieder seien mit der Aufgabe, ihr Christsein zu gestalten, überfordert (S.12), ist als subjektive Einschätzung der Autoren verstehbar, sachlich ist sie falsch (s.o. Kap.I: "religion-as-practised"; s.u. Kap.VI: Mitgliederreligiosität). Auch die Behauptung der EKD-Studie, alle Konzeptionen der Gemeindearbeit gingen von der Annahme eines religiösen "Defizits" bei den Gemeindemitgliedern aus, 185 C.Möller: Lehre II, S.278 186 zum Stand der Diskussion über den Begriff "sozialer Wandel", sowie zur erkenntnistheoretischen und empirischen Problematik B.Schäfers: Wandel, S.9-12 187 zur Kritik an der vorgelegten Interpretation vgl. M.Welker: Kirche ohne Kurs? Aus Anlaß der EKD-Studie 'Christsein gestalten', Neukirchen 1987 bes.39-46 und 72-74

5.1 Christsein gestalten

161

trifft in dieser pauschalen Form nicht zu. Zwar gibt es tatsächlich ein signifikantes Übergewicht derartiger Konzeptionen. Anderslautende Urteile sind deutlich seltener, aber sie sollten deshalb doch nicht übergangen werden (s.o. Kap.II 1.1, 1.3, 4.1 bis 4.4).

5.2 "Person und Institution" - Differenzierte Gemeindearbeit multiformer Gemeinden Die Perspektivkommission der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau hat eine Studie mit dem Titel "Person und I n s t i t u t i o n " 188 vorgelegt, deren Untertitel vielversprechend klingt: "Volkskirche auf dem Weg in die Zukunft". Die Studie positioniert sich mit eindeutig volkskirchlichen Prämissen: Mitgliedschaftskriterium ist einzig die Taufe (S.45). "Es geht zunächst darum, daß wir unsere eigene Einstellung ändern: Mitglieder der Kirche sind nicht nur die 'Kirchentreuen'; es sind auch die Menschen, die nicht mehr den Weg in die Kirche finden. Sie bilden die Mehrheit" (S.170). Alle Gemeindemitglieder sind uneingeschränkt ernstzunehmen (S. 171). In der Kirche gibt es ein differenziertes Mitgliedschaftsverhalten: "Diese Vielfalt wahrzunehmen ist hilfreich, um nicht einer Blickverengung aufzusitzen" (S.88). "Strukturen der Gleichberechtigung" (S.90) sind zu schaffen. In allen diesen Punkten setzt die Studie konsequent auf die Einsichten der EKD-Umfragen. 1. Die Gesellschaftsanalyse und ihre Konsequenz - neue Formen von Kirchengemeinden werden benötigt: Auch die EKHN-Studie legt eine Gesellschaftsanalyse vor und bewertet den gesellschaftlichen Wandel im Anschluß an Niklas Luhmann als "Differenzierungsschub" (S.17). Daraus leitet sie ihre zentrale Forderung ab: Die Kirche ist aufgefordert, auf den Differenzierungschub in der Gesellschaft mit einer Ausdifferenzierung ihrer Angebotspalette zu antworten. Das bedeutet, daß die alte Ortskirchengemeinde ihr Organisationsmonopol nicht länger behalten kann. Der "Stellenwert der sogenannten Parochialgemeinde" wird relativiert werden müssen (S.178). Viele andere, sogar auch zeitlich befristete Formen von "Gemeinde" sollen hinzutreten können (S. 127-129). Gefordert wird "ein vielfältiges Miteinander multiformer Gemeinden" (S.125) bzw. eine "mehrseitige Ausrichtung der kirchlichen Dienste" (S. 177). 189 2. Maximen und Forderungen für die Arbeit in den bestehenden volkskirchlichen Parochien: Da die einzelnen Teile der Studie von verschiedenen Autoren (und Spezialisten) verfaßt worden sind, findet man zahlreiche unterschiedliche 188 Arbeitsergebnisse und Empfehlungen der Perspektivkommission der Evgl. Kirche in Hessen und Nassau, Frankfurt ^ 1992 (Vertrieb über den Evgl.Presseverband Frankfurt, Neue Schiesingergasse 24) 189 mit Verweis auf die EKD-Studie: Der Beruf des Pfarrers / der Pfarrerin heute, Gütersloh 1989

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Stile und eine große Menge unterschiedlicher Perspektiven vor. Was hier im einzelnen dargestellt ist, läßt sich schwer mit wenigen Worten zusammenfassen. Einige Maximen oder Forderungen tauchen jedoch mehrfach auf und werden auch im vierten Teil der Studie, die die Überschrift "Konsequenzen für kirchliches Handeln" (S. 161-203) trägt, noch einmal aufgegriffen. Dieser vierte Teil ist nicht persönlich gezeichnet, wird also von der Kommission verantwortet. An diesem Teil wird sich die Darstellung vorrangig orientieren. Ziel der Bemühungen soll es sein, die Parochien zu ermuntern, "eine vielschichtige, an unterschiedlichen Zielgruppen orientierte Gemeindearbeit zu entwickeln" (S.180). Insbesondere an der Verbesserung der Kommunikations- und Leitungstrukturen der Kirche soll gearbeitet werden. Die Vielfalt der unterschiedlichen Anforderungen erzwingt eine intensivierte Binnenkommunikation. Teamarbeit, innerorganisatorische Vernetzung und zwischengemeindliche Kooperation sind zu verstärken. Gefordert wird "differenzierte Partizipation, kollegiale Kooperation und aufgabenorientierte Kommunikation" (S.85). Ein "Abbau der hierarchischen Organisationsformen" (S.85) wird gefordert und ein Weg "hin zum dialogisch-konziliaren Verstehen und Handeln" (S.85) nahegelegt. "Eine konziliare Struktur und Leitungsform" soll entwickelt werden (S.94). "Professionelles, d.h. zielorientiertes, nachvollziehbares und effektives Handeln wird wichtiger als gut gemeinter Universaldilletantismus" (S.86). Einige konkrete Vorschläge für die parochiale Gemeindearbeit sind der Ideenwelt Emil Sulzes und Jakob Schoells entlehnt (S.171f). Unvermittelt begegnet man aber auch einem volksmisionarischen Programm: In Zukunft, so heißt es, werden die Pfarrer/innen sich nicht mehr darauf beschränken dürfen, eine Gemeinde "zu hüten und zu betreuen". Sie sollen vielmehr eine "missionarische Kompetenz" (S.174) entwickeln. "Es wird künftig entscheidend darauf ankommen, Menschen für die Teilnahme an Lebensformen der Kirche zu werben, zu gewinnen, zu motivieren" (S.174). "Es geht um die Fähigkeit zu einem einladenden und werbenden Handeln" (S.170). Leider fehlt es an Konkretisierungen, so daß man nicht abzuschätzen vermag, welchen Stellenwert dieses volksmissionarische Zwischenspiel im Gesamtduktus besitzt, der doch ansonsten eindeutig volkskirchlich- pluralistisch orientiert ist. 3. Bewertung: Die Studie fordert, "klare Vorstellungen über die künftigen Leitziele kirchlicher Arbeit" zu entwickeln und "bewußte Prioritäten" zu setzen (S.181 u.ö.). Gerade an diesem Punkt bleiben die Autoren weit hinter ihren eigenen Forderungen zurück. Man findet über die 203 Seiten der Publikation hinweg verteilt nahezu alles, was gegenwärtig in der Diskussion ist. Aber man vermißt die Gewichtung. Wie soll denn nun gearbeitet werden, volkskirchlich à la Sülze und Schoell oder volksmissionarisch à la Hilbert? Oder darf jeder tun, was er persönlich für richtig hält? Das müßte allerdings irgendwo gesagt werden. Was in den volkskirchlichen Parochien konkret geschehen soll, die ja auch in der hessischen Kirche sehr viel zahlreicher vorhanden sind als irgendwelche "Zielgruppengemeinden", bleibt unklar. Die "Leitsätze zur Gestalt der Kirche" (S. 161-163) helfen hier nicht weiter. Sie sind eine Ansammlung von nichts

5.2 "Person und Institution"

163

sagenden Richtigkeiten. Das Grundanliegen der Studie ist erkennbar: "Wir müssen als Kirche, als Gemeinde, als Träger gemeindeübergreifender Dienste und Anbieter von Veranstaltungen dem Differenzierungs- und Individualisierungsschub in der Gesellschaft Rechnung tragen" (S.170). Auf die brennende Frage aber, wie denn die parochiale Arbeit der "Volkskirche auf dem Weg in die Zukunft" konkret und detailliert aussehen soll, gibt die Studie ihren Lesern und Leserinnen, von denen sicher viele in der täglichen Arbeit im Gemeindedienst stehen, keine Auskunft. Unter der Hand verabschiedet sie sich von den Praktiker/innen im Parochialdienst und verfolgt ein anderes Anliegen. Sie möchte das Projekt multiformer Gemeinden vorantreiben und hat darüber offenbar die Berücksichtigung der Gegebenheiten in den bereits schon vorhandenen Ortskirchengemeinden hintangestellt. Ein weiteres Anliegen kommt hinzu: Die Arbeit der nichtparochialen Teilsysteme soll konzeptionell und rechtlich aufgewertet werden (S.152f u.ö.). 4. Ernst Lange als "geistiger Vater" von "Person und Institution": Mit der Forderung zur Bildung multiformer Gemeinden greift die Studie Überlegungen von Ernst Lange auf, die er auf dem Hintergrund des Antirassismus-Streits in der Hessischen Kirche zu Beginn der 70er Jahre aufgestellt hatte, flicht sie aus ihrem historischen Kontext heraus und beraubt sie damit eines Teiles ihrer ursprünglichen Plausibilität. Der Antirassismusstreit der 70er Jahre hatte kontroverse Ansichten und unterschiedliche Gruppierungen in der Hessischen Kirche erkennbar werden lassen. Ernst Lange unterschied Gruppen mit traditionell parochial-volkskirchlichen Erwartungen, solche mit vereinskirchlicher Frömmigkeit und "reformkirchliche Impulsgruppen" (die in diesem Streit die "Fortschrittsfraktion" bildeten) und stellte fest: "Wenn es richtig ist, daß sich im Ortspfarramt ganz unterschiedliche Bedürfnislagen überschneiden, daß sich der Pfarrer zwischen der volkskirchlichen Gemeinde, der Vereinskirche und der Reformkirche aufreibt, dann ist zu überlegen: Ist es möglich, diese unvereinbaren Funktionen zu t r e n n e n " ? 190 Er wollte die Blockadehaltung der Bestandssicherungsfraktionen auflösen, indem er allen Fraktionen die grundsätzliche Berechtigung ihrer Position zuerkannte, der Kirche als Ganzer aber gleichzeitig einen konziliaren Verständigungsweg wies. Es ging ihm um "eine Strategie der konziliaren Organisation des Konflikts". Positionelle Klarheit sah er als Voraussetzung für einen fruchtbaren konziliaren Prozeß an und verknüpfte dieses Anliegen mit einem attraktiven Vorschlag zur Entlastung der Parochialpfarrerschaft: Es konnte nicht angehen, daß sämtliche Anliegen in der Person eines einzelnen Parochialpfarrers verkörpert wurden. "Man kann heute in den amerikanischen Großstädten nicht mehr Pfarrer der Schwarzen und der Weißen zugleich sein". 192 Er schlug deshalb vor, die personelle Repräsentanz

190 E.Lange: Überlegungen, S.211 191 E.Lange: Überlegungen, S.206 192 E.Lange: Schwierigkeit, S.24

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der unterschiedlichen Gruppen zu trennen. "Es gibt Situationen, es gibt Konstellationen in seinem Zuständigkeitsbereich, in denen nur noch eine radikale Zuwendung unter Vernachlässigung anderer Verbindlichkeiten zureicht ... um den Preis der Gewißheit, daß man sich damit als volkskirchlicher Pfarrer das Genick bricht, weil man seine allseitige Kommunikationsfähigkeit unweigerlich verliert. Es lassen sich Situationen voraussehen, zum Beispiel in Westberlin, wo Pfarrer ganz bewußt Pfarrer alter Leute werden müssen, auch um den Preis, daß die Jungen den Tempel vorerst verlassen". 193 Von dieser Einsicht her forderte Lange, unterschiedliche pastorale Berufsbilder zu entwickeln und die drei unterschiedlichen christlichen Gruppierungen (Volkskirche, Vereinskirche, Impulsgruppen) durch verschiedene Pfarrertypen personal zu repräsentieren und zu betreuen. "Alle drei Funktionsbündel müßten sich zu klar differenzierten Berufsbildern gruppieren lassen. In der letzten Konsequenz müßten sich die vereinskirchlichen und reformkirchlichen Gruppen völlig vom parochialen Pfarramt lösen". 194 Damit war die Idee geboren, neben der parochialen Kirchengemeinde weitere "Kirchengemeinden" besonderer Art zu etablieren. Im Rahmen einer "differenzierten Basis-Strategie" sollte das Parochialpfarramt nur noch eine Form des Gemeindepfarramts sein. "Die alte parochiale Struktur ist nicht mehr die einzige, die normative BasisStruktur". 1 ^ Die Studie "Person und Institution" hat 20 Jahre nach der Antirassismusdiskussion in der EKHN Ernst Langes Forderung wiederbelebt, ein differenziertes Spektrum von Kirchengemeinden zu bilden. Allerdings hat sich der soziale Kontext seither deutlich verändert. Deshalb verschiebt sie die Begründungsbasis, indem sie die Aufweichung des Parochialsystems als notwendige Antwort der Kirche auf den Differenzierungsschub der Gesellschaft versteht. Das Problem der Rollendiffusion der Parochialpfarrer, das bei Lange konstitutiv war, wird marginalisiert. Ebenso herzlos wie sachlich falsch ist die Bezeichnung "Überlastungssyndrom" (S.159) für die institutionalisierte Dauerüberlastung der Parochialpfarrerschaft, die kurz erwähnt wird, um sofort wieder ad acta gelegt zu werden: "Hier bedarf es kollegialer Beratung und Supervision. Psychische Belastungen haben ihre Ursache oft in falscher Arbeitsplanung, fehlender Schwerpunktbildung und Rollenkonfusion" (S.159). Der ursprünglich einmal unmittelbar evidente Sinn der Infragestellung des Parochialsystems ist in der EKHN-Studie keineswegs mehr so plausibel begründet wie er es noch bei Ernst Lange war. Ein Begründungsdefizit ist entstanden. Aber dieses Begründungsdefizit bleibt unbemerkt. 5. Differenzierung als Antwort auf Differenzierung? Die Autoren haben sich zu sehr von der "Differenzierungshypothese" gefangen nehmen lassen. 196 Es ist 193 194 195 196

E.Lange: Schwierigkeit, S.24 E.Lange: Überlegungen, S.212 E.Lange: Überlegungen, S.211 Daß die gesellschaftliche Differenzierung eine Zwilligsschwester namens Milieubildung besitzt, wird nur am Rande erwähnt. Bei Luhmann hätte man das finden können:

5.2 "Person und Institution"

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durchaus fraglich, ob die Antwort der Kirche auf gesellschaftliche Differenzierung tatsächlich analog sein muß und folglich "innerkirchliche Ausdifferenzierung" heißen sollte. Was Michael Welker an der EKD-Studie "Christsein gestalten" kritisiert hat, gilt in gleicher Weise für "Person und Institution": "Die Entwicklung, die zu Dissoziation und chronischer Selbstgefährdung menschlicher Gesellschaften führt, wird in einer schon atemberaubenden Einfalt als nicht nur hinzunehmende, sondern geradezu als das Gesetz kirchlicher Entwicklung vorgebende Selbstverständlichkeit in Ansatz gebracht". 197 wäre es nicht gerade umgekehrt sinnvoll, auf die Vielfalt der Entwicklungen und die daraus erwachsenden Orientierungsschwierigkeiten mit deutlich erkennbarer Profilbildung und einer planvollen Konzentration auf die stärksten Seiten der kirchlichen und auch der parochialen Arbeit zu reagieren? Die Kirche ist schlecht beraten, wenn sie wie der Igel im Märchen, immer schon dort sein möchte, wenn der Hase erst noch angerannt kommt. Versucht sie es dennoch, wird ihr die schmerzliche Einsicht nicht erspart bleiben, daß sie in einer sich ständig wandelnden Gesellschaft nicht der Igel ist, sondern der Hase. Joachim Matthes hat den Weg der fortschreitenden Ausdifferenzierung der landeskirchlichen Subsysteme bereits vor fast 30 Jahren kritisiert. 198 £>¡e These von der prinzipiellen Dienstgemeinschaft aller kirchlichen Teilsysteme ("Gemeinde Jesu Christi ... an je ihrem Ort" - S.182) bedarf einer eingehenden detaillierteren Überprüfung. In der undifferenzierten Form, wie sie in "Person und Institution" vertreten wird, ist sie u n h a l t b a r . Nach wie vor ist die volkskirchliche Parochie das schlagende Herz der Volkskirchen, das viele andere Entwicklungen erst (finanziell) möglich gemacht hat und auch weiterhin möglich macht. Man kann durchaus darüber nachdenken, die Organisationsstruktur der Landeskirchen durch ein sinnvoll konstruiertes Netz von Personalkirchengemeinden additiv zu ergänzen. Das entbindet aber die Landeskirchen nicht von ihrer Fürsorgeverpflichtung gegenüber den Parochien. Auch die Hessische Kirche weiß das. Nachdem auch gegen Ende der Studie noch einmal erwogen wird, daß weitere 'Organisationsformen von Gemeinde" gebraucht werden, und daß auch kleingruppenspezifische Definitionen von "Gemeinde" möglich sind (S.178), wird dann unverhofft mitgeteilt, daß die Hessische Kirche ohnehin nicht genug Geld hat, um teure Experimente mit einer großen Zahl neuer Son" Fortschreitende Differenzierung findet ihre Grenze und ihr Korrektiv nämlich nicht nur in der Form zentraler Einrichtungen (Symbole, Sprache, Rollen, Entscheidungsprozesse) ... sondern auch darin, daß alle Einzelsysteme ihrer Struktur nach schon eine geordnete Umwelt voraussetzen müssen, sich aus ihr also gar nicht zu weit entfernen können, ohne ihre eigene selektive Identität zu verlieren". - N.Luhmann, Gesellschaft, in: Ders.: Soziologische Aufklärung I, Opladen 6 1991, S.149 197 M.Welker: Kirche, S.47; Vgl. S.50: "In letzter Konsequenz wird unter dieser Zielperspektive die gesellschaftliche Differenzierung in einer entsprechend differenziert aufgefächerten Kirchenstruktur maßstabsgetreu abgebildet". 198 J.Matthes: Emigration, S.37f; vgl. S.45: "Alle diese Initiativen [Spezialpfarrämter, Werke, Akademien usw.] sind zunächst im Ansatz innerkirchliche Emanzipationen gewesen." 199 vgl. auch die kritischen Anmerkungen von G.Kehrer: Gemeinde, S.262

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derkirchengemeinden zu finanzieren (S.193). Sie wird sich auf das Wesentliche beschränken müssen. Was aber ist das Wesentliche? An diesem Punkt kann man sicher geteilter Meinung sein. Die vorliegende Arbeit wurde in der Überzeugung geschrieben, daß die qualitative Verbesserung der parochialen Gemeindearbeit Priorität haben sollte. Hier gibt es noch ein großes unausgeschöpftes Potential. Die Studie "Person und Institution" hat dieses Potential nicht erschlossen.

6. Vorschläge zur Verbesserung der Gemeindekultur Abschließend sollen einige Arbeiten kurz erwähnt werden, die zwar in der Fachdiskussion viel zitiert werden, aber die hier behandelte Fragestellung nur am Rande berühren, weil sie nicht in einem volkskirchlichen Horizont angesiedelt sind oder ein größeres Maß an Praxisnähe vermissen lassen. Gemeinsam haben die Arbeiten von Christof Bäumler, Reiner Strunk und Christian Möller, daß sie sich um eine Verbesserung der evangelischen Gemeindekultur bemühen. a) Christof Bäumler: Kommunikative Gemeindepraxis Christof Bäumler argumentiert mit "wünschenswerten Funktionen der Gemeindearbeit": "Wünschenswert sind diejenigen Funktionen, in denen die Gemeinde der Befreiten zum Zuge kommt, und alle Strukturen, die sie daran hindern, müssen verändert werden" .200 Bäumler möchte die Kommunikationskultur der Gemeinde auf kleingemeindlicher Basis verbessern. Die Komplexität volkskirchlicher Parochien bleibt unberücksichtigt. Karl Ernst Nipkow hat kritisiert, Bäumler behandele "nicht die Krise des Tradierten, sondern die Krise der Tradierungswege" .201

b) Reiner Strunk: Vertrauen Reiner Strunk möchte, inspiriert von Bonhoeffer, eine "Kultur des Vertrauens" in den Gemeinden anregen und versteht "Gemeindeaufbau als Vertrauensbildung": "Die Christengemeinde ... besitzt von Hause aus diese vertrauensfördernden Strukturbedingungen. Es gehört eben zur 'Christusgestalt' dieser Gemeinde, daß es in ihr keine Trennung von Juden und Griechen, von Reichen und Armen, von Männern und Frauen, von Freien und Sklaven gibt. Natürlich bedeutet dies nicht, daß die Unterschiede einfach ignoriert werden könnten, als 200 C.Bäumler: Kommunikative Gemeindepraxis. Eine Untersuchung ihrer Bedingungen und Möglichkeiten, München 1984, S.65 201 K.E.Nipkow: Bildung als Lebensbegleitung und Erneuerung. Kirchliche Bildungsverantwortung in Gemeinde, Schule und Gesellschaft, Gütersloh 1990, S.98

6. Vorschläge zur Verbesserung der Gemeindekultur

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existierten sie nicht. Aber sie haben ... keine Auswirkung mehr auf die Gestaltstruktur des Zusammenlebens".202 j ) a s Modell unterschätzt die Komplexität volkskirchlicher Parochien, verkennt den Wert der religiösen Vielfalt, die in ihnen vorhanden ist, und verharmlost die parochialen Arbeitsbedingungen. Diesen Eindruck bestätigen auch die spärlichen Konkretionen, die Strunk im zweiten Band selbst v o r t r ä g t . 2 0 3 Schon Emil Sülze wußte: "Nichts wächst schwerer als Vertrauen". c) Christian Möller: Lehre vom Gemeindeaufbau Christian Möller ist, wo er konzeptionell argumentiert, in der Tradition der Dialektischen Theologie an der ecclesia invisibilis orientiert, wenngleich er die Ebene der ecclesia visibilis immer wieder e i n t r ä g t . 2 0 4 Er möchte besonders die Gottesdienstkultur der Gemeinde verbessern und legt ein Programm des "gottesdienstlichen Gemeindeaufbaus" vor (I, S.218). "Es geht mir jedoch um ein ganzheitliches Verständnis von Gottesdienst, das Sonntag und Alltag umfaßt. Dabei habe ich nicht in erster Linie ein Tun von Menschen im Blick, sondern - von Luther mit Bedacht in zwei Worten geschrieben - Gottes Dienst, der immer wieder darauf wartet, daß Menschen ihm sonntäglich wie alltäglich entsprechen, um dadurch zur Gemeinde erbaut zu werden" (II, S.243). Möller geht es um das "Erglauben von Kirche im Lichte der Verheißung" (II, S.268). Von diesem Ansatz her plädiert Möller dafür, die "Sehweise Jesu Christi für die Einschätzung der Gemeindesituation" zu übernehmen und auch die "Taufscheinchristen" als Menschen anzusehen, deren "Namen im Himmel aufgeschrieben" sind (I, S.102). Gemeinde läßt sich dann "nicht mehr in Nahstehende und Fernstehende, in Gesunde und Kranke" zerteilen (I, S.104). Vor pastoralem Aktionismus und missionarischem Machertum, das die Weite des Wirkens Gottes einschränkt und nur gelten läßt, was es selbst mit eigenem Geist und Willen auferbaut hat, wird eindringlich g e w a r n t . 2 0 5

202 R.Strunk: Vertrauen. Grundzüge einer Theologie des Vertrauens, Stuttgart 1985, S.123f 203 R.Strunk: Schritte zum Vertrauen. Praktische Konsequenzen für den Gemeindeaufbau, Stuttgart 1989, S.220-236 204 C.Möller: Lehre vom Gemeindeaufbau, 2 Bde., Göttingen 2 1987 und 1990 205 C.Möller: Lehre I, S.104; I, S.258; II, S.258. Vgl. dazu eine Passage aus F.Schwarz / C.Schwarz: Theologie, S.66: "Wir müssen geplant und gezielt Besuchsdienst machen, nicht Gott. Wir müssen unsere Häuser öffnen, damit andere sich wohlfühlen und etwas von der Freundlichkeit Gottes erfahren, nicht Gott. Wir müssen uns intensiv betend und lernend darum bemühen, Gespräche über den Glauben zielstrebig und sensibel zu führen, nicht Gott. Wir müssen Aktionen beginnen, um gegen Hunger, Ungerechtigkeit und Wettrüsten zu kämpfen, nicht Gott. Gott hat nie eine Atomrakete aufgestellt und wird auch keine verschrotten, wenn wir es nicht tun! Wir müssen im Gebet mit Gott ringen, müssen Evangelisation veranstalten und für eine bessere Welt kämpfen. Wir müssen mit allem Engagement, mit Hartnäckigkeit, Frustrationstoleranz und Erfindungsgeist den Rahmen schaffen, daß Menschen Christus selbst begegnen." - alle Hervorhebungen im Original. Weitere Belege bei Möller: Lehre II, S.255-262

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Gemeinde ereignet sich. Sie ist nichts Statisches, so wie eine Institution statische Elemente hat. Die erglaubte Gemeinde ist ein "wanderndes Gottesvolk", das man "nicht künstlich feststellen und so in seiner Wanderschaft behindern" (II, S.277) kann. Von der Einsicht in den dynamischen Charakter der ecclesia invisibilis gelangt Möller zu einer kritischen Einstellung gegenüber dem beliebten Versuch, das Wesen der Kirche aus einzelnen neutestamentlichen Begriffen zu deduzieren und damit festzuschreiben (Π, S.278). Im Verlauf der Arbeit wird an diese Einsicht angeknüpft werden, wenn der biblische Begriff des "Reiches Gottes" im Anschluß an Ernst Casirer als "Systemraum des Heiligen" beschrieben wird. Die ecclesia invisibilis ist, mit Ernst Cassirer, ein "mythischer" Raum, die ecclesia visibilis dagegen ist das nicht. Möllers Arbeit hätte gewonnen, wenn er das Verhältnis von ecclesia visibilis und ecclesia invisibilis eindeutiger bestimmt und auch die Grenzen seines Ansatzes deutlicher gemacht hätte. Immerhin ist es ja Möllers Verdienst, die Quelle publiziert zu haben, die belegt, daß die Bekennende Kirche keineswegs ohne eine eigene Organisationsform als ecclesia visibilis auskommen konnte und wollte. Mitten im 2.Weltkrieg hat sie begonnen, die Organisationsstrukturen für eine Untergrundkirche zu p l a n e n . 206

7. Ergebnisse und Beurteilung Überblickt man die dargestellten Konzeptionen evangelischer Gemeindearbeit, dann stellt sich das unzureichende oder sogar fehlende Systembewußtsein und die damit einhergehende mangelnde Berücksichtigung der Komplexität des Sozialsystem Kirche als zentrales Problem dar (7.1). Von dieser Einsicht her erschließen sich weitere Aporien der Konzeptionsentwicklung: Die Fehlbewertung der Mitgliederreligiosität, die Fehlinterpretation des Begriffs "Priestertum aller Gläubigen", die ausgeprägte Praxisferne der Theoriebildung und Konzeptionsentwicklung (7.2).

7.1 Das fehlende Systembewußtsein Das fehlende Bewußtsein für die mehrdimensionale Komplexität und den Systemcharakter der evangelischen Landeskirchen kommt zum Ausdruck in volksmissionarischen Konzepten für eine volkskirchliche Gemeindearbeit (a), im Vorschlag einer konziliaren Gemeindearbeit (b) und in der These vom "Gestaltwandel" des Christentums in der Neuzeit (c).

206 C.Möller: Lehre I, S. 195-218 und C.Möller: Gemeindeaufbau, S. 128-130

7.1 Das fehlende Systembewußtsein

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a) Volksmissionarische Konzepte Die konzeptionelle Problematik volksmissionarischer Bemühungen ist bereits ausführlich dargestellt worden (s.o. Kap.II 1.2e; II 2d und II 3.2a.b). Es handelt sich um ein mentalitätsverengtes Gruppenmodell, das theologisch und ekklesiologisch umstritten ist und die Größenordnungen landeskirchlicher Parochien ignoriert. Allenfalls als Zielgruppenkonzept etwa im Rahmen von Personalkirchengemeinden ist es innerhalb von pluralistischen Landeskirchen vorstellbar.^207 Hier wird es ohne Zweifel Befürworter und auch Unterstützer finden. Als Standardkonzept für die parochiale Arbeit in der Volkskirche aber ist es undenkbar. Man kann nicht im Ernst annehmen, mit volksmissionarischen Methoden und Inhalten seien mehr als 27 Millionen evangelischer Christen zu erfassen. 208

b) Konziliare Gemeindearbeit Die Forderung nach einer "konziliaren Gemeindearbeit" ist von "Christsein gestalten", "Person und Institution", Herbert Lindner, u.a. erhoben worden.209 Das Leitbild von einer "konziliaren Gemeinschaft" soll, so wird wiederholt vorgeschlagen, auch im Gemeindealltag bestimmend werden.210 Die Idee, den konziliaren Gedanken von der Ebene zwischenkirchlicher ökumenischer Konsultationen auf die innergemeindliche Ebene zu übertragen, ist auf den ersten Blick durchaus reizvoll. Es wäre zweifellos etwas Schönes, wenn wirklich einmal alle Mitglieder einer Kirchengemeinde in einen solchen konziliaren Verständigungsprozeß einträten. Man kann sich gut vorstellen, daß alle dabei eine deutliche Horizonterweiterung erfahren und feststellen würden, wie wenig sie vorher voneinander gewußt haben. 207 Die Zahlen sprechen in diesem Fall eine klare Sprache. Im Jahr 1996 ist die Evangelische Allianz 150 Jahre alt geworden und besitzt etwa 1,3 Millionen Mitglieder (M.Strauß: Dialog von rechts. Die Evangelische Allianz ist 150 Jahre alt, in: EvKomm 29/1996, S.65). Das sind knapp 5% der evangelischen Kirchenmitglieder. 95% der Kirchenmitglieder zeigen demgegenüber eine Form der "abweichenden" Kirchlichkeit, die statistisch betrachtet als "Normalform" der evangelischen Kirchlichkeit anzusehen ist. 208 Hinzu kommt, daß eine Universitätsausbildung die Parochialpfarrer nicht für volksmissionarische Arbeit qualifiziert. Hier bedürfte es einer nichtuniversitären Ausbildung mit deutlich abgesenkten Bildungsanforderungen und -Voraussetzungen. Das Anforderungsprofil an volksmissionarisch aktive "Rancher" läßt sich gut aus der Publikation von J.Knobloch u.a. (Hg.): Gemeinde gründen in der Volkskirche - Modelle der Hoffnung, Moers 1992 erheben. 209 Ernst Lange hat den Begriff der "Konziliarität" vor dem Hintergrund des AntirassismusStreits auf den innerkirchlichen Dialog zwischen Kirchenleitungen und reformkirchlichen Gruppen angewandt, nicht auf die systeminterne Kommunikation in der Parochie (Überlegungen, S.209-212). Auch W.Lück hat noch nicht das Modell einer "konziliaren Gemeindearbeit", sondern fordert konziliare Verständnisbemühungen im Sinne einer stellvertretenden Parteinahme für Andersdenkende und Andersglaubende durch die hauptamtlichen Mitarbeiter/innen der Kirchengemeinde. 210 EKD (Hg.): Christsein, S.13; vgl. C.Bäumler: Gemeindepraxis, S.134

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So bestechend die Idee erscheint, bei näherem Hinsehen erweist sie sich als problematisch. Man kann darüber streiten, ob die hermeneutischen Grundannahmen, auf denen das konziliare Diskursmodell fußt, zutreffend sind.^H Aber schon die Übertragung des Denkmodells vom ökumenischen Horizont auf die Kirchengemeinde gelingt nicht reibungslos.212 ¡m ökumenischen Dialog zwischen christlichen Kirchen unterschiedlichster Größe und Prägung gibt es viele Möglichkeiten, einen konziliaren Prozeß zu organisieren, von Arbeitsund Projektgruppen bis hin zu großen internationalen Konsultationen. Die Teilnahme am konziliaren Prozeß erfolgt "von Berufs wegen" und ist entsprechend finanziell abgestützt. Anders dagegen ist es in einer Kirchengemeinde. Die Studie "Christsein gestalten" möchte ein "Lernklima" gewinnen, in dem offen ausgesprochen werden kann, "was beide [Seiten] einander zu sagen haben (S.57). Gibt es denn in einer volkskirchlichen Parochie überhaupt "beide Seiten"? Die Antwort heißt: "Nein." "Beide Seiten" haben einander schon deshalb nichts zu sagen, weil es in einer komplexen Massengemeinde "beide Seiten" überhaupt nicht gibt. Mehr noch, der Vorschlag unterstellt, daß in Parochien eine hohe Verständigungsmotivation vorhanden sei, weil "der Vorzug" des volkskirchlichen Binnenpluralismus darin besteht, "daß er einen Druck zur Einigung erzeugt".213 D a s m a g vielleicht für ökumenische Konsultationen gelten. Unter parochialen Verhältnissen aber gilt es sicher nicht. Hier gibt es keine allgemein verbreitete Verständigungsmotivation. Warum sollten denn verschiedenartigste Menschen, die mit der jeweiligen Form ihres Christseins durchaus zufrieden sind (was die zweite EKD-Umfrage ja erneut bestätigt hatte) ihre kostbare Freizeit opfern, um mit Funktionsträgern der Kirche ihre Meinung 211 Es ist fraglich, ob die Ansicht, die christliche Wahrheit sei vor allem ein kognitives Problem, da sie in den irdischen Gefäßen nur bruchstückhaft enthalten sei ("particulae veri" S.47), überhaupt zutreffend ist. Mehrfach wird in der Studie "Christsein gestalten" die Ansicht vertreten, die christliche Wahrheit sei ein "symbolon" (S.13; S.46f; S.76; S.81). Ein "symbolon" war nach antik griechischer Praxis ein Teilstück eines zerbrochenen oder zerteilten Gegenstandes, das zu Wiedererkennungszwecken verwendet wurde, etwa als Gasterkennungsmarke, als Schuldschein, als Quittung oder Rechtshilfevertrag (M.Lurker: Symbol, in: Ders. (Hg.): Wörterbuch der Symbolik, Stuttgart 1979, S.551/2) Lessing hat in seinem "Nathan" die Frage nach der Wahrheit des Glaubens und der Religionen mit einer vollkommen anderen Metapher beantwortet und sie nicht nur als kognitives, sondern auch als Handlungsproblem aufgefaßt; ähnlich auch Herder (vgl. R.Volp: Liturgik II, S.788). Das konziliare Konzept übersieht auch die Möglichkeit einer Differenzbewältigung durch Schweigen und Nichtbeachtung. Dieses Verhaltensschema hat einen sehr viel höheren Stellenwert im Zusammenleben der Menschen, als vielfach bewußt ist. 212 Das ursprüngliche Selbstverständnis des konziliaren Prozesses ist mit der Übertragung auf die innergemeindliche Kommunikation bereits stark harmonisiert worden. Peter Cornehl hat darauf hingewiesen, daß der konziliare Prozeß als "Prozeß für Frieden, Gerechtigkeit und die Bewahrung der Schöpfung" sehr wohl parteilich gemeint ist und es in diesem Prozeß nicht allein darum geht, die particulae veri zusammenzutragen, die jeder einzelne Teilnehmer einzubringen weiß. Es geht um einen "Streit" um die Wahrheit und für die Wahrheit, die in den Begriffen "Frieden, Gerechtigkeit und Bewahrung der Schöpfung" inhaltlich qualifiziert ist. - P.Cornehl: Was ist ein konziliarer Prozeß? in: PTh 75/1986, S.575596 213 EKD (Hg.): Christsein, S.80

7.1 Das fehlende Systembewußtsein

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auszutauschen und mit ihnen in einen wechselseitigen, partnerschaftlichen Lernprozeß einzutreten? Die Gemeinden, die man bräuchte, um einen konziliaren Verständigungsprozeß durchzuführen, kann es unter parochialen Bedingungen gar nicht geb e n . 2 1 4 Volkskirchliche Gemeinden sind komplexe Sozialsysteme, sie sind keine kleinen überschaubaren Gruppen, in denen jeder mit jedem kommunizieren könnte. Das konziliare Modell, das hier zur Erneuerung der Gemeindepraxis vorgeschlagen wird, "hat seinen Schwerpunkt in der K l e i n g r u p p e " 2 1 5 es ist mit der parochialen Wirklichkeit inkompatibel. Die allgemeine Systemtheorie lehrt, daß in komplexen Sozialsystemen wie der Parochie mit Sicherheit kein "Druck zur Einigung" besteht. Eines der Grundgesetze der allgemeinen Systemtheorie lautet, daß bei zunehmender Systemkomplexität die systeminterne Kontingenz anwächst, während die systeminterne Kohärenz absinkt. Bei wachsender Komplexität steigt also der "Druck zur Einigung" gerade nicht an, sondern er erlahmt und verlischt.216 Die Forderung nach einer konziliaren Gemeindearbeit belegt eine Schwäche der Theoriebildung, die sich über kon)

214 Nicht einmal die Presbyterien sind ein geeignetes Forum für derartige Prozesse, denn hier bestimmt in aller Regel Zeitnot und Entscheidungsdruck den Verlauf der Sitzungen. 215 R.Schloz: Gemeinde als konziliare Gemeinschaft, in: N.Greinacher u.a. (Hg.): Gemeindepraxis, München u.ö. 1979, S.168 216 Wie wenig eine konziliare Anstrengung unter parochialen Bedingungen realisierbar ist, belegt unfreiwillig auch die Studie "Person und Institution". Auch sie plädiert für einen "Prozeß der dialogischen und diskursiven Wahrheitssuche" (S.80; vgl. S.80-86) und fordert, in den Kirchengemeinden "eine konziliare Struktur und Leitungsform [zu] entfalten" (S.94). Von dieser Forderung rücken die Autoren im Verlauf der Studie aber sukzessive wieder ab. Harald Weinrich hat den konziliaren Prozeß einmal als "Diktatur des Sitzfleisches" bezeichnet (H.Weinrich: System, Diskurs, Didaktik und Diktatur des Sitzfleisches, in: F.Maciejewski (Hg.): Theorie der Gesellschaft oder Sozialtechnologie, Frankfurt 1973, S. 145-161). Den Autoren der EKHN-Studie scheint dieses Gefühl nicht fernzuliegen: "Statt langfristiger Abstimmung, die keine Position ausgrenzen will, ist heute der Mut zu zeitbezogenen Aussagen gefordert" (S. 115). Es wird "viel zuviel unproduktive Zeit in Sitzungen verbracht" (S.159). "Die Zukunft der Kirche hängt ... von unserer Entschlossenheit ab, das Nötige zu tun und zu wagen" (S.160). Auf Seite 185 schließlich wird der konziliare Gedanke mangels Praktikabilität zu Grabe getragen: "Die Bereitschaft zum offenen Austragen von Konflikten und der notwendige 'Streit um die Wahrheit' ist aber kein Freibrief für jede Konfrontation, für jede Zerreißprobe. Unter Umständen bleibt um der Sache willen nur eine organisatorische Trennung auf Zeit". In ähnlich realistischer Einsicht plädiert auch Herbert Lindner dafür, die Entscheidungsprozesse nicht über Gebühr zu strapazieren und ggf. zum Mittel der Mehrheitsentscheidung durch Abstimmung zu greifen. "Ganz machtlos ist die Konziliarität nicht ... Das Nein ist nötig ... Langfristig sind Trennungen nicht zu vermeiden" (Kirche, S.106). "Trennung" setzt immer den Gebrauch von Durchsetzungsmacht voraus. Der "konziliare Prozeß" wird dadurch zu einem Sandkastenspiel von Gnaden der Vorgesetzen. Michael Welker hat angefragt: "Wie läßt sich dieser Prozeß unterscheiden von einem Entzweiungs-, Zerrüttungs- und Dissoziationsprozeß?" Er resümmiert zutreffend: "Die Bitte ginge nur dahin, die irritierenden großen Wörter wie "Wahrheit', 'Wissen', 'Glaube, 'Erkennen' und auch 'konziliare Gemeinschaft' aus der Abhandlung über die Kommunikation von 'Meinungen' zu streichen" (M.Welker: Kirche, S.66).

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zeptionelle Bedenken ebenso leichtfertig hinwegsetzt wie über Einwände aus der Praxis. c) Der Inhaltswandel des Christentums Die Studie "Christsein gestalten" hat darauf hingewiesen, daß sich in der Geschichte des Christentums ein ständiger "Gestaltwandel" vollzogen hat. Ein solcher Gestaltwandel vollzieht sich auch heute, und er wird zuweilen als ein schmerzhafter Prozeß erlebt: "Vieles [wird] als Verlust an christlicher Substanz angesehen, was lediglich einen Gestaltwandel des Glaubens auf dem Hintergrund einer sich ändernden Lebenswelt darstellt" (S.39). Von daher formuliert die Studie eine hermeneutische und eine kybernetische Aufgabe. Hermeneutisch geht es darum, die "biblischen Kriterien" und das "neuzeitliche Freiheitsbewußtsein" "miteinander zu versöhnen" (S.40). Kybernetisch geht es darum, durch geeignete (volksmissionarische und gemeindepflegerische) Maßnahmen, das Gemeindeleben zu intensivieren und zu verdichten. Mit dieser Diagnose und ihren Therapievorschlägen hat die EKD-Studie das Ausmaß des Wandels eindeutig unterschätzt. Das Einheimischwerden des Christentums unter veränderten gesellschaftlichen Bedingungen hat nicht nur einen Gestaltwandel zur Folge, es hat auch einen Substanzwandel zur Folge. An einem historischen Beispiel läßt sich das unbefangener beobachten als an einem aktuellen Beispiel: So hat etwa der Übertritt des Christentums aus dem jüdischen Stammland ins Römische Reich die Entwicklung des Christentums zu einer eigenständigen Religion neben dem Judentum begünstigt. Das Verhältnis der Christen zu Israel, das noch eines der brennendsten Themen im Römerbrief des Paulus ist, wurde im Verlauf dieses Prozesses von anderen Themen verdrängt. Der jüdisch orientierte Zweig des Christentums verschwand mehr und mehr aus der Erinnerung. Was damals geschah, war nicht nur ein Gestaltwandel, es war auch ein Inhaltswandel des Christentums. Auch heute durchläuft das Christentum wieder einen Prozeß des Inhalts wandeis. An dieser Beobachtung entzündet sich die Frage, um die es hier geht: Kann man dem Inhaltswandel des Christentums mit den in der EKD-Studie vorgeschlagenen hermeneutischen und kybernetischen Maßnahmen beeinflussen oder gar umkehren? Kann man etwas gegen ihn tun? Hier ist erneut die Systemtheorie gefragt und das Problem der Systemsteuerung von hochkomplexen Sozialsystemen angesprochen. Erneut lautet die Antwort auf die gestellte Frage: "Nein." Liberale und demokratische Kulturen haben keine Möglichkeit, Prozesse des sozialen Wandels umzukehren. Es gibt für sie kein Zurück in die scheinbare Geborgenheit des Vergangenen. Gesellschaftlicher Wandel läßt sich weder stoppen noch umkehren, auch dann nicht, wenn das Schmerzen bereitet^!?, weil es zum Abschied von liebgewordenen Einstel217 Das gilt keineswegs nur für den religiösen Sektor. Man denke nur an das Absterben ganzer Industriezweige, das sich in unserer Gesellschaft vollzogen hat und noch vollzieht, aber auch an das Schicksal jedes einzelnen, der von diesem Prozeß betroffen ist.

7.1 Das fehlende Systembewußtsein

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lungen und Traditionen zwingt. Die Inhalte und Formen der "religion-as-practised" werden weder am Schreibtisch erdacht, noch auf internationalen Konferenzen beschlossen. Sie bilden sich im ständigen Wechselspiel des einzelnen mit dem gesellschaftlichen Umfeld und den systeminternen Verhältnissen heraus. Die Aufgabe der Landeskirchen stellt sich damit in einer Zeit des Wandels anders, als die Studie "Christsein gestalten" sie dargestellt hat. Es geht nicht mehr bloß darum, die "biblischen Kriterien" und das "neuzeitliche Freiheitsbewußtsein" "miteinander zu versöhnen" (S.40), so als ob hier zwei eigenständige Monolithen einander gegenüber stünden. (Die "biblischen Kriterien" sind kein Monolith, sondern ein changierender Begriff.) Vielmehr geht es darum, zu realisieren, daß der Inhaltswandel der christlich motivierten Kirchlichkeit nicht nur vor der Haustür oder "an den Rändern" der Kirche stattfindet, dort, wo es ohnehin " b r ö c k e l t " . E r hat bereits nahezu sämtliche Mitglieder und auch den weit überwiegenden Teil der kirchlichen Mitarbeiterschaft erfaßt. Die Inhalte befinden sich im Wandel, längst nicht mehr allein die Formen.

7.2 Folgeprobleme mangelnden Systembewußtseins Drei Aspekte werden behandelt: die Praxisferne der Theoriebildung (a); die erfolglosen Bemühungen um eine Entlastung der Pfarrämter im Zusammenhang mit der Fehldeutung des Begriffs "Priestertum aller Gläubigen" (b); die Fehlbewertung der Mitgliederreligiosität (c). a) Die Praxisferne der Theoriebildung Die Forderung nach einer intensiveren Vernetzung der Gemeindearbeit wird in der neueren Diskussion in zweierlei Hinsicht erhoben. Zum einen wird angeregt, im Sulzeschen Sinne, die Binnenkohärenz in den einzelnen Gemeinden zu verdichten, zum anderen wird eine intensivere Vernetzung mit den übergemeindlichen Ämtern und Werken empfohlen. Beiden Gedanken soll hier nachgegangen werden. 1. Das "dichte Netz": Immer wieder wird empfohlen, ein "dichtes Netz" von Informanten, Besuchsdiensten u.a. über die Parochie zu spannen. So berechtigt die Forderung ist, so schwer ist es, ihr in der Praxis des Pfarramtes gerecht zu werden. Man stelle sich nur einmal eine Kirchengemeinde mit 2000 Gemeindemitgliedern vor, eine Zahl, die vermutlich nicht zu hoch gegriffen ist. Schon in einer solchen Gemeinde würde sich ein Pfarrstelleninhaber wünschen, daß das Netz der Informanten nach Möglichkeit nicht allzu dicht sein möge. Stattdessen würde er mit großer Wahrscheinlichkeit hoffen, nach Möglichkeit gar 218 Nach einem Buchtitel von A.Grözinger: Es bröckelt an den Rändern. Kirche und Theologie in einer multikulturellen Gesellschaft, München 1992

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nicht alles zu erfahren, was einen Hausbesuch dringlich machen würde. Schon bei weniger als 2000 Gemeindemitgliedern geschieht ständig irgendwo etwas, und in der Summe ist es stets deutlich mehr, als zeitlich und kräftemäßig abzudecken ist. Selbst eine Arbeitswoche von sieben Tagen wäre zu kurz, um allen Anforderungen nachkommen zu können. Die Idee eines "Netzes" über der Gemeinde ist also, so berechtigt sie ist, nur dann realistisch, wenn sie gleichzeitig mit der Forderung nach drastisch verkleinerten Parochien einhergeht. Hugo Schnell hat einer derartige Forderung erhoben. Bei vielen anderen sucht man sie vergebens. Häufig zielt der Vorschlag aber nicht unmittelbar auf die Arbeitsbelastung der Parochialpfarrerschaft. Er wird sogar als Maßnahme zur Verminderung dieser Belastung angesehen. Ein vergrößerter Mitarbeiterkreis soll die Arbeit tragen. Dabei werden allerdings zwei Dinge übersehen: Gerade für die Mitglieder, die als "Fernstehende" von der intensivierten Gemeindearbeit erreicht werden sollen, sind Besuchsdienstmitglieder kein Pfarrerersatz und selten wirklich akzeptierte Gesprächspartner. Für diese "Zielgruppe" gilt im besonderen Maße, was alle EKD-Umfragen bestätigt haben: "Der Pfarrer ist die Kirche", nicht irgendein Nachbar und Besuchsdienstmitglied. Besuchsdienstmitglieder treffen dort, wo der Stallgeruch spürbarer und die Offenheit größer ist, auf deutlich positivere Resonanz und können hier hervorragende Arbeit leisten. Wo beides nicht gegeben ist, ist der Besuch der Pfarrerin oder des Pfarrers erforderlich. Oft wird auch übersehen, daß ein großer Mitarbeiterkreis nicht zum Nulltarif zu haben ist. Wer sich engagiert, erwartet Zuwendung und Beachtung. Die Pflege eines Mitarbeiterkreises kostet viel Zeit. Eines greift hier in das andere. Das bedeutet, die an sich sinnvolle Forderung nach intensiverer Vernetzung der parochialen Arbeit setzt sich über Grenzen hinweg, die in der Gemeindepraxis schmerzlich spürbar sind. Selbst wenn man tatsächlich vieles oder sehr vieles delegieren könnte (was häufig gar nicht so leicht ist), bliebe es doch bei der Einsicht, daß in der volkskirchlichen Parochie Stukturbedingungen und Verantwortungsverteilungen wirksam sind, die dazu fuhren, daß zwischen dem Vorstellbaren und Wünschenswerten einerseits und dem Machbaren andererseits eine deutliche Lücke klafft. Es gibt also gute Gründe, warum in den Kirchengemeinden in dieser Hinsicht nicht längst schon sehr viel mehr getan worden ist, obwohl doch der Vorschlag bereits seit 100 Jahren auf dem Tisch liegt. 2 1 9 2. Überparochiale Vernetzung: Ähnliche Erwägungen lassen sich auch hinsichtlich der Forderung anstellen, die Verzahnung der Gemeindearbeit mit den kirchlichen Ämtern, Werken und Verbänden zu intensivieren. Die Forderung begegnet in den Handreichungen zu den Spandauer Thesen, im ROSTA-Papier, in "Christsein gestalten" und in "Person und Institution". Es ist unbestreitbar, 219 In meiner eigenen Gemeinde habe ich mit einem solchen Informantennetz gearbeitet. Dieses Informantennetz war aber zu keiner Zeit wirklich "geschlossen". Es hatte immer sehr große Löcher, und das war mir durchaus lieb. Hätte ich versucht, die Löcher zu schließen, wäre die Arbeit nicht mehr zu bewältigen gewesen.

7.2 Folgeprobleme mangelnden Systembewußtseins

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daß es in diesem Bereich Defizite gibt. Aber schon die Tatsache, daß eine Forderung zwar jahrzehntelang ständig wiederholt wird und doch offensichtlich bei den Kirchengemeinden auf taube Ohren stößt, löst die Frage aus, warum sich so wenig Resonanz zeigt. Fehlt es am guten Willen oder ist doch etwas faul an der Forderung, die auf den ersten Blick so überaus plausibel ist? Ein Blick in die Pfarramtspraxis ist erforderlich: Der übliche Kommunikationskanal zwischen kirchlichen Werken, Ämtern und Institutionen auf der einen Seite und den Pfarrämtern auf der anderen Seite ist der Postweg. Aus der Perspektive der Parochialpfarrer/innen heraus betrachtet, sieht das Kommunikationsverhalten so aus, daß nahezu täglich in unkoordinierter Reihenfolge Informationen, Anfragen, Bitten, Belehrungen, Arbeitsmaterialien oder Unterstützungswünsche in den Briefkästen der Pfarrbüros eintreffen. Da niemand in den Landeskirchen einen Überblick über den organisationsinternen Kommunikationsfluß besitzt und niemand ihn koordiniert, landet der überwiegende Teil dessen, was an die Kirchengemeinde adressiert ist, auf den Schreibtischen der Pfarrerinnen und Pfarrer und schlägt dort als unerwartete und unerwünschte Anforderung auf die ohnehin schon hohe Arbeitsbelastung durch. Weil es für einen Außenstehenden kaum nachvollziehbar ist, wie das konkret aussehen kann, soll an dieser Stelle ein Beispiel aus meiner eigenen Pfarramtspraxis angeführt werden. Im Laufe der Jahre habe ich immer wieder an einem bestimmten Stichtag sämtliche Aufgaben notiert, die noch zu erledigen waren, unabhängig davon, ob es sich um große und umfangreiche Vorhaben oder nur um "unwichtige" Kleinigkeiten handelte. Nachdem mir am 21.12.1990 der "Vorentwurf der Erneuerten Agende" (774 Seiten) mit der Bitte um möglichst breite Diskussion in der Gemeinde, Erprobung in den Gottesdiensten und Stellungnahme an das Landeskirchenamt zugeschickt worden war, habe ich kurz nach Weihnachten eine solche Aufstellung gemacht. Sie enthält u.a. die folgenden noch unberücksichtigten und unerledigten Anregungen aus meinem Briefkasten: * Der Jahresplaner von "Brot für die Welt" mit einem umfangreichen praxisnahen Anregungskatalog für die Gemeindearbeit, für die Kinderarbeit, für den Konfirmandenunterricht und die Erwachsenenbildung (1120 Gramm bedrucktes Papier); * Das Arbeitsmaterial des Evangelischen Missionswerks für die Praxis in den Kirchengemeinden zum Thema "Weltmission" (440 Gramm bedrucktes Papier); * Ein 60 Seiten starkes Papier der Evangelischen Kirche im Rheinland mit dem Titel "Kirche gemeinsam leben - Einübung in die Gemeinschaft der Heiligen", das laut beigefügtem Schreiben unter möglichst breiter Beteiligung der Gemeinde durchgearbeitet werden soll. Über die Kreissynode ist eine Stellungnahme an das Landeskirchenamt erbeten. * Das Rheinische Bibelwerk erinnert an die "Aktion Bibelpartner" und bittet die Gemeinden, doch einige Ehrenamtliche zu benennen, die sich in ihrer

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Freizeit aktiv um die Verbreitung der Bibel in ihrer Gemeinde bemühen möchten. Information- und Unterstützungsmaterial wird bereitgestellt. Der Krankenhausseelsorger schreibt einen Brief und fügt auch Plakate zum Aushängen bei: Er ist mit der Arbeit im Krankenhaus auf sich allein gestellt und benötigt dringend Anbindung an die Gemeinden und die Mithilfe der Bezirkspfarrer. Die Gemeinde möchte doch einige Ehrenamtliche benennen, die bereit sind, die Besuchsdienstarbeit im Krankenhaus mitzutragen. Der Telefonseelsorger hat wie jedes Jahr seinen standardisierten Rundbrief verschickt. Er bittet um Abdruck des beigelegten Textes (wahlweise als Langtext oder Kurztext) im Gemeindebrief. Bei der Suche nach Ehrenamtlichen, die bereit und in der Lage sind, diesen schweren Dienst zu tun, benötigt er die Unterstützung durch die Gemeinden. Die intensive Schulung und Begleitung der Ehrenamtlichen ist gewährleistet. Der Polizeiseelsorger hat im Pfarrkonvent ein Referat gehalten und festgestellt, daß er mit dieser schweren Aufgabe allein gelassen ist. Er bittet um die aktive Unterstützung durch die Bezirkspfarrer/innen, insbesondere um die aktive seelsorgerliche Betreuung der Polizeibeamten, die in den Pfarrbezirken wohnen. Es ergeht eine schriftliche Einladung zum Gespräch mit dem Polizeipräsidenten und zu einer Mitfahrt im Streifenwagen. Der Berufsschulpfarrer informiert über ein neues Konzept des Kultusministeriums von NRW, das zur Zeit in den Schulen diskutiert wird: "Gestaltung und Öffnung von Schule". Die schulische Wirklichkeit soll besser als bisher mit den sozialen Lernfeldern innerhalb der Gesellschaft verzahnt werden. Schüler und Lernprozesse sollen aus der Isolation der Klassenräume herausgeholt werden. Einige Wuppertaler Firmen hätten schon erklärt, mitzumachen. Die Kirche dürfe da auf keinen Fall fehlen. Unsere Gemeinde, innerhalb deren Grenzen die Berufsschule liegt, soll ebenfalls mitmachen und ein Projekt für die Berufsschüler vorbereiten. Wenn das nicht geschieht, lautet das alarmierende Argument "fährt der Zug eben ohne die Kirche ab". Der Wuppertaler lokale Rundfunk ("Radio Bergisches Land") geht im Oktober 1991 auf Sendung. Der Superintendent fragt alle Kirchengemeinden, ob sie bereit sind, Sendungen oder Andachten für den Lokalfunk zu produzieren. Die Kirche müsse auf jeden Fall im Lokalfunk präsent sein. Unterstützung durch Fachleute sei ggf. möglich. Das Landeskirchenamt schreibt: Die Neuwahlen der Presbyterien finden im Februar 1992 statt. Bitte rechtzeitig daran denken und Vorbereitungen treffen, denn der Beginn der Wahlvorbereitungen (September / Oktober 1991) rückt schneller näher als man denkt. Die Auflistung der "normalen" Gemeinde- und Verwaltungsarbeit, die in dieser Woche auf mich wartete, lasse ich weg.

Es ist festzustellen, daß keines der genannten Anliegen unbillig war. Jedes für sich genommen war durchaus sinnvoll und verständlich. In ihrer inkohärenten Vielfalt aber ballten sich die unterschiedlichsten Anliegen und Interessen zu einem unüberwindlichen Berg zusammen. Das ist ein Systemphänomen, dem

7.2 Folgeprobleme mangelnden Systembewußtseins

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innerkirchlich noch zu wenig Aufmerksamkeit geschenkt wird. Unter der Vielzahl unterschiedlichster Erwartungen und Anforderungen kann man ersticken, wenn man sich ihrer nicht in pragmatischer Weise entledigt. Wer diesen Pfarramtsalltag im Blick hat, der wird wohl verstehen können, warum sich die Parochialpfarrerschaft als "Briefkasten" und "landeskirchlicher Kleinverteilungsapparat" mißbraucht fíihlt^O u n d warum die meisten Anfragen ohne Resonanz bleiben und versickern. Betrachtet man also die Kooperations- und Kommunikationsprobleme näher, dann zeigt sich, daß die These von der Effizienzsteigerung durch Kooperation in der globalen Weise, in der sie aufgestellt und diskutiert wird, nicht überzeugen kann. Zwar mögen sämtliche Subsysteme der Kirche einer gemeinsamen Aufgabe verpflichtet sein, was von volksmissionarischer Seite her sogar in Frage gestellt wird.221 Aber von ihren jeweiligen Organisationsstrukturen, ihrem Mitarbeiterkreis und ihrem Spezialisierungsgrad her sind sie weder vergleichbar noch uneingeschränkt k o m p a t i b e l . 2 2 2 j)j e kirchlichen Sozial- und Diakoniestationen etwa arbeiten nicht selten nach dem Kostendeckungsprinzip. Sie finanzieren sich über ihre erbrachten Leistungen. Das hat unmittelbare Konsequenzen für ihre Kooperationsfähigkeit. Ein zeitlich ausgedehntes Kooperationsvorhaben mit der "Non-Profit-Organisation" Kirchengemeinde ist für sie immer auch ein Kostenfaktor. Wer bezahlt die ausgefallenen Arbeitsstunden? Wer subventioniert den Dialog? Unter den vorhandenen Systembedingungen sind die tatsächlich realisierbaren Synergiegewinne einfach zu gering, die Kosten (Lernerfordernisse, Zeit, Arbeitskraft, Geld) dagegen zu hoch. Die Systemtheorie lehrt, daß eigenständige Systembereiche einer eigenen Systementwicklungsdynamik unterliegen und von sich aus ungenutzte Potentiale erschließen, wenn ein subsystemspezifischer Anreiz dazu vorhanden ist. Beiderseits hilfreiche Kooperationsmöglichkeiten bleiben von daher grundsätzlich nicht unentdeckt und nicht ungenutzt. Das bedeutet aber: Wenn Kooperationsmöglichkeiten im Gesamtsystem der ecclesia visibilis, die theoretisch vorstellbar und wünschenswert sind, dennoch in der 220 Die Autoren der EKD-Studie haben das bemerkt und urteilen: "Die Angst vor dem Erstikken in der Papierflut und vor der Überforderung durch immer mehr 'Vermittlungsaktivitäten' ist verständlich und nicht unberechtigt" (S.78). Auf S.113 heißt es dann allerdings auch: "Insbesondere müssen Ängste von Pfarrern vor Spezialisten in funktionalen Diensten erkannt, ernstgenommen und überwunden werden" (S.113). 221 F. und C.Schwarz bezeichnen die Ämter und Werke provozierend als "Geist-Substitute": "Es wird oft übersehen, daß alle diese Ämter und Werke, sind sie erst einmal etabliert, ihre Eigengesetzlichkeiten entwickeln, wobei sie mit den entsprechenden Theoriebildungen sehr schnell in der Lage sind, nachzuweisen, warum auf sie schlechterdings nicht zu verzichten ist. Nach einer gewissen Zeit wird überhaupt nicht mehr gefragt, ob die Selbstverwaltung dieser Institution nicht wichtiger geworden ist als ihre dienende Funktion. Sie werden als vorgegebene Größe fraglos akzeptiert." - Theologie, S.206f 222 Sie arbeiten mit unterschiedlich spezialisierten Arbeitsaufträgen. Häufig gilt das Angestelltenrecht, klar umrissene Dienstanweisungen, Tarifbesoldung und Regelarbeitszeiten sind Standard. Gerade die nichtparochialen Subsysteme folgen oft auch eigenen Rationalitätskriterien.

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Praxis ungenutzt bleiben, dann werden sie absichtsvoll gemieden, weil sie unter dem Strich nicht entlasten, sondern zusätzliche Belastungen nach sich ziehen. Damit signalisiert auch die populäre Kooperationsforderung wieder den eklatanten Mangel an systemtheoretischem Denken und systemtheoretisch begründetem Selbstverständnis. Sie unterschätzt die systeminterne Komplexität und den fortgeschrittenen Ausdifferenzierungsgrad des Sozialsystems Kirche. Es reicht einfach nicht aus, festzustellen, alle kirchlichen Einrichtungen seien dem gemeinsamen Auftrag der Kirche Jesu Christi verpflichtet, folglich müßten sie auch zusammenarbeiten. 223

b) Der Priestertum aller Gläubigen und die Pfarrerüberlastung Die Aussage, "der Pfarrer kann nicht mit immer neuen Aufgaben behängt werden"224 ( ¡ s t angfangen von Emil Sülze bis hin zu Herbert Lindner durchgängig belegt. Sieht man einmal von Hugo Schnell ab, dann haben alle Konzeptionen, die hier dargestellt worden sind, statt die Entlastung der Parochialpfarrerschafit zu fördern, ein zusätzliches Arbeitspensum gefordert oder sogar zur Vermehrung der Aufgabenfülle beigetragen. Eine kollektive Wahrnehmungsblockade scheint eingetreten zu sein. Lakonisch wird festgestellt, daß die Pfarrerschaft überlastet ist, ohne anschließend daraus praktikable Konsequenzen zu ziehen. Stattdessen wird das "Priestertum aller Gläubigen" oft im unmittelbaren Zusammenhang mit dieser Überlastungskrise der Pfarrerschaft in die Diskussion eingebracht. Das Argumentationsschema lautet vereinfacht: Sind die Pfarrer auch überlastet, so kennen die evangelischen Landeskirchen doch glücklicherweise das "Priestertum aller Gläubigen". Von dieser Seite wird Entlastung kommen. Auch "Christsein gestalten" folgt diesem Schema, wenngleich die Studie es ein wenig modifiziert: "Der Pfarrer kann nicht mit immer neuen Aufgaben behängt werden. Die Mitverantwortung der mündigen Laien muß gestärkt und in Anspruch genommen werden. Es ist so viel vom Priestertum aller Gläubigen die Rede - wenn auch oft fälschlich, weil dieser Begriff ja auf 223 Wollte man tatsächlich vorhandenes Synergiepotential erschließen, dann müßten umfangreiche organisationsinterne Vorarbeiten geleistet werden. Der interne Kommunikationsfluß wäre selbstkritisch unter die Lupe zu nehmen, damit die Kirchengemeinden nicht länger unkoordiniert mit umfangreichen Hausaufgaben ("unter möglichst breiter Einbeziehung der Gemeinde") überschüttet werden. Flankierende Maßnahmen wären zu ergreifen, etwa klare Kompetenz- und Aufgabenabgrenzungen zwischen Spezialpfarrämtern und Parochialpfarrämtern oder die Einrichtung von personell gut besetzten und sachkundigen Briefverteilstellen auf der Ebene der Kirchenkreise. Sämtlichen Teilsystemen der Kirchen, die an die Parochien herantreten, sollte es zur Selbstverständlichkeit werden, schon bei der Planung und Vorbereitung ihres Anliegens die Arbeitsbedingungen in den Parochien mit einzubeziehen und sie in so erkennbarer Weise zu berücksichtigen, daß die Parochialpfarrer/innen die Kontaktaufnahme als ein sinnvolles, hilfreiches oder entlastendes Angebot erkennen können. 224 EKD (Hg.): Christsein, S.78

7.2 Folgeprobleme mangelnden Systembewußtseins

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den unmittelbaren Zugang jedes getauften Christen zum Heil gemünzt ist und nicht jedem Christen ein Pfarramt in nuce zugesteht -, es wird zustimmend von der Kirche als Zeugnis- und Dienstgemeinschaft geredet, die kirchensoziologische Forschung bringt eine überraschend große Bereitwilligkeit von Kirchenmitgliedern zu begrenzter und ihren Neigungen und Fähigkeiten entsprechender Mitarbeit zutage, so daß die Voraussetzung für besseres Funktionieren des Zusammenspiels der vielfältigen kirchlichen Aktivitäten im Prinzip gegeben sind" (78f). Die Studie korrigiert also den theologischen Kurzschluß, der die Lehre vom Priestertum aller Gläubigen heranzieht, um die Mitarbeitspflicht der Kirchenmitglieder im Gemeindedienst zu begründen. Dennoch gelangen sie überraschenderweise zu dem Schluß, daß das Priestertum der Gläubigen eine Entlastungsbasis für die Pfarrerschaft sein müßte. Es wird so viel darüber "geredet", daß man tatsächlich zu der Ansicht gelangen kann, daß die Voraussetzungen für die Entwicklung entlastender Organisationsformen durch Inanspruchnahme der "mündigen" Laien "im Prinzip gegeben" sind. Der Argumentationsverlauf entlarvt das Begründungsdilemma, das durch den reflexhaften Verweis auf das allgemeine Priestertum längst schon entstanden ist. Hier herrscht die Logik der Paradoxie: Ist es auch theologisch falsch, so wird es doch wohl irgendwie stimmen. Tatsächlich? Mit der wirklichkeitsverändernden Macht des Geredes lassen sich kaum kollektive Mitarbeitsverpflichtungen begründen. Die Forderung, das brachliegende Potential des allgemeinen Priestertums zu erschließen, ist billig. Sie kostet nichts und entlastet die Kirchenleitungen von ihrer Fürsorgeverpflichtung für die angestellten P f a r r e r / i n n e n . 2 2 5 Martin Luther hat es, trotz seiner Überlegungen zum allgemeinen Priestertum vorgezogen, den speziellen Dienst an der Gemeinde einem ordinierten Amtsträger anzuvertrauen. Hinzu kommt die Wirkungsgeschichte der landeskirchlichen Organisation. Das Kirchenregiment und die Landeskirchen haben über Jahrhunderte hinweg ein spezifisches Profil protestantischer Christenheit hervorgebracht, das sich gerade nicht an freikirchlichen Vorgaben orientiert. Die landeskirchliche Organisation stand, von seltenen Ausnahmen abgesehen, im Gegenüber zur christlichen Bevölkerung und hat sie daran gewöhnt, daß die pastoralen Dienste auf ihre Bitte hin von einem ordinierten Pfarrer übernommen werden. Im Gegenzug bezahlte die Bevölkerung ihre Gebühren, Abgaben und Kirchensteuern. Damit sind in einem langen historischen Prozeß klare Verhältnisse entstanden, die es gerade nicht vorsehen, daß die evangelische Bevölkerung sich als ein Millionenheer von Priester/innen versteht. Um den volkskirchlichen Charakter der evangelischen Landeskirchen zu wahren und gleichzeitig die Pfarrerüberlastung zu beenden, bedarf es handfesterer Anstrengungen der Organisation als des fragwürdigen Hinweises auf ein allgemeines Priesterum aller Gläubigen.

225 Es ist bedenklich, daß die EKHN-Studie "Person und Institution" vom "Überlastungssyndrom" der Parochialpfarrerschaft spricht. - S.159

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c) Fehlbewertung der Mitgliederreligiosität "Christsein gestalten" hat zurecht darauf hingewiesen, daß die Beurteilung der Mitgliederreligiosität in vielen Konzeptionen evangelischer Gemeindearbeit negativ ist. Religiöse Defizite werden gesucht und gefunden. Zwar gab es immer schon anderslautende Stimmen (Sülze, Schoell, Schnell, Liick u.a.), aber erst in der letzten Zeit scheint sich die Beurteilungsbasis insgesamt deutlicher aufzuhellen. Das 2.Kapitel von "Christsein gestalten" ist selbst ein Meilenstein in dieser Hinsicht. Die Studie spricht von "selektiver, selbstgesteuerter" Aneignung der christlichen Inhalte (S.34) und wird damit einem Sachverhalt gerecht, der bereits seit dem ló.Jahrhundert zu beobachten gewesen wäre, wenn man sich ihm nur zugewandt hätte. Auch die EKHN-Studie "Person und Institution" befürwortet die Pluralität des parochialen Mitgliedschaftsverhaltens innerhalb des volkskirchlichen Organisationsrahmens (S.88-89). Selbstkritisch fordert sie dazu auf, "daß wir unsere eigene Einstellung ändern: Mitglieder der Kirche sind nicht nur die 'Kirchentreuen1; es sind auch die Menschen, die nicht mehr den Weg in die Kirche finden. Sie bilden die Mehrheit" (S.170). "Strukturen der Gleichberechtigung" (S.90) werden gefordert. Schließlich ist auch Herbert Lindner zu nennen, der sich für eine positivere Einschätzung der Gemeindemitglieder ebenso einsetzt, wie für ein selbstkritisch-differenzierendes Verständnis der Mitarbeitermotivationen ehrenamtlicher Mitarbeiter/innen in der Gemeindearbeit. 226 Allerdings ist auch feststellbar, daß die drei genannten Publikationen durchweg Schwierigkeiten haben, die neu gewonnenen Einsichten und das vertiefte Verständnis für die Religiosität der Kirchenmitglieder auch konzeptionell konsequent umzusetzen. Hier klafft noch eine erkennbare Lücke. Alle drei Konzeptionen fallen letztlich in die Bahnen traditioneller Konzepte zurück: "Christsein gestalten" fordert die Verbesserung der missionarischen Kompetenz der Mitarbeiterschaft, "Person und Institution" will der Pluralisierung mit einer Diversifizierung der kirchlichen Angebotspalette begegnen und Herbert Lindner möchte spirituell lebende, missionarische Dienstgruppen in den einzelnen Stadtteilen und Bezirken des Ortes etablieren. Alle haben letztlich doch Zweifel an der Fähigkeit der Gemeindemitglieder, ihr Christsein zu gestalten. Die Neigung, das Maß des Christlichen an einem pfarramtsspezifischen oder pfarrerzentrierten Frömmigkeitsbild zu orientieren, geht immer noch mit einer subtilen oder sogar explizierten Erziehermentalität einher. Demgegenüber läßt die Wahrnehmung der Parochie als Sozialsystem erkennen, daß das Mitgliedschaftsverhalten der Kirchenmitglieder durchaus systemgerecht entwickelt ist (s.o. Kap!: religion-as-practised; s.u. Kap.VI: Die Religiosität der Kirchenmitglieder). Unter den Bedingungen, die das Sozialsystem Landeskirche konstituieren, hat man genau die Mitgliederreligiosität zu erwarten, die von den Kirchen als abweichende Unkirchlichkeit kritisiert wird. Die Landeskirchen säen Äpfel und erwarten, Birnen zu ernten. Es ist an der Zeit, 226 H.Lindner: Kirche, S.292-295

7.2 Folgeprobleme mangelnden Systembewußtseins

181

daß Landeskirchen und Kirchengemeinden damit beginnen, die eigene Selbstbekenntnis zu verbessern, damit sie die Ziele ihrer Arbeit realistischer als bisher festlegen können.

7.3 Rückblick und Konsequenzen 1. Unpraktische Theoriebildung: Überblick man die Ergebnisse, dann läßt sich feststellen, daß Konzeptionen für die evangelische Gemeindearbeit immer wieder in mehr oder weniger großem Umfang an ihrem Gegenstand, der volkskirchlichen Parochie, vorbeigegangen sind. Nicht wenige Vorschläge operieren mit falschen Diagnosen, verfehlten Leitbildern und unrealistischen Zielvorgaben für die Pfarramtspraxis. Wo das geschieht, ist die Theoriebildung nicht wirklich hilfreich für die, die die tägliche Arbeit vor Ort zu tun haben. Im Laufe der Darstellung wurden einige der Ursachen erkannt: Mentalitätsprägende Spätwirkungen des landesherrlichen Kirchenregiments sind nicht auszuschließen. Die evangelischen Nachkriegskirchen haben eine gespaltene Identität. Ein falsch verstandener Säkularisierungsbegriff ließ viele die Rolle der Kirche in der Gesellschaft falsch einschätzen und förderte die Orientierung an volksmissionarischen Leitbildern. Nischenmentalität und pfarrberufsspezifische Frömmigkeitsideale taten ein übriges. Die konzeptionelle Weite der 1. EKDUmfrage hat zu wenig Anerkennung gefunden. Ihr Potential blieb weitgehend ungenutzt. Konzeptionell fiel man in den 80er Jahren eher wieder auf den Stand der Spandauer Thesen und damit auf die alten Aporien zurück. Die Theoriebildung trat nicht nur auf der Stelle, sie drehte sich im Kreis. Die weiterführenden Impulse, die durchaus vorhanden waren, wurden nicht im erforderlichen Umfang aufgegriffen. 2. Die Praxiskompetenz der Theoriebildung verbessern: Von daher erscheint es angebracht, die Forderung Ernst Langes zu erneuern, die Praxiskompetenz der Theoriebildung sei zu verbessern: "Die großen positioneilen Theologien, bis hin zur Dialektischen Theologie, abstrahieren von der umstrittenen kirchlichen Realität und erfinden die Kirche, die Praxis des Glaubens, auf die sie sich beziehen, immer gleich mit ... Eine 'blinde' kirchliche Praxis und eine 'leere' theologische Theorie treten immer weiter auseinander, vermittelt nur noch im Leiden der Pfarrer, die beides nicht mehr miteinander verbinden können ... Die Theologie muß sich ... erneut als Theorie kirchlicher Praxis verstehen. Ihr eigentlicher Gegenstand ist die gegenwärtige Kirche, das gegenwärtige C h r i s t e n t u m " . 2 2 7 227 E.Lange: Überlegungen, S.208, vgl. S. 199. Ähnlich auch die zweite EKD-Umfrage: Zum erklärten Ziel der Bemühungen sollte die Entwicklung einer "wirklichkeitsgerechten, auch den vorfindlichen Zustand begreifenden Theorie der Volkskirche" werden (EKD II, S.14).

182

Π. 100 Jahre Reform

3. Die Landeskirche ist kein "Blatt im Wind": Theologen sind gewohnt, die irdische Gestalt der Kirche von ihrem unsichtbaren Pendant her zu beurteilen und ihr einen transitorischen Charakter zu attestieren. Die Systemanalyse wird auf ihr Beharrungsvermögen rekurrieren. Die ecclesia visibilis ist kein "Blatt im Wind". Es ist schlechterdings unmöglich, ein hochkomplexes Sozialsystem wie eine Volkskirche über Nacht in einer andere Organisationsform zu transformieren. 228 Dj e evangelischen Landeskirchen haben über Jahrhunderte hinweg die religiösen Mentalitäten und Motivationen von Millionen Mitgliedern geprägt. Sie tragen Personalverantwortung für Hunderttausende von Mitarbeiter/innen. In alledem sind sie längst schon "Gefangene ihrer eigenen Wirkungsgeschichte ", 2 2 9 Sie haben eine eigenständige christliche Religionskultur hervorgebracht, die (ungeachtet ihrer zahlreichen offenen und verdeckten Mängel, die gar nicht bestritten werden sollen) so wertvoll ist, daß sie es verdient hat, ernstgenommen und konstruktiv weiterentwickelt zu werden. Die ecclesia visibilis ist keine bloße Verfügungsmasse zur Disposition der jeweils herrschenden theologischen Lehre und sie ist mehr als ein Katalysator für persönliche Hoffnungsbilder oder visionäre Kirchenkonstrukte.

7.4 Vier Anforderungen an eine volkskirchliche Theorie der evangelischen Gemeindearbeit In der Diskussion über Möglichkeiten und Modelle der evangelischen Gemeindearbeit läßt sich das Rad nicht noch einmal neu erfinden. Der Durchgang durch die Geschichte der Konzeptionen evangelischer Gemeindearbeit seit Emil Sülze wird deutlich gemacht haben, daß die vorhandenen Optionen längst schon auf dem Tisch liegen, die Problemzonen erkannt und die denkbaren Lösungsvorschläge unterbreitet sind. Insofern erscheint es sachgemäß, Möllers Mahnung aufzugreifen und der verlockenden Idee zu widerstehen, man könne heute "mit dem Aufbau der Gemeinde noch einmal ganz neu zu beginnen".230 Aus dieser Einsicht ergeben sich die folgenden Anforderungen an eine praktischtheologische Konzeption parochialer Gemeindearbeit in der Volkskirche: 1. Die Angst vor einem "Ende der Volkskirche" trübt den Blick für die Stärke, die Substanz und die Verantwortlichkeiten der Volkskirche. Nach den Ergeb Auch F.W.Graf: Innerlichkeit, S.392 hat von einer "Tendenz zu einer permanenten Überdogmatisierung der Kirche" gesprochen. 228 K.-F.Daiber: Konzepte, S.380 229 E.Lange: Überlegungen, S.198; Lange analysiert in dem Aufsatz eingangs die "Einschränkungen kirchlicher Handlungsfähigkeit" (S. 199) und stellt fest: "Der Spielraum, in dem die Kirche über sich selbst, ihre Funktion, ihre Struktur, ihr Selbstverständnis entscheiden ... kann, scheint sehr viel kleiner zu sein, als allgemein angenommen wird." S.197 230 C.Möller: Lehre I, S.25 und S.243; E.Lange: Chancen, S.307

7.4 Vier Anforderungen

183

nissen der kirchlichen Mitgliederbefragungen besteht keine Legitimation, die volkskirchliche Prägung der Landeskirchen durch vorauseilenden Ungehorsam zu unterlaufen, und keine Notwendigkeit, die parochiale Gemeindearbeit heute bereits konzeptionell auf einen "worst case" auszurichten, der nach massenhaften Kirchenaustritten irgendwann einmal eintreten könnte. Zunächst sollte die Gemeindearbeit von heute und morgen durchdacht werden. Sie wird mit großer Wahrscheinlichkeit noch unter volkskirchlichen Rahmenbedingungen stattfinden. 2. Das bedeutet, daß der selbstzerstörerische Versuch, eine pfarrerzentrierte Form der abweichenden Volkskirchlichkeit zur maßgeblichen Norm für das kirchliche Mitgliedschaftsverhalten zu machen und gegen die weit überwiegende Mehrheit der evangelischen Gemeindemitglieder durchzusetzen, nicht weiter verfolgt werden sollte. Die Reform der parochialen Gemeindearbeit kann nicht erfolgreich sein, solange sie nicht an die vorfindlichen Gegebenheiten anknüpft. 2 3 1 3. Die Fixierung auf eine veräußerlichte Christlichkeit, die im Idealbild einer restlos versammelten Gemeinde zum Ausdruck kommt, ist a u f z u g e b e n un(j durch die Vorstellung von einem Ensemble verschiedenster Sozial- und Glaubensformen zu ersetzen, die in der pluralen Volkskirche innerhalb und außerhalb des organisierten Gemeinde(haus)lebens sichtbar und unsichtbar nebeneinander existieren. 2 3 3 Es gibt auch innerhalb der Volkskirche sehr viel mehr christliche Religiosität und bewußte Christlichkeit, als sich aus einer pastoral verkürzten Berufsperspektive heraus wahrnehmen läßt. Selbst der organisierte Bereich christlicher Existenz wird nur partiell von den Kirchengemeinden verantwortet. Es kann nicht Aufgabe der evangelischen Gemeindearbeit sein, "möglichst viele Menschen möglichst umfassend in eine Sozialform einzugliedern".234 2 3 2

4. Die evangelische Religiosität und Kirchlichkeit befindet sich in einem Prozeß des Gestalt- und Inhaltswandels, der längst auch die kirchliche Mitarbeiterschaft und die Praxis der Pfarramtsführung erfaßt hat. Es ist erforderlich, sich auch konzeptionell auf diesen Prozeß einzustellen und die konkreten Handlungsziele und Arbeitsschwerpunkte neu festzulegen.

231 E.Lange: Schwierigkeit, S.16 232 Die Verwechselung des Anspruchs des christlichen Glaubens "mit einem Allzuständigkeitsanspruch der hergebrachten parochialen Strukturen, wie sie die Kerngemeinde zu bewahren sucht, ist auf die Dauer - T.Rendtorff hat darauf bereits vor zwanzig Jahren hingewiesen - für die Praxis der Kirchen ruinös" - N.Mette: Gemeinde - wozu? Zielvorstellungen im Widerstreit, in: N.Greinacher u.a. (Hg.): Gemeindepraxis. Analysen und Aufgaben, München u.ö. 1979, S.101 233 "Religion ist ein multiples System unterschiedlicher Trägerschaften." - H.Lindner: Kirche, S.42 234 H.Lindner: Kirche, S.76; "Ein alle Lebensvollzüge absorbierender innerkirchlicher frommer Betrieb ist eher eine Schreckensvision und darf nicht das Leitbild ...sein."

III. Systemtheoretische Grundlagen

Das dritte Kapitel wird eine Übersicht über Fragestellungen und Grundbegriffe der Systemtheorie geben. Niklas Luhmanns Systemtheorie ist eine soziologische Theorie. Um sie zur Untersuchung eines praktisch-theologischen Gegenstandes verwenden zu können, sind wissenschaftstheoretische Überlegungen zur Methodenrezeption erforderlich. Sie werden im ersten Teil vorausgeschickt (1.: "Wissenschaftstheoretische Vorüberlegungen"). Der zweite Teil wendet sich dann der Systemtheorie inhaltlich zu (2.: "Grundbegriffe der Systemtheorie"). Von besonderer Bedeutung für die ausgewählte Fragestellung ist die Darstellung des anthropologischen Faktors in sozialen Systemen. Um hier Klarheit zu schaffen, wird ein vereinfachtes Modell der Entstehung und Entwicklung sozialer Systeme vorgestellt. Die individuellen Einflußmöglichkeiten, die Bedeutung des Einzelnen für das System und die Freiheitsgrade des Menschen verändern sich in jeder Phase der Systementwicklung (3.: "Die Bedeutung des Menschen im Prozeß der Systementstehung - ein Systementwicklungsmodell"). Abschließend werden die Untersuchungsergebnisse in Tabellenform zusammengestellt und kommentiert (4.: "Ergebnisse und Übersichtstabellen").

1. Wissenschaftstheoretische Vorüberlegungen a) Kritische Methodenrezeption in der Praktischen Theologie Friedrich Schleiermacher hat die Theologie als Wissenschaft verstanden, die nicht durch eine einheitliche Methode, sondern durch ihr Themenfeld integriert ist. Dieses Themenfeld hat er im Blick auf die Gesamttheologie "evangelische Kirche" (als historisch gewachsene und empirisch faßbare Einheit), im Blick auf die Praktische Theologie auch "Religion" genannt. 1 Da sie selbst keine eigene Methode besitzt, muß die Praktische Theologie ihre Methoden aus anderen Disziplinen wie etwa der Pädagogik, der Psychologie, der Semiotik usw. entlehnen.2 Weniger die Frage, ob sie Theorien, Methoden und Modelle anderer wissenschaftlicher Disziplinen entlehnen darf, ist strittig, als vielmehr die Frage, welche Methoden sie verwenden soll, und vor allem, wie sie sie verwenden soll. Das nötig sie dazu, die Art ihrer Methodenrezeption wissenschaftstheore1

2

F.Schleiermacher: Die praktische Theologie nach den Grundsätzen der evangelischen Kirche im Zusammenhange dargestellt. Aus Schleiermachers handschriftlichem Nachlaß und nachgeschriebenen Vorlesungen, hg.v. J.Frerichs, Berlin 1850 R.Volp: Praktische Theologie als Theoriebildung und Kompetenzgewinnung bei F.D.Schleiermacher, in: F.Klostermann / R.Zerfaß (Hg.): Praktische Theologie Heute, München u.ö. 1974, S.52-64

1. Wissenschaftstheoretische Vorüberlegungen

185

tisch zu reflektieren.3 Hinzu kommt, daß der Untersuchungsgegenstand die ausgewählte Methode nicht unberührt läßt. Vom kirchlichen oder religiösen Gegenstand her kommt es häufig zu einer gegenstandsorientierten Methodenrezeption und damit einer "kritischen" Brechung der ausgewählten Methode. Was aber heißt "kritisch"? Da sich an diesem Punkt die Geister scheiden, soll vorab kurz dargestellt werden, was der Autor unter kritischer Methodenrezeption und unter kritischer Rezeption der Systemtheorie versteht. Es wird im folgenden weder darum gehen, Luhmanns Systemtheorie als Steinbruch für eigene Ideen zu benutzen, noch wird es darum gehen, irgendwelche theologischen "Letztüberlegenheiten" zu demonstrieren.4 Allzu leicht erliegen derartige Versuche der Gefahr, die Reichweite der eigenen Aussagen und das Ausmaß der Verbindlichkeit, mit dem sie zu sprechen vorgeben, zu überschätzen. Auch die Dauerüberfrachtung des Seins mit einem intuitiv postulierten Sollen, etwa im Sinne von "wünschenswerten" Funktionen der evangelischen Gemeinde(arbeit), ist nicht intendiert. Es gibt keine Ideen, Inhalte oder Themenstellungen, die als solche bereits das Attribut "kritisch" verdienen. Anderenfalls würde Kritik zu bloßer Sortier- oder Ettikettierarbeit, die an der Differenziertheit der Gegenstände, an der Kontextgebundenheit der Möglichkeiten und an der "Menschlichkeit" der Menschen, mit denen es gerade die Praktische Theologie zu tun hat, achtlos vorübergeht. Kritische Methodenrezeption beginnt mit der gründlichen Einarbeitung in die gewählte Methode. Sie bemüht sich, die theorieinternen und disziplinspezifischen Grundannahmen, Intentionen und Implikationen zu verstehen. In dieser Auseinandersetzung entsteht eine erste (nichttheologische) Wissensbasis. In einem zweiten Schritt folgt die Explikation der eigenen erkenntnisleitenden (theologischen) Fragestellungen, Themen und Interessen. Erst wenn beides geschehen ist, wird beides aufeinander bezogen. Wo das geschieht, werden Differenzen und unterschiedliche Erkenntnisinteressen sichtbar. Zugleich aber bleiben das Erklärungspotential, die Reichweite und die Grenzen der rezipierten Theorie nicht verborgen. Wenn methodisch sauber gearbeitet wird, kann am Gegenstand der Untersuchung nur das als Differenz oder als Identität wahrgenommen werden, was im Erklärungsmodell vorher bereits angelegt war. Als "kritisch" wird also eine reflektierte Art der themenbezogenen Forschung angesehen, die sich der Reichweite und der Grenzen der ausgewählten Methode, aber auch der solcherart ermittelten Forschungsergebnisse bewußt ist und diese jederzeit anzugeben vermag. 5 Das Anspruchsniveau der Theorierezeption wird durch ein solches Vorgehen zwar deutlich bescheidener, aber auch kontrollierbarer. Es geht darum, zu 3 4 5

A.von Heyl: Praktische Theologie und kritische Theorie, Stuttgart u.ö. 1994, S. 197-226 Vgl. die Kritik der Luhmann-Rezeption durch Theologen bei T.Schöfthaler: Religion paradox, S.148-151 Ein ähnliches Programm habe ich bereits in meiner Dissertation über "Verständnisbedingungen religiöser Symbole" Mainz 1984 verfolgt, hier allerdings mit Hilfe der Semiotik als Leitmethode und Modell. Eine überarbeitete Fassung der Dissertation, die ich vor meiner Eheschließung unter meinem Geburtsnamen Fleischer verfaßt habe, ist R.Roosen: Taufe lebendig. Taufsymbolik neu verstehen, Hannover 1990

186

ΙΠ. Systemtheoretische Grundlagen

prüfen, ob mit Hilfe der gewählten disziplinexternen Theorie ein signifikanter Erkenntnisfortschritt innerhalb eines klar umrissenen disziplinenspezifischen Gegenstandsbereichs zu gewinnen ist. Gelingt das nicht, so sind besser geeignete Theorien und Methoden zu erproben. Aber selbst wenn es gelingt, wird, falls das nicht schon durch das Wissen um die Beschränktheit aller methodengebundenen Erkenntnis geschehen ist, die Polysemie des untersuchten Gegenstandes früher oder später die Neuaufnahme der Untersuchung erzwingen und die Diskussion für weitere Versuche neu öffnen. b) Der Systembegriff als kognitives Konstrukt Der Systembegriff ist in unserem alltäglichen Wortschatz fest verankert.^ Staatsformen und Lehrgebäude werden als "Systeme" bezeichnet. Begriffe wie "Steuersystem", "Ökosystem", "Schulsystem" oder "Verkehrssystem" gehen uns leicht von den Lippen. Wenn der Begriff "System" aber auf so vielschichtige und heterogene Phänomene angewandt werden kann, dann liegt die Vermutung nahe, daß es das System überhaupt nicht gibt. Vielmehr sieht es so aus, als ob in der Welt um uns herum eine Vielzahl sich überschneidender und überlagernder Systeme sämtlicher Größenordungen existiert, die analytisch nicht mehr sauber zu entwirren ist. Lebenspraktisch stellt das aber erstaunlicherweise gar kein Problem dar. Spielerisch leicht ist in der täglichen Kommunikation dieses oder jenes System zu isolieren und sprachlich zu benennen. Dies deutet bereits darauf hin, daß Systeme weniger ontologischer als vielmehr epistemologischer Qualität sind. Warum ist die Behauptung und Zuschreibung von Systemqualität in der alltäglichen Kommunikation nicht nur üblich, sondern auch spontan evident? Menschen sind in der Lage, die semantischen Aspekte ihrer Sinneswahrnehmungen zu isolieren und merkmalsidentische Aspekte einheitlichen Leitbegriffen zuzuordnen.^ Erstaunlicherweise benötigt man nur zwei charakteristische Merkmale, um irgendeinen Sachverhalt als "System" bezeichnen können. Zum einen muß eine mehr oder weniger große Menge von "Elementen" vorhanden sein, die untereinander in irgendeiner Hinsicht verbunden sind oder aber in Beziehung gesetzt werden können. Zum anderen muß eine Grenze bzw. eine Differenz erkennbar oder angebbar sein, die das, was zum System gehört, von dem abtrennt, was nicht zum System hinzugehört. Um irgendetwas mit dem Begriff "System" bezeichnen zu können, braucht man keinerlei Angaben über die Art, 6

7

Zum Begriff "System", dessen Geschichte erst im ló.Jahrhundert beginnt, vgl. O.Ritsehl: System und systematische Methode in der Geschichte des wissenschaftlichen Sprachgebrauchs und der philosophischen Methodologie, Bonn 1906; A.von der Stein: Der Systembegriff in seiner geschichtlichen Entwicklung, in: A.Diemer (Hg.): System und Klassifikation in Wissenschaft und Dokumentation, Meisenheim 1968, S.l-13; die philosophische Beschäftigung mit dem Ganzen, das mehr ist als die Summe seiner Teile, reicht bis in die Antike zurück. R.Roosen: Semiotik der Metapher. Zum Verständnis des religiösen Zeichengebrauchs, in: Anstöße. FS für R.Volp, hg.v. I.Möller, Darmstadt 1991, S. 172-179

1. Wissenschaftstheoretische Vorüberlegungen

187

die Anzahl, die Größe, die Dichte oder das Umfeld der Elemente. All dieses und vieles mehr bleibt bei der Zuweisung des Leitbegriffs "System" zu einem Sachverhalt unberücksichtigt. Es wird kognitiv ausgeklammert. Nur diese beiden Merkmale, die Elemente und die eindeutige Zuordnungsfähigkeit, die Grenze, müssen gegeben sein, damit etwas als System erkennbar und unterscheidbar wird. So betrachtet ist der Systembegriff ein kognitives Konstrukt.8 Seine fehlende inhaltliche Präzision begründet seine vielfaltige Verwendbarkeit. Die unterschiedlichsten Sachverhalte und Phänomene können als Systeme benannt werden, sofern nur die beiden genannten Kriterien erfüllt sind. Eine biologische Zelle läßt sich von daher ebenso als System bezeichnen und beschreiben wie eine Familie, ein Verein, eine politische Partei, die Bevölkerung der Bundesrepublik Deutschland oder auch der ganze Erdball. Es ist von daher nicht verwunderlich, daß systemtheoretische Fragestellungen in den unterschiedlichsten wissenschaftlichen Disziplinen verfolgt werden: In der Physik, der Biologie, der Neurophysiologie, der Informatik und vielen anderen Disziplinen. Auch in wissenschaftlichen Arbeiten über Gruppen und Vereine, Firmen und Familien, Organisationen und Institutionen findet man explizit und implizit systemtheoretische Fragestellungen, Anregungen oder Ergebnisse.

c) Der Systembegriff und das Problem einer allgemeinen, disziplinenübergreifenden Systemtheorie Zwar gibt es zahlreiche Bemühungen um eine interdisziplinäre systemtheoretische Begriffs- und Modellbildung, aber gerade auf diesem Gebiet zeigen sich erhebliche, auch wissenschaftstheoretisch relevante Verständigungsschwierigkeiten. Neuere interdisziplinäre Verständigungsversuche legen die Vermutung nahe, daß in den unterschiedlichen Disziplinen nicht nur unterschiedliche Aspekte einer überdisziplinären, "allgemeinen" Systemtheorie zum Tragen kommen, vergleichbar einem Objekt, das durch mehrere Scheinwerfer von verschiedenen Seiten her angeleuchtet wird. Vielmehr haben schon die jeweils verfolgten disziplinenspezifischen Fragestellungen Rückwirkungen auf die Ausarbeitung des Theoriegebäudes der als "allgemein" bezeichneten Systemtheorie. Richtungweisend sei hier der von Wolfgang Krohn und Günter Küppers herausgegebene Sammelband "Emergenz: Entstehung von Ordnung, Organisation und Bedeutung" genannt.^ Der Sammelband dokumentiert einen interdisziplinären Verständigungsversuch über ein Grundproblem der "allgemeinen" Systemtheorie, an dem Fachvertreter aus Biologie, Physik, Mathematik, Ökonomie, Psychologie, Soziologie, Literaturwissenschaft und Jura beteiligt waren. Schon in der Einleitung dieses Buches wird selbstkritisch eingestanden: 8 9

J.Petersen / H.W.Erdmann: Strukturen empirischer Forschungsprozesse, Bd.II, Ratingen u.ö. 1975, S.26-30 W.Krohn / G.Küppers (Hg.): Emergenz: Entstehung von Ordnung, Organisation und Bedeutung, Frankfurt 1992

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III. Systemtheoretische Grundlagen

"Als die Autoren dieses Bandes zum ersten Mal zusammentrafen, um der Frage nachzugehen, ob die in vielen verschiedenen Wissenschaften verwendeten Begriffe, Modelle und Beispiele der Theorie selbstorganisierender Systeme einen gemeinsamen Boden haben, ergab sich zunächst eine babylonische Sprachverwirrung ... nicht einmal auf die eigene Disziplin war Verlaß. Physiker stritten mit Physikern, Soziologen mit Soziologen, Ökonomen mit Ökonomen. Einigungen, erzielt auf dem dünnen Boden der begrifflichen Analogien, zerbrachen wieder". 10 So dokumentiert der Sammelband neben den fachlichen Beiträgen auch die Einsicht, daß interdisziplinäre Verständigung in systemtheoretischen Fragen "eben nicht nur eine Sache des guten Willens" ist, sondern daß "die Verwendung der Begriffe von den charakteristischen Eigenschaften der [jeweils untersuchten] Phänomenbereiche abhängt". 11 Die eigene Disziplin profiliert die erkenntnisleitenden Fragestellungen und folglich auch die verwendeten Begriffe, die Beobachtungsschwerpunkte und die Resultate in einem Ausmaß, welches die Zielprojektion einer tatsächlich interdisziplinär verwendbaren "allgemeinen Systemtheorie" zum wohl gut gemeinten, aber leider vielfach unrealistischen Desiderat herabstuft. Die allgemeine Systemtheorie, etwa in Form eines Handbuches, auf das in verbindlichem Konsens fächerübergreifend zurückgegriffen werden könnte, gibt es zur Zeit jedenfalls noch nicht gibt. Bei aller Interdisziplinarität sind die Versuche, eine allgemeine Systemtheorie zu entwickeln, immer auch von den fachspezifischen Fragestellungen und den erkenntnisleitenden Intentionen des jeweiligen Fachvertreters geprägt. Umgekehrt bedeutet das, daß auch Theoriegebäude, die eine "allgemeine" Systemtheorie vorzustellen beanspruchen, letztlich doch in erkennbarer Weise disziplinenspezifisch und selektiv sind. Das gilt auch für Niklas Luhmanns Hauptwerk "Soziale Systeme. Grundriß einer allgemeinen Theorie", das den Theorierahmen zur Beschreibung der Kirchen stellen wird. Ehe Luhmanns Theorie eingehender dargestellt wird, ist darauf hinzuweisen, daß Luhmanns Systemtheorie eine soziologische Theorie ist. Als solche will sie verstanden werden. Gerade von Nichtsoziologen ist das gelegentlich übersehen w o r d e n . 10 11 12 13

G . K ü p p e r s / W . K r o h n : Selbstorganisation. Z u m Stand einer Theorie in den Wissenschaften, in: Dies. (Hg.): Emergenz, S.7 Beide Zitate N . L u h m a n n , Grundriß, S.25 N . L u h m a n n : Grundriß, S.7 Der Sammelband von W . Krawietz und M . Welker zeigt das mehrfach. Der Band dokumentiert die interdisziplinäre Auseinandersetzung eines Kreises von Juristen, Erziehungswissenschaftlern, Soziologen, Sozialethikern und Theologen mit Luhmanns Systemtheorie. In mehreren Aufsätzen wird Luhmanns Theorieanlage kritisiert und angefragt, ob denn nicht gerade die bestehenden großen sozialen Organisationen, das menschliche Verhalten oder aber die rechtlich geschützten sozialen Normen Schlüsselbegriffe einer Theorie sozialer Systeme sein müßten. Luhmann antwortet: "Die Theorie strebt ... nicht nach einer hierarchischen Abbildung einer hierarchischen Struktur der Realität. Ein solches Unternehmen w ü r d e sich rasch ab absurdum führen. Eine in Funktionssysteme differenzierte Gesellschaft erzeugt zu viele Höchstambitionen, zu viele Alpha-Männchen, zu viele

1. Wissenschaftstheoretische Vorüberlegungen

189

d) Die "interdisziplinäre Anschlußfähigkeit" der soziologischen Theorie sozialer Systeme Als fachspezifische soziologische Theorie unterliegt auch die Systemtheorie, die Luhmann in seinem "Grundriß einer allgemeinen Theorie" vorgelegt hat, soziologieinternen Schwerpunktsetzungen. Man kann diese Schwerpunkte leicht erkennen, wenn man Luhmanns Darstellung mit der Darstellung eines anderen Soziologen, Helmut Willke, vergleicht. Willke hat eine "Einführung in die Grundprobleme der Theorie sozialer S y s t e m e " geschrieben, die Luhmanns Grundüberzeugungen und dessen Begrifflichkeit weithin teilt. Allerdings führt er eine neue Fragestellung ein. Er sucht nach Steuerungsmöglichkeiten in hochkomplexen dynamischen Sozialsystemen. Diese veränderte Fragestellung führt zu Verschiebungen und zu veränderten Gewichtungen im Theorieaufbau. So unterscheidet Willke, anders als Luhmann, zwischen Sozialsystemen und Vorstufen der Systementstehung.^ Um beides miteinander zu verzahnen, entwickelt er die Konzeption einer "Systementwicklungsspirale" (S.83). Er differenziert den Komplexitätsbegriff (S.91-131), faßt aber andererseits alles das, was ein System "im Innersten zusammenhält", die verschiedenen Elemente der inneren Steuerungsstruktur, unter dem einheitlichen Begriff "Präferenzordnung" (S.45) zusammen. Auf diese Weise demonstriert Willke, daß nicht allein die interdisziplinäre Theorierezeption, sondern schon die disziplineninterne Theorierezeption ihr begriffliches Handwerkszeug an der jeweils formulierten Fragestellung "schärft". Die Differenzen zwischen den Konzeptionen von Luhmann und Willke decken erkenntnistheoretisch die spiralförmige Struktur der Theoriebildung auf und erschließen Gesetzmäßigkeiten der Theoriebildung, die hier im folgenden nicht ignoriert werden sollen: Selbst ein so hochentwikkeltes Theoriegebäude, wie es in Luhmanns Systemtheorie als Ertrag einer jahrzehntelangen Beschäftigung vorliegt, bleibt nicht unberührt davon, daß die leitende Fragestellung ausgetauscht wird. ^

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polykontexturale Beschreibungen ihrer selbst, als daß eine Theorie - welcher Art immer hier eine Rangfolge hineinlesen könnte" (Stellungnahme, in: W.Krawietz / M.Welker (Hg.): Kritik, S.371f). Nur innerhalb einer konkreten Präferenzordnung sind die jeweiligen Normen und Werte von konstitutiver Bedeutung für das Systemprofil (vgl. auch S.273f). Demgegenüber dokumentiert der Sammelband "Emergenz" den realistischeren Theoriestand: Er geht von dem Faktum "polyzentrischer Theoriebildung" aus und fragt von daher zurück, ob sich hinter den unterschiedlichen Begriffen und Modellen, die in den einzelnen Disziplinen gewachsen sind, über der Arbeit an einem gemeinsamen Thema Übereinstimmungen und Gemeinsamkeiten feststellen lassen. - Vgl. dort S.7f So lautet der Untertitel des Buches "Systemtheorie", Stuttgart u.ö. 4 1993 H.Willke: Systemtheorie, S.VII und S.214-277; H.Willke: Entwickelte Gesellschaften, bes. S.111-140 Bei Willke sind "elementare Interaktion" und "Quasi-System" zwei Vorstufen der Systementstehung (S.76-90). Luhmann dagegen bezeichnet elementare Interaktionen als einen Typus sozialer Systeme. - N.Luhmann: Interaktion, Organisation, Gesellschaft, in: Soziologische Aufklärung II, Opladen 4 1991, S.9-20; vgl. N.Luhmann: Grundriß S.551f. Diese Beobachtung gestattet eine Bemerkung zur Diskussion über die "interdisziplinäre Anschlußfähigkeit" von Luhmanns Systemtheorie. (Vgl. den Vorwurf "mangelnder Kon-

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ΠΙ. Systemtheoretische Grundlagen

e) Theorierezeption und erkenntnisleitende Fragestellung: Innersystemischer Wandel und Subjektproblematik Auch die hier vorlegte Rezeption der Systemtheorie wird von der Eigenart des Untersuchungsgegenstandes geprägt sein: Wenn man sich heute der Untersuchung von Kirchengemeinden zuwendet, kann man nicht davon absehen, daß sich im Rahmen dieser Fragestellung das Thema "Kirchenaustritt" geradezu von selbst einstellt. Im Gefolge der Wiedervereinigung sind seit 1990 die Kirchenaustrittszahlen erneut stark angestiegen. Dieser neue Schub läßt die Landeskirchen und mit ihnen die Kirchengemeinden nicht unberührt. Er stellt sie vor Folgeprobleme und erzwingt nicht allein eine verstärkte Beschäftigung mit den Kirchenmitgliedern und ihren Mitgliedschaftsmotiven, sondern auch tiefgreifende Veränderungen im kirchlichen Selbstverständnis, in der lokalen Präsenz und in den Arbeits- und Organisationsformen der Kirchengemeinden. Damit sind die beiden zentralen Aspekte benannt, die sich von der Themenstellung her aufdrängen: Das Verhältnis des Systems zu seinen Mitgliedern (Austritte) und der Gesichtspunkt der sich verändernden innerkirchlichen Verhältnisse (Wandel). Sollen mit Hilfe der Systemtheorie hilfreiche Impulse für die Arbeit und das Selbstverständnis der Kirchengemeinden gewonnen werden, dann ist zu fragen, ob bzw. wie die Systemtheorie diesen beiden Gesichtspunkten gerecht zu werden vermag. Hinsichtlich des Wandels läßt sich das vorab in pauschaler takt- und Kommunikationsfahigkeit der allgemeinen Theorie Luhmanns": W.Krawietz: Einführung, S.14; S.71 und S.84; S.305). "Anschließbarkeit" kann unter diesen Bedingungen nämlich nicht mehr heißen, der Soziologe habe seine Theorie so zu gestalten, daß sie in andere Disziplinen gewissermaßen "nahtlos" übernommen werden kann. Im interdisziplinären Methodentransfer kann nichts anderes geschehen als das, was sich auch schon intradisziplinär ereignet, wenn eine hochentwickelte Theorie herangezogen wird, um ein neues Thema zu bearbeiten. Es kommt eben nicht zu einer schlichten Übernahme der Theorie, es kommt vielmehr zu einer wechselseitigen Einpassung von Theoriedesign und Forschungsgegenstand. Wie sich mit Hilfe von Theorien Gegenstandsfelder strukturieren (Modelle bilden) lassen, so wird andererseits auch durch den jeweils gewählten Gegenstand das Theoriedesign beeinflußt. Das kann etwa bedeuten, daß einzelne Aspekte der Theorie, die in der einen Publikation eher im Hintergrund standen, in der anderen aufgewertet werden und in den Vordergrund rücken. Das kann auch bedeuten, daß andere Aspekte unwichtiger werden oder sogar überhaupt nicht mehr benötigt werden. "Interdisziplinäre Anschlußfähigkeit" darf also nicht gleichgesetzt werden mit überdisziplinärer Allgemeingültigkeit oder homologer Übertragbarkeit. Vielmehr ist interdisziplinäre Anschlußfähigkeit gegeben, wenn ein Theorierahmen zur Verfügung gestellt wird, der sich mit Gewinn auch in anderen Disziplinen zur Behandlung der (jeweils disziplininternen) Themen und Fragestellungen verwenden läßt. Die "Schärfung" der Theorie an der jeweiligen Fragestellung kann dem einzelnen Fachvertreter nicht abgenommen werden: gegen W.Krawietz: Einführung, S. 18-21. Luhmann hat seinen "Grundriß" als soziologische Theorie konzipiert (S.7) und beansprucht nicht, anderen Disziplinen damit ihre internen Maßstäbe und Standards vorgegeben zu haben. Nachdrücklich betont er, es sei nicht seine Aufgabe, "zu entscheiden, welche Begriffs-, Theorie- oder auch Wissensangebote für ihn (den jeweiligen Fachvertreter R.R.) von Interesse sind." - Stellungnahme, in: W.Krawietz / M.Welker (Hg.): Kritik, S.376

1. Wissenschaftstheoretische Vorüberlagungen

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Form erhoffen. Luhmanns Theorie ist u.a. aus dem Bestreben heraus erwachsen, die Gesetzmäßigkeiten von Systemerhalt und Systemdynamik besser zu verstehen. Umstritten ist allerdings der andere Aspekt, die Frage nach der Berücksichtigung der Mitglieder. Man hat an Luhmanns Konzeption immer wieder ein anthropologisches D e f i z i t ^ kritisiert und ihm sogar einen "leidenschaftlichen Antihumanismus"19 unterstellt. Die Bedeutung der Menschen für die Existenz sozialer Systeme, aber auch die Freiheit des Menschen jenseits aller Systembindungen, habe er nicht adäquat gewürdigt.20 Schon sein Lehrer Talcott Parsons lasse in seiner Systemtheorie die "Aktoren als handelnde Subjekte" v e r s c h w i n d e n . V i e l f a c h ist gegenüber Luhmann die Forderung erhoben worden, das Individuum^ oder aber eine Theorie des Handelns^ in dem Theoriegebäude selbst zu verankern, um dessen Wirklichkeitsnähe zu verbessern. In diesem Punkt besteht also Klärungsbedarf. Treffen die Vorwürfe zu, dann wäre es wenig sinnvoll, Luhmanns Theorie zu verwenden und Kirchengemeinden, die vom Austritt ihrer Mitglieder unmittelbar betroffen sind, mit einer Theorie zu beschreiben, die diesem Phänomen gerade nicht gerecht wird. Sind sie aber unberechtigt, dann ist von der Systemtheorie eine klare Antwort auf die Frage zu verlangen, wie sich "Mensch" und "System" zueinander verhalten. Dabei darf nicht außer acht bleiben, daß die Menschen ja einerseits in soziale Systeme "eingebunden" sein können, daß sie geradezu zu "Funktionären" eines Systems werden können, daß sie aber andererseits sehr wohl in der Lage sind, ein System auch wieder zu verlassen. Mit diesen Fragestellungen bekommt die hier vorgelegte Luhmannrezeption ein themenbedingtes Profil (wie dies auch bei Helmut Willke zu beobachten war). Es wird in besonderer Weise darum gehen, zwei Aspekte der Theorie sozialer Systeme herauszuarbeiten: die allgemeinen Gesetzmäßigkeiten des systemischen Wandels und das Verhältnis von System und Mensch. Individuelle Freiheit und persönliche Bindung gilt es gleichermaßen als Möglichkeiten zu verstehen, die nicht nur mit einer Theorie sozialer Systeme vereinbar sind, sondern gerade im Rahmen einer solchen Theorie verständlich werden. Für die Rezeption von Luhmanns Systemtheorie bedeutet das: In weiten Teilen wird sich die Darstellung an Luhmanns

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Vgl. dazu Ralf Dziewas: Der Mensch - Ein Konglomerat autopoietischer Systeme?, in: Krawietz / Welker (Hg.): Kritik, S. 113-132

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T.Schöfthaler: Soziologie als 'interaktionsfreie Kommunikation'. Niklas Luhmanns leidenschaftlicher Antihumanismus, in: Das Argument 27/1985, S.372-383 J.Habermas: Theorie der Gesellschaft oder Sozialtechnologie? Eine Auseinandersetzung mit Niklas Luhmann, in: J.Habermas / N.Luhmann: Theorie der Gesellschaft oder Sozialtechnologie, Frankfurt/M. 1971, S.142-290 J.Habermas: Theorie des kommunikativen Handelns, Bd.2, Frankfurt/M. 1988, S.353 A.Bohnen: "...braucht man zu diesem Zweck Theorien über das Verhalten von Individuen" - Die Systemtheorie und das Dogma von der Irreduzibilität des Sozialen, in: Zeitschrift für Soziologie 23/1994, S.297/1 Einen instruktiven Überblick über vorhandene Positionen bietet T.Schwinn: Funktionale Differenzierung - wohin? Eine aktualisierte Bestandsaufnahme, in: Berliner Journal für Soziologie H. 1/1995, S.25-39; vgl. zur Religionssoziologie: T.Schöfthaler: Religion paradox, S.153; T.Rendtorff: Gesellschaft, S.84-87

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III. Systemtheoretische Grundlagen

Theorievorgaben orientieren können, im Detail aber wird sie ebenso w e n i g w i e Willkes "Einführung" ohne eigene Erklärungsversuche auskommen.

2. Grundbegriffe der Systemtheorie a) Luhmanns Zuschnitt der Systemtheorie Luhmanns Standardwerk "Soziale Systeme. Grundriß einer allgemeinen Theor i e " ^ bildet die Grundlage für die nachfolgenden Ausführungen. Ergänzend wird Helmut Willkes "Einführung in die Grundprobleme der Theorie sozialer Systeme" hinzugezogen werden. D e r "Grundriß" ist eine Art "Meilenstein" in Luhmanns Gesamtwerk.25 in die Darstellung ist der Ertrag einer langjährigen Beschäftigung mit der Systemtheorie e i n g e f l o s s e n . 2 6 Auch nach der Publikation hat Luhmann die Arbeit an den einzelnen Facetten der Konzeption kontinuierlich weitergeführt.27 Bereits im ersten Satz des "Grundrisses" teilt Luhmann seinen Leser/innen mit, daß die vorgelegte Systemtheorie nicht nur als Theorie eines S o z i o l o g e n zu verstehen ist, sondern als Theorie für die Soziologie konzipiert wurde.28 Folg24

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Frankfurt 1984. Alle Zitate nach der Taschenbuchausgabe stw 666 ^1991. Auf die deutlich gestraffte und terminologisch leichter zugängliche Fassung der Systemtheorie, die Luhmann in seinem Buch "Ökologische Kommunikation", Opladen 31990 vorgelegt hat, wird ebenfalls häufig zurückgegriffen. Luhmann sieht selbst die frühen Arbeiten als Vorarbeiten zu seiner Publikation von 1984 an: A.Scherr: Niklas Luhmann - an outline of the theory of autopoietic social systems, in: Soziologie Special Edition 3/1994, S.151 Anm.4 Die wichtigsten Vorarbeiten sind in den ersten drei Sammelbänden der "Soziologischen Aufklärung" enthalten: N.Luhmann: Soziologische Aufklärung I. Aufsätze zur Theorie sozialer Systeme, Opladen 1970, ®I991; Soziologische Aufklärung II. Aufsätze zur Theorie der Gesellschaft, Opladen 1975, 4 1991 und Soziologische Aufklärung III. Soziale Systeme, Gesellschaft, Organisation, Opladen 1981, 3 1993 Luhmanns Publikationsliste ist gewaltig! Vgl. H.-U.Dallmann: Die Systemtheorie Niklas Luhmanns und ihre theologische Rezeption, Stuttgart u.ö. 1994, S.212-220. Als weitere Einführungen seien genannt: T.Schöfthaler: Religion paradox: Der systemtheoretische Ansatz in der deutschsprachigen Religionssoziologie, in: K.-F.Daiber / T.Luckmann (Hg.): Religion in den Gegenwartsströmungen der deutschen Soziologie, München 1983, S.136156; D.Pollack: Religiöse Chiffrierung und soziologische Aufklärung. Die Religionstheorie Niklas Luhmanns im Rahmen ihrer systemtheoretischen Voraussetzungen, Frankfurt/M. 1988; G.Kiss: Grundzüge und Entwicklung der Luhmannschen Systemtheorie, Stuttgart 2 1990; W.Reese-Schäfer: Luhmann zur Einführung, Hamburg 1992; P.Fuchs: Die Erreichbarkeit der Gesellschaft, Frankfurt/M. 1992; A.Scherr: Luhmann; von theologischer Seite her: F.Scholz: Freiheit als Indifferenz. Alteuropäische Probleme mit der Systemtheorie Niklas Luhmanns, Frankfurt 1982; V.Drehsen: Kontinuität und Wandel der Religion. Die strukturell-funktionale Analyse in der deutschen Religions- und Kirchensoziologie, in: K.-F.Daiber / T.Luckmann (Hg.): Religion in den Gegenwartsströmungen der deutschen Soziologie, München 1983, S.86-135 "Die Soziologie steckt in einer Theoriekrise." - N. Luhmann: Grundriß, S.7

2. Grandbegriffe der Systemtheorie

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lieh erläutert er sein Vorhaben: "Es geht um die seit Parsons nicht mehr gewagte Formulierung einer/ac/iuniversalen Theorie" (S.10), um "eine soziologische Theorie, die die Fachverhältnisse klären will" (S.ll), indem sie ihnen einen integrierenden Theorierahmen zur Verfügung stellt. Luhmann überlegt zwar, ob er die vorgelegte Theorie nicht sinnvollerweise auch anders hätte benennen können, er entschließt sich dann aber doch: "Wir behalten 'Systemtheorie' als Firmenbezeichnung bei, weil im Bereich der allgemeinen Systemtheorie die wichtigsten Vorarbeiten für den angestrebten Theorietypus zu finden sind" (S.12). Damit ist angesprochen, daß sich in seinem Theoriegebäude nicht nur Elemente der Systemtheorie wiederfinden. Zwar entwickelt er seine Konzeption in enger Auseinandersetzung mit der Systemtheorie von Talcott Parsons.29 Aber er möchte die verengende Problemsicht überwinden, die in der Systementwicklung nichts anderes zu sehen vermag als Selbsterhaltung, die der Umwelt reaktiv abgetrotzt oder von der Umwelt direktiv aufgezwungen wird. Dazu hat er die Methode der "funktionalen Analyse'^O entwickelt und ein Theoriegebäude geschaffen, das weit über die Grenzen seines Fachgebietes hinausgreift. Eine erkennbar herausragende Rolle kommt den system- und evolutionstheoretischen Arbeiten der Biologen Humberto Maturana^l und Francisco Varela^2 zu. Aber auch der Phänomenologie Edmund Husserls^3 verdankt er wichtige Anregungen und der Logik George Spencer B r o w n s . W e i t e r e Einsichten entstammen der Auseinandersetzung mit der Kommunikationstheorie^S. Intensiv spürt Luhmann den Bedingungen der Möglichkeit sozialer Evolution nach. Er bezeichnet seine Arbeit selbst als eine "evolutionstheoretische Epistemologie"36, d.h. er fragt nach Ursachen und Bedingungen, die dafür 29 30

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T.Parsons: Zur Theorie sozialer Systeme, hg.v. St.Jensen, Opladen 1976; T.Parsons: Das System moderner Gesellschaften, München 1972. "Zum einen kann die funktionale Analyse über 'latente' Strukturen und Funktionen aufklären ... Zum anderen versetzt die funktionale Analyse Bekanntes und Vertrautes, also 'manifeste' Funktionen (Zwecke) und Strukturen in den Kontext anderer Möglichkeiten." N.Luhmann: Grundriß, S.89 vgl. S.83-91 H.Maturana: Biologie der Kognition, Paderborn 1977; H.Maturane: Erkennen: Die Organisation und Verkörperung von Wirklichkeit, Braunschweig u.ö. 1982 H.Maturana / F.Varela: Der Baum der Erkenntnis. Die biologischen Wurzeln des menschlichen Erkennens, Bern u.ö. 1987 Hier ist etwa die für den Luhmannschen "Sinn'-Begriff unverzichtbare Schrift "Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie, Erstes Buch: Allgemeine Einführung in die reine Phänomenologie (=Husserliana 111), hg.v. W.Biemel, Den Haag 1950 zu nennen. Weitere Schriften sind genannt in: N.Luhmann: Weltgesellschaft, in: Soziologische Aufklärung II, S.65 Laws of Form (1972), Neudruck New York 1979. Schon der Grundannahme "selbstreferentieller Strukturen" bzw. "selbstreferentieller Systeme", aber auch der Standortwahl als "Beobachter zweiter Ordnung" liegen erkenntnistheoretische Entscheidungen zugrunde. Wichtig ist auch Spencer Browns Begriff "re-entry". Hier ist etwa das Organon-Modell der Sprache von Karl Bühler zu nennen: Sprachtheorie: Die Darstellungsfunktion der Sprache, Stuttgart 2 1965, S.24ff Grundriß, S.90; "evolutionäre Mechanismen" (N.Luhmann: Evolution und Geschichte, in: Soziologische Aufklärung II, S.152). Der mehrdeutige Einleitungssatz des ersten Kapitels von "Soziale Systeme" hat Luhmann viel Kritik eingetragen: "Die folgenden Überlegungen

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m . Systemtheoretische Grundlagen

verantwortlich sind, daß soziale Systeme entstehen und sich nach ihrer Entstehung in einem ständigen Wandel befinden können und befinden müssen. Ein durchgängiger evolutionstheoretischer Fokus ist hinter der Theorieanlage erkennbar. Luhmann rekonstruiert die allgemeinen Voraussetzungen und Bedingungen der Möglichkeit systemischen Wandels in der Gesellschaft. Im Laufe von Jahrzehnten ist ein überaus komplexes Theoriegebäude entstanden, ein "Theoriemonolith" (Dalimann), der sich dem flüchtigen Zugriff entzieht. Luhmanns Konzeption ist nicht leicht verständlich und Luhmann ist sich dessen durchaus bewußt. Er vergleicht seine Darstellung mit einem Flug über den Wolken "bei ziemlich geschlossener Wolkendecke".37 Mit dieser Formulierung trifft er recht genau das Gefühl, das den Leser bei der Lektüre seiner Texte immer wieder befallen kann.

b) Drei Grundbegriffe der Systemtheorie: Komplexität, Kontingenz und Kohärenz38 Um die spezifische Leistung aller Sozialsysteme verstehen zu können, ist es erforderlich, drei Grundbegriffe der Systemtheorie kennenzulernen: Komplexität, Kontingenz und Kohärenz. 1. Komplexität: Unabhängig davon, ob es sich um Familien, Vereine oder ganze Nationen handelt, sind soziale Systeme stets kondensierte Antworten auf grundlegende soziale Orientierungserfordernisse: Was soll man tun, was soll man unterlassen angesichts einer unübersehbaren Fülle von Kontakt-, Kommunikations- und Handlungsmöglichkeiten, die die Welt um uns herum bereit hält?

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gehen davon aus, daß es Systeme gibt" (S.30). Dieser Satz ist häufig in dem Sinne mißverstanden worden, Luhmann vertrete eine "basale Ontologie", die dann notwendigerweise auch normative Implikationen im Sinne eines "Vorrangs von Schon-Seiendem vor Nochnicht-Seiendem" (H.-U.Dalimann, Systemtheorie, S.185) nach sich zöge. Am Konzept einer "evolutionstheoretischen Epistemologie" kann man erkennen, daß das nicht stimmt. "Die ganze Theorie (ist) als Theorie beobachtender Systeme in der Perspektive einer Beobachtung zweiter Ordnung, das heißt in der Perspektive des Beobachtens von Beobachtungen geschrieben ... und gerade nicht als unmittelbare Abbildung der Welt. Das wird im vorgelegten Text 'Soziale Systeme' verdeckt durch die bewußt platte Feststellung 'es gibt Systeme' (an der viele Kritiker Anstoß genommen haben) und deren epistemologische Auflösung am Schluß" (N.Luhmann: Stellungnahme S.381). Luhmann bezieht sich hier auf das 12.Kapitel des Grundrisses ("Konsequenzen für die Erkenntnistheorie"), in dem es heißt: "Erkenntnis selbstreferentieller Systeme ist also eine emergente Realität, die sich nicht auf Merkmale zurückführen läßt, die im Objekt oder im Subjekt schon vorliegen" (Grundriß, S.658). Vgl. auch A.Nassehi: Wie wirklich sind Systeme? Zum ontologischen und epistemologischen Status von Luhmanns Theorie selbstreferentieller Systeme, in: Krawietz / Welker (Hg.): Kritik, S.43-70 N.Luhmann: Grundriß, S.13; vgl. S.14: "polyzentrische" Theorie Systemtheoretische Fachterminologie wird im folgenden so zurückhaltend wie möglich eingeführt. Es wäre falsch, der Faszination einer Fachsprache zu erliegen. Wo terminologische Präzision allerdings um der Sache willen geboten ist, wird fachsprachliche Begrifflichkeit auch nicht vermieden werden.

2. Grundbegriffe der Systemtheorie

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Wie ist hier überhaupt ein geregeltes Miteinander möglich? Welche Spielregeln gelten für den wechselseitigen Umgang? Was ist verbindlich, was unverbindlich? Derartige Fragen sind nicht erst seit gestern aktuell. Es sind Grundfragen des Menschseins. Sie müssen beantwortet sein, damit ein Zusammenleben von Menschen überhaupt möglich ist. Sozialsysteme reduzieren die "Komplexit ä t " ^ und die Potentialität einer ungeregelten Welt, indem sie Lebensräume, begrenzte Horizonte und Spielregeln für das Miteinander abstecken. Sie geben Orientierung, Halt und Sinn in einer Welt, die stets übervoll ist von konkurrierenden und einander widersprechenden Ideen, Themen und Tönen. Durch strategische Reduktionen legen soziale Systeme in einer für ihre Mitglieder verbindlichen Weise inhaltlich fest, was zählt, was gilt und was dazu gehört. Sie reduzieren Komplexität, indem sie ausgrenzen, was innerhalb eines Systems nicht gilt und was nicht dazugehört. Sie selektieren die virtuelle Vielfalt und kanalisieren die Aufmerksamkeitsrichtungen. Wo angesichts von nie ausschöpfbaren Handlungsalternativen Lähmung und Verzweiflung unvermeidlich wären, erzeugen Sozialsysteme die Möglichkeit, systemintern regelgeleitet zu kommunizieren und zu handeln. Gleichzeitig aber sind Sozialsysteme selbst in unterschiedlichem Maße " k o m p l e x " . 4 0 So ist etwa eine Familie als Sozialsystem weniger komplex als ein kleinerer Verein, der sich wiederum bescheiden ausnimmt, wenn man ihn mit der Komplexität einer Großorganisation vergleicht. 2. Kontingenz: Im systemtheoretischen Sprachgebrauch bezieht sich der Begriff Kontingenz auf die menschliche Fähigkeit, überraschend und unvorhersehbar handeln zu können. Wo zwei Menschen einander erstmals begegnen, läßt sich zwar mit einiger Wahrscheinlichkeit, nicht aber mit letzter Sicherheit voraussagen, wie sie sich verhalten werden. Beiden steht ein gewisses Spektrum an alternativen Verhaltensmöglichkeiten zur Verfügung.41 "So kann man die anfänglichen Beziehungen zwischen Robinson und Freitag als extrem wenig komplex und (doch) hoch kontingent bezeichnen. Mangels anderer Bezugssysteme entfällt Vielfalt, Vernetzung und Folgenlastigkeit der sozialen Beziehung, während die möglichen Handlungsalternativen vom gegenseitigen Fressen bis zur Freundschaft reichten" .42 Kontingenz ist ebenso wie Komplexität zunächst einmal ein Phänomen der sozialen Umwelt. Sie bewirkt Orientierungsprobleme und würde zu permanenten Unsicherheiten führen, würde sie nicht gezielt reduziert. Kontingenzreduktion geschieht in Form von "Spielregeln", die erwünschtes und nicht erwünschtes, erlaubtes und unerlaubtes Verhalten festle39

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Was hier dargestellt ist, bezeichnet Luhmann als "Zweitbegriff" von Komplexität: "Komplexität in diesem zweiten Sinne ist dann ein Maß für Unbestimmtheit oder für Mangel an Information". - Grundriß, S.50f Dies ist Luhmanns "Erstbegriff" von Komplexität: "Als komplex wollen wir eine zusammenhängende Menge von Elementen bezeichnen, wenn aufgrund immanenter Beschränkungen der Verknüpfungskapazität der Elemente nicht mehr jedes Element jederzeit mit dem anderen verknüpft werden kann." - N.Luhmann: Grundriß, S.46 "Dieses 'auch anders möglich sein' bezeichnen wir mit dem traditionsreichen Terminus Kontingenz." - N.Luhmann: Grundriß, S.47 H.Willke: Systemtheorie, 4 1993, S.32

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ΠΙ. Systemtheoretische Grundlagen

gen. In entwickelten Gesellschaften stehen in Form von Sitten, Konventionen, Ethos und Gesetzen zahlreiche Mittel zur Verfügung, um die Formen des gemeinschaftlichen Miteinanders zu regeln. Umweltkontingenz wird mit Hilfe von sozialen Normen in Erwartbarkeit überführt, Verhaltenssicherheit auf unbekanntem Terrain wird durch Kontingenzreduktion erzeugt. Komplexität und Kontingenz werden in der folgenden Darstellung der Systemtheorie als unabhängige Variablen aufgefaßt und aus analytischen Gründen gesondert betrachtet. Die beiden Variablen existieren jedoch nicht völlig unabhängig voneinander. Das Robinson-Freitag-Beispiel hat bereits gezeigt, daß es in sozialen Systemen sehr unterschiedliche Schwerpunktverteilungen geben kann: Hohe Kontingenz verbunden mit geringer Komplexität (Robinson), aber auch geringe Kontingenz und hohe Komplexität (Bürokratien oder Militär), geringe Kontingenz und geringe Komplexität (langjährig verheiratete Ehepaare) oder hohe Kontingenz und hohe Komplexität (entwickelte liberale Gesellschaften).^ 3. Kohärenz: Durch die Vereinheitlichung von Interessen und Themen sowie durch die Bereitstellung systemspezifischer Konventionen, also durch strategische Reduktionen, wird das System zu einem Binnenraum standardisierter Interaktionsmöglichkeiten. Es entlastet von der Notwendigkeit, sich in den alltäglichen Begegnungen immer wieder aufs neue um Verständigung und Plausibilitätsbegründungen für Entscheidungen und Handlungen zu bemühen. Es bietet einen organisierten Rahmen für effektive Kommunikation und zielorientierte Handlungen. Damit schafft das Sozialsystem Voraussetzungen für den Zusammenhalt seiner Elemente, die "Systemkohärenz". Durch systemspezifische Ordnungsmuster wie gemeinsame Symbolsysteme, Rituale oder Normen wird die systeminterne Verbundenheit der Mitglieder gestärkt, die "Systemkohärenz" aufrecht erhalten. Kohärenz ist wie die anderen beiden Systemvariablen auch ein relativer Wert. Es gibt Sozialsysteme mit relativ hoher Binnenkohärenz, etwa gesinnungshomogene Überzeugungsgemeinschaften, es gibt aber auch Sozialsysteme mit relativ niedriger Binnenkohärenz, etwa pluralistische Gesellschaften. Zusammenfassend läßt sich festhalten, daß soziale Systeme im Zusammenleben der Menschen grundlegende Ordnungs- und Regelungsfunktionen erfüllen. Sie stellen gemeinsame, verbindliche und verbindende Regeln zur Verfügung. Diese Faktoren lassen sich aber nicht allein als Leistungen sozialer Systeme verstehen, die sie gewissermaßen im Dienste der Menschen erbringen, man kann sie auch als permanente Aufgabe aller sozialen Systeme ansehen. Ein soziales System kann nur solange bestehen, wie es einerseits in der Lage ist, seine Grenze aufrechtzuerhalten und andererseits mit Hilfe des internen Regelwerks auch seine Kohärenz zu sichern. Gelingt das (dauerhaft) nicht mehr, 43

Hohe Komplexität erzeugt immer Selektionsdruck und damit gleichzeitig auch Kontingenzerfahrungen. "Wird die Umwelt als Ressource aufgefaßt, erfährt das System Kontingenz als Abhängigkeit. Wird sie als Information aufgefaßt, erfährt das System Kontingenz als Unsicherheit." - N.Luhmann: Grundriß, S.252

2. Grundbegriffe der Systemtheorie

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dann zerfällt das System und löst sich auf. Systeme sind also stets aus zwei Richtungen gefordert und gefährdet, sie müssen ihre Umweltabgrenzung aufrechterhalten und sie müssen dem Verfall der inneren Kohärenz vorbeugen. c) Umwelt und System Die "Umwelt" eines Systems ist kein System. Sie ist immer nur ein "systemrelativer Sachverhalt"."^ "Die Umwelt ist nicht als umfassendes System zu begreifen (obwohl es für viele Systeme umfassende Systeme geben kann, für Interaktionen zum Beispiel Gesellschaften, die Rationalitätsbedingungen weitgehend vorstrukturieren). Die Umwelt ist ein mit dem Innenhorizont korrespondierender Welthorizont".^5 Dieser "Welthorizont" des Systems soll nun näher betrachtet werden. Er ist sehr viel mehr als nur ein nebelhaft verschwommener Hintergrund, vor dem sich das jeweilige Systemprofil abzeichnet. Die Umwelt ist vielmehr Quelle und Garant der Existenz- und Überlebensfähigkeit eines jeden sozialen Systems. Das läßt sich besser verstehen, wenn man den globalen Begriff "Umwelt" präzisiert und von "signifikanten Umwelten" spricht, als Summe der Faktoren, auf die ein gegebenes System einwirken oder sich beziehen kann. Soziale Systeme, seien es Familien, Vereine oder Staaten richten sich auf ihre signifikanten Umwelten aus. Von ihnen grenzen sie sich ab. Von ihnen her definieren sie das eigene Selbstverständnis, mit ihnen sind sie in fünffacher Weise verflochen: 1. Ursprungs- oder Quellsituation: Soziale Systeme gehen aus ihrer Umwelt hervor. Am Beispiel relativ kleiner und überschaubarer Systeme wie der Ehe oder eines lokalen Vereins läßt sich gut erkennen, daß soziale Systeme sich zunächst einmal aus ihrer Umwelt herauskristallisiert haben müssen, ehe sie sich mit eigenem Profil und Programm von dieser Umwelt abheben können. Alles, was sie benötigen, um sich als eigenständiges System zu etablieren, steht zunächst einmal in der Umwelt zur Verfügung und wird aus ihr entnommen: Menschen, Ideen, Zeit, Geld und andere materielle Ressourcen. Das bedeutet, daß soziale Systeme bei ihrer Entstehung grundsätzlich Umweltaspekte aufnehmen. Die Menschen, die sich zusammenfinden, sind geprägt von den Lebensumständen ihrer Zeit. Aspekte und Splitter ihres Weltbildes und ihrer Lebensumstände wandern in Form von individuellen Ausprägungen und Bewertungen in jedes neu entstehende System ein. Dort werden sie dann zu integrierten Be-

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"Jedes System nimmt nur sich aus seiner Umwelt aus. Daher ist die Umwelt eines jeden Systems eine verschiedene. Somit ist auch die Einheit der Umwelt durch das System konstituiert. 'Die' Umwelt ist nur ein Negativkorrelat des Systems. Sie ist keine operationsfahige Einheit, sie kann das System nicht wahrnehmen, nicht handeln, nicht beeinflussen. Man kann deshalb auch sagen, daß durch Bezug auf und Unbestimmtlassen von Umwelt das System sich selbst totalisiert. Die Umwelt ist einfach 'alles andere'." - N.Luhmann: Grundriß, S.249; vgl. S.36 N.Luhmann: Grundriß, S.641

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ΙΠ. Systemtheoretische Grundlagen

standteilen der sich mehr und mehr herauskristallisierenden Systemidentität und erstarren schließlich zu systeminternen Umweltbildern. 2. Systemwachstum und Ressourcengewinnung: Systeme können grundsätzlich nur Bestand haben und wachsen, solange sie in der Lage sind, sich aus ihrer Umwelt heraus "Ressourcen" aller Art zuzuführen. Als Ressourcen bezeichnet man in der Systemtheorie nicht nur materielle Dinge, sondern auch immaterielle Güter wie Ideen und Know how, aber auch die Mitglieder selbst. Um sich zu konsolidieren, wird sich ein neu gegründeter Verein vordringlich darum bemühen, neue Mitglieder zu werben. Neue Mitglieder bringen Zeit und Geld mit. Beides wird benötigt, Zeit für ehrenamtliche Aktivitäten im Dienste des Vereins und Geld als Beitrags- und Spendenaufkommen zur Erweiterung der Handlungs- und Gestaltungsmöglichkeiten. Der Verein hat also ein internes Interesse daran, sich in möglichst geregelter und kontrollierter Weise ständig neue Ressourcen zuzuführen und diese in Dienst zu stellen. Neue Mitglieder bringen aber nicht nur Zeit und Geld mit. Sie bringen darüberhinaus auch eigene Ideen und Vorstellungen mit. Das ist nicht unbedingt erwünscht, aber es ist unvermeidlich. Auch diesem Problem muß sich der Verein stellen. Er löst es über seine Vereinssatzung, in der die Präferenzen des Systems niedergeschrieben sind und das erwünschte Verhalten der Mitglieder festgelegt ist. 3. Systemidentität durch Abgrenzung: Jedes soziale System muß unabhängig von seiner Größe Antworten auf zwei Grundfragen geben (können): "Wer sind wir?" und "Was wollen wir?" Indem Sozialsysteme diese beiden Fragen beantworten, geben sie sich selbst ein inhaltliches Profil, sie werden identifizierbar und sie grenzen sich von ihrer Umwelt ab. Nehmen wir an, der eben angesprochene Verein gibt sich den Namen "Chor", dann sind mit diesem Namen beide Fragen beantwortet: (a) Wir sind Menschen, die gern singen, und (b) wir wollen uns treffen, um miteinander zu singen. Aus dieser Selbstdefinition des Sozialsystems lassen sich auch die Aufgaben der Mitglieder ableiten. Gleichzeitig wird festgelegt, was das System zusammenhält: die gemeinsame Freude am Singen. Die Umweltabgrenzung des Systems ist implizit enthalten, denn jede Festlegung auf das, was man ist, bedeutet zugleich auch eine Aussage über das, was man nicht ist: Ein Chor ist kein Sportverein, keine politische Partei und auch keine Entwicklungshilfeorganisation. Mit der Klarheit und Präzision, in der die beiden Grundfragen beantwortet werden, sind weitreichende Konsequenzen verbunden. Durch die Selbstdefinition gewinnt ein soziales System nicht nur innere Kohärenz und äußere Kontur, d.h. Systemcharakter, es wird auch, aus der Perspektive der Umwelt heraus betrachtet, überhaupt erst als ein "System" erkennbar. Es gewinnt "Identität". Identität setzt das Vorhandensein einer zumindest partiellen Übereinstimmung von innerem Selbstverständnis und äußerer Zuordnung, von Selbstbild und Fremdwahrnehmung voraus. Systemidentität positioniert das System in seiner Umwelt. Es wird zuordnungsfahig und behaftbar. Die Mitglieder des Gesangsvereins empfinden sich nicht nur selbst als "Sänger" oder "Sängerinnen", sie werden auch von ihrer "Umwelt" als solche angesprochen und auf ihren Verein

2. Grundbegriffe der Systemtheorie

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hin befragt. Sie gelten als "Spezialisten" für das Thema ihres Vereins. Allgemeiner formuliert bedeutet das: Stabilisierte Systemidentität eröffnet neue Verzahnungsmöglichkeiten von System und Umwelt und ist damit eine wichtige Voraussetzung für Systemkonsolidierung und SystemWachstum. 4. Existenzerhaltung: Jedes soziale System steht vor der Aufgabe, das eigene Überleben in einer übermächtigen und potentiell sogar existenzbedrohenden Umwelt zu sichern. Dabei ist nicht nur an die Risiken zu denken, die die natürliche Umwelt birgt. Das Vorgehen totalitärer Machthaber gegen Andersdenkende hat auch im 20. Jahrhundert vielfach gezeigt, wie real diese Bedrohung sein kann. Soziale Systeme können sich aber nicht einfach vor der Umwelt abschließen, denn sie sind ja in mehrfacher Hinsicht auf diese Umwelt angewiesen. Folglich müssen sie dafür sorgen, daß die Umwelt ihnen die ständige Zuführung der Ressourcen gestattet, die sie zum Überleben brauchen. Dieses Existenzproblem lösen soziale Systeme durch eine prinzipielle Klärung ihrer Umweltrelationen und durch die fortwährende Anpassung ihrer eigenen Systemstrukturen an veränderte Umweltbedingungen (= 5."Positionierung"). Die prinzipielle Klärung des Umweltverhältnisses kann auf durchaus unspektakuläre Weise geschehen. Ein soziales System begibt sich in den Schutz eines übergeordneten Systems, etwa in den Schutz des Staates. Es definiert sein Umweltverhältnis als "staatstragende Vereinigung" oder läßt sich als "gemeinnütziger Verein" in das Vereinsregister eintragen. Ein solcher Schritt beschneidet zwar einige Freiheiten in der Systementwicklung, denn Integration hat ihren Preis, aber er ist durchaus funktional, garantiert er doch Systemschutz und kontinuierliche Zugriffsmöglichkeiten auf Umweltressourcen. Daneben gibt es auch völlig andere Möglichkeiten der systemimmanenten Verhältnisbestimmung von System und Umwelt. Organisierte Gruppen aus dem kriminellen Milieu etwa können nicht auf die aktive Unterstützung der Umwelt bei der Ressourcengewinnung hoffen. Sie müssen vielmehr erhebliche Schwierigkeiten in Kauf nehmen und mit der permanenten Bedrohung ihrer Existenz leben. Gerade deshalb aber ist auch für sie Umweltbeobachtung und Umweltbeeinflussung (z.B. durch Korruption) notwendig und existenzsichernd. Kurz, die realistische Kalkulation und Positionierung des Systems im Umweltgefüge ist eine unabdingbare, weil existenzsichernde Maßnahme. Mit der Klärung des System-Umwelt-Verhältnisses ist zugleich auch die Art der möglichen Beziehungen festgelegt, die das System zu seiner Umwelt unterhalten kann. 5. Positionierung im Wandel: Soziale Systeme können von Ereignissen in ihren "signifikanten Umwelten" unmittelbar betroffen sein. Im konkreten Einzelfall können sehr verschiedenartige Dinge zur signifikanten Umwelt werden. So sind Systeme nicht selten auf eine spezifische lokale Umgebung ausgerichtet. Es kann sich dabei um ein Dorf oder einen Stadtteil handeln, um ein Milieu oder eine Region, einen Kontinent usw. Aber auch die dominierenden Merkmale der jeweiligen Zeitumstände können zur signifikanten Umwelt gehören, die auf ein System einwirken: Krieg oder Frieden, Wohlstand oder Hungersnot, Diktatur oder Demokratie. Ebenso können geistige Strömungen, gewachsene Lebens-

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ΙΠ. Systemtheoretische Grundlagen

formen, aber auch handlungsleitende Einstellungen oder kulturelle Werte und Gegebenheiten in globaler oder auch in selektiver Weise zu "signifikanten Umwelten" werden, die die Überlebens- und Wachstumsfähigkeit eines Sozialsystems unmittelbar fördern oder beeinträchtigen. Bei der Darstellung der Frömmigkeitsgeschichte des evangelischen Christentums (s.o. Kap.I) wurde mehrfach deutlich, wie stark die evangelischen Kirchen bereits in den ersten beiden Jahrhunderten ihres Bestehens durch Ereignisse und Faktoren ihrer signifikanten Umwelten beeinflußt und geprägt worden sind. Die Kirchenmitglieder haben durch ihr religiöses und nichtreligiöses Verhalten den Prozeß der Kirchwerdung und Konfessionalisierung des evangelischen Christentums mitgeprägt und unübersehbar beeinflußt (religionas-practised). Aber auch ganz andere Faktoren konnten zu signifikanten Umwelten werden und auf die Systementwicklung Einfluß nehmen: Mit der "kleinen Eiszeit" hat vermutlich sogar das europäische Wetter einen wirksamen Einfluß auf den innerkirchlichen Konfessionalisierungsprozeß des 17. Jahrhunderts ausgeübt. Auch andere historische Ereignisse des 17.Jahrhunderts (30jähriger Krieg, Gesangbuchlieder) oder den Einfluß geistesgeschichtlicher Strömungen kann man leicht belegen. Schließlich stellte die Bevölkerungsexplosion einen Faktor dar, der ebenfalls nachhaltige Folgen für die Organisationsstrukturen der Landeskirchen und die Re" iosität der Bevölkerung hatte. Sozialsysteme kennen keinen Stillstand. Verändert sich die Systemumwelt, dann bleibt das System davon nicht unberührt. Kleine Systeme können mit aktiven Anpassungsstrategien reagieren. Ein Chor etwa könnte sein Repertoire umstellen, wenn es ihm nicht mehr gelingt, mit dem alten Repertoire genug Mitglieder zu binden. Komplexe Sozialsysteme stehen da vor größeren Schwierigkeiten. Verschlafen sie den Wandel, dann bleibt das System nicht einfach unberührt. Vielmehr führen die gegebenen Verhältnisse selbst die notwendigen Veränderungen herbei. Systementwicklung erfolgt dann "autodynamisch". Am Beispiel der Bevölkerungszunahme des 18. und 19.Jahrhunderts war das bereits zu beobachten. Als es den Kirchen nicht gelang, auf die Bevölkerungsexplosion angemessen zu reagieren und die erforderliche Anzahl von Pfarrern und kirchlichen Gebäuden rechtzeitig bereitzustellen, sank die Systemkohärenz ab, die Kontingenzspielräume der Mitglieder wuchsen an und die Teilnahmeintensität verringerte sich entsprechend. Reduzierte Teilnahmestandards setzten sich durch und wurden zur evangelischen Normalfrömmigkeit. Das Problem, das durch veränderte Umweltgegebenheiten herbeigeführt war, war damit gelöst. Wenn diese Lösung allerdings unter den Augen der Pfarrerschaft und den Kirchenleitungen keine Gnade fand, so ist dies bereits ein wichtiger Hinweis darauf, daß Systementwicklung eben nicht nur von den "richtigen" Ideen gespeist ist. Unter bestimmten Bedingungen, die weiter unten noch näher beschrieben werden sollen (Entstehung "informaler Ordnungen" s.u. Kap.VII 2 und VII 3), kann Systementwicklung sich sogar gegen die Ideen und auch gegen die Leitungsgremien vollziehen. 46

Zum Begriff der "basalen Unruhe" eines Sozialsystems vgl. N.Luhmann: Grundriß, S.99f

2. Grundbegriffe der Systemtheorie

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6. "Offene", "geschlossene" und "dynamische" Systeme: Zusammenfassend läßt sich festhalten, daß soziale Systeme sich ständig in einem labilen Gleichgewicht befinden. In fünffacher Weise sind System und Umwelt aufeinander bezogen: Systemimmanent sind die signifikanten Umwelten in Form eines Umweltbildes gespeichert; Umweltbeobachtung und Umweltbeeinflussung sind wachstumsfördernd, identitätssichernd und existenznotwendig. Systeme sind immer "offene Systeme" und zugleich auch "geschlossene Systeme". Geschlossen sind sie unter dem Gesichtspunkt, daß sie sich durch die Ausbildung und Aufrechterhaltung einer Grenze von ihrer Umwelt abheben müssen. Jedes System ist gewissermaßen mit der Aufgabe, seine eigene Identität und seine Existenz zu sichern, auf sich selbst gestellt. Es kann sie nur mit den Mitteln lösen, die ihm systemintern zur Verfügung stehen. Als vollkommen geschlossene Systeme aber wären Sozialsysteme überhaupt nicht überlebensfähig, denn alles, was sie zum Überleben benötigen (Ideen, Mitglieder, Finanzen usw.), gewinnen sie aus ihrer Umwelt. Sie sind auf kontrollierte Umweltrelationen angewiesen und können von daher auch als "offene" Systeme angesehen werden. Soziale Systeme sind also stets beides zugleich, sie sind offen in ihren Umweltbeziehungen und geschlossen hinsichtlich des inhaltlichen Profils, das ihnen die Abgrenzung von der Umwelt erlaubt, die Identitätswahrung ermöglicht und die Wiedererkennbarkeit s i c h e r t . Auch der Begriff "dynamisches System" läßt sich von daher präzisieren. Der Begriff ist tautologisch, denn soziale Systeme sind grundsätzlich immer in Bewegung. Solange sie existieren, gibt es in ihnen keinerlei Stillstand. Dies ist schon darauf zurückzuführen, daß die signifikanten Umwelten immer in Bewegung sind. Auch in der Umwelt gibt es ja prinzipiell keine Ruhe. Permanent verschieben sich Einflüsse, Ideen und materielle Ressourcen. Menschen kommen und gehen. Mächte kommen und gehen. Neue Systeme werden gegründet und treten ein in den Wettbewerb um die zur Verfügung stehenden Ressourcen. Weiter unten wird noch gezeigt werden, daß nicht nur die Systemumwelten und die Systemressourcen, sondern auch das System selbst ständig dynamischen Veränderungen unterworfen ist. Grundsätzlich gilt also: ein soziales System ist entweder dynamisch, oder es hat bereits zu existieren aufgehört. Niklas Luhmann verwendet den Begriff "dynamisches System" nicht. Er spricht von "temporalisierten Systemen" oder von "temporalisierter K o m p l e x i t ä t " . ^ 47

48

Man kann in der Entwicklung von Luhmanns Systemtheorie zwei Phasen unterscheiden. In einem fließenden Übergang findet man etwa bis 1980 Arbeiten zur Theorie "offener Systeme". Hier werden wechselseitige Anpassungs- und Austauschbeziehungen zwischen System und Umwelt angenommen. Anschließend kommt es zu einer Neukonzeption, die man als "autopoietische Wende" oder als Übergang zu einer Theorie "offen-geschlossener Systeme" bezeichnet hat (G.Kiss: Grundzüge, S.2). In der zweiten Phase arbeitet Luhmann dann stärker die Aspekte der Eigenständigkeit, der partiellen Autonomie heraus, die jedes soziale System auszeichnen. Danach entwickeln sich selbst gesellschaftliche Subsysteme nach internen Grundsätzen und Orientierungsmustern, die sich nicht mehr auf ursächlich gesamtgesellschaftliche Erfordernisse oder übergreifende, allgemein verbindende Werte zurückführen lassen. - N.Luhmann: Funktion, S.243f N.Luhmann: Grundriß, S.471

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III. Systemtheoretische Grundlagen

d) Präferenzordnung Bisher wurde nur allgemein von "systemspezifischen Spielregeln" gesprochen, die das System seinen Mitgliedern verbindlich vorgibt. Dieser Gedanke soll nun vertieft und mit Hilfe des Begriffs "Präferenzordnung" präzisiert w e r d e n . 4 9 Die Präferenzordnung reguliert den Binnenraum des Systems ebenso wie die Abgrenzung des Systems nach außen hin. Die Präferenzordnung ist das, was ein System "im Innersten zusammenhält". Sie gibt an, was innerhalb des jeweiligen Systems und im systemspezifischen Kontakt mit der Umwelt "sinnvoll" oder "unsinnig" ist. Sie fixiert das inhaltliche Profil des jeweiligen Systems und die Kohärenzbedingungen, die für den Zusammenhalt des Ganzen maßgeblich sind. Schließlich regelt sie auch die Art der Beziehungen, die das System zu seiner Umwelt unterhalten kann. Im folgenden sollen vier Segmente der Präferenzordnung unterschieden werden^. Dabei wird sich zeigen, daß die vier Segmente innerhalb eines konkreten Systems stets ineinandergreifen und sich wechselseitig bedingen oder beeinflussen. Im einzelnen sind dies die "Leitdifferenz", die die inhaltliche Grundorientierung und das systemspezifi49

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Der Begriff stammt von H.Willke: Systemtheorie, S.45. Luhmann verwendet sehr unterschiedliche Begriffe, die sich auf die Präferenzordnung als Ganze oder auf einzelne Teile, bzw. auf deren Bedeutung, Verwendung oder Funktion in unterschiedlichen Systemtypen beziehen: "Erwartungsstrukturen" (S.397); "Erwartungserwartungen" (S.414ff); "strukturelle Orientierungen" (S.414); "Strukturmuster" (S.474); "Möglichkeitsspielräume" (S.388; S.397); "symbolische Kürzel" (S.416); "Steigerung der Wahrscheinlichkeit des Bestimmten" (S.417). Vor allem aber verwendet Luhmann den Begriff "Sinn". Unter Berufung auf Edmund Husserl vertritt er die Ansicht, daß "Sinn" sich erst in der phänomenologischen Beschreibung erschließt: "Etwas hat Sinn, wenn es Verweisungsüberschüsse fixiert, das heißt mehr Möglichkeiten weiteren Erlebens festhält, als aktuell verfolgt werden können, und damit letztlich Welt präsentiert" (Handlungstheorie, S.56; vgl. Grundriß, S.93). Sinn ist der offene Horizont der semantischen Möglichkeiten, aus dem alle systeminternen Festlegungen gewonnen werden und auf den sie in ihrer systemspezifischen Eigenart als Grenzen, als Abgrenzung von etwas anderem, ebenfalls Möglichem, auch wieder zurückverweisen. Sinn übergreift also System und Umwelt (Grundriß, S.95). Der Sinnbegriff gehört mit zu den umstrittensten Teilen der Luhmannschen Systemtheorie. H.Haferkamp hat ihn als eine "metaphysikverdächtige" und "objektivistische" Konzeption kritisiert (H.Haferkamp / M.Schmid (Hg.): Sinn, Kommunikation und soziale Differenzierung. Beiträge zu Luhmanns Theorie sozialer Systeme. Frankfurt 1987, S.66; vgl. G.Kiss: Grundzüge, S. 105-108; H.-U.Dallmann, Systemtheorie, S.37-44; G.Thomas: Welt als relative Einheit oder als Letzthorizont? Zur Azentrizität des Weltbegriffs, in: Krawietz / Welker (Hg.): Kritik, S.327-354) Im folgenden wird Luhmanns Sinnbegriff nicht verwendet. In der Semiotik gibt es mit dem Polysemiebegriff, der semantischen Merkmalsanalyse oder der Konnotationstheorie erprobte Konzepte, um die von Luhmann anvisierten Sachverhalte (basale Instabilität von Sinn oder mitlaufender Verweisungshorizont auf andere und weiterführende Bedeutungen) überzeugend und transparent aufzuschlüsseln (R.Fleischer: Verständnisbedingungen, S.204-246; R.Roosen: Taufe, S.25-30). Anders gliedert G.Teubner, der "die Komponenten der Grenze (Mitgliedschaft), des Elements (Entscheidung), der Struktur (Norm) und der Identität (Kollektiv)" unterscheidet: Die vielköpfige Hydra: Netzwerke als kollektive Akteure höherer Ordnung, in: Krohn / Küppers (Hg.): Emergenz, S.195

2. Grundbegriffe der Systemtheorie

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sehe Kommunikationsmedium festlegt (1.), die "Selbstdefinition", die das Selbstverständnis des Systems und seiner Mitglieder beinhaltet und damit gleichzeitig die Umweltabgrenzung fixiert (2.), die Zielformulierung, die das Aufgaben- und Arbeitsfeld festlegt, auf dem sich das System betätigt (3.) und die systemspezifischen Kohärenzbildungs- und Kohärenzförderungsmittel, das Systemprogramm (4.)· 1. Leitdifferenz, Überleitungssemantik, Kommunikationsmedium: Umweltkomplexität wird durch systemspezifische Selektion reduziert. Indem die Präferenzordnung die Themen, Perspektiven und Motive auswählt und festschreibt, die systemintern gültig sind, grenzt sie gleichzeitig sämtliche Bereiche aus, die nicht interessieren. Sie schließt Perspektiven aus, die nicht eingenommen werden und beschneidet Handlungsmöglichkeiten, indem sie sie systemintern als "nicht richtig" einstuft. Die Präferenzordnung wirkt als "Selektionsordnung". Das "ausgeschlossene Andere" sinkt systemintern auf den Status eines unkonturierten Restes herab, dessen Existenz zwar bekannt ist, dessen Gestalt und Begründungen aber nicht von Belang sind. Dieser "Rest der Welt" verharrt als Außenhorizont des Systems in programmatischer Unscharfe. Um ein Beispiel zu nennen: Das Amtsgericht etwa selektiert Wirklichkeit unter dem Gesichtspunkt der Rechtsrelevanz. Paragraphen und Verordnungen bestimmen darüber, was innerhalb des Systems als systemrelevant angesehen und bearbeitet werden kann und was andererseits als nicht-systemrelevant dem diffusen Horizont "Rest der Welt" zugewiesen wird. So mag zwar die Trennung zweier Menschen, die jahrelang zusammengelebt haben, in beiden tiefe seelische Verletzungen hervorrufen, aber so sehr die Betroffenen auch unter dem Trennungsprozeß leiden mögen, es gibt keinen Paragraphen, der sich auf diesen Vorgang bezieht. Folglich ist das Ereignis aus der Sicht eines Gerichtes nicht (rechts)relevant. Es gehört zum ausgeschlossenen Anderen und existiert, systemintern betrachtet, nicht. Anders wäre es, wenn etwa die Trennung mit körperlicher Gewaltanwendung verbunden gewesen wäre. Dann greifen die einschlägigen Paragraphen des Strafgesetzbuches und das Rechtssystem ist zuständig. Systeme organisieren sich entlang einer "Leitdifferenz", die nach innen hin Relevantes von Nichtrelevantem trennt und nach außen hin Zuständigkeiten regelt. Die großen Systembereiche der Gesellschaft, wie etwa das Rechtswesen, die Ökonomie, die Politik, das Gesundheitswesen oder die Religion folgen der Logik einer binär codierten Leitdifferenz. Das Rechtswesen orientiert sich am Gegensatz von Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit, die Ökonomie an Haben und nicht Haben, die Politik an Macht und Opposition, das Gesundheitswesen an Gesundheit und Krankheit, die Religion am Heiligen und am Gottwidrigen. Die Leitdifferenz gibt gewissermaßen die "obersten Werte" vor, denen ein System verpflichtet ist: Gerechtigkeit, Wahrheit, Gesundheit, das Heilige usw. Damit ist aber noch nicht gesagt, was denn nun inhaltlich als "Recht" oder als "Wahrheit" zu gelten hat. Um hier zu eindeutigen Kriterien zu gelangen, benötigt jedes System noch eine "Überleitungssemantik", die das regelt. So gilt im demokratischen Staat das als "Recht", was durch ein ordentliches Gesetz-

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ΠΙ. Systemtheoretische Grundlagen

gebungsverfahren beschlossen ist. Das Christentum verwendet als Überleitungssemantik die neutestamentlichen Schriften und hier wiederum besonders die Zeugnisse Jesu. Die inhaltliche Präzisierung und die semantische Auffüllung der Leitdifferenz erfolgt also systemintern. Dem externen Beobachter erscheint sie als Setzung. Dem Mitglied aber erscheint sie als Plausibilitätsstruktur und integraler Bestandteil seiner Lebenswelt. Die Kompetenzermittlung, aber auch die systeminterne Kommunikation ist durch systemeigene Steuerungsmedien geregelt. Im Rechtswesen ist der "Paragraph", in der Ökonomie das "Geld", in der Politik der "Beschluß", im Gesundheitswesen das "Medikament", in der Religion "Gott" das maßgebliche Kommunikationsmedium. In allen diesen Systembereichen zeigt sich das gleiche Bild: Das System wird erst und nur dann tätig, wenn die systemspezifische Leitdifferenz berührt ist und ein systemspezifisches Steuerungsmedium vorhanden ist und auch benutzt wird. Nur wenn es um "Rechtsfragen" geht, ist die Justiz zuständig. Nur wenn ein Paragraph berührt ist, kann sie aktiv werden. Für die Politik gilt, daß die öffentliche Verwaltung nur dann tätig wird, wenn Beschlüsse oder Anweisungen vorliegen. Für Gesunde ist das Gesundheitswesen gerade nicht zuständig, da im Falle von Gesundheit das Steuerungsmedium "Medikament" nicht greift. Das Gesundheitswesen würde folglich adäquater als "Krankheitswesen" bezeichnet. Für den Systembereich der Ökonomie hat der Volksmund den entsprechenden Sachverhalt treffend und knapp in die Redewendung "ohne Moos nix los" übersetzt. Es würde zu weit führen, an dieser Stelle bereits eine vollständig Einordnung der Religion, der Kirchen und der Kirchengemeinden in das vorgelegte Schema von Leitdifferenz und Kommunikationsmedium vorzulegen. Den Systembereich "christliche Religion" zeichnen einige Besonderheit aus, die weiter unten vertiefend dargestellt werden (s.u. Kap.V, bes. 3.: Wandlungsimpulse II). Die Einsicht in die Wirkung von Leitdifferenzen und systemspezifischen Steuerungs- bzw. Kommunikationsmedien hat sehr weitreichende Konsequenzen für das Verhältnis der Systeme zu ihrer Umwelt. Für soziale Systeme gibt es nicht die eine Welt, an der alle in gleicher Weise partizipieren und für die folglich auch alle in gleicher Weise verantwortlich sind, sondern es gibt nur das Selbst mit den Präferenzen und Prioritäten, die innersystemisch relevant sind und "den Rest" als Ressourcenquelle und als nebulösen Horizont. Systeme "verstehen" ihre Umwelt nur in dem Umfang, wie ihnen systemintern kompatibles Wissen oder adäquate Kenntnisse über Sachverhalte in der Umwelt zur Verfügung stehen. 51 Mißverständnisse, Fehldeutungen, falsche Erwartungen und Konflikte im wechselseitigen Miteinander sind von daher vorprogrammiert. Das zeigt sich in Ehe- oder Erziehungskonflikten ebenso wie im Scheitern anspruchsvoller Entwicklungshilfeprojekte. Auch die unangenehme Eigenschaft von bürokratischen Institutionen, mit den Bürgern so zu kommunizieren, als seien die ebenfalls Bürokraten (mithin auch die Kenntnis systeminterner Kom51

H.Willke: Systemtheorie, S.74: "Kommt dort etwa Umweltschutz oder Abrüstung nicht vor, so kann dies auch nicht zum Thema werden."

2. Grundbegriffe der Systemtheorie

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munikationsregeln und Verfahrensabläufe bei Nichtmitgliedern vorauszusetzen), erklärt sich aus der Eigenart der systeminternen Selektionsordnung. Systeme können nur auf das reagieren, was für sie selbst relevant und zuordnungsfähig ist. Wie selbstverständlich setzen sie voraus, daß ihre Leitdifferenz und ihre Selektionsordnung von allen anderen Systemen geteilt wird. Das aber ist nicht immer der Fall. In einer ausdifferenzierten Gesellschaft gibt es viele Systembereiche und Teilsysteme, die untereinander nicht mehr unbedingt kompatibel sind. 2. Selbstdefinition und Identitätsformel: Über die Notwendigkeit, eine Selbstdefinition^2 auszubilden, wurde bereits gesprochen. Die Selbstbeschreibung ist eine Art "Visitenkarte", auf der das System kurz und knapp Rechenschaft über sich selbst und über seine Ziele gibt: Wer sind wir? - Was wollen wir? Sie verbindet Leitideen und Anforderungen mit dem Selbstverständnis der Mitglieder und begründet so den Zusammenhalt des Systems.53 Die Selbstdefinition ist zunächst nur systemintern gültig. Sie muß sich keineswegs mit dem Urteil der Umwelt über das System oder die Mitglieder des Systems decken. Nur wenn beides zumindest in den wesentlichen Grundzügen der Fall ist, also interne Selbstzuschreibung und externe Identifikation übereinstimmen, kann man davon sprechen, daß die Selbstdefinition Identität begründet. Nur in diesem Fall ist die Selbstdefinition eine "Identitätsformel", die den Mitgliedern zur Verfügung gestellt wird.54 Auch die Selbstdefinition ist für ein System unverzichtbar. Systeme aller Größenordnungen verfugen über eine solche Selbstdefinition, auch wenn sie bei großen Systemen häufig zur Selbstverständlichkeit herabsinkt und von daher dann kaum noch als solche erkannt wird. Staaten und Nationen sind durch Selbstdefinitionen verbunden, aber auch Vereine, Familien oder Firmen. Implizit oder explizit enthält die Selbstdefinition immer auch eine "Bindungsdefinition". Die Bindungsdefmition gibt an, in welchem Ausmaß das System seine Mitglieder beansprucht, welches Maß von Systemkohärenz angestrebt wird: Geht es um angeborene Mitgliedschaften, geht es um sporadische Freizeitbeschäftigungen oder die persönliche Hingabe im Dienst an der Wahrheit? Welches Maß an Systemintegration ist angestrebt? Das schließt nicht aus, daß auf verschiedenen Ebenen des Systems unterschiedliche Bindungsintensität gefordert wird. Auch eine Dimensionierung des Systems kann Bestandteil der Identitätsformel sein. Handelt es sich um eine "verschworene Gemeinschaft" oder um eine "demokratische Volkspartei"? 52 53

54

Luhmann spricht von "Selbstsimplifikation" (Grundriß, S.624), "Systemreferenzen" (S.630) und auch von "Selbstbeschreibung" (S.234f und 618f) In der Selbstbeschreibung ist "fixiert, über was ein System kommuniziert, wenn es über sich selbst kommuniziert". - Grundriß, S.234. "Selbstbeschreibung ist nicht nur eine Art Abzeichen unter Weglassen der Details, nicht nur der Entwurf eines Modells oder einer Landkarte des Selbst; sie hat - oder jedenfalls nur so kann sie sich bewähren - zugleich die erfaßbare Komplexität zu steigern, indem sie das System als Differenz zu seiner Umwelt darstellt und an Hand dieser Differenz Informationen und Richtpunkte für Anschlußverhalten gewinnt." - Grundriß, S.235 Vgl. H.Willke: Systemtheorie, S.208

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ΠΙ. Systemtheoretische Grundlagen

Das Wort "Kirchengemeinde" ist im oben bezeichneten Sinn eine Selbstdefinition, allerdings eine in mehrfacher Hinsicht problematische Selbstdefinition. Der Begriff beantwortet nur die erste der beiden Leitfragen (Wer sind wir?), indem er Bezug auf die Referenzorganisation Kirche und damit auch auf den gesellschaftlichen Systembereich Religion nimmt. Die zweite Frage (Was tun bzw. wollen wir?) bleibt durch die Selbstdefinition unbeantwortet. Anders als etwa die Selbstbezeichnung "Freiwillige Feuerwehr" bedarf die Selbstzeichnung "Kirchengemeinde" weiterer Ergänzungen. Aber gerade an diesem Punkt fehlen einheitliche und konsensfähige Überzeugungen. Ihr öffentliches Profil verschwimmt. Eine ähnliche Feststellung läßt sich auch für die Selbstzeichnung der Mitglieder als "Christen" treffen. Der Begriff ist heute mit seiner schillernden Bedeutungsvielfalt und seiner unklaren Bindungsdefinition weit davon entfernt, als Identitätsformel brauchbar zu sein und zur Verfügung zu stehen.-55 3. Ziele, Aufgaben und Arbeitsfeld des Systems: Soziale Systeme stecken ihr Arbeitsfeld durch ein Programm ab, indem sie ihre Ziele und ihre Aufgaben festhalten. Beispielsweise lautet der Taufbefehl aus Matthäus 28,19: "Geht hin und macht alle Völker zu Jüngern und tauft sie auf den Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes". Mit diesem Taufbefehl hat Matthäus den angesprochenen christlichen Gemeinden gegen Ende des ersten Jahrhunderts ein eindeutiges Ziel zugewiesen. Sie sollen nicht unter sich bleiben und sich vor der Welt abschließen, sondern zu "allen Völkern" gehen, sie zu Jüngern machen und sie taufen. Mit diesem Ziel sind gleichzeitig die Handlungsprioritäten und die konkreten Aufgaben gesetzt. Der Missionsbefehl läßt ebenfalls gut erkennen, wie sich ein System durch die Festlegung eines konkreten Arbeitsfeldes innerhalb des Systembereichs, hier also "Religion", positioniert. Hier greifen die Leitdifferenz, die Identitätsformel und die Aufgabenbestimmung ineinander. Eindeutige Zielformulierungen sind nur möglich, wenn die maßgebliche Leitdifferenz und das Selbstverständnis des Systems geklärt sind. Von daher stellen sich im Hinblick auf das Profil und die Arbeit der evangelischen Kirchengemeinden eine Reihe von Fragen, auf die im Verlauf der Arbeit noch vertiefend zurückgekommen wird: Welche Ziele müßten in volkskirchlich orientierten Kirchengemeinden Priorität erhalten, wenn sie sich wieder darauf besinnen, daß 55

Dieses Defizit läßt sich illustrieren, wenn man Selbstbezeichnungen von Christen aus den neutestamentlichen Briefen zum Vergleich hinzuzieht. So heißt es etwa im Briefkopf des l.Korintherbriefes: "Paulus ... an die berufenen Heiligen" ( l , l f ) oder im 1.Petrusbrief: "Petrus ... an die Fremdlinge in der Zerstreuung in Pontus, Galatien, Kappadozien ... die auserwählt sind nach der Vorherbestimmung Gottes, des Vaters" ( l , l f ) . Hier war die Selbstbezeichnung zugleich auch Identitätsformel. Die Christen verstanden sich als die von Gott selbst Berufenen, Auserwählten und Heiligen. Damit waren Aussagen über ihr Selbstverständnis, die angestrebte Bindungsintensität und die Dimensionierung als Gemeinschaft der Heiligen im strikten Gegenüber zu allem Unheiligen verbunden. Der 1. Petrusbrief spricht sogar deutlich aus, daß dieses Selbstverständnis in einem krassen Gegensatz zu ihrer zahlenmäßigen Bedeutsamkeit in den Regionen Kleinasiens stand. Systemintern wurde das politische System als unbedeutender "Rest der Welt" angesehen. Das tatsächlich Bedeutsame aber ereignete sich im Systemraum der christlichen Religion. Er machte "Verstreute" zu "Heiligen".

2. Grundbegriffe der Systemtheorie

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sie dem Systembereich "Religion" angehören und seiner spezifischen Leitdifferenz verpflichtet sind? Wo und wie ist "das Heilige" im Leben der Gemeindemitglieder und in der Praxis einer volkskirchlichen evangelischen Gemeindearbeit präsent? Wie und wo sollte ihm durch die kirchliche Organisation (wieder) Raum geschaffen werden? 4. Kohärenzbildung und Kohärenzförderung (Systemprogramm): Systeme verfolgen immer zwei Ziele. Zum einen ein expliziertes Ziel, das in der Zielformulierung niederlegt ist und durch Umweltbeeinflussung und Systementwicklung erreicht werden soll. Zum anderen aber auch das Ziel des Systemerhalts. Diesem Ziel dienen die Kohärenzbildungsmittel. Sie sollen die Systemgrenzen wirksam schützen und den inneren Zusammenhalt der Systemmitglieder fördern. Kohärenzbildung und Kohärenzfestigung erfolgen durch die Festlegung von systemintern gültigen Mitgliederrollen und Spielregeln. In der Literatur werden letztere oft summarisch als "Normen und Werte" b e z e i c h n e t . 5 6 Solche Spielregeln können sehr kurz und formelhaft gefaßt sein. Ein Unternehmensberater erzählte beispielsweise, einer seiner ersten Arbeitgeber habe nur einen einzigen kurzen Satz benötigt, um ihn mit den Grundsätzen der Firmenkultur in seiner Werbeagentur vertraut zu machen: "fun and money, but fun is first". Christlich-religiöse Sozialsysteme besitzen demgegenüber einen sehr viel elaborierteren Begründungszusammenhang. Drei Gruppen von Kohärenzbildungsmitteln begründen und präzisieren die Mitgliederrollen: verbale und nichtverbale Symbolsysteme, Rituale und Normen. Ein oft übersehenes, weil alltägliches und selbstverständliches Kohärenzförderungsmittel in sozialen Systemen ist die Sprache. Auch Theorien, Ideologien oder Mythen, Leitideen oder Ideale können kohärenzbildend sein. Der Bereich der Symbolsysteme umfaßt aber nicht nur verbale Zeichensysteme. Er umfaßt auch nichtsprachliche Zeichensysteme, sofern sie Steuerungs- und Integrationsfunktionen für ein bestimmtes Sozialsystem übernehmen können. In ihrer jeweils systemspezifischen Ausprägung sind die Rituale Siegel der Systemzugehörigkeit und damit partiell weniger kohärenzbildend als vielmehr kohärenzverstärkend. Schließlich werden die "Spielregeln" des Miteinander in der Präferenzordnung als "Ethos", als Richtlinien, Anweisungen, Gesetze oder Selbstverständlichkeiten mehr oder weniger elaboriert ausgeführt und fixiert. Ihre Gültigkeit ist auf die Mitglieder des jeweiligen Systems beschränkte^ Die Kirchengemeinden partizipieren an den Kohärenzbildungs- und Kohärenzförderungsmitteln ihrer Referenzsysteme, der Landeskirchen (Kirchenordnungen; Kirchensteuern), die sich wiederum auf die Präferenzordnung der unsichtbaren 56

57

Luhmann faßt in seiner Erläuterung zum Begriff "symbolische Kürzel" unter dieser Funktion "Sollaussagen, Werte, Pflichtbegriffe, Hinweise auf Gewohnheit, Normalität, Üblichkeit" zusammen - Grundriß, S.416 Das wird zuweilen übersehen. Im Zusammenleben unterschiedlicher Völker und Kulturen kann es zu tiefgreifenden Mißverständnissen kommen, wenn die Kohärenzregelungen den Mitgliedern eines Systems als "vernünftig", "natürlich" oder "gottgegeben" erscheinen, den anderen aber u.U. als dekadent, anmaßend oder imperialistisch.

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ΠΙ. Systemtheoretische Grundlagen

Kirche Jesu Christi gründen und beziehen. Diese verschachtelte Konstruktion ist keineswegs folgenlos. Die Logik der Beziehungen wird weiter unten noch eingehend analysiert werden (s.u. Kap.V 3). 5. Die Bedeutung der Präferenzordnung für das Sozialsystem: Durch die Fixierung einer Präferenzordnung wird ein System zum System. Cum grano salis könnte man sogar behaupten, die Präferenzordnung ist das System. Eine intakte Präferenzordnung schützt das System vor Konturverlust oder Selbstauflösung, sie gibt ihm Eigenständigkeit und Handlungsfähigkeit. Es kann seine innere Organisation und seine Entscheidungen an intern fixierten Grundsätzen ausrichten und sie von diesen Grundsätzen her auch wieder kontrollieren, und es besitzt Umweltautonomie: Es kann "von Umweltereignissen nur zu eigenen Operationen angeregt oder angestoßen, nicht aber determiniert w e r d e n " . D i e kollektive Handlungsfähigkeit macht aus einer mehr oder weniger unverbindlich versammelten Gruppe von Individuen überhaupt erst ein soziales System. Die Menschen erfüllen das System zwar mit Leben, aber sie sind nur dann und nur so lange als Bestandteil des Systems anzusehen, wie sie sich in der systemspezifischen Rolle von "Mitgliedern" an der Präferenzordnung orientieren und von der Präferenzordnung leiten lassen. Umgekehrt bestehen Systeme nur so lange, wie es ihnen gelingt, Menschen zu motivieren, ihr Verhalten (zeitlich befristet) an der eigenen Präferenzordnung zu orientieren. Dieser Gedanke wird im folgenden Abschnitt ("Systementwicklungsmodell") näher erläutert werden. Ist die Präferenzordnung fertiggestellt, dann konserviert das System fortan die systeminternen Umstände, Umwelteindrücke und Argumente seiner eigenen Ursprungssituation(en). Es ist nicht ungewöhnlich, daß in einem sozialen System "die Uhren langsamer" gehen oder "die Zeit still steht", vielmehr ist das eine der Folgen der Umweltautonomie des Systems. Hier tickt eine Zeitbombe. Systeme leben gewissermaßen von und mit den Zeitaspekten, die sie ursprünglich einmal gespeichert haben. In den stratifikatorischen Gesellschaften vergangener Jahrhunderte ist das kaum ins Gewicht gefallen. In den dynamischen Gesellschaften der Gegenwart aber wird schnell erkennbar, daß alle Sozialsysteme ständig der Gefahr unterliegen, "unzeitgemäß" zu werden und das heißt, sukzessive imkompatibel mit ihrer Umwelt. Präferenzordnungen werden zu Ordnungen auf Zeit. Daß Wirtschaftsunternehmen die Konjunkturzyklen zu Erneuerungsprozessen nutzen, ist geläufig. Daß sie sie nutzen müssen, wenn sie mittelfristig die Versorgung des Systems mit Ressourcen und damit auch ihren Existenzerhalt sichern wollen, ist zwar ebenfalls bekannt, aber keineswegs immer auch akzeptiert. Die Übertragung dieser Einsicht auf Landeskirchen und Kirchengemeinden aber trifft nicht selten auf energische Zurückweisung. Im fünften Kapitel werden die verschiedenen Wandlungsimpulse, die auf die Landeskirchen einwirken, deshalb systematisch erfaßt und in ihren Auswirkungen dargestellt werden. 58

H.Willke: Systemtheorie, S.68; "Es gibt keinen direkten Kausalzugriff der Umwelt auf das System ohne Mitwirkung des Systems." - N.Luhmann: Grundriß, S.478. Man denke etwa an das Scheitern von UNO Boykottbeschlüssen.

3. Systementwicklungsmodell - Der Mensch

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3. Die Bedeutung des Menschen im Prozeß der Systementstehung - Ein Systementwicklungsmodell Der Frage, welche Bedeutung der Mensch in Sozialsystemen hat, gilt themenbedingt ein besonderes Interesse der Darstellung. Auch hier lassen sich die Zusammenhänge in Frühstadien der Systementwicklung wieder deutlicher erkennen, als dies in späteren Stadien möglich ist. Sozialsysteme entstehen aus der unmittelbaren zwischenmenschlichen Kommunikation. Sie werden von Menschen "gemacht" und sie können ohne Menschen weder entstehen noch überleben. Aus dieser Einsicht heraus stellt sich die Frage, wie es denn möglich ist, daß der einzelne in vielen Großsystemen nahezu keine Bedeutung mehr hat. Diese und andere Fragen lassen sich beantworten, wenn man die Stadien der Systementwicklung systematisch darstellt und dabei der Aktivität der jeweils beteiligten Akteure besondere Aufmerksamkeit zukommen läßt. Aus diesem Grund wird hier nun ein einfaches Modell der Systementstehung vorgetragen. Drei Stufen der Systementstehung werden unterschieden, das Stadium der elementaren Interaktion, das Stadium des "Quasi-Systems" und das Stadium des "Systems". Jeweils zwischen diesen drei Stadien kommt es zu charakteristischen Veränderungen und Weichenstellungen, die das nächsthöhere Stadium vorbereiten. Diese Zwischenstadien werden ebenfalls dargestellt. Einige modelltheoretische Vorbemerkungen werden vorangestellt. a) Modelltheoretische Vorbemerkungen Im folgenden wird das erkenntnistheoretische Programm der Modelltheoretiker verwendet, die nicht allein Begriffsdefinitionen und Hypothesenbildungen als Formen wissenschaftlicher Arbeit ansehen, sondern wissenschaftliche Arbeit auch als Modellbildung und Modellanalyse v e r s t e h e n . 5 9 Wissenschaftliches Arbeiten ist, wo es modelltheoretisch verstanden wird, vor allem wechselseitiger Differenzabgleich. Ein hypothetisches Modell wird mit einem Untersuchungsgegenstand konfrontiert. Aus feststellbaren Differenzen und Identitäten zwischen beidem erwächst wissenschaftliche Erkenntnis. Wegen der eindeutigen Überprüfbarkeit der Prämissen und der erzielten Ergebnisse ist modelltheoretisches Arbeiten gerade zur Untersuchung komplexer Gegenstände geeignet. Es ist allerdings zu berücksichtigen, daß das Verfahren klaren methodischen Einschränkungen unterliegt. Modelle sind immer selektiv. "Kein Modell gibt das Original vollständig wieder, sondern jedes konzentriert sich auf bestimmte E i g e n s c h a f t e n " . ^ Schon durch die Auswahl der Kriterien ist modelltheore59

60

Zum Modellbegriff vgl. M. Black: Models and Metaphors, London 1962, der verschiedene Arten von Modellen unterscheidet (Dimensionsmodell, Analogiemodell, theoretisches Modell) und Modelle als "sustained and systematic metaphors" ansieht (S.236); J.Petersen / H.W.Erdmann: Strukturen II, S.26-37 H.-D. Bastian: Kommunikation, Stuttgart u.ö. 1972, S.31

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ΠΙ. Systemtheoretische Grundlagen

tisches Arbeiten auf bestimmte Aspekte des Gegenstandes beschränkt. Die Berechtigung und die Qualität der Modelle erweist sich erst an der "Brauchbarkeit" der Ergebnisse, die sie hervorzubringen vermögen. Brauchbarkeit ist stets ein relativer Begriff. Er zielt auf den Erkenntnisfortschritt ab, der sich durch die Differenz zu anderen, bereits eingeführten Methoden und Modellen ergibt und signalisiert, daß bei Auswahl anderer Kriterien durchaus auch andere Modelle möglich sind. Jedes Modell läßt sich durch andere Fragestellungen ablösen, durch weitere Variablen ergänzen oder durch bessere ersetzen. In diesem Sinne hat auch das hier anvisierte Modell einen forschungsgeschichtlichen Kontext, auf den zunächst eingegangen werden soll. Niklas Luhmann hat darauf verzichtet, ein Gesamtmodell der Systementstehung und -entwicklung vorzulegen. Er interessierte sich mehr für die signifikanten Unterschiede zwischen verschiedenartigen Sozialsystemen und hat deshalb drei "Typen" von Systembildung6! analysiert: "elementare Interaktion " 6 2, "Organisation"^ und "Gesellschaft". Der Gesellschaft kommt eine besondere Bedeutung zu, da sie es ist, die eine "selbstselektive Strukturbildung"64t a i s o die Entstehung von Interaktionssystemen und Organisationen, überhaupt erst ermöglicht und fördert. "Die Gesamtgesellschaft bleibt mit Organisationssystemen und mit Interaktionssystemen kompatibel, weil sie für diese eine geordnete Umwelt ist". 65 Luhmann räumt zwar ein, daß eine vollständige Trennung der drei Systemebenen "nicht möglich" 66 ist, aber er verzichtet darauf, ihr Zusammenspiel zu untersuchen. Friedhelm Neidhardt6^ und Hartmann Tyrell 68 haben Luhmanns Systemtypologie um einen vierten Systemtyp ergänzt, die "Gruppe". Sie schlagen vor, die Gruppe zwischen dem Systemtyp Interaktion und dem Systemtyp Organisation anzusiedeln.6^ Helmut Willke hat diesen vierten Systemtyp in seiner "Einführung" berücksichtigt. Er ist aber noch einen Schritt weitergegangen und hat die Systemtypen unterhalb der Gesellschaftsebene mit Hilfe der Konzeption einer "Entwicklungsspirale" v e r b u n d e n S t a t t von "Gruppen" spricht er von "Quasi-Systemen"71 und wählt damit einen allgemeineren Begriff. Den Begriff "System" verwendet er u.a. auch schon zur Bezeichnung von "Vereinen" und führt als Kriterium für den Systemstatus das 61 62 63 64 65 66 67 68 69 70 71

N. Luhmann: Interaktion N. Luhmann: Einfache Sozialsysteme, in: Soziologische Aufklärung II, S.21-38 N. Luhmann: Allgemeine Theorie organisierter Sozialsysteme, in: Soziologische Aufklärung II, S.39-50 N. Luhmann: Allg. Theorie, S.46 N. Luhmann: Interaktion, S.19 N. Luhmann: Interaktion, S.14 F.Neidhardt: Das innere System sozialer Gruppen. Ansätze zur Gruppensoziologie, in: KZS 31/1979, S.639-671 H.Tyrell, Zwischen Interaktion und Organisation I: Gruppe als Sondertyp, in: Sonderheft der KZS Nr.25/1983, S.75-87 Vgl. G.Kiss: Grundzüge, S.38-41 H.Willke: Systemtheorie, S.83 H.Willke: Systemtheorie, S.76

3. Systementwicklungsmodell - Der Mensch

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Vorhandensein von "kollektiver Handlungsfähigkeit" ein. Die nachfolgende Darstellung folgt Willke in dieser Entscheidung. Da das hier verfolgte Intersse aber, wie eingangs erwähnt, stärker dem individuellen Mitgliederbezug gilt, wird größeres Gewicht auf die Herausarbeitung der normativen Entwicklungskrisen gelegt und von daher dann auch der zyklische Charakter der Systementwicklung stärker hervorgehoben werden. Wie Modellbildung von interessegeleiteten Vorentscheidungen abhängig ist, so verleitet sie auch zu Fehl- oder Überinterpretationen. Auch das soll nicht unerwähnt bleiben. Das Phasenmodell der Systementwicklung ist keineswegs für jedes soziale System brauchbar oder maßgeblich. Zum einen führt nicht jede Interaktionssituation auch zur Bildung eines Quasi-Systems, und nicht jedes Quasi-System mündet in einen Prozeß der Systembildung ein. Auf jeder Entwicklungsstufe kann der Prozeß enden, weil man nicht weiter kann oder auch, weil man gar nicht weiter will. So lebt das in der heutigen Jugendkultur verbreitete Sozialmuster der "Clique" gerade davon, daß eine institutionelle Verfestigung nicht vorgesehen ist. Konstant ist hier gerade der ständige Wechsel. Zum anderen haben keineswegs alle Systeme auch einen langwierigen Entstehungsprozeß über mehrere Vorstufen hinter sich. Man kann selbst hochkomplexe Sozialsysteme durch Beschluß ins Leben rufen und die Vorstufen der Entwicklung stark verkürzen oder fast gänzlich überspringen. Das Beispiel der "Treuhand"-Gründung nach der Wiedervereinigung des Jahres 1989 zeigt das deutlich. Das Systementwicklungsmodell, das hier im folgenden vorgestellt werden wird, sollte also nicht überstrapaziert werden. Auch sollte man stets berücksichtigen, daß Systembildung in der Praxis weniger gradlinig verlaufen kann, als dies durch die modellhafte Art der Darstellung suggeriert wird. Das wird deutlich werden, wenn im vierten Kapitel der Arbeit Aspekte der Entstehungsgeschichte der frühchristlichen Kirchengemeinden dargestellt werden. Die Systementstehung und die Systementwicklung des Christentums ist keineswegs so gradlinig erfolgt, wie es das Modell suggerieren könnte. Gleichwohl besitzt aber schon das relativ schlichte Systementwicklungsmodell einen nicht unerheblichen Erklärungswert im Blick auf das Selbstverständnis der evangelischen Landeskirchen und die konkurrierenden Konzeptionen der evangelischen Gemeindearbeit. b) Kriterien und Faktoren der Modellbildung Der Prozeß der Systementstehung und -entwicklung bis hin zum System soll in einem Phasenmodell erfaßt werden. Die Auswahl der einbezogenen Systemvariablen erfolgte im Hinblick auf den untersuchten Gegenstand, die Kirche und die Kirchengemeinde. Folgende Faktoren wurden ausgewählt: Systemkomplexität, Kontingenz, Kohärenz, Zeithorizont und Zeitgebundenheit des Systems, Eintritts- und Austrittsbedingungen, Entwicklung der Präferenzordnung, phasenspezifische Systemkrisen. Diese Faktoren werden in ihrer relativen Veränderung jeweils von Phase zu Phase betrachtet werden. Hinzu treten noch zwei

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ΙΠ. Systemtheoretische Grundlagen

Aspekte, die für die Frage nach dem Stellenwert des Menschen im Sozialsystem besonders wichtig sind, die Bedeutung der Mitgliederidentität und die Veränderungen der Mitgliedermotivation. c) Elementare Interaktionsituationen ( = Stufe 1) Zwei Personen, die in der Lage sind, in einer sinnhaft verstehbaren Weise miteinander zu kommunizieren, begegnen sich zur gleichen Zeit am gleichen O r t . O r t und Zeit des Zusammentreffens (im Supermarkt, an der Verkehrsampel, im Bahnhof) wirken sich auf die Art und den Inhalt ihrer Kommunikation aus. Die Situation ist bestimmt durch geringe Komplexität (zwei Teilnehmer) und doppelte Kontingenz. Da man sich gegenseitig nicht kennt, verhält man sich entsprechend: "Situationen mit doppelter Kontingenz erfordern gewiß, um Kommunikation überhaupt in Gang bringen zu können, ein Mindestmaß wechselseitiger Beobachtung und ein Mindestmaß an auf Kenntnissen gegründeter Erwartungen. Zugleich ist durch die Komplexität solcher Situationen ausgeschlossen, daß die Beteiligten einander voll verstehen, und zwar für jede Variante des S y s t e mV o l l z u g s ^ t die jeder für sich ins Auge f a ß t Diese Situation prägt das umsichtige Kommunikationsverhalten der beiden Teilnehmer, die Luhmann als "Ego" und "Alter" bezeichnet. "Alter bestimmt in einer noch unklaren Situation sein Verhalten versuchsweise zuerst. Er beginnt mit einem freundlichen Blick, einer Geste, einem Geschenk - und wartet ab, ob und wie Ego die vorgeschlagene Situationsdefinition annimmt. Jeder darauf folgende Schritt ist dann im Lichte dieses Anfangs eine Handlung mit kontingenzreduzierendem, bestimmendem Effekt - sei es nun positiv oder n e g a t i v " . 7 5 Interaktionssituationen werden als vorläufiges, flüchtiges und leicht zu beendendes Miteinander erlebt. Sie haben einen kurzen Zeithorizont und sind sehr instabil. Sie setzen keine Bindungsbereitschaft voraus und ziehen keine Bindungsverpflichtung nach sich. Die Themen, die angesprochen werden, sind von ähnlicher Art, unverbindlich, flüchtig, leicht zu wechseln. Die Persönlichkeit der einzelnen Teilnehmer dominiert und bestimmt den Interaktionsverlauf. Es herrschen schwach oder gar nicht ausgeprägte Gemeinsamkeiten vor. Die Sympathielage ist von außen her nicht bestimmbar. Sympathien können einseitig oder beidseitig, sehr stark oder aber gar nicht vorhanden sein. Was sich ereignet, bezeichnet Luhmann als "Transformation von Zufallen in Strukturaufbauwahrscheinlichkeiten" .76 72 73

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Zum folgenden: N.Luhmann: Interaktion; N.Luhmann: Sozialsysteme; N.Luhmann: Grundriß, S.551-592; H.Willke: Systemtheorie, S.76-142 Luhmann verwendet den Systembegriff auch für elementare Interaktionssituationen (vgl. Grundriß, S.566f). Ich folge stattdessen H.Willke und verstehe Interaktionssituationen als Vorstufe der Systementstehung. N.Luhmann: Grundriß, S.155 N.Luhmann: Grundriß, S. 150 N.Luhmann: Grundriß, S.170f

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d) Auf dem Weg zum Quasi-System Wenn zwei oder mehr Menschen in einer Interaktionssituation ein gemeinsames Thema "entdecken" und sich Zeit nehmen, es eingehender zu besprechen, begeben sie sich auf den Weg zur Bildung eines Quasi-Systems. Gegenüber der mehr oder weniger unverbindlichen Situation elementarer Interaktion kommt es bereits zu einigen charakteristischen Veränderungen: Der Zeithorizont wird verlängert und die Beliebigkeit der Themenwahl nimmt ab. Es kommt zu einem Erfahrungsaustausch und damit zu gegenseitiger Wissensvertiefung. Doppelte Kontingenz wird "abgearbeitet". "Die abgearbeitete doppelte Kontingenz wirkt dann als Kommunikationserleichterung und als Kommunikationsbarriere zugleich; und die Festigkeit solcher Grenzen erklärt sich daraus, daß das Wiederzulassen völlig unbestimmter Kontingenzen zu den Unzumutbarkeiten gehört. Man kann die Grenzen immer noch verschieben, den Zumutbarkeitsbereich ausweiten oder einschränken; aber dies ... nur noch punktuell, nur noch für bestimmte T h e m e n " . D i e Komplexität der Situation bleibt gering, aber die Kontingenz nimmt ab. Kohärenz beginnt sich zu entwickeln. Es herrscht zwar weiterhin keine Bindungsverpflichtung. Möglicherweise bildet sich aber eine intrinsisch motivierte Bindungsbereitschaft heraus, die durch Sympathie und das Interesse am gemeinsamen Thema begründet wird. Antipathie oder radikaler Dissenz führen in diesem Stadium zum Kommunikationsabbruch. Werden weitere Personen zum Gespräch hinzugezogen und weitere Treffen verabredet, kann es zur Ausbildung eines Quasi-Systems kommen. e) Quasi-System (= Stufe 2) Die Anzahl der beteiligten Personen ist überschaubar gering, sie beträgt aber mehr als zwei oder drei. Der Zeithorizont ist ausgeweitet, da die Wiederholung der Zusammenkünfte vorgesehen ist. Im Mittelpunkt steht ein gemeinsames Thema (oder ein gemeinsames Tun), das nun nicht mehr flüchtig und leicht austauschbar ist. Leitideen entwickeln sich, die Kontur einer späteren Identitätsformel zeichnet sich ab. In dieser Phase ist noch sehr deutlich erkennbar, daß alles, was innerhalb des Quasi-Systems an Wichtigkeit gewinnt, einer signifikanten Umwelt entstammt oder entnommen wird. Zunächst einmal die Menschen, die sich um ein Thema versammeln. Aber mit diesen Menschen finden sich eben auch die bewußten und unbewußten Grundmuster der jeweiligen Kultur und Gesellschaft ein. Sprache, Rituale, Erziehungsnormen, Einstellungen und Problemhorizonte, all dies wird unter dem "Eindruck" der jeweiligen Zeitumstände aus der Umwelt übernommen und bleibt auch dann noch nachhaltig wirksam, wenn es später einmal systemintern verankert worden ist. Durch intensive Beschäftigung mit dem Thema bildet sich der Typus des "Gleichgesinnten" heraus. Es herrscht kein radikaler Dissenz. Gemeinsamkei77 N.Luhmann: Grundriß, S.179

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ΙΠ. Systemtheoretische Grundlagen

ten stehen im Vordergrund, und mögliche Ziele und Aufgabenbereiche, denen das Hauptaugenmerk zugewandt wird, kristallisieren sich heraus. Mit der Verlängerung des Zeithorizontes und der Häufigkeit der Treffen entwickeln sich auch Wiederholungszeremonien, Rituale und Symbole der Zugehörigkeit. Eine "tragbare Kontingenz des Verhaltens"^ wird ausbalanciert. Kontingenzspielräume schrumpfen, die numerische Komplexität steigt an, ebenso wächst die Kohärenz. Mit der numerischen Komplexität steigt gleichzeitig auch die kognitive Komplexität an: Die strategische Beschränkung auf ein Leitthema ermöglicht einen intensiveren Erfahrungsaustausch, eingehendere Beschäftigung, Vertiefung der Fähigkeiten und des damit zusammenhängenden Wissens, kurz, sie bringt die Vorteile von Spezialisierung mit sich. Da die einzelnen Teilnehmer über unterschiedliche Fähigkeiten verfügen und qualitativ wie quantitativ unterschiedliche Ressourcen einbringen, bilden sich ohne steuernde Eingriffe Schwerpunkte der Zuständigkeiten heraus. Vorformen der späteren systeminternen Rollendifferenzierung prägen sich aus. Weiterhin ist die Identität des einzelnen maßgeblich für den Interaktionsverlauf. Jeder entscheidet selbst darüber, was ihm an dem Thema wichtig ist und was er einbringt. Es herrscht keine Bindungsverpflichtung, wohl aber Selbstbindung in Form einer intrinsisch wirksamen Motivation: Sympathien und / oder ein starkes Interesse am Thema bewirken, daß die einzelnen Mitglieder des QuasiSystems anwesend sind und auch anwesend bleiben wollen. Äußerer Druck ist nicht wirksam. Es gibt keine KonformitätsVerpflichtung, wohl aber Mehrheitsmeinungen. Die Auseinandersetzung mit "Abweichlern" ist in dieser Phase ein probates Mittel, um die innere Kohärenz zu festigen und das inhaltliche Profil zu schärfen. Das Quasi-System braucht den "Gegenspieler" in den eigenen Reihen und profitiert von seiner Anwesenheit. Eintritt und Austritt aus dem Quasi-System sind leicht möglich und auch durchaus üblich. Sie erfolgen im Rhythmus der sich ausbildenden Leitideen und der Verfestigung der internen Verhaltensmuster. Die daraus resultierende hohe Fluktuation wird von denen, die bleiben, zwar als unangenehm, aber auch als unvermeidlich erlebt. Da die Kohärenz zum überwiegenden Teil von der intrinsischen Motivation der Mitglieder getragen ist und sich die exakte Abgrenzung und Profilierung des gemeinsamen Themas erst im Laufe der Zeit herausschält, ist das QuasiSystem labil und störanfällig. Selbstschutz- und Selbsterhaltungsfähigkeiten sind erst rudimentär entwickelt. Die Gefahr einer Deformation durch sekundäre Interessen, einer Funktionalisierung im Dienste anderer Themen und Zwecke oder auch der Fehlinterpretation des Systemzwecks ist groß. Erst nach und nach verfestigen sich die Selbsterhaltungsfähigkeiten. Soziale Kontrolle erfolgt durch Abstimmung und Bildung von Mehrheitsmeinungen.

78 79

N.Luhmann: Sozialsysteme, S.30 "Konflikte erreichen zugleich, was man mit Loyalitätsappellen vergeblich zu erreichen versucht: eine hohe Bindungswirkung ... Wer seinen Feind verliert, wird dann eine eigentümliche Leere fühlen; ihm fehlen die Handlungsmotive, auf die er sich verpflichtet hatte." - N.Luhmann: Grundriß, S.533

3. Systementwicklungsmodell - Der Mensch

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f) Vom Quasi-System zum System In dem Augenblick, wo die Mitglieder des Quasi-Systems den Beschluß fassen, aus der gelegentlichen Beschäftigung mit "ihrem" Thema eine kontinuierliche Beschäftigung zu machen, entsteht die Notwendigkeit, das Quasi-System zum System weiterzuentwickeln. Der Entschluß zieht eine Reihe von Konsequenzen für die Beschlußfassenden nach sich. Zunächst verändern sich Mitgliedschaftsnormen. Durch den verlängerten Zeithorizont und den Vorsatz zur Systemgründung entsteht ein völlig neues Verbindlichkeitsniveau. Aus der intrinsisch motivierten Bindungsbereitschaft der einzelnen Teilnehmer wird nun eine selbstgewählte Bindungsverpflichtung. Die Einzelidentität beginnt fortan in den Hintergrund zu rücken. In den Vordergrund schiebt sich mehr und mehr die gemeinsame "Idee", die gemeinsame "Aufgabe", die gemeinsame "Sache". Dadurch entsteht zum erstenmal auch ein Ansatzpunkt für soziale Kontrolle: Wer jetzt weiter mitarbeitet, von dem wird erwartet, daß er primär an der Sache interessiert ist und nicht ausschließlich wegen seiner Sympathien zu anderen Teilnehmer/innen am Prozeß beteiligt ist. Darüberhinaus wird erwartet, daß er bereit ist, partiell, aber doch erkennbar, eigene Ressourcen in die Entwicklung der gemeinsamen "Sache" einzubringen: freie Zeit, Geld, Beziehungen und Kontakte, eigene Ideen zum Thema. Das Quasi-System beginnt, spürbar in die Freiheits- und Verfügungsbereiche des einzelnen einzugreifen. Das führt im Systemgefüge des Quasi-Systems zu einer "Entscheidungskrise", der früher oder später jedes einzelne Mitglied unterworfen wird. Die Entscheidungskrise äußert sich in der Frage: "Was ist mir wichtiger, die gemeinsame Sache oder meine persönlichen Freiheitsspielräume?" Wer das Zweite bejaht, wird das Quasi-System verlassen.80 Wer sich für das Erste entscheidet, wird anschließend mit erhöhter intrinsischer Motivation weiterarbeiten, den Einsatz für die gemeinsame Sache verstärken und damit die Erfolgschancen des Projektes erheblich verbessern. Die Krise bewirkt also eine strategische Mitgliederselektion, sie reduziert die interne Kontingenz und verstärkt die Kohärenz. Wie sich noch zeigen wird, ist fortan jede Etappe der Systementwicklung von Krisen begleitet. Die Entscheidungskrise ist nur die erste Krise in einer langen Reihe weiterer Krisen, die stets auf signifikante Veränderungen im Systemgefüge folgen. Alle Krisen haben den eben skizzierten zweiseitigen Effekt. Stets lösen sie einen Mitgliederschwund aus. Andererseits aber ermöglichen sie gerade dadurch auch einen neuen Entwicklungsschub. Wenn ein System in der Krise nicht untergeht, geht es gestärkt aus ihr hervor. Systementwicklung vollzieht sich nicht kontinuierlich oder linear, sondern in Wellen oder Schüben. Auf Phasen des Rückschlags folgen neue Phasen gesteigerter Leistungsfähigkeit und verstärkten Wachstums, vorausgesetzt, die Krise konnte erfolgreich bewältigt werden. 80

Für dieses Stadium der Systementwicklung gilt, "daß ein Kontaktbereich frei gewählt wird, in dem man dann den wechselseitigen Anpassungen ausgesetzt ist und den man nur als ganzen wieder aufgeben kann." - Luhmann, Grundriß, S.188

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ΠΙ. Systemtheoretische Grundlagen

Wenn das Quasi-System unter der Entscheidungskrise nicht zerbrochen ist, verfügt es anschließend über gestärkte Selbstschutz- und Selbsterhaltungsfähigkeiten. Die Gefahr einer Deformation durch Sekundärinteressen ist geringer geworden. Die Steuerungsfunktion der Sympathiekomponente tritt in den Hintergrund. Die Fertigstellung der Präferenzordnung wird zur Hauptaufgabe. Sie erfordert die verstärkte Zuführung von Ressourcen und eine Intensivierung der internen Kommunikation. Über der Arbeit an der Präferenzordnung kommt es erneut zu einer paradoxen Situation. Das Individuum, das sich zunächst in freier Entscheidung dem Systemzweck, der gemeinsamen "Sache", nachgeordnet hat, hat durch diese Selbstbeschränkung nicht etwa an Gewicht und persönlicher Bedeutung verloren, es hat vielmehr gewonnen. Im Prozeß des Ringens um die Ausgestaltung und Abgrenzung der Präferenzordnung^l besitzen die einzelnen Beteiligten die größten Einflußmöglichkeiten. Ist die Präferenzordnung erst erstellt, werden sie diesen prägenden Einfluß nicht mehr haben und nie wieder erlangen. Die Überschaubarkeit der Situation, die direkte Kommunikation, die hohe intrinsische Motivation der Beteiligten und die unmittelbaren persönlichen Einfluß- und Gestaltungsmöglichkeiten bewirken ein Optimum an persönlichem Interesse und Einsatz für die gemeinsame Aufgabe. Die Umkehr der Bindungsverhältnisse setzt sukzessiv ein. Während sich zunächst die Mitglieder an das Quasi-System gebunden haben, beginnt nun das Quasi-System durch die immer deutlichere Fixierung der Zugehörigkeitsnormen, seine Mitglieder zu binden. In zunehmendem Maß kann dann auch soziale Kontrolle ausgeübt werden. Sie wird in dieser Phase der Systementwicklung aber noch nicht als Systemkontrolle bzw. Systemdruck erlebt, denn die Mitglieder verstehen sich selbst noch als "Hüter und Pfleger der gemeinsamen Idee" oder Aufgabe. Die Kontrollmechanismen sind im Bewußtsein der Mitglieder noch zurückgebunden an die individuelle Verantwortung für "das Gelingen des Ganzen". Es lebt das Bewußtsein, daß man sich die Regeln ja selbst gegeben hat, denen man sich anschließend unterwirft. Auf dem Weg zur Systembildung entwickelt sich als erste "emergente Eigenschaft" 82 ein Gruppenbewußtsein, ein "Wir-Gefühl". Die Teilnehmer verstehen sich nun selbst als "Mitglieder" und lassen sich von ihrer Umwelt auf ihr Interesse oder Engagement hin ansprechen. Das Quasi-System, das hinter ihnen steht, bleibt vorerst noch im Dunkeln. Von außen ist nicht zu erkennen, ob es sich um "Liebhaber", "Spezialisten" oder "Spinner" handelt, die sich da um ein bestimmtes Thema herum versammeln, und "was sie eigentlich vorhaben". 81

82

Die "Festlegung von Bedingungen, unter denen Zusammenhänge zwischen Elementen hergestellt werden bzw. nicht hergestellt werden" bezeichnet Luhmann als "Konditionierung" - Grundriß, S.537 vgl. S. 44 und 185 Der Begriff "Emergenz" bezeichnet "Eigenschaften eines Systems, die aus den Eigenschaften seiner Elemente nicht erklärbar sind, die mithin neu und charakteristisch nur und erst für die Ebene [ = Entwicklunsphase R.R.] des jeweiligen Systems sind" (H.Willke, Systemtheorie, S.278). "Mit dem Überschreiten einer 'kritischen Masse' an Komplexität können Systeme nicht mehr adäquat als Aggregation von Teilen begriffen werden." H.Willke, Systemtheorie, S.156

3. Systementwicklungsmodell - Der Mensch

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Je länger der Zeithorizont wird und je mehr die numerische und die kognitive Komplexität des Quasi-Systems anwächst, desto schneller nähert sich das Quasi-System einer weiteren Krise, die man als "Überlastungskrise" bezeichnen kann. Da die einzelnen Mitglieder noch relativ autonom sind und niemand gegen seinen Willen zu bestimmten Konzessionen gezwungen werden kann, muß (auch wenn sich Kompetenzbereiche bereits abzeichnen) zumindest theoretisch jedes auftauchende Problem von sämtlichen Mitgliedern so lange diskutiert werden, bis das Resultat von allen akzeptiert wird. Endlose, zermürbende Debatten wären notwendig, weil Konsens, und damit eine erste Form der sozialen Kontrolle, nur über Einvernehmen (in begrenztem Maß auch über Abstimmungen) erzeugt werden kann. In den 70er Jahren gab es im studentischen Milieu zahllose Wohngemeinschaftsexperimente, in denen versucht wurde, diese Krise zu institutionalisieren, statt sie zu lösen. Aus dieser Zeit ist das Ergebnis noch gut bekannt: Wenn ein Quasi-System die Überlastungskrise nicht bewältigt, stirbt es an Kräfteverschleiß, Mitgliederschwund und innerer Auszehrung. Zur Bewältigung der Überlastungskrise bietet sich die strategische Differenzierung des Quasi-Systems an. Segmente, Zuständigkeitsbereiche und Kompetenzen werden isoliert, Verfahrensabläufe werden standardisiert und einzelnen Mitgliedern federführend zugewiesen. Interne Arbeitsteilung ist eine erste Form der Rollendifferenzierung. Im Idealfall wäre dann nicht mehr jeder für alles zuständig, sondern jeder nur noch für das, was er am besten kann. Positive Effekte stellen sich ein: Befreiung von lästigen und ungeliebten Dauerverpflichtungen, bessere Überschaubarkeit des Quasi-Systems, neue Freude am eigenen Beitrag und damit gesteigerte Motivation, insgesamt eine deutlich verbesserte Leistungsfähigkeit. So vielversprechend dieser Schritt ist, er wird doch keineswegs von allen Mitgliedern auch mitgetragen, denn Aufgaben- und Rollendifferenzierung bedeutet gleichzeitig eine partielle Entmündigung der Mitglieder. Mitspracherechte, Einfluß- und Entscheidungsmöglichkeiten gehen verloren, und nicht jeder empfindet das als Erleichterung oder Befreiung. Wenn darüberhinaus der Idealfall nicht gegeben ist und für manche Funktionen mehrere Personen (mit unterschiedlichen Fähigkeiten und Ansichten) konkurrieren, für andere aber nur schlecht qualifizierte Personen zur Verfügung stehen, dann kann diese Krise Frustration erzeugen und einen Mitgliederschwund produzieren, ehe es zur Leistungssteigerung des Quasisystems kommt. Der Eintritt in das Quasi-System ist immer noch relativ leicht möglich. In zunehmendem Maße wird zwar, wer neu hinzukommt, auf die bereits feststehenden Elemente der Präferenzordnung und die Akzeptanz der bereits getroffenen "Personalentscheidungen" verpflichtet. Es wird erwartet, daß er sie akzeptiert und zu seiner "eigenen Sache" macht. In diesem Fall steht aber selbst einer relativ kurzfristigen Übernahme von Mitsprache- und Entscheidungskompetenzen, also einer vollständigen Systemintegration, nichts im Wege. Auch der Austritt aus dem Quasi-System ist leicht möglich. Er kann jederzeit ohne "Gesichtsverlust" vollzogen werden.

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ΙΠ. Systemtheoretische Grundlagen

Im fortgeschrittenen Stadium der Arbeit an der Präferenzordnung kommt eine weitere emergente Eigenschaft hinzu: Die Orts- und Zeitbindung wird aufgehoben. Vorfassungen der Präferenzordnung lassen sich niederschreiben, vervielfältigen und verschicken. Die Arbeit an der Präferenzordnung kann nun zeitversetzt und / oder auch an mehreren Orten parallel betrieben werden. "Abweichungen" werden immer weniger durch Debatte und Mehrheitsentscheid festgestellt, sondern zunehmend "nach Maßgabe der Präferenzordnung" (in Ansätzen auch: der delegierten Kompetenzen) entschieden. Die Grundlinien der Präferenzordnung werden zu maßgeblichen Richtungsanzeigern für die Bewältigung von Konflikten und die weitere Systementwicklung. Die feststehenden Bestandteile der späteren Präferenzordnung haben selbstreferentielle Eigenschaften. Das Ringen um den richtigen Weg ("Was sollen wir tun?") wird dadurch mehr und mehr überführt in ein Ringen um die richtige Auslegung des bereits Fixierten ("Was bedeutet das also in unserem Fall?"). Der Typus des "Sachwalters" etabliert sich. Ehe noch der Systemstatus erreicht ist, gesellen sich zu den Visionären die Interpreten. Die Stunde der Interpreten ist allerdings nicht zu verwechseln mit der Stunde der Dogmatiker, denn die Präferenzordnung ist noch "weich". Sie hat noch nicht das letzte Maß an allgemeiner Verbindlichkeit erreicht. Es herrscht nach wie vor das Bewußtsein, daß sie von Menschen gemacht worden ist und folglich auch weiterhin von Menschen geändert werden kann. Erst wenn sie das Quasi-System als System etabliert hat, härtet die Präferenzordnung aus. Dann erst wird sie Richtschnur und Kontrollinstrument für den Systemprozeß.

g) Einfache Sozialsysteme ( = Stufe 3) Ist die Präferenzordnung in den grundsätzlichen Teilen fertiggestellt und auch von den (verbliebenen) Teilnehmern akzeptiert, dann ist der Systemstatus erreicht. Aus Teilnehmern und Interessenten werden nun "Mitglieder". Die Angehörigen eines Systems müssen ihre soziale Gemeinschaft nicht unbedingt als "System" ansehen. Sozialsysteme haben viele Namen. Sie heißen beispielsweise "Firma", "Verein", "Partei" oder "Bürgerschaft". Auch Präferenzordnungen haben viele Namen. Sie heißen "Satzung", "Gesetzbuch" oder "Kirchenordnung", aber auch "Tradition und Sitte" oder "Gottes Wille". Die Präferenzordnung, der alle Mitglieder verpflichtet sind, ist keineswegs "wasserdicht". Sie ist lediglich "operativ geschlossen", d.h. sie legt in wesentlichen Grundzügen fest, was systemintern gültig ist. Auch in Zukunft wird die Arbeit an den Einzelheiten der Präferenzordnung nie restlos abgeschlossen sein. Veränderungen, Ergänzungen oder Präzisierungen sind weiterhin möglich und notwendig. Daß die Mitglieder eines Systems nach Maßgabe einer solchen Ordnung miteinander kommunizieren, muß ihnen keineswegs ständig bewußt sein. Im Vereinsleben ist es vielleicht nur die Freude am gemeinsamen Tun, die allen bewußt ist und die die unterschiedlichsten Menschen miteinander verbindet. Erst ein Verstoß gegen die Regeln, abweichendes Verhalten in dieser oder jener Form, ruft ins

3. Systementwicklungsmodell - Der Mensch

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Bewußtsein zurück, daß das gemeinsame Miteinander durch Regeln und Bestimmungen überhaupt erst ermöglicht ist. 1. Die Handlungsfähigkeit sozialer Systeme: Soziale Systeme sind als Systeme eigenständig handlungsfähig. Diese Behauptung läßt sich am Beispiel des Vereinsgesetzes gut verdeutlichen: Im Bürgerlichen Gesetzbuch (BGB) folgen auf die Bestimmungen über "natürliche Personen" in den §§ 21ff die Bestimmungen über "juristische Personen". Sie behandeln neben den Vereinen auch die juristischen Personen des öffentlichen Rechts: Körperschaften, Stiftungen, Anstalten. Am Rechtsstatus des "Vereins" läßt sich der entscheidende Unterschied von Quasi-System und System besonders trennscharf verdeutlichen. Vereine entstehen durch Eintragung in ein Vereinsregister. Für eine Vereinsgründung sind nach § 59 BGB a) eine Vereinssatzung, b) "Urkunden über die Bestellung des Vorstandes" und c) mindestens sieben Mitglieder erforderlich. Sind alle Voraussetzungen erfüllt und ist der Verein in das Vereinsregister eingetragen, dann besitzt er zwei Eigenschaften, die das Quasi-System noch nicht hatte: Der Verein ist als Verein, also in seiner Gesamtheit, handlungsfähig und rechtsfähig.83 Handlungsfähigkeit und Rechtsfähigkeit sind emergente Eigenschaften von sozialen Systemen. In § 31 BGB heißt es über die Vereinshaftung: "Der Verein ist für den Schaden verantwortlich, den der Vorstand, ein Mitglied des Vorstandes oder ein anderer verfassungsmäßig berufener Vertreter durch eine in Ausführung der ihm zustehenden Verrichtungen begangene, zum Schadenersatz verpflichtende Handlung einem Dritten zufügt". Der Paragraph setzt also voraus, daß "der Verein" als Ganzer einen Schaden zufügen kann. Aus der kollektiven Handlungsfähigkeit folgt dann auch die kollektive Haftung: Es haftet der Verein, nicht aber dasjenige individuelle Vereinsmitglied, das den Schaden herbeigeführt hat. Interessant ist auch, wie ein Verein nach Maßgabe des BGB handelt. Er handelt in dem Augenblick, wo ein als Verantwortungsträger des Vereins ordnungsgemäß legitimiertes Vereinsmitglied "im Namen" und, systemtheoretisch formuliert, "nach Maßgabe der eigenen Präferenzordnung" handelt. Wenn im Rahmen der Präferenzordnung gehandelt wird, dann handelt nicht der "Privatmensch", es handelt "der Verein". Umgekehrt bedeutet dies, daß ein Vereinsvorstand, der sich außerhalb des Rahmens der Präferenzordnung bewegt, Vereinshaftung nicht in Anspruch nehmen kann. Hier ist eine deutliche Trennung von "Funktionsträger" und "Privatmensch" vorgenommen. Der Privatmensch ist frei in seiner Handlungsweise, der Funktionsträger aber wird von der Ordnung in seinem Handeln eingeschränkt, er wird "in die Pflicht genommen". Dieser Sachverhalt wird in der Soziologie mit dem Begriff "strukturale Rolle"84 beschrieben. Alle Mitglieder eines Systems können, insofern sie sich 83 84

Vgl. die §§ 43 und 54 BGB: Eigenständige Rechtsfähigkeit kann einem Verein nicht nur beigelegt, sie kann ihm auch wieder entzogen werden. Als "strukturale Rolle" bezeichnet man eine "soziale Rolle, die unabhängig von den persönlichen Interpretationen der Rollenpartner oder von einem situationalen Zusammenhang, als Bestandteil institutionalisierter sozialer Systeme (wie Verwandtschaft, Organisation,

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III. Systemtheoretische Grundlagen

von der Präferenzordnung "in die Pflicht" nehmen lassen, als Träger solcher strukturalen Rollen bezeichnet werden. Diese Rollen müssen nicht für jedes Mitglied identisch s e i n . V i e l m e h r können soziale Systeme je nach Größe und Zielsetzung eine Vielzahl sehr unterschiedlicher Rollenanforderungen entwikkeln und bereitstellen. Diese ausführliche Betrachtung des Vereinsrechts wurde eingeschoben, um deutlich zu machen, daß der Gesetzgeber die eigenständige Handlungsfähigkeit eines Systems kennt. Der Behauptung einer eigenständigen Handlungsfähigkeit von Systemen wird ja oft mit der Begründung widersprochen, daß nur Individuen handeln können. Systemtheoretisch ist das also nicht ganz richtig. Zwar ist auch kollektives Handeln immer das Handeln von einzelnen, aber diese einzelnen handeln eben nicht "für sich" oder "auf eigene Rechnung", sondern "im Namen des Systems" als Träger von strukturalen Rollen. Ihr Handeln ist (1.) "besonders ausgezeichnet durch Symbole, die verdeutlichen, daß das gesamte System dadurch gebunden ist'^ö, und (2.) "intern wie extern systemisch zugerechnetes H a n d e l n " . S o z i a l e Systeme sind als Ganze handlungsfähig, und diese (emergente) Eigenschaft verdanken sie der Existenz einer operativ geschlossenen Präferenzordnung. 2. Veränderungen der Systemvariablen: Die operativ geschlossene Präferenzordnung macht das Quasi-System zum System und bewirkt gleichzeitig eine Reihe von Veränderungen, die hier nun im einzelnen dargestellt werden sollen: Das System kann nun als System gegenüber seiner Umwelt in Erscheinung treten. Das bedeutet noch nicht, daß das System auch als Ganzes von außen identifizierbar wird. Wenn das System keinen Wert darauf legt, seine Strukturen und seine Ziele in der Öffentlichkeit darzulegen, bleiben sie von außen uneinsehbar. Das "Innenleben" des Systems ist von außen nicht detailliert erkennbar, und es ist von außen auch nicht steuerbar. Die Umwelt ist deshalb darauf angewiesen, im Zweifelsfall zu bekannten Analogien, Attributen oder Etiketten zu greifen, um das neue System einzuordnen. wird die Einordnung nicht vom System selbst unterstützt, kann sie sogar falsch vorgenommen werden, weil unterschiedliche Beurteilungskriterien angelegt werden.

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Gesellschaft) definiert ist." - B.Buchhofer: Strukturale Rolle, in: Lexikon zur Soziologie, hg.v. W.Fuchs-Heinrichs u.a., 3.völlig neu bearb. und erw. Aufl. Opladen 1994, Sp.568/1 W.Girschner unterscheidet "Mitgliedsrollen", Grundrollen, die für alle Mitglieder gleich sind, und "Arbeitsrollen", ein Bündel von "Verfahrens-, Kooperations- und Entscheidungsregeln, die in Form spezifizierter Erwartungen" systemintern festgelegt sind (Theorie sozialer Organisationen, Weinheim u.ö. 1990, S.65). T.Mills: Soziologie der Gruppe, München 1969, S.159 und 169ff unterscheidet Grundrollen, normative Rollen, instrumentelle Rollen, Leitungsrollen und generative Rollen. Vgl. H.Willke: Systemtheorie, S.82-86 N.Luhmann: Grundriß, S.273; vgl. A.Etzioni: The Active Society, New York 1971, S.98 H.Willke: Systemtheorie, S.190f Im Neuen Testament findet sich ein Beispiel für solche eine Zuordnung "von außen". Die Apostelgeschichte (11,26) berichtet, daß die Bevölkerung von Antiochien die dort ansässige frühchristliche Gemeinde als "Christianoi" bezeichnet hat. Man hatte wohl bemerkt, daß die Person oder der Begriff "Christus" für sie eine zentrale Bedeutung hatte.

3. Systementwicklungsmodell - Der Mensch

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Die innere Kontingenz des Systems ist in dieser Phase gering. Die Kohärenz ist hoch. Die numerische Komplexität ist gegenüber früheren Stadien der Systembildung zwar schon angewachsen, aber durch erfolgreiche Bewältigung der Überlastungskrise(n) beherrschbar geworden. Die Voraussetzungen für eine weitere Steigerung der systeminternen kognitiven Komplexität, der verstärkten Gewinnung von Umweltressourcen und der verbesserten Zielerfüllung sind gegeben. Eintritt und Austritt aus einem System sind nicht mehr so einfach möglich, wie dies noch beim Quasi-System der Fall war. Vollintegration ist in etablierten Sozialsystemen anders als in Quasi-Systemen nur noch langsam und partiell möglich. Wer neu hinzukommt, wird dezidiert nach seiner Zustimmung zur Präferenzordnung befragt. Die explizite Zustimmung wird zur Eintrittsvoraussetzung. Das System kann jetzt nicht mehr partiell, sondern nur noch als Ganzes bejaht oder abgelehnt werden. Der Austritt ist mit "Gesichtsverlust" verbunden, also mit einer milden Form von sozialer Ächtung durch die Mitglieder des Systems. Die "Gründungsmitglieder" sind weiterhin intrinsisch motiviert, haben sie doch den Systemstatus aktiv herbeigeführt. Sie genießen die Früchte ihrer Arbeit in Form eines gesteigerten Wir-Gefühls nach innen hin und einer gesteigerten Leistungsfähigkeit "ihres" Systems nach außen hin. Schleichend und kaum bemerkt ist damit jedoch der Rubikon überschritten worden. Durch die Fixierung der Präferenzordnung ist eine Möglichkeit geschaffen, soziale Kontrolle auszuüben und die Einhaltung der Normen und Rollen zu überwachen. Subjektiv muß das nicht einmal als Belastung erlebt werden. Es kann durchaus auch als freiwillige Selbstbindung im Dienste an einer gemeinsamen Sache verstanden werden. Wenn aber der einmal beschrittene Weg nicht durch persönlichen Entschluß aktiv korrigiert oder beendet wird, ist kaum noch zu verhindern, daß das System mit seinen fixierten Anforderungen mehr und mehr Macht über seine Mitglieder entwickeln und entfalten wird. Da Präferenzordnungen aufgeschrieben und vervielfältigt, transportiert und konserviert werden können, eröffnet sich dem System ein räumlicher und zeitlicher Horizont, der den Lebensraum und die Lebenszeit des einzelnen Mitglieds bei weitem überschreitet. Das System hat Zukunftsfähigkeit gewonnen. Es kann seine Ziele jetzt in einem zeitlich offenen Horizont einer theoretisch unbegrenzt großen Anzahl von Menschen vermitteln. Das System ist nicht nur unabhängig vom Lebenszyklus der Mitglieder, es ist auch von jedem individuellen Mitglied selbst unabhängig. Die Persönlichkeit des einzelnen, die ja bei der Ausformulierung der Präferenzordnung gerade mit ihrem Profil und ihrer Prägekraft enorm wichtig war, tritt jetzt hinter das fertige Ergebnis zurück. Fortan beherrscht und bestimmt das System seine Mitglieder. Wie ist das möglich? 3: Das Verhältnis von System und Mensch: Soziale Systeme bestehen aus einer Präferenzordnung, den Trägern von (unterschiedlichen) Systemrollen und regelgeleiteter Kommunikation. Das System legt in der Präferenzordnung ver89

Da die allgemeinen Kommunikationsregeln in der Gesellschaft entwickelt werden und jedes einzelne System aus diesem Fundus nur eine Auswahl trifft, bildet die Gesellschaft

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III. Systemtheoretische Grundlagen

bindliche "Spielregeln" für das kommunikative Miteinander seiner Mitglieder und für seine Repräsentanz in der Umwelt fest. Es definiert systemspezifische Rollen, Programme und Werte 90 und gibt damit seinen Mitgliedern Erwartungs- und Handlungszusammenhänge vor. Als Mitglied erweist man sich, indem man den systemspezifischen Regeln Folge leistet. Für das System ist das auch insofern vorteilhaft, als es nicht die Menschen ändern muß, um sich selbst zu verändern. Es reicht völlig aus, die systemspezifischen Kommunikationsregeln zu ändern. Sie lassen sich vorgeben und festschreiben. Sie lassen sich aber auch lockern, ergänzen oder neu fassen. Das System legt nicht die Menschen fest, aber es sagt ihnen, was sie zu tun und zu lassen haben, wenn (und so lange wie) sie Mitglieder des Systems sein und bleiben möchten. Unbeschadet davon bleibt jedem Mitglied die Freiheit, im Prinzip auch ganz anders handeln oder kommunizieren zu können - nur eben nicht: systemintern. Soziale Systeme können zwar aus Menschen "Bürger", "Gläubige", "Versicherte", im weitesten Sinne also "Mitglieder" aller Art machen, restfrei integrierte Systemelemente aber niemals. Mit "Haut und Haaren" oder "Leib und Seele" ist niemand einem System zugehörig. Selbst bei grundsätzlicher Bejahung des Systems und weitestgehender Übernahme der angebotenen Mitgliederrollen bleibt doch die Fähigkeit zum "inneren Vorbehalt" erhalten, die Fähigkeit zur aktiven und kritischen Distanzierung, die in der unaufhebbaren Entscheidungsfreiheit und Wahlfähigkeit des Menschen ursächlich begründet ist. Kein soziales System kann diese individuellen, anthropologisch verwurzelten "Kontingenzspielräume" beseitigen.91 Stets bleibt den Menschen die Freiheit aus einem System, sei es Partei, Staat oder Kirche, auszutreten oder in einem bestimmten System nicht mehr "mitzuspielen". Menschen können auswandern, sie können andere Sprachen erlernen und neue Staatsbürgerschaften an(ggf. auch als Weltgesellschaft verstanden) gewissermaßen den "Unterbau" aller sozialen Systeme, wie groß oder klein sie auch sein mögen. Die Gesellschaft stellt "die Bedingungen der Möglichkeit von Strukturbildung" zur Verfügung (N.Luhmann: Interaktion, S.19). Mit der Anknüpfung bei der Kommunikation vollzieht Luhmann einen Bruch mit der soziologischen Tradition, die einen ihrer Hauptgegenstände im "sozialen Handeln" sieht (Handlungstheorie und Systemtheorie, in: Soziologische Aufklärung III, S.50-66). Er ordnet soziales Handeln in einen kommunikativen Kontext ein und weist darauf hin, daß nur Kommunikation, nicht aber Handeln eine grundsätzlich soziale Aktivität ist, da sie mindestens zwei Teilnehmer voraussetzt: "Demgegenüber möchte ich behaupten, daß nur die Kommunikation kommunizieren kann und daß erst in einem solchen Netzwerk der Kommunikation das erzeugt wird, was wir unter Handeln verstehen" (Was ist Kommunikation?, in: Information Philosophie 1/1987, S.4; zit. nach G.Kiss: Grundzüge, S.23; vgl. S.20-24 und 84-89). Weil sich systemisch zurechenbares Handeln immer in einem kommunikativen Kontext vollzieht, kommt es zu einem interdependenten Verhältnis von Kommunikation und Handlung: "Ein soziales System konstituiert sich mithin als Handlungssystem, aber es muß dabei den kommunikativen Kontext des Handelns voraussetzen; beides also, Handlung und Kommunikation, ist notwendig, und beides muß laufend zusammenwirken." - Grundriß S.233; vgl. S.634 90 91

Vgl. N.Luhmann: Grundriß, S.430-432; W.Girschner: Theorie, S.62-65 Das bestätigt sich beispielsweise, wenn ein Mitglied des Presbyteriums aus der Kirche austritt.

3. Systementwicklungsmodell - Der Mensch

223

nehmen. Systeme können ihre Mitglieder nicht gegen deren Willen irreversibel einbinden. Die Geschichte der ehemaligen DDR zeigt, wie wenig das selbst dann gelingt, wenn das Staatsgebiet mit Minenfeldern und Selbstschußablagen umgeben wird. Man hat der Systemtheorie Niklas Luhmanns m.E. zu Unrecht ein anthropologisches Defizit^ unterstellt. Luhmann hat die besondere Art der Beziehung von Mensch und System deutlich erkannt^ und wertet den Menschen gerade nicht ab.94 Die letzte Entscheidungsfreiheit des Menschen wird nicht verneint, um an ihre Stelle die unpersönlichen Zwänge übermächtiger Systeme zu setzen. Vielmehr erfolgt schon die Anlage der Theorie unter expliziter Berücksichtigung der anthropologischen Kontingenzspielräume. 95 Luhmann sieht Menschen nicht als "Elemente" des Systems an. Sie gehören nicht zum System selbst und sind kein "Teil" des Systems.96 Vielmehr werden sie als eigenständige psychische Systeme lediglich der relevanten Umwelt sozialer Systeme zu-

92 93

94 95

96

Vgl. R.Dziewas: Mensch Ein System kann keine Menschen miteinander verbinden, es kann nur die Elemente miteinander verknüpfen, die es selbst konstituiert, eben Kommunikation. - N.Luhmann: Grundriß, S.61 und 292. N.Luhmann: Grundriß, S.288f Kritische Rückfragen an Luhmanns Systemtheorie beziehen sich häufig schon auf die Theorieanlage. Man fragt beispielsweise, ob Luhmann nicht schon von Anfang an hätte versuchen müssen, das "Individuum", den "ganzen" Menschen in seine Theorie hineinzunehmen (P.M.Hejl: Selbstorganisation und Emergenz in sozialen Systemen, in: Krohn / Küppers (Hg.): Emergenz, S.269-292), oder ob nicht die bestehenden Sozialnormen in ihrer Faktizität viel stärker hätten berücksichtigt werden müssen. Beide Ansätze ziehen aber kaum lösbare Folgeprobleme nach sich: Wird es im ersten Fall schwierig, Emergenzniveaus und Kollektivakteure einzuführen (Hejl marginalisiert das Problem auf S.271; vgl. H.Willke, Systemtheorie, S. 156-177), so führt der zweite Ansatz zur Vorordnung der Organisation und zur Vernachlässigung oder Abwertung der individuellen Kontingenzspielräume (Vgl. P.Weraer: Systeme, S. 213). Beiden Problemen ist Luhmann mit seiner Theorieanlage ausgewichen. Luhmann hat Parsons Begriff übernommen und das Verhältnis von psychischen und sozialen Systemen mit dem Konzept der "Interpénétration" zu erfassen versucht (Grundriß, S.286-345). Psychisches und soziales System sind zwei eigenständige Systeme. Sie sind "nicht Teile eines umfassenden Handlungssystems" (N.Luhmann: Interpénétration. Zum Verhältnis personaler und sozialer Systeme, in: Soziologische Aufklärung III, Opladen ^1993, S.154). "Beide (Systeme) verwenden ein je verschiedenes Medium ihrer Reproduktion: Bewußtsein bzw. Kommunikation ... Das soziale System stellt die eigene Komplexität, die den Test der kommunikativen Handhabbarkeit bestanden hat, dem psychischen System zur Verfugung. Die für diesen Transfer entwickelte evolutionäre Errungenschaft ist die Sprache" (Grundriß, S.367). Im Zuge dieser Theorie lassen sich die Beiträge der Mitglieder für das System als ein "zur Verfügung stellen" ihrer Eigenschaften und Fähigkeiten interpretieren, so daß Interpénétration als "wechselseitige Ermöglichung" zu qualifizieren ist (Vgl. H.-U.Dallmann: Systemtheorie, S.59-63). In neueren Arbeiten hat Luhmann den Begriff "Interpénétration" verstärkt durch die Begriffe "strukturelle Kopplung" oder "operative Kopplung" ersetzt (Grundriß, S.300; N.Luhmann: Über systemtheoretische Grundlagen der Gesellschaftstheorie, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 38/1990, S.281).

224

III. Systemtheoretische Grundlagen

geordnet. Jedes System, auch das System, dem er als "Mitglied" zugehört, ist aus Sicht des Menschen "Umwelt". Luhmann schreibt dazu: "Gewonnen wird mit der Unterscheidung von System und Umwelt aber die Möglichkeit, den Menschen als Teil der gesellschaftlichen Umwelt zugleich komplexer und ungebundener zu begreifen, als dies möglich wäre, wenn er als Teil der Gesellschaft aufgefaßt werden müßte ... Dem Menschen werden so höhere Freiheiten im Verhältnis zu seiner Umwelt [der Begriff "Umwelt" meint hier "Sozialsystem"] konzediert, insbesondere Freiheiten zu unvernünftigem und unmoralischem Verhalten". Menschen bilden eine unmittelbare Umwelt des Sozialsystems, für die Helmut Willke den Begriff "innere Umwelt"98 geprägt hat. 4. Sozialsysteme bereichern ihre Mitglieder: Die Ausführungen über das Verhältnis von Mensch und System könnten den Eindruck erwecken, soziale Systeme hätten vor allem negative Auswirkungen auf das Leben ihrer Mitglieder, indem sie deren Freiheitsspielräume beschneiden. Das tun sie tatsächlich, aber sie erbringen auch positive Leistungen. Im Verhältnis von Mensch und System findet ein wechselseitiges Tauschgeschäft statt: das System lebt und profitiert von und mit den Ressourcen, die die Mitglieder einbringen: Zeit, Energie, Ideen und materielle Güter. Der Mensch profitiert von den systemspezifischen Leistungen. Das System reduziert die unüberschaubare und beängstigende Komplexität und Kontingenz der Umwelt und bietet einen kohärenten Binnenraum an. Es bietet Entlastung. Es schafft Sprachfähigkeit und (soziale) Sicherheit, Berechenbarkeit und Überschaubarkeit. Es gibt dem Leben (systemspezifische) Orientierung und damit letztlich Sinn. Nun kann man noch einen Schritt weitergehen und fragen, warum denn im permanenten Werden und Vergehen der Systeme einige offensichtlich erfolgreicher und überlebensfähiger sind als andere, wo doch jedes soziale System seinen Mitgliedern die oben genannten Vorteile bietet. Bisher wurde die Antwort auf diese Frage in der Behauptung versteckt, die Gründungsmitglieder des Systems seien in hohem Maße "intrinsisch motiviert", sie hätten ein inneres, ein persönliches Interesse am Gelingen ihres Systemprojekts. Woher kommt aber diese hohe intrinsische Motivation? Man kommt um die Annahme nicht herum, daß erfolgreiche Systeme in der Lage sind, ihre Mitglieder, sei es ideell, sei es materiell, persönlich zu "bereichern". Sie geben ihnen das Gefühl, durch ihre Mitgliedschaft mehr zu gewinnen oder mehr zu erhalten, als sie aufgegeben haben, als sie sich der Präferenzordnung unterwarfen. Sie nehmen ihnen nicht nur Freiheitsspielräume, sie geben ihnen auch Möglichkeiten zur Erfüllung eigener 97

98

N.Luhmann: Grundriß, S.289 - Hervorhebung von mir. Vgl. G.Kiss: Grundzüge, S.24. Luhmann wird nicht müde, zu betonen, daß der "Subjektbegriff" in seiner Systemtheorie keine Rolle spielt: Grundriß, S.51 und 347; Stellungnahme, in: Krawietz / Welker (Hg.): Kritik, S.385 H.Willke: Systemtheorie, S.59

3. Systementwicklungsmodell - Der Mensch

225

Wünsche oder zur Befriedigung eigener Interessen und Bedürfnisse. Das Ausmaß, mit dem soziale Systeme an die individuellen Wünsche, Interessen und Bedürfnisse ihrer Mitglieder anzuknüpfen vermögen, sorgt im Wettkampf der Systeme für die entscheidenden Differenzen. Die Qualität und Zuverlässigkeit, mit der sie die subjektiven Erwartungen einlösen, verstetigt die Mitgliedschaft. Beides bestimmt mit über mittelfristige Wachstums- und Überlebenschancen des jeweiligen Sozialsystems. 5. Der Realitätscharakter des Systems: In der Phase der Systemgründung ist noch gut erkennbar, daß die Präferenzordnung sich aus Verabredungen zusammensetzt, die von Menschen getroffen worden sind. Sie besteht aus "Spielregeln", die man befolgen will, denen man sich aber durchaus auch widersetzen könnte. Die Macht, die das System über die Mitglieder ausüben kann, nimmt in dem Maße zu, wie das wechselseitige Tauschverhältnis und der arbiträre Charakter der Verabredungen in Vergessenheit geraten. Unmittelbar mit der Systemgründung beginnt ein sozialpsychologisches Phänomen zu wirken, das im "Thomas-Theorem" folgendermaßen formuliert worden ist: "If men define situations as real, they are real in their consequences ".99 Die Spielregeln, die die Systemmitglieder sich ursprünglich einmal durch Auswahl aus einer sehr viel größeren Anzahl denkbarer anderer gegeben haben, werden zur Grundlage für die Gestaltung der sozialen Wirklichkeit. In zahlreichen Folgehandlungen verfestigen sie sich und werden schließlich als maßgebliche, objektive "Realität" erlebt. Der arbiträre Charakter der Verabredungen gerät nach und nach in Vergessenheit. Fortan definiert das System, nicht mehr die Mitglieder, "Sinn" und "Unsinn", "richtig" und "falsch", "gut" und "böse". Durch Mechanismen der sozialen Kontrolle wird der Wirklichkeitscharakter der Präferenzordnung eingeschärft und das Ausbrechen der einzelnen aus dem System erschwert. Ausbrechen kann spürbare Folgen nach sich ziehen, die bis hin zu sozialer Stigmatisierung reichen können. Das System wird zu einer eigenen "Welt", es wird zur maßgeblichen, unter Umständen sogar zur einzigen R e a l i t ä t ^ . Ist der Systemstatus erreicht, können die Systeme zwar von Umweltereignissen zu eigenen Operationen "angeregt oder angestoßen" werden. Determiniert werden können sie nicht mehr. Gleichwohl fuhrt das nur in den seltensten Fällen zu schweren Schäden oder gar zu Katastrophen. Die Mitglieder selbst, die ja (als Rollenträger) immer nur partiell zum System gehören, gleichzeitig aber Teil der Systemumwelt sind, empfangen in der Regel nicht nur die Binnenimpulse des Systems, sondern sind auch von Außenimpulsen aus der Umwelt des Systems bzw. aus anderen Systemen, denen sie ebenfalls angehören, unmittelbar betroffen. Sie verfügen gewissermaßen über eine "Umwelt99

W.I.Thomas / D.S.Thomas: The Child in America. Behavior Problems and Programms, New York 1928, S.572 100 Dies gilt für Firmen und Vereine ("Du bist ja mit deiner Firma verheiratet") ebenso wie für ganze Kulturkreise. Symptomatisch dafür ist etwa die Redeweise von der "westlichen Welt", die den "Rest der Welt" zum Umweltphänomen herabstuft. 101 H.Willke: Systemtheorie, S.68

226

ΙΠ. Systemtheoretische Grundlagen

antenne", die sie für veränderte Umweltbedingungen und Umweltanforderungen (Klimawechsel, Nahrungsmangel, Herrschaftswechsel u.v.a.m.) sensibel macht. Umweltereignisse und gesellschaftlicher Wandel machen den Mitgliedern, sofern sie es im Sog des Thomas-Theorems vergessen haben, immer wieder aufs neue bewußt, daß alle (Präferenzordnungen und mit ihnen alle) Systemnormen letztlich arbiträr sind und ständig auf dem Prüfstand von realen Erfordernissen stehen. Sie haben sich im persönlichen Leben, im Zusammenleben, aber auch im Blick auf die persönliche und kollektive Zukunft zu bewähren. Die Systemumwelten und der gesellschaftliche Wandel wirken so als ständige Gegenkräfte gegen die Zentripetalkraft des Thomastheorems und verringern die Bindungsintensität der Mitgliedglieder an die Präferenzordnung. Sie bewirken eine Art von Inventarisierung des inneren Vorbehalts, den die Menschen gegenüber jedem System hegen. 102 h) Systementwicklung Die Systementwicklung ist mit dem Erreichen des Systemstatus keineswegs abgeschlossen. Sie hat nie ein Ende, denn Systeme kennen keinen Stillstand, sondern immer nur zwei Entwicklungsrichtungen: entweder sie wachsen oder sie schrumpfen. Auch für entwickelte Systeme lassen sich in Grundzügen einige Gemeinsamkeiten benennen, obwohl die Weiterentwicklung im folgenden nicht mehr so eindeutig und auch nicht mehr so einlinig verläuft wie der Entwicklungsprozeß von der Interaktion hin zum Sozialsystem. Wenn die Anzahl der Mitglieder in einem sozialen System ansteigt, so ist dies für das System mit einer Reihe von Vorteilen verbunden: Die Ressourcen, auf die das System zurückgreifen kann, vermehren sich. Systemintern steht mehr Zeit und mehr Energie zur Verfügung, was das System leistungsfähiger macht. Das System kann mehr leisten und sich mehr leisten. Der vielfältigere Austausch von Ideen führt zu einer deutlichen Kompetenzsteigerung, aber auch zur Entwicklung neuer Ideen und Zielvorstellungen. Dem System eröffnen sich dadurch mehr Möglichkeiten und neue Chancen. Systemintern wächst das Potential für eine kompetentere, aber auch insgesamt breiter angelegte Ziel Verwirklichung. Gleichzeitig bringt numerisches Wachstum aber auch Probleme mit sich, denn mit der Mitgliederzahl steigt auch die systeminterne Komplexität an und produziert signifikante Veränderungen im Systemgeftige: Die Kohärenz sinkt ab und die interne Kontingenz wächst. Um den Systemcharakter zu erhalten, muß das System sich intensiv mit sich selbst beschäftigen. 103 Di e "Selbstbezüglich102 In Ausdeutung einer Argumentation von H.Schelsky: Ist Dauerreflexion institutionalisierbar?, abgedruckt in: J.Matthes: Religionssoziologie I, S.164-189 103 Im einzelnen sind es sechs Aufgaben, die kontinuierlich zu erfüllen sind: die Aufrechterhaltung der Systemgrenze (Leitdifferenz), die Anpassung des Systems an veränderte Umweltgegebenheiten, die Aufrechterhaltung des Kohärenzniveaus und der systemspezifischen Programme, die Aufrechterhaltung der Wachstums- und Entwicklungsfähigkeit. Das AGIL-Schema von T.Parsons nennt nur die vier Aufgaben A = "adaption": Anpassung an

3. Systementwicklungsmodell - Der Mensch

227

keit" wächst an. Das System ist (wiederum) gezwungen, in vermehrtem Ausmaß systemeigene Ressourcen der Zielerfüllung zu entziehen und für den Systemerhalt einzusetzen. Da schon bei geringem numerischen Wachstum nicht mehr jedes Mitglied jederzeit mit jedem anderen kommunizieren kann, wird die persönliche Bindung der einzelnen Mitglieder untereinander zunehmend abgelöst durch die unpersönliche Anbindung des einzelnen an das System. Die personale Kommunikation tritt in ihrer Bedeutung zurück. Die systemspezifischen Steuerungssprachen (Symbolsysteme, Rituale, Normen) werden aufgewertet, indem ihre Verbindlichkeit verstärkt wird. Auf diese Weise läßt sich sicherstellen, daß zumindest theoretisch jeder noch mit jedem reden könnte, selbst wenn das faktisch unmöglich ist. Die jeweiligen Steuerungssprachen werden als Kohärenzbearbeitungs- und Kohärenzverdichtungsmittel unverzichtbar. Gleichzeitig löst das numerische Wachstum eine Überlastungskrise und im Gefolge der Krise einen internen Differenzierungsschub aus. Untereinheiten, Systemebenen oder Leitungshierarchien werden ausgebildet, horizontale Arbeitsteilung wird eingeführt. "Spezialisten" werden ernannt. Eine systeminterne Koordination der verschiedenen Abläufe und Arbeitsgebiete wird erforderlich. Hierarchiebildung und Spezialistentum führen wiederum zu einer weiteren strukturbedingten Entmündigung der einzelnen Mitglieder. Die Wahrscheinlichkeit, daß es ihnen überhaupt noch gelingt, sich Gehör zu verschaffen, sinkt stark ab. 1. Zyklische Krisen in der Systementwicklung: Die geraffte Darstellung zeigt, wie sich auf allen Stufen der Systementstehung und Systementwicklung Phasen der Prosperität mit kritischen Phasen abwechseln. Systementwicklung verläuft zyklisch. Aus Überlastungskrisen werden Entscheidungskrisen, die wiederum dazu führen, daß das System, wenn es in diesen Krisen nicht untergeht, anschließend über neue Reserven verfügt und über die Voraussetzungen für weiteres Systemwachstum. Weitere Leistungssteigerungen produzieren u.a. auch neue Krisensymptome und schließlich erneut weitere Krisen. Eine Krise ist keineswegs per se etwas Schlechtes. Sie signalisiert nicht nur Fehlentwicklungen, sondern zeigt auch an, daß ein Sozialsystem sich in einer Übergangssituation befindet. Eine Krise, die in einem System spürbar wird, diskreditiert nicht das System. Sie weist lediglich auf die "zeitliche Dringlichkeit" von Strukturänderungen hin. 2. Absinkende Mitgliedermotivation und extrinsische Motivation: Das bedeutsamere Problem stellt sich nicht durch das zyklische Auftreten von Krisen, es stellt sich erst als Ergebnis einer langen Kette von erfolgreichen (!) Krisenbewältigungen. Je mehr das System sich selbst durch Funktions- und Binnendifferenzierung stärkt, desto mehr werden die beteiligten Personen als Individuen die Umwelt; G = "goal attainment": Zielverwirklichung; I="integration": Kohärenzsicherung; L = "latent pattern maintenance": Strukturerhaltung (Zur Theorie sozialer Systeme, hg.v. St.Jensen, Opladen 1976, S. 118). Das Schema ist von Willke durch die Aufgaben "Grenzerhaltung" und "Generativität" ergänzt worden: Systemtheorie, S.84 und 87 104 N.Luhmann: Grundriß, S.645

228

III. Systemtheoretische Grundlagen

geschwächt. Ihr Kontingenzspielraum wird nach jeder weiteren Krise durch verschärfte systeminterne Vorgaben eingeschränkt. Wenn man sich noch einmal vergegenwärtigt, daß Systeme nicht den "ganzen" Menschen benötigen, sondern lediglich den "Rollenträger", dann bedeutet das, daß die systemspezifische Rolle, die dem einzelnen Menschen zugewiesen wird, im Zuge der Systementwicklung immer mehr eingeengt wird. In komplexen, entwickelten Systemen hat der einzelne schließlich praktisch keine Einflußmöglichkeiten auf das Gesamtsystem mehr. Wer es doch versucht, darf auf "schriftlichen Bescheid" hoffen. Die Folge liegt auf der Hand: Die Mitgliedermotivation sinkt ab und das Bedürfnis, von persönlichen Kontingenzspielräumen auch systemintern Gebrauch zu machen, steigt an. Im fortgeschrittenen Stadium der Systementwicklung kann die intrinsische Motivation der Inhaber von Grundrollen gegen Null tendieren. Gewissermaßen "in der unmittelbaren Nähe" des S y s t e m s 105 kommt es zu einem starken Anwachsen der Kontingenzbedürfnisse, und das System ist vom Kohärenzzerfall bedroht. An diesem Punkt spätestens ist ein System gezwungen, der Motivationskrise seiner Mitglieder (einer typischen Entscheidungskrise) mit Hilfe von extrinsischer Motivation zu begegnen, um sie systemkonform zu erhalten. Allgemein lassen sich drei Formen von extrinsischer Motivation unterscheiden: Strafandrohungen, Belohnungen und Versprechungen. 3. Motivation durch Versprechungen: Da Mitglieder nicht Bestandteile des Sozialsystems sind, ist die Verfügungsgewalt angebotsorientierter Systeme über ihre Mitglieder sehr viel geringer als häufig angenommen wird. Vielfach muß das System sie durch äußere materielle Anreize herstellen. Jede Firma weiß, daß sie nur dann gute Mitarbeiter bekommt, wenn Arbeitszeitregelungen und Betriebsklima stimmen und sie gut bezahlt. Neben derartigen Formen extrinsischer Motivierung verfügen Systeme nur im begrenzten Maße über die Möglichkeit, Zwang anzudrohen oder Zwang auszuüben. Es gibt aber noch eine andere Motivations variante, die häufig unbeachtet bleibt, das Versprechen. Motivation durch Versprechen gibt es in allen Sozialsystemen. In Sozialsystemen wie Krankenkassen, Versicherungen, auch den evangelischen Landeskirchen, die nicht in der Lage sind, sämtliche Mitglieder durch materielle Belohnungen zu binden, spielen derartige Versprechungen eine erhebliche Rolle. Häufig handelt es sich um Dienstleistungsversprechen, die in der Zukunft irgendwann einmal eingelöst werden oder, wie im Falle der Schadensversicherungen, möglicherweise einmal eingelöst werden könnten (möglicherweise aber auch nicht). Derartige Dienstleistungsversprechen sind nur wirksam, solange sie überzeugend sind, denn ihre Funktion ist es, die Mitgliedschaftsmotivation intrinsisch zu verankern. Die Menschen sollen selbst davon überzeugt sein, daß es für sie gut und richtig ist, die Mitgliedschaft zu begründen und aufrecht zu erhalten. Das bedeutet aber, daß das System sich von seinen Versprechen abhängig macht. Werden sie mangelhaft oder gar nicht eingehalten, zerstört das System 105 H.Willke spricht von der "Inneren Umwelt" des Systems (Systemtheorie, S.261) bzw. von der "Innenwelt" (S.59)

3. Systementwicklungsmodell - Der Mensch

229

die Vertrauensbasis zu seinen Mitgliedern und provoziert nicht nur ihren Austritt, sondern eventuell sogar seinen eigenen Niedergang. Im Falle der Landeskirchen kommen zu dem Dienstleistungsversprechen, das man pauschal als Angebot zur religiösen Lebensbegleitung des einzelnen und zur religiösen Begleitung der Gesamtgesellschaft bezeichnen könnte, weitere Komponenten der Mitgliederbindung hinzu, etwa ein Sinnversprechen, bezogen auf die letzten Fragen des Menschseins oder ein Gemeinschaftsversprechen. indem sie es aufstellen, machen sie sich von ihren Versprechen abhängig und müssen dafür sorgen, daß ihre Mitglieder sie auch verifizieren können. 107

4. Ergebnisse und Übersichtstabellen Das Verhältnis von System und Mensch wurde mit Hilfe eines Systementwicklungsmodells rekonstruktiert. Dabei hat sich gezeigt, daß es im Verhältnis von System und Mensch keine Konstanten gibt. Die ausgewählten Faktoren unterliegen im Prozeß der Systementwicklung zahlreichen Veränderungen. Diese Veränderungen sollen abschließend in einigen Übersichtstabellen dargestellt werden. Die Angaben in Klammern beziehen sich dabei jeweils auf die Inhaber von Leitungs- und Führungsrollen.

106 Alle diese Versprechungen finden sich auch in anderen Systembereichen der Gesellschaft, etwa im Marktsegment oder im Freizeitsegment, möglicherweise aber ist die Kombination der Versprechen für den religiösen Sektor typisch. Das wäre eingehender zu prüfen. Sekundär scheint aufgrund der überaus langen Geschichte dieses Systems auch ein Versprechen kultureller Identität hinzugewachsen zu sein, das nun allerdings vom "kulturellen Umbruch" in der Gesellschaft zunehmend in Mitleidenschaft gezogen wird. 107 Bei näherem Hinsehen zeigt sich, wie brüchig die kirchlichen Versprechen geworden sind. Bezogen auf das Dienstleistungsversprechen einer qualifizierten religiösen Begleitung der Mitglieder lassen sich Handhabungsdefizite, aber auch Einstellungsdefizite der kirchlichen Mitarbeiterschaft feststellen, die man beinahe schon als "traditionell" bezeichnen kann. Das Sinnversprechen hat durch Präferenzverschiebungen an gesellschaftlichem Gewicht verloren. So konnte etwa schon gegen Ende des 19.Jahrhunderts eine zunehmende Orientierung am innerfamiliären Sektor festgestellt werden. Dieser Trend hat sich nach dem zweiten Weltkrieg erneuert, nachdem das Ende des Dritten Reichs die vollständige Abkehr von den Sinndimensionen Staat und Volk gebracht hat, die in den wenigen Jahren seit dem Ende des ersten Weltkrieges sämtliche anderen Sinnversprechen überflügelt hatten. Auch die Defizite des Gemeinschaftsversprechens sind bereits dargestellt worden. Die kirchlichen Gemeinschaftsformen sind häufig mentalitäts- oder milieuverengt. Sie sprechen selektiv kleinere Teile des volkskirchlich weiten Mitgliederspektrums an und bieten nur einzelnen Gruppen von Gemeindemitgliedern wirklich "Heimat".

230

Interaktion Quasi-System System Entwickeltes System

ΠΙ. Systemtheoretische Grundlagen Komplexität 0 + ++ +++

Kontingenz + + + +/ + + +

Kohärenz 0/ + +++ + + (+ + +) + (++/+)

Die erste Tabelle zeigt ein fortschreitendes Anwachsen von interner Komplexität auf jeder Stufe des Systementwicklungsprozesses. Umweltkontingenz wird durch die Präferenzordnung erfolgreich reduziert. Es bleibt aber ein kleiner systeminterner Rest, der als Systemkontingenz bezeichnet wird. Im Prozeß der Ausdifferenzierung des Systems wächst er an. Die höchste Systemkohärenz findet sich auf der Entwicklungsstufe des Quasi-Systems. Mit steigendem numerischen Wachstum sinkt die Systemkohärenz ab. Auf der Leitungs- und Führungsebene setzt dieser Prozeß verzögert ein, ist aber ebenfalls vorhanden. Aus dem Nebeneinander der drei Tabellen lassen sich erste grundlegende Entscheidungs- und Handlungsalternativen ablesen, die auch für die Theorie der Gemeindearbeit gültig sind: Nur in einem kleinen, relativ gut überschaubaren Quasi-System kann man hohe Systemkohärenz erwarten. Hier liegt die Ursache für die Faszination, die gerade die kleine Gruppe, der familienähnliche Verband, immer wieder auf Theorien der Kirchengemeinde und der Gemeindearbeit ausgeübt hat. Hat ein System sich erst einmal stabilisiert und erfolgreich zu wachsen begonnen, schwindet die Systemkohärenz in zunehmendem Maße. Die "schöne Zeit" ist unwiederbringlich vorbei. In der Diskussion pro oder contra "Volkskirche" ist dieses einfache Systemgesetz bisher erstaunlich wenig berücksichtigt worden, besagt es doch, daß, wer die Volkskirche (= hohe Komplexität) bejaht, auch geringe Systemkohärenz bejahen muß und nicht mit familienähnlichen Leitbildern und Zielvorstellungen für das Gesamtsystem operieren darf. Wer dagegen die "Gemeinschaft der Bekehrten" als Ziel kirchlicher Arbeit definiert, muß sich darüber klar sein, daß das nur über eine spezielle Zielgruppenarbeit zu realisieren ist.

Interaktion Quasi-System System Entwickeltes System

Selbstbezüglich -keit

Präferenzordnung

+++ + + +/+ + +

+ ++ + + +/ +

Intrinsische Motivation + +++ + + +/+ +/0

(+ + +) (+ + +/0)

Die Spalte "Selbstbezüglichkeit" läßt im Zusammenhang mit den Spalten "Komplexität" und "intrinsische Motivation" erkennen, warum hochkomplexe Systeme in verstärktem Maße Institutionenkritik auf sich ziehen. Die positive intrinsische Mitgliedermotivation verflüchtigt sich bei ansteigender Systemkomplexität. Die Selbstbezüglichkeit des Systems aber steigt um so stärker, je größer das System wird. Um sich selbst zu erhalten, muß das System immer

4. Ergebnisse und Übersichtstabellen

231

mehr Ressourcen für die Selbstorganisation einsetzen ("Die Bürokratie wuchert und ist mit sich selbst beschäftigt"), und dies weckt die Kritik der ohnehin schon angeschlagenen Mitglieder. Wenn dann noch die verbliebenen extrinsischen Motivationsmittel des Systems ihre Wirkung verlieren, weil sie etwa durch gesellschaftlichen Wertewandel an Plausibilität und Attraktivität eingebüßt haben, sind schon gewichtige Faktoren beisammen, die den oft beklagten Niedergang der Gewerkschaften, der großen demokratischen Volksparteien, aber auch der Kirchen erklären können. Die zweite Spalte notiert Veränderungen im Ausmaß der Verbindlichkeit der Präferenzordnung. Zunächst ist die Präferenzordnung noch "weich". Sie enthält viele Unbestimmtheiten und Regelungslücken. Es ist bekannt, daß sie durch Mehrheitsbeschlüsse und Entscheidungen zustande gekommen ist, die diskutiert und umstritten worden sind. Mit dem Systemstatus verhärtet sich die Präferenzordnung. Ihr arbiträrer Charakter gerät mehr und mehr in Vergessenheit. Sie wird zur verbindlichen Richtschnur. Im Status entwickelter Systeme "weicht" die Präferenzordnung wieder auf, sie wird zunehmend auch tiefgreifenderen Veränderungen unterzogen. Der jeweilige Systemtyp (z.B. Stadtverwaltung oder Stadtrat) beeinflußt das Ausmaß und das Tempo der Aktualisierung und Veränderung der jeweiligen Präferenzordnung. All das gilt auch für die evangelischen Landeskirchen.

Interaktion Quasi-System System Entwickeltes System

Intrinsische Motivation + +++ + + + +/ + +/0

individuelle Restkonstingenz ++ + + + + +/+ + + ( + / + + +)

Einfluß auf die Präferenzordnung +++ 0 0

(+)

Die intrinsische Motivation der Mitglieder läßt sich pauschal kaum einschätzen. Es zeigen sich jedoch auch hier signifikante Veränderungen im Verlauf der Systementwicklung. So setzt die Mitwirkung im Quasi-System zumindest für die Phase kurz vor der Systemgründung ein hohes Niveau positiver intrinsischer Motivation bei den einzelnen Mitglieder voraus. Dieses Niveau ist auch in der ersten Zeit nach der Systemgründung noch vorhanden. Der erfolgreiche Start macht Freude und wird spürbar genossen. Danach kann es jedoch mehr oder weniger schnell zum Absinken der Motivation kommen, wenn das fortschreitende Systemwachstum und die aushärtende Präferenzordnung die persönlichen Einflußmöglichkeiten stärker reduzieren und die persönlichen Kontingenzspielräume (= individuelle Restkontingenz) wieder anwachsen. Etwas anders sieht es bei Leitungs- und Führungsrollen aus. Hier kann die intrinsische Motivation länger stark ausgeprägt bleiben oder sogar ungebrochen hoch bleiben. Es ist aber ebenso gut möglich, daß die Motivationskrise der Mitglieder, die "Freiheiten", die sie sich im zunehmenden Maße herausnehmen, und gerin-

232

III. Systemtheoretische Grundlagen

ge eigene Gestaltungsmöglichkeiten, auch die Führungsetagen nicht unberührt lassen. In diesem Fall kann auch dort die intrinsische Motivation gegen Null tendieren. Dies wird weitgehend unbemerkt bleiben, denn Inhaber von Führungspositionen werden vom System für ihre Treue zur Präferenzordnung gut belohnt. Sie werden extrinsisch motiviert und setzen ihre "Prämien" aufs Spiel, wenn sie den Motivationsverlust publizieren. Die individuellen Freiheiten werden zunächst freiwillig eingeschränkt. Die Einschränkungen bleiben stark, solange das System in der Lage ist, eine unmittelbare Sozialkontrolle auszuüben. Später ändert sich das. Je mehr das System wächst und seine Unüberschaubarkeit zunimmt, desto größer werden die Freiheitsspielräume, die dem einzelnen Mitglied zur Verfügung stehen. Die Spielräume der Führungskräfte wachsen zeitverzögert. Die Wunschvorstellungen vieler kirchlicher Mitarbeiter orientieren sich keineswegs zufällig am Systementwicklungsstatus kurz vor der Systemgründung. Man wünscht sich einen überschaubaren Kreis von intrinsisch motivierten und zugleich eigenständig aktiven Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen, etwa die "missionarische Dienstgruppe" oder die "engagierte Bekenntnisgemeinschaft". Wer würde nicht in einer Gemeinde, die solche Mitglieder hätte, mit Freuden tätig sein. Darüber macht man sich allerdings nicht klar, daß man diesen "Idealzustand", wenn man ihn denn einmal hätte, gar nicht festhalten könnte. Systementwicklung kennt keinen Stillstand. Sozialsysteme sind grundsätzlich immer in Bewegung. Solange sie erfolgreich sind, wächst neben dem Erfolg auch die Selbstbezüglichkeit des Systems. Das aber produziert unausweichlich alle Folgeprobleme: Routine, Verbürokratisierung und erlahmende Motivation. Mit zunehmender Systemkomplexität wird es zunehmend schwerer, Menschen zu finden, die sich für "die Sache" der jeweiligen Präferenzordnung hochmotiviert einsetzen. 108 Warum sollte jemand sich aktiv für eine Großorganisation einsetzen, wenn er allenfalls minimale Einflußmöglichkeiten hat und für das Bestehen des Ganzen gar nicht gebraucht wird? Der vermeindliche "Idealzustand", von dem in den Landeskirchen immer wieder geträumt wird, läßt sich gerade nicht institutionalisieren und auf Dauer stellen. Dennoch liegt an dieser Stelle einer der Schlüssel zur Reform der evangelischen Gemeindearbeit. Die Gemeindearbeit der Zukunft wird nicht ohne die intrinsische Motivation der Gemeindemitglieder auskommen können. Wer tatsächlich mit dem Gedanken und den Zielvorstellungen des "allgemeinen Priestertums" ernstmachen möchte, der wird nach Möglichkeiten suchen müssen, die es den Mitgliedern erlauben, trotz aller Hindernisse, die die bürokratische Großorganisation Landeskirche dem entgegenstellt, selbst aktiv zu werden. Im letzten Teil der Arbeit wird ein Vorschlag zur Neuordnung der parochialen

108 Es ist nicht erstaunlich, daß es in einer Gesellschaft, die als "gebranntes Kind" größten Wert darauf legt, persönliche Freiheit unter den besonderen Schutz des Staates zu stellen, nach fast 50 Jahren steigenden Wohlstandes und wachsender persönlicher Spielräume immer weniger Menschen gibt, die bereit sind, ihr persönliches Engagement am Gemeinwohl zu orientieren.

4. Ergebnisse und Übersichtstabellen

233

Gemeindearbeit unterbreitet, der diesen Gedanke wieder aufgreift. Die Motivation der Mitglieder ist der entscheidende Anknüpfungspunkt für die evangelische Gemeindearbeit, nicht aber die Implikationen eines irgendwie gearteten obrigkeitlichen Denkens. Wer sich dagegen mit Hilfe der Systemtheorie klar gemacht hat, daß soziale Systeme auf Gedeih und Verderb auf ihre Mitglieder angewiesen sind, der wird auch den Streit um den Dienstleistungscharakter der Kirchengemeinden als erledigt ansehen. Wenn es um den Dienstcharakter der kirchlichen Arbeit geht, dann leidet die kirchliche Mitarbeiterschaft an einer geradezu erstaunlichen Verdrängungsgeschichte. Einerseits führen die Kirchen das Wort "dienen" bei vielen Gelegenheiten ostentativ im Munde, von der "Dienstgemeinschaft" bis hin zum Gottes-"dienst" und zum "Dienstgebot" Jesu Christi. Andererseits aber wird ständig betont: "Unser Leitbild ist freilich nicht ein möglichst perfekt funktionierender Dienstleistungsbetrieb".109 Schreibt man den Begriff einmal absichtsvoll mit Bindestrich, dann erscheinen zwei Worte, die durchaus anspruchsvoll und angemessen klingen: "Dienst" und "Leistung". Es wäre die Aufgabe der Kirchen und ihrer Mitarbeiter, zu "dienen", indem sie sich um eine hochqualifizierte, eine personen- und menschengerechte Verkündigung bemühen. Systemtheoretisch betrachtet geht es nicht mehr um das "ob" des Dienstleistungscharakters. Die Landeskirchen können nur wenige ihrer Mitglieder für systemkonformes Verhalten bezahlen und Druck ausüben, wie in alten Zeiten, können sie ohnehin längst nicht mehr. Von daher ist nur noch darüber nachzudenken, welches die besten Wege sind, um die Versprechen, von und mit denen die Kirchen und die Kirchengemeinden leben, kommunizierbar und erfahrbar zu machen. Bezogen auf die genannten drei Versprechen (Dienstleistung, Sinn, Gemeinschaft) bedeutet das dreierlei: 1. Verbesserung und Entwicklung eines qualitativ hochwertigen Dienstleistungsangebots, verstanden als kirchlicher "Dienst" und kirchliche "Leistung". 2. Aktive Profilierung und Positionierung des kirchlichen Sinnangebots im Wettbewerb der Sinnanbieter. Auf diesem Arbeitsfeld besteht ein erheblicher innerkirchlicher Klärungbedarf. Die Gemeindepfarrer/innen sind damit überfordert, diese Aufgabe vor Ort und vereinzelt auf sich gestellt zu lösen. Die Sachkompetenz übergeordneter Instanzen ist angefragt und gefordert. 3. Eine kritische Überprüfung der innerkirchlichen Gemeinschaftskultur, von der auch die Andachts- und Religionskultur nicht auszuschließen wäre. Gebraucht werden Kreativität und Mut, damit nicht nur die (relativ wenigen) "Bekannten", "Wichtigen" und "Treuen" unter den Gemeindemitgliedern Gelegenheit haben, unter dem Dach des Gemeindehauses, aber nicht nur da, ihr Christsein zu entfalten. In der Summe geht es um eine erkennbar stärkere Verankerung der Kirchengemeinden in der Gesellschaft und im gesellschaftlichen Systembereich Religion. 109 ROSTA: Vorschläge, S.35

IV. Systementstehung Gemeinde und Kirche im Neuen Testament

In den folgenden vier Kapiteln wird das Thema "Die Kirchengemeinde - Sozialsystem im Wandel" nach verschiedenen Seiten hin entfaltet werden. Kapitel V ist der Landeskirche gewidmet, Kapitel VI den Kirchenmitgliedern und ihrer Religiosität. Im Kapitel VII werden die Ergebnisse der Untersuchungen für die Ortskirchengemeinde fruchtbar gemacht. Zunächst wird im vorliegenden Kapitel IV das neutestamentliche Fundament gelegt. Wer erwartet hätte, er brauche nur die Bibel aufzuschlagen, um nachzulesen, was dort über die christliche Kirche und über die Kirchengemeinde festgelegt ist, der wird in mehrfacher Hinsicht enttäuscht. Es beginnt schon damit, daß Jesus von Nazareth, auf den sich alle christlichen Kirchen berufen, an einer gesellschaftlich etablierten Großorganisation namens "Kirche" gar nicht interessiert war. In der Zeit seiner irdischen Wirksamkeit hat Jesus das "Reich Gottes" verkündigt, und dieses Reich Gottes war alles andere als eine soziale Großorganisation. Nicht einmal Kirchengemeinden hat er gegründet. Die vielzitierte These des katholischen Theologen Alfred Loisy "Jésus annonçait le royaume, et c'est l'Église qui est venue" 1, faßt auch nach dem heutigen Stand der Forschung den Verlauf der Ereignisse noch durchaus zutreffend zusammen. Aber auch die Kirche hat sich nicht so schnell und nicht so gradlinig entwickelt, wie es Lukas in seiner Apostelgeschichte dargestellt hat. Nach seiner Kreuzigung hinterließ Jesus lediglich einen Jüngerkreis, der, wenn die Passionsberichte der Evangelien Recht haben, zunächst einmal auseinanderfiel (Mk 14,50.71). Am Anfang der Selbstorganisation des Christentums nach Ostern stand nicht eine einzige geistliche Eizelle, aus der alles andere dann hervorgegangen wäre. Vielmehr waren die ersten Jahrzehnte der werdenden Christenheit von einer Vielzahl unterschiedlicher Bemühungen um das Erbe Jesu geprägt. Vermutlich hat sich erst in den letzten Jahrzehnten des ersten Jahrhunderts nach Christus aus einer ganzen Reihe von unterschiedlich nebeneinander entwickelten, aber durchaus auch miteinander verzahnten Traditionsbildungen das Problembewußtsein für das gemeinsame "Kirche sein" (im Sinne einer ecclesia visibilis) entwickelt und so geschärft, daß man sich daran machte, das inhaltliche Profil einer orts- und regionenübergreifenden christlichen Gesamtkirche zu entwerfen. Erst um die Wende von zweiten zum dritten nachchristlichen Jahrhundert ist es, gegen erhebliche Widerstände, gelungen, normative Kriterien festzuschreiben (Glaubensbekenntnis, Kanon der biblischen Schriften, monarchischer Episkopat), die es gestatten, von der Existenz einer operativ geschlossenen Präferenzordnung der sichtbaren Kirche Jesu Christi zu spre1

A.Loisy: L'évangile et l'église, Paris 2 1903, S.155

IV. Systementstehung

235

chen. Erst in dieser Zeit wurde die dritte Stufe des eben dargestellten Systementwicklungsprozesses erreicht. Eine überregionale christliche Großkirche hatte Systemcharakter gewonnen. Gleichwohl ist es in der gesamten Geschichte des Christentums nie zum Zusammenschluß und zur Bildung einer einzigen ecclesia visibilis gekommen. Auch die irdische Kirche des dritten Jahrhunderts, die den Anspruch formulierte, die "eine, heilige, katholische und apostolische" Kirche zu sein, war nur eine unter mehreren christlichen Kirchbildungen. In einzelnen Regionen konnte sie durchaus die zahlenmäßig kleinere Kirche sein. Nimmt man die Großkirche des dritten Jahrhunderts zum Maßstab der Beurteilung, dann findet man in den neutestamentlichen Schriften lediglich die ersten Stufen dieses Systementstehungsprozesses, die Herausbildung verschiedener Christuszeugnisse, die Schilderung regional und personal bedeutsamer Ereignisse, die Entstehung von Orts- und Regionalgemeinden. In der Terminologie des Systementstehungsmodells gesprochen: man findet die Stadien der "elementaren Interaktion", die Entstehung von Quasi-Systemen und den Übergang von QuasiSystemen zu einfachen, lokal und regional begrenzten Systemen. Im folgenden Kapitel wird es nicht darum gehen, die Entwicklungsgeschichte der christlichen Kirche(n) nachzuzeichnen (etwa um im Anschluß daran die These vom Niedergang des postkonstantinischen Christentums in der modernen Gesellschaft zu begründen). Vielmehr geht es im Sinne des Schriftprinzips Martin Luthers darum, das neutestamentliche Zeugnis zu prüfen, um daraus Einsichten in die Organisationswirklichkeit der christlichen Gemeinden und Impulse für die praktisch-theologische Theoriebildung zu gewinnen. Zunächst wird die Verkündigung Jesu von Nazareth dargestellt, auf die sich alle nachösterlichen Christen berufen (1.: "Jesus verkündigt das Reich Gottes"). Anschließend werden Brücken und Bindeglieder zwischen dem irdischen Jesus und nach nachösterlich erglaubten Christus benannt (2.: "Impulse, die über Jesu Tod hinausweisen"). In einer theologischen Reflexion wird das von Jesus verkündigte "Reich Gottes" als "mythischer Raum des Heiligen" im Sinne von Ernst Cassirer beschrieben (3.: "Die ecclesia invisibilis als religiöses Referenzsystem der sozialen Systemgründungen"). Im vierten Teil werden Nachrichten über die ersten christlichen Missionsbestrebungen und Gemeindegründungen zusammengestellt (4.: "Die Vielstimmigkeit der Anfänge christlicher Selbstorganisation"). Schließlich werden Aspekte der Entwicklung dargestellt, in der sich die Vorstellung von einem irdischen Kirche-Sein der Christenheit herausgebildet hat (5.: "Unterwegs zur Einheit der ecclesia visibilis - Theologische Kriterienbildung unter der Voraussetzung der urchristlichen Vielfalt").

1. Jesus verkündigt das "Reich Gottes" Jesus von Nazareth war kein religiöser Theoretiker, sondern hat sich stets unmittelbar auf das bezogen, was um ihn herum sichtbar und erfahrbar war.

236

IV. Systementstehung

Die Lebensverhältnisse der Menschen seiner Zeit sind in seiner Predigt und in seinem zeichenhaften Handeln unmittelbar präsent. Vieles von dem, was er sagte und tat, ist erst dann richtig verstanden, wenn man es vor dem Hintergrund der damaligen Lebensumwelt versteht.^

1.1 Das Umfeld des Wirkens Jesu a) Judentum zur Zeit Jesu - Massenemigration und Hellenisierung Jesus war Jude. Eduard Lohse hat das Judentum zur Zeit Jesu so beschrieben: "So vielfaltig und bunt das Bild ist, das die Gruppen und Bewegungen innerhalb des Judentums in der Zeit des Neuen Testaments bieten, so klar sind doch bestimmte Züge des Lebens und Glaubens der Juden zu erkennen, die allen gemeinsam waren und sie von der nichtjüdischen Umwelt unterschieden. Das Bekenntnis zu dem einen Gott, der der Herr der Welt und der König des Volkes ist, sollte im Gehorsam gegen seinen Willen sichtbar werden ... Wenn es auch innerhalb des Judentums unterschiedliche Auffassungen darüber gab, in welcher Weise das Gesetz im einzelnen auszulegen und zu befolgen sei, so waren doch alle Juden in der Überzeugung einig, daß das Gesetz als Gottes heiliger Wille seinem Volk gegeben ist, das er aus allen Völkern ausgesondert hat. In Tempel und Synagoge wurde sein Name gepriesen und sein Wille verkündigt; der Glaube an den einen Gott, der die Seinen nicht verläßt, und die Hoffnung auf die kommende Erlösung wurden von allen Juden geteilt, mochten sie in Palästina oder in der Diaspora leben, sich in gesicherten oder in bedrängten Verhältnissen befinden ".3

2

3

Die nachfolgenden Ausführungen gehen von der Annahme aus, daß die biblischen Evangelien nicht nur die Glaubenszeugnisse der ersten Jüngergenerationen wiedergeben, sondern auch authentische Informationen über das Denken und Wirken des Jesus aus Nazareth selbst enthalten. Seit M.Kahler: Der sogenannte historische Jesus und der geschichtliche biblische Christus ^1896, neu hg.v. E.Wolf, München 1969 ist das Thema in der Diskussion und die Gewichte haben sich bald zu dieser, bald zu jener Seite hin geneigt. Der Diskussionsverlauf ist kurz dargestellt bei P.Stuhlmacher: Jesus von Nazareth. Christus des Glaubens, Stuttgart 1988, S. 11-13. Damit stellt sich ein methodisches Problem. Es ist nicht leicht, solche authentischen Passagen zu erkennen. Wer die Fachliteratur durcharbeitet, wird immer wieder feststellen, daß die Zuweisungen im Detail zuweilen sogar extrem auseinander gehen. Was der eine Exeget mit guten Gründen auf Jesus selbst zurückführt, weist ein anderer mit eben solchen der nachösterlichen Zeit zu. Deshalb wird in den Anmerkungen immer wieder auch auf anderslautende Positionen hingewiesen werden. Vieles ist hier noch im Fluß. E.Lohse: Umwelt des Neuen Testaments, Göttingen 1977, S.105f

1.1 Das Umfeld des Wirkens Jesu

237

Um allerdings das spezifische Profil der Verkündigung Jesu erkennen zu können, ist es notwendig, den Blick von den Gemeinsamkeiten der jüdischen Religion auf ihre Verschiedenheiten hinzulenken, denn das Judentum zur Zeit Jesu war weder religiös noch territorial oder sozial homogen. Es hatte viele Gesichter. "Von etwa 7 Millionen Juden lebten um die Zeitwende nach Schätzungen von Ben-David etwa 6 Millionen außerhalb Palästinas".4 Selbst wenn das Zahlenverhältnis nach unten zu korrigieren wäre, bedeutet das doch, daß der weit überwiegende Teil des jüdischen Volkes im Ausland lebte. Man hat eine ganze Reihe von Ursachen gefunden, die für das Phänomen der Massenemigration verantwortlich gemacht werden können. Die geostrategische Lage Palästinas im Zentrum zahlloser Kriege und Machtkämpfe, Überbevölkerung, ein krasses soziales Gefalle, durch das die Mehrheit der Bevölkerung ständig von Überschuldung und sozialem Abstieg bedroht war, die negativen Auswirkungen des Erbrechts, das den Erstgeborenen allen übrigen Söhnen vorzog. Dies alles hatte dazu geführt, daß zur Zeit Jesu in allen Provinzen des römischen Reiches jüdische Auswanderer lebten. "Gebiete mit hoher jüdischer Siedlungsdichte gibt es in Ägypten (Alexandrien), Kleinasien (Ephesus), Syrien (Damaskus und Antiochia) und ... in Mesopotamien [Babylon] ... weitere Zentren in Korinth und Rom".5 Da die Juden auch in fremden Ländern ihrem Glauben treu blieben, blieben die religiösen Bindungen an das Mutterland erhalten. Aber auch die persönlichen Beziehungen, die ja mit der Auswanderung nicht unbedingt verlöschen müssen, könnten sich bis in den hintersten Winkel des Landes hinein erstreckt haben. 6 Vermutlich geht man nicht fehl in der Annahme, daß selbst die kleineren Dörfer in Israel Kontakte in die "große Welt" hinein besessen haben. Israel selbst war keineswegs territorial oder ethnisch homogen. Seit der Eroberung Palästinas durch die Griechen unter Alexander dem Großen waren Land und Volk immer neuen Hellenisierungschüben ausgesetzt, die auch unter römischer Herrschaft ungebrochen wirksam blieben.7 Israel war nicht nur von heidnischen Elementen aller Art umgeben**, es war zur Zeit Jesu längst schon von ihnen durchsetzt und hatte sie in einem nicht mehr genau faßbaren Umfang assimiliert. Das gilt auch für Galiläa, die Heimat Jesu. Auch hier gab es eine jüdisch-heidnische Mischbevölkerung.9 Herodes Antipas (4 ν.-39 n.Chr.) hatte

4 5 6 7 8 9

W.Bösen: Galiläa als Lebensraum und Wirkungsfeld Jesu. Eine zeitgeschichtliche und theologische Untersuchung, Freiburg u.ö. 1985, S.187 W.Bösen: Galiläa, S. 188 Das Phänomen der Rückwanderung im Alter kann man heute noch auf vielen Mittelmeerinseln beobachten. vgl. zum folgenden: M.Hengel: Juden, Griechen und Barbaren, Stuttgart 1976, bes. 73115 "Um die Zeitwende ist Galiläa ganz und gar in ein heidnisches bzw. halbheidnisches Umland eingebettet." - W.Bösen: Galiläa, S.204 S.Freyne: Galilee, S. 129. Auf hasmonäische Initiative hin war zu Beginn des letzten vorchristlichen Jahrhunderts eine Rejudaisierung Galiläas durch verstärkte Neuansiedlung gesetzestreuer Juden vorangetrieben worden. Galiläa sollte in seinem ursprünglichen Umfang für das Volk Israel zurückgewonnen werden. Dieses Ziel war aber nicht vollständig er-

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IV. Systementstehung

in Galiläa mit Sepphoris und Tiberias zwei Städte nach hellenistischem Vorbild bauen lassen. In Sepphoris gab es ein Theater, in Tiberias stand außer seinem Palast auch ein Stadion, in Magdala, der dritten größeren Stadt Galiläas, gab es ein Hippodrom. Man kann davon ausgehen, daß diese Vergnügungsstätten nicht nur gebaut, sondern auch benutzt und besucht worden s i n d . Allerdings weichen die Ein-schätzungen in der Frage, inwieweit sich das auch auf die Religiosität der jüdischen Bevölkerungsteile in Galiläa ausgewirkt hat, stark voneinander ab. ü b) Identitätskrise Die kulturelle und politische Realität des Volkes Israel sah damit völlig anders aus, als sein religiöses Selbstverständnis es vorsah. Religiös verstand Israel sich als Theokratie, geleitet und regiert von dem einen und einzigen Gott, der sein auserwähltes Volk nicht preisgibt. Einmal würden alle Völker die Herrschaft dieses Gottes anerkennen und zu seinem Tempel strömen (Sach 14,16). "Und die Heiden werden zu deinem Licht ziehen und die Könige zum Glanz, der über dir aufgeht ... Es werden gebückt zu dir kommen, die dich unterdrückt haben, und alle, die dich gelästert haben, werden niederfallen zu deinen Füßen und dich nennen 'Stadt des Herrn', 'Zion des heiligen Israels' (Jes 60,1.14)." Gott selbst würde über alle Welt herrschen. Mit dieser Überzeugung verband sich "ein für die Antike einzigartiges Erwählungsbewußtsein". 12 Damit ist ein Problem skizziert, das Israel zur Zeit Jesu sehr bewegte: Israel stand in einer Identitätskrise. "Theokratie und Monarchie konnten an israelitische Traditionen anknüpfen, Imperium und Stadtrepubliken [aber] waren fremd". 13 Zwischen den unterschiedlichen Herrschaftsansprüchen und den jeweils mit ihnen verbundenen Denk- und Glaubens weisen kam es zu ständigen Reibereien. Israel war hin und hergerissen zwischen Assimilationstendenzen und mehr oder weniger energischen Versuchen der Identitätswahrung im Sinne der alten religiösen Grundüberzeugungen. Vor diesem politischen und kulturellen Hintergrund wird auch der religiöse Traum von einer (zukünftigen) "Herrschaft Gottes" verständlich. Die "Spannungen zwischen den irdischen Herrschaftsstrukturen för-

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reicht worden. - A.Alt: Galiläische Probleme, in: Kleine Schriften II, München S. 363-435 Die pro-römische Einstellung von Sepphoris zeigte sich deutlich zu Beginn des jüdischen Krieges (S.Freyne: Galilee from Alexander the Great to Hadrian (323 B.C.E. to 135 C.E.), Indiana 1980, S.123f)· Tiberias galt in Kreisen der frommen Juden als unreine Stadt, da sie teilweise auf Grabstätten errichtet worden und mit Freigelassenen und Besitzlosen besiedelt worden war. Annahme einer wenig oder gar nicht eingetrübten jüdischen Religiosität im weitaus größten Teil der Bevölkerung: B.J.Lee: The Galilean Jewishness of Jesus. Retrieving the Jewish Origins of Christianity, New York 1988, S.92f. Annahme einer stärkeren Vermischung, mit nivellierenden Tendenzen: W.Bösen: Galiläa, S.158 M.Hengel: Juden, S. 110 G.Theißen: Soziologie der Jesusbewegung, München 1977, S.62

1.1 Das Umfeld des Wirkens Jesu

239

derten die Sehnsucht nach der Herrschaft G o t t e s " . Gemeinsam mit vielen anderen Erneuerungs- und Reformbewegungen des Judentums verfolgten auch Jesus und sein Jüngerkreis das Ziel, die Identität des jüdischen Volkes als des auserwählten, heiligen Volkes Gottes im Gegenüber (und im aufgezwungenen Miteinander) zur hellenistischen Kultur wiederzugewinnen und zu bewahren. Alle waren sie davon überzeugt, daß dies letztlich nur Gottes Werk sein könnte und auch sein würde. In ihren Vorstellungen, wie sich das heilige Volk aus der Völkerwelt heraus sammeln würde, unterschieden sie sich allerdings erheblich. Die Wiederstandsbewegungen versuchten, die Römer aggressiv aus dem Land zu vertreiben. Die Essener erwarteten eine apokalyptische Katastrophe und sammelten den "heiligen Rest", der gerettet werden würde. Die Pharisäer bemühten sich darum, im alltäglichen Leben das Mosegesetz gewissenhaft zu erfüllen und jeden Kontakt mit den Unreinen und Unreinheit zu v e r m e i d e n . 15 c) Galiläa Jesus wirkte überwiegend in den ländlichen Regionen Galiläas. Die größeren galiläischen Städte wie Sepphoris, Tiberias und Magdala hat er wohl absichtsvoll gemieden. Galiläa wurde damals von Herodes Antipas regiert, der Rest Palästinas stand von Syrien aus unter römischer Direktverwaltung. In mehrfacher Hinsicht handelte es sich bei Galiläa um eine "geschlagene" Region. Das Land war nicht nur von Naturkatastrophen bedroht, es war auch sozial tief gespalten. Große Latifundien existierten. Pächter oder Verwalter besorgten sie (Mk 12,1-9), während deren Besitzer "herrlich und in Freuden" lebten (Lk 14,16; 16,19). Teilweise wohnten sie außerhalb des Landes und reisten nur zur Inspektion und zur Übernahme der Gewinne an. 17 Lk 19,26 ("Wer hat, dem wird gegeben, und wer nicht hat, dem wird auch das genommen, was er hat. ") ist vor diesem Hintergrund wohl nicht nur geistlich zu verstehen, es beschreibt soziale Realitäten. Geldverleih, Schulden und Zinsen tauchen als Themen auch in verschiedenen Gleichnissen auf: Vom ungetreuen Haushalter Lk 16,1-9; vom Schalksknecht Mt 18,23-34; von den anvertrauten Talenten Lk 19,11-26. Wer 14 15

16 17

G.Theißen: Soziologie, S.73 und 62f Immer wieder kam es zum Auftreten von prophetischen Sammlungsbewegungen (vgl. Apg 5,36ff). Apg 21,38 weiß von einem "Ägypter", der 4000 Menschen in die Wüste führte. "Mehrere prophetische Bewegungen verhießen im l.Jh.n.Chr. ein wunderbares Eingreifen Gottes zugunsten Israels, eine Wiederholung vergangener Heilstaten. Theudas versprach eine erneute Spaltung des Jordans (ant 20,97ff), ein anderer die Wiederholung des Jerichowunders an den Mauern Jerusalems (ant 20,167ff), Jonathan Wunder in der Wüste (bell 7,438 vgl. auch ant 20,167f). Ein samaritanischer Prophet wollte die verschwundenen Tempelgeräte auf dem Garizim aufspüren (ant 18,85ff) ... Alle Propheten zogen mit ihren Anhängern an den Ort des zu erwartenden Wunders. Aber jedes Mal griffen die Römer rasch ein, richteten ein Blutbad an oder inhaftierten den Anführer". - G.Theißen: Soziologie, S.58 vgl. zum folgenden S.Freyne: Galilee, S. 155-200; W.Bösen: Galiläa, S. 172-187, dort die Kartierung S.184f Mk 12,lf; (13,35); Mt 25,19; 25,26f; Lk 16,1

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IV. Systementstehung

seine Schulden nicht bezahlen konnte, wurde "den Peinigern überantwortet" (Mt 18,34) und fiel in Schuldknechtschaft (Lk 16,3b). Schuldenerlaß konnte deshalb sinnbildlich sogar die Gnade Gottes v e r a n s c h a u l i c h e n . ^ Schwer litt die Bevölkerung auch unter der doppelten Besteuerung durch staatliche und religiöse S t e u e r n . 19 Die Steuerlast, gegen die immer wieder protestiert wurde, muß vor allem in Mangeljahren sehr schnell existenzbedrohende Ausmaße angenommen haben. Das Recht, Steuern einzunehmen, war in Galiläa zu Festsätzen an Kleinunternehmer, die sogenannten "Zöllner", verpachtet. Sie arbeiteten auf eigenes Risiko und nahmen von daher keine Rücksichten auf jahrgangsspezifische Ertragsschwankungen. Sie beschäftigten ihrerseits "Subunternehmer", die ebenfalls von der Einnahmenhöhe profitierten, und konnten so auf dem Rücken der Bevölkerung beachtliche Gewinne erzielen. Ihr Negativimage, in den Evangelien überliefert (Mk 2,16; Lk 19,7), ist von daher verständlich. Zusätzlich gab es in Israel auch noch religiöse Steuern. Anders als die staatlichen Steuern galten sie vielen Juden als legitime Steuern. Die Priester lebten davon, und die Pharisäer achteten aus religiösen Gründen darauf, den Zehnten abzuführen (Lk 18,12; Mt 23,23), denn sie stellten damit ihre Treue zur Thora unter Beweis. Man darf aber nicht annehmen, daß die gesamte Bevölkerung so dachte und auch handelte, denn die Zehntgesetze waren nicht nur kompliziert, sie gingen auch einseitig zu Lasten der L a n d b e v ö l k e r u n g . 2 0 Im Galiläa der Zeit Jesu befand sich ein nicht unbeträchtlicher Teil der Bevölkerung in existenzgefährdenden oder sogar lebensbedrohlichen Umständen. Seán Freyne hat die These vertreten, daß nicht allein Angehörige der Unterschicht betroffen waren. Auch mittelständische Bevölkerungsgruppen, wie etwa Fischer, Handwerker oder Kleinbauern, befanden sich damals in einem permanenten Abwehrkampf gegen den drohenden Absturz in Armut und Elend. Aus dieser Situation heraus erklärt sich die latente Bereitschaft vieler Menschen, Hab und Gut zu verlassen, auszuwandern oder sich den religiösen, politischen oder auch kriminellen Bewegungen a n z u s c h l i e ß e n . 2 2

1.2 Das "Reich Gottes" In der Verkündigung und im Handeln Jesu lassen sich eine Reihe von Elementen auffinden, die vor diesem Hintergrund verständlich werden. Jesus hatte 18

19 20 21 22

Mt 18,27; Lk 16,5-7. Nach der Eroberung der Oberstadt Jerusalems im Jahr 66 n.Chr. haben die Zeloten das Stadtarchiv in Brand gesteckt, um "die Schuldverschreibungen der Geldverleiher zu vernichten und die Eintreibung der Schulden unmöglich zu machen" (Josephus, bell 2,427). S.Frey ne: Galilee, S. 183-194 Α.Oppenheimer: The 'Am Ha-arez. A Study in the Social History of the Jewish People in the Hellenistic-Roman Period, Leiden 1977, S.70f S.Freyne: Galilee, S. 195 G.Theißen: Soziologie, S.38

1.2 Jesus: Das "Reich Gottes"

241

seine erste religiöse Prägung in seinem Elternhaus und in der Synagoge erhalten. Vor seiner eigenen religiösen Wirksamkeit aber stand noch die Begegnung mit Johannes dem Täufer.23 Der Täufer rief ganz Israel zur "Buße" auf und predigte, daß vor dem kommenden Weltenrichter die ererbte Zugehörigkeit zum Volk Gottes nicht gelten würde: "Ihr Otterngezücht! Wer hat euch gelehrt, daß ihr dem kommenden Zorngericht entrinnen sollt? Bringt also rechtschaffene Frucht der Buße und meint nicht, ihr könntet denken: wir haben Abraham zum Vater. Denn ich sage euch: Gott kann aus diesen Steinen dem Abraham Kinder erwecken. Schon ist die Axt den Bäumen an die Wurzel gelegt, und jeder Baum, der nicht Frucht bringt, wird abgehauen und ins Feuer geworfen" (Mt 3,7-10). Johannes hatte eine religiöse Bewegung gegründet^, die auch nach seinem Tod noch weiter fortbestand (Mk 2,18f). Die Evangelien berichten übereinstimmend, daß auch Jesus von Johannes getauft wurde. Von daher liegt es nahe, anzunehmen, daß Jesus zunächst Johannesjünger war. Er muß sich dann aber von Johannes getrennt haben, denn seine Verkündigung zeigt, bei aller grundsätzlichen Übereinstimmung hinsichtlich des Bußrufes, den er ebenso wie Johannes an jeden einzelnen richtet, doch eine deutlich andere Schwerpunktsetzung: Das kommende Strafgericht, das bei Johannes so dominierend im Vordergrund steht, ist bei Jesus zurückgetreten. Er kennt es zwar auch^S, aber mit deutlich stärkerer Gewichtung verkündigt Jesus die "basileia tou theou" ("Gottesherrschaft" bzw. "Reich G o t t e s "26), den alten religiösen Traum seines Volkes. Die alttestamentlichen Propheten hatten die "Königsherrschaft Gottes" als ein durchaus diesseitiges, innerweltliches, aber dennoch definitives Geschehen verstanden: Gott selbst würde die Herrschaft über sein Volk und damit auch über alle Welt übernehmen (Jes 52,7; Sach 14,9). Die jüdische Apokalyptik hatte diese Vorstellung zwar aufbewahrt, sie konnte aber das Kommen Gottes auch als ein transzendentes Geschehen auffassen: Ein ganz neuer Äon würde 23

24 25 26

Ob Johannes nur in der Wüste predigte, ist umstritten. J.Murphy-O'Connor: John the Baptist and Jesus: History and Hypotheses, in: NTS 36/1990, S.359-374 meint, daß der Täufer in Judäa, in Samaria (S.364-366) und in Galiläa (S.369) getauft hat; H.Köster: Einführung in das Neue Testament, Berlin u.ö. 1980, S.504, weist daraufhin, daß Johannes im Herrschaftsgebiet des Herodes Antipas (Galiläa und Peräa) enthauptet wurde. H.Lichtenberger: Täufergemeinden und frühchristliche Täuferpolemik im letzten Drittel des 1.Jahrhunderts, in: ZThK 84/1987, S.36-57 Mt 11,22.24; 12,36; Lk 12,16-20; 16,1-9 Es gibt in der Forschung keine Übereinstimmung, wie der Begriff zu übersetzen ist. Die Vorschläge schwanken zwischen "Reich Gottes", "Königsherrschaft Gottes" und "Gottesherrschaft". Einen Kompromiß hat J.Gnilka vorgeschlagen: "nur bei Einlaßspnichen (wie Mkl0,25 oder Mt 18,80 "Reich Gottes", sonst "Herrschaft Gottes" (Jesus von Nazareth. Botschaft und Geschichte, Freiburg u.ö. 1990, S.88). In der Spannweite der Übersetzung spiegelt sich bereits, daß die exakte Bedeutung des Begriffs unklar ist. "Nirgendwo findet sich im Evangelium eine Erklärung dessen, was die Gottesherrschaft ist" (ebd., S.142). Ähnlich urteilt A.Kretzer: "Noch weniger läßt er sich in eine präzise Definitionsformel zusammenfassen" (Die Herrschaft der Himmel und die Söhne des Reiches, Stuttgart u.ö. 1971, S.19). Weiter unten wird ein Lösungsvorschlag gemacht: die Basileia ist ein "mythischer Raum" im Sinne Ernst Cassirers.

242

IV. Systementstehung

anbrechen und Gottes Herrschaft vor aller Welt sichtbar machen. "Auch wo man den Anbrach der Gottesherrschaft in dieser Welt erwartet, wird er oft ins Überirdische ausgeweitet, und auch wo die Erwartung eines totaliter aliter im Zentrum steht, wird das meist mit irdischen Zügen und politisch-gesellschaftlichen Aspekten verknüpft (vgl. Dan 7,13f; Assumptio Mosis 10). Entscheidend ist der universale, definitive und baldige Herrschaftsantritt Gottes, der alles verwandeln und zugunsten seines Volkes intervenieren w i r d " . I n der zweiten Bitte des Vater Unser ("dein Reich komme") ist dieses zukunftsorientierte Verständnis der Gottesherrschaft erhalten. Daneben findet sich aber bei Jesus unübersehbar ein präsentisches Verständnis: "Das Reich Gottes ist in eurer Mitte" (Lk 17,21). Von diesem präsentischen Verständnis her erschließt sich das besondere Profil seines Auftretens und seiner Verkündigung: "Wenn ich dagegen durch den Geist Gottes die Dämonen austreibe, so ist ja das Reich Gottes zu euch gekommen" (Mt 12,28). Es besteht kein Grund zu der Annahme, daß Jesus das nicht auch tatsächlich so gemeint hat. Er sagt also nicht, das Reich Gottes ist "im Kommen" oder "im Werden". Er konstatiert nicht das Vorhandensein von ersten bescheidenen Ansätzen als Basis eines selbstverstärkenden Prozesses. Es geht nicht darum, daß jeder, der neu hinzukommt, einen Wachstums· und Reifeprozeß verstärkt, der dann irgendwann einmal (u.U. erst nach viel Schweiß, Mühen und gemeinsamer Anstrengung) zum Ziel kommen wird. Nein, das Reich Gottes ist da.28 Es ist ohne Abstriche da, so daß man Jesus vielleicht am besten versteht, wenn man sich vorstellt, daß das Reich Gottes in einer situativen Simultaneität dort vollständig und unmittelbar präsent ist, wo Jesus wirkt.

1.3 Das Profil seines Wirkens Das Reich Gottes war nicht reserviert für einen kleinen Club von besonders Erwählten. Jesus wollte keinen "heiligen Rest" um sich versammeln. Dies lassen Texte wie Mt 20,1-16 (Arbeiter im Weinberg), Lk 15 (verlorener Sohn, verlorene Drachme), Lk 18,1-8 (ungerechter Richter) oder Mt 13,24-30 (Unkraut unter dem Weizen) unzweifelhaft erkennen. Er wandte sich allen zu, die für seine Botschaft vom Reich Gottes offen waren, und rief sie als das neue Gottesvolk zum Glaubensleben in der gegenwärtigen und zukünftigen Gottesherrschaft. Aber es ist kaum zu bestreiten, daß die Evangelien doch so etwas wie einen "Arbeitsschwerpunkt" Jesu erkennen lassen.29 Zu den Frommen hat es ihn gerade nicht hingezogen: "Die Starken bedürfen des Arztes nicht, sondern 27 28

29

W.Schrage: Ethik des Neuen Testaments, Göttingen 1989, S.24 R.Schnakenburg: Gottes Herrschaft und Reich, Freiburg 3 1963, S.79-88; A.Kretzer: Die Herrschaft, S.262f; W.H.Kelber: The Kingdom in Mark, Philadeplphia 1974, S.10; J.Gray: The Biblical Doctrine oft the Reign of God, Edinburgh 1979, S.319-321 zum religionsgeschichtlichen Kontext dieser Einstellung vgl. J.Gray: Doctrine, S.328f

1.3 Jesus: Das Profil seines Wirkens

243

die Kranken" (Mt 8,12). Mit dieser Einstellung hat er sich nicht nur Freunde gemacht. Das Gleichnis von den Arbeitern im Weinberg (Mt 20,1-16) spricht das Problem deutlich an. Indem Jesus sich an die "Nachzügler" wandte, brachte er die Gesetzestreuen, die ja berechtigterweise der Ansicht waren, sie hätten "immer schon gearbeitet", gegen sich auf. a) Predigten für die wirklich Armen Das Gleichnis von den Arbeitern im Weinberg ist aber noch unter einem ganz anderen Gesichtspunkt interessant. Es zieht das Schicksal derer ins Licht, die nach der Tagesordnung der Welt leer ausgehen. Es ist vermutlich gerade für diese Arbeitslosen erzählt, denn die Bildseite des Gleichnisses ist nur sinnvoll zu verstehen, wenn man sie mit den Ohren eines Arbeitslosen hört. Für Arbeitgeber ist es eine Anleitung zur Kapital Vernichtung, die zwangsläufig in den Betriebskonkurs fuhren muß. Für die Ohren eines Frommen ist es eine Provokation. Ein Arbeitsloser aber erkennt sich und seine eigene Situation in ihm wieder. Er ist es, der den ganzen Tag über sinnlos gewartet hat und nicht weiß, wovon er heute oder morgen überhaupt leben soll. Er ist angesprochen, ihm wird aus dem Herzen gesprochen. Es ist also durchaus nicht unwichtig, aus welcher Perspektive heraus ein Gleichnis erzählt ist. In den Evangelien finden sich noch weitere Texte, die ihre Parteilichkeit erkennen lassen, wenn man sie mit den Ohren von tatsächlich armen, nicht nur geistlich armen Menschen hört: Der ungetreue Haushalter (Lk 16,1-9), dessen Aktion, wenn man sie aus der Perspektive eines Wohlhabenden bewertet, schon mehr als dreist zu nennen ist. Er soll Rechenschaft über seine Vermögensverwaltung ablegen und geht zu den Schuldnern seines Herrn, um sie aufzufordern, ihre Schuldsummen herab (!) zusetzen. Aus der Perspektive der verschuldeten Menschen aber hat das durchaus Sinn: es ist ein ganz und gar unerwartetes, aber doch im tiefsten herbeigesehntes Gottesgeschenk für einen Menschen, dessen Schulden bedrückende Ausmaße angenommen haben. Hier wird den Reichen (aus der Perspektive der Armen) deutlich gesagt, wie sie mit ihrem Reichtum umgehen sollen: "Macht euch Freunde mit dem ungerechten Mammon, damit sie, wenn er ausgeht, euch aufnehmen in die ewigen Hütten" (16,9). Auch die Lebens- und Arbeitssituation der "bösen" Weingärtner aus Mk 12 verdient es, so betrachtet zu werden. War sie nicht durchaus geeignet, um sie "böse" zu stimmen? Das Gleichnis berichtet von einem Grundeigentümer, der irgendwo in einem fernen Land wohnt und nur ab und zu einen Boten vorbeischickt, um den Ertrag ihrer Arbeit abholen zu lassen. Die Polemik gegen den Zehnten fügt sich hier ebenfalls ein. Wieviel Wert wird wohl jemand, der heute nicht weiß, was er am nächsten Tag essen wird, ja nicht einmal, ob er überhaupt etwas essen wird, darauf legen, Gewürzkräuter zu verzehnten? (Mt 23,23) Man hat das vermutlich auch mit größeren Dingen nicht getan. Ebenso ist gut vorstellbar, daß die Speisegebote zur Disposition gestellt wurden, wenn

244

IV. Systementstehung

der Hunger erst einmal groß genug war. Ein Wort wie Mk 7,15 könnte gerade bei Hungernden auf fruchtbaren Boden gefallen sein: "Es ist nichts, was von außen in den Menschen hineingeht, das ihn könnte unrein machen; sondern was aus dem Menschen herauskommt, das ist's, was den Menschen unrein macht. " Schließlich steht außer Frage, daß auch die Verurteilung des "ungerechten Mammons" (Mt 6,24; Lk 16,13)31 u n ( j se jner unheilvollen Folgen von Gewalt, Unterdrückung und Ausbeutung durch die Reichen und Mächtigen (Mk 10,42) denen aus der Seele sprach, die nichts hatten oder um das wenige, was sie noch hatten, in großer Sorge waren. Vieles spricht dafür, daß die Armen, die Jesus selig preist, tatsächlich arm waren oder der Armut sehr konkret ins Auge blickten. "Selig seid ihr Armen, denn euch gehört das Reich Gottes. Selig seid ihr, die ihr hungert, denn ihr sollt gesättigt werden. Selig seid ihr, die ihr weint, denn ihr sollt lachen" (Lk 6,20f). In Mk 12,14 heißt es über Jesus: "Du achtest nicht das [äußere] Ansehen der Menschen". Es sieht so aus, als habe Jesus sich exemplarisch gerade solchen Menschen zugewandt, die von anderen Gruppen, zu denen wohl auch traditionsorientierte Kreise der P h a r i s ä e r ^ g e hörten, mehr oder weniger spürbar ausgegrenzt worden sind (Lk 19,10).33 31 32

33

Vgl. W.Schrage: Ethik, S. 107-111 C.Colpe nimmt an, daß die Kritik der Pharisäer am Verhalten Jesu in Mk 2,16 und Lk 15,2 "historisch zutreffend" wiedergegeben ist (Genossenschaft C: Jüdisch, in: RAC Bd. 10, Sp.138). Im pharisäischen Judentum gab es für Gesetzesunkundige und andere Randständige einen polemisch abgrenzenden Begriff, "am-ha'arez", "Landvolk". Ursprünglich war "am-ha'arez" die Bezeichnung für die Heiden, die im Land wohnten (Neh 10,28). Zur Zeit Jesu war sie zu einer pauschalen und eindeutig negativ besetzten Bezeichnung von Menschen geworden, die das Gesetz nicht befolgten oder des Gesetzes unkundig waren: Ausländer, Zöllner (Kollaborateure), Kleinviehhirten, Nichtseßhafte, Bettler, Huren und Gesetzesbrecher. Sie alle standen in den Augen der Pharisäer außerhalb des heiligen Volkes, blieben aber gleichwohl Objekte missionarischen Bemühens (A.Oppenheimer: 'Am Ha-arez, S.224). Seine ganze Schärfe entwickelte der Begriff "am ha-arez" erst nach der Zerstörung des zweiten Tempels (70 n.Chr.), als er im Zuge der Restitutionsbestrebungen des Judentums zum Kampfbegriff wurde (vgl. die Belege bei H.Kippenberg / G.Wevers (Hg.): Textbuch zur neutestamentlichen Zeitgeschichte, Göttingen 1979, Nummer 1,2; 111,1-4.29.35.126). Zur Zeit Jesu war das noch nicht der Fall. Die harten Attakken des Matthäusevangeliums oder des Johannesevangeliums gegen das Judentum und die damit verbundenen Verzerrungen des Bildes sind vor dem Hintergrund der Entwicklung nach 70 zu sehen. Das Pharisäerbild der Evangelien entspricht nicht der religiösen Lage zur Zeit Jesu. Differenzen zwischen Jesus und dem Pharisäismus sind aber schon zu dessen Lebzeiten vorhanden gewesen. "Denn auch wenn die Pharisäer nicht, wie nach Markus, einem mit dem 'am-ha'arez' Verkehrenden nach dem Leben trachteten und nicht, wie nach Matthäus, das Gesetz gar nicht oder nur ohne Liebe erfüllten, und nicht, wie nach Lukas, nach weltlichem Besitz strebten, und nicht, wie nach Johannes, ungläubig und gottlos waren, so hebt dies doch einen anderen Unterschied zu Jesus und seinen Anhängern nicht auf, nämlich den, daß die Zugehörigkeit zur jeweils eigenen Gruppe für Pharisäer feststellbar war, während eine solche Feststellung von Jesus dem Endgericht überlassen wurde." - C.Colpe: Genossenschaft, Sp.l39f Es entspricht den differenzierten Fakten nicht, Jesus plakativ als überragenden Repräsentanten und Fürsprecher des "Landvolkes" anzusehen, der die Partei der Unterdrückten im Kampf mit den heuchlerischen (Mt 23,23) Pharisäern ergriffen hätte. - Belege für diese Auffassung bei A.Oppenheimer: 'Am Ha-arez, S.2 Anm.6; S.200f Anm.3-7

1.3 Jesus: Das Profil seines Wirkens

245

b) Die Ethik Jesu Die ethischen Einstellungen und Verhaltensweisen Jesu lassen sich nicht aus einem einzigen obersten Prinzip d e d u z i e r e n . 34 Man kann sie nicht einfach der Thora entnehmen, man kann sie aber auch nicht als Fundamentalwiderspruch oder gar als Ende aller traditionellen Gesetzlichkeit begreifen. Vielmehr bildet auch hier wieder die Überzeugung von der bereits gegenwärtigen und doch auch zukünftigen Gottesherrschaft die Grundlage zum Verständnis der Ethik Jesu. Jesus wollte darstellen und exemplarisch vorleben, was geschieht, wenn die Herrschaft Gottes erst einmal zur alle und alles bestimmenden Gegenwart geworden ist. Die alten Regeln der Thora galten nur bis zu Johannes (Lk 16,16), im Angesicht der Gottesherrschaft aber haben sie ihre Gültigkeit verloren (Mk 2,21f). In seinem alltäglichen Verhalten brachte Jesus Gottes Liebe und seine Gerechtigkeit zum Ausdruck. Und genau wie er selbst es tat, sollten auch alle, die Buße getan hatten, Gottes Liebe und seine Gerechtigkeit wirksam werden lassen. Buße war stets der erste Schritt. Aber das Eingeständnis, vor Gott als ein Sünder dazustehen, der auf Gnade angewiesen ist (Pharisäer und Zöllner Lk 18,10-14), konnte nicht ohne Konsequenzen bleiben. Auf drei Ebenen werden Konsequenzen sichtbar: in der mentalen Einstellung zur Sünde, in der religiösen Spiritualität und schließlich auch im alltäglichen Handeln. Jesus lehrte Gott als "Vater" anzusehen und dies auch im Gebet und im Segen zum Ausdruck zu bringen ("bittet für die, die euch verfolgen, auf daß ihr Kinder seid eures Vaters im Himmel" Mt 5,44f).35 Es geht ihm nicht allein um das Hören auf Jesu Wort, es geht auch um das Tun des Wortes Gottes. Wie ein guter Baum hat auch der Glaube Früchte zu tragen (Lk 6,43f; 13,6-9). Das Bildwort vom Haus auf dem Felsen und vom Haus, das "auf Sand gebaut" ist, schärft das nachdrücklich ein (Mt 7,24-24). Im Gericht wird über Taten und Unterlassungen geurteilt werden: "Denn ich war hungrig, und ihr habt mir nicht zu essen gegeben; ich war durstig und ihr habt mich nicht getränkt; ich war fremd, und ihr habt mich nicht beherbergt; nackt, und ihr habt mich nicht bekleidet; krank und im Gefängnis, und ihr habt mich nicht besucht" (Mt 25,42f). Das Gleichnis vom Schalksknecht fordert sogar so etwas wie die E n t s p r e c h u n g ^ des menschlichen Verhaltens zum göttlichen Tun, wenngleich in sehr deutlich herabgestufter Form (Mt 18,23-34). Was die Jünger im Großen an sich selbst erfahren haben, das sollen sie im Kleinen an ihren Nächsten weitergeben. Wer viel Vergebung erfahren hat, der wird auch viel Liebe weitergeben (Lk 7,41f.47). "Seid barmherzig, wie auch euer Vater barmherzig ist" (Lk 6,36). Die Erzählung

34

35 36

Die in den Evangelien dokumentierten Einstellungen und Verhaltensweisen sind "ungrundsätzlich'' (H.Braun: Spätjüdisch-häretischer und frühchristlicher Radikalismus, Tübingen 1957, S.7ff) und "zeichenhaft" (H.Köster: Einführung, S.514) zu verstehen sind. Ein Text wie Mk 11,25 zeigt, daß das Gottesverhältnis im Zusammenhang mit dem Verhältnis zum Mitmenschen steht und nicht davon isoliert werden darf. W.Schrage: Ethik, S.42

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IV. Systementstehung

über den barmherzigen Samariter endet mit den Worten: "Geh auch du hin, tue desgleichen" (Lk 10,37). Jesus war kein Theoretiker. Er hat die Maximen seines Handelns nicht theoretisch dargelegt. Und doch lassen sich in Jesu Ethik zwei Bereiche erkennen, in denen tendenziell übereinstimmende Beurteilungen und Verhaltensweisen herrschen. In dem Bereich des Sittengesetzes verschärft Jesus einzelne Gebote, im Bereich des Zeremonialgesetzes entschärft er oder hebt sogar auf. 1. Das Sittengesetz: Gerd Theißen hat die Belegstellen in den Evangelien zusammengestellt. Er unterscheidet jeweils zwischen dem Handlungsaspekt und dem Motivationsaspekt, dem volitionalen Aspekt eines Gebotes, und kann zeigen, daß Jesus nicht nur den Handlungsaspekt gegenüber der Thora verschärft, sondern daß er auch den volitionalen Aspekt mit einbezieht: In Mt 5,39-41 wendet er sich gegen das alte Talionsrecht ("Auge um Auge, Zahn um Zahn") und fordert, auf jeglichen Widerstand grundsätzlich zu verzichten. In Mt 5,22 wird nicht nur die aggressive Gegenwehr, sondern sogar der "innere Groll" abgelehnt: "Wer seinem Bruder zürnt, der ist des Gerichts schuldig". In gleicher Weise lassen sich auch für die Bereiche Ehe und Sexualität (Mk 10,2ff; Mt 5,27f), Kommunikation und Wahrhaftigkeit (Mt 5,34ff; Mt 12,34), Besitz und materielle Vorsorge (Mk 10,17ff; Mt 6,25) Gebotsverschärfungen nachweisen, die sich nicht auf den Handlungsaspekt allein beschränken, sondern den volitionalen Bereich ansprechen. Die historische Wurzel derartiger Gebotsverschärfungen findet sich bereits in vorchristlicher Zeit in jüdischen Büchern, die aus dem Zusammenfließen von jüdischer Weisheit und hellenistischem Geist entstanden sind, etwa im Buch "Jesus Sirach".38 Jesus Sirach, das "umfangreichste jüdische Weisheitsbuch der hellenistischen Zeit"39; ist zu Beginn des 2.Jh.v.Chr. vermutlich von einem gebildeten Jerusalemer Aristokraten geschrieben und um 130 v.Chr. ins Griechische übersetzt worden. Es enthält neben jüdischen Weisheitstraditionen auch viel griechisches Gedankengut. Hier findet sich neben der jüdischen Vorstellung von der Unmöglichkeit, das Gesetz zu halten^O, auch die aus der griechischen Philosophie eingeflossene Behauptung einer individuellen Entscheidungsfähigkeit: "Gott schuf von Anfang an den Menschen und übergab ihn dann der Macht seiner Selbstentscheidung. Wenn du willst, so befolgst du die Gebote, und Treue üben kannst du, wenn es dir gefällt" (Sir 15,14f)· 41 Auch das 4.Makkabäerbuch ist in diesem Zusammenhang zu nennen. Es ist in der ersten Hälfte des 1. Jh.v.Chr., möglicherweise in Antiochien, entstanden. Helmut 37 38 39 40 41

G.Theißen: Soziologie, S.75 H.-J.Kraus: Zum Gesetzesverständnis der nachprophetischen Zeit, in: Ders.: Biblischtheologische Aufsätze, München 1972, S. 179-194 H.Köster: Einführung, S.282 "Jeder Mensch neigt von Jugend auf zum Bösen. Sie vermögen es nicht, ihre Herzen aus steinernen zu fleischernen zu machen." - Sir 17,16 Auf der Grundlage dieser Überzeugung argumentiert auch das 4.Esrabuch (Ende des 1.Jh.n.Chr.): "Wenn ihr euren Trieben Befehl gebt und eure Herzen in Zucht nehmt, werdet ihr im Leben bewahrt bleiben und nach dem Tod Gnade erlangen" (14,34).

1.3 Jesus: Das Profil seines Wirkens

247

Köster bezeichnet es als "eine griechische Diatribe über die Macht der Vernunft, die zwar mit dem Gesetzesgehorsam gleichgesetzt, aber doch ganz griechisch als Bewährung der Tugenden Gerechtigkeit, Besonnenheit, Güte und Tapferkeit verstanden wird".42 i n 4 Makk 2,18 heißt es: "Die Vernunft ist imstande, durch das Gesetz sogar den Feindeshaß zu beherrschen." Hier findet sich also eine volitionale Begründung für das Gebot der Feindesliebe ("Liebet eure Feinde; tut wohl denen, die euch hassen; segnet, die euch fluchen; bittet für die, die euch beleidigen", Lk 6,27f). Mit der volitionalen Verschärfung des Sittengesetzes befindet sich Jesus in einem hellenistisch-jüdischen Traditionsstrom. 2. Das Ritualgesetz: Bei Markus, der das Wort "Gesetz" überhaupt nicht verwendet, wird das Provozierende der Ethik am Beispiel des Sabbatbruchs und der Sabbatheilungen deutlich: "Soll man am Sabbat Gutes tun oder Böses, Leben erhalten oder töten?" (Mk 3,4) "Der Sabbat ist um des Menschen willen gemacht, und nicht der Mensch um des Sabbats willen" (Mk 2,27). Die Vorordnung der L i e b e t kann man als eine Art übergreifende Klammer ansehen, die eine ganze Reihe von Übertretungen, Verschärfungen oder sogar auch Korrekturen einzelner Gebote oder Bereiche des Zeremonialgesetzes motiviert: Die "Gesellschaft" mit Zöllnern und Sündern (Mt 11,19), die Kritik an den Speiseund Reinheitsgeboten (Mk 7,15), die Berührung und Heilung von Unreinen (Mk 1,41; 5,25-34), die Sabbatheilungen, die Kritik an der Korbanpraxis (Mk 7,8-13). Die Ethik des Reiches Gottes ist anpackende Liebe, die sich über soziale und religiöse Einschränkungen oder Bedenken hinwegsetzt (Der barmherzige Samariter Lk 10,29-35). Eingangs wurde dargestellt, daß der zentrale Verkündigungsinhalt Jesu, die Gottesherrschaft, als eine von mehreren möglichen Antworten auf die Identitätskrise Israels anzusehen ist, die durch den Hellenisierungsdruck hervorgerufen worden ist, der auf dem Land lastete. Es gab im antiken Judentum gegenläufige Vorstellungen davon, wie dieses Problem anzupacken sei. Man konnte die Thora strikt einhalten oder sogar verschärfen, um sich der Assimilierungstendenzen zu erwehren. Dieser Weg ist schon in vorchristlicher Zeit beschritten worden, etwa während des Makkabäeraufstandes: "Viele in Israel zeigten sich standhaft und beschlossen fest bei sich, nichts Unreines zu essen; sie wollten lieber sterben, um sich nicht durch Speisen zu verunreinigen und den heiligen Bund zu beflecken - und sie starben auch tatsächlich" (1 Makk l,62f). Gerade die Reinheits- und Zeremonialgesetze eigneten sich dazu, die religiöse Sonderstellung Israels zu dokumentieren. Ihnen wuchs die Funktion zu, das heilige Volk wie ein Schutzzaun zu umgeben. Im Aristeasbrief heißt es ganz in diesem Sinne: "... umgab er [der Gesetzgeber] uns mit einem undurchdringlichen Gehege und mit ehernen Mauern, damit wir mit keinem der anderen Völker irgendeine Gemeinschaft pflegten, rein an Leib und Seele" (139). 42 43

H.Köster: Einführung, S.283 W.Schräge: Ethik, S.48; vgl. S.85: Liebe als "Quintessenz aller Einzelgebote"

248

IV. Systementstehung

Zur Zeit Jesu waren in unterschiedlicher Ausprägung die Pharisäer, die Therapeuten^ und die Essener einem solchen Programm verpflichtet. Jesus ist einen anderen Weg gegangen. Er stand damit keineswegs außerhalb des Judentums, sondern befand sich in Übereinstimmung mit Gedanken aus der Welt des Diasporajudentums. In seiner Einstellung zum Ritualgesetz zeigt Jesus eine deutliche Nähe zu Grundüberzeugungen der stoischen Philosophie. Die Stoa war "ab dem 2.Jh.v.Chr. zur eigentlich beherrschenden Philosophie der späthellenistischen und frühen römischen Zeit" 4 ^ geworden. Sie hatte die engen Grenzen, die dem Menschen durch Herkunft und nationale Zugehörigkeit gesteckt sind, durch den Gedanken des Weltbürgertums aufgebrochen. Die Menschen sind zwar nicht politisch, aber doch biologisch, von ihrer "Natur" her, gleich. Als biologische Wesen sind sie Bürger einer einzigen Welt. "Die Welt ist der Sterblichen Heimat". 46 Diese "Weltbürgeridee" entsprach zunächst einmal dem politischen Bedürfnis der hellenistischen Monarchien, die damals vor der schwierigen Aufgabe standen, ihre heterogene Bevölkerung zu integrieren. Sie war aber durchaus auch religiös funktional. Zwischen Samaritanern, Syro-phöniziern, römischen Besatzern oder jüdischen Armen ließen sich über alle sozialen und soziologischen Unterschiede hinweg menschliche Gemeinsamkeiten konstatieren, die für Jesus auch religiös relevant waren. Die Auseinandersetzung der jüdischen Frömmigkeit mit dem griechischen Geist war in der Diaspora intensiver (Philo von Alexandrien) und unverkrampfter vollzogen worden. "Erst die Begegnung mit der philosophisch gefärbten hellenistischen Bildung schuf das Verlangen, die Mannigfaltigkeit des Gesetzes auf wenige Grundsätze zurückzuführen: auf Gottes- und Nächstenliebe (Mk 12,28ff; Test XII Patr z.B. Iss 5,2; Test Benj 3,3 u.ö.) 4 7 oder auf die 'goldene Regel'(z.B. Mt 7,12; Sir 34,15). Man empfahl sich so dem Hellenismus als ebenbürtig: Die 'goldene Regel' stammte aus der Popularphilosophie, Frömmigkeit und Gerechtigkeit galten auch bei den Griechen als die wichtigsten Dimensionen ethischen Verhaltens (vgl. Xen.mem. 4,8,11). Alles, was man an Gutem bei den Fremden fand, konnte man auch den einheimischen Traditionen entnehmen. Und mehr noch: man war den anderen überlegen, wenn man die Thora verschärfte".Möglicherweise ist dies die Motivation, die zu den Thoraverschärfungen im Bereich des Sittengesetzes gefuhrt hat, die bei Jesus erkennbar sind. Von daher wird man annehmen können, daß Jesus durchaus Platz und Heimat im Rahmen des Judentums seiner Zeit gehabt hat. Es ist nicht erforderlich, ihn als jemanden anzusehen, der sich selbst durch seine unbeugsame Eigenständigkeit außerhalb der (religionsphilosophischen) Grenzen seines 44 45 46 47 48

dazu H.Köster: Einführung, S.286 M.Hengel: Juden, S.95f Meleager aus Gadara: Anth.Gr. VII,417 auch Test Iss 7,6: "Den Herrn liebte ich und ebenso jeden Menschen mit aller meiner Kraft." G.Theißen: Soziologie, S.74; vgl. K.Berger: Die Gesetzesauslegung Jesu, Neukirchen 1972, bes. S.79 und 175f; G.Klein: Gesetz III, in: TRE 13, S.60 und 62

1.3 Jesus: Das Profil seines Wirkens

249

Volkes bewegt hat.49 Wohl aber läßt sich ein Zusammenhang zwischen seinen ethischen Überzeugungen und seinem "Arbeitsschwerpunkt" erkennen. Jesus hat sich mit den Menschen beschäftigt, die, gemessen an den strengsten religiösen Maßstäben seiner Zeit, bereits aus dem heiligen Volk ausgegrenzt waren. Indem er sich ihnen zuwandte, verteidigte er (bei impliziter Anlehnung an hellenistisch-jüdische Überzeugungen) ihre Zugehörigkeit zum Volk Gottes. Auch sie sollten dazu gehören, obwohl (oder sogar weil) sie in ihrer Lebenssituation nicht in der Lage waren, die Mosethora strikt zu erfüllen. Jesus widersetzte sich damit dem Versuch, das "wahre" Israel hinter einem "Zaun des Gesetzes" zu sammeln, und forderte Heimatrecht auch für die, die am Rande der Gesellschaft standen. Er verweigerte sich jedem Versuch, die Zugehörigkeitsbedingungen selbst festzulegen, und vertraute darauf, daß die letzte Zuordnung im kommenden Gericht vorgenommen werden würde. Damit gab er seiner Verkündigung einen universalen Zug. Wie für den Täufer, so war es auch für ihn keineswegs ausgemacht, daß alle, die nach ihrer Abstammung zum Volk Israel hinzugehörten, auch im Gericht dem Volk Gottes zugerechnet werden würden. "Viele werden vom Morgen und vom Abend kommen und sich mit Abraham und Isaak und Jakob im Himmelreich zu Tisch setzen, die Söhne des Reiches dagegen werden in die Finsternis, die draußen ist, hinausgestoßen werden. Dort wird Heulen und Zähneknirschen sein" (Mt 8,llf vgl. Lk 7,9; 10,13f). c) Der Jüngerkreis als Sozialstruktur Präsentische und futurische Vorstellungen von der Gottesherrschaft überschneiden sich, wenn Jesus sich im Gleichnis von den bösen Weingärtnern (Mk 12,112) selbst als den letzten Boten Gottes ansieht, nach dem kein weiterer mehr kommen wird. Jeder Mensch geht auf Gottes Gericht zu. Ist er erst einmal vor den Richter gekommen, dann ist es für Umkehr und Versöhnung zu spät (Lk 12,58f). Die Einladung Gottes an die Menschen, die Jesus überbringt, wird, wie es im Gleichnis von der königlichen Hochzeit (Mt 22,1-10) ausgedrückt ist, nicht unbegrenzt weiter aufrechterhalten, denn das Fest findet in jedem Fall statt, gegebenenfalls auch ohne die ursprünglich geladenen Gäste. Diese verbleibende Frist galt es zu nutzen (Lk 13,6-9). Jesus verstand die Zeit seines Wirkens als "Erntezeit" (Mk 4,29), und er war gekommen, bei dieser Ernte mitzuhelfen: "Die Ernte ist groß, aber der Arbeiter sind wenige. Bittet daher den Herrn der Ernte, daß er Arbeiter in seine Ernte sende" (Mt 9,37). Die Gleichnisse vom Schatz im Acker (Mt 13,44) und von der kostbaren Perle (Mt 13,45f) sprechen davon, wie Menschen für das jetzt schon gegenwärtige Gottesreich alles verkaufen und hinter sich lassen, was sie besitzen. Ganz gleich, ob das Gottesreich zufällig gefunden wird wie der Schatz im Akker oder ob es planmäßig gesucht worden ist wie die kostbare Perle, es scheint 49

Anders J.Gnilka: Jesus, S.244f, der zwar die Übereinstimmung mit dem Diasporajudentum darstellt, gleichwohl aber anders votiert.

250

IV. Systementstehung

geradezu selbstverständlich zu sein, daß jemand, der das Gottesreich gefunden hat, so radikal handelt und sich von allem frei macht, was er vorher besessen hat. Diesem Gedanken sind auch die Berufungserzählungen der ersten Jünger (Mk 1,16-20: Simon und Andreas; Jakobus und Johannes) verpflichtet. Jesus spricht sie bei ihrer täglichen Arbeit an: "Kommt her, mir nach, und ich will machen, daß ihr Menschenfischer werdet" (1,17). Die Angesprochenen lassen alles zurück und folgen ihm nach. Daß Jesus einen Kreis von Menschen um sich versammelt hat, die alles verlassen hatten (Mk 10,28) und ihm gefolgt sind, steht außer Zweifel. Lk 8,1-3 berichtet, daß zu diesem Kreis auch Frauen gehörten. Sie hatten sich Jesus angeschlossen und unterstützten ihn mit ihrem privaten Vermögen. Daneben gab es aber wohl auch Menschen, die der Verkündigung Jesu Glauben geschenkt hatten, aber nicht gleich alles zurückgelassen oder verkauft hatten, was sie besaßen. Jürgen Roloff unterscheidet deshalb einen "engeren" und einen "weiteren" J ü n g e r k r e i s . 5 0 Von den Angehörigen des "weiteren Kreises" erhielt Jesus die notwendige materielle Unterstützung: In Kapernaum benutzte er das Haus von Simon und Andreas (Mk 1,29). Der Zöllner Levi stellte ihm ebenso das Haus zu Verfügung (Mk 2,15) wie Maria und Martha (Lk 10,38) oder Lazarus (Joh 11,1) in Bethanien. Mk 15,43 erwähnt, daß Josef von Arimatäa, vermutlich ein pharisäisches Mitglied des Synhedriums, ebenfalls der Botschaft Jesu Glauben geschenkt hatte. Es heißt über ihn, daß er "die Gottesherrschaft erwartete". Nach Jesu Tod sorgte er für die Bestattung des Gekreuzigten. Jesus hat den "engeren" Kreis von Begleiterinnen und Begleitern nicht als eine oder gar als die "wahre Kirche" verstanden. Das entsprach nicht seiner Verkündigungsintention. Aber er hat doch gerade mit diesem engeren Kreis, systemtheoretisch formuliert, ein "Quasi-System" geschaffen, eine Vorstufe der Systementstehung, in der sich bereits verbindliche und verbindende Elemente der späteren christlichen Systemgründungen wiederfinden. "Der Jüngerkreis (ist) die erste und urbildhafte Gruppe von Menschen, deren Zusammenleben unmittelbar von der Botschaft Jesu geprägt ist. Der vorösterliche Jüngerkreis tritt unübersehbar als Sozialstruktur in E r s c h e i n u n g " . 5 2 wie sah diese "Sozialstruktur" aus? Der Kreis war auf Jesus als zentrale und maßgebliche Gestalt ausgerichtet. Er war der Kopf der Bewegung, alle anderen waren ihm nachgeordnet: "Denn einer ist euer Lehrer, ihr alle aber seid Brüder [und Schwestern]" (Mt 23,8b). Die Entwicklung gruppeninterner Machtstrukturen und Hierarchien war explizit untersagt. Die Jüngergemeinschaft wollte ein Gegenbild zu den Machtverhältnissen in der politischen Welt realisieren: "Ihr wißt, daß die, welche die Völker zu beherrschen scheinen, sie unterdrücken, und ihre Großen die Gewalt gegen sie gebrauchen. Nicht so aber wird es unter 50 51

52

J.Roloff, Kirche, S . 3 7 ^ 6 W.Schräge hat unter Verweis auf Mk 10,28 festgestellt, daß die Formulierung "alles verlassen, um nachzufolgen" wohl "primär bedeutet: alles in den Dienst der Jesusbewegung hineinstellen, nicht aber auch: alles ohne Rest und Vorbehalt weggeben". - Ethik, S . l l l J.Roloff: Kirche, S.40. Zum folgenden vgl. S.40-45

1.3 Jesus: Das Profil seines Wirkens

251

euch sein. Sondern wer unter euch der Erste sein will, werde der Sklave von allen" (Mk 10,42-44). Die Größe des einzelnen zeigt sich also nicht darin, wieviel Macht und Einfluß er in der Gruppe gewinnen konnte, sondern darin, wie tief er sich herunterbeugt, um allen anderen zu dienen. "Das Wort 'Diener' hat in diesem Zusammenhang eine ganz spezifische Prägung. Es verweist zurück auf ein Bild, mit dem Jesus seine eigene Funktion und Sendung dargestellt hat: Es ist das Bild eines Sklaven, der beim festlichen Mahl den Tischdienst versieht ... Jesus erscheint hier als derjenige, der durch sein Verhalten das Strukturprinzip von Herrschaft und Gewalt durchbricht, indem er an dessen Stelle das Prinzip des dienenden Daseinsßr andere setzt" (Mk 10,45; Lk 12,37; 22,27; Fußwaschung Joh 13.2-17). 53 Die Jüngergemeinschaft war eine neue Familie, die die Bedeutsamkeit und Verbindlichkeit biologischer Abstammung aufhob. "Das hier ist meine Mutter, und das sind meine Brüder! Wer den Willen Gottes tut, der ist mir Bruder, Schwester und Mutter" (Mk 3,34f).54 y a ter aber war Gott allein. Als geschwisterliche Gemeinschaft war sie Lebensgemeinschaft, Mahlgemeinschaft und Schicksalsgemeinschaft zugleich. Wer mit Jesus zog, gab die Sicherheiten auf, die die Familienbindung ihm geboten hatten (Lk 14,26), er teilte mit ihm die Heimatlosigkeit (Lk 9,58), saß mit ihm bei Tisch und war bereit, gegebenenfalls auch mit ihm zu leiden (Mk 8,34; Lk 14,27). Der Familiengedanke besitzt nicht nur einen soziologischen Aspekt, er gründet in einer genuin religiösen Überzeugung. Jesus lehrte seine Jünger, Gott selbst als ihren "Vater" anzusehen und sich ihm selbst als dessen "Kinder" anzuvertrauen. Seiner Führung sollten sie folgen, und um das Kommen seines Reiches sollten sie bitten. (Mt 6,9f) Es ist durchaus vorstellbar, daß die radikalen Forderungen, die in der Bergpredigt überliefert sind, für diejenigen galten, die ihm nachfolgten: der Gewaltverzicht (Mt 5,38-42), die Verpflichtung zur konsequenten Wahrheitsliebe (Mt 5,33-37), die Absage an den "Mammon" (Mt 6,24). Alle diese Forderungen sichern den grundsätzlichen Verzicht auf Machtausübung ab und stützen das Prinzip des dienenden Daseins für andere, denn Geld, Gewalt und Lüge sind ständige Begleiter der Macht.

2. Impulse, die über Jesu Tod hinausweisen In Botschaft und Wirken Jesu finden sich einige Punkte, die sich als richtungweisende Anstöße für die frühen christlichen Gruppierungen und Gemeinschaften entpuppt haben. Es gibt zwischen Jesus und den ersten nachösterlichen Christen mehr Verbindungen und auch mehr Kontinuität, als die einprägsame 53 54

J.Roloff: Kirche, S.41 Vgl. auch Mt 8,22; Lk 9,60-62; 14,26

252

IV. Systementstehung

Formel von Alois Loisy vermuten läßt. Die Darstellung wird aber auch zeigen, daß Jesus nicht nur inhaltliche Vorgaben hinterlassen hat, er hat auch zwei unbeantwortete Fragen hinterlassen, und schließlich hat er mit dem Ethos des Dienens einen Sprengsatz geschaffen, der auch heute noch geeignet ist, jede kirchliche Organisationsform grundsätzlich in Frage zu stellen. Vier Faktoren, die bereits im Wirken und in der Verkündigung Jesu selbst nachweisbar sind und dann in den späteren Gemeindegründungen konstitutive Bedeutsamkeit erlangt haben, werden dargestellt: Die personale Bindung der Verkündigung Jesu (a), die Schicksalsgemeinschaft mit dem Jüngerkreis (b), das Doppelgebot der Liebe (c) und Normvorgaben für ein Leben in der Nachfolge (d). a) Die personale Bindung der Verkündigung Jesu Die Verkündigung Jesu war an seine Person gebunden und durch seine Person beglaubigt. Jesus stand zwar mit seinen Ansichten nicht allein. Es gab eine ganze Reihe von Übereinstimmungen etwa mit der jüdischen Diaspora oder mit der Verkündigung des Täufers Johannes (Mt 3,1-10). Aber letztlich konnte er sich in seiner Verkündigung einzig und allein auf Gott berufen - was aber zu seiner Zeit viele andere auch taten - und mußte darauf hoffen, daß man ihm persönlich Glauben schenkte. Jesus war auch und gerade als Person für die Sache, die er vertrat, unverzichtbar. Das wird in einer Reihe von Texten deutlich, deren Pointe darin besteht, daß die jeweils Betroffenen Jesus " g l a u b e n " . D a s hatte Folgen. Wo immer seine Verkündigung auf fruchtbaren Boden fiel, war mit dem Glauben an die Gottesherrschaft auch ein Vertrauens- oder Bindungsverhältnis zu seiner Person entstanden. Durch die enge Verzahnung von Person und Botschaft war präfiguriert, daß beides auch nach seinem Tod nicht mehr voneinander zu trennen war. Die frühen Gemeinden entstanden folglich nicht (entpersonalisiert) als "Reich Gottes "-Gemeinden, sondern als Gemeinden, die sich unmittelbar auf Jesus bezogen, seine Worte und Taten überlieferten und sich darum bemühten, seinen Weisungen zu folgen. Das Bekenntnis zum gekreuzigten und auferstandenen Jesus aus Nazareth diente dem Kontingenzschutz und der Kohärenzsicherung der ersten christlichen Gruppen. Es verhinderte die Unterwanderung durch "fremde" Propheten und vereinte die Glaubenden, die sich (bei aller Unterschiedlichkeit ihrer jeweiligen Interpretationen) grundsätzlich auf Jesus und nicht auf irgendeine andere Person oder eine andere religiöse Leitidee bezogen haben. Dazu gehört auch, daß das enge personale Verhältnis, das für die mit Jesus durch das Land ziehenden Jünger vorausgesetzt werden muß, später zum "normgebenden Modell christlicher Existenz"56 geworden ist. Die seßhaften Gläubigen sind in der Darstellung der Evangelien nur noch am Rand des Geschehens wahrnehmbar. Aus denen, die Jesus glaubten, sind hier diejenigen geworden, die an Jesus glaubten und ihm "nachfolgten". 55 56

Mk 5,34; 10,52; Mt 8,13; aber auch Lk 7,8 J.Roloff: Kirche, S.44

2. Impulse, die über Jesu Tod hinausweisen

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b) Schicksalsgemeinschaft mit dem Jüngerkreis Jesus verkündigte die Gottesherrschaft und forderte dazu auf, diesem Geschehen (in welcher reduzierten Form auch immer) im eigenen Tun zu entsprechen. Damit machte er seinen Jüngerinnen und Jüngern ein religiöses Identitätsangebot: Wer Buße tut und nachfolgt, wird in der Nachfolge selbst zum Kind Gottes. Diesem Ziel diente die Schicksalsgemeinschaft mit Jesus, aber auch dessen religiöse Unterweisung, die Interpretation und Neuauslegung der Gebote und das Gebet, das er sie zu beten lehrte. "Ihr könnt nicht Gott dienen und dem Mammon" (Mt 5,24). Als Bote der Gottesherrschaft befand sich Jesus selbst ständig im Kampf mit den Feinden Gottes, mit Satan und den Dämonen. "Wenn ich aber die bösen Geister durch den Geist Gottes austreibe, so ist das Reich Gottes zu euch gekommen" (Mt 12,28). Er trieb Dämonen aus, er segnete, er besiegte Krankheiten, und dies alles geschah mit Hilfe des Geistes Gottes. Damit wird eine klare Frontstellung erkennbar: Auf der einen Seite befinden sich Jesus, der Heilige Geist und die zu "Erben des Reiches" Berufenen, die Buße getan haben und umgekehrt sind. Auf der anderen Seite befinden sich Satan und die Dämonen, für die kein Platz im Reich Gottes ist (wohl aber für ihre geheilten Opfer). Diese Grenzziehung ist konstitutiv und definitiv. Sie steht nicht zur Disposition. Ob Jesus noch zu seinen Lebzeiten selbst einzelne Jünger ausgesandt hat, um durch selbständige Verkündigung die Verbreitung der Botschaft von der Gottesherrschaft zu beflügeln, ist nicht klar.Auszuschließen ist das nicht, denn es paßt zu seiner Überzeugung, daß das Gericht nahe ist und zu wenige Erntearbeiter bereitstehen. Vielleicht sind aber seine Botschaft und sein Lebensstil auch erst nach seinem Tod weitergeführt worden. Sowohl das religiöse Identitätsangebot als auch die von Jesus vorgenommene Grenzziehung finden sich in den ersten christlichen Gemeinden: Die Christen sind die "Kinder" Gottes, sie sind die Erben des Reiches und befinden sich ebenfalls im Kampf gegen die "Mächte der Finsternis". Man sollte diese Beobachtung nicht mit der Bemerkung abtun, daß damals wie heute noch jede "anständige" religiöse Bewegung ein solches Selbstverständnis entwickelt hat. Entscheidend ist, daß dieses Selbstverständnis (eben auch) die frühchristlichen Gemeinden auszeichnete und daß es deutliche Spuren in der Organisationsentwicklung hinterlassen hat. c) Das Doppelgebot der Liebe Jesus hat dem Doppelgebot der Liebe einen zentralen Stellenwert eingeräumt^, wenn es darum geht, zu demonstrieren, was es bedeutet, in der Gegenwart und 57 58 59 60

O.Böcher: Dämonismus, S. 166-170 Dafür: J.Roloff, Kirche, S.40; dagegen: H.Köster: Einführung, S.516 R.Fleischer: Verständnisbedingungen, bes. S. 172-200; R.Roosen: Taufe, bes. S. 16-24 Was nicht bedeutet, daß er es auch selbst in dieser geprägten Formulierung verwendet haben muß.

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IV. Systementstehung

der Erwartung der Gottesherrschaft zu leben. Er wandte sich dem bedürftigen Nächsten zu ("euch gehört das Reich Gottes") und verletzte damit Grenzen, die von einigen seiner Zeitgenossen aufgrund der Volkszugehörigkeit, der sozialen oder beruflichen Position, des Lebenswandels oder des Gesundheitszustandes der Angesprochenen strikt beachtet wurden. Indem er dies tat, setzte er sich einem Konflikt mit anderen Gruppierungen seiner Zeit und seiner religiösen Umwelt aus. Gleichzeitig machte er das Liebesgebot und damit verbundene Sozialnormen wie Friedfertigkeit, Wahrhaftigkeit, Besitzlosigkeit und selbstloses Dienen zu Verhaltensnormen seines Jüngerkreises und vermutlich auch der übrigen (seßhaften) Bekehrten.61 Jesus hat damit in mehrfacher Hinsicht richtungweisende Impulse gegeben. Die späteren ortsfesten Gruppen und Gemeinden zeigten in der Regel nicht nur eine starke Sensibilität gegenüber Armut und sozialer Stigmatisierung, sie setzten sich auch in ihrer Organisationsform über die daraus resultierenden Vorbehalte und Grenzen hinweg. Es war in der Antike keineswegs selbstverständlich, daß eine religiöse Gemeinschaft "alle Bewerber ohne Rücksicht auf ihre soziale Stellung durch feierliche Aufnahme zur lebenslänglichen Zugehörigkeit verpflichtete, alle zu regelmäßiger Kultgemeinschaft zusammenführte, die sozialen Unterschiede durch brüderliche Hilfeleistung überbrückte und ... jedem, in welcher sozialen Lage er sich auch befand, die Möglichkeit zur Erreichung jeder Position innerhalb dieser Gemeinschaft eröffnete". 62 d) Normvorgaben für ein Leben in der Nachfolge Jesus hinterließ den ersten Christen eine Aufgabe, einen zeitlich fixierten Endpunkt für ihre Bemühungen, eine Methode und einen Verkündigungsinhalt: Die Aufgabe ergab sich aus der von Jesus formulierten Bitte, Gott möge Arbeiter in seine Ernte senden, da die Erntezeit gekommen sei. Insofern galt es, in der Ernte mitzuarbeiten, bis das Gericht die Erntezeit beenden würde und Gott selbst seine Herrschaft für alle Welt sichtbar antreten würde. In der Wahl der Methode ist das Vorbild Jesu unmittelbar erkennbar. Auch die frühchristliche Mission war von einzelnen getragen, und sie war am e i n z e l n e n 6 ^ orientiert. 61 62

63

"De facto sind alle Wanderradikale." - W.Schräge: Ethik, S.54 C.Colpe: Art.: Genossenschaft, Sp.144. Singulär war das allerdings auch nicht. Colpe fügt hinzu: "Diese Geborgenheit innerhalb einer Gemeinde hatte auch schon viele aus dem Heidentum dem Judentum zugeführt, wo es schon eine organisierte Armenversorgung gab." Nach M.Hengel geht der "religiöse Individualismus, der auf der freien Entscheidung - der "Umkehr' - des einzelnen beruhte", auf die im Makkabäeraufstand (ca. 168-157 v.Chr.) tragende Oppositionsgruppe der "Hasidim" zurück. Obwohl sie dem Geist des Hellenismus mit schroffer Ablehnung gegenüber standen, verdanken sie ihre Organisationsform doch dem hellenistischen Vorbild des freien religiösen Vereins (Juden, S. 172). Die Idee des religiösen Individualismus fmdet man zur Zeit Jesu bei den Essenern, bei den Pharisäern, beim Täufer und eben auch bei Jesus. Vgl. auch E.Gräßer: Jesus und das Heil Gottes. Bemerkungen zur sogenannten 'Individualisierung des Heils' (1975), in: Ders.: Der Alte Bund im Neuen, Tübingen 1985, S. 183-200

2. Impulse, die über Jesu Tod hinausweisen

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Die Aktivitäten der frühchristlichen Wandercharismatiker lassen sogar die Übernahme und Fortführung der Lebensweise Jesu erkennen. Ihre Predigt und ihr Verhalten entspricht dem Verhalten Jesu, auch sie verkündigen das Reich Gottes, rufen zur Buße, vertreiben Dämonen, segnen, salben und heilen Kranke (Mt 10,7f). Mit den in a) bis d) genannten V o r g a b e n ^ hinterließ Jesus seinen Jüngern normative Eckwerte für die Präferenzordnungen der sozialen Systeme, die nach seiner Auferstehung gebildet worden sind. Es gibt also durchaus nicht nur einen Bruch zwischen Karfreitag und Ostern, es gibt auch Kontinuität zwischen dem irdischen Jesus und den nachösterlichen christlichen Gemeinden. e) Zwei offene Fragen Jesus hat nicht nur Anstöße und Orientierungen vorgegeben, die über seinen Tod und seine Auferstehung hinaus Bestand hatten und den entstehenden Gemeinden wichtige Inhalte vorgaben, er hat auch ungeklärte Fragen hinterlassen. Zwei Fragenkomplexe, über die keine Einigung erzielt werden konnte, sind möglicherweise unmittelbar für die Vielstimmigkeit der urchristlichen Anfänge verantwortlich. Wer und was ist "Israel"? (1.) und Wer war Jesus? Wie hat er sich selbst verstanden? (2.) 1. Wer und was ist Israel? Jesus hatte die letzte Entscheidung darüber, wer tatsächlich zum "Volk der Heiligen des Höchsten" (Dan 7,27) hinzugehört, Gott selbst überlassen. Gott würde im Gericht die endgültige Auswahl treffen. Dieser Auswahl hat er nicht vorgegriffen. Wohl aber hat er dafür Partei ergriffen, den Kreis der Zugehörigen nicht allein traditionell zu bestimmen. Er hat die Täuferpredigt übernommen und die Überzeugung geteilt, daß die ererbte Zugehörigkeit zum Volk Israel allein nicht Maßstab sein kann. Er hat sich denen zugewandt, die am Rande standen oder absichtsvoll über den Rand hinausgedrängt worden waren, und hat ihnen die Zugehörigkeit attestiert. Obwohl er sich zur Zeit seines Wirkens überwiegend in Galiläa aufgehalten hat, hat er wohl auch deutliche grenzüberschreitende Impulse gegeben. Er hielt es zumindest nicht für ausgeschlossen, daß ein römischer Hauptmann, eine Syrophönizierin oder ein Samaritaner an das Reich Gottes glauben und den Willen Gottes auch tun. In seinem Handeln hat er deutlich gemacht, daß sich die Zugehörigkeit zum Heiligen Volk gerade nicht in der strikten Beachtung kultisch-ritueller Gebote zeigt, und hat damit den "Zaun der Thora", den andere um das Volk Israel herum aufrichten wollten, zumindest teilweise aufgebrochen. Seine Liebesethik stand dem religiösen Selbstverständnis von Teilen des Diasporajudentums nahe und war über dieses Scharnier auch der hellenistischen Welt zugänglich. Insofern 64

M.Frenschkowski hat mich (mündlich) daraufhingewiesen, daß die Vorstellung eines herannahenden Weltendes als solche bereits eine gruppenbildende Kraft besitzt. Sie vereint Gleichgesinnte, die sich gegenüber Andersdenkenden zusammen- und abschließen. Dies währe ein fünfter Aspekt der Kontinuität zwischen Jesus und den ersten nachösterlichen Christen.

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kann man behaupten, daß Jesus selbst bereits eine Weichenstellung in Richtung auf eine spätere Mission außerhalb der Grenzen Israels vorgenommen hat. Gleichzeitig aber bleibt auch bei Jesus die alte jüdische Hoffnung auf das Zionsmahl ungetrübt erhalten, bei dem die Auserwählten mit Abraham zu Tisch sitzen werden. Der Glaube an die Erwählung des heiligen Volkes (wer auch immer im einzelnen dazu gehören mag) bleibt unangetastet. Der Gott, dessen Gegenwart und dessen Kommen er verkündet, ist kein multikulturelles Religionskonstrukt, es ist der Gott Israels. Ein Ausgleich, eine Bewertung oder Gewichtung der gegensätzlichen Impulse ist nicht erkennbar, und so kommt es nach dem Ende der irdischen Wirksamkeit Jesu zu gegenläufigen Entwicklungen unter den ersten Christen. Einige blieben im jüdischen Kernland, etwa in Galiläa oder in Jerusalem, andere verließen es. Einige blieben im jüdischen Kultverband, andere überschritten seine Grenzen. 2. Wer war Jesus? Jesus hat noch ein weiteres Rätsel hinterlassen, das Rätsel seiner Person. Unter den Exegeten des Neuen Testaments ist stark umstritten, ob Jesus die Frage, wer er war oder in welcher religiösen Rolle er sich selbst gesehen hat (und wie er dann folglich auch von den ersten Christen hätte verstanden werden müssen) überhaupt explizit beantwortet hat. Sein Verhalten ist jedenfalls mit den traditionellen Kategorien religiöser Betätigung nicht exakt zu erfassen. Seine Verkündigung trägt prophetische Züge, aber als Prophet hat er sich nicht bezeichnet. Er benutzte Weisheitssprüche, aber doch wohl nur, um sie in den Dienst seiner Botschaft zu stellen." Er versammelte Jünger (Schüler?) um sich, hat aber kein Lehrhaus gegründet wie ein Rabbi, sondern zog mit den Jüngern im Land umher. Seine Verkündigung war begleitet von Heilungen (Mk 7,31-35) und Exorzismen, die in der Kraft des Heiligen Geistes vollzogen und als Sieg über Satan verstanden wurden (Mk 3,23-25.26.27; Mt 12,28; Lk 10,18). Gleichwohl würde man zu kurz greifen, wollte man Jesus nur als charismatisch begabten Wunderheiler und Exorzisten^ ansehen. Er zeigte Nähe zu liberalen Strömungen des Diaspora-Judentums, nannte aber als Referenz weder irgendwelche Lehrer noch irgendwelche Schriften. Er berief sich nicht einmal auf die Autorität alttestamentlicher Texte. Stattdessen sprach er aus der autoritativen Kraft seines persönlichen Gottesverständnisses heraus. Helfen also die gängigen religiösen Berufsrollen des antiken Judentums nicht weiter, so bleibt die Frage, ob Jesus sich möglicherweise selbst als endzeitlichen "Menschensohn" oder als "Messias" bezeichnet h a t . D i e Frage ist 65

66 67

H.von Lips: Weisheitliche Traditionen im Neuen Testament, Neukirchen 1990 urteilt aufgrund einer Analyse der Logienquelle, in der sich weisheitliche Formen als Aussagen und als Mahnungen in großer Zahl auffinden lassen: "Die Aussageformen (Sentenz, Vergleich, Gleichnis, bildhafte Rede) haben argumentierende und illustrierende Funktion für Verkündigung und Paränese. Sie stehen also im Dienst einer anderen als der weisheitlichen Intention. Demgegenüber erweisen sich die Mahnungen überwiegend als Mahnungen im genuin weisheitlichen Sinn, wozu nur teilweise eine klare eschatologische Prägung tritt." - S.224f So G.H.Twelftree: Jesus the Exorcist, Tübingen 1993, S. 137 Dagegen etwa H.Köster: Einführung, S.509f; weitere Belege bei P.Stuhlmacher: Jesus, S.43 Anm.35. Andere haben die Frage bejaht, wie M.Hengel: Der Sohn Gottes. Die Ent-

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deshalb so schwierig zu beantworten, weil das Judentum zur Zeit Jesu bereits auf eine lange Zeitspanne fortwährender interpretatorischer Auseinandersetzungen mit den alttestamentlichen Traditionen zurückblicken konnte. Ursprünglich eigenständige religiöse Vorstellungen, Traditionen und Begriffe wie etwa "Messias", "Menschensohn" oder "Weisheit" hatten ihre Trennschärfe verloren und waren mehr und mehr aufeinander hin interpretiert worden.68 "Wir können uns das religiöse jüdische Denken um die Zeitwende nicht vielseitig genug vorstellen. Die einzigartige intellektuelle, immer neue Denkanstöße integrierende Begabung des Volkes wird schon in der Antike sichtbar".69 Religiöse Titel waren also zur Zeit Jesu in großer Zahl, in einander überschneidenden, aber auch in miteinander konkurrierenden Vorstellungen vorhanden. Sie waren gewissermaßen abrufbereit, als die ersten Christen nach Vorstellungen suchten, um ihren Glauben an den auferstanden Jesus von Nazareth auf den Begriff zu bringen. Martin Hengel hat am Beispiel des Titels "Sohn Gottes" gezeigt, daß dies nach Ostern innerhalb von nur wenigen Jahren in einem fast schon autokatalytisch zu nennenden Prozeß auch tatsächlich geschehen ist. Jede Vorstellung brachte weitere Konnotationen mit sich. So ist Jesus schon in vorpaulinischen Bekenntnistexten nicht mehr nur der leidende und erhöhte Menschensohn-Messias, er hat auch bereits Attribute der "Sophia" übernommen und wird als präexistenter Schöpfungsmittler verehrt. 70 Ob Jesus selbst allerdings einen dieser Titel auf seine eigene Person bezogen hat, ist ungewiß. Starke Argumente sprechen dafür. Unbestreitbar ist, daß Jesus mit einem außergewöhnlich starken Vertrauen in die religiöse Qualifikation seiner Sendung aufgetreten i s t . E r rief Gott als seinen "Vater" an. Er bezeichnete sich selbst als "Herrn des Sabbats" (Mk 2,28; Mt 12,8) und nahm für sich Vorrechte in Anspruch, die nur Priestern zustanden (Mk 2,26). Er wies die Verpflichtung, religiöse Steuern zu zahlen, von sich und zahlte nur aus Billigkeitsgründen (Mt 17,24ff; 23,23). Kein anderes Zeichen solle diesem "ehebrecherischen und sündigen Geschlecht" gegeben werden. (Lk 11,29). Er sah sich als denjenigen an, durch den Gottes Geist wirksam wurde, um zu heilen und Dämonen zu vertreiben. Seine Mahlgemeinschaften mit Zöllnern und Sündern waren Zeichen und Vorwegnahme der himmlischen Mahl- und Versöhnungsgemeinschaft (Mt 8,11; Mk 2,15-17; Lk 14,16-24; Mt 22,1-14). Schließlich ist auch der Weheruf über die Dörfer zu erwähnen, die Zeugen seistehung der Christologie und die jüdisch-hellenistische Religionsgeschichte, Tübingen 1977, S.102 oder P.Stuhlmacher: Das Gesetz als Thema biblischer Theologie, in: ZThK 75/1978, S.263 V.Hampel: Menschensohn und historischer Jesus, Neukirchen-Vluyn 1990; J.H.Charlesworth (Hg.): The Messiah Developements in Earliest Judaism and Christianity, Minneapolis 1992 M.Hengel: Sohn, S.67; vgl. J.Schreiner: Die apokalyptische Bewegung, in: J.Maier / J.Schreiner (Hg.): Literatur und Religion des Frühjudentums, Würzburg u.ö. 1973, S.214253 M.Hengel: Sohn, bes. 116-120 So E.Käsemann: Das Problem des historischen Jesus, in: Exegetische Versuche und Besinnungen I, Göttingen 1960, S.206-212; G.Bornkamm: Jesus, S. 149-157 2

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nes Wirkens waren und doch nicht Buße getan haben (Mt 11,20-24). Er bedroht sie mit dem Strafgericht. Möglicherweise wurde Jesus auch schon vor seiner Kreuzigung mit religiösen Titeln oder Vorstellungen in Verbindung gebracht. So könnten an den irdischen Jesus Messiaserwartungen herangetragen worden sein.72 Messianische Hoffnungen waren damals ja in Israel weit verbreitet, und schon vor Jesus waren immer wieder Messiasprätendenten aufgetreten, insbesondere nach dem Tod Herodes des G r o ß e n . Günther Bornkamm hat in diese Richtung gewiesen und vermutet: "Der Glaube, den die Emmausjünger aussprechen: 'Wir aber hofften, er sei der, der Israel erlösen sollte' (Lk 24,21), wird sehr genau die Überzeugung der Jünger Jesu vor seiner Passion w i e d e r g e b e n " . 74 Spätestens mit seiner Kreuzigung aber ist Jesus zu einem Rätsel geworden. Keine einzige der gängigen religiösen Erwartungen traf wirklich auf sein Schicksal zu. Seine Verhaftung und sein Tod waren ein "horrendum"^, das den Jüngerkreis zerfallen ließ (Mk 14,50) und in der jüdischen Vorstellungswelt ohne Analogie dastand. Nach Jesaja 11,1-9 stammt der verheißene Messias aus dem Geschlecht Davids. Jesus aber stammte aus Nazareth. Er war ein Galiläer, und das war auch in Jerusalem bekannnt (Lk 14,70)76. jr s war unvorstellbar, daß der endzeitliche Richter und zukünftige Herrscher Israels als Hingerichteter gestorben war. Hingerichtete galten als Menschen, die nicht nur von ihren Mitmenschen, sondern von Gott selbst verflucht waren. (Dtn 21,22f: "Ein Aufgehängter ist verflucht bei G o t t " ) . E i n Gottesfrevler, ein Mensch, der von Gott verflucht war - als Messias? Oder umgekehrt: Ein von Gott verfluchter Gekreuzigter wird von Gott auferweckt und zu seiner Rechten inthronisiert? Der Messiastitel war also alles andere als der Felsen, auf den man in Anbetracht des Schicksals Jesu in Israel problemlos hätte bauen können.78 Er war durch die Kreuzigung zu einer belasteten und belastenden Hypothek geworden.

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G.Theißen: Soziologie, S.61; vgl. S.72 G.Theißen: Soziologie, S.72 G.Bornkamm: Jesus, S. 152 M.Hengel: Sohn, S.97 Vgl. Joh 7,52: Ein Prophet kann nicht aus Galiläa kommen. "Die Deutung des Todes Jesu im Lichte von Dtn 21,22f, wie sie im Joh 13,31ff; Apg 5,30; 10,39; 13,19 und Gal 3,13 durchscheint, dürfte daher nicht erst christlichen Ursprungs sein; es scheint sich vielmehr um eine jüdisch-polemische These zu handeln, mit deren Widerlegung und Bewältigung sich die Christen bis zu Paulus sehr schwer getan haben." - P.Stuhlmacher: Gesetz, S.266 "Die Behauptung der Messianität als solche war damals weder unerhört noch vor allem ein strafbares Delikt. Unerhört und ärgerlich freilich war die Beanspruchung der Messiaswürde für einen Gekreuzigten, denn ein solcher galt nach dem Gesetz als verflucht (Dtn 21,23)." - U.Wilkens: Zur Entwicklung des paulinischen Gesetzesverständnisses, in: NTS 28/1982, S. 155

3. Die ecclesia invisibilis

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3. Die ecclesia invisibilis als religiöses Referenzsystem der sozialen Systemgründungen An dieser Stelle soll die historisch-rekonstruierende Darstellung unterbrochen werden, um eine religionsphänomenologisch-systematische Interpretation einzuschieben. Bei der Darstellung der Systemtheorie wurde darauf hingewiesen, daß Systeme immer zwei konstitutive Merkmale aufweisen: Es gibt eine benennbare Grenzlinie, die das System von seiner signifikanten Umwelt abgrenzt, und es gibt Elemente, die relational miteinander verbunden bzw. verbindbar sind. Diese beiden Faktoren sind auch in der Reich-Gottes-Verkündigung Jesu vorhanden. Sie wurden im vorhergehenden Abschnitt dargestellt: (1.) Der Herrschaftsbereich des gegenwärtigen und kommenden Gottes hebt sich in schroffer Trennung vom Reich der Dämonen ab. Wer immer dazu gehört, ist zum Kampf gegen das Böse verpflichtet. (2.) Als Elemente dieses Herrschaftsbereiches bestimmt Jesus: Gott, den Heiligen Geist, sich selbst als Boten des Reiches und schließlich alle, die Buße tun und den neuen Gesetzen der Gottesherrschaft Folge leisten. Das inhaltliche Profil des Systems hat Jesus in eigener Autorität ("ich aber sage euch") an die ersten Gläubigen vermittelt. Er formulierte die gültigen Normvorgaben: die ethischen Prinzipien, das Systemziel, die Systemaufgabe, die Methode. Zugleich sorgte er mit seiner Persönlichkeit und seiner Autorität für Kontingenzschutz (Warnung vor Irrlehrern und falschen Propheten) und Kohärenzsicherung (ihr alle seid Brüder und Schwestern). Kurz, all das erhärtet die Vermutung, daß das "Reich Gottes", von dem Jesus spricht, ein System ist. Allerdings wäre das Gottesreich ein System, das nicht erst von Jesus gegründet werden mußte, so wie man etwa einen Verein oder eine Gemeinde gründen könnte. Das Reich Gottes bestand ja bereits. Jesus hat mit seinem Wirken und seiner Predigt lediglich auf die Existenz dieses Systems hingewiesen. Gleichzeitig hat er aber auch dessen inhaltliche Konturen (Präferenzordnung) entfaltet und persönlich für die Wahrheit seiner Interpretation garantiert. Seine Leistung wäre von daher wohl am besten zu verstehen, wenn man ihn als den "Zeigefinger Gottes"79 ansieht, der die Aufmerksamkeit seiner Hörer auf dieses System hingelenkt hat. Es gibt ein gewichtiges Argument gegen die These vom Systemcharakter des Reiches Gottes. Die Annahme scheint dem dynamischen Charakter der Vorstellung von der "basileia tou theou" zu widersprechen, der sich in den Texten immer wieder z e i g t . 8 0 "Eine Wiedergabe [des Begriffs] mit 'Reich Gottes' würde allzusehr räumlich-statische Vorstellungen nahelegen und so verwischen, daß es sich um einen dynamischen Begriff handelt, der nicht einen 79

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Mehr beiläufig hat W.Schräge Jesus mit dem Begriff des "Fingers Gottes" (aus Lk 11,20) bezeichnet: "Indem Jesus die Dämonen austreibt, erweist er sich schon als Sieger über die ... Unheilsmächte (Mk 3,27), ist er sozusagen der 'Finger Gottes', mit dem Gott die Menschen der Herrschaft des Satans entreißt." - Ethik, S.28 Zu den Merkmalen der Reich-Gottes-Vorstellung (Spannungscharakter, dynamisches Element, forderndes Element) R.Schnakenburg: Herrschaft, S.49-76

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IV. Systementstehung

Bereich abgrenzen, sondern ein Geschehen beschreiben w i l l " . D a der Begriff ein dynamisches G e s c h e h e n ^ beschreibt, stellt sich die Frage, ob es Raumvorstellungen gibt, die diesem dynamischen Charakter gerecht werden. Wenn Räume (also auch Systemräume) grundsätzlich statischen Charakter haben, kann man den Systembegriff nicht auf Jesu Vorstellung von der "basileia tou theou" anwenden. a) Der "mythische Raum" Gibt es dynamische Raumvorstellungen? Es gibt sie tatsächlich. Ernst Cassirer hat sie im zweiten Band seiner "Philosophie der symbolischen Formen" analysiert. Er hat darauf hingewiesen, daß das Denken in dynamischen Räumen, Cassirer spricht von "mythischen Räumen", gerade im Bereich der religiösen Vorstellungen eine konstitutive Bedeutung besitzt. 83 "Es ist bekannt, daß der Wahrnehmungsraum, der Seh- und Tastraum, mit dem Raum der reinen Mathematik nicht nur nicht zusammenfallt, sondern daß zwischen beiden vielmehr eine durchgehende Divergenz besteht ... Was in dem einen gesetzt ist, das erscheint in dem anderen negiert und umgekehrt" (S.104). Der Wahrnehmungsraum besitzt einen sinnlich wahrnehmbaren Inhalt, die Lage seiner Elemente ist in den Raumdimensionen links-rechts, vorn-hinten, obenunten angebbar. Anders der euklidische Raum. Er ist kein vorfindlicher Raum, sondern ein "Gedankenraum", ein konstruktiv erzeugter Raum, der durch die Merkmale Stetigkeit, Unendlichkeit und durchgängige Gleichförmigkeit definiert wird. Die Elemente dieses Raumes besitzen kein substanzielles Sein, sondern sind Relationen, "nichts als einfache Lagebestimmungen, die aber außerhalb dieser Relation, dieser 'Lage', in welcher sie sich zueinander befinden, nicht noch einen eigenen selbständigen Inhalt besitzen" (S.104f). Der "mythische Raum" ist nach Cassirer eine Mischform, in der Elemente der beiden Raumvorstellungen vereinigt sind. Er vereinigt in sich Elemente des physiologischen Wahrnehmungsraumes und des euklidischen Raumes. Mit dem euklidischen Raum teilt er die Eigenschaften der Unendlichkeit und des relationalen Charakters seiner Elemente, mit dem Wahrnehmungsraum die inhaltliche Qualifiziertheit der Elemente. Zudem ist jedes Element eines mythischen Raumes "mit einem besonderen Akzent" (S.106), mit einer besonderen Konnotation, versehen. Der gesamte Raum ist von der Leitdifferenz "heilig" - "antiheilig"84 qualitativ bestimmt. 81 82

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J.Roloff: Kirche, S.31 Er wurde deshalb auch gern übersetzt als "Durchsetzung" oder "Selbstdurchsetzung der Gottesherrschaft". Beide Übersetzungen bergen aber das Problem, daß sie Entwicklungsprozesse signalisieren, die nicht belegt sind, wenn Jesus sagt, daß die Gottesherrschaft [voll und ganz] da ist, wo er die Dämonen austreibt. Deshalb ist bisher vorsichtiger von der "gegenwärtigen und kommenden" Gottesherrschaft gesprochen worden. E.Cassirer: Philosophie der symbolischen Formen Bd.II: Das mythische Denken (1924), Darmstadt 7 1977, bes. S.104-128 Bei Cassirer: heilig oder profan

3. Die ecclesia invisibilis

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Alles wird stets im Lichte dieses Gegensatzpaares betrachtet. Was sich dabei mit dem Attribut " h e i l i g v e r s e h e n läßt, seien es Wahrnehmungen, soziale Erfahrungen, Gefühle oder auch Gedanken, gilt als ein Element des mythischen Raumes des Heiligen. Umgekehrt gilt alles, was mit dem Etikett "unheilig" / "anti-heilig" versehen werden kann, als Element des mythischen Raumes des "Bösen". Religiöses Denken, Fühlen und Handeln läßt sich grundsätzlich von der Leitdifferenz "heilig" - "antiheilig" leiten. Es ist ein Denken, Fühlen und Handeln innerhalb von zwei verschiedenen Raumsphären. Alles, was der Fall ist, wird einer dieser beiden Sphären zugeordnet, die sich beide als "mythische Räume" verstehen lassen. Damit aber wird etwas möglich, was im geometrischen Raum ebenso unmöglich ist wie im euklidischen Raum: an sich unräumliche religiöse Themen und Begriffe (wie etwa rein und unrein; gut und böse; Gott und Dämonen; Auferstehung und Tod) lassen sich in einem Raummodell abbilden und als Elemente eines Wahrnehmungsraumes auffassen bzw. e m p f i n d e n . 8 6 Licht und Finsternis, hell und dunkel, Osten und Westen, links und rechts, drinnen und draußen werden zu "Ortsbestimmungen" des religiösen Verständnisses. Drinnen werden die Kinder Gottes mit Abraham zu Tisch sitzen, draußen aber wird Heulen und Zähneknirschen sein (Mt 8,llf). Religiöses Denken ist durch diese typische Korrespondenz von ethisch oder religiös unanschaulichen und kosmisch-räumlich anschaulichen Kategorien geprägt. Tatsächlich existierende, aber auch emotional empfundene Sachverhalte werden religiös bewertet, indem sie relational auf den Grundgegensatz von "heilig" und "nicht heilig" bezogen und als Raumkategorien angesehen werden. Die qualitativen Differenzen unterschiedlicher Einstellungen und Verhaltensweisen werden durch das religiöse Denken mit Hilfe der genannten Leitdifferenz in räumliche Differenzen transformiert. Sie gehören entweder der mythischen Sphäre des Heiligen, dem Herrschaftsbereich Gottes, an oder der mythischen Sphäre des Bösen, der gottverlassenen und gottabgewandten "Welt".87 Anders als etwa die politische, die medizinische oder die juristische Wirklichkeit wird religiöse Wirklichkeit mit Hilfe der Leitdifferenz "heilig" - "antiheilig" erschlossen. Das ausgeschlossene Dritte, das "Profane", ist kein eigener Bereich. Es ist nichts als die Angebotspalette, die die zuzuordnenden Themen, Dinge, Verhaltensweisen oder Emotionen bereitstellt. b) Der Herrschaftsbereich Gottes als mythischer Raum Von daher ist nun die Behauptung möglich, daß der Herrschaftsbereich Gottes, auf den Jesus in seiner Predigt und in seinem Wirken hingewiesen hat, sehr 85 86 87

Der Begriff "das Heilige" ist hier weit gefaßt. Er ist kulturell, religionsspezifisch, aber auch subjektiv variabel. Vgl. M.Eliade: Religionen Ja, sogar rituell zu handhaben: R.Fleischer: Verständnisbedingungen, S. 184-195 Ein solches Verständnis des Begriffs "Welt" begegnet im Johannesevangelium s.u. Kap.IV 5.3c

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IV. Systementstehung

wohl eine Raumvorstellung impliziert, eben die Vorstellung eines "mythischen Raumes" im Sinne von Ernst Cassirer. Aber diese Raumvorstellung ist nicht statisch, sie ist dynamisch. 88 Sie ist punktuell und doch uneingeschränkt gegenwärtig. Sie ist universal und doch im Werden. Alle diese Vorstellungen sind durch den Begriff des "mythischen Raumes" abgedeckt und verstehbar gemacht. Jesus hat kein neues System gegründet. Er hat lediglich als Bote und "Finger" Gottes auf diesen mythischen Raum des Heiligen hingewiesen, der bereits vor ihm bestand. Er hat ihn "Reich Gottes" genannt und hat mit seinem Auftreten und seiner persönlichen Autorität die Regeln bekannt gemacht, die innerhalb dieses mythischen Raumes gültig sind. Der mythische Raum des Heiligen ist grundsätzlich nicht identisch mit irgendeinem sozialen System. Beides darf nicht miteinander vermischt oder gar miteinander identifiziert werden. Ecclesia invisibilis und ecclesia visibilis sind zwei verschiedene Dinge. Soziale Systeme entstehen, wo Menschen sich um ein gemeinsames Thema herum versammeln. Sie entwickeln unter Umständen sehr schnell ihre eigenen Hierarchien, Kompetenzen, Machtambitionen und Mechanismen der Sozialkontrolle. All dies ist in dem religiösen System, auf das Jesus hingewiesen hat, nicht der Fall. Das religiöse System ist nicht auf elaborierte Systemrollen oder Sozialstrukturen angewiesen. Es existiert und funktioniert auch vollkommen dezentral. Es realisiert sich, wo immer Menschen (allein oder in kleinen Gruppen) an die Gottesherrschaft glauben und sich dabei inhaltlich an den Vorgaben Jesu orientieren. Wo das geschieht, sind sie auch Teilhaber des Reiches Gottes. Keineswegs ist erforderlich, daß alle sich irgendwann einmal begegnen oder sich auch untereinander kennen. Jesus hat mit seinen Ausführungen deutlich gemacht, daß es im Herrschaftsbereich Gottes - betriebswirtschaftlich formuliert eine sehr "flache Hierarchie" gibt. An der Spitze steht Gott. Aber unterhalb dieser Führungsebene herrscht ein strikt antihierarchisches Organisationsprinzip. Jeder, der dazu gehört, ist ein vollständig gleichberechtigter und gleichwertiger Teil der einen Familie Gottes. Führungspositionen werden im Reich Gottes nicht durch erfolgreiche Machtkämpfe gewonnen. Führungsqualitäten werden vielmehr im vorbehaltlosen Dienst am Nächsten unter Beweis gestellt. Wer groß sein möchte, hat allen anderen zu dienen, so wie Jesus selbst es vorgemacht hat. Damit werden irdisch-menschliche Machtgelüste kategorisch abgewiesen. Für sie ist kein Platz im Herrschaftsraum des Heiligen Gottes. Das uneingeschränkt gültige Liebesprinzip ist Grundlage und Wegweiser für die Teilhabe am Reich Gottes. Die "Spielregeln", die im Reich Gottes gültig sind, sind denen großer etablierter Sozialsysteme geradezu diametral entgegengesetzt. 88

A.Kretzer ist m.E. der hier vorgelegten Deutung des Begriffs als "mythischer Raum" am nächsten gekommen, wenn er schreibt: "Diesen dynamischen Charakter der Basileiabotschaft bringt Matthäus in einer Art räumlich-gedachten, aber grundsätzlich räumlichentgrenzten Sicht mit kosmisch-universaler Ausrichtung zur Geltung" (Herrschaft, S.263); "Als räumlich und zeitlich entgrenzte Größe wird sie am Ende personal abgegrenzt gegenüber den Übeltätern und eingegrenzt auf jene, die nach Gerechtigkeit und Liebe gehandelt haben." - S.304

3. Die ecclesia invisibilis

263

Damit aber ist ein entscheidendes Problem, ja ein Dilemma, markiert, das auf jeder Form von irdischer Kirchgründung lastet. Auch die kirchlichen Sozialsysteme unterliegen immer einer Systementwicklungsdynamik, die sie gesetzmäßig und zwangsläufig zur Ausbildung von Systemrollen und damit auch von Leitungs- und Machthierarchien, führt. Es gibt keine komplexen Sozialsysteme ohne solche Hierarchie- und Rollenvorgaben. Die Ansätze zur Ausbildung von Rollenverteilungen und Hierarchien sind bereits im Neuen Testament belegt. Genau das aber ist nach Maßgabe Jesu Christi im Herrschaftsbereich Gottes unterhalb der einzig akzeptierten Leitungs- und Führungsebene strikt untersagt. An dieser Stelle sitzt ein unausrottbarer Pfahl im Fleisch einer jeden ecclesia visibilis. Bei der Darstellung des Verhältnisses von ecclesia invisibilis und ecclesia visibilis im fünften Kapitel der Arbeit wird erneut und vertiefend auf dieses Problem eingegangen werden.

4. Die Vielstimmigkeit der Anfänge christlicher Selbstorganisation Bei der Darstellung der Verkündigung und des Wirkens Jesu hat sich gezeigt, daß Jesus auf das Reich Gottes hingewiesen hat, das zwar Systemstrukturen aufweist, aber nicht mit einem irdischen Sozialsystem verwechselt werden darf. Jesus wollte keine irdische Großorganisation auf seinen Namen gründen, dennoch ist sie entstanden. In diesem Prozeß der Systemwerdung des Christentums bestätigt sich eines der Elementargesetze der Systemtheorie: Sozialsysteme kennen keinen Entwicklungsstillstand. Entweder sie bilden Organisationsstrukturen aus und haben damit die Möglichkeit, älter zu werden als ein Menschenleben währt, oder aber sie verschwinden wieder und fallen der Vergessenheit anheim. Auch das Überleben von antiinstitutionellen Ideen ist nur im Rahmen von (wie spärlich auch immer geregelten) Organisationsstrukturen möglich. Von daher stellt sich die Frage, die im folgenden behandelt werden wird: Wie haben sich im Anschluß an die Verkündigung Jesu irdische Systemstrukturen entwickelt? Erste Hinweise haben sich bereits aus der Einsicht ergeben, daß es zwischen Jesus und den ersten nachösterlichen Christen durchaus nicht nur einen Abbruch, sondern auch Kontinuität gegeben hat. Jesus selbst hatte mit dem Jüngerkreis eine erste Sozialstruktur (in Gestalt eines Quasi-Systems) ins Leben gerufen und er hat einige der maßgeblichen Systemnormen, die im Reich Gottes gelten, auch im Jüngerkreis verbindlich gemacht. Er hat sie auf das von ihm selbst als vorläufig verstandene, irdische Quasi-System übertragen. Im Verlauf der Darstellung wird sich zeigen, daß die Christen der ersten Generationen ihm in diesem Vorgehen gefolgt sind, daß sie aber gerade an diesem Punkt immer auf Schwierigkeiten stießen, denn der Systemraum des Heiligen ist eben kein Sozialsystem. Die Spannung zwischen beidem war bereits in den Gründungsgenerationen unüberbrückbar und ist es bis heute geblieben.

264

IV. Systementstehung

4.1 Die Auferstehung als Ursprung und Anfang der Kirche? "In der Auferstehung Jesu Christi hat die Kirche ihren Ursprung und Anfang".89 Diese von Günther Bornkamm in seinem Jesusbuch (l.Aufl. 1956) vertretene Auffassung hat lange Zeit auch die Vorstellungen von der Entstehung der ersten christlichen Gemeinden geprägt und wird jedes Jahr zu Ostern von vielen Kanzeln herab gepredigt. Demnach habe nicht der irdische Jesus, wohl aber der Auferstandene "der Sache nach" die Kirche gegründet. Die ersten Christen waren von der Glaubensüberzeugung geprägt, daß Gott das irdische Wirken Jesu durch die Auferweckung beglaubigt und Jesus damit als den "Messias" ( = "Christus") ausgewiesen habe. Sie versammelten sich um diese Überzeugung und gründeten die ersten Gemeinden. Die Apostelgeschichte des Lukas liefert dazu das verständnisleitende Verlaufsschema. Bei Lukas geht die gesamte Entwicklung der Kirche von Jerusalem aus und gelangt, indem sie immer größere Kreise zieht, schließlich bis ins Zentrum der politischen Macht, nach Rom. Tatsächlich ist die Entwicklung der ersten Gemeinden sehr viel differenzierter, unkoordinierter und vielschichtiger verlaufen. Die "Auferstehung" Jesu ist nicht der Fixpunkt, von dem alles folgende ausgeht. Sie kann schon im Neuen Testament durchaus unterschiedlich verstanden und geschildert werden. In einigen Schriften heißt es lediglich formelhaft, Gott habe Jesus "auferweckt"90 oder Jesus sei der "Erstling der Entschlafenen" (l.Kor 15,20). Eine ganze Reihe von christlichen Texten kommt ganz ohne den Verweis auf die Auferstehung aus.91 Nur in den Evangelien findet man ausgeführte Berichte vom leeren Grab und einer Engelerscheinung. Kurz, die Schilderungen stimmen nicht überein. Sie verfolgen unterschiedliche Absichten. In der Form, wie die Überlieferungen vorliegen, ist die Auferstehungsgeschichte kein eindeutiger Fixpunkt, sondern ein Forum, auf dem frühchristliche theologische Auseinandersetzungen und gruppenspezifische Glaubensvorstellungen präsentiert werden. Ähnliches läßt sich auch für das Christusverständnis zeigen. Hier gab es nicht nur drei grundlegende Vorstellungskomplexe92; es stand auch eine Vielzahl von religiösen Vorstellungen und Titeln (Prophet, Herr, Messias, Sohn Gottes, Menschensohn, Sohn Davids usw.) im zeitgenössischen Judentum bereit. Wo sie auf Jesus übertragen wurden, geschah dies im Rahmen von theologischen Verständnis- und Deutungsbemühungen, die keineswegs überall und in allen Kreisen identisch waren. "Die Vielzahl [der Titel] ist zunächst Dokument einer intensiven theologischen Deutungsarbeit und Auseinandersetzung mit dem Phänomen 89 90 91 92

G.Bornkamm: Jesus, S. 164 Röm 4,24b; 8,11; 2.Kor4,14; Gal 1,1; Eph 1,20; Kol 2,12; l.Petr 1,21 2.Thess; 2.Petr; Jud; 2. und 3.Joh; Jak; Thomasevangelium; Didache Jesus als vorbildlicher Gerechter, als Bote bzw. Gesandter Gottes und als personifiziertes "Israel". - K.Berger: Theologiegeschichte des Urchristentums, Tübingen u.ö. 1994, S.58f

4.1 Die Auferstehung als Ursprung

265

Jesus. Gleichzeitig aber belegt sie auch die weite, ungeordnete Verstreuung, die nach den ersten Anstößen eingetreten ist. Die vielen Titel bestätigen im kleinen das Gesamtbild einer großen Vielfalt am Anfang, angesichts derer eine Einheit erst ein späteres Produkt ist".93 Am Anfang der Entwicklung des Christentums stand nicht die Einheit der Kirche, sondern eine Vielzahl von unterschiedlichen Bemühungen und Bestrebungen. "So fragmentarisch das Gesamtbild auch bleibt, es ist doch deutlich, daß eine sehr mannigfaltige und keineswegs einheitliche Ausbreitung des Christentums in den ersten Jahren und Jahrzehnten nach dem Tode Jesu stattfand. Die paulinische Mission ... ist dann nur ein kleiner Ausschnitt aus dieser Expansion, so wichtig und folgenreich sie auch für die spätere Zeit gewesen sein m a g " . 9 4 Es gibt keine Kirchengründung, ja nicht einmal ein Selbstverständnis als "Kirche" in zeitlicher Nähe zur Kreuzigung und Auferstehung Jesu. Vielmehr entwickelt sich auch der Kirchengedanke erst nach und nach "in einem allmählichen Klärungs- und Reflexionsprozeß, der, an Ostern einsetzend, während des gesamten im Neuen Testament dokumentierten Zeitraums andauert und der bezeichnenderweise seine größte Breite erst in der dritten christlichen Generation, d.h. in der Zeit zwischen 80 und 110, g e w i n n t " . I m Rahmen der vorliegenden Arbeit kann selbstverständlich kein vollständiges Bild der nachösterlichen Entwicklungen gegeben werden. Viel zu vieles liegt ohnehin im Dunkeln. Vielmehr soll mit der nun folgenden Zusammenstellung die These nachvollzogen werden, daß sich die Kirchwerdung des Christentums im Sinne einer regionenübergreifenden ecclesia visibilis erst nach und nach aus einem langen und vielschichtigen Entwicklungs- und Bearbeitungsprozeß der christlichen Überlieferung herauskristallisiert hat. Dabei soll nicht darüber geurteilt werden, welches denn der "richtige" Weg gewesen ist, um damit implizit alle anderen Entwicklungen als "Holzwege" oder "Irrwege" abzutun. Eine solche Einstellung wird der Situation der ersten Christen nicht gerecht, die taten, was sie in ihrer jeweiligen Situation und mit ihrem jeweiligen Christusverständnis tun zu müssen glaubten. Sie wird aber auch dem Reichtum der christlichen Glaubensgeschichte nicht gerecht, denn die Flurbereinigungsarbeiten des im 2.Jh. einsetzenden Frühkatholizismus haben manch einen Schatz im Acker verschwinden lassen, der auch heute noch der Ausgrabung durchaus wert wäre.

93

94 95

K.Berger: Theologiegeschichte, S.59. Eine andere Deutung der Vielnamigkeit hat M.Hengel vorgeschlagen: "Der antike Mensch dachte im Bereich des Mythos gerade nicht analytisch differenzierend wie wir, sondern im Sinne der 'Vielfalt der Annäherungsweisen' kombinierend und akkumulativ. Je mehr Titel auf den Auferstandenen bezogen wurden, desto angemessener war es möglich, die Einzigartigkeit seines Heilswerks zu verherrlichen." - Sohn, S.90f H.Köster: Einleitung, S.528 J.Roloff: Kirche, S.60

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IV. Systementstehung

4.2 Nachrichten und Notizen über das frühe Christentum Die vorhandenen Nachrichten über das älteste Christentum lassen sich drei großen Themenbereichen zuordnen. Es gibt Informationen über frühchristliche Glaubensüberzeugungen, Lebens- und Organisationsformen, die an vorhandene jüdisch-religiöse Strömungen wie die Apokalyptik, die Weisheit oder die Kultund Tempelfrömmigkeit anschließen. Es gibt Informationen über christliche Gemeinden in bestimmten Regionen oder Städten. Und schließlich gibt es Informationen über einzelne namentlich bekannte Persönlichkeiten des frühen Christentums. Einige stammen aus dem Kreis der Jünger, andere sind Missionare oder Gemeindeleiter. Nimmt man alles zusammen, so ergibt sich ein buntes, aber kein kohärentes Bild. Die Apostelgeschichte des Lukas, aber auch die anderen neutestamentlichen Texte sind in der Form, wie sie uns vorliegen, theologisch Partei und Programm zugleich. Sie dokumentieren einen relativ späten Entwicklungsstand, wie er erst in der zweiten Hälfte des ersten Jahrhunderts und oftmals erst gegen Ende des ersten Jahrhunderts erreicht worden ist. Wer dichter an die Wurzeln des Christentums heran will, ist deshalb darauf angewiesen, Details zu beachten und gelegentlich auch hinter den veröffentlichten Positionen das Profil einer anderen frühchristlichen Gruppierung zu suchen, auch wenn das so ermittelte Ergebnis fragmentarisch und sicher auch stärker hypothetisch bleibt. a) Hinweise auf frühes Christentum in verschiedenen Städten und Regionen Aus den Evangelienberichten über die Erscheinungen des Auferstandenen in Galiläa hat man erschlossen, daß es sehr alte christliche Gruppen in Galiläa gegeben hat. Hinweise auf christliche Gruppen in Samarien ergeben sich aus den Samaritertexten der Evangelien und aus Apg 8. Über Jerusalem spricht ausführlich die Apostelgeschichte. Daneben gibt es Informationen über eine ganze Reihe von (überwiegend hellenistischen) Städten, in denen frühe christliche Gemeinden entstanden sind: Damaskus (Apg 9; 2.Kor 11,32), Ephesus (Apg 18), die Küstenstädte Phöniziens, Antiochien, Rom und wahrscheinlich auch A l e x a n d r i e n ^ . Zypern ist in Apg 11,20 erwähnt. Für die Existenz von Christen in den Städten der unter syrischer Verwaltung stehenden Dekapolis spricht ein (allerdings erst matthäischer) Einschub in Mt 4,24f.97 Paulus hat seine missionarische Wirksamkeit in dieser Region begonnen (Gal 1,17). Auch in Ostsyrien könnte das Christentum bereits sehr früh Fuß gefaßt h a b e n . 9 8 96

97 98

H.Köster: Einleitung, S.527; K.Berger: Theologiegeschichte, S.713-715. Die jüdische Gemeinde in Alexandrien hatte zur Zeit Philos mehr als 100 000 Mitglieder (Helmut Köster: Einleitung, S.285). Apollos stammt aus Alexandrien (Apg 18,24; l.Kor 3,4f). Vgl. Mk 3,7f - H.Conzelmann: Geschichte des Urchristentums, Göttingen 1976, S.49 "Über den Osten Syriens ist aus der Frühzeit nichts unmittelbar überliefert. Aber die späteren Nachrichten und die dort verwendeten Überlieferungen lassen vermuten, daß auch

4.2 Das frühe Christentum

267

b) Wandercharismatiker Vermutlich haben einige der Jünger, die vor Ostern mit Jesus gezogen waren, Jesu Predigt und Lebensweise nach Ostern fortgesetzt.99 Ob es allerdings eine regelrechte Aussendung der Jünger gegeben hat, wie in Mk 6,7-13 berichtet, ist fraglich. 100 Das Verhalten der wandernden Prediger zeigt deutliche Übereinstimmungen mit der Botschaft und Lebensweise Jesu: Bußruf und Reich-GottesBotschafit, Dämonenaustreibungen, Krankensalbungen, Heilungen. Auch sie lebten ohne Heimat und Besitz, kritisierten den Reichtum, hatten ihre Familien verlassen und proklamierten radikalen Gewaltverzicht. Hilfreich mag gewesen sein, daß sie sich als Schicksalsgemeinschaft Jesu geschwisterlich verbunden wußten, und daß sie sich bereits auf eine eigene Sozialstruktur und auf seßhafte Sympathisanten stützen konnten. Die wandernden Charismatiker empfanden sich als Repräsentanten Jesu: "Wer euch hört, der hört mich, und wer euch verwirft, der verwirft mich; wer aber mich verwirft, der verwirft den, der mich gesandt hat" (Lk 10,16). Sie gingen davon aus, daß ihre Entscheidungen gerichtsrelevant sein würden. Sie wirkten als Sprachrohr des erhöhten Menschensohns und interpretierten in dessen Namen seine Aussagen: "Selig seid ihr, wenn euch die Menschen hassen und wenn sie euch ausschließen und schmähen und euren Namen als einen bösen ächten um des Sohnes des Menschen willen" (Lk 6,22). Die beiden Zebedäussöhne, Johannes und Jakobus, könnten solche wandernden Charismatiker und Gerichtsprediger gewesen sein (vgl. Apg 1,13). 102 Di e Verfestigung einer Sozialstruktur auf der Grundlage des Systems wandernder Charismatiker ist prognostizierbar. Die Wanderer waren auf seßhafte Unterstützer angewiesen. Wenn sie sich nicht ständig wieder neue Unterstützer gesucht haben, sondern bei ihren "Bekannten" mehrfach einkehrten, legten damit sie die Basis für die Entstehung eines Sozialsystems. Die Didache setzt noch zu Beginn des zweiten Jahrhunderts die Wirksamkeit wandernder Apostel, Propheten und Lehrer in Syrien voraus (Kap. 1 ΙΟ). Neben der Didache ist auch das Thomasevangelium zu nennen (vgl. Spruch 42). Noch gegen Ende des zweiten Jahrhunderts ist die Existenz von gnostisch-christlichen Wandercharismatikern in Nordafrika b e z e u g t . 104

99 100 101

102 103 104

hier schon in der frühesten Zeit des Christentums Missionare gewirkt haben" - Helmut Köster: Einleitung, S.S27 G.Theißen: Wanderradikalismus, in: ZThK 70/1973, S.245-271 Vgl. Lk 9,1-6 und Mt 10,1-14 "Wenn ihr jemandem die Sünden vergebt, sind sie ihm vergeben; wenn ihr jemandem nicht vergebt, sind sie nicht vergeben" (Joh 20,23); In Mt 16,19 wird Petrus die Bindeund Lösegewalt zugeteilt. These vonK.Berger: Theologiegeschichte, S.136 H.Köster: Einführung, S.591; Das unmittelbare Vorbild Jesu bleibt hier ebenso erkennbar, wie die grundsätzliche Übereinstimmung mit wandernden kynischen Philosophen. K.Koschorke: Eine neu gefundene gnostische Gemeindeordnung. Zum Thema Geist und Amt im frühen Christentum, in: ZThK 76/1979, S.49 Anm.92

268

IV. Systementstehung

c) Logienquelle Vermutlich in Nordpalästina ist in den 40er Jahren des ersten Jahrhunderts die Spruchquelle e n t s t a n d e n . Unbestritten ist, daß die Logienquelle, die Matthäus und Lukas in ihre Evangelien eingearbeitet haben, aus kleineren Einheiten besteht und ihrerseits das Ergebnis eines mehrschichtigen Entwicklungsprozesses ist. Im einzelnen ist dieser Prozeß zwar nicht mehr aufzuhellen, aber drei theologische Schwerpunkte lassen sich ausmachen. Man findet (1.) einen prophetisch-apokalyptischen Zug. Hier wird Jesus als kommender Menschensohn aus Daniel 7,13-14 angesehen (z.B. Lk 17,22-37). (2.) Einem weisheitlichen Zug werden typische weisheitliche Motive, Aussagen über die Weisheit (Sophia) 106 , aber auch Stellen zugeordnet, an denen Jesus als Weisheitslehrer nach Art der "Sophia" angesehen w i r d . 107 Neben den "Menschensohn" tritt damit eine andere Jesusdeutung: Jesus ist der "letzte, werbende und drängende Bote Gottes" 108 und der Verkünder der göttlichen Weisheit. 109 Schließlich findet sich (3.) ein gesetzestreuer Zug, der in einem deutlichen Spannungsverhältnis zu den beiden anderen steht. "Kein Jota" soll vom Gesetz abgestrichen werden (Mt 5,17f; Lk 16,7). Da die Logienquelle kein einheitliches theologisches Profil zeigt, sollte man mit der Zuweisung der Logienquelle zu einem einzelnen, möglicherweise streng judenchristlichen Trägerkreis in Galiläa vorsichtig sein. Man wird ihr wohl besser gerecht, wenn man sie als Ergebnis einer "Sammlung" begreift, in die Positionen aus unterschiedlichen Theologien und unterschiedlichen Lebensräumen (Wanderer und Seßhafte) eingeflossen sind. d) Frühes Weisheitschristentum, Thomas und Apollos "An verschiedenen Orten des Urchristentums wurden alttestamentlich-jüdische Weisheitstraditionen übernommen und dem urchristlichen Verkündigungsanliegen dienstbar gemacht". 110 Neben der Logienquelle, die Spuren eines frühen 105 U.Schnelle: Einleitung in das Neue Testament, Göttingen 1994, S.220 "(Nord)palästina"; G.Theißen: Lokalkolorit und Zeitgeschichte in den Evangelien, Freiburg 21992, S.130: "Galiläa" 106 Mt 11,29: "so werdet ihr Ruhe finden für eure Seelen"; Lk 7,35; 11.49 107 Lk 10,21f; Mt 11,25-30 108 S.Vollenweider: Christus als Weisheit. Gedanken zu einer bedeutsamen Weichenstellung in der frühchristlichen Theologiegeschichte, in: EvTh 53/1993, S.297; Ähnlich H.von Lips: "In einigen Logien wird Jesus als der Bote der Weisheit oder als personifizierte Weisheit verstanden, kaum aber als hypostasierte (d.h. als göttliches Wesen verstandene) Weisheit. Dabei spielt vor allem das Motiv der abgelehnten Weisheit, in apokalyptischem Konext stehend, eine Rolle." - Traditionen, S.456 109 Diese beiden Aspekte sind schon in Lk ll,31f harmonisiert. Personifiziert in der Person des Jona (apokalyptischer Zug) und der Königin vom Süden, die kam, um die Weisheit Salomos zu hören, werden die Weisheit und die Apokalyptik zu Gerichtszeugen, die gegen Israel auftreten. 110 H.von Lips: Traditionen, S.470

4.2 Das frühe Christentum

269

Weisheitschristentums enthält, gibt es noch zwei weitere Belege für diese, mit Sicherheit nicht homogene Strömung innerhalb des frühen Christentums, Thomas und Apollos.m 1. Thomas: Der Jesusjünger "Thomas", trägt im Johannesevangelium den Beinamen "der Zwilling" (20,24) und wird vom Evangelisten regelrecht disqualifiziert. Thomas ist der "Ungläubige", der gerade in dem Augenblick nicht im Kreis der Jünger anwesend war, als der Auferstandene den Heiligen Geist austeilte (Joh 20,19-29). Er hat folglich auch den Heiligen Geist nicht bekommen. Wenn man in einer messianischen Bewegung einem Apostel, dessen Jesusjüngerschaft unstrittig ist, bescheinigt, daß er den Geist, mit dem Jesus die Dämonen ausgetrieben hat, nicht besitzt, dann ist das wohl gleichbedeutend mit dem Votum einer Aufnahmekommission, die einem Bewerber bescheinigt, daß er bei der Eignungsprüfung durchgefallen ist. Man kann vermuten, daß diese massive Polemik einen ebenso massiven Grund gehabt haben muß. Von daher erscheint es nicht abwegig, anzunehmen, daß es im Umfeld der Johannesgemeinde(n) christliche Gruppen gab, die sich auf die Autorität des Jüngers Thomas beriefen und damit wohl so erfolgreich waren, daß sie von Johannes sehr ernst genommen (und thematisiert) wurden. Unter dem Namen des Jesusjüngers Thomas gibt es ein Evangelium, das " T h o m a s e v a n g e l i u m " . D a s Thomasevangelium ist eine Spruchsammlung, wie auch die Logienquelle, deren älteste Sprüche von einzelnen Exegeten in die früheste christliche Zeit datiert werden.! 13 Ebenso wie die Logienquelle enthält auch das Thomasevangelium keine Passions- oder Auferstehungsgeschichten. Aber es läßt noch erkennen, daß die Thomasjünger ein starkes Selbstbewußtsein ausgezeichnet hat. Nach Spruch 13 hat Jesus den Jünger Thomas allen anderen Jüngern (namentlich genannt sind Simon Petrus und Matthäus) vorgezogen und ihn mit sich selbst gleichgestellt: "Ich bin nicht dein Meister. Denn du hast getrunken, du bist begeistert worden von der sprudelnden Quelle, die ich ausgemessen habe." Die weisheitsorientierte Christologie des Thomasevangeliums "ist durch Worte charakterisiert, in denen Jesus als Lehrer der Weisheit oder mit einer Autorität, die der himmlischen Weisheit entspricht, den Besitz des Heils denen zuspricht, die imstande und bereit sind, seine Worte zu hören und zu v e r s t e h e n " . 114 ¡ m Thomasevangelium ist dieses Programm gnostisierend fortentwickelt. In der Gestalt Jesu ist die Offenbarung Gottes (Spruch 91) erschienen und die "Ruhe" ist gegenwärtig (Spruch 51). Die individuelle Bemü111 W.Schräge hat vermutet, daß mit den in Mt 7,21 Genannten, die zwar "Herr, Herr" sagen, aber den Willen Gottes nicht tun, ebenfalls Weisheitschristen sein könnten. - Ethik, S.49 112 NHC 11,2; B.Layton (ed.): The Gospel of Thomas, in: Nag Hammadi Codex 11,2-7, vol.I ( = Nag Hammadi Studies XX), Leiden 1989; M.Fieger: Das Thomasevangelium. Einleitung, Kommentar und Systematik, Münster 1991 113 H.Köster: Einführung, S.586-589; K.Berger: Theologiegeschichte, S.626-628 114 H.Köster: Einführung, S.S86; "Entsprechende Worte Jesu sind innerhalb der Überlieferung der Spruchquelle aufbewahrt (Mt ll,25-30par; vgl. Lk 11,49-51), treten hier aber vor der dominierenden Menschensohnerwartung zurück. " - ebd.

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IV. Systementstehung

hung um Erkenntnis geht einher mit einer Absage an die Welt (Spruch 56). Ihr Ziel ist die Befreiung der Seele vom Leib (Spruch 29; 87; 112), das Eins-Werden 1 1 5 von Jünger und Meister. Der einzelne durchläuft im Streben nach Weisheit und Erfüllung einen Erkenntnisweg in mehreren Phasen: suchen - finden - erschüttert werden - staunen - herrschen (Spruch 2). Leider ist umstritten, welche dieser Ideen und Interpretationen sich bereits in der Frühzeit des Christentums entwickelt haben und welche einer späteren Phase zuzuschreiben sind. 2. Apollos: Apollos aus Alexandrien, dessen missionarische Aktivität in Ephesus (Apg 18f) und Korinth (l.Kor) zu Beginn der 50er Jahre belegt ist, könnte möglicherweise ein weiterer früher Vertreter der Weisheitschristologie(n) gewesen sein. Die Apostelgeschichte beschreibt Apollos als einen gelehrten (beredten) Mann, "bewandert in den Schriften" (V.24), der "glühend im Geist" redete (V.25) und öffentlich die Juden widerlegte, indem er "durch die Schriften bewies, daß Jesus der Christus sei" (V.28) Er betrieb also allegorische Schriftauslegung und wies nach, daß Jesus derjenige ist, von dem bereits die alttestamentlichen Prophetien sprechen. Dieses methodische Vorgehen verbindet ihn mit dem berühmtesten allegorischen Schriftausleger seiner Heimatstadt und der damaligen antiken Welt, Philo von Alexandrien. Zwar sind die Inhalte seiner Predigt nicht direkt überliefert, aber Paulus setzt sich im 1. Korintherbrief u.a. kritisch mit dem Begriff "Weisheit" auseinander. Vor allem in den Kapiteln 1-4 und 15 könnten die Inhalte einer solchen christlichen Weisheitstheologie, wie die Betonung überlegenen Geistbesitzes (2,13), exklusiver Erkenntnisse (1,31), Weisheiten (3,18), hervorragender Beredsamkeit (2,4), und dualistischer Vorstellungen (2,14f; 15,44) implizit enthalten sein. 11 ^ Apollos, der Schriftausleger aus Alexandrien, ist in Kapitel 3 und 4 mehrfach namentlich angesprochen (bes. 4,6). Es wäre (neben anderen?) sein Verdienst, die exegetische Technik der Allegorese, wie sie in Philos großem Genesiskommentar oder der "Vita Mosis" in extenso demonstriert wird, auf Jesus übertragen und angewendet zu haben. Paulus hat sich energisch gegen das Weisheitschristentum des Apollos verwahrt, und auch Lukas hat möglicherweise nicht viel von ihm gehalten. Ebenso 115 M.Frenschkowski: The Enigma oft the Three Words of Jesus in Gospel of Thomas Logion 13, in: Journal of Higher Criticism 1/1994, S.73-84 116 Das Thema hat einen zentralen Stellenwert: l.Kor 1,18-31; 2,4-7; 2,13; 4,19 u.ö. 117 R.A. Horsley hat nachzuweisen versucht, daß die von Paulus in den Kapiteln 1-4 und 15 kritisierte Begrifflichkeit und Vorstellungswelt in Philos allegorischer Auslegung von Gen 1,27 und 2,7 ihre Wurzeln hat. R.A.Horsley: Pneumatikos vs. Psychikos. Distinctions of spiritual status among the Corinthians, in: HThR 69/1976, S.269-288; R.A.Horsley: Wisdom of Word and Words of Wisdom in Corinth, in: CBQ 39/1977, S.224-239; R.A.Horsley: "How can some of you say that there is no resurrection of the dead?" in: NT 20/1978, S.203-231. Vgl. M.Winter: Pneumatiker und Psychiker in Korinth. Zum religionsgeschichtlichen Hintergrund von l.Kor 2,6-3,4, Marburg 1975, S.3 und S. 149-151; G.Sellin: Der Streit um die Auferstehung der Toten, Göttingen 1986 118 Was allerdings umstritten ist. Anders etwa M.D.Goulder: Sophia in 1 Corinthians, in: NTS 37/1991, S.516-534, der annimmt, Paulus argumentiere gegen die Petruspartei, und zu einer völlig anderen Einschätzung kommt.

4.2 Das frühe Christentum

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wie Thomas im Johannesevangelium wird Apollos in der Apostelgeschichte diskret zurückgestuft. Paulus muß den von Apollos getauften Christen nachträglich den heiligen Geist verleihen, denn sie haben ihn bei der durch Apollos vollzogenen Taufe nicht empfangen (Apg 18,25 mit 19,6). Gerade die Weisheitstheologen reklamierten aber den Heiligen Geist in besonderer Weise für sich. Selbst Lukas hatte nicht umhin gekonnt, Apollos in 18,25 einen "glühenden" Geist zu bestätigen. Von daher ist die Polemik erkennbar: Wenn Lukas behauptet, Apollos habe den Heiligen Geist nicht und könne ihn also auch nicht weitergeben, kann es auch mit seiner "Weisheit" insgesamt nicht weit her sein. Das ist wenig glaubwürdig. Eine andere Deutung der nachträglichen Geistlieferung bietet sich an: Lukas unterstellt die Apolloschristen literarisch der Autorität des Paulus. Historisch könnte es durchaus anders gewesen sein. e) Petrus Auch Petrus entstammt dem Jüngerkreis Jesu. Die Evangelien erwähnen ihn immer wieder in einer herausgehobenen Rolle: Er bekennt als erster, daß Jesus der Messias ist (Mk 8,29)120 Er wird von Jesus ausgesandt, um "Menschen zu fischen" (Lk 5.1-11) 121 . Er ist "Kephas", der Fels, auf den die Kirche gebaut wird, der die Schlüssel des Himmelreiches besitzt und die Binde- und Lösegewalt hat (Mt 16,17-19). Er ist nach l.Kor 15,5 der erste, nach Lk 24,34 der einzige, dem der Auferstandene erschienen ist. In der Passionsgeschichte des Markus wird nur er namentlich genannt (Verleugnung 14,66). Im frühen Christentum hatte er eine Führungsrolle inne und galt besonders als Garant für das Auferstehungszeugnis. Das machte ihn zum Gewährsmann für die gesetzesfreie Heidenmission. Die Apostelgeschichte erweckt den Eindruck, als habe Petrus (gemeinsam mit Johannes) die Hauptlast der Abeit in der Jerusalemer Urgemeinde getragen. Er heilte Kranke (3,1-11; 4,8ff; 5,15), verkündete die Christusbotschaft (3,12ff; 4,8ff) und ordnete das Gemeindeleben (5,1-11). Möglicherweise wurde er ebenso wie Jakobus Zebedäus zu Beginn der 40er Jahre verhaftet. Während dieser hingerichtet wurde, wäre er mit dem Leben davongekommen (Apg 12,Iff). Wenige Jahre später gehörte er an zweiter Stelle hinter Jakobus (Gal 2,9 vgl. Apg 12,17) zu einem leitenden Dreiergremium (den "Säulen") in Jerusalem. Beim Apostelkonzil wurde Petrus die Verkündigung des Evangeliums unter den Juden zugewiesen (Gal 2,7). Anschließend besuchte er die antiochenische Gemeinde und zeigte sich dort als ein in kultischen Fragen liberaler Judenchrist. Die Apostelgeschichte berichtet über ein Wirken in Joppe, Lydda und der Landschaft Saron (Apg 9 ) ^ 2 . Auch in Korinth ist er gewesen (l.Kor 1,12; 3,4). 119 Anders K.Berger: Apollos habe nur die alte Form der Umkehrtaufe des Täufers gekannt, Theologiegeschichte, S.261 120 Joh 6,69: Der "Heilige Gottes" 121 Vgl. Joh 21,11 122 Daß er in Cäsarea (Apg 10) die Heidenmission begründet hat, ist vermutlich legendär.

272

IV. Systementstehung

Hinter diesen doch recht summarischen Angaben über Petrus scheint sich ein ungeheuer bewegtes Leben zu verbergen. Man kann leider nur erahnen, was sich hier in wenigen Jahrzehnten in seiner Person, aber auch in der Theologieund Gemeindegeschichte des frühen Christentums entwickelt und verändert hat. Petrus wird nicht nur in den unterschiedlichsten Funktionen und Tätigkeiten dargestellt, er wird auch in sehr unterschiedlichem Maß als Autorität wahrgenommen. Vermutlich ist es richtig, wenn man davon ausgeht, daß es im frühen Christentum Gruppen gegeben hat, die sich besonders der Autorität des Petrus verbunden wußten und die unter seinem Namen erhaltenen Ereignisse und Traditionen gepflegt und überliefert haben. 123 f) Frühes Christentum in Jerusalem 1. Jakobus der Gerechte: Jakobus war ein Bruder Jesu, hat wohl während seines irdischen Wirkens nicht zum Jüngerkreis gehört. Er muß aber schon sehr früh aus Galiläa nach Jerusalem übergewechselt sein (Gal l,18f). In l.Kor 15,7 wird er zu denen gezählt, die den Auferstandenen Christus gesehen haben. Beim Apostelkonzil (vermutlich 48 n.Chr.) war er einer der drei Verhandlungsführer (Gal 2,1-10). Bald danach wurde er, nach der Darstellung des Lukas, die alleinige Führungsgestalt der Jerusalemer Christenheit. Er schaffte es, trotz aller Verfolgungen, denen die Gemeinde(n) und wohl insbesondere ihre Führer (Stephanus; Jakobus Zebedäus) in fast 30 Jahren immer wieder ausgesetzt waren, bis zum Jahr 62 n.Chr. in Jerusalem zu bleiben. Das ist so erstaunlich, daß es Gründe dafür geben muß. Sein Beiname "der Gerechte" und der möglicherweise ebenfalls alte Titel "Knecht Gottes" (Jak 1,1) weisen daraufhin, daß Jakobus ein strenggläubiges Leben geführt hat. Seine Abgesandten setzten sich in Antiochien für die Einhaltung der jüdischen Reinheitsvorschriften ein (Gal 2,12). Der Name Jakobus stünde dann für ein Christentum der aktiven, asketischen Frömmigkeit unter enger Beachtung sittlicher und religiöser Vorschriften und großer Nähe zum T e m p e l k u l t . 124 2. Hausversammlungen: Nach Apg 2,46 waren die Jünger "täglich einmütig beisammen im Tempel", außerdem aber "brachen sie das Brot in den Häusern und genossen die Speise mit Jubel und Einfalt des Herzens". Hier lebt also die Tradition der endzeitlichen Mahlgemeinschaft fort, die Jesus mit den Seinen bereits praktiziert hatte. Jesus wurde als Messias verkündigt: "Sie hörten nicht auf, jeden Tag im Tempel und hausweise zu lehren und das Evangelium von Jesus, dem Christus zu predigen." Solche Hausversammlungen waren in Jerusalem nichts 123 Im 2. nachchristlichen Jahrhundert wurde Petrus zum Gewährsmann judenchristlicher Sekten, die sich energisch gegen die gesetzesfreie Heidenmission und ihren Hauptrepräsentanten Paulus wandten. Damit war ein völliger Rollenwechsel eingetreten. Aus dem Kronzeugen des Stephanuskreises war ein Garant des Judenchristentums geworden. - H.Köster: Einführung, S.645-647 124 H.Köster: Einführung, S.592f; vgl. C.Dietzfelbinger: Der ungeliebte Bruder. Der Herrenbruder Jakobus im Johannesevangelium, in: ZThK 89/1992, S.390-393

4.2 Das frühe Christentum

273

Ungewöhnliches. Es war die Zeit des sprunghaften Anwachsens der Synagogengemeinden. "Nach talmudischer Überlieferung (jMeg 73b) hätte es damals in Jerusalem 480 Synagogen gegeben. Auch wenn diese Zahl übertrieben sein dürfte, wird aus ihr die Bedeutung der neuen, hauptsächlich vom Pharisäismus geförderten Bewegung zur Sammlung kleiner Gruppen ersichtlich. Die Synagogen waren z.T. landsmannschaftlich gegliedert und in Häusern von wohlhabenderen Mitgliedern u n t e r g e b r a c h t " . 125 Apg 12,12 erwähnt als einen solchen Versammlungsort das Haus der Mutter des Johannes Markus. In den Synagogengemeinden und den religiösen Genossenschaften der Pharisäer und der Essener finden sich die Organisationsvorbilder der Jerusalemer Christen. Von ihnen haben sie die Form ihrer Zusammenkünfte, ihr Gemeinschaftsethos, die Armendiakonie und ihre Leitungsstrukturen ü b e r n o m m e n . 1 2 6 ¡ j u - Christusbekenntnis und die damit verbundenen "gruppenspezifischen" Rituale aber verschafften ihnen gegenüber allen anderen Gruppen einen eigenständigen Charakter und ließen sie zu einer jüdischen Sekte werden. In Apg 2,42 ist der Ablauf einer Gemeindezusammenkunft angedeutet: "Sie verharrten aber bei der Lehre der Apostel und bei der Gemeinschaft, dem Brotbrechen und den Gebeten." Unter "Lehre der Apostel" wird man wohl die Weitergabe von Jesusüberlieferungen und deren theologische Interpretation verstehen können. Ob "Gemeinschaft" als Hinweis auf die alte Jüngergemeinschaft ("ihr alle seid Brüder") zu verstehen ist, ist ungewiß. "Brotbrechen" lautet die alte Bezeichnung des Abendmahls. Pars pro toto steht hier der Begriff "Brot" für das gesamte Mahlgeschehen. "Alt sind wohl auch die den Gemeinschaftscharakter betonenden Bezeichnungen 'Zusammenkommen' (l.Kor ll,17f.20.33f; 14,23) und 'Zusammensein' (Apg 2,44; l.Kor 11,20; 14,23). Jedenfalls zeigen diese profanen Wendungen, daß das Mahl zunächst nicht in Entsprechung oder Konkurrenz zu kultischen Akten gesehen worden ist". 127 Bei dem Stichwort "Gebete" wird man an das "Vater Unser" denken mit seiner zweiten Bitte: "Dein Reich komme". Auch der aramäische Gebetsruf "maranatha", "unser Herr komm", der den alten Titel "Herr" für Jesus verwendet, könnte in Jerusalem geprägt worden s e i n . 1 2 8 D ¡ Apostelgeschichte spricht vom täglichen Aufenthalt der Jünger im Tempel (Apg 2,46; 5,12), nennt aber nur Petrus und Johannes beim Namen. Man könnte durchaus auch an Jakobus, den Gerechten, d e n k e n . 129 Neben den Jüngern könnten auch betende e

125 126 127 128

J.Roloff: Kirche, S.72 C.Colpe: Genossenschaft, Sp.134, 141-143, 147; J.Roloff: Kirche, S.72 und 74 J.Roloff: Kirche, S.73 G.Theißen hat nachzuweisen versucht, daß die synoptische Apokalypse (Mk 13) mit ihrer dominierenden Menschensohnerwartung in Jerusalem fixiert worden ist. Auslöser sei die Caligulakrise des Jahres 40 n.Chr gewesen. Kurz nach 40 wäre unter dem Eindruck zunehmender Verfolgungen auch die Passionsgeschichte in Jerusalem aufgezeichnet worden. - Lokalkolorit, S.171f und S.210 129 "Wahrscheinlich muß man sich den Kreis des Petrus und den des Jakobus eher nebeneinander vorstellen" (K.Berger: Theologiegeschichte, S.159). Dann hätte man mit dem Stephanuskreis bereits drei frühchristliche Gruppen in Jerusalem.

274

IV. Systementwicklung

Witwen eine Rolle in mindestens einer der Jerusalemer Gruppen gespielt haben. 130 3. Die Zwölf: Die synoptischen Evangelien berichten, daß der Kreis der Zwölf bereits von Jesus gesammelt und sogar auch ausgesandt worden ist: "Und er bestimmte zwölf, damit sie um ihn wären und damit er sie aussenden könnte, zu predigen" (Mk 3,14). Die Zwölf repräsentieren die Patriarchen der zwölf Stämme Israels. Die Erneuerung Israels hätte damit symbolisch mit der Ernennung von zwölf neuen Repräsentanten begonnen. An die Zwölf wird ein Vollkommenheitsanspruch gestellt (Mt 19,21). Sie werden auf zwölf Thronen sitzen und die zwölf Stämme Israels richten (Mt 19,28). Die Hoffnung, daß das Israel der 12 Stämme wieder neu erstehen wird, gründet auf alttestamentlichen Verheißungen wie etwa Ez 37, wo der Geist Gottes in ein Feld voller Totengebeine hineinfahrt und das tote Israel wieder zu neuem Leben erweckt. Gründungsdatum des endzeitlich erneuerten Israel ist die Ausgießung des Heiligen Geistes: "Und ich werde mein Angesicht nicht mehr vor ihnen verbergen, weil ich meinen Geist über das Haus Israel ausgegossen habe" (Ez 39,29; vgl. Apg 2). Mit der Geistausgießung verbindet sich schon bei den alttestamentlichen Propheten die Vorstellung von einem neuen Bundesschluß zwischen Gott und dem auserwählten Volk: "Ich aber, ich schließe meinen Bund mit ihnen, spricht der Herr: Mein Geist, der auf dir ruht" (Jes 59,21 vgl. Ez 36,26f). Das Motiv des "neuen Bundes" ist frühchristlich vor allem in der Abendmahlstradition greifbar, wo der neue Bund durch Jesu Blut und Tod geschlossen wird. Paulus erwähnt den Zwölferkreis in Jerusalem nur in dem (vorpaulinischen) Glaubensbekenntnis l.Kor 15,5. Ansonsten spielt der Zwölferkreis bei Paulus keine Rolle. Auch in den Evangelien bleibt der Gesamtkreis merkwürdig blaß und konturlos. Er bildet eher einen grauen Hintergrund als eine feste Größe. Vor diesem Hintergrund springt um so deutlicher ins Auge, daß mehrere Vertreter dieses Zwölferkreises auch in eigenständigen Traditionskreisen verankert sind, wo sie sich als persönlich oder theologisch profiliert erweisen und keineswegs nur als "einer unter elf andern" erscheinen (Petrus, die beiden Zebedaiden, Thomas). Andererseits hat eine Gestalt wie der Herrenbruder Jakobus, der in Jerusalem über Jahrzehnte hinweg überaus profiliert und prägend wirkte, in den Zwölferkreis keine Aufnahme gefunden. Und schließlich erweckt die Apostelgeschichte (zusammen mit Gal) den Eindruck, als habe sich in Jerusalem ein rasanter Wechsel der Leitungs- und Organisationsformen vollzogen: Petrus und die Elf (2,14), die Zwölf (6,2), die Apostel (11,1), Apostel und Älteste 131 , die Säulen (Gal 2,9), Jakobus (Gal 2,12; Apg 12,17), Jakobus und die Ältesten (21,18). Das alles ergibt kein klares Bild. Es läßt sich wohl auch nicht damit erklären, daß man darin eine " Experimentierphase"132 der Gemeindeorganisation vermutet. Wenn der Zwölferkreis aber in der Entstehungsphase des Christentums keine Funktion hat, dann bleibt die Vermutung, daß Jesus selbst 130 K.Berger: Theologiegeschichte, S.133f 131 Apg 15,2.4.22; 20; Pastoralbriefe; 1.Petrus 132 J.Roloff: Kirche, S.75

4.2 Das frühe Christentum

275

den Zwölferkreis als einen symbolischen Kreis berufen hat, um den Anspruch zu dokumentieren, das endzeitliche Israel zu sein. 133 Weiter unten wird dargestellt werden, daß der Zwölferkreis gegen Ende des Jahrhunderts im Johannesevangelium noch einmal eine neue symbolische Funktion übernommen hat. Er wurde zur Leitmetapher und repräsentierte (neben der bereits dargestellten Gottesreichsymbolik und der Tempelsymbolik) als Abgrenzungs- und Kohärenzkriterium die Einheit der ecclesia visibilis in der Vielheit theologischer Ansätze, christlicher Existenzformen und heterogener Gemeindegründungen. 4. Stephanus: Ein weiterer Jerusalemer Christ ist Stephanus, der in Apostelgeschichte 6 und 7 genannt ist. Er gehört zu einer griechischsprachigen Christengemeinschaft, die ebenso wie die Synagogengemeinden von einem Siebenergremium geleitet wurde. Die Apostelgeschichte nennt Stephanus einen "Diakon", was nach 2.Kor 3,6 und 11,23 auch ein Titel für einen Missionar und Prediger sein kann. In dieser Funktion begegnet uns Stephanus jedenfalls in der Apostelgeschichte. Obwohl die Berichte lukanisch überarbeitet sind, lassen sich vermutlich doch einige authentische Informationen über Stephanus und den Kreis der Sieben gewinnen. Lukas schildert sie als "Pneumatiker", alle sieben sind "voll Heiligen Geistes und Weisheit" (Apg 6,3). Auch Stephanus ist ein "Mann voll Glaubens und Heiligen Geistes" (6,5). Nach 6,14 hat sich Stephanus auf Jesus selbst berufen. Er übernahm die Tempelkritik, die schon im Prozeß gegen Jesus Gegenstand des Verhörs vor dem Hohen Rat war (Mk 14,58) und auch den kritischen Zug gegenüber dem Gesetz ("ich aber sage e u c h " ) . 134 i n einer Vision sah er den gekreuzigten Jesus aus Nazareth als den kommenden Menschensohn zur Rechten Gottes stehen. Der ans Kreuz geschlagene Galiläer Jesus aus Nazareth war ihm zum himmlischen Menschensohn geworden. Die öffentliche Bekanntgabe dieser Vision hat nach 7,55-57 seine Steinigung ausgelöst. War der Stephanuskreis eine p n e u m a t i s c h 135 orientierte christliche Gruppe, dann gehört möglicherweise auch die Pfingsterzählung von der Ausgießung des Heiligen Geistes über die versammelten Jünger (Apg 2) in diesen Kreis. Die Angehörigen dieses Kreises stammen aus der jüdischen Diaspora (mindestens einer aus Antiochien Apg 6,5). Sie sprechen tatsächlich viele Sprachen und tragen nach ihrer gewaltsamen Vertreibung aus Jerusalem das Evangelium u.a. nach Antiochien, um von dort aus die Diasporamission zu koordinieren. Auch die Gütergemeinschaft der ersten Christen, von der die Apostelgeschichte berichtet, wird man wohl dem Stephanuskreis zuschreiben müssen. 136 Nur von Barnabas, der später in Antiochien als Missionar wiederbegegnet (13,1), wird berichtet, daß er Land verkauft hat (4,36). Theologisch aber wird die Gütergemeinschaft als ein sichtbares Werk des heiligen Geistes verstanden (5,3.9; 4,32 mit 31). "Dann aber ist der Kreis der Hellenisten der 133 Für die Berufung und Einsetzung des Kreises durch Jesus selbst etwa J.Gnilka: Jesus, S.188; J.Roloff: Kirche, S.36f, dagegen: H.Conzelmann: Geschichte, S.129 134 M.Hengel: Sohn, S.107 Anm.123; ähnlich W.Schrage: Ethik, S.130 135 Neben der Vision des Stephanus vgl. auch die Entrückung des Philippus 8,39 136 W.Schrage: Ethik, S. 131-133

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IV. Systementwicklung

Ort, wo nicht nur in der Freiheit des Geistes die Freiheit vom Gesetz, sondern auch die Freiheit vom Besitz praktiziert worden ist". 137 Der Stephanuskreis hat sich aber nicht nur für den Irdischen interessiert, er hat sich auch um das Verständnis von Kreuz und Auferstehung bemüht. Dafür sprechen die vorpaulinischen antiochenischen Glaubensformeln (IKor 15,3ff; Rom 3,25; 4,25; Gal 1,4), aber auch, daß Stephanus Jesus als erhöhten Menschensohn ansieht. Diese Vision deutet auf eine frühe Übernahme der apokalyptischen Messianologie hin. Wenn schon die Hellenisten des Stephanuskreises Jesus als den endzeitlichen Messias und Menschensohn angesehen haben, dann zeichnet sich bereits in Jerusalem, wenige Jahre nach dem Tod Jesu ab, daß der Glaube an den Auferstandenen die soteriologisch orientierten Gläubigen in eine Fundamentalopposition zur Tempelfrömmigkeit hineinführen mußte. Für den, der Jesus in der Rolle des Menschensohnes sah, mußte die sühnende Funktion des Tempelkultes obsolet werdende Und damit der kultisch-rituelle Heilsweg der Gesetzes- und Tempeltreue. Die antiochenischen Glaubensformeln sehen Jesus selbst in der Rolle des Sühnopfers (Rom 3,25). Er ist "für unsere Sünden gestorben" (l.Kor 15,3), er ist "dahingegeben um unserer Übertretungen willen und auferweckt worden um unserer Gerechtsprechung willen" (Rom 4,25). Hier konkurrierten zwei unterschiedliche jüdische Vorstellungswelten miteinander. Auf der einen Seite eine apokalyptisch-pneumatische, für die die Stephanuschristen eintraten, auf der anderen Seite eine kultisch-religiöse, die in der urchristlichen Tempelfrömmigkeit ihren Ausdruck fand. In unmittelbarer Nähe zum Tempel wäre dann von Stephanuschristen eine Christologie entwikkelt worden, die die jüdische Tempelfrömmigkeit überholt erscheinen ließ. Die empörten und in ihren religiösen Gefühlen tief verletzten Juden, die in Apg 7,57 beschrieben sind, scheinen das eher und auch deutlicher begriffen zu haben als die Stephanuschristen selbst. Noch der späte Paulus des Römerbriefs war seiner religiösen Herkunft in tiefer Verbundenheit zugetan (9-11). Mit der Stephanuschristologie war aber ein absoluter Wahrheitsanspruch geltend gemacht, der die Grenzen des Judentums überschritt. Der Messias (und dies hieß in christlicher Interpretation: Jesus Christus) war schließlich der, dem die Völkerwelt unterstehen würde. g) Philippus Die Christusorientierung des Stephanuskreises (bzw. der antiochenischen Gemeinde) zeigt sich auch im Taufverständnis. Über Philippus 139 , der dem 137 W.Schräge: Ethik, S.133 138 Es gab im Judentum unterschiedlich strenge Einstellungen gegenüber Tempel und Opferkult. "Selbst die Mißachtung des gegenwärtigen Opferkultes, ja ausdrückliche Tempelpolemik sind im Judentum nicht unerhört und jedenfalls kein An]aß zu Pogromen." G.Klein: Gesetz III, S.52 139 Neuere Ergebnisse der Philippusforschung bei M.Frenschkowski: Philippus, in: Biblischbibliographisches Kirchenlexikon Bd.VII, Sp.507-510

4.2 Das frühe Christentum

277

Stephanuskreis entstammt, berichtet die Apostelgeschichte, daß er in Samarien "auf den Namen des Herrn Jesus" (8,16 mit 8,5) getauft h a t . 1 4 0 In Apg 10,48 lautet die Taufformel: "Im Namen Jesu Christi". Beide Taufformeln enthalten frühchristliche Titel, die erste verwendet den Titel "Herr", der auch in dem aramäischen Gebetsruf "maranatha" ("Unser Herr komm" - l.Kor 16,22) überliefert ist, die zweite verwendet den Messiastitel. Gerade die komplizierte lukanische Konstruktion in Apg 8,14-17, wo die Gabe des Heiligen Geistes erst von autorisierten Vertretern der Jerusalemer Apostelgemeinde nachgeliefert wird, macht deutlich, daß Philippus (und mit ihm die Hellenisten) die Taufe als Geisttaufe verstanden. Paulus setzt später selbstverständlich voraus, daß jeder getaufte Christ den Geist Gottes besitzt (l.Kor 12-14; Gal 3,2-5) und jeder Christ aufgrund des Geistbesitzes ein Kind Gottes ist. 141 Wenn die Vermutung zutrifft, daß Überlieferungen über die Abwesenheit eines Jüngers bei der Geistverleihung (Thomas der Zwilling) oder die Notwendigkeit, den Heiligen Geist durch besonders autorisierte Vertreter der Christenheit nachzuliefern (Apollos), Indizien für Spannungen zwischen frühen christlichen Gruppierungen sind, dann wird mit Philippus in Apg 8,14-17 noch ein dritter Repräsentant der frühen Christenheit diskret zurückgestuft. Über Philippus sind in der Apostelgeschichte einige Informationen erhalten, die dafür sprechen, daß Philippus eine erfolgreiche geistorientierte Verkündigung betrieben hat. Nach Apostelgeschichte 8,5-7 ist seine Christuspredigt von Exorzismen und Heilungen begleitet, was grundsätzlich als Hinweis auf den Glauben an die Kraft des Heiligen Geistes verstanden werden kann. Er ist Evangelist (Apg 21,8f) und hat möglicherweise die Gemeinde in Cäsarea gegründet (Apg 8,40). Dort war er von vier Prophetinnen umgeben, "die aus Eingebung redeten", die "Töchter" genannt wurden und jungfräulich lebten (Apg 21,8f). Auch das spricht für die Geistorientierung der Philippusgemeinde. Ein solcher Täufer, dessen Prophetinnen "aus Eingebung redeten", sollte bei der Taufe den Heiligen Geist nicht gespendet haben? h) Antiochien 1. Die Abendmahlsdeutung: Die Gemeinde in Antiochien wurde bereits in den 30er Jahren gegründet. 142 Hier spätestens ist die Christus-zentrierte Interpretation des Abendmahls entstanden, die Paulus in l.Kor 11,23-26 überliefert hat. Das Mahl wird nicht mehr allein als irdische Vorwegnahme des himmlisches Mahles verstanden, es wird dezidiert auf den Tod Jesu Christi bezogen (V.26). Jesu Tod wird theologisch als stellvertretende Sühne für die C h r i s t e n 143 (V. 24b) verstanden. Dahinter steht das Bild vom sühnenden Sterben des leidenden Gerechten aus Jesaja 53. Das Kelchwort interpretiert Jesu Sterben als Bundes140 141 142 143

1. Kor 1,13.15 bezieht sich auf diese Taufformel Röm 8,14-16; Gal 4,5; vgl. Eph 1,5 H.Köster: Einleitung, S.525 vermutet das Jahr 35 n.Chr. "Für euch"; so auch Lk 22,20; Mk 14,24 hat "für die vielen" aus Jes 53,11

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IV. Systementwicklung

schluß. Das alte Bundesopfer auf dem Sinai (Ex 24,8) wird überholt durch ein neues Bundesopfer. Der neue Bund Gottes mit seinem Heiligen Volk, der in Jer 31,31f versprochen worden ist, ist nun durch das vergossene Blut des sterbenden Christus definitiv geschlossen worden. 2. "Schriftgelehrte": Das vorpaulinische Glaubensbekenntnis l.Kor 15,3ff belegt eine weitere Eigenart der Diasporajudenchristen in Antiochien. Zweimal erscheint hier unmittelbar hintereinander (Vers 3 und 4) der Zusatz "nach den Schriften". Die Antiochener waren, wie auch Apollos, "Schriftgelehrte". Sie haben sich intensiv darum bemüht, theologisch nachzuweisen, daß das Schicksal Jesu in Übereinstimmung mit der alttestamentlichen Prophetie steht, ja daß die alten Weissagungen in Jesus Christus in Erfüllung gegangen sind. 144 s j e haben das (aus Sicht vieler damaliger Juden) völlig Unmögliche möglich gemacht und "aus den Schriften" belegt, daß das Fluchholz (Dtn 21,23), an dem Jesus gestorben war, in Wirklichkeit gar kein Fluchholz war, sondern das Siegeszeichen eines von Gott Erwählten (l.Kor 1,18-31; 15,55-57). Wie schwer das war und auf wieviel Widerstand dieser Versuch gestoßen ist, hat Paulus unzweideutig mitgeteilt: "... predigen wir Christus, den Gekreuzigten, für Juden ein Ärgernis, für Heiden aber eine Torheit" (1,23). 3. Ethik: Der Stephanuskreis und die Gemeinde in Antiochien stehen nicht für ein völlig "gesetzesfreies", oft als "pneumatisch" bezeichnetes Christentum. Sie fühlten sich zwar entlastet von Kult- und Reinheitsvorschriften (Apg 10,15) und folgten darin Jesus selbst (Mk 7,15). Aber sie waren davon überzeugt, daß sich der Geistbesitz darin zeigt, daß er "Früchte des Geistes" (Gal 5,22) hervorbringt. "Wenn wir im Geist leben, lasset uns auch im Geist wandeln" (Gal 5,25). Wie auch umgekehrt die Abwesenheit des Geistes (Apg 7,51) und die Mißachtung Gottes (Rom l,29f) Mord und Boshaftigkeiten aller Art nach sich ziehen. Die antiochenischen Christen haben sich bereits an Tugend- und Lasterkatalogen orientiert. Dualistisches Denken und das jüdische Zwei-WegeSchema sind erkennbar. 145 4. Selbstbezeichnung: Die antiochenischen Selbstbezeichnungen lauteten: "ekklesia tou theou" oder "die Heiligen". "Ekklesia" ist in der hellenistischen Welt ein politischer Begriff und bezeichnet die Vollversammlung der stimmberechtigten Männer. Möglicherweise liegt hier eine Übersetzung des hebräischen "qehal 'el" vor. Im apokalyptischen Judentum war dies die Bezeichnung für "das endzeitliche Aufgebot Gottes, die Schar der Menschen, die Gott im Zusammenhang der eschatologischen Ereignisse in seinen Dienst beruft". 146 Der 144 Wichtige Texte für den christologischen Schriftbeweis waren: 2.Sam 7,12-14; Psalm 2, 89, 110, Deutero-Jesaja u.a. - M.Hengel: Sohn, bes. S.98-101; Hengel zeigt eindrucksvoll, wie die Zuweisung einzelner christologischer Titel eine Eigendynamik freisetzt, die das Bild von dem auferstandenden Christus immer weiter ausgreifen läßt, so daß dieser sehr schnell auch zum Präexistenten wird und alle Repräsentanten Gottes (Gesetz, Tempel, Weisheit, Propheten, den Namen Gottes) verdrängt oder ihre Funktionen übernimmt. 145 W.Schrage: Ethik, S. 143 146 J.Roloff: Kirche, S.83

4.2 Das frühe Christentum

279

Begriff bringt das Selbstverständnis der Gemeinde als nucleus des endzeitlichen Israel zum Ausdruck. Das Wort "heilig" bezeichnet in Zusammenstellungen wie "heilige Stadt", "heiliges Volk", "Heiliger Geist" oder eben auch als Name ("die Heiligen") stets Gottes persönliches Eigentum. 147 Auch hier liegt vorchristlicher Sprachgebrauch zugrunde. 1^8 Mit dieser Selbstbezeichnung brachten die Christen zum Ausdruck, daß sie sich als Bestandteil der heiligen Sphäre Gottes, als sein Eigentum wußten. Untereinander scheinen die Christen sich schon in der Jesusgemeinschaft als "Bruder" [und Schwester?] angesprochen zu haben. 149 5. Gemeindeorganisation und "Dienst": Auch erste Bausteine einer Gemeindeorganisation mit Funktionsdifferenzierung begegnen uns in Antiochien. Die antiochenische Gemeinde kannte die religiösen Funktionen der "Apostel", "Propheten" und "Lehrer". 150 Die Apostelgeschichte nennt mehrere Angehörige der antiochenischen Gemeinde, die auf Missionsreisen gehen. Auch Paulus hat zunächst (mit Barnabas) von Antiochien als Missionsbasis aus gearbeitet. Auch er ist im Sinne der ausdifferenzierten religiösen Funktionen als ein "wandernder Apostel" zu bezeichnen. Man wird also bei den Begriffen "Apostel, Prophet und Lehrer" mehr an besondere Funktionen zu denken haben, weniger an ein starres ortsfestes Leitungsgremium der antiochenischen Gemeinde. Eine hierarchische Ordnung ist nicht erkennbar. Interessant ist in diesem Zusammenhang vielleicht auch das Selbstverständnis des Paulus. Er hat sein Apostolat in enger Anlehnung an das Dienstgebot Jesu (Mk 10,44) definiert. Vor allem in den Auseinandersetzungen des 2. Korintherbriefs bezeichnet er es m e h r f a c h ^ l als einen "Dienst" ("diakonia"): "Aber auch andere gemeindliche Funktionen kennzeichnet er mit diesem Begriff (l.Kor 12,5; 16,15; Rom 12,7). Dahinter steht, wie 2.Kor 4,5 angedeutet, christologische Reflexion: 'Nicht uns selbst verkündigen wir, sondern Jesus Christus als den Herrn, uns aber als eure Knechte um Jesu willen'. Der irdische Jesus in seiner Knechtsgestalt prägt das Leben des Apostels und derer, die mit ihm in der Gemeinde tätig sind ... (Paulus) stellt sich der Gemeinde vor als der, in dem sie das Grundverhalten Jesu Christi erkennen und als ihre innere Struktur normierend ablesen kann. Dies nämlich ist gemeint, wenn er sie zur 'Nachahmung' aufruft: 'Werdet meine Nachahmer, wie ich Christi' 147 Rom 1,7; l.Kor 1,2; 2.Kor 1,1; u.ö., aber auch Apg 9, 13.32.41; 26,10. Der l.Petr verwendet dagegen die alttestamentliche Bezeichnung "Heiliges Volk" (2,9). Dort auch die Bezeichnungen "königliches Priestertum" und "Volk des Eigentums [Gottes]". 148 Menschen, die zu Gott gehören, werden auch Dan 7,21; Tob 8,15; 12,15; 1 Makk 1,46 "heilig" genannt. 149 Apg 10,23; 11,1.12.29 u.ö.; Röm 1,13; 7,1; l.Kor 1,1. Die Anrede findet sich auch in Qumran (1QS 6,22; lQSa 1,18) und in anderen christlichen Traditionskreisen (l.Petr 2,11; Hebr 3,1 "heilige Brüder"). 150 Apg 13,1; 14,14; l.Kor 15,8. Diese Bezeichnungen begegnen auch in der Didache 11-13. 151 2.Kor 3,7-9; 4,1; 5,18; 6,3; vgl. Röm 11,13

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IV. Systementwicklung

(l.Kor 11,1; vgl. 4,16) ... Es ist das Grundbild des dienenden Jesus, das der Apostel vertritt, um es einem Prägestempel (typos) gleich, der Gemeinde aufzuprägen (Phil 3,17)".152 6. Mission: Mit der antiochenischen Christengemeinde wird in der Regel das Stichwort "gesetzesfreie Heidenmission" verbunden. Nach allem, was dargestellt worden ist, ist bei der Verwendung dieses Etiketts Zurückhaltung angebracht. Die Antiochener waren zunächst einmal Diasporajudenchristen, wenn auch mit einer pneumatisch eschatologischen Orientierung. Das zeigt sich nicht nur in ihrem Selbstverständnis, das heilige Volk Gottes zu sein, es zeigt sich auch in ihrer allegorischen Schriftauslegung und ihrer jüdischen Ethik. Der grenzenlose und universale Geltungsanspruch des Evangeliums, den sie aufgrund ihrer Pneumatologie und ihrer Christologie (Phil 2,10 "jedes Knie soll sich beugen") vertraten, war und blieb Ausdruck ihrer jüdisch-ethnozentrischen Weltsicht. Die Mission in der Diaspora begann wohl auch aus diesem Grunde in den Synagogen. Die ersten (missionierenden) Christen waren durchweg Juden. Wo sie bei "Heiden" Erfolg hatten, waren dies zumeist Gottesfürchtige, also Menschen, bei denen bereits ein jüdischer "Hintergrund" vorhanden war. Ihnen boten sie ein Judentum mit einem anderen religiösen Profil an. Reine Heidenbekehrungen wie die des Titus (Gal 2,3) scheinen anfangs eher selten gewesen zu sein. Für hellenistisch gebildete Heiden mußte gerade die Christologie unverständlich sein. Die Vorstellung von einem auf die Erde herabgestiegenen Gott, der "wahrhaftiger" Mensch wurde und nicht nur als "Scheinleib" präsent war, war für griechisches Denken nicht nachvollziehbar. Von daher spricht einiges für die These von Günter Koch, daß die gesetzesfreie Heidenmission nicht programmatisch entworfen und anschließend konsequent realisiert worden i s t « sondern daß sie als "Ergebnis eines von der Dynamik des Evangeliums angetriebenen Lernprozesses" 154 anzusehen ist. Sie entwickelte sich erst nach und nach im Prozeß der Missionsgeschichte, und dieser Prozeß war auch am Ende des ersten Jahrhunderts nach Christus noch nicht abgeschlossen.

4.3 Ergebnis "Ein Herz und eine Seele" (Apg 4,32) waren die ersten Christen sicherlich nicht. Dafür sind die Differenzen in den einzelnen Positionen doch zu groß. Übereinstimmung herrscht in der Tatsache, daß alle Christen sich als gute oder 152 J.Roloff: Kirche, S. 133 153 Daß sie im Keim bereits angelegt war, durch die pneumatisch begründete Freiheit vom Kult- und Ritualgesetz (insbes. rein-unrein), den Verweis auf Jes 61,1 ("Licht für die Heiden"), die antiochenische Abendmahlsdeutung und die christologischen Hoheitstitel wird damit nicht bestritten. 154 G.Klein: Gesetz III, S.62

4.3 Ergebnis

281

sogar "bessere" Juden verstanden. Das auserwählte Volk war für sie Gottes heiliges, endzeitliches Israel. Folglich ist auch das Alte Testament ihr heiliges Buch geblieben. Alle Gruppen waren auch davon überzeugt, daß der Heilige Geist in ihrer Mitte war. Gerade im Verständnis von Person und Schicksal Jesu aber zeigten sie erhebliche Differenzen. Schließlich lassen sich mindestens vier verschiedene Formen christlichen Lebens unterscheiden. Christsein konnte gelebt werden als Nachfolge in der Heimat- und Besitzlosigkeit, als asketische Gebets-, Gesetzes- und Tempelfrömmigkeit (Jakobus; Q:"kein Jota"), als liberales Judenchristentum (Petrus) mit Orientierung an der jüdischen Zwei-WegeEthik (Antiochien) und schließlich als individuelles Weisheits- und Vollkommenheitscurriculum (Thomasevangelium). Bei schärferer Bewertung der Differenzen kommen noch weitere Formen hinzu. Man wird also den Anfängen weitaus mehr gerecht, wenn man, um die lukanische Formulierung zu verwenden, davon ausgeht, daß viele auf unterschiedliche Art und Weise ihr Herz und ihre Seele für Jesus gegeben haben. Alles, was geschah, hatte erkennbare Anknüpfungspunkte in der Jesusbiographie und in der religiösen Kultur des zeitgenössischen Judentums. Wohl aber konnte man unterschiedliche Aspekte dieses komplexen Schicksals in den Mittelpunkt des eigenen religiösen Interesses stellen, und von da aus ergaben sich dann auch unterschiedliche Glaubensinhalte und Glaubensschwerpunkte. So ist zu erklären, daß es Christen gab, die in Jerusalem am Tempelkult teilnahmen (dem Ort des endzeitlichen Mahles beim Thron des kommenden Messias), während der Stephanuskreis andererseits im Glauben an die sühnende Wirkung des Kreuzestodes Jesu eben diesen Tempelkult für überboten und damit auch für obsolet erachtete. Philippus hatte Frauen in den Führungskreis seiner Gemeinde aufgenommen und konnte sich durchaus auf Jesus selbst berufen (ob er es auch getan hat, ist freilich unbekannt). Im Zwölferkreis und im Siebenerkreis herrschte dagegen nach jüdischer Sitte das Patriarchat. Die faktische Polysemie der Ereignisse um Jesus erlaubte es, sehr unterschiedliche, ja bisweilen auch gegensätzliche Aspekte seines Wirkens und seiner Bedeutung ins Zentrum der Theologie oder des Gemeindelebens zu stellen, ohne damit Gefahr zu laufen, sich unberechtigterweise auf Jesus zu berufen. Dies gilt um so mehr, als die vita Jesu zunächst wohl noch gar keine maßgebliche Autorität gewesen ist. Vielmehr war man am "Geist Jesu" interessiert. "Glauben" war kein subjektiv psychologisches Ereignis, sondern das Wirksamwerden einer selbstständig wirkenden, göttlichen Kraft im Menschen. Dieser göttliche Geist, der von einem Menschen Besitz ergriffen hatte und in ihm bzw. durch ihn wirkte, war der Geist Jesu Christi. Insofern galt zunächst auch jeder Christ als Träger des Heiligen Geistes, er war Kind Gottes und konnte in der Freiheit, aber eben auch in der Kraft des Heiligen Geistes eigene theologische Wege gehen. Das brachte ein "für uns heute unvorstellbares Maß an Freiheit in der situationsbezogenen Neuformulierung dessen, was Christentum ausmacht"!^ mit sich. Bei Paulus ist das zu beobachten.

155 K.Berger: Theologiegeschichte, S.95

282

IV. Systementwicklung

5. Unterwegs zur Einheit der ecclesia visibilis - Theologische Kriterienbildung unter der Voraussetzung der urchristlichen Vielfalt Das früheste Christentum war bei aller inneren Differenziertheit kein atomisiertes Feld, in dem sich jeder nur um sich selbst gekümmert und streng vom Andersglaubenden abgegrenzt hätte. Zwar lassen die neutestamentlichen Schriften keinen Zweifel daran, daß es zwischen den Christen der Gründergeneration Auseinandersetzungen gab. Sie dokumentieren Machtstreben und Konfrontation zwischen einzelnen Aposteln und ganzen Gruppen der frühen Christenheit. 156 Aber neben Streitereien und unüberbrückbaren Gegensätzen gab es auch gruppenübergreifende Gemeinsamkeiten und Sympathiebereiche. Es gab wechselseitige Anregungen, intensive Kommunikations- und Austauschbeziehungen, vor allem aber gab es, das zeigt etwa der 1 .Korintherbrief, räumliche Nähe und räumliches Miteinander. In Korinth hatte nicht nur Paulus missioniert. Nach ihm waren Petrus und Apollos gekommen (l.Kor 3,5f)· Daraus war ein unmittelbares Neben-, Mitund Gegeneinander von mindestens drei Theologien und folglich auch mindestens drei "Spielarten" des Christentums entstanden. Die Gemeinschaft der Christen in solchen "durchmischten" Gemeinden war spannungsvoll. Nicht nur das theologische Gegeneinander der Missionare mit ihren divergierenden Vorstellungen war problematisch. Strukturell verankerte Konflikte kamen hinzu. Etwa das Problem des Zusammenlebens von ehemaligen Heiden mit ehemaligen Juden. Beide brachten ihren jeweiligen kulturellen Hintergrund ein. Inkompatible Sitten, Gewohnheiten oder Bräuche prallten nun innerhalb der Stadtchristenheit aufeinander (z.B. l.Kor 8,1-13) und sorgten für Unruhe und Unsicherheit. Ein weiteres Strukturproblem brachte die Missionsmethode mit sich. Die wandernden Apostel konnten immer nur "Ziehväter" auf Zeit sein. Sie blieben eine Weile, dann gingen sie fort. Zurück blieben dann die seßhafte Christen. Für sie ging es in einem ganz anderen Ausmaß als für die reisenden Apostel darum, ihren neugewonnenen Glauben im "grauen" Alltag zu bewähren. Ihr Christentum entfaltete sich unter den Bedingungen der Alltäglichkeit und bekam von daher zwangsläufig ein eigenes Profil. All dies ist zu bedenken, um zu verstehen, warum die ecclesia visibilis der zweiten Christengeneration weder religiös noch organisatorisch oder kulturell eine Einheit sein konnte. Von diesem spannungsvollen Miteinander der Andersglaubenden und der Verschiedenen her schärft sich der Blick für die vordringliche, weil existenzsichernde Aufgabe des jungen Christentums. Wie geht man miteinander um? Wie geht man mit der religiösen Vielfalt um? In der zweiten und dritten Generation der Christenheit ging es darum, die sichtbare Einheit der ecclesia visibilis zu fördern. Das ist der jungen Christenheit tatsächlich partiell und schrittweise gelungen. Vor allem ist es so gelungen, daß dabei maßgebliche Inhalte 156 Etwa Gal 2,11-17; A p g 8 , l ; 15,2

5. Unterwegs zur Einheit der ecclesia visibilis

283

der Christusbotschaft gewahrt blieben. Statt in einer völligen Zersplitterung zu enden, sind theologische Weichenstellungen vorgenommen worden, die dann in sehr viel späterer Zeit (um die Jahrhundertwende zum 3. Jahrhundert) tatsächlich auch zur organisatorischen Verfestigung einer "heiligen, umfassenden, apostolischen Kirche" geführt haben. Im Rahmen der vorliegenden Arbeit ist es nicht möglich, den Entwicklungsprozeß auch nur annähernd vollständig darzustellen. Exemplarisch sollen drei Etappen dieses Weges dargestellt werden, die alle in die neutestamentliche Zeit fallen, die Einheitskonzeptionen des 1. Korintherbriefs (5.1), des Markusevangeliums (5.2) und des Johannesevangeliums (5.3). Ergänzend wird ein kurzer Blick auf die Situation der Christengemeinde in Rom in der ersten Hälfte des 2.Jahrhunderts geworfen (5.4).

5.1 Paulus: Der "Leib Christi" und die Dienstgemeinschaft in der Liebe Paulus hat den ersten Korintherbrief vermutlich im Frühjahr 5 5 ^ 7 aus Ephesus geschrieben. Er reagiert mit diesem Brief auf Nachrichten aus der Gemeinde, die ihm wohl kurz vorher überbracht worden sind. Der Brief zeichnet, obwohl vieles nur angedeutet ist, ein überaus buntes Bild vom "Gemeindeleben" in Korinth. Im Bereich der Glaubensvorstellungen gab es unterschiedliche Ansichten. Man stritt sich über die Qualität und die Autorität der verschiedenen Apostel, die in Korinth gewirkt hatten (2,4; 3,5-9), über den Stellenwert von Weisheit und christlicher Beredsamkeit (2,6-16), über die Bedeutung von Demonstrationen unmittelbarer Geistpräsenz im Gottesdienst (14) und über die Auferstehung der Toten (15). Aber nicht nur im Bereich der unmittelbaren Glaubensüberzeugungen herrschte Uneinigkeit, auch das Glaubensleben und das Gemeindeleben ließen arg zu wünschen übrig. Beim Abendmahl zeigte sich weniger die Gemeinschaft der Christen als vielmehr das Desinteresse und die Ignoranz, die einzelne Christen gegenüber anderen an den Tag legten (11,17-21). Alte heidnische Gewohnheiten wurden weiter gepflegt (8,7; 10,20-21; 11,5; 11,21), wobei man wenig Rücksichten auf Gemeindemitglieder mit einer anderen religiösen und kulturellen Herkunft nahm (8,9-13). Christen übervorteilten einander (6,7). Sittliche Verwilderung und sexuelle Verfehlungen waren innerhalb der Gemeinde mitnichten beseitigt (5; 6,9-20; 7,1-16; 10,6-10). Kurz, Paulus zeichnet das Bild einer in sich zerstrittenen, vielfaches gespaltenen und über den Sachzwängen und Erfordernissen des Alltags religiös erkalteten Gemeinde. Schon in biblischer Zeit gab es partielle "Entkirchlichung", persönliche 157 evtl. auch Frühjahr 54; Zum Problem der absoluten Chronologie vgl. U.Schnelle: Einleitung, S. 32-34 158 Die Schnittlinien sind im 1. Korintherbrief keineswegs nur religiöser Art und machen sich nicht nur an der Zugehörigkeit zu den jeweiligen Leitaposteln fest. Auch das Zusammenleben von ehemaligen Heiden mit ehemaligen Juden bereitete Schwierigkeiten.

284

IV. Systementstehung

Vorteilssuche und das Streben nach den kleinen oder großen Freiheiten im Umgang mit systemspezifischen Normvorgaben. Derartige Begleiterscheinungen des Systemwandels sind also keineswegs so neu, wie es heute bisweilen zu hören ist. a) Der "Leib Christi" und die Christen Wie ging Paulus mit dieser Situation um? Wie rief er die Christen von Korinth zur Einheit? Zunächst fallt auf, daß der zentrale Begriff der Verkündigung Jesu, das "Reich Gottes", bei Paulus eher selten v o r k o m m t . 159 Paulus spricht von Jesus Christus, genauer, er spricht vom "Leib Christi". Beide Begriffe haben inhaltlich deutliche Gemeinsamkeiten. Es wird sich zeigen, daß der Begriff "Leib Christi" bei Paulus an die Stelle getreten ist, die in der Verkündigung Jesu der Begriff "Reich Gottes" innehatte. Paulus geht von einer sakramentalen Feststellung aus. 160 Durch die Taufe ist jeder einzelne Christ "abgewaschen" und "geheiligt" (6,11) worden, er ist zum Eigentum Jesu Christi geworden, er ist ein Teil des einen "Leibes Christi" geworden. "Denn wir sind durch einen Geist alle zu einem Leib getauft worden, ob Juden, ob Griechen, ob Sklaven, ob Freie" (12,13). Im Galaterbrief konnte Paulus die Metapher später variieren: "Ihr alle, die ihr auf [den Namen] Christus getauft worden seid, habt Christus angezogen. Hier ist nicht Jude noch Grieche, hier ist nicht Sklave noch Freier ... ihr alle seid einer in Christus Jesus" (3,27). Diese sakramental in der Taufe begründete Einheit jedes einzelnen mit Christus wird im Abendmahl fortwährend aktualisiert. Jeder, der ein Stück des Brotes ißt, das ja den Leib Christi symbolisiert ("das ist mein Leib"), gewinnt damit erneut Anteil an Jesus Christus. "Das Brot, das wir brechen, ist es nicht die T e i l h a b e ^ am Leib Christi" (10,16). Nur geht Paulus noch einen Schritt weiter. Die sakramentale Einheit jedes Christen mit Jesus Christus hat eine ekklesiologische Konsequenz. Paulus sagt: Wenn jeder einzelne von uns mit Christus verbunden ist, dann sind wir auch untereinander alle miteinander verbunden. "Wir, die Vielen, sind ein Leib, denn wir sind alle des einen Brotes [ = des einen Leibes Christi] teilhaftig" (10,17). Dieser Argumentationsgang ist nur dann verständlich, wenn Christus hier nicht als individuelle Bezugsgröße für die religiöse Bindung des einzelnen gedacht ist, sondern als "mythischer Raum" im Sinne der Begriffsverwendung Cassirers. Anderenfalls wäre die Argumentation nicht stimmig, und man müßte sich fragen, weshalb denn überhaupt aus dem individuellen Glauben an Christus irgendwelche sozialen Gemeinschaftsverpflichtungen abzuleiten sind. Persönliche Glaubensbindung an Christus und soziale Gemeinschaftsverpflichtung wären keineswegs zwingend 159 Rom 14,17; l . K o r 4 , 2 0 ; 6 , 9 ; 15,50; Gal 5,21 160 Vgl. zum folgenden J . R o l o f f : Kirche, S. 100-139; W.Rebell: Zum neuen Leben berufen. Kommunikative Gemeindepraxis im frühen Christentum, München 1990, S. 111-134; C.Link u . a . : Sie aber hielten fest an der Gemeinschaft, Zürich 1988, S.98-116 161 zur Übersetzung von koinonia mit "Teilhabe" (mit J.Hainz) vgl. J.Roloff: Kirche, S.103

5.1 Paulus

285

miteinander zu verbinden. Da sich Paulus aber die Taufe als Inkorporation in einen "mythischen Raum" vorstellt, eben in den "Leib Christi", ist jeder, der glaubt, getauft und geheiligt ist, Teil dieses (heiligen und reinen) mythischen Raumes geworden. Das erst hat die ekklesiologische Konsequenz, daß alle Christen miteinander aufgrund ihrer identischen Merkmale (sie sind rein und sie sind heilig) verbunden sind. Von daher ist es keineswegs Übertreibung oder bloße Höflichkeitsfloskel, wenn Paulus die Christen gleich zu Beginn seines Briefes als "Geheiligte" und als "Heilige" anspricht: "An die Gemeinde Gottes, die in Korinth ist, an die in Jesus Christus Geheiligten, die berufenen Heiligen" (1,2). Paulus spricht hier seine religiöse Grundüberzeugung aus und legt damit das Fundament für seine nachfolgende Argumentation. Mit einem dritten logischen Schritt stößt Paulus zu den Konfliktzonen der Gemeinde vor. Paulus projiziert die Zustände in der ecclesia visibilis zu Korinth auf die geglaubte Wirklichkeit aller Christen in der ecclesia invisibilis. Er fordert, auch die Gemeindewirklichkeit - das individuelle Verhalten, die persönlichen Umgangsformen, die religiöse Ordnung - in der ecclesia visibilis nach den Regeln zu gestalten, die in der ecclesia invisibilis immer schon gelten. Der unsichtbare Christusleib ist "unbefleckt und rein". Auch der irdische Raum der Ortschristenheit soll "unbefleckt und rein" sein. Eine möglichst homologe Abbildung der himmlischen Verhältnisse in den irdischen Verhältnissen ist angestrebt, die Isomorphie der Beziehungen zwischen den Elementen des mythischen Raumes und den Elementen des sozialen Raumes der ecclesia visibilis. Jede Form von gemeinschaftsschädigendem Verhalten innerhalb der Gemeinde schädigt nicht nur den individuell Betroffenen, sondern den gesamten "Raum des Heiligen", den ganzen "Leib Christi". Die sexuelle Verfehlung eines einzelnen (5,1) ist nicht dessen Privatsache, sie geht alle an, die Teilhaber im Leib Christi sind. "Wißt ihr nicht, daß ein wenig Sauerteig [hier ein negatives Bild] den ganzen Teig durchsäuert? Schaffet den alten Sauerteig hinweg, damit ihr ein neuer Teig seid" (5,6f)· Wie stark Paulus in Raumkategorien denkt, wenn er die Gemeinde beschreibt, bestätigen auch die Raummetaphern "drinnen" und "draußen" in diesem Zusammenhang: "Was soll ich die, welche draußen sind, richten? Habt ihr nicht die zu richten, die drinnen sind? Die, welche draußen sind, wird Gott richten. Schafft [ihr] den Bösen aus eurer Mitte weg!" (5,12f; vgl. l.Thess 4,12). Ebenso wie für die "Reich-Gottes" Vorstellung Jesu gilt für die "Leib-Christi" Vorstellung des Paulus, daß der mythische Raum gleichzeitig universal, lokal und situativ uneingeschränkt präsent ist. Aus diesem Grund kann Paulus die Gesamtheit aller Christen als einen Leib ansehen, aber gleichzeitig auch die "Ortskirchengemeinde" in Korinth als den einen, ungeteilten Leib Christi ansprechen, der bereits von einer einzelnen Verfehlung bedroht ist. b) Die Einheit der ecclesia visibilis im Referenzbezug auf die ecclesia invisibilis Die Einheit der Kirche ist "in Christus" immer schon gegeben, weil jeder einzelne Christ seit seiner Taufe immer schon "in Christus" ist und seine Partizi-

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IV. Systementstehung

pation durch die Teilnahme am Abendmahl ständig bekräftigt und erneuert. Die als "Leib Christi" bezeichnete ecclesia invisibilis ist eine prinzipiell unteilbare Einheit. Dieser vorgegebenen Einheit gilt es nun zu e n t s p r e c h e n . 162 p a u i u s fordert die Einheit der ecclesia visibilis im Referenzbezug auf die Einheit der ecclesia invisibilis. Die Christen vor Ort werden von Paulus dazu aufgerufen, ihrerseits im sozialen Rahmen die Einheit zu suchen, zu fordern, zu verstärken bzw. alles zu unterlassen, was dieser Einheit, der sichtbaren Gemeinschaft, abträglich sein könnte. Vier Aspekte dieser Forderung lassen sich unterscheiden: 1. Die Einheit der Gemeinde wird auch dadurch gesichert, daß "die Heiligen" sich von "den Ungerechten" (6,2) absondern. Eine unsichtbare Grenze soll auch die irdische Gemeinschaft umgeben und sie von der römischen Welt mit ihrer heidnischen Gerichtsbarkeit trennen. Hier wird die Idee von der Gemeinde als einer autonomen "Gegenwelt" erkennbar (5,12). 2. Die Einheit der Gemeinde erwächst aus der einheitlichen Orientierung an ausgewählten Grundnormen der jüdischen Ethik (5,10-11; 6,9-10; 10,6-10 u.a.), wie sie wohl schon in der antiochenischen Gemeinde gültig waren. Moralische Integrität ist ein Band der Einheit. 3. Auch im Gottesdienst (14) und im Abendmahl (11,33) soll die Einheit der Versammelten spürbar sein. "Alles geschehe zur Erbauung" (14,26). 163 4. Schließlich wird die Einheit gelebt, wo sich die gesamte Gemeinde als Dienstgemeinschaft in der Liebe versteht und verhält. Paulus fordert die (sozial, kulturell, biographisch usw.) Unterschiedlichen und die Andersglaubenden auf, sich gegenseitig anzunehmen (10,33) und besonders die Schwachen zu ehren (12,24f; vgl. Rom 14,1). Alle Glieder des Leibes Christi sollen füreinander sorgen (12,25) und besonders den Schwachen (im Glauben) kein Ärgernis bereiten (8,9). Wer die Schwachen verletzt, der versündigt 162 Neben dem Begriff des "Leibes Christi" begegnen bei Paulus noch weitere Begriffe und Bilder, mit denen die Gemeinde beschrieben wird. Da er jeweils an konkreten Vorfällen und mit Blick auf tatsächlich vorhandene Personen oder Personenkreise argumentiert, ist seine Bildwelt nicht spannungsfrei. Kollektive Erwägungen wechseln sich mit solchen ab, die eher auf einzelne Personen abzielen. Das jeweils behandelte Problem scheint mit darüber zu bestimmen, welche Metaphern Paulus verwendet. Neben Metaphern, die einen stärker dynamischen Charakter der Gemeinde zum Ausdruck bringen, begegnen auch solche mit statischem Charakter. Dynamisch sind etwa die Bilder von der Gemeinde als "Gartenarbeit und Wachstumsprozeß" (3,6f), von der Gemeinde als "Baustelle Gottes" (14,26 u.ö.) oder von der Gemeinde als "menschlichem Gesamtorganismus mit vielen verschiedenen Organen" (12,12-26). Statisch ist das (alte judenchristliche) Bild von der Gemeinde als Tempel Gottes (3,16 u.ö.) oder die Vorstellung von der Gemeinde als Bauwerk Gottes (3,11). Trotz dieser wechselnden Perspektiven und der Vielfalt der verwendeten Metaphern hält sich doch in der paulinischen Argumentation das Grundschema durch: Die Einheit der ecclesia invisibilis ist vorgegeben. Ihr gilt es zu entsprechen. 163 Die Annahme, daß sich Gemeinde nur im Gottesdienst konstituiert (vgl. CA VII), verkürzt das Gemeindeverständnis des Paulus. Seine Forderungen an die Gemeinde in Korinth reichen weit über den liturgischen Bereich hinaus. Vor allem aber liegen die Vorstellungen zum Gottesdienstverhalten auf der gleichen Linie wie die Forderungen für den Alltag.

5.1 Paulus

287

sich an Christus selbst (8,12). Die Christen sollen die Gaben, die ihnen von Gott verliehen worden sind, nicht benutzen, um ihre persönliche Größe zu demonstrieren, sondern sie sollen sie einsetzen, um sich mit diesen Gaben gegenseitig zu dienen. Das gilt auch für Apostel, Propheten und Lehrer (12,28). So wie Paulus jedermanns Diener war (9,19), so sollen auch alle Gemeindemitglieder sich untereinander dienen. "Ahmt mein Beispiel nach, wie auch ich [das Beispiel] Christi [nachahme]!" (11,1) Die Gemeinschaft aller Christen ist eine Dienstgemeinschaft

in der Liebe. Von der Liebe han-

delt das gesamte 13. Kapitel des Briefs (vgl. Rom 13,8). "Die Erkenntnis bläht auf, aber die Liebe baut auf" (8,1). Alles, was in der Gemeinde geschieht, soll "zur Ehre Gottes" (10,31) geschehen, d.h. im unmittelbaren Referenzbezug auf die ecclesia invisibilis. Damit wird nun deutlich, daß in dem paulinischen "Leib Christi" im Kern die gleichen Spielregeln gelten, die auch Jesus Christus in seiner Predigt vom "Reich Gottes" vertreten hat. Auch Jesus sah die Aufgabe der Jünger darin, einander zu dienen und jedermanns Knechte zu sein. Auch er stellte das Liebesgebot in den Mittelpunkt seiner ethischen Verkündigung. Auch für ihn war die Gemeinschaft der Jünger eine Dienstgemeinschaft in der Liebe. In der "koinonia" des Mahles vollzog sich die aktualisierte und antizipierte Jüngergemeinschaft und die Teilhabe am Reich Gottes. Wie bei ihm so ist auch bei Paulus der Zukunftshorizont der Gemeinde als Gerichtshorizont offen (3,13; 11,29-31). Das "Sein in Christus" schützt nicht vor dem Gericht Gottes. Die Taufe kann auch verscherzt werden. Paulus verdeutlicht das mit einer typologischen Auslegung der Mosegeschichte (10,1-6), in der er nicht nur auf die Taufe, sondern auch auf das Abendmahl anspielt. Mit der Vorstellung von der Leib-Christi-Referenz der Gemeinde, die im Kern mit der Reich-GottesVorstellung Jesu übereinstimmt, hat Paulus die Einheit der Gemeinde in Korinth und damit gleichzeitig auch die Einheit der ecclesia visibilis insgesamt überzeugend begründet. Die Behauptung eines normativ auswertbaren Referenzbezugs der ecclesia visibilis auf die ecclesia invisibilis ist nach Paulus nicht mehr in Frage gestellt worden. Noch heute bildet sie die Grundlage für das Selbstverständnis der christlichen Kirchen. Dennoch hat Paulus auch berechtigte Kritik auf sich gezogen, denn er hat "seine" Gemeinde in eine "double-bind-Situation" hineingeführt. 164 £ r betonte die Gleichrangigkeit aller Gaben und forderte alle zum gegenseitigen Dienen auf, bestand aber gleichzeitig auf seiner persönlichen Autorität und damit auch seiner Weisungs- und Ordnungsbefugnis als Apostel (l.Kor 5,1-8). Historisch betrachtet ist es Paulus nicht gelungen, die Spannungen in der Gemeinde beizulegen, zumal er im 1. Korintherbrief ja überwiegend geistlich argumentiert hatte und sich über die konkreten sozialen Zwänge, aber auch die Menschlichkeiten, die zumindest teilweise hinter den Problemen standen, hinweggesetzt hatte. Auch die anderen Apostel, die in Korinth gewirkt 164 W.Rebell: Leben, S. 144

288

IV. Systementstehung

hatten, nahmen ja eine apostolische Autorität für sich in Ansprach. So kam es, daß der Streit der Missionare und ihrer Anhängerschaft in Korinth sich in der Folgezeit besonders auf den Apostelstatus des Paulus konzentrierte. Paulus wurde vermutlich hart angegriffen und hat hart um seine Apostelautorität gekämpft. Er bezeichnete die andersglaubenden Missionare als "falsche Apostel und arglistige Arbeiter" und versuchte, sich ihnen gegenüber als Vorbild im Dienen und im Leiden (2.Kor 6,4-10; 11,23-27) darzustellen. Er wollte seinen Führungsansprach in der frühen Christenheit verteidigen und so zwischen Christus und der Gemeinde eine weisungs- und interpretationsmächtige Zwischenebene, den Apostel (in der Gestalt des Paulus), erhalten. An diesem Punkt ist dem Verfasser des Markusevangeliums, der ebenfalls auf eine heterogene Gemeindesituation blickte, ein folgenreicher Fortschritt gelungen.

5.2 Markus: Der ungeteilte Jesus Christus als Fundament und Norm für das Miteinander der Verschiedenen a) Der "überirdische Sog" in der Christologie und die Historizität des irdischen Jesus Es ist bereits dargestellt worden, daß im jüdisch-religiösen Denken eine ganze Fülle von Vorstellungen und Titeln bereitstanden, die spätestens nach Ostern auf Jesus angewandt werden konnten, um seine besondere religiöse Qualifikation und Sendung zum Ausdruck zu bringen. Diese Titel und Begriffe erlaubten es, Jesus nicht nur als den wiederkommenden zukünftigen Richter und Retter zu bezeichnen, sondern auch als den Schöpfungsmittler, der bereits am Ursprung aller Zeiten vorhanden war. Interessant und keineswegs selbstverständlich ist es, daß Jesus angesichts dieses "überirdischen Sogs", dem seine irdische Biographie durchaus hätte zum Opfer fallen können, im Bekenntnis der Christen doch immer auch der irdische Jesus aus Nazareth geblieben ist. Er hat sich, trotz deutlich vorhandener Tendenzen, nicht in den Himmel aufgelöst. Schon in den vorpaulinischen Glaubensbekenntnissen Phil 2,5-11 und Kol 1,15-20 wird der Erhöhte bzw. der präexistente Christus unumwunden als derjenige ausgewiesen, der am Kreuz gestorben ist (Phil 2,8; Kol 1,20). Man hat das Skandalon des Kreuzes also nicht verschwiegen, man hat es vielmehr herausgestellt, obwohl dies ja der Punkt war, der die massivsten Widersprüche des Judentums hervorgerufen hat. 165 im Markusevangelium ist das Leben des irdischen Jesus von Nazareth geradezu programmatisch mit seinem Leiden und seiner Auferstehung verbunden worden. Die Traditionen der wandernden Charismatiker, die in der Logienquelle und im Thomasevangelium ohne den Bezug auf das Kreuz und die Auferstehung aufbewahrt sind, werden im Markusevan165 M.Hengel: Sohn, S.135; vgl. obenAnm.77

5.2 Markus

289

gelium mit der Passionsgeschichte verbunden. Das Evangelium ist so angelegt, daß ein Lebensweg sichtbar wird, der von Galiläa ausgeht, in Jerusalem am Kreuz endet (und bei Markus wieder zurück nach Galiläa weist). Damit wurde ein Grundschema geschaffen, dem die übrigen neutestamentlichen Evangelien gefolgt sind: Jesus ist der Christus, aber er ist und bleibt eben auch der irdische Jesus von Nazareth, der in Galiläa gewirkt und gepredigt hat und in Jerusalem am Kreuz gestorben ist. Dies alles gehört unbedingt zusammen und darf nicht auseinander gerissen werden. Indem an der Historizität des irdischen Jesus von Nazareth festgehalten wurde, war zum einen eine christologische "Himmelfahrt" verhindert, die den erhöhten Christus aller Attribute seines Menschseins hätte berauben können. Zugleich aber wurde die Kontinuität von Leben, Leiden und Erhöhung Jesu sichergestellt. Beide, der Irdische und der Himmlische gehören untrennbar zusammen. Hinter diesem anscheinend so schlichten und aus heutiger Sicht so selbstverständlichen Entwurf verbirgt sich eine bedeutende theologische Syntheseleistung. Eine ganze Reihe von eigenständigen, aber auch einander widersprechenden Traditionen (und das hieß: Glaubensüberzeugungen und Lebensformen) mußten miteinander verknüpft werden. So hat der Evangelist auf Volksund Jüngerüberlieferungen aus Galiläa, auf die synoptische Apokalypse und die Passionsgeschichte aus Jerusalem, auf vor- und nebenpaulinische Elemente des hellenistischen Christentums und schließlich auch auf Traditionen der radikalen Jesusnachfolger zurückgegriffen. 166 Es wird gleich deutlich werden, daß das nicht nahtlos möglich war und auch nicht ohne Reibung an den bereits eingespielten Umgangsformen und Privilegien innerhalb der noch relativ jungen Christenheit zu leisten war. b) Die Entstehungssituation des Markusevangeliums Markus schrieb um das Jahr 70 n.Chr. wahrscheinlich in Syrien. 167 Er hatte mindestens drei Probleme vor Augen, als er sein Evangelium schrieb: Die Verfolgung der Christen (1.), die politischen Ereignisse der Gegenwart (2.) und durchreisende Geistträger, die unter den seßhaften Christen Orientierungsprobleme und Verunsicherung hervorriefen (3.). 1. In der markinischen Gemeinde lebten ehemalige Juden und ehemalige Heiden zusammen. Ein Spannungsverhältnis mit der jüdischen Synagogengemeinde läßt sich vermuten, denn die heidenchristliche Mission machte den Synagogengemeinden unmittelbar missionarische Konkurrenz. Sie profitierte von deren Vorarbeit bei den "Gottesfürchtigen", reduzierte aber den Umfang der kultisch-religiösen Verpflichtungen für die neu gewonnenen Gläubigen. Sie bot gewisser166 Nach G.Theißen, Lokalkolorit, S.250-252 167 Mit dieser Lokalisierung ist bereits eine weitgehende inhaltliche Weichenstellung verbunden. Auch eine Herkunft aus Rom wird ernsthaft erwogen (vgl. U.Schnelle: Einleitung, S.237f). Die Rom-Hypothese führt zu einer völlig anderen Deutung, als sie hier vorgetragen wird.

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IV. Systementstehung

maßen ein Judentum zu "herabgesetzten Preisen" ohne Beschneidung und Ritualgesetze. Hinzu kam, daß es zu Beginn des jüdischen Krieges (66-70/74 n.Chr.) in Syrien zu wechselseitigen Verfolgungen und Massakern zwischen der jüdischen und der nichtjüdischen Bevölkerung gekommen war. Josephus schildert das mit drastischen Worten: "Schreckliche Wirren hielten ganz Syrien in Atem, jede Stadt war in zwei Lager gespalten und jede Partei suchte ihr Heil darin, der anderen mit dem Vernichtungsschlag zuvor zu kommen ... wenn man glaubte, die Juden beseitigt zu haben, so behielt man doch in jeder Stadt den Verdacht gegen die Judaisierenden; man mochte zwar die nach beiden Seiten hin zweifelhafte Gruppe nicht ohne weiteres umbringen, fürchtete sie aber doch aufgrund ihrer Verbindung mit den Juden, als seien sie wirkliche Feinde". 169 Es ist nicht wenig wahrscheinlich, daß von diesen Verfolgungen auch die christlichen Gemeinden betroffen waren (Mk 4,17; 10,30; 13,19). Christen galten in ihrer Umwelt mit hoher Wahrscheinlichkeit als "halbjüdische Sektierer". 170 2. Der erste Vers des Markusevangeliums weist darauf hin, daß Markus sich mit seiner als "Evangelium" bezeichneten Schrift absichtsvoll gegen ein anderes "Evangelium" wandte, das zu seiner Zeit massiv verkündet wurde. Vespasian war im Jahr 69 n.Chr. im Osten des römischen Reiches zum Kaiser ausgerufen worden. "Josephus nennt die Botschaft von seiner Kaiserproklamation 'Evangelien' ... (bell 4,618). Zahlreiche Gesandtschaften aus ganz Syrien kamen, um ihm zu huldigen (bell 4,620)". 171 In Ägypten wurde er als "Gott" akklamiert. Josephus hat ihm die Weltherrschaft prophezeit (bell 3,400ff; 4,622ff). In dieser Situation war es ein Politikum, nicht Vespasian, sondern Jesus von Nazareth als kommenden Messias darzustellen, so wie Markus es getan hat. 3. In der Gemeinde scheint es Probleme mit wandernden Charismatikern gegeben zu haben (13,5f).172 Es gehörte zum Selbstverständnis eines jeden wandernden Apostels, an Christi Stelle zu treten: "Wer euch hört, der hört mich". Es gehörte auch zu ihrem Selbstverständnis, aus der von Jesus Christus verliehenen Vollmacht heraus Wunder zu tun, böse Geister auszutreiben oder Kranke zu salben und zu heilen (Mk 6,13). Zeichen und Wundertaten dieser Art sind geradezu eine Signatur der Apostel (Apg 5,12). Auch von Petrus (Apg 5,14f) und Paulus (Apg 19,1 lf; 20,10) werden solche Wunderheilungen berichtet. Hinzu kommt, daß das Evangelium den seßhaften Christen in aller Regel irgendwann einmal durch wandernde Apostel mitgeteilt worden war. Man muß also bei den wandernden Aposteln gar nicht unbedingt an reisende Konkurrenten denken, es könnte sich auch um christliche Missionare (13,21) gehandelt 168 169 170 171 172

Mk 7,15.18-23 mit Lasterkatalog Josephus bell 2,461-464 M.Hengel: Die johanneische Frage, Tübingen 1993, S.159 G.Theißen: Lokalkolorit, S.283 Die Beurteilung fallt freilich völlig anders aus, wenn man die in 13,5f Genannten, von 13,21f her versteht. Man würde dann eher an außerchristliche Messiasprätendenten zu denken haben.

5.2 Markus

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haben. Dieser Gedanke wird hier verfolgt. 173 j)j e christlichen Apostel hatten selbstverständlich in der Entstehungszeit der lokalen Guppen eine Art von "Richtlinienkompetenz" inne, und mit ihrem Weggang scheinen sie sie keineswegs verloren zu haben. Bei Paulus kann man noch erkennen, welchen starken Führungsanspruch er mit seinem Aposteltitel verband. Paulus nahm fur sich das Recht in Anspruch, die Angelegenheiten der von ihm gegründeten Gemeinden auch dann noch zu regeln und zu ordnen, wenn er selbst gar nicht mehr anwesend war. Noch um die Jahrhundertwende zum zweiten Jahrhundert haben wandernde Apostel, Propheten und Lehrer in Syrien eine geradezu selbstverständliche Vorrangstellung genossen. "Jeder Apostel, der zu euch kommt, soll aufgenommen werden wie der Herr" (Didache 11,4). Propheten "sind nämlich eure Hohenpriester" (Did 13,3). Sie haben Anspruch auf den Erstling von Teig, Wein und Öl (Did 13,5f). Erst ein offenbar verbreiteter Mißbrauch dieser Vorzugsstellung und persönliche Vorteilsnahmen veranlaßte die Didache zu der Empfehlung, neben den Aposteln, Propheten und Lehrern auch ortsansässige Episkopen und Diakone zu wählen. 1^4 c) Die "strategische" Konzentration auf den ungeteilten Jesus Christus Markus hat die Probleme der Gegenwart durch eine "strategische" Konzentration auf Jesus Christus gelöst. Er zweifelte nicht daran, daß Jesus Christus und nicht etwa Vespasian der verheißene Messias ist. Das ist der Inhalt seines "Evangeliums". Markus schildert Jesus schon im ersten Kapitel als einen, der sich in einem programmatischen Kampf mit dem Teufel befindet (1,13). Wo Jesus wirkt und predigt, da ist das Reich Gottes Realität (1,15), da werden Menschen "rein" (1,42). Er gewinnt den Kampf mit dem Bösen, denn er ist "der Heilige Gottes" (1,24). Aber dieses Glaubensbekenntnis war eben zu seiner Zeit alles andere als selbstverständlich. Nicht einmal Jünger begreifen bei Markus, daß der Messias nicht als politischer Erlöser gekommen ist. Selbst ihnen ist das Geheimnis des Gottessohnes verborgen. Erst unter dem Kreuz bekennt ein römischer Hauptmann: "Dieser Mensch ist Gottes Sohn gewesen" (15,39). Erst durch die Auferstehung Jesu Christi wird das Geheimnis offenbar (9,9). Insofern benötigte Markus die Passionsgeschichte zur Beglaubigung seiner Botschaft. Aber er benötigte auch die Lebensgeschichte Jesu. Markus hat die Verfolgungen und Leiden seiner eigenen Gegenwart auf die Leidensgeschichte Jesu projiziert. Er wollte deutlich machen, daß Jesus ja auch schon einen Leidensweg gegangen ist, einen Leidensweg, den er sogar dreimal angekündigt hat. Damit wurde sein Leiden zum Urbild des Leidens aller Christusnachfolger. Wer "Christus angehört" (9,41), der steht wie er selbst ebenfalls im Kampf gegen die Macht des Bösen^?^ denn die irdische Gemeinschaft der 173 K.Berger: Theologiegeschichte, S.58 hat vermutet, daß es sich bei den in Mk 13,6 Angesprochenen nicht unbedingt um "böswillige Antichristen" gehandelt haben muß. 174 Auch die Didache nimmt das Dienstethos als MaBstab (11,8). 175 W.H.Kelber: Kingdom, S.25-43

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IV. Systementstehung

Christen ist von den Attacken Satans bedrängt (4,15). Jüngerschaft ist nicht nur Glaube an die ewige Zukunft mit dem erhöhten Christus, sondern auch Standhaftigkeit im Alltag gegenüber Zweifeln und Anfechtungen (4,16-19). Und Jüngerschaft ist Nachfolge im Leiden: "Und er rief das Volk samt seinen Jüngern und sprach zu ihnen: Wenn jemand mit mir gehen will, verleugne er sich selbst und nehme sein Kreuz auf sich und folge mir nach. Denn wer sein Leben retten will, der wird es verlieren; wer aber sein Leben verliert um meinetwillen und um des Evangeliums willen, der wird es retten" (8,34f). d) Die Neuordnung des urchristlichen Sozialgefüges "Nachfolge" wird bei Markus zum zentralen Stichwort für das Selbstverständnis der Christen. Alle Christen sind "Nachfolgende" und "Jünger" Jesu. Markus macht keinen Unterschied zwischen dem seßhaften "Volk" und den nichtseßhaften Jesusjüngern, die mit ihm durch das Land ziehen. Entscheidend ist, daß Nachfolge beide, die Seßhaften wie die Nichtseßhaften, dem Leiden aussetzt und ihnen die gleichen Regeln auferlegt, die die Regeln des Reiches Gottes sind: Die Nachfolge im Dienen und das Doppelgebot der Liebe (12,28-34), auf die ehemalige Juden und ehemalige Heiden gleichermaßen verpflichtet werden. Im Markusevangelium läßt sich eine zunächst überraschende Beobachtung machen: "Die Zwölf", also die Jesusjünger der ersten Generation, werden ebenso in die Schranken gewiesen wie ihre Hauptrepräsentanten, Petrus und die beiden Zebedaiden. Gerade die meistprofilierten Jesusjünger erscheinen durchgängig in gespaltener Bewertung. Petrus und die Zebedaiden sind einerseits Zeugen der Verklärung (9,2-10). Jesus nimmt sie mit zum letzten Gebet nach Gethsemane (14,33), und Petrus erkennt als erster, daß Jesus der Christus ist (8,30). Ihre Vorrangstellung ist damit deutlich betont. Sie war ja auch in der frühen Christenheit unbestreitbar. Zugleich aber sind gerade diese hochprofilierten Apostel diejenigen, die die größte Schelte einstecken müssen: Petrus weiß nicht, was er redet (9,5f), er schläft in Gethsemane ein (14,37), er verleugnet Jesus (14,17-21.66-72), und schließlich wird er von Jesus vor den versammelten Jüngern als "Satan" (8,33) bezeichnet. Den beiden "Donnersöhnen" ergeht es nicht besser. Sie verstehen nicht, was "Auferstehung der Toten" heißt (9,10), eine Vorstellung, über die damals wohl beinahe jedes Kind informiert war. Ihr Wunsch, zur Linken und Rechten des Herrn zu sitzen, wird abgewiesen. Sie müssen sich von Jesus sagen lassen, daß sie nicht "die Größten" sind, die durch ihre erfolgreiche Tätigkeit und ihren Märtyrertod ein Anrecht auf die Vorzugsplätze im Himmel erworben haben (Mk 10,35-40). Gleich im Anschluß daran werden auch die "restlichen Zehn" in die Schranken gewiesen: "wer unter euch der Größte sein will, sei der Knecht aller" (V.44f).176

176 In Mk 10,31 wird im Anschluß an die Ausführungen über den "Lohn der Nachfolge" explizit hervorgehoben, daß die Jünger aus der Dauer ihrer Christuszugehörigkeit (auch aus der Art ihrer Christusnachfolge?) keine soziologisch relevante Rangfolge ableiten dürfen.

5.2 Markus

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Zur Jüngerschelte paßt auch das Motiv des "Jüngerunverständnisses". Obwohl die Jünger doch in unmittelbarer Nähe Jesu sind, verstehen sie seine Gleichnisse nicht (4,13; 7,18), sie verstehen ihn selbst nicht (4,40f; 6,52f), wissen nicht, was "Auferstehung der Toten" bedeutet (9,32), und auch seine Leidensankündigung verstehen sie nicht (10,32). Sie fürchten sich. Damit sind sie alles andere als situationsüberlegene Führungspersönlichkeiten. Aber nicht nur ihre kognitiven Fähigkeiten, auch ihre Geistesgaben, die sie zu Wunderheilungen befähigen, sind begrenzt. Es gelingt den Jüngern nicht, einen epileptischen Knaben zu heilen (9,14-29), obwohl Wunderheilungen doch geradezu zum Berufsbild eines wandernden Apostels gehörten. Jesus aber heilt den Knaben. Und so müssen sie sich anschließend von ihm sagen lassen, daß Dämonen nicht durch Wunder und Exorzismen bekämpft werden, sondern durch "beten (und fasten)" (9,29). Beides sind Aktivitäten, die jeder Christ in einer seßhaften Gemeinde auch selbst vollbringen kann. Dazu braucht er keine reisenden Apostel. Schließlich verbietet Jesus auch, seine Wundertaten öffentlich zu verbreiten (5,43; 7,36a). Auch wenn dieses Verbot nicht eingehalten wird (7,36b), so zeigt sich doch die Tendenz, daß Jesus Wundertäter in ihrer Bedeutung relativiert. "Das Verbreitungsverbot soll verhindern, Jesus aus seinen Wundern heraus zu definieren und zu usurpieren". 177 Möglicherweise geht es in all diesen Texten nicht nur um vergangene Geschichten. Sollten in den Geheimlehren Jesu die damals durchaus virulenten Fragen der Gemeindeorganisation und der Abgrenzung von andersdenkenden Christengemeinden angesprochen seinl^S, dann geht es Markus nicht nur um die Spitzenplätze im Himmel, sondern auch um die Verteilung der Vorzugspositionen auf Erden, die in den Gemeinden der seßhaften Christen den wandernden Aposteln eingeräumt wurden. Implizit werden die Gemeindemitglieder von Markus darauf vorbereitet, daß sich unter den Wanderern durchaus auch ein "Satan im Heiligenkostüm" (am Beispiel des Petrus - 8,33) oder ein "Wolf im Schafspelz" (am Beispiel des Judas - 14,18) befinden könnte. Die Wanderer sind nicht immer und grundsätzlich "die Größten". Ihren Geistbesitz hat Jesus selbst relativiert. Ihre Größe aber hatte sich erst einmal zu erweisen, und zwar im Dienen. Auch hier kommt Markus seine konsequente Orientierung am "ungeteilten" Jesus Christus zugute. Jesus selbst ist Vorbild, Autorität und Gesetzgeber. An seinem Dienstethos haben sich alle zu orientieren. "Auch der Sohn des Menschen ist nicht gekommen, damit ihm gedient werde, sondern damit er diene und sein Leben gebe als Lösegeld für viele" (10,45). e) Fazit 1. Die alten Spielregeln des Reiches Gottes, dienen und lieben, werden zu maßgeblichen Spielregeln der Christen in der Nachfolge. Alle sind sie in einer 177 U.Schnelle: Einleitung, S.250 178 G.Theißen: Lokalkolorit, S.252f

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IV. Systementstehung

Dienst- und Liebesgemeinschaft einander zugewiesen. Alle sind sie in der Mahlgemeinschaft (14,22-24) miteinander verbunden. Für die Seßhaften wie die Nichtseßhaften, für die Juden wie die H e i d e n ^ gilt das in gleicher Weise. Es gilt selbst dann, wenn unter dem Druck der Verfolgung (Mk 4,17; 10,30; 13,19) Gemeindemitglieder oder Familienmitglieder einander denunzieren (13,12). Markus weiß, daß die irdische Gemeinschaft der Christen keine "heile Welt" ist (4,14-19). Selbst im Kreis der Abendmahlsteilnehmer saß mit Judas ein Verräter. Deshalb läßt sich die Einheit einer (vielstimmigen) Gemeinde nicht sozial begründen. Sie ist vielmehr im gemeinsamen Referenzbezug aller auf die ecclesia invisibilis gegeben. 2. Zugleich hat Markus ein Modell für das Miteinander der Verschiedenen im sozialen Verband der ecclesia visibilis entworfen: Er hat das Zwei-KlassenDenken der frühen Christenheit korrigiert, indem er die wandernden Christen in die Schranken wies und sie den seßhaften Christen gleichstellte. Sein Modell duldet kein "elitäres" Christentum mehr, keine Vorrangstellung auf Erden. Durch die strikte Orientierung am Leben und Leiden Jesu entstand ein Modell, von dem her sich auch die unterschiedlichen Sozialformen, die das frühe Christentum hervorgebracht hatte, seßhafte und nichtseßhafte Christen, miteinander vereinbaren und untereinander gleichstellen ließen. Dazu mußten die charismatischen Geistträger "Federn lassen". Auf Erden ist niemand "der Größte". Alle unterstehen gemeinsam den Weisungen, die Jesus Christus erteilt hat. Diesen Gedanken kann man auch unter dem Gesichtspunkt des Systemwandels betrachten. Im Zuge der Kirchwerdung des frühen Christentums hat nicht nur die christliche Theologie zahlreiche Wandlungen durchlaufen, auch die seit Anbeginn etablierte Sozialstruktur des Christentums, die die Vorrangstellung der Apostel vorsah, wurde verändert. Markus förderte die Abflachung der urchristlichen Hierarchie und bewirkte an diesem Punkt eine Annäherung der irdischen Machtverhältnisse an die antihierarchische Grundstruktur der ecclesia invisibilis. 3. Markus hat dem "überirdischen Sog" widerstanden und den "ungeteilten" Jesus Christus, den irdischen, aber auch den himmlischen als Norm und Maßstab für die Christen und ihr Christsein bewahrt. Schon konzeptionell gehören beide zusammen: Die Reich-Gottes Predigt des irdischen Jesus wird zum normgebenden Vorbild für die irdische Gemeinschaft aller Christen (im Leiden, im Dienen und in der Liebe) und der himmlische Christus ist der Garant für die bleibende Gültigkeit der christlichen Zukunftshoffnung. 4. Schließlich hat Markus das "Normalchristentum" der seßhaften Christen salonfähig gemacht. Er hat den ganz alltäglichen Glauben aufgewertet, indem er das Gebet jedes einzelnen Christen aufwertete. Auch jenseits von Wundertaten und großen Krafterweisen (die freilich in geballter Form von Jesus selbst berichtet werden) ist es möglich, Christsein in einer unspektakulären Alltäglichkeit zu leben. Die Glaubensbindung an den ganzen Jesus Christus, das 179 Vgl. auch Speisung der 5000: Juden; Speisung der 4000: Heiden

5.2 Markus

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"Christus angehören" (9,41), zeichnet einen Christen aus. Das gleiche Kriterium läßt sich auch anwenden, um jenseits der tief eingerissenen Trennungslinie zwischen Judenchristen und Heidenchristen über die Zugehörigkeit oder die Nichtzugehörigkeit einzelner frühchristlicher Gruppierungen zur ecclesia invisibilis zu urteilen. Nur wer den "ungeteilten" Christus bekennt, erglaubt ihn richtig. Den nächsten Generationen der Christen ermöglichte dieses Kriterium bei aller Akzeptanz der christlichen Glaubensvielfalt - doch zwischen "richtigen" und "falschen" Christen zu unterschieden. Als "richtige" Christen galten ihnen Christen, die an den "ungeteilten Christus" glaubten und die Inhalte ihres Glaubens auch von der Biographie des Irdischen prägen ließen. Von dieser Sicht der Dinge her konnten Ableger des frühen Christentums in Verruf geraten, die ihr religiöses Interesse mehr oder weniger einseitig auf den erhöhten Christus, die unmittelbare Geistpräsenz, religiöse Virtuosität oder die Loslösung von allem Irdischen ausgerichtet hatten. Die Besinnung auf den "ganzen" Jesus Christus und auf das antihierarchische Grundprinzip seiner "Reich Gottes "-Verkündigung, die im Markusevangelium zu beobachten ist, war also ein wichtiger Schritt zu einer systeminternen Grenzziehung der sich herausbildenden überregionalen ecclesia visibilis. Nach innen hin war ein Kriterium zur Gleichstellung der unterschiedlichen frühchristlichen Sozialformen gewonnen, nach außen hin ein Kriterium zur Abgrenzung. Das werdende Christentum begann, sich dafür zu interessieren, an welchen Christus die einzelnen christlichen Gruppen glaubten.

5.3 Johannesevangelium: Identitätswahrung, Abgrenzung und Integration - Kriterienbildung auf dem Weg zu einem überregionalen Miteinander der Andersglaubenden Um die Leitfrage, wie sich im neuen Testament die Vorstellung von der Einheit der Christen angesichts der Vielzahl von Andersglaubenden herausbildet, weiter zu verfolgen, soll nun ein Sprung ins Johannesevangelium gemacht werden. Auch das Johannesevangelium gibt den Exegeten noch zahlreiche Rätsel a u f 180 Zumeist wird es der gleichen "Johanneischen Schule" zugerechnet, der auch die Johannesbriefe zugewiesen werden. Es dokumentiert die Existenz einer kleinen, theologisch eigenständigen Gruppierung und läßt einige Details ihrer Geschichte, ihrer Lebenssituation und ihres Glaubensverständnisses erken180 So herrscht keine Einigkeit darüber, wo das Evangelium entstanden ist. Vieles spricht für Ephesus (Kleinasien), andere Vorschläge lauten auf Palästina, Transjordanien und Syrien. (Vgl. die Übersicht bei U.Schnelle: Einleitung, S.538-540). Die Datierungen schwanken üblicherweise zwischen 90 und 110. Zu den schwierigen Fragen des Entstehungsprozesses der Schriften, der literarischen Integrität und der dahinter stehenden Geschichte der johanneischen Schule M.Hengel: Frage; G.Strecker: Die Johannesbriefe (KEK 14), Göttingen 1989, S. 19-28; U.Schnelle: Einleitung, S.550-571 und 581-584.

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IV. Systementstehung

nen. Anders als im 1 .Korintherbrief und im Markusevangelium, wo es um verschiedene Aspekte des Miteinanders der Andersglaubenden und der Verschiedenen in einem lokal begrenzten Gemeindeverband ging, geht es hier nun darum, wie sich eine theologisch relativ homogene Gruppierung in einer tendenziell ablehnenden bis feindlichen Umwelt behauptet, wie sie ihre Gruppenidentität aufrechterhält, dabei christliche Grundüberzeugungen bewahrt und schließlich, wie sie symbolisch den Anschluß an die Gemeinschaft anderer Christen herstellt. Man darf sich die "johanneische Schule" wohl nicht als Ortskirchengemeinde vorstellen. Die Johannesbriefe erwecken den Eindruck, als sei die Gemeinde (der Schülerkreis) zumindest teilweise dezentral organisiert gewesen und habe Seßhafte, aber auch wandernde Christen (3.Joh 7) umfaßt. Ein namentlich ungenannter "Ältester" schreibt den zweiten und den dritten Brief an die Mitglieder der Christengemeinschaft (2.Joh 1; 3.Joh 1) und erteilt ihnen Weisungen, etwa für den Umgang mit wandernden Christuszeugen aus anderen Gemeinschaften (2.Joh 10). Dieser "Älteste" wird als Leiter der Gemeinde und auch als Verfasser des Evangeliums angesehen. Er war eine Art "Lehrer", der einen christlichen Schulbetrieb unterhielt. In dieser "Schule" wäre aber, anders als dies heute üblich ist, das Christentum nicht nur "unterrichtet", sondern (nach dem Vorbild von Joh 13) gleichzeitig auch aktiv gelebt und praktiziert worden. 182 a) Entstehungssituation Das Johannesevangelium reflektiert auf eine Situation, in der die Johannesschüler von akuten Problemen bedrängt waren und es möglicherweise noch sind. Sie waren aus den Synagogen ausgeschlossen worden, und es hatte sich eine Gemeindespaltung vollzogen, in der sich ein beträchtlicher Teil der ehemaligen Mitglieder von ihnen abgewandt hatte. 183 1. Der Synagogenausschluß und seine Folgen werden im Johannesevangelium unmittelbar angesprochen. "Die Juden waren schon übereingekommen, wenn jemand ihn als den Christus bekennen würde, solle er aus der Synagoge ausgeschlossen werden" (9,22). "Sie werden euch aus der Synagoge ausschließen; ja die Stunde kommt, da jeder, der euch tötet, meinen wird, Gott eine Opfergabe darzubringen" (16,2; vgl. 12,42). Nach der Zerstörung des Tempels im Jahr 70 war es im Judentum zum verschärften Kampf um die Bewahrung der religiösen Identität, zu einem Aufblühen des jüdischen Pharisäismus und (zwischen 85 und 181 Die Sozialform des "Schulbetriebs" ist auch bei christlichen Gnostikern in Ägypten und bei Justin dem Märtyrer, belegt. 182 J.Roloff: Kirche, S.293 183 Die historische Einordnung ist unklar. So rechnet J.Roloff: Kirche, S.293f mit einem Umzug der Gemeinde von Palästina nach Ephesus und verteilt die beiden Konflikte in einem zeitlichen Nacheinander auf diese beiden Regionen. M.Hengel sieht dagegen beide Ereignisse als lange zurückliegend an. - Frage, S.298

5.3 Johannesevangelium

297

90 n.Chr.) zur Aufnahme einer Ketzerpassage in das 18-Bitten-Gebet gekommen. Auch die Christen galten nun als Ketzer, die die Reinheit des jüdischen Glaubens bedrohten. Sie wurden bedrängt oder verfolgt, um zur Abkehr vom Christusbekenntnis und zur Rückkehr in die Synagogengemeinde veranlaßt zu werden. Wo sie aus der Synagogengemeinschaft ausgestoßen wurden, da konnte das äußerst harte Konsequenzen nach sich ziehen. Die pharisäischen Regeln für den Umgang mit den Angehörigen des als unrein angesehenen "Landvolkes" liefen faktisch auf die religiöse, rechtliche und ökonomische Isolierung der Betroffenen hinaus. 2. Das zweite Problem, von dem die johanneische Gemeinde betroffen war, ist eine Gemeindespaltung, von der in 6,66 berichtet wird: "Von da an zogen sich viele seiner Jünger zurück und wandelten nicht mehr mit ihm" (vgl. l.Joh 2,19). In der Forschung ist umstritten, aus welchen Gründen und in welche Richtung sich die "Jünger" zurückzogen, von denen hier die Rede ist. Handelte es sich um Judenchristen, die angesichts der drohenden bzw. bereits stattfindenden Verfolgung in den Schoß der Synagoge zurückgekehrt s i n d ? 185 oder handelt es sich um Christen, die aufgrund von schwerwiegenden christologischen Differenzen die Gemeinschaft mit den johanneischen Christen aufgekündigt haben, also um eine innerchristliche G e m e i n d e s p a l t u n g ? 186 wie auch immer die Frage zu beantworten ist, sie hatte zur Folge, daß die Johannesjünger, deutlich geschwächt, auf sich selbst zurückgeworfen waren. Von dieser Situation her sollen nun vier Aspekte des johanneischen Gemeindeverständnisses dargestellt werden: die Identitätswahrung und Kohärenzsicherung in der Gruppe (a), die Abgrenzung der Gruppe nach außen hin (b), der Referenzbezug auf die ecclesia invisibilis (c) und die Integration der Gruppe in den größeren Verband der überregionalen ecclesia visibilis (d). b) Kohärenzsicherung durch Traditionsanbindung Ebenso wie das Thomasevangelium operiert auch das Johannesevangelium mit der Figur eines "Leitapostels" aus dem Jüngerkreis Jesu, dem von Jesus selbst gegenüber allen anderen Jüngern eine deutliche Vorrangstellung eingeräumt worden ist. War es dort Thomas, dem Jesus sagte, er sei nicht sein Meister, sondern sei ihm ebenbürtig (Spruch 13), so ist es hier nun der "Jünger, den Jesus lieb hatte", dem eine Vorzugsstellung zukommt. Dieser "Lieblingsjünger" wird im Nachtragskapitel als Verfasser des Evangeliums genannt (21,24). Auf 184 H.G.Kippenberg / G.A.Wewers (Hg.): Textbuch, S. 111 und S. 186 185 E.Stegemann: "Kindlein, hütet euch vor den Götterbildern!", in: ThZ 41/1985, S.284-294 186 Im Rahmen dieser "häresiologischen" Interpretation der Johannesbriefe gibt es wiederum verschiedene Deutungen, die sich zumeist auf die "Gnosis"-Hypothese stützen. Grundlegend E.Käsemann: Ketzer und Zeuge, in: Ders.: Versuche I, Göttingen 1960, S. 168-186. Vgl. J.Roloff: Kirche, S.294 ("doketische Christologie"); C.Link u.a.: Gemeinschaft, S. 172-183 (unter Vorbehalt: "gnostischer Konflikt")

IV. Systementstehung

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seiner Autorität fußt alles, was im Johannesevangelium geschrieben ist. Gegenüber allen anderen Jesusjüngern wird sie deutlich hervorgehoben. Er ist der Jünger, den Jesus besonders geliebt hat. Er lag an Jesu Brust (13,23), ganz so wie Jesus selbst im Schoß des Vaters gelegen hat (1,18). "Er bezeugt den wirklichen Tod Jesu am Kreuz (19,34b.35) und wird zum ersten Zeugen des Ostergeschehens (20,2-10). Er ist der Hermeneut Jesu und der Sprecher des Jüngerkreises (13,23-26a). In der Stunde der Anfechtung bleibt er seinem Herrn treu (18,15-18) und wird so zum wahren Zeugen unter dem Kreuz und wahren Nachfolger Jesu (19,25-27)". 187 Vermutlich ist er auch der namenlose Jünger, der noch vor Andreas und Simon Petrus als erster von Jesus in die Nachfolge gerufen worden ist (1,35-42). Ein Gesetz der Gruppendynamik besagt, daß soziale Gruppen, die unter einen starken Außendruck geraten, innerlich stärker zusammengeschweißt werden, falls sie nicht unter dem Druck zerbrechen. Das scheint auch auf die johanneische Christengemeinschaft zuzutreffen, in der vielleicht sogar beides eintrat. Sicherlich darf man den "Lieblingsjünger" nicht nur als historische Figur aus der ersten Jüngergeneration ansehen. Er erfüllt wichtige Funktionen in der bedrängten Gegenwart der Johannesgemeinde, also in der Zeit um die Jahrhundertwende zum zweiten nachchristlichen Jahrhundert. Zunächst ist er der Garant für die Wahrheit der im Johannesevangelium vertretenen Glaubensüberzeugungen. Einen solchen Garanten brauchte die Gemeinde dringend, denn die Gemeindespaltung zeigt, daß ihre Glaubensüberzeugungen umstritten waren. Mehr noch, er begründet die Existenznotwendigkeit gerade dieser christlichen Gruppierung. Indem sie sich auf den "Lieblingsjünger" und auf sein Glaubenszeugnis berief, machte sie deutlich, daß sie sich mehr noch als alle anderen christlichen Gruppierungen (die sich u.U. auf andere Jesusjünger beriefen), auf dem richtigen Traditionsweg wußte. Sie reklamierte die überlegene Interpretation der Wahrheit für sich, denn sie folgte nach ihrem eigenen Verständnis nicht nur Jesus Christus, sondern auch dem Jünger, den er allen anderen Jüngern vorgezogen hatte. Die johanneischen Christen gehörten nach ihrem eigenen Selbstverständnis einer christlichen Elite an, die im Sturm der Zeiten und der abweichenden Meinungen treu zur Wahrheit des Glaubens an Jesus Christus stand. Dieses Selbstverständnis hatte kohärenzfördernde Kraft. Es schweißte die (Rest-)Gruppe zusammen und sollte ihre Zukunftsfähigkeit garantieren. Die Referenz auf den "Lieblingsjünger" und seine Vorzugsstellung erweist sich von daher gruppendynamisch als eine Form von Kohärenzsicherung durch Traditionsanbindung.

c) Identitätserhalt durch Abgrenzung Im Umkreis der Johanneschristen gab es drei religiöse Gruppierungen, gegen die sie sich abgrenzten, die Täuferjünger (1.), die Juden (2.) und eine Gruppe 187 U.Schnelle: Einleitung, S.547

5.3 Johannesevangelium

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von Christen, die bezweifelten, daß Jesus Christus "im Fleisch gekommen" (l.Joh 4,2; 2.Joh 7) ist (3.). 1. Die Abgenzung von den Täuferjüngern: Gegenüber der Täufergemeinde betont das Evangelium durchgängig die Überlegenheit Jesu Christi: "Das Zeugnis jedoch, das ich habe, ist größer als das des Johannes" (5,36). 188 j e s u s hat selbst getauft (3,22) und war in dieser Tätigkeit sogar erfolgreicher als Johannes (4,1). Abgrenzung erfolgt hier in der Form einer Zurückstufung der anderen Gruppe und ihrer Mitglieder. Die eigene Gruppe ist höherwertig. 2. Die Abgrenzung vom Judentum: Die Abgrenzung vom Judentum erfolgte mit einer deutlich größeren Schärfe. Das Tischtuch war zerschnitten, und zwar von beiden Seiten. Anders als etwa Jakobus, der sich vermutlich mit seiner judenchristlichen Gemeinschaft in Jerusalem gerade für den Verbleib der Christen innerhalb des jüdischen Religionsverbandes eingesetzt hat, betonte das Johannesevangelium, daß es zwischen Juden und Christen keinerlei Verbindendes mehr gab. 189 Dj e Eckpfeiler der jüdischen Religion trugen nicht mehr. Seit das Wort Fleisch geworden war, zählt nach Ansicht des Johannesevangeliums allein der Glaube an Jesus Christus und an seine Gottessohnschaft. Das Judentum war in allen wichtigen Punkten überholt. Erst von Christus her erschließt sich das sachgemäße Verständnis des Alten Testaments (5,45-47): Jesus hat Jerusalem und den Tempel, die traditionellen Orte des jüdischen Gebets (4,21-24) ebenso ersetzt wie die großen Feste des jüdischen Kults, das Laubhüttenfest (7,37-39), das Chanukkafest (10,36), das Passahfest (6,35.47-49). Er selbst ist das wahre Passahlamm, das am Vorabend des Festes geschlachtet wird (19,14). Das alles aber wollen die Juden nicht erkennen und nicht glauben. Durch ihr "Nein" zu Christus sind sie schuldig geworden (9,39-41). Sie haben sich selbst auf die Seite der Feinde Gottes, auf die Seite der sündigen "Welt" gestellt. Sie hassen den Sohn und den Vater gleichermaßen (15,23f). Zwischen Johanneschristen und Juden gab es folglich keine Gemeinsamkeiten mehr. Die Zurückgestoßenen kehrten den Spieß, der gegen sie gerichtet worden war, um und begründeten nun ihrerseits das Christentum als eigenständige Religion mit dezidiert antijüdischer Ausrichtung. Dabei bedienten sie sich einer streng dualistischen Denkweise, die vor dem Hintergrund ihrer bedrohten Existenz durchaus nachvollziehbar und verständlich ist. Auch sie dachten in " R a u m s p h ä r e n " U nd verwendeten eine christologisch modifizierte "ReichGottes" Vorstellung als Referenzsystem ihres Glaubens. Fundamentale Bedeutung hat die Grundüberzeugung von der differenzlosen Einheit von Vater und Sohn: "Ich und der Vater sind eins" (10,30). Wer an den Sohn glaubt, der erglaubt Gott richtig. Er gehört zu Gott und hat Anteil an der "heiligen Sphäre" des Reiches Gottes, wie auch umgekehrt, wer nicht an den Sohn glaubt, der

188 Vgl. 1,6-8.15.19ff; 3,28ff; 5,33-35; 10,40-42 189 Zum folgenden: C.Dietzfelbinger: Bruder, S.377-403 190 Über "räumliche Dimensionen des johanneischen Denkens" vgl. die Literaturangaben bei U.Schnelle: Einleitung, S.579

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IV. Systementstehung

Sphäre der Finsternis zugehört und Gott nicht kennt. Was Paulus mit dem Begriff "Leib Christi" bezeichnet hat, trägt im Johannesevangelium viele Namen. ^ ^ Ein ganzes Bündel von Metaphern und Vorstellungen wird herangezogen, um den mythischen Raum des Heiligen zu benennen. Christus ist das Licht (9,5; 12,46). Die Johanneschristen sind die "Kinder des Lichts" (12,36a). Christus ist Weg, Wahrheit und Leben (14,6). Die Christen sind "aus der Wahrheit" (18,37) und vertrauen deshalb auf Jesus. Der Raum des Lichtes und der Wahrheit ist auch der Raum der Ewigkeit und des Lebens. Wer an Jesus glaubt, der hat das ewige L e b e n . 192 Schließlich ist der Wohnraum des Lebens auch der Wohnraum der Liebe: "Gleichwie mein Vater mich liebt, so liebe ich euch auch. Bleibet in meiner Liebe!" (15,9) Gegenbilder dieses dualistischen Denkens sind die "Dunkelheit", die "Unwahrheit", der "Haß", der "Tod", die "Welt" und der Herrschaftsraum des Teufels. Zwei semantisch geschlossene Welten stehen sich diametral gegenüber (15,19), wobei die semantischen Felder der sie charakterisierenden Begriffe ineinander übergehen und sich untereinander ersetzen bzw. ergänzen können. Zwischen beiden Sphären gibt es kein Hinüber und kein Herüber, kein "sowohl als auch", keine "goldenen" Mittelwege: "Ich werde den Vater bitten und er wird euch einen anderen Beistand geben, damit er in Ewigkeit bei euch sei, den Geist der Wahrheit, den die Welt nicht empfangen kann, weil sie ihn nicht sieht und nicht erkennt" (14,16f). Vor dem Hintergrund dieses konsequent dualistischen Denkens hat der Glaube an Jesus Christus radikale Konsequenzen. Allein der Glaube an den ungeteilten Jesus Christus entscheidet über die Zugehörigkeit zur ecclesia invisibilis und über das ewige Leben. Er ist die Entscheidung für das Licht, für die Wahrheit und für die Liebe. Die Zugehörigkeit zu der Raumsphäre des heiligen Gottes bestimmt die Gegenwart und die Zukunft der Gemeinde wie auch des einzelnen Christen. Die Zukunft ist nicht mehr für alles offen, sie ist festgelegt. Die Zukunft ist entweder heute bereits gesichert, oder sie ist heute bereits verloren. Zwar steht das Gericht Gottes noch allen bevor. Diejenigen, die zu Christus gehören, wissen aber heute bereits, daß sie von Tod und Untergang nicht mehr bedroht sind. Beides droht nur den anderen, dem "Rest der Welt". 1 9 3 Weil die Juden die Einheit von Vater und Sohn nicht erkannt haben und Jesus nach dem Leben trachteten, haben sie sich selbst auf die Seite der Finsternis und des Todes begeben. Aus Abrahamskindern waren "Kinder des Teufels" geworden (8,44). Die Abgrenzung von den Juden mit Hilfe eines dualistischen Denkschemas erfolgte also völlig anders als gegenüber den Johannesjüngern. Sie war keine Überbietung, sondern ein unwiderrufliches und keinerlei Ausgleich zulassendes "Nein". Man fühlt sich an Paulus erinnert: "Ihr könnt nicht gleichzeitig den Kelch des Herrn und den Kelch der Dämonen trinken"

191 "Basileia tou theou" begegnet bei Joh nur zweimal: Joh 3,3.5 192 3,15f; 5,24; 6,47; 8,12; ll,25f; 12,50; 14,23 193 "Rest der Welt" im Sinne der systeminternen Umweltsicht. Die Systemumwelt wird intern nicht so differenziert wahrgenommen, wie sie faktisch ist. (s.o. Kap.III 2d)

5.3 Johannesevangelium

301

(lKor 10,21). Zwischen Johanneschristen und Juden wurde ein klarer Trennungsstrich gezogen. 3. Die Abgrenzung von den "Antichristen": Auch die Abgrenzung von den Christen, die leugnen, "daß Jesus Christus im Fleisch gekommen" ist (lJoh 4,2), erfolgte in aller S c h ä r f e . 194 Den Johanneschristen wurde aufgetragen, daß sie keinerlei Gemeinschaft mit diesen Menschen haben sollten (2.Joh 10). Sie werden "Antichristen" und "Gottesleugner" (l.Joh 2,23) genannt, weil sie die Einheit von Vater und Sohn leugnen (2,22f) und die religiöse Bedeutung des irdischen Jesus in Frage stellen. Möglicherweise bestehen sie auf einer Form von religiösem Unterricht. 195 Demgegenüber betont der 1.Johannesbrief, daß das ursprüngliche Glaubensbekenntnis unverfälscht bewahrt bleiben soll: "Wenn in euch bleibt, was ihr von Anfang an gehört habt, werdet auch ihr im Sohn und im Vater bleiben" (l.Joh 2,24). Die ursprüngliche Einheit von Vater und Sohn darf nicht in Frage gestellt werden. Ebenso wenig kann bezweifelt werden, daß Jesus Christus "im Wasser und im Blut" gekommen ist (5,6), daß er also wirklich Mensch geworden ist. "Jeder Geist, der Jesus [von Nazareth] zunichte macht, stammt nicht von Gott" (l.Joh 4,3). Der Heilige Geist selbst bürgt für die Wahrheit dieser Erkenntnis (l.Joh 2,27; 4,2; 5,6). Im sechsten Kapitel des Johannesevangeliums findet man möglicherweise eine Bezugnahme auf diese Kontroverse. Hier ist die Rede davon, daß die drastischen Bilder, die Jesus im Zusammenhang seiner Ausführungen über das Abendmahl verwendet, die Jünger zu "murren" veranlassen (6,61): "Wer mein Fleisch ißt und mein Blut trinkt, hat ewiges Leben, und ich werde ihn auferwecken am jüngsten Tag" (6,54). Im Zuge von Auseinandersetzungen unter den Jüngern, in denen dieses Thema möglicherweise eine bedeutsame Rolle spielte, kam es zu einer Gemeindespaltung: "Da zogen sich viele seiner Jünger zurück und wandelten nicht mehr mit ihm" (6,66). Gegen diese Andersglaubenden argumentiert das Evangelium im Sinne der These von der ursprünglichen Einheit von Vater und Sohn und verteidigt die "Fleischwerdung" des Menschensohnes. Schon der erste Satz des Evangeliums spricht aus, daß Johannes einer Präexistenzchristologie verpflichtet ist: "Im Anfang war das Wort ... und das Wort war Gott" (1,1). Der präexistente Christus ist zugleich auch der irdische, der Fleisch gewordene Christus: "Und das Wort ward Fleisch und wohnte unter uns" (1,14). Das Johannesevangelium verteidigt wie auch Markus den "ganzen", den "ungeteilten" Jesus Christus. Er ist der Präexistente, er ist der Irdische und er ist der, der wieder hinaufgestiegen ist, dorthin "wo er vorher war" (6,62). Zum Glauben an Jesus Christus gehört der Glaube an die Leiblichkeit des Irdischen als unverzichtbares Element hinzu, denn die Leiblichkeit des Irdischen garantiert, daß sich im Mahlsakrament tatsächlich auch eine echte Anteilhabe am Herrn vollzieht. Sie garantiert, daß die, die am Mahl teilhaben, 194 Zum folgenden bes. L.Schenke: Das johanneische Schisma und die Zwölf (Johannes 6,6071), in: NTS 38/1992, S. 105-121 195 Wogegen sich der 1 .Johannesbrief verwahrt: "Ihr habt nicht nötig, daß euch jemand belehrt" (2,27).

302

IV. Systementstehung

tatsächlich auch voll und ganz zu Christus (und in sein heiliges Reich) gehören: Nur "wer mein Fleisch ißt und mein Blut trinkt, bleibt in mir und ich in ihm" (6,56). Nur wer wirklich Christi Fleisch ißt und sein Blut trinkt, hat auch das ewige Leben und wird am jüngsten Tag auferweckt (6,54). Ißt er nur ein Stück Brot und trinkt einen Schluck Wein, dann hat er nichts. Wenn Christus nicht "im Fleisch" gekommen ist, dann ist er auch nicht als "wahres Passahlamm" geschlachtet worden, dann hat er auch den jüdischen Kult nicht überboten, dann hat er ihn nicht erledigt. Wenn er nicht ursprünglich mit dem Vater eins war, dann könnte man durchaus an Gott glauben, ohne an den Sohn glauben zu müssen. Der monotheistische Glaube des Judentums wäre damit akzeptabel und praktikabel. Weil aber der Sohn und der Vater von Urzeiten her eins sind und Jesus wirklich Mensch geworden ist, wird jeder, der das eine oder das andere bestreitet, zum Antichristen und zu einem Feind Gottes. Für den Umgang mit solchen Feinden Gottes gibt es nur eine Regel, die radikale Trennung, das radikale "Nein". Die Frage, wer sich hinter den Schismatikern aus Kapitel 6 verbirgt, ist noch ungeklärt. Vor dem Hintergrund der auffälligen Zurücksetzung des Jesusjüngers Thomas könnte man neben den gängigen H y p o t h e s e n a u c h erwägen, ob die Schismatiker Thomaschristen waren. Es gibt im Johannesevangelium Passagen, in denen der Verfasser des Evangeliums vermutlich absichtsvoll der historischen Wirklichkeit nicht gerecht wird. In 20,24 wird behauptet, Thomas habe den heiligen Geist nicht empfangen, was im diametralen Gegensatz zum Selbstverständnis der Thomaschristen stand. In 14,5 wird Thomas von Jesus gesagt, er wisse "den Weg" nicht. Gerade das Thomasevangelium aber kennt ein religiöses Curriculum, d.h. einen mehrstufigen Glaubensweg, den jeder einzelne Christ unter pädagogisch-religiöser Führung zu gehen hatte. Das Thomasevangelium kennt ebenso wie das Johannesevangelium einen Lieblingsjünger, nur heißt der Lieblingsjünger hier "Thomas". Und schließlich teilten die Thomaschristen nicht den radikalen Antijudaismus der Johanneschristen. Das Thomasevangelium empfiehlt den Herrenbruder "Jakobus" (Spruch 12) als Führer der Gemeinde. Gerade dieser Herrenbruder wird aber im Johannesevangelium der Seite des Judentums und "der Welt" zugerechnet und absichtsvoll totgeschwiegen (19,26f).197 Wäre die Vermutung zutreffend, daß die Gemeindespaltung von Thomaschristen oder von Jakobus-treuen Christen vollzogen worden ist, dann läge hier nun eine dritte Form der Abgrenzung vor: Abgrenzung durch Diskreditierung von andersglaubenden Christen.

d) Der Referenzbezug der johanneischen Gemeinde auf die ecclesia invisibilis Auch die johanneische Gemeinde rechtfertigt ihre soziale Existenz mit Hilfe eines Referenzbezugs auf die mythische Sphäre der ecclesia invisibilis. Das hat

196 s.o. Anm.185 und Anm.186 197 C.Dietzfelbinger: Bruder

5.3 Johannesevangelium

303

sie mit anderen christlichen Gruppen und anderen frühen christlichen Schriften gemeinsam. Das Schema des Referenzbezugs ist bereits von Paulus her bekannt. Wie Paulus den "Leib Christi", so deutet Johannes die "Einheit von Vater und Sohn" als den mythischen Referenzraum des Glaubens. "Wer in der Christusgemeinschaft steht, hat im Grunde alles. Er ist hineingenommen in das Kraftfeld der Liebesgemeinschaft zwischen Vater und Sohn". 198 Di e j 0 hanneischen Christen sind Gottes Eigentum ("sie sind dein" 17,9). Sie sind Teilhaber an der ecclesia invisibilis. Jesus betet in 17,10 zum Vater: "und alles, was mein ist, ist dein, und was dein ist, das ist mein, und ich bin in ihnen [den Johanneschristen] verherrlicht". Die Johanneschristen leben zwar noch "in der Welt" (17,11), aber sie gehören nicht mehr der johanneisch verstandenen Sphäre der "Welt" an. Sie sind nicht "von der Welt" (17,14). Sie sind "eins", wenn und so lange wie sie "im Namen" des heiligen Vaters und (bei Johannes stets auch) im Namen des heiligen Sohnes "erhalten" werden (17,11), so lange sie in der Sphäre des heiligen Gottes "bleiben". Den Begriff des "Bleibens" verwendet der Autor des Johannesevangeliums häufig, wenn es darum geht, den dauerhaften Referenzbezug der einzelnen Christen, aber auch der Johannesgemeinschaft auf den Herrschaftsraum Gottes zum Ausdruck zu bringen. In der Bildrede vom Weinstock (15,1-8) heißt es sehr anschaulich: "Bleibet in mir, und ich [bleibe] in euch! Wie das Schoss nicht von sich aus Frucht tragen kann, wenn es nicht am Weinstock bleibt, so auch ihr nicht, wenn ihr nicht in mir bleibt" (15,4). "Wenn ihr meine Gebote haltet, dann bleibt ihr in mir" (15,10). Von daher kann der Verfasser des Johannesevangeliums dann auch weitergehende Folgerungen für das Verhalten der Christen innerhalb der ecclesia visibilis ableiten. Auch hier geht es wieder um eine möglichst weitgehende Entsprechung zwischen ecclesia invisibilis und ecclesia visibilis. Dennoch sind Unterschiede etwa zwischen Paulus und Johannes deutlich wahrnehmbar. Das Johannesevangelium argumentiert einerseits pauschaler als Paulus mit seiner differenzierten Charismenlehre. Andererseits legt es ein deutliches Gewicht auf die individuelle Christusbeziehung und die persönliche Entsprechung zum mythischen Referenzraum. "Wer sagt, daß er in ihm bleibt, der ist verpflichtet, auch selbst so zu wandeln, wie er gewandelt ist" (l.Joh 2,6). "Wer in ihm bleibt, der sündigt nicht" (l.Joh 3,6). "Wer recht tut, der ist gerecht, gleich wie er gerecht ist" (l.Joh 3,7). "In ihm ist keine Sünde. Wer in ihm bleibt, der sündigt nicht" (lJoh 3,6). "Wer seine Gebote hält, der bleibt in ihm und er in ihm" (1 Joh 3,24). Aber auch die kollektive Ebene ist im Blick und wird nicht völlig vernachlässigt: "Wenn wir im Licht wandeln, dann haben wir Gemeinschaft untereinander" (l.Joh 1,7). Auch im Johannesevangelium finden sich die zentralen Referenzaspekte, die bereits die Reich-Gottes-Predigt Jesu ausgezeichnet haben: lieben und dienen: "Das ist mein Gebot, daß ihr einander lieben sollt, wie ich euch geliebt habe" (15,12). 199 Als Schlüsseltext kann die Fußwaschungsszene aus Kapitel 198 J.Roloff: Kirche, S.300 199 Vgl. 13,34f; 15,17; l.Joh 4,7ff - über Gottes vorausgehende Liebe: 3,16

IV. Systementstehung

304

13 gelten. Die Fußwaschung ist ein Zeichen der dienenden Liebe, die Jesus selbst jedem der Seinen zukommen läßt. Sie ist Zeichen der dezidiert antihierarchischen Organisationsstruktur des Reiches Gottes. Gleichzeitig ist sie auch normative Vorgabe für die Christen: "Wenn nun ich, der Herr und der Meister, euch die Füße gewaschen habe, ist es auch eure Pflicht, einander die Füße zu waschen ... Wahrlich ich sage euch, ein Knecht ist nicht größer als sein Herr, noch ein Gesandter größer als der, welcher ihn gesandt hat" (13,14 und 16). Hinzu kommt auch hier wieder der Aspekt des Leidens, der auf das Christusschicksal rekurriert. Zur Entsprechungssituation, in der die ecclesia visibilis und ihre Mitglieder stehen, gehört schließlich auch die Teilhabe am Leiden Christi: "Wenn die Welt euch haßt, so erkennt, daß sie mich vor euch gehaßt hat" (15,18).200 Voraussetzung und Ziel der Isomorphiebeziehung von ecclesia invisibilis und johanneischer ecclesia visibilis ist die Einheit von Vater, Sohn und Gemeinde. In seinem großen Abschiedsgebet bittet Jesus "daß alle eins seien, wie du, Vater, in mir bist und ich in dir, daß auch sie in uns eins seien" (17,21). e) Integration der Gruppe in den größeren Verband der überregionalen ecclesia visibilis 1. Die ecclesia visibilis als corpus permixtum: An zwei Stellen verwendet das Johannesevangelium die Vorstellung von den "zwölf" Jüngern Jesu mit Blick auf die Vielzahl der Christen und die Vielfalt christlicher Gruppierungen. Unmittelbar im Anschluß an die Notiz über die Gemeindespaltung ("Von da an zogen sich viele seiner Jünger zurück") heißt es: "Jesus sprach nun zu den Zwölfen: Wollt auch ihr hinweggehen? Simon Petrus antwortete ihm: Herr, du hast Worte des ewigen Lebens und wir haben geglaubt und erkannt, daß du der Heilige Gottes bist. Jesus antwortete ihm: habe ich nicht Zwölf erwählt? Und unter euch ist einer ein Teufel" (6,67-70). Aus diesem Text lassen sich einige Hinweise auf das johanneische Verständnis von der ecclesia visibilis entnehmen. Die abgespaltenen Jünger werden nicht mehr zum Kreis der Christen hinzugezählt. Nur wer zum Kreis der "Zwölf" gehört, gehört auch zu Jesus. Zu diesem Kreis der Zwölf gehört Petrus. Er tritt in hervorgehobener Stellung als Sprecher des Zwölferkreises auf und spricht das entscheidende Bekenntnis: "Du bist der Heilige Gottes". Zu diesem Kreis der Zwölf gehört aber auch Judas Ischariot, "der Teufel". Man wird folglich nicht fehlgehen, wenn man dem Verfasser des Johannesevangeliums unterstellt, daß er die sichtbare Kirche Jesu Christi als corpus permixtum ansieht. Nicht jeder und nicht alle, die in der Kirche versammelt sind und den Namen des Herrn anrufen, sind auch Heilige. Selbst unter den berufenen Christen befand sich ein Ischariot. Man könnte hinzufugen, unter ihnen befand sich auch ein Thomas, der den heiligen Geist nicht empfangen hat (20,24) und den Weg des Lebens nicht weiß (14,5). In ver200 Vgl. l.Joh 3,16

5.3 Johannesevangelium

305

gleichbarer Weise hat auch das Matthäusevangelium die irdische Kirche als ein corpus permixtum angesehen. In Mt 22,10 (königliche Hochzeit) heißt es: "Und jene Knechte zogen aus auf die Straßen und brachten alle zusammen, die sie fanden, Böse und Gute." Auch für Matthäus war die irdische Kirche ein "unscheidbares Ineinander von Bösen und Guten".201 i m Gleichnis vom Unkraut unter dem Weizen (13,24-30) und vom Schleppnetz (13,47-50) kommt das ebenfalls zum Ausdruck. Bei Lukas ist der Gedanke vom corpus permixtum ebenfalls aufzufinden. Er läßt Paulus in seiner Abschiedsrede sagen: "Auch aus eurer eigenen Mitte werden Männer auftreten, die verkehrte Dinge reden, um die Jünger in ihre Gefolgschaft zu ziehen" (Apg 20,30). Die Belege sprechen dafür, daß sich in den letzten Jahrzehnten des ersten Jahrhunderts in der Christenheit ein interfraktionelles Gefühl für das gemeinsame "Kirche sein auf Erden" ausgebildet hat. Auch scheint man begriffen zu haben, daß eine irdische überregionale und fraktionenübergreifende ecclesia visibilis immer nur ein corpus permixtum sein kann. Die sichtbare Kirche ist eine Kirche, in der Unkraut und Weizen untrennbar miteinander vermischt sind. Sie ist eine Kirche, die aus diesem Grund ständig auch aus ihren eigenen Reihen heraus bedroht ist. Die Evangelisten waren der Meinung, die regionen- und gruppenübergreifende ecclesia visibilis habe angesichts dieser Bedrohung auf den Gerichtstag des Herrn zu warten. In diesem Punkt sind spätere Christengenerationen anderer Meinung gewesen. 2. Petrus, die Zwölf und der Lieblingsjünger: Zwei Personen aus dem Jüngerkreis Jesu treten im Johannesevangelium in einer offensichtlich herausgehobenen Position auf. Zum einen ist dies der namenlose Lieblingsjünger, dessen Funktion bereits dargestellt worden ist. Zum anderen ist dies Petrus. "Beide Figuren stehen eigenwertig nebeneinander".202 Der Lieblingsjünger ist der Leitapostel der johanneischen Christen, Petrus ist Sprecher der Zwölf. In der dritten nachchristlichen Generation hat die Vorstellung von "zwölf" Jüngern bzw. Aposteln Jesu Christi neue Funktionen b e k o m m e n . 2 0 3 sie war zwar erheblich älter, geht möglicherweise auf Jesus selbst zurück und ist Bestandteil des vorpaulinischen Auferstehungsbekenntnisses (l.Kor 15,5), aber erst in den letzten Jahrzehnten des ersten Jahrhunderts erhielt die Formel von den "Zwölf" auch ekklesiologische Bedeutungen. Bei Lukas werden die 12 Zeugen der Auferstehung mit der Verkündigung und Verbreitung des Christentums betraut (Apg 2,22f; 4,10). Sie wurden gewissermaßen zu Gründungsvätern des Christentums, und damit fiel ihnen ein Wächteramt über die Kirche zu. Sie hatten als Rückkopplungsinstanz die Ursprungsbindung des Christentums zu gewährleisten, den gesamten Entwicklungsprozeß des Christentums zu kontrollieren und für die Wahrheit der Glaubensentwicklungen zu bürgen. Zugleich 201 J.Roloff: Kirche, S. 160 202 L.Schenke: Schisma, S . l l l 203 Über die Funktion der "Zwölf" bei Lukas und Matthäus: J.Roloff: Kirche, S.212-214. Die Vorstellung von "den Zwölf" als Konstruktion der dritten Generation der Christenheit: H.Conzelmann: Geschichte, S.102

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IV. Systementstehung

sind "die Zwölf" aber auch Symbolfiguren, die die Möglichkeit einer irdischen Gemeinschaft von Andersglaubenden darstellen. In dieser Funktion begegnen "die Zwölf" im Johannesevangelium. Im Johannesevangelium werden die Zwölf durch einen Sprecher vertreten, durch Petrus, der für seinen Glauben den Zeugentod gestorben ist (13,36; 21,18f). Im Nachtragskapitel (Joh 21) wird, wohl aus der Hand eines Schülers des Verfassers, zwischen dem johanneischen Leitapostel, dem "Lieblingsjünger, und Petrus eine signifikante Koppelung vollzogen. Zunächst bestimmt der auferstandene Christus Petrus zum "Hirten der Schafe" (21,15-17). Als Petrus sich umblickt, sieht er, daß der Lieblingsjünger "ihm folgt" (21,20). Ludger Schenke hat die Ansicht vertreten, der Nachtrag des Johannesevangeliums sei möglicherweise auch ein Nachtrag zur Gemeindegeschichte der johanneischen Christen. "Die Absicht des Evangelisten / Redaktors dürfte es gewesen sein, die durch das Schisma hindurchgegangene 'johanneische' Restgemeinde unter Wahrung ihrer Eigenart und Tradition in den Verband der von Petrus und den Zwölf repräsentierten Christengemeinde zu i n t e g r i e r e n " . 2 0 4 vielleicht läßt sich das 21. Kapitel des Johannesevangeliums im Zusammenhang mit der ansteigenden Sensibilisierung für die Tatsache, daß die irdische Sozialgestalt der Kirche immer ein corpus permixtum ist, als ein Indiz dafür ansehen, daß sich das Bewußtsein für die Zusammengehörigkeit einer überregionalen ecclesia visibilis (symbolisiert im Bild von "den Zwölf") verstärkt hatte. In den letzten Jahrzehnten des ersten Jahrhunderts hätte dann die Verdichtung und Verknüpfung der mehr oder weniger eigenständigen und bisweilen auch völlig inkompatiblen frühchristlichen Systemgründungen deutlichere Fortschritte gemacht. Man begann, über das eigene "Kirchesein auf Erden" nachzudenken, womit dann auch das Bedürfnis gewachsen wäre, über die Gräben gegenseitiger Abgrenzungen und Kontroversen hinweg Brücken zu schlagen, um die Verbindungen untereinander zu festigen und die Gemeinsamkeiten deutlicher hervorzuheben. f) Fazit 1. Das Johannesevangelium zeigt gegenüber dem Korintherbrief und dem Markusevangelium eine deutlich veränderte Perspektive. Hier geht es um eine relativ glaubenshomogene Christengemeinschaft, die durch den Außendruck, der durch den Konkurrenzkampf der Religionen und der frühchristlichen Gruppen ausgelöst worden ist, zur Profilierung ihrer eigenen Identität und zur Identitätssicherung gezwungen wurde. In der Auseinandersetzung mit einer unfreundlichen Umwelt werden Strategien des Systemerhalts und der Systemstabilisierung eingesetzt. Mit Hilfe von Degradierung, radikaler Ausgrenzung und Diffamierung schützten sich die Johanneschristen vor Infragestellungen und Anfeindungen. Der elitäre Anspruch, die Wahrheit des Christentums in besonders hervorragender Weise zu vertreten, sicherte der Gruppe eine starke Binnenko204 L.Schenke: Schisma, S.121

5.3 Johannesevangelium

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härenz. Damit ist ein Aspekt thematisiert, der systemtheoretisch generell bedeutsam ist. Systeme müssen sich selbst erhalten. Sie müssen in der Lage sein, ihre Grenzen, ihr Profil und ihre Kohärenz auch unter Konkurrenzbedingungen aufrecht zu erhalten. Unter Umständen sind sie gezwungen, ihre Grenzen um den Preis von Umweltkompatibilität künstlich zu überhöhen, um sich selbst zu erhalten. Bei den Johanneschristen läßt sich das beobachten. Der Systemschutz hat hier eindeutige Priorität. Dann erst folgt, gewissermaßen in einem zweiten Schritt, die ökumenische Offenherzigkeit und Weite. Die Einbindung der eigenen Gruppe in den größeren Zusammenhang der "Petruschristenheit" erfolgt auf der Grundlage eines geklärten Selbstverständnisses, ja sogar eines elitären Wahrheitsanspruchs. 2. Bei allem Beharren auf (existenzsichernder und bewahrender) Eigenständigkeit teilt auch die Johannesgemeinde den grundlegenden Referenzbezug auf die Reich-Gottes-Verkündigung Jesu Christi und den grundlegenden Referenzbezug auf den ungeteilten Jesus Christus. Die Integration der Johanneschristen in den regionen- und gruppenübergreifenden Verband der Christenheit, die im 21.Kapitel vorgenommen wird, war von daher keineswegs unberechtigt. Diese auf völlig anderem Weg gewonnene Einsicht, bestätigt eine Annahme Martin Hengeis, der in seinem Johannesbuch die Vermutung geäußert hat, "daß die johanneische Schule gegenüber einer sich langsam formierenden 'Großkirche' durchaus offen war, daß man nicht von streng abgeschlossenen johanneischen Sondergemeinden sprechen darf'".205

5.4 Rom - Das Miteinander der Andersglaubenden und der Alltag des Christseins Abschließend soll noch ein kurzer Blick auf die Stadtchristenheit in Rom geworfen w e r d e n . 206 p e ter Lampe hat gezeigt, daß die Verhältnisse in der römischen Christenheit noch um einiges bunter waren als die, die Paulus aus dem Korinth der 50er Jahre des ersten Jahrhunderts zu schildern w u ß t e . A u c h in Rom hat sich ein Systementstehungsprozeß vollzogen, in dessen Verlauf die Stadtchristenheit zu einer einheitlichen Organisation wurde und zu klaren Abgrenzungskriterien gegenüber Andersglaubenden fand. In der ersten Hälfte des zweiten Jahrhunderts aber war die Christenheit von Rom noch ein fraktioniertes Gebilde mit einer interessanten Gesamtstruktur und einem großen Spektrum an individueller und gruppenspezifischer "Gemeindefrömmigkeit". Beides soll nun dargestellt werden. 205 M.Hengel: Frage, S.159 206 Auch in der Stadtchristenheit von Alexandrien waren verschiedene Gruppen versammelt. Vgl. dazu K.Koschorke: Gemeindeordnung, S.49 Anm.92 und S.50 Anm.95 207 P.Lampe: Die stadtrömischen Christen in den ersten beiden Jahrhunderten, Tübingen 21989

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IV. Systementstehung

a) Das Miteinander der Verschiedenen Rom war ein Schmelztiegel, in dem Menschen aus aller Herren Länder zusammenkamen und ihre Religionen m i t b r a c h t e n . 2 0 8 j) a s Christentum war schon vor Paulus nach Rom gelangt (Römerbrief). Im zweiten Jahrhundert war dort bereits eine stattliche Anzahl von christlichen Gruppen versammelt. Neben den Christen, für die etwa der 1.Clemensbrief oder der "Hirt" des Hermas als Zeugnis steht, gab es dort Valentinianer und weitere gnostische Gruppen (Cerdo), Karpokratianer, Quartodezimaner, Nasiräer^O^ Marcioniten und andere 2 1 0 . Die Vielfalt der urchristlichen Anfänge hatte sich in Rom in eine Vielzahl von christlichen Gruppen hinein fortgesetzt, ohne daß darüber jedoch ursprüngliche Trennungslinien beibehalten worden wären. Es gab wechselseitige theologische Anregungen zwischen den Gruppierungen, aber auch Traditionsabbrüche und Oppositionen, die wohl nicht nur einem Kritiker des Christentums wie Celsus schwer verständlich waren. Celsus hat den wohl nicht unberechtigten Vorwurf erhoben, im Christentum "woge eine Vielfalt von Gedanken, Stimmungen und Bräuchen durcheinander".211 Die Gruppen lebten ihr Christentum als Hausgemeinschaften, konnten aber auch nach anderen Organisationsvorbildern als Philosophenschule (Justin; Valentinianer) oder Mysterienverein (Karpokratianer) strukturiert sein. Zu diesem bunten Bild paßt die lockere Gesamtorganisation der stadtrömischen Christenheit. Das "Gewährenlassen" ist eines der hervorstechendsten Merkmale der stadtrömischen Gesamtchristenheit. "Vor dem Ende des 2.Jh., speziell vor dem Episkopat Viktors (ca. 189-199 n.Chr.), sprach in Rom kaum eine Christengruppe einer anderen das Bruder-/Schwester-Sein ab ... Kaum eine Gruppe kündigte einer anderen die Kirchengemeinschaft a u f " . 2 1 2 £>as güt selbst für die Gemeinschaft mit gnostischen G r u p p e n . 2 1 3 g r o ße Stadt begünstigte offenbar das Nebeneinander der verschiedenartigen christlichen Gruppen. Organisatorisch waren sie innerhalb der Stadt Rom lediglich durch eine Art von "Presbyterkonvent" verbunden, in dem sich delegierte Presbyter und Lehrer aus den einzelnen Gruppen in unregelmäßigen Abständen versammelten.214 Nach einem Zeugnis des Hermas hat der Presbyterkonvent einen "Clemens" dazu bestimmt, die Außenkontakte der Gesamtgemeinde abzuwickeln oder zu koordinieren (Herrn Vis II 4,3). An der gleichen Stelle wird außerdem berichtet, daß der Kovent eine Frau namens

208 Auch die geistlichen Führer der römischen Christenheit stammten nicht aus Rom, sondern waren zugereist. Vgl. die Belege bei P.Lampe: Christen, S.128 209 K.Berger: Theologiegeschichte, S. 162-164 210 Vgl. die Zusammenstellung von P.Lampe, Christen, S.320f 211 Orígenes: Contra Celsum V,61-65 212 P.Lampe: Christen, S.324 213 G.Lüdemann: Zur Geschichte des ältesten Christentums in Rom, in: ZNW 70/1979, S.94f und S.112 Anm.81. "Im Glauben des Volkes bilden 'orthodoxes' Christentum und 'gnostisches' Christentum einen viel geringeren Gegensatz als in der Theologie" W.Rebell: Apokryphen, S.148 214 P.Lampe: Christen, S.338f

5.4 Rom

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"Grapte" beauftragt hat, die Witwen und Waisen zu u n t e r r i c h t e n . 2 1 5 Darüberhinaus könnte es unter einzelnen Gruppen gängige Praxis gewesen sein, sich gegenseitig das Abendmahl oder Agapen z u z u s c h i c k e n . 2 1 6 b) Der Alltag des Christseins - "Fernstehende" in Rom Der "Hirt des Hermas", der vermutlich zwischen 140 und 150 in Rom entstanden ist, vermittelt interessante Einblicke in den Alltag des Christseins in der Hauptstadt des römischen Reiches. Hermas ist als Autor selbst repräsentativ für ein Alltagschristentum, in dem vieles schlichter und bodenständiger gesehen und angefaßt wurde als bei den großen Theologen und Vordenkern des Christentums. Hermas verfügte über ein eher niedriges Bildungsniveau. Seine theologischen und c h r i s t o l o g i s c h e n ^ l " ? Ansichten sind als "flach" bezeichnet worden. Pagane volkstümliche Vorstellungen und genuin christliche Überzeugungen sind miteinander verwoben. Die Ethik steht ganz im Vordergrund des Christseins. Christsein bedeutet für Hermas vor allem Gebotserfüllung. In dieser Überzeugung verficht er die Grundnormen der jüdischen Zwei-WegeL e h r e . 2 1 8 Er vertritt das Ideal eines ruhigen, selbstgenügsamen Lebens und weiß genug von den materiellen Anforderungen des Alltags, um sich über die Anfälligkeiten und die Menschlichkeiten seiner Mitchristen nicht hinwegzutäuschen. Vor allem mit Blick auf die Wohlhabenderen unter den Christen, die in die Zwänge des Wirtschaftslebens verstrickt sind, fordert er in seiner Schrift die Möglichkeit einer zweiten Buße. Werden die Wohlhabenderen durch allzu schroffen Bußrigorismus aus der Gemeinde getrieben, so stagniert auch die Armenfürsorge, die wohl in nicht wenigen Fällen gerade zur Attraktivität der christlichen Gemeinden Entscheidendes beigetragen hat. In der Begründung seines Anliegens finden sich eine Vielzahl von Informationen darüber, wie der Alltag des Christseins im zweiten Jahrhundert aussehen k o n n t e . 2 1 9 p e ter Lampe hat einige der Belege zusammengestellt, die in einer längeren Passage zitiert werden sollen: "Die eindringliche Paränese an die Reichen im Hirt des Hermas zeigt, wie viele schlecht versorgte Arme es gibt: Witwen, Waisen, Bettelarme ...Vis III 12,2 deutet soziale Schwierigkeiten der Alten an, die mit 215 Über die Existenz eines "diakonalen Kreises" neben einem "presbyteralen Kreis" (Harnack) vgl. N.Brox: Der Hirt des Hermas, Göttingen 1991, S.109 216 Justin, Apol I 67,6; vgl. dazu N.Brox: Kirchengeschichte des Altertums, Düsseldorf 4 1992, S.86 217 Das Hermasbuch spricht weder von "Jesus" noch von "Christus". W.Rebell attestiert ihm eine "defizitäre" Christologie (Apokryphen, S.266); N.Brox konstatiert mit Lipsius, daß Hermas "nirgends über den streng judenchristlichen Monarchianismus" hinausgeht. - Hirt, S.494 vgl. 485-495 218 Tugend- und Lasterkataloge in Vis III 8,2-8; Mand VI-VIII; XII 3,1; Sim IX 15,2-3 und 18,5-24,2 219 vgl. neben P.Lampe auch M.Leutzsch: Die Wahrnehmung sozialer Wirklichkeit im "Hirten des Hermas", Göttingen 1989

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IV. Systementstehung

der Armut zu kämpfen haben ... An Bedürftige, besonders an Witwen und Waisen zahlt die christliche Gemeinschaft durch Diakone Lebensunterhalt; nur bereichern einige Diakone sich dabei schändlicherweise, anstatt getreulich zu verteilen (Sim IX 26,2) ... Hermas kennt auch viele Reiche in der Gemeinde. Sie haben Vermögen und Geldmittel, die sie auch verleihen (Mand VIII 10) ... In ihre Geschäftspraktiken schleichen sich Betrug (Sim I 11, cf. Mand III 3) und Raffgier ein (Sim I 11; VI 5,5; Vis ΠΙ 9,2). Das Christentum dieser Menschen ist verflacht. Der Reiche hat ein 'Frömmigkeitsdefizit': der Arme muß für ihn mitbeten (Sim Π 5-8) ... Sie pflegen engen Kontakt zur heidnischen Umwelt und sind in Freundschaften mit Nicht-Christen verwickelt (Mand X 4) ... Die Folge ist, daß ihr Band zur christlichen Gemeinde sich lockert, sie pflegen nicht mehr fleißig die Gemeinschaft (Sim VIII 8,1 und 9,2), sondern halten sich zur Gemeinde nur noch verdriesslich und in der Angst, angebettelt zu werden (Sim IX 20; VIII 9,1). Vom Christengott sind sie zwar nicht abgefallen, aber von den Werken des Glaubens (Sim VIII 9,1). - Einige haben freilich auch den Glauben verlassen und sind, beseelt von der kenodoxia [Irrtum], gänzlich ins pagane Lager übergewechselt (Sim VIII 9,3)".220 Dieser kurze Einblick in wenige Alltagsaspekte der römischen Gemeinde bestätigt eindrucksvoll, daß die Einsichten der allgemeinen Systemtheorie auch für kirchliche Sozialsysteme gelten. Wo der Glaube an die unsichtbare Kirche Jesu Christi sich in sozialen Systemgründungen niederschlägt, da beginnen auch innerhalb der kirchlichen Sozialsysteme unweigerlich die Gesetzmäßigkeiten der Systementstehung und Systementwicklung zu wirken. Da ist auch die (irdische) Kirche mit Restkontingenz und Kohärenzdefiziten konfrontiert. So war es in Korinth, so war es auch in Rom, und so ist es natürlich auch heute. Die Möglichkeiten zur Durchsetzung eigener Interessen und persönlicher Freiheiten nehmen in dem Maße zu, wie das Sozialsystem an numerischer Komplexität wächst. In hochkomplexen Systemen sind die Freiheiten entsprechend umfangreich, die Abweichungstendenzen erwartbar hoch und Mißbrauchsmöglichkeiten nicht mehr zu unterbinden. Die Wirklichkeit des Gemeindealltags sah immer schon anders aus, als die Theologen sie sich vorgestellt haben.

6. Ergebnisse 1. Jesus von Nazareth hat als "Zeigefinger Gottes" auf das Reich Gottes hingewiesen und seine Herrschaft in Wort und Tat verkündet. Der mythische Raum der Gottesherrschaft ist eine einheitliche, heilige und universale Raum220 P.Lampe: Christen, S.71-73; vgl. N.Brox: Hirt, S.517-520; M.Leutzsch: Wahrnehmung, S.113 und 127-137

6. Ergebnisse

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Sphäre. Zentrale Systemnormen, die in diesem Raum gültig sind, sind eine antihierarchische Grundstruktur und die Verpflichtung auf die Dienst- und Liebesgemeinschaft. Im Glauben an die (verborgene - Mk) Gegenwart dieses Reiches, in der Hoffnung auf sein zukünftiges Kommen, und in der Akzeptanz der in diesem Reich gültigen Normen erwies sich die Zugehörigkeit des einzelnen Jüngers zu den "Kindern des Reiches". Jesus hat von den Jüngern erwartet, daß sie die Systemnormen des Reiches nicht erst in Zukunft, sondern schon in der Gegenwart, in ihrem irdischen Dasein, befolgen. 2. Nach Ostern wurde Jesus selbst als "Christus Gottes" zu einem unablösbaren Teil des mythischen Raumes des heiligen Gottes. Das Glaubensbekenntnis der werdenden Christenheit ist ein Christusbekenntnis, nicht bloß ein Gottesbekenntnis. 3. Das Neue Testament dokumentiert einzelne Schritte und Etappen aus dem Prozeß der Kirchwerdung des frühesten Christentums. Die ecclesia visibilis, die Kirche im Werden, wie sie im Neuen Testament vorgestellt wird, ist nicht identisch mit dem Reich Gottes (der ecclesia invisibilis), auf das Jesus von Nazareth hingewiesen hat. Die Anfange des organisierten Christentums waren vielstimmig und heterogen, weil das Christusereignis polysem war. Die ersten christlichen Gruppierungen entstanden in Anknüpfung, in selektiver Auswahl, aber auch in unterschiedlicher Gewichtung der zahlreichen Aspekte und Facetten des Wirkens und der Verkündigung Jesu von Nazareth. Alle Gruppen haben einen erkennbaren Referenzbezug auf Jesus Christus, aber die Schwerpunkte und Prioritäten waren im einzelnen unterschiedlich gesetzt. 4. Demgegenüber entstand die ecclesia visibilis, die sich als soziale Antwort auf die Verkündigung und das Schicksal Jesu Christi entwickelte, unter den einflußnehmenden Bedingungen der Systementwicklung sozialer Systeme. Nach den allgemeinen Gesetzmäßigkeiten der Systementwicklung mußte mit verlängertem Zeithorizont und anwachsender Komplexität auch "die Welt" in das Sozialsystem Einzug halten. Die Systementwicklung vollzog sich unter dem Eindruck signifikanter Umweltbedingungen und Umwelteinflüsse, interner Abgrenzungs- und Profilierungsnotwendigkeiten und deutlicher Kontingenzspielräume der Mitglieder. Die Weisungen des Paulus an die Korinther zeigen, daß er nicht nur die gottesdienstliche Versammlung (vgl. CA VII) als "Geschehen von Gemeinde" ansah. Vielmehr hat er den gesamten Bereich des alltäglichen Zusammenlebens in sein Verständnis von der Gemeinschaft im Leib Christi hineingenommen. Es war ihm mitnichten gleichgültig, wie jemand (außerhalb des Gottesdienstes) lebte. Gerade das zeigt, daß die "ungeistlichen Freiheiten" (die Kontingenzspielräume) der Mitglieder, die im Blick auf das Reich Gottes unvorstellbar sind, in einem Sozialsystem nicht zu unterbinden waren und zu unterbinden sind. 5. Der Prozeß der Herausbildung einer überregionalen ecclesia visibilis, der "Kirchwerdung" des Christentums, hat wohl erst gegen Ende des ersten Jahrhunderts mit der zunehmend einheitlichen Orientierung am "ganzen" Jesus

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IV. Systementstehung

Christus und der Ausrichtung des christlichen Gemeindelebens auf die antihierarchischen Normen des von Jesus verkündigten Reiches Gottes eine eindeutige Richtung gefunden. Damit waren Kriterien gefunden, die es einerseits gestatteten, an der Gemeinsamkeit der Verschiedenartigen festzuhalten, die es andererseits aber auch ermöglichten, Andersglaubende zu erkennen, sie zu ermahnen, zurückzuweisen oder abzulehnen. 6. Mit dem ansteigenden Bewußtsein für das eigene "Kirchesein auf Erden" scheint sich auch das Bewußtsein für die Tatsache gefestigt zu haben, daß jede Form von ecclesia visibilis immer ein corpus permixtum ist. Unkraut ist dem Weizen beigemischt, Böse und Gute sind in jeder Gemeinde, ja, selbst am Tisch des Herrn, miteinander versammelt. Es ist nicht Aufgabe der Christen, das Unkraut vom Weizen zu scheiden und das Unkraut auszureißen (Mt 13,29). Aber es ist auch nicht ihre Aufgabe, sich bedingungslos jeder ungeistlichen Neigung ihrer Mitglieder anzupassen (l.Kor 5,13). 7. In den ersten beiden Jahrhunderten nach Christus hat es keine einheitliche, überregionale ecclesia visibilis g e g e b e n . 221 Schon aufgrund der Polysemie des Christusereignisses konnte es eine solche sichtbare Einheit gar nicht geben. Die Einheit der Christenheit ist durch den Referenzbezug auf den mythischen Herrschaftsraum Gottes (ecclesia invisibilis) begründet, den alle christlichen Gruppen (trotz ihrer Differenzen in Glaubensinhalten und Religionskulturen) gemeinsam haben. Sie war nie soziale Realität, sondern immer eine erglaubte Wirklichkeit. Sie wird weder durch menschliche Gemeinsamkeiten noch durch homogene Glaubensüberzeugungen, schon gar nicht durch die gemeinsame Mitgliedschaft in einer regionenübergreifenden Großorganisation begründet. 8. Der Entstehungsprozeß einer überregionalen ecclesia visibilis im Sinne der "einen, heiligen, universalen und apostolischen" Kirche Jesu Christi auf Erden kam erst in nachbiblischer Zeit mit der Abgrenzung des Kanons der biblischen Schriften, der Festlegung des Glaubensbekenntnisses und der Herausbildung des monarchischen Episkopats zu einem vorläufigen Abschluß. Auch diese unter Trennungen und Brüchen vollzogene und erkämpfte "sichtbare Einheit" der Christenheit trug bereits deutliche Spuren der Abweichung von der Reich-Gottes-Verkündigung Jesu Christi in sich. Einen "monarchischen Episkopat" auf Erden hatte Jesus gerade nicht vorgesehen. Er hatte stattdessen auf die Dienstverpflichtung aller Christen hingewiesen ("Wer unter euch groß sein will..."). Auch die Begründung der sichtbaren Kirche als "apostolischer" Kirche war zwar ein überaus kluges Kriterium, verhinderte es doch durch die Rückbindung an die Ursprungssituation eine unkontrollierte charismatische oder spekulative Weiterentwicklung und Aushöhlung des Christentums. Jesus selbst aber hatte dieses Kriterium nicht gekannt. Das Reich Gottes, das er verkündigte, war antihierarchisch. Es war "eins". Es war "heilig". Es war nicht nur "universal", sondern auch lokal vollständig gegenwärtig, aber "apostolisch" war es nicht. 221 M.Elze: Häresie und Einheit der Kirche im zweiten Jahrhundert, in: ZThK 71/1974, S.397f

6. Ergebnisse

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Markus hatte das erkannt. Aber die Großkirche des dritten Jahrhunderts nach Christus hat die markinische Warnung vor der "Schwäche" der Apostel ignoriert. Sie folgte der Entwicklungsdynamik aller Sozialsysteme, die ohne eindeutige Präferenzordnung und systeminterne Kontingenzkontrolle nicht überlebensfahig sind. In dieser Hinsicht ist jede Form einer sichtbaren Kirche auch theologisch betrachtet ein "corpus permixtum". Die sichtbare Kirche hat, weil sie immer auch ein Sozialsystem ist, keine Möglichkeit, ihre eigene Existenz zu rechtfertigen, ohne in diese Rechtfertigung ein Körnchen Eigenmächtigkeit und damit auch ein Körnchen Unwahrheit hineinzuweben. Für die praktisch-theologische Bemühung um eine Theorie der Kirchengemeinde ergeben sich aus dem Gesagten drei Konsequenzen: 1. "Kirchengemeinden" im heutigen Sinn kennt das Neue Testament nicht. Die frühchristlichen Gruppen und Zirkel waren nicht in das feste Organisationsgefüge eines überregionalen Systems eingebunden und wohl auch keiner durchsetzungsfähigen Leitungsinstanz u n t e r s t e l l t . 2 2 2 Dort, wo man am ehesten neutestamentliche Entsprechungen zu unserer heutigen Institution der parochialen "Kirchengemeinde" auffinden kann, in Städten wie Jerusalem, Antiochien oder Korinth, herrschte ein spannungsvolles Miteinander von Unterschiedlichen und Andersglaubenden. Die "Christenheit am Ort" war in der Regel nicht bekenntnishomogen.^223 si e w a r zunächst einmal lediglich die Summe derjenigen, die in einer Stadt an Jesus Christus glaubten, wie auch immer ihr Glaube im einzelnen inhaltlich gefüllt war, welcher Gruppierung sie sich zugehörig fühlten und wie sie ihren Glauben konkret gelebt haben. Wollte man daraus ein "Gemeindebild" e x t r a h i e r e n 2 2 4 könnte man allenfalls davon sprechen, daß Menschen, die von Herkunft, Tradition, Lebensweise und Bildung verschieden und in ihrem Christusglauben unterschiedlich überzeugt waren, an einem Ort oder in einer Region aufeinandertrafen, sich mißverstanden, einander irritierten, gleichwohl aber in ihrer sakramentalen Bindung an Jesus Christus miteinander Christen waren. j

2. Der neutestamentliche Befund erlaubt es nicht, eine der frühchristlichen Gruppierungen oder eines der Entwicklungsstadien herauszugreifen und als maßgebliches Modell der "einzig richtigen" Kirchengemeinde zu präsentieren, die sämtlichen anderen Sozialformen des Christentums vorzuziehen wäre. Er eröffnet vielmehr die Einsicht in die Vielfalt der frühen christlichen Sozialformen, die je und je mit plausiblen Begründungen und unter spezifischen Bedingungen gewachsen sind. Von daher erscheint es nicht sinnvoll, das Wesen der 222 Über die Vormachtanspriiche Jerusalems und die damit verbundenen "zentralistischen Ambitionen" M.Hengel: Die Zeloten. Untersuchungen zur jüdischen Freiheitsbewegung in der Zeit von Herodes I bis 70 nach Christus, Leiden u.ö. 1961, S.319-365 223 Vom johanneischen Kreis könnte man das zwar behaupten, aber auch der johanneische Kreis stand ja "am Ort" in massiven Spannungsfeldern und bemühte sich um klare Abgrenzungen gegenüber Andersglaubenden. 224 Was nicht unproblematisch ist, weil die konkreten Situationen und Entwicklungsumstände je und je sehr unterschiedlich waren.

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IV. Systementstehung

Kirchengemeinde aus dem einen oder anderen neutestamentlichen Buch oder Begriff abzuleiten. Zwar gibt es im Neuen Testament eine ganze Reihe von Begriffen und Selbstbezeichnungen wie "ekklesia", "koinonia" oder "wahres Israel", auch bildhafte Redewendungen wie "Leib Christi", "wanderndes Gottesvolk", "Gottes Bauwerk" oder "Heiliger Tempel Gottes". Aber keiner dieser Begriffe birgt den ganzen Reichtum der urchristlichen Sozialformen und Theologien in sich. Es ist methodisch fragwürdig, aus der Fülle der Begriffe und Vorstellungen eine einzelne herauszugreifen, ihrer historischen Kontexte zu berauben und sie normativ für die Gestalt, die Ziele oder die Mitgliederstruktur gegenwärtiger Gemeinden auszuwerten. Die Anfänge des Christentums sind dadurch gekennzeichnet, daß das Christentum gerade nicht die eine, einzige und allgemein verbindliche Sozialform hervorgebracht hat. Es hat weder seine Sozialform noch seine Glaubensinhalte dogmatisiert. 3. Die Vielstimmigkeit der Anfänge ist einer der Gründe für die erstaunliche Flexibilität und Überlebensfähigkeit des Christentums. Sie war Potential für den erfolgreichen Gestalt- und Inhaltswandel des Christentums. Aber diese Überlebensfähigkeit hatte auch ihren Preis. Sie wurde mit dem Absterben ganzer Zweige der frühen Entwicklungen erkauft. Für die gegenwärtig wieder aktuelle Frage nach der Zukunftsfähigkeit des institutionalisierten Christentums bedeutet das möglicherweise zweierlei: Es spricht nichts dafür, daß die Polysemie des Christusereignisses heute schon ausgeschöpft oder gar erschöpft ist. Im Gegenteil ist anzunehmen, daß die Christologie auch heute noch Garant der Zukunftsfähigkeit des institutionalisierten Christentums sein. Allerdings wäre die kommunikative Anschlußfähigkeit der Glaubensaussagen an die Lebensverhältnisse der Menschen in unserer Gesellschaft wiederzugewinnen. Hier tut sich ein weites Feld praxisbezogenen und situationsgerechten hermeneutischen Bemühens auf. Wo das ernsthaft in Angriff genommen würde, wären die Früchte vermutlich ebenfalls wieder nur um den Preis des Absterbens ganzer Zweige zu haben.

V. Die evangelischen Landeskirchen als Sozialsysteme im Wandel

Die Landeskirchen sind, unabhängig davon, ob sie konsistorial oder presbyterial-synodal verfaßt sind, lenkende und leitende "Muttersysteme" der Ortskirchengemeinden. Sie bestimmen in einem bedeutenden Umfang mit über die Arbeitsbedingungen und die Religionskultur in den Ortskirchengemeinden. Sie verabschieden die maßgeblichen Kirchenordnungen, Kirchengesetze und Verwaltungsordnungen. Sie regeln die Ausbildungs- und Anstellungsbedingungen für den Pfarrernachwuchs und kontrollieren die Gemeindeverwaltung. Sie gleichen zyklische Ressourcenschwankungen aus. Sie garantieren die Existenz der Kirchengemeinden und sichern die Kontinuität eines flächendeckenden religiösen Hilfs- und Begleitungsangebots für alle Kirchenmitglieder. Sie bieten Unterstützung bei der Lösung von Problemen und Schwierigkeiten an. Insgesamt bedeutet das, daß die Kirchengemeinden so eng mit den Landeskirchen und darüber hinaus auch mit der gesamten Traditonslinie des Protestantismus verbunden sind, daß es nicht sinnvoll ist, die Thematik der Ortskirchengemeinden zu diskutieren, ohne dabei gleichzeitig die gewachsenen Verhältnisse und die aktuellen Gegebenheiten in den evangelischen Landeskirchen im Blick zu behalten. Wie die Kirchengemeinden einerseits von dem Systemverbund mit den Landeskirchen zum Positiven hin profitieren, so sind sie andererseits auch von deren Schattenseiten betroffen. Sie bleiben von den Spannungen und den Konfliktzonen nicht unberührt, in denen ihre Muttersysteme stehen. Vieles von dem, was hier anzusiedeln ist, schlägt auf die Ebene der Ortskirchengemeinden durch und macht sich dort als belastende Störung bemerkbar. Das fünfte Kapitel der Arbeit wird diesen Überlegungen Rechnung tragen und sich den evangelischen Landeskirchen zuwenden. Die evangelischen Landeskirchen sind Großorganisationen "im Wandel". Unter diesem Focus wird die gesamte nachfolgende Darstellung stehen. Die Formulierung "im Wandel" ist dabei absichtsvoll doppeldeutig gewählt, denn die Landeskirchen sind einerseits Sozialsysteme, die sich wandeln, andererseits aber sind sie auch Sozialsysteme innerhalb einer gesellschaftlichen Umwelt, die sich im Wandel befindet. Die Darstellung wird nicht das Ziel verfolgen, Therapievorschläge für die landeskirchliche Organisation zu entwickeln. Die Kirchengemeinde bleibt, auch wenn dies nicht ständig thematisiert werden wird, weiterhin Hintergrund und Zielpunkt der Ausführungen. Letztlich geht es darum, das Verständnis für eine Kirchengemeinde zu verbessern, die heute allgemein als Kirchengemeinde "in der Krise" angesehen wird. Was bedeutet die summarische Umschreibung "in der Krise" inhaltlich? Welche Ursachen lassen sich benennen, und welche Wege aus der Krise bieten sich an? Diese Fragen wird man nur dann beantworten können, wenn man sich schon bei der Untersuchung der Landeskirchen und

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V. Die evangelischen Landeskirchen

nicht erst bei der Darstellung der Kirchengemeinden besonders für die Punkte interessiert, deren Folgewirkungen als Irritationen in den Parochien wirksam werden. Von daher interessieren im folgenden weniger die oben genannten positiven Leistungen des Muttersystems als vielmehr solche Krisenursachen, deren Entstehungsherd auf der landeskirchlichen Ebene zu suchen ist. Sie sollen gezielt aufgespürt werden. Systeme müssen immer beides zugleich sein: geschlossen hinsichtlich ihrer Präferenzstruktur und umweltoffen hinsichtlich ihrer Ressourcenversorgung (s.o. Kap.III 2c 6.). System und Umwelt sind vielfach miteinander verzahnt und befinden sich ständig in einem labilen Gleichgewicht. Die signifikanten Umwelten wirken auf das System ein und beeinflussen seine Systemerhaltungsbedingungen. Im Extremfall ließ sich sogar ein Zusammenhang zwischen den äußeren klimatischen Bedingungen des 16. und 17.Jahrhunderts, der Hexenverfolgung und dem Konfessionalisierungsprozeß in Deutschland behaupten. Auch die Ressourcenversorgung, die nur aus der Umwelt heraus erfolgen kann, stellt eine wichtige Klammer von System und Umwelt dar. Aber die Landeskirchen reagieren nicht nur auf Außenimpulse. Sie agieren auch selbst aktiv im Sinne ihres eigenen Systemerhalts. Dazu wirken sie auf die Umwelt ein (kirchliche Bauten, Kirche als Arbeitgeber, Erziehungs- und Bildungsbemühungen) und verfolgen damit durchaus eigennützige Interessen. Sie nutzen Umweltimpulse und "Marktmöglichkeiten", um das eigene System zu stärken (Friedhofsverwaltung, christliche Schulen, diakonische Aktivitäten als "Träger der freien Wohlfahrtspflege"). Sie bemühen sich, wie im übrigen jedes andere System auch, um die Verstetigung ihrer Ressourcenversorgung (Kirchensteuer) und ein kontinuierliches Wachstum, das über das bloße Existenzminimum hinausgeht. Nur unter Berücksichtigung dieser vielschichtigen und wechselseitigen Einbindung und Verflochtenheit von System und Umwelt ist eine sachgerechte Positionierung der Landeskirchen im Verhältnis zur Gesellschaft in ihrer Gesamtheit möglich. Es ist zu kurz gegriffen, wenn man das Verhältnis von Landeskirche und Gesellschaft im "stimulus-response Modell" abbildet. Es geht nicht darum, daß irgendjemand (die Umwelt) Druck ausübt und der andere (die Kirche) sich dem Druck "anpaßt". Die Aufrechterhaltung der Systemgrenzen (Abgrenzung) ist für ein Sozialsystem ebenso lebensnotwendig wie die Aufrechterhaltung seiner Umweltkompatibilität. Im ersten Abschnitt werden einige grundlegende Informationen zum Verständnis des Begriffs "Systemwandel" gegeben (1.: "Systemtheoretische Überlegungen zum Systemwandel"). Anschließend wird die Unterscheidung von externen und internen Wandlungsimpulsen verwendet, um die Wandlungsimpulse, die auf die Landeskirchen einwirken und in ihnen wirksam sind, systematisch zu entfalten. Zunächst wird der Zustand der Gesellschaft als externer Wandlungsimpuls dargestellt (2.: "Wandlungsimpulse I: Die Gesellschaft als 'Umwelt' der Landeskirchen"). Auch die ecclesia invisibilis läßt sich systemtheoretisch als "Umwelt" der Landeskirchen auffassen. Allerdings befinden sich die Landeskirchen ihr gegenüber in einem besonderen Treue- und Verpflichtungs-

V. Die evangelischen Landeskirchen

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Verhältnis. Dieses Verhältnis wird im dritten Teil genauer bestimmt (3.: "Wandlungsimpulse Π: Das Verhältnis von Landeskirche und ecclesia invisiblis"). Den zwei! externen Wandlungsimpulsen folgt die Darstellung von zwei internen Wandlungsimpulsen. Die evangelischen Landeskirchen sind zum einen alte und gealterte Sozialsysteme (4.: "Wandlungsimpulse ΠΙ: Die Landeskirchen als gealterte Großorganisationen"), zum anderen sind sie hochkomplexe Sozialsysteme (5.: "Wandlungsimpulse IV: Die Landeskirchen als ausdifferenzierte Großorganisationen"). Die Kirchenleitungen steht vor der Aufgabe, den verschiedenartigen und keineswegs gleichgerichteten Wandlungsimpulsen gerecht zu werden. Welche Schwierigkeiten sich daraus ergeben und wie sie dieses Problem lösen, wird im sechsten Teil dargestellt (6.: "Kirche leiten im Wandel: Die Kirchenleitung zwischen Wollen, Können und Dürfen").

1. Systemtheoretische Überlegungen zum Systemwandel a) Systemwandel als Reaktion auf "Störungen" im Systemgefiige Der Mechanismus, der den Systemwandel nachhaltig erforderlich macht, ist leicht zu verstehen, wenn man sich noch einmal an die Darstellung der Präferenzordnung von Sozialsystemen zurückerinnert. Die Präferenzordnung, so hieß es da, konserviert die Einstellungen, Werturteile und Vorhaben der Gründungsvätergeneration. Sie ist der aktuellen Umwelt- und Zeitbindung enthoben. Das ist zunächst einmal vorteilhaft, denn es verstetigt die maßgeblichen Orientierungen, schafft historische Kontinuität, aktuelle Sinnevidenz und kommunikative Anschlußfähigkeit. Die Mitglieder des Systems profitieren von allen diesen Vorteilen. Aber es birgt auch Nachteile. Ein Sozialsystem besitzt auf der Ebene seiner Präferenzordnung keinen unmittelbaren Umweltkontakt, es besitzt keine "Resonanzfähigkeit" auf Umweltereignisse. In dynamischen Gesellschaften bedeutet das, daß alle Sozialsysteme wegen ihrer strukturell abgesenkten Resonanzfähigkeit fortwährend an Umweltkompatibilität verlieren, ohne daß sie dies auch unmittelbar oder ständig verspüren. Die Präferenzordnung steht ständig in der Gefahr, zu veralten, d.h. Inhalte zu konservieren, die nicht mehr zeitgemäß sind. Aus diesem Problem heraus erwächst die Notwendigkeit des Systemwandels. Was ist Systemwandel? Da die Präferenzordnung letztlich nur ein Stück Papier ist, bedarf es der vermittelnden Instanz des Rollenträgers, der ja gleichzeitig auch als ein mit Restkontingenz ausgestatteter Mensch die Außenwelt des Systems erlebt, um die Präferenzordnung an veränderte Umweltgegebenheiten anzupassen. Sozialsysteme werden durch Entscheidungen angepaßt, die von 1

Auch die Mitglieder lassen sich systemtheoretisch als "Umwelt" von Kirche auffassen. Sie werden in einem eigenen Kapitel behandelt. Der Impulsdruck der Mitgliederreligiosität wirkt deutlich stärker auf die Ortskirchengemeinden ein als auf die Kirchenleitungen.

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V. Die evangelischen Landeskirchen

Menschen zu treffen sind. An diesem Punkt gilt es eine wichtige Unterscheidung einzuführen, die Unterscheidung von "Wandlungsimpuls" und tatsächlich vollzogenem "Systemwandel". Ohne Wandlungsimpuls gibt es keinen Systemwandel. Erst dann, wenn sich systemintern Wandlungsimpulse in Form von gravierenden "Störungen"^ einstellen, kann ein System überhaupt zu einer Reaktion provoziert sein. Sowohl interne als auch externe Impulse können derartige "Störungen" im System produzieren. Der Mitgliederschwund der evangelischen Landeskirchen etwa läßt sich in diesem Sinne als ein "externer" Wandlungsimpuls ansehen, denn er verschlechtert die Ressourcenversorgung des Systems. Ausufernde Bürokratisierung oder absinkende Mitarbeitermotivation wären demgegenüber "interne" Wandlungsimpulse. Sie bedrohen als Störungen im Alltagsbetrieb die Qualität der Zielerfüllung und provozieren damit eine Reaktion. Diese Reaktion soll als "Systemwandel" bezeichnet werden. Systemwandel ist eine systeminterne Reaktion auf vorausgegangene externe (Umwelt) oder interne (Systementwicklung) Wandlungsimpulse. Systemwandel wird durch eine Anpassung der Vorschriften und Normen in der gültigen Präferenzordnung vollzogen und verfolgt das Ziel, daß ein System wieder zu einem funktionsgerechten Zustand zurückfindet. Ein Systemwandel ist vollzogen, wenn die Präferenzordnung dementsprechend verändert ist.3

b) Wandel als Abbruch, Neubestimmung und Kontinuität Systemwandel bedeutet keineswegs, daß sich ein System "im Wandel" von Kopf bis Fuß erneuert. Gerade Systeme im Wandel müssen sich darum bemühen, zumindest einen Teil ihrer Präferenzordnung und damit auch der internen Sprach- und Verhaltensregelungen des Systems nach Möglichkeit konstant zu halten, denn sie müssen für ihre Mitglieder erkennbar und identifizierbar bleiben.4 Ein allzu rascher, abrupter oder einschneidender Wechsel der Präferenzen beraubt das System seiner Grundfunktionen, Orientierung, Heimat und Sinn zu bieten. In den einzelnen Segmenten der Präferenzordnung aber können dagegen sehr wohl gravierende Veränderungen vorgenommen werden. Einzelne Formulierungen können ergänzt, ausgetauscht oder sogar ersatzlos gestrichen werden. Das System positioniert sich damit neu. Systemwandel bedeutet also immer gleichzeitig partiellen Traditionsabbruch, partielle Neubestimmung und partielle Kontinuität. Wie zum organischen Wachstum eines Baumes auch das Absterben und Abfallen ganzer Zweige und Äste gehört, so auch beim Systemwandel. Systemwandel kann sich nicht nur reibungslos und spannungsfrei voll2 3 4

"Die Umwelt kann sich nur durch Irritationen oder Störungen der [systeminternen] Kommunikation bemerkbar machen." - N.Luhmann: Kommunikation, S.63 Vgl. N.Luhmann, Grundriß, S.472 Anm.183 Vgl. Niklas Luhmann: Grundriß, S.479; Luhmanns Evolutionsverständnis schließt daran an: "Evolution ist, so gesehen, ein immer wieder neues Einarbeiten von Unsicherheiten in Sicherheiten und von Sicherheiten in Unsicherheiten ohne letzte Garantie dafür, daß dies auf jeder Stufe der Komplexität immer weiter gelingen wird." - Grundriß, S.421

1. Systemtheoretische Überlegungen zum Systemwandel

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ziehen. Er weckt nicht allein Hoffnungen und Optimismus, er ist auch mit Konflikten, mit Trauer und mit Verlust verbunden. c) Priorität des systemischen Existenzerhalts Systeme sind nicht grundsätzlich gezwungen, auf Wandlungsimpulse zu reagieren. Sie beziehen einen guten Teil ihrer positiven Leistungen ja gerade aus der Kontinuität, die sie schaffen. Von daher kann es für ein Gesamtsystem durchaus auch hilfreich sein, wenn nicht alles sofort bearbeitet wird, sondern bestehende Mängel zunächst einmal schlicht ignoriert, Problemlösungsanstrengungen vertagt oder defizitäre Zustände bestritten werden. Allerdings geht das in der Regel nur für eine gewisse Zeitspanne gut. Gravierende Negativentwicklungen werden mit hoher Wahrscheinlichkeit weiter zunehmen. Sie verschwinden selten durch bloßes "Aussitzen". Viele Kirchengemeinden kennen derartige Prozesse aus eigenem Erleben. Immer wieder zeigt sich gerade in Gemeindegruppen und Kreisen, daß überlanges und starres Festhalten an altvertrauten Spielregeln und Verhaltenserwartungen einen schleichenden Systemtod durch Mitgliederschwund evoziert. Ressourcensichernde und effizienzerhaltende Eingriffe in die Präferenzordnung sind demnach letztlich überlebenssichernde Maßnahmen des Sozialsystems, auch wenn sie kurzfristig auf Widerstand stoßen und viel Ärger schaffen können. 5 Anders formuliert, nur dann, wenn ein Sozialsystem der eigenen Existenzsicherung gegenüber anderen Interessen und Zielen Priorität einräumt, kann es auch zum Systemwandel kommen. Die Priorität der Existenzsicherung ist der Motor des Systemwandels. Bei der Darstellung des Verhältnisses von ecclesia invisibilis und ecclesia visibilis wird sich noch deutlich zeigen, daß und warum die Landeskirchen gerade mit der Priorität der Existenzsicherung große Probleme haben. Was systemtheoretisch geboten ist, erweist sich vom Referenzbezug der Landeskirchen auf die ecclesia invisibilis her als problematisch.

2. Wandlungsimpulse I: Die Gesellschaft als "Umwelt" der Landeskirchen In diesem Kapitel wird zunächst Niklas Luhmanns Theorie einer in eigenständige Teilsysteme ausdifferenzierten Gesellschaft referiert, wobei auch das Ver5

Aus dem Bestreben, die Geborgenheit, die das System bietet, zu verteidigen, erwächst das "Gründungsväterdilemma", eine Kohärenzkrise, die sich im Protest der Gründer gegen die "neue Ordnung" äußert. "Kann denn plötzlich schlecht sein, was jahrzehntelang gut war"? "Kann das Neue jemals so tragfähig und überzeugend sein wie das Alte?" Wo Gründungsväter gleichzeitig auch Entscheidungsträger innerhalb des Systems sind, wird die kritische Einstellung gegenüber Veränderungen in der Präferenzordnung leicht zur Wandlungshemmung oder -blockade.

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V. Die evangelischen Landeskirchen

hältnis der Teilsysteme untereinander und Luhmanns These zur Funktion der Religion in der Gesellschaft dargestellt wird (2.1). Der als "Säkularisierungsprozeß" der Moderne bezeichnete, ständig weitere Kreise ziehende Trend zur Emanzipation der einzelnen Systembereiche aus der Vorherrschaft der Kirchen scheint nicht den prognostizierten Verlauf zu nehmen. Zwar sind die evangelischen Landeskirchen seit 1918 keine funktional eingebundenen Teilsysteme des Staates mehr, sondern markt- und kundenorientierte Sozialsysteme (2.2), aber ein "Ende der Religion" ist ebenso wenig abzusehen wie ein Ende der institutionalisierten christlichen Kirchen (2.3).

2.1 Luhmanns Theorie einer in Teilsysteme ausdifferenzierten Gesellschaft Niklas Luhmann hat ein Buch mit dem Titel "Ökologische Kommunikation" geschrieben, in dem er sich mit der im Untertitel genannten Frage beschäftigt, ob "die moderne Gesellschaft sich auf ökologische Gefährdungen einstellen" kann.6 Wie er es vielfach in seinen Publikationen tut, hat er auch in diesem Buch seine Gesellschaftstheorie in kompakter Weise skizziert. Da die Grundgedanken seiner Theorie der Systemdifferenzierung seit vielen Jahren kaum verändert sind^, kann sich die nachfolgende Darstellung im Wesentlichen auf die Ausführungen dieser Publikation beschränken. 8 a) Leitdifferenz und Kommunikationsmedium Die neuzeitliche Entwicklung führte zum Zerfall der mittelalterlichen Gesellschaft, in der die Religion die Gesamtkohärenz der Gesellschaft garantierte.9 Die unterschiedlichsten Teilbereiche der Gesellschaft, Natur- und Geisteswissenschaften, Ökonomie, Ehe u.v.a., emanzipierten sich von der Religion und etablierten sich als eigenständige Funktionssysteme mit eigener Begründung und eigenen Prioritäten. "Die Religion sichert heute weder gegen Inflation noch gegen einen unliebsamen Regierungswechsel, weder gegen das Fadwerden einer Liebschaft noch gegen wissenschaftliche Widerlegung der eigenen Theorien". 10 6 7

8 9 10

Opladen ^1990. Zur Konzeptentwicklung G.Kiss: Grundzüge, S.41-49 Schon 1972 hat Luhmann in seinem Aufsatz: "Religion als System" den Gedanken der Systemdifferenzierung verfolgt und am Beispiel des Religionssystems die für sein Verständnis von gesellschaftlichen Teilsystemen konstitutiven Begriffe "Leitdifferenz" und "Kommunikationsmedium" dargestellt. - K.-W.Dahm u.a.: Religion - System und Sozialisation, Darmstadt u.ö. 1972, S.ll-132 Vgl. die Literaturangaben in: N.Luhmann: Kommunikation, S.74 Anm.10 N.Luhmann: Grundriß, S.624f u.ö. N.Luhmann: Gesellschaftsstruktur und Semantik. Studien zur Wissenssoziologie der modernen Gesellschaft, Bd.III, Frankfurt/M. 1989, S.259

2. Wandlungsimpulse I: Gesellschaft

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Die Entwicklung führte dazu, daß "die wichtigsten Teilsysteme der Gesellschaft ... heute auf jeweils eine, für sie spezifische und nur für sie vorrangige Funktion eingestellt sind" (S.74). Die Wirtschaft ist nun zuständig für die Bereitstellung von Arbeitsplätzen, Medizin für Gesundheitssorge, die Justiz für das Rechtswesen usw. Die Gesellschaft hat sich in autonome Systembereiche ausdifferenziert. Niklas Luhmann spricht nicht von "Systembereichen", sondern von "Teilsystemen" der Gesellschaft. Diese Sprachregelung wird hier nicht übernommen, weil sie zu Mißverständnissen und Unklarheiten führen kann. Im folgenden wird von Systembereichen innerhalb der ausdifferenzierten Gesellschaft gesprochen (Medizin, Wirtschaft, Religion usw.). Innerhalb dieser Systembereiche (etwa "Religion") gibt es dann verschiedenste Teilsysteme (etwa die evangelischen Landeskirchen, die katholische Kirche, die freien evangelischen Gemeinden, die Freikirchen usw). Alle Systembereiche sind einer jeweils eigenständigen "Leitdifferenz " verpflichtet, die der Logik von binären Codes folgt. Die Ökonomie folgt der Leitdifferenz "haben" / "nicht haben", das Rechtswesen der Leitdifferenz "recht" / "unrecht", die Wissenschaften der Leitdifferenz "wahr" / "unwahr". Dieser binäre Code hat Ausschließlichkeitscharakter. Es gilt das Prinzip des "ausgeschlossenen Dritten": "Codierung schließt dritte Werte wirksam aus .. Bei aller Brisanz neuer Themen: man kann nicht zu einem Dreiercode, etwa wahr / unwahr / Umwelt oder Recht / Unrecht / Leid übergehen" (S.84). Die Leitdifferenz benennt damit die primäre Zielsetzung eines Systembereichs. Jeder Systembereich verwendet darüberhinaus ein bereichsspezifisches Kommunikationsmedium. "Die Politik arbeitet mit Macht, die Wissenschaft mit Wahrheit, die Wirtschaft mit Geld, die Familie mit Liebe" ^ und das Rechtswesen mit Paragraphen. Leitdifferenz und Kommunikationsmedium markieren die jeweils eigenständige "Systemwelt". In dieser Systemwelt existiert nur das, was sich in den jeweiligen Kategorien wahrnehmen und erfassen läßt. Anderes existiert nicht, genauer, es existiert nicht " s y s t e m i n t e r n " . Es ist "Umwelt" (S.98). Die Justiz etwa kann nur dann tätig werden, wenn ein Sachverhalt "rechtsrelevant" ist, wenn er in der Welt der Paragraphen anzusiedeln ist. Ist er nicht "rechtsrelevant", signalisiert sich das Rechtssystem "Nichtzuständigkeit" und bleibt untätig. Mutatis mutandis gilt das auch für die übrigen Systembereiche der Gesellschaft. Die "strukturelle Beschränkung" (S.122) auf die eigene zweipolige Leitdifferenz und das jeweils bereichsspezifische Kommunikationsmedium garantiert also, daß ein Problem, sofern es innerhalb der "Zuständigkeiten" liegt, "im System auch bearbeitet werden muß" (1220· Andererseits bleibt das System untätig, wenn es einen Sachverhalt nicht zuordnen kann. In diesem Sinne sind 11 12 13

N.Luhmann: Kommunikation, S.89 N.Luhmann: Religion, S.52 "Codes sind Sofern-Abstraktionen. Sie gelten nur, sofern die Kommunikation ihren Anwendungsbereich wählt (was sie nicht muß). Es kommt nicht in jeder Situation, nicht immer und überall, auf Wahrheit oder auf Recht oder auf Eigentum an." - N.Luhmann: Kommunikation, S.79

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V. Die evangelischen Landeskirchen

die binären Codes, die Leitdifferenzen, "Weltkonstruktionen mit Universalitätsanspruch und ohne ontologische Begrenzung. Alles was in ihren Relevanzbereich fällt, wird dem einen oder dem anderen Wert zugeordnet unter Ausschluß dritter Möglichkeiten" (S.78f). Die Leitdifferenz dient nicht allein der Abgrenzung des Systembereichs von anderen Systembereichen, die dann als "Umwelt" fungieren, sondern auch als "Reflexionsinstrument" (S.24). Sie dient dazu, Kompetenzbereiche abzustecken und zu reklamieren, sie dient der Selbstkontrolle und damit auch dem Systemerhalt. b) Systemkonkurrenz und Sinnzweifel Alle Teilsysteme (innerhalb der Systembereiche) sind zunächst und vor allem mit dem eigenen Selbsterhalt beschäftigt. Das bleibt nicht ohne Folgen für das Ganze. In ausdifferenzierten Gesellschaften herrscht eine ausgeprägte Systemkonkurrenz, die bis auf die Ebene der Einzelsysteme innerhalb der Systembereiche herabreicht. In dem Bestreben, sich fortwährend mehr Ressourcen zuzuführen, als für den bloßen Systemerhalt erforderlich sind, produzieren die Systeme ständig neue Optionen, wachsen über ihre angestammten Grenzen hinaus und erschließen neue Arbeitsfelder, aber auch neue Ressourcenquellen. Je mehr sich die einzelnen Systeme entfalten, desto eher kommen sie einander in die Quere, beseitigen traditionelle Alleinzuständigkeiten und trachten danach, fremde Zuständigkeitsbereiche an sich zu ziehen. 14 i n einem Gesellschaftssystem, das sich ständig weiter ausdifferenziert, verschwinden deshalb ununterbrochen Monopolstellungen einzelner Systeme und ehemals geschütze Zonen. Traditionell kirchliche Inhalte und Aufgaben sind heute wie selbstverständlich auch in nichtkirchlichen Bereichen anzutreffen. Die Funktion der Wertrepräsentanz und Wertvermittlung etwa nehmen auch die Philosophie, die politischen Parteien, die Gewerkschaften, die sozialen Bewegungen oder die Schulen für sich in Anspruch. Helfende Begleitung in Krisensituationen bieten längst nicht mehr allein die kirchlichen Organisationen an. Hier stehen sie in Konkur14

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"Was in der einen Gesellschaft politisch geregelt wird, überläßt die andere dem Markt, z.B. das Transport-, Kommunikations- oder Gesundheitswesen. Der Geltungsbereich oder Wirkungsradius der einzelnen Ordnungskriterien läßt sich nicht aus irgendwelchen systemischen Funktionserfordernissen deduzieren, sondern ist Gegenstand ständiger sozialer Auseinandersetzungen. " - T.Schwinn: Differenzierung, S.35 Dieser Drang zur standigen Erweiterung der Zuständigkeiten des eigenen Systembereichs ist in der Gesellschaft vielfach zu beobachten und wird mit den unterschiedlichsten Bezeichnungen belegt. Als "Privatisierung" ist die Übergabe öffentlicher Dienstleistungen und Funktionsmonopole in den Wirtschaftssektor zur Zeit sehr populär. Als "Einmischung in fremde Zuständigkeiten / Angelegenheiten" wird Ausdehnungseifer in die Schranken gewiesen. Der Vorwurf der "Regelungswut der Bürokraten" trifft er die Aktivitäten des politischen Segments. Den obersten Bundesgerichten schließlich wird vorgehalten, die Gewaltenteilung zu untergraben und in den Kompetenzbereich der Politik "hineinzuregieren" (B.Großfeld: Götterdämmerung? Zur Stellung des Bundesverfassungsgerichts, in: Neue Juristische Wochenschrift 48/1995, S. 1719-1723). In all diesen Formulierungen geht es, systemtheoretisch betrachtet, um den dargestellten Sachverhalt.

2. Wandlungsimpulse I: Gesellschaft

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renz mit Selbsthilfegruppen, Fürsorgeinstitutionen und Verbänden, mit medizinischen Einrichtungen und dem Therapiesektor, ja selbst mit freien religiösen Unternehmern und hochspezialisierten Dienstleistungsanbietern. Die Kirchen sind von daher aufgefordert, sich Ernst Langes Einsicht zu eigen zu machen und zu akzeptieren, daß sie in der ausdifferenzierten Gesellschaft, ob sie es wollen oder nicht, dem Wettbewerb der Systeme ausgesetzt sind: "Ein Monopol besteht längst nicht m e h r " . 1 6 Allerdings sind sie keineswegs nur Opfer des Differenzierungsprozesses. Sie beteiligen sich auch aktiv an diesem Prozeß. Die Landeskirchen haben das angestammte Arbeitsfeld der pastoralen Betreuung ihrer Mitglieder längst hinter sich gelassen. Sie unterhalten einen Diakonieapparat, der so umfangreich ist, daß man sich cum grano salis fragen könnte, ob sie sich nicht, gemessen an den bloßen Mitarbeiterzahlen in beiden Sektoren, schon zu einem Unternehmen der freien Wohlfahrtspflege mit angehängter Abteilung für pastorale Dienste gewandelt haben. Aber sie bemühen sich auch darum, ein buntes und hochsubventioniertes Vereins- und Freizeitleben für ihre Mitglieder zu organisieren. Sie konkurrieren in diesem Anliegen mit anderen Anbietern auf dem Freizeitmarkt. Sie führen in ihren Erwachsenenbildungseinrichtungen sogar Kochkurse und Französischlehrgänge durch. Mit eigenen Banken sind sie ins Bankwesen eingestiegen. Sie betreiben und unterhalten Friedhöfe, Krankenhäuser und Schulen. Mit Investitionen in Wohnimmobilien sind sie zu Investoren und Vermietern geworden. Wo Systeme ständig ihre Grenzen und ihre Zuständigkeiten erweitern, bleibt es nicht aus, daß sie sich auch ständig gegenseitig in Frage stellen. Die ausdifferenzierte Gesellschaft ist auch eine Gesellschaft, in der intensiv um den "Sinn" der jeweiligen Leitdifferenzen gerungen und gestritten wird (S.233). Alle Systembereiche stellen sich untereinander wechselseitig zur Disposition. Dabei geht es stets darum, die Leitdifferenz, die systemintern tabuisiert und damit gewissermaßen unter Bestandsschutz gestellt wird^, weil die Plausibilität des gesamten Systembereichs mit ihr steht und fällt, von außen in Zweifel zu ziehen. Das "Betriebsgeheimnis" soll gelüftet werden, indem darauf hingewiesen wird, daß die entscheidende Prämisse, die bipolare Codierung, als kontingente Setzung anzusehen und in sich fragwürdig ist. In diesem Sinn wird die Wirtschaft beispielsweise mit der Erkenntnis konfrontiert, daß es unsinnig ist, Fische zu töten, weil man nach dem Aussterben des letzten Fisches feststellen wird, daß man "Geld" nicht essen kann. Das Rechtswesen wird vor die Frage gestellt, ob es nicht sinnvoll ist, die "Schärfe der Differenz von Recht und Unrecht durch Verständnis für den Menschen" (S.234) und den Rekurs auf den "gesunden Menschenverstand" abzumildern. Während die Wissenschaft bei ständig wachsender Wissensmenge deutlich ihr Nichtwissen verspürt, erscheint die These zunehmend plausibler, daß Nichtwissen und Schweigen durchaus 16 17

E.Lange: Schwierigkeit, S.25 Das meint Luhmann, wenn er davon spricht, daß Systeme "ihre eigenen Kontingenzen abdunkeln" müssen, damit sie nicht als Entscheidungen exponiert werden müssen. - Kommunikation, S.30

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V. Die evangelischen Landeskirchen

nicht lebensuntüchtig machen.^ Für die Erkenntnis, daß private Laster gute Folgen haben und Vorteile für die Allgemeinheit mit sich bringen können, steht die Entwicklungsgeschichte der Marktwirtschaft, für die guten Folgen der bösen Tat der Verrat des Judas Ischariot. Schließlich ist auch die Leitdifferenz der Religion mit dem Hinweis auf die Theodizee-Problematik jeder Zeit in Frage zu stellen (so schon Hiob). Die Beispiele illustrieren, daß alle Systembereiche gerade an dem Punkt, wo ihre "Allerheiligstes" angesiedelt ist, in ihrer fundamentalen Leitdifferenz, mit der die Kompetenzabgrenzung des gesamten Systembereichs steht und fallt, in Frage gestellt werden können. Das gilt keineswegs allein für die Religion (Theodizee-Frage), es gilt ebenso für die Wirtschaft, das Recht, die Wissenschaft, die Ethik usw. Wenn die Religion sich in dieser Hinsicht besonders hart getroffen fühlt, dann mag das eine Folge der historischen Entwicklungen sein. Historisch betrachtet konnten viele Systeme ihre maßgeblichen Leitdifferenzen erst nach offener Konfrontation mit dem organisierten Christentum und gegen dessen erbitterten Widerstand etablieren. Dennoch bleibt festzuhalten, daß die wechselseitige Auseinandersetzung um die Plausibilität der Leitdifferenzen zu den charakteristischen Merkmalen einer ausdifferenzierten Gesellschaft gehört und kein religionsspezifisches Problem ist. Die christlichen Kirchen haben keinen Grund, an diesem Punkt vorschnell zu resignieren und sich aus dem öffentlichen Diskurs zurückzuziehen. c) Integrationsdefizit und fehlende Mitte der Gesellschaft Wegen des hohen Spezialisierungsgrades kann keines der Segmente mehr für sich allein b e s t e h e n . 19 Es ist vielmehr auf das Miteinander mit anderen Segmenten angewiesen. "An die Stelle alter Multifunktionalität der Familienhaushalte, Moralen und religiösen Kosmologien tritt demnach ein Arrangement, in dem hochorganisierte Substitutions- und Rekuperationsfähigkeit an spezifische Funktionen [Leitdifferenzen; Prioritäten] gebunden bleibt und mit Rücksichtslosigkeit [oder Ohnmacht] in Bezug auf andere Funktionen bezahlt werden muß" (S.210). Der Verzicht auf Mehrfachcodierung und Multifunktionalität ("Redundanzverzicht") führt dazu, daß es zwischen den einzelnen Systembereichen keine Kompatibilität und keine Substituierbarkeit mehr gibt. "Die Funktionssysteme können nicht wechselseitig füreinander einspringen, können einander weder ersetzen noch auch nur entlasten" (S.97).^0 Sie sind aufeinander 18 19 20

J.-C.Kaufmann: Schmutzige Wäsche. Zur ehelichen Konstruktion von Alltag, Konstanz 1994, bes. S.223-242 N.Luhmann: Grundriß, S.465 "Jeder binäre Code beansprucht weltuniversale Geltung, aber nur für seine Perspektive. Alles kann zum Beispiel wahr oder unwahr sein, aber eben nur wahr oder unwahr nach Maßgabe der spezifischen Theorieprogramme des Wissenschaftssystems. Das heißt vor allem: Kein Funktionssystem kann für ein anderes einspringen; keines kann ein anderes ersetzen oder auch nur entlasten. Politik kann nicht für Wirtschaft substituiert werden, Wirtschaft nicht für Wissenschaft, Wissenschaft nicht für Recht oder Religion, Religion nicht

2. Wandlungsimpulse I: Gesellschaft

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angewiesen^!, folgen aber ihrer eigenen Leitdifferenz und sind nur ihrem je eigenen Kommunikationsmedium verpflichtet. Die Wissenschaft könnte beispielsweise alles über die Ursachen des Baumsterbens wissen, hätte aber gleichwohl keine Möglichkeit, für die Herbeiführung der erforderlichen Gegenmaßnahmen zu sorgen. Es ist in der ausdifferenzierten Gesellschaft keineswegs mehr ausgemacht, daß die "bessere Erkenntnis" auch eine ihr angemessene Resonanz erfährt (S.59). Aus dieser Einsicht heraus hat Luhmann auch die Aufforderung von Politikern an die Adresse der Wirtschaft, sie möge doch bitte Arbeitsplätze zur Verfügung stellen, als "loose talk" bezeichen (S.225). Es reicht nicht aus, daß die Bereitstellung neuer Arbeitsplätze gesamtgesellschaftlich wünschenswert ist, sie muß sich systemintern "rechnen". Rechnet sie sich, wird die Investition nicht unterbleiben. Das erzwingt schon die Priorität des Systemerhalts, der jedes System verpflichtet ist. Rechnet sie sich nicht, nutzen auch externe Appelle nichts. Die ausdifferenzierte Gesellschaft kennt keine höchste Instanz mehr, die sämtlichen Systembereichen übergeordnet wäre.22 Sie ist eine Gesellschaft ohne integrierende Mitte und ohne eine allseits akzeptierte Hierarchie der Systembereiche. "In der neuen Ordnung gibt es keine natürlichen Primate, keine vom Gesamtsystem aus privilegierten Positionen und daher auch keine Position im System, die die Einheit des Systems gegenüber seiner Umwelt zur Geltung bringen könnte" (S.229). Die "Integrationsgewißheit" der Gesellschaft ist verlorengegangen. 23 Es fehlt ihr an "gesamtgesellschaftlicher Systemrationalität" (S.247), an einer "normativen Sinngebung, für die man durchgehenden Konsens, wenn nicht gewinnen, so doch voraussetzen könnte" (S.237). "Jeder Anspruch eines Teils, das Ganze zu sein oder die Identität zu repräsentieren, ist

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22

23

für Politik, usw. in allen denkbaren Intersystemrelationen" - N.Luhmann: Kommunikation, S.207. Das gilt unabhängig davon, daß jedes innerhalb eines Systembereichs angesiedelte konkrete System (Firma X, Verein Y, Organisation Z), um sich funktionsfähig zu halten, auf die Zuarbeit anderer Systembereiche und in ihnen wiederum anderer Teilsysteme angewiesen ist. Die Landeskirchen ragen "mit Teilen ihrer Entscheidungsprozesse, was zum Beispiel Geldanlage, Vermögensverwaltung, Bauten usw. angeht, in die innergesellschaftliche Umwelt hinein. Sie sind insoweit Teil des Wirtschaftssystems, nicht selten auch Teil des politischen Systems oder Teil des Rechtssystems" (N.Luhmann: Funktion, S.315). Solche Grenzüberschreitungen dienen der Funktionserhaltung. Die verpflichtende Leitdifferenz wird durch sie nicht in Frage gestellt. Vgl. N.Luhmann: Grundwerte als Zivilreligion, in: Soziologische Aufklärung III, Opladen 31993, S.293-308; H.Willke: Systemtheorie, S.214-277; F.-X.Kaufmann: Religion, S.61; Der kritische Hinweis von Walter Reese-Schäfer auf die hierarchisch herausgehobene Position des Rechtssystems, insbesondere der obersten Bundesgerichte (Luhmann, S.137), korrigiert Luhmanns Sicht der Dinge lediglich partiell. Zwar üben die obersten Gerichte teilweise eindeutig limitierende Funktionen aus und greifen damit in die (theoretische) Systemautonomie ein. Gerade im Bereich kultureller Entwicklungen (Verschiebungen im Bereich religiöser, moralischer u.a. Einstellungen) wird dabei häufig nur rechtlich nachvollzogen, was sich vorher schon gesellschaftsintern entwickelt hat. Vgl. auch die nachfolgenden Ausführungen über "Zweitcodierung". H.Willke: Systemtheorie, S.241

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V. Die evangelischen Landeskirchen

der Beobachtung und dem Widerspruch ausgesetzt" (S.252). Aber auch das Miteinander der Systembereiche ist nicht synchronisiert und nicht integriert. Es gibt keine Aggregation der isolierten und autonomen Teilsystemrationalitäten "zu einer gesamtgesellschaftlichen Systemrationalität" ( S . 2 4 7 ) . 2 4 Die binären Codes der Teilsysteme können sich widersprechen oder auch gegenseitig blokkieren "in dem Sinne, daß die positive Wertung in einem Code, etwa 'wahr', noch keineswegs die Positi ν wertung in anderen Codes, etwa 'rechtmäßig' oder 'wirtschaftlich sinnvoll', nach sich zieht" (S.88). Prioritäten und Ziele werden teilsystemspezifisch begründet und nach den Vorgaben der je eigenen Rationalität verfolgt. Konfrontation, Konkurrenz und gegenseitiges Nichtverstehen gehören zum Alltag der ausdifferenzierten Gesellschaft. d) Religion als Systembereich der Gesellschaft Niklas Luhmann stellt den Systembereich "Religion" gleichwertig neben andere Systembereiche wie die Wirtschaft, die Politik oder die W i s s e n s c h a f t . 25 Leitdifferenz der Religion ist "Transzendenz / Immanenz" und Kommunikationsmedium ist "Glauben". In der organisierten christlich-kirchlichen Religion sind es die Inhalte der christlichen D o g m a t i k . 2 6 wie alle anderen Systembereiche erfüllt auch der Bereich "Religion" eine spezialisierte Funktion in der und für die Gesamtgesellschaft. Kirche genügt sich nicht selbst, sondern erbringt eine Leistung für die Gesellschaft. "Die Funktion der Religion wird nicht in der Kirche, sie wird als Kirche e r f ü l l t " . W a s für eine Leistung ist das? Die christliche Religion knüpft an die normativen^ und die akzidentiellen K r i s e n 2 9 des Lebens an, bezieht sich auf Statusübergänge und Erwartungsenttäuschungen und verhilft mit ihren Mitteln (Rituale, Mythen, Predigten) dazu, die Wechselfälle des Lebens zu überbrücken.30 Besonders in ihren Ritualen und ihren My24

25

26 27 28 29 30

Das Miteinander der Verschiedenen erfolgt mangels übergeordneter und weisungsbefugter Instanzen dann oft nach Grundsätzen der Spieltheorie. (Daraus erklärt sich auch die in der Politik so beliebte Redewendung vom "geldwerten Streitpunkt".) Gewinne und Schäden werden gleichmäßig verteilt. Der Kompromiß ist das Modell der Wahl, wobei möglichst alle als Gewinner dastehen sollen und die unmittelbaren oder die sichtbaren Schäden und Verluste möglichst gering gehalten oder vertagt werden. Vgl. zum folgenden: N.Luhmann: Religion als System; N.Luhmann: Funktion; N.Luhmann: Die Unterscheidung Gottes, in: Soziologische Aufklärung IV, Opladen 1987, S.236-253; N.Luhmann: Gesellschaftsstniktur III, S.259-357; H.-U.Dalimann: Systemtheorie, S.89-109 Zum Kommunikationsmedium "Glauben" in Luhmanns älteren Arbeiten vgl. H.Kaefer: Religion, S.205-224 N.Luhmann: Funktion, S.56 Geburt, Pubertät, Heirat, Tod der Lebenspartnerin bzw. des Lebenspartners "Ein Gesunder wird krank, ein Haus brennt ab, ein Vater verhält sich nicht als Vater." N.Luhmann: Religion, S.49 N.Luhmann: Religion, S.47-52. K.-W.Dahm hat dem Funktionsbereich der "helfenden Begleitung" noch einen zweiten Funktionsbereich hinzugefügt: "Darstellung und Vermittlung grundlegender Werte" (Beruf: Pfarrer, München ^1974, bes. S. 116-125). Im

2. Wandlungsimpulse I: Gesellschaft

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then verfügt die Religion über Erfahrungen und Methoden, urn mit der Kontingenzproblematik umzugehen, die jedes Leben überschattet: "Man kann Rituale begreifen unter dem Gesichtspunkt des Coupierens aller Ansätze für reflexive Kommunikation. Die Kommunikation wird als fixierter Ablauf versteift, und ihre Rigidität selbst tritt an die Stelle der Frage, warum dies so ist. Die Elemente des Prozesses und ihre Reihenfolge werden unauswechselbar festgelegt, Worte wie Dinge behandelt, die Gegenwart zählt und ist weder im Hinblick auf die Zukunft noch an Hand jeweils angefallener vergangener Erfahrungen korrigierbar ... Rituale sind vergleichbar den fraglosen Selbstverständlichkeiten des Alltagslebens, die ebenfalls Reflexivität ausschalten. Aber sie erfüllen diese Funktion auch in angespannteren Situationen, wo dies nicht mehr selbstverständlich ist, sondern Interessen oder Zweifel oder Ängste kleingehalten werden müssen; sie setzen für problematischere Situationen artifiziellere Mittel ein".31 In einer formelhaft-abstrakten Formulierung hat Luhmann seine Überlegungen zur Funktion der Religion für die Gesellschaft 1972 zusammengefaßt: "Die spezifische Funktion der Religion liegt in der Bereitstellung letzter, grundlegender Reduktionen, die die Unbestimmtheit und Unbestimmbarkeit des Welthorizontes in Bestimmtheit oder doch Bestimmbarkeit angebbaren Stils überführen".32 Ahnlich schrieb er 1977 in seiner "Funktion der Religion: "In der Religion geht es um die Transformation unbestimmbarer in bestimmbare Komplexität".33 e) Religion als "Mitte" der Gesellschaft? Die christliche Religion, die einmal die Funktion erfüllte, die Gesamtkohärenz der Gesellschaft zu garantieren, hat diese Funktion im Verlauf des gesellschaftlichen Differenzierungsprozesses irreversibel verloren.34 Gleichwohl scheint

31

32 33

34

Hinblick auf die Theorie der ausdifferenzierten Gesellschaft und die damit einhergehende Teilbereichsautonomie wird man diesen zweiten Aspekt nur aufrecht erhalten können, wenn man sich klar macht, daß diese traditionelle Funktion der Religion in der ausdifferenzierten Gesellschaft auch von Politik, Philosophie, Schule, sozialen Bewegungen u.a. reklamiert wird. Sie wächst der Kirche nicht mehr als gesamtgesellschaftliche Funktion zu. Sie ist dem Wettbewerb der Systembereiche ausgesetzt und umkämpft. N.Luhmann: Grundriß, S.613f. Über den Mythos schreibt Luhmann: "Will man die Welt so beschreiben, daß man ihrer Ordnung trauen und Bedrohlichkeit ausgrenzen kann, bedient man sich des Mythos." - Brauchen wir eine neuen Mythos?, in: Ders.: Soziologische Aufklärung IV, Opladen 1987, S.261 Ν. Luhmann: Religion, S. 11 Ν.Luhmann: Funktion, S.20; N.Luhmann: Dogmatik, S.21; N.Luhmann: Kommunikation, S.186; weitere Belege und eine differenziertere Darstellung bei H.-U.Dalimann: Systemtheorie, S.95f So auch F.-X.Kaufmann: Religion, S.61-69

328

V. Die evangelischen Landeskirchen

die Gesellschaft, die keine "Mitte" mehr hat, eine solche Mitte doch zu vermissen. Denn die evangelischen Kirchen sind mit einer breiten Erwartungshaltung konfrontiert, die die Wahrnehmung eben dieser integrierenden Funktion von ihnen fordert. Empirische Erhebungen, wie die zweite EKD-Umfrage oder die Vorabauswertung der dritten EKD-Umfrage, zeigen, daß den christlichen Kirchen nach wie vor eine hohe Kompetenz im Bereich des Gesamtwohlergehens und der Gesamtkohärenz der Gesellschaft unterstellt und zugetraut wird. Statements wie "Die evangelische Kirche soll Alte, Kranke und Behinderte betreuen", "... soll sich gegen Fremdenhaß und Ausländerfeindlichkeit wenden" oder "... soll für Werte eintreten, die für das Zusammenleben der Menschen wichtig sind" erfahren in den Umfragen überdurchschnittlich hohe Zustimmungsraten. 35 Findet sich hier lediglich ein Reflex auf die "gute alte Zeit", oder spricht aus solchen Erwartungen auch ein Empfinden für das strukturelle Defizit der ausdifferenzierten Gesellschaft? Die Frage ist schwer zu beantworten. Allerdings ist nicht erkennbar, wie denn die Kirchen, die selbst nur Teilsysteme in einer ausdifferenzierten Umwelt sind, die Funktion der integrierenden Gesamtverantwortung überhaupt kompetent wahrnehmen können, ohne darüber zu Lobbyisten oder zu Predigern in der Wüste zu verkommen. Die Denkschriften der EKD beweisen immer wieder, wie schwierig die Gratwanderung ist. Vom universalen Gültigkeitsanspruch des jeweiligen binären Codes her gesehen, ist "jede Teilsystembildung nichts anderes ... als ein neuer Ausdruck für die Einheit des Gesamtsystems" (S.204). Eine alle Teilbereiche umgreifende, übergeordnete und weisungsbefugte Gesamtzuständigkeit gibt es in der ausdifferenzierten Gesellschaft nicht mehr. Es gibt lediglich ein Systembereiche übergreifendes kulturelles Fundament in Form der S p r a c h e .

f) Nicht systemgebundene Religiosität Auf eine "religiöse Dimension" im Ruf nach der moralischen Gesamtverantwortung in der und für die Gesellschaft hat Luhmann schon in seiner "Funktion der Religion" hingewiesen. Er schreibt dort, daß "allgemeingesellschaftliche 35

Fremde Heimat, S . 2 7

36

Systembildung erfolgt nach Luhmann aufgrund von regelgeleiteter Kommunikation unter den B e d i n g u n g e n v o n doppelter Kontingenz. Systembildung zielt auf G e m e i n s a m k e i t e n im Handeln ab. "Ein soziales System konstituiert sich mithin als Handlungssystem, aber e s muß dabei den kommunikativen Kontext des Handelns voraussetzen; beides also, Handlung und Kommunikation, ist notwendig, und beides muß laufend zusammenwirken" ( N . L u h mann: Grundriß, S . 2 3 3 ; ähnlich S . 2 4 0 ) . Damit greifen alle S o z i a l s y s t e m e auf g e m e i n s a m e Orientierungs- und Ordnungsvorgaben aus der Kultur zurück. Sie ruhen auf e i n e m systemübergreifenden kulturellen Fundament. Die Mitglieder der unterschiedlichsten

Sozialsy-

s t e m c sind zumindest theoretisch untereinander verständigungsfahig, wobei Luhmann in s e i n e m Grundriß auch deutlich herausgearbeitet hat, daß gerade Störungen und Mißverständnisse wichtige Faktoren im Kommunikationsgeschehen sind. "Zu den wichtigsten Leistungen der Kommunikation gehört die Sensibilisierung d e s S y s t e m s für Z u f ä l l e , für Störungen, für 'noise' aller Art. Mit Hilfe von Kommunikation ist e s m ö g l i c h , Unerwartetes, U n w i l l k o m m e n e s , Enttäuschendes verständlich zu machen." - Grundriß, S . 2 3 7

2. Wandlungsimpulse I: Gesellschaft

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Moralisierungen von Kontingenzformeln, namentlich des (nicht nur ökonomischen!) Verhaltens in bezug auf Knappheit, des (nicht nur politischen!) Verhaltens in bezug auf Gemeinwohl und des (nicht nur wissenschaftlich zweckmäßigen) Anerkennens der Limitationen menschlicher Erkenntnis ... religiös wichtige Themen" aufgreifen. Aber was für die nicht systemgebundenen Aktivitäten der Bewegungen allgemein gilt, gilt im besonderen auch für nicht institutionengebundene religiöse Impulse. Auch sie lassen sich nicht verstetigen und auf Dauer stellen. Vagierende Religiosität kann keine verläßlichen und dauerhaften Kohärenzsicherungsfunktionen im Gesellschaftssystem übernehmen. Sie bildet allenfalls den Nährboden für die Stabilisierung alter und die Entstehung neuer religiöser Sozialsysteme. Diese unterliegen wiederum den Gesetzmäßigkeiten, die in der ausdifferenzierten Gesellschaft für alle Teilsysteme gelten. Die Religion besitzt also weder in ihrer organisierten noch in ihrer nichtorganisierten Form die Voraussetzung, um im Hinblick auf das Ganze der Gesellschaft eine Sonderrolle spielen oder gar Weisungsbefugnisse reklamieren zu können. Wo sie dennoch versucht, diese Rolle über die Anknüpfung an Bewegungen zurückzuerobern, was in der EKHN-Studie "Person und Institution angedacht ist^8> wird sie unglaubwürdig, weil sie als System der temporalisierten Existenz von sozialen Bewegungen nicht entsprechen kann. Sie ist dann gezwungen, sich chamäleonhaft dem jeweils dominierenden "Geist der Bewegung" anzupassen und sich als Wellenreiter am jeweils erkennbaren Trend zu beteiligen. Sie kommt immer zu spät und kann bestenfalls für sich reklamieren, "auch" dabei gewesen zu sein. Luhmann hat diese in der evangelischen Kirche nicht unbekannte Methode heftig kritisiert. "Fast gewinnt man den Eindruck, als ob die Religion sich heute als eine Art Parasit gesellschaftlicher Problemlagen entwikkele" (S. 191). Aus gesellschaftstheoretischer Einsicht heraus hat er der Kirche empfohlen, sie solle sich grundsätzlich an ihrer Leitdifferenz und ihrem Kommunikationsmedium orientieren, wenn sie sich im Konzert der öffentlichen Meinungen nicht überflüssig machen wolle. Kirche ist nur dann erkennbar Kirche, wenn sie von ihrer innersystemischen Kompetenz Gebrauch macht. Anderenfalls hat sie "hart gesagt, keine Religion mehr zu bieten" (S. 191).

g) Würdigung 1. Luhmanns Gesellschaftsmodell: Luhmann hat mit dem schlichten Modell von Leitdifferenz und Kommunikationsmedium einen Erklärungsansatz von hoher Plausibilität vorgelegt.39 Es gelingt ihm überzeugend, viele im Alltagserleben 37 38

39

N.Luhmann: Funktion, S.219 Anm.70 Vorgeschlagen wird, durch eine tiefgreifende Transformation der parochialen Grundstruktur der Landeskirche Anschluß an die "sozialen Bewegungen" zu finden, um ihnen innersystemisch einen Platz im Organisationsgefüge der Landeskirche zu eröffnen. - S.18f; S.116-128 Die Würdigung erfolgt im Rahmen der Einschränkungen, die für modelltheoretische Arbeiten grundsätzlich gelten (s.o. Kap.III la und s.u. Kap.VIII). Modelle sind aufgrund der se-

V . D i e evangelischen Landeskirchen

330

verankerte Erfahrungen aus d e m Mit- und Gegeneinander der ausdifferenzierten Systembereiche und T e i l s y s t e m e heraus zu erklären. Sie arbeiten vorrangig nach M a ß g a b e ihrer eigenständigen binären Codierungen und sind primär ihrer s y s t e m s p e z i f i s c h e n Leitdifferenz verpflichtet. 2 . Luhmanns Religionsverständnis: Luhmann hat die R e l i g i o n als eigenständig e n und v o l l w e r t i g e n Systembereich in der ausdifferenzierten Gesellschaft ang e s e h e n . V o n d i e s e m A n s a t z her gewinnt er eine Reihe v o n Einsichten, die für die Selbsterkenntnis einer j e d e n ecclesia visibilis unverzichtbar sind: * W i e alle anderen Systembereiche besitzt auch die christliche R e l i g i o n eine eigene

Leitdifferenz,

ein

eigenständiges

Kommunikationsmedium

und

einen

systeminternen Universalitätsanspruch. Sie erfüllt eine klar definierte Funktion innerhalb der G e s e l l s c h a f t und für die Gesellschaft. "Mit dieser Funktion der Reformulierung unbestimmter Komplexität ist und bleibt d i e R e l i g i o n an die Ebene d e s gesamtgesellschaftlichen S y s t e m s g e b u n d e n " . 4 0 Luhmann hat damit die Teilhabe der R e l i g i o n am Gesamtkonzert der gesellschaftlichen

System-

bereiche gesichert. Sie dient nicht nur sich selbst. D i e s e n Gedanken gilt es, angesichts von innerkirchlichen Überlegungen, die auf d e n radikalen Rückbau der lektiven Faktorenauswahl, die die Modellbildung überhaupt erst ermöglicht, notwenigerweise in ihrer Erklärungskraft und ihrer Reichweite begrenzt. Das gilt auch für Luhmanns System- und Gesellschaftsmodell. Von anderen Prämissen her läßt sich durchaus ein andersgelagertes Gesellschaftsbild, aber auch ein anderes Systemverständnis entwickeln. In der gegenwärtigen soziologischen Diskussion hat Richard Münch im Anschluß an J.Habermas und D.Lockwood (Social Integration and Systems Integration, in: G.K.Zollschan / W.Hirsch (Hg.): Explorations in Social Chance, London 1964, S.244-257) einen solchen Entwurf vorgelegt, auf den an dieser Stelle zumindest hingewiesen werden soll. Während Luhmann über seine radikale Differenzierungsthese zu pessimistischen Ansichten Uber die Zukunfts- und Integrationsfähigkeit der Gesellschaft neigt, bildet bei Richard Münch gerade die Integrationskraft der Gesellschaft den Ausgangspunkt der Überlegungen. Münch geht von der Hypothese einer "Sozialintegration" der Gesellschaft aus. Indem er zwischen "empirisch gegebenen" und "analytischen" Systemen unterscheidet, gewinnt er die Anschlußfahigkeit seiner Theorie an die (von ihm nicht bestrittene) These einer Teilsystemdifferenzierung der Gesellschaft (defizitäre "Systemintegration") und gelangt zu einer (gegenüber Luhmann) signifikant anderen Gesellschaftsbeschreibung: "Die empirisch gegebenen Teilsysteme |sind| als Interpenetrationsprodukte", d.h. als Ergebnis multisystemischer Einflußnahme, anzusehen (R.Münch: Elemente einer Theorie der Integration moderner Gesellschaften, in: Berliner Journal für Soziologie H. 1/1995, S. 15/2); vgl. R.Münch: Dynamik der Kommunikationsgesellschaft, Frankfurt/M. 1995, S.27: "Ein grundrechtlich gewollter Pluralismus gegenseitiger Kontrollen". (Über Systemintegration und Sozialintegration bei Luhmann und Habermas vgl. auch H.Willke: Systemtheorie, S. 134-136.) Eine eingehende Auseinandersetzung mit Münchs Gesellschaftstheorie würde partiell andersgelagerte Ergebnisse hinsichtlich der Ortsbestimmung der christlichen Kirchen in der Gesellschaft erbringen. So scheint mir etwa der Aspekt des Einsickerns der ethischen Zweitcodierung der christlichen Religion in die gesellschaftlichen Teilsysteme (Interpénétration) vertiefender Untersuchungen wert. Aber nicht allein evolutionär, auch strukturell lassen sich Sozialsysteme durchaus auch als "Mikrokosmos der Gesellschaft" ansehen. In dieser Hinsicht gelangt man mit Luhmanns Begriff der "Zweitcodierungen" (s.u. Anm.92) rasch an eine Grenze. 40

N.Luhmann: Religion, S.21

2. Wandlungsimpulse I: Gesellschaft

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Volkskirche und den Rückzug der Kirche aus der Gesellschaft abzielen, festzuhalten. * Mit dem Verschwinden des traditionellen Primats der Religion fallt auch die Möglichkeit, die Gesellschaft als Ganze nach religiösen Vorgaben umzugestalten. "Die Gesellschaft kann nicht in Richtung auf eine Funktion optimiert werden".^41 D a s Vorhaben ist illusorisch geworden. "Gesellschaftliches Erleben und Handeln, das religiös qualifizierbar wäre", fallt prinzipiell nur noch "diffus, verstreut, okkasionell an".42 Es kann sich stets nur je und je vollziehen, nicht mehr total oder en bloc nach Art der altchristlichen Germanenmissionierung. Die aktuelle Situation gewinnt, die strukturelle Lage verliert an potentieller religiöser Bedeutsamkeit. * Die organisierte christliche Religion ist in ein Netzgeflecht von Abhängigkeiten und wechselseitger Beanspruchung eingebunden. Der Systembereich "Religion" ist, wie alle anderen, ebenfalls darauf angewiesen, daß "andere Funktionen anderswo" erfüllt werden. Auch religiöse Systeme sind nur partiell "zuständig". Ihre Spezialisierung sichert ihre gesellschaftliche Präsenz, bindet sie in die Gesellschaft ein und setzt sie der Konfrontation mit den Rationalitäten der "fremden" Systembereiche aus, auf deren Leistungen sie jedoch gleichzeitig angewiesen sind, um ihren Systemstatus zu bewahren.43 * Luhmann ordnet die Religionskritik dem Bereich der "Sinnzweifel" zu und versteht Sinnzweifel als gesamtgesellschaftliches Phänomen, das strukturell im Miteinander und in der Konkurrenz der Systembereiche verankert ist. Mit dieser Annahme entlastet er die organisierte Religiosität von Selbstzweifeln. 3. Luhmanns Kirchenverständnis: Luhmann weist die christlichen Kirchen darauf hin, daß sie "sichtbare" Kirchen sind. Sie sind soziale Systeme, die auf ihrem Systemstatus festzulegen sind. Auch daraus ergeben sich eine Reihe von Konsequenzen, die für die Selbsteinschätzung der evangelischen Landeskirchen unverzichtbar sind: * Gegenüber einem rein "geistlichen" Selbstverständnis der kirchlichen Organisation, das, wie gezeigt, häufig mit einer changierenden Verwendung des Begriffs "Kirche" einhergeht, betont er unzweideutig, daß die Kirchen, insbesondere die Kirchenleitungen, den gleichen Anforderungen unterliegen wie alle anderen sozialen Großorganisationen: "Organisationen des Religionssystems sind ... nicht Stätten frommer geistlicher Kommunikation; sie sondern sich nicht ab für ungestörtes Beten, sondern beschäftigen sich eher damit, über Probleme zu entscheiden, die sich daraus ergeben, daß andere nicht beten" .44 * Die christlichen Kirchen können eine Funktion in der Gesellschaft und für die Gesellschaft erfüllen, weil sie an allgemein menschliche Befindlichkeiten an41 42 43 44

N.Luhmann: Funktion, S.52 beide Zitate N.Luhmann: Funktion, S.51 N.Luhmann: Funktion, S.36 und 52 N.Luhmann: Funktion, S.311 f

332

V. Die evangelischen Landeskirchen

knüpfen. Es gibt akzidentielle und normative Krisen im Zusammenleben der Menschen, aber auch im Raum der Gesellschaft, die den Ruf nach religiöser Begleitung durch Vertreter/innen der christlichen Kirchen auslösen. Das wird gerade von kirchlichen Mitarbeiter/innen im Parochialdienst als positiv empfunden, weil sie zurecht daraus ableiten, daß sie eine wichtige Arbeit tun.45 Luhmann formuliert das soziologisch: "Die Anlässe für ein Fungieren als Kirche liegen ... nicht notwendigerweise in der Kirche. Bei aller Bemühung um Selbstorganisation und stereotype Reproduktion von Anlässen für geistliche Kommunikation wird man doch sehen müssen, daß spontan auftretender Bedarf und spontan auftretende Bereitschaften damit nicht erfaßt sind. Sie treten als Umweltbedingungen religiösen Fungierens für die Kirche 'zufällig' auf" .46 Diese "spontan auftretenden Bereitschaften" sichern den gesellschaftlichen Status der Kirchen. * Luhmann ermahnt die christlichen Kirchen eindringlich, bei "ihrem Leisten zu bleiben" und die Grenzen nicht zu überschreiten, die ihnen durch ihre spezifische Leitdifferenz und ihr spezifisches Kommunikationsmedium gesetzt sind. In dieser Forderung ist ihm zuzustimmen, obwohl er beides wohl inhaltlich falsch bestimmt h a t . 4 7 Im folgenden wird zwar eine alternative Bestimmung von Leitdifferenz und Kommunikationsmedium der Religion vorgelegt werden, gleichwohl aber bleibt festzuhalten, daß die christlichen Kirchen nur dann unverwechselbar und glaubwürdig bleiben, wenn sie als eigenständige Sozialsysteme erkennbar und profiliert sind.

2.2 Die Landeskirchen in der ausdifferenzierten Gesellschaft Zwangspositionierung in das Marktsegment Die evangelischen Landeskirchen sind seit 1918 keine funktional eingebundenen Teilsysteme des Staates mehr, sondern markt- und kundenorientierte Sozialsysteme. In allen Systembereichen der Gesellschaft (Medizin, Justiz, Finanzen usw.) gibt es sowohl funktionale Teilsysteme als auch marktorientierte Teilsysteme. Während ein "funktionales System" (Amtsgericht, Krankenhaus, Parlament) in einen größeren Systemzusammenhang eingebunden ist und in diesem 45

46 47

Die kurze Thesenreihe über "Aspekte einer funktionalen Theorie des kirchlichen Handelns", die Karl-Wilhelm Dahm 1971 in "Beruf: Pfarrer" vorgelegt hat (S.303-309), fand damals in Pfarrerkreisen eine ungewöhnlich große Resonanz. "Vermutlich hat er mit seinen Überlegungen zur rechten Zeit eben genau das ausgesprochen, was viele in der Kirche ersehnten, nämlich wahrzunehmen, daß die Kirche und die, die in ihr arbeiten, nicht funktionslos geworden sind, sondern gerade auch unter gesellschaftlichen Aspekten wichtige Aufgaben wahrnehmen". - K.-F.Daiber: Funktion, S.373 N.Luhmann: Funktion, S.57 Die Brauchbarkeit der Dogmatik als Kommunikationsmedium des Systembereichs "christliche Religion" stellt er sogar selbst in Frage: Funktion, S.306f

2. Wandlungsimpulse I: Gesellschaft

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Rahmen klar definierte Funktionen erfüllt, ist das "marktorientierte" Teilsystem (Rechtsanwalt, Arzt, Partei) auf die Akzeptanz von "Kunden" angewiesen. Das funktionale System profitiert von seiner Einbindung. Es muß sich nicht selbst um die Beschaffung der benötigten Ressourcen bemühen, sondern erhält diese Ressourcen, damit es in der Lage ist, seine Aufgaben zu erfüllen. Das marktorientierte System ist in seinen Entfaltungs- und Entwicklungsmöglichkeiten deutlich freier, sofern es ihm gelingt, die benötigten Ressourcen "am Markt" unter Konkurrenzbedingungen zu gewinnen. Mit dem Weimarer Reichsgesetz sind die evangelischen Landeskirchen aus dem funktionalen Segment ausgeschlossen und ins Marktsegment des Systembereichs "Religion" positioniert worden. Die Härte der Statusveränderung ist zwar durch den Rechtsstatus von "Körperschaften des öffentlichen Rechts" sowie durch weitreichende Einfluß- und Mitsprachemöglichkeiten im politischen und kulturellen Leben abgemildert, faktisch aber ist sie seit mehr als 70 Jahren bereits definitiv vollzogen. Der Staat hat sich so organisiert, daß er prinzipiell auch ohne funktionale Dienstleistungen durch die Kirchen auskommen könnte. Zugleich kann und darf jeder, der aus der Kirche austreten will, das auch tun. Zwischen dem Staat und den verschiedenen Konfessionskirchen besteht prinzipielle Neutralität. Niemand darf staatlicherseits wegen seines Glaubens oder auch wegen seines Unglaubens Nachteile erleiden. Die Ausgangsbasis hat sich damit für die Landeskirchen vollkommen verändert, auch wenn sich das kulturell verankerte Religionsverständnis der deutschen Bevölkerung noch längst nicht entsprechend verändert hat. Die Konstanz des Mitgliederverhaltens und die Ungleichzeitigkeit der Gleichzeitigen haben den großen Konfessionskirchen lange Übergangsfristen und Anpassungszeiten beschert. Die Aufgabe, vor die die Landeskirchen seit 1918 gestellt sind, bleibt davon allerdings unberührt. Sie müssen sich in ihrem Selbstverständnis, ihrer Organisationsstruktur und in ihrer Arbeitsweise auf ihren veränderten Systemstatus als Marktsystem einstellen. Stattdessen aber sind die Gegebenheiten eines funktional eingebundenen Teilsystems, die längst hätten überdacht und verändert werden müssen, auch heute noch vielfach in den Landeskirchen anzutreffen. Der Geist einer bürokratischen Staatsbehörde durchwaltet immer noch das Arbeits- und Entscheidungstempo der Landeskirchen. Er prägt das berufliche Selbstverständnis der hauptamtlichen Mitarbeiter/innen und lähmt die Innovationsfähigkeit, die Flexibilität und die Mitgliedernähe der Organisation. Mental wie konzeptionell befinden sich die Landeskirchen allenfalls in einem Stadium, in dem ihnen die längst vollzogene Wandlung vom funktionalen Teilsystem hin zum marktorientierten Teilsystem nach und nach bewußt wird. Der erforderliche Wandlungsprozeß aber ist kaum einmal angedacht. Von einem großflächig vorhandenen Problembewußtsein oder gar einer konzeptionell verantworteten und konsequent umgesetzten Neuorientierung unter Berücksichtigung der Erfordernisse des Marktsegmentes sind die evangelischen Landeskirchen weit entfernt.

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V. Die evangelischen Landeskirchen

2.3 Die Landeskirchen in der ausdifferenzierten Gesellschaft Säkularisierungsbehauptung als Auslaufmodell Zu den von außen aufgezwungenen Wandlungsimpulsen gehört auch die Säkularisation kirchlicher Güter im ausgehenden 18. und beginnenden 1 9 . J a h r h u n d e r t . 4 8 Als geistesgeschichtliches Programm zielte der Säkularisierungsgedanke auf die strikte Trennung von Kirche und Staat und auf die Entkirchlichung des gesellschaftlichen L e b e n s . S o konnte es nicht ausbleiben, daß die Selbstpositionierung der Landeskirchen in ihrem Verhältnis zur Gesellschaft lange Zeit im Schatten des Säkularisierungsgedankens erfolgte. Zunächst wird das Gesellschaftsbild dargestellt, in dem der Säkularisierungsgedanke angesiedelt ist (a). Anschließend wird herausgearbeitet, inwiefern die Theorie der ausdifferenzierten Gesellschaft das Ende der Vorstellung von einer Totalsäkularisierung impliziert (b).

a) Rationalität, Fortschritt und Säkularisierung - eine ehemals plausible Assoziationskette Franz-Xaver Kaufmann hat darauf hingewiesen, daß die Selbstbeschreibungsattribute, die die Gesellschaft als "säkular" oder "modern" bezeichnen, "kulturelle Selbstdeutungen" s ind. 50 Sie bringen zum Ausdruck, wie eine Kultur sich selbst versteht: "Es handelt sich um Deutung von Gesellschaft, also um Anweisungen, wie wir Gesellschaft verstehen sollen. Kulturelle Deutungsmuster richten unsere Aufmerksamkeit. Sie gelten als selbstverständlich und eben gerade deshalb außerhalb jeder Kritik. Akzeptieren wir sie als Selbstdeutungen von Gesellschaft, so gewinnen sie leicht den Charakter von Letztbegründungen, nehmen also eine quasi religiöse Funktion an. Indem wir also akzeptieren, daß unsere Kultur im Kern säkularisiert, pluralistisch, individualistisch und modern sei, lassen wir uns auf eine Horizontbestimmung ein, die unser gesamtes Denken ausrichtet". Seit dem ausgehenden Mittelalter wurde der Prozeß der "okzidentalen Rationalisierung "52 von der Überzeugung angetrieben, daß der Kosmos Gesetzmäßigkeiten folgt, die von Menschen als solche erkannt werden können. Der 48 49 50

51 52

S.Reike: Säkularisation, in: RGG 3 , Bd.6, Sp. 1280-1288 C.H.Ratschow: Säkularismus, in: RGG 3 , Bd.6, Sp.1288-1296; T.Rendtorff: Zur Säkularisierungsproblematik, abgedruckt in: J.Matthes: Religionssoziologie II, S.208-229 H.Lübbe hat den Begriff "Säkularisierung" als "abnehmende soziale Mächtigkeit religiöser Institutionen" bestimmt (Religion nach der Aufklärung, Graz 1986, S.91). Franz-Xaver Kaufmann pointiert anders und spricht von einem "sozialen Bedeutungsverlust religiöser Sinndeutungen" (F.-X.Kaufmann: Religion, S.214). Beide Aspekte sind miteinander verbunden. F.-X.Kaufmann: Religion, S.213 W.Jagodzinski / K.Dobbelaere: Der Wandel kirchlicher Religiosität in Westeuropa, in: J.Bergmann u.a. (Hg.): Religion und Kultur (KZS SH 33), Opladen 1993, S.69

2. Wandlungsimpulse I: Gesellschaft

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analysierende Mensch entriß der Welt ihre Geheimnisse und machte sie sich mehr und mehr Untertan. Die empirische Forschung, die Klassifikation, die Logik und die Mathematik schufen ein neues Welt- und Selbstbewußtsein.53 Die Merkantilisierung und Industrialisierung der Wirtschaft brachten eine immense Kapitalvermehrung und damit auch ständig anwachsende Möglichkeiten^ "Zwar ist auch der Mensch den sozialen, biologischen oder physikalischen Gesetzmäßigkeiten unterworfen, aber er ist ihnen nicht in gleicher Weise ausgeliefert wie dem Willen einer undurchschaubaren Gottheit. Er kann die Gesetzmäßigkeiten für seine Zwecke nutzbar machen, indem er die Ausgangsbedingungen so verändert, daß die von ihm gewünschten Konsequenzen zwangsläufig oder mit großer Wahrscheinlichkeit eintreten ... In dem Maße, wie die Welt als planbar und berechenbar wahrgenommen wird, wird sie entzaubert. In den Erklärungen nehmen physikalische, psychologische oder soziale Kräfte den Platz von jenseitigen Mächten ein. Wunder werden entweder zu bloßen Metaphern herabgestuft oder als Sinnestäuschungen qualifiziert, um Widersprüche mit den Naturgesetzen zu vermeiden. Bildlich gesprochen wird das Wirken Gottes in der Welt mehr und mehr beschnitten; er wandelt sich vom allmächtigen Schöpfergott über den Uhrmachergott des Deismus bis hin zu einem dem Diesseits völlig entrückten, abstrakten Prinzip ... Die für wissenschaftliche Erklärungen und Prognosen geltenden Prinzipien haben längst in das Alltagsdenken Eingang gefunden. Man verläßt sich lieber auf Dünger und Schädlingsbekämpfungsmittel als auf Gebete und Weihwasser".55 Spätestens seit den späten 50er Jahren unseres Jahrhunderts hat sich an den Prozeß der Säkularisierung sekundärer Lebensbereiche (Staat, Wissenschaft, Erwerbsleben usw.) auch ein Prozeß der Säkularisierung der primären Lebensbereiche (Privatsphäre und Familie) angeschlossen. Die mit dem Auto und den Flexibilitätsanforderungen wachsenden Wohlstandes einhergehende Zunahme an räumlicher und sozialer Mobilität, aber auch der Siegeszug des Fernsehens ermöglichte es großen Teilen der Bevölkerung, einen Blick über die "vertraute Kirchturmspitze" hinauszuwerfen. Sichere Verhütungsmittel erlaubten die Lokkerung und Auflösung der traditionellen Sexualmoral. Die Zunahme der Erwerbstätigkeit von Frauen führte zur Aufweichung der traditionellen Familienrollen. Ein ständig verbreitertes Freizeitangebot ermöglichte vielfältige Formen selbstgewählter Freizeitgestaltung und erzeugte zunächst Zeitknappheit, später genußorientierte Formen der Freizeit- und Lebensgestaltung. Der besondere Schutz, der der "Privatsphäre" in bewußter Abkehr von den unheilvollen Erfah-

53 54 55

M.Foucault: Die Ordnung der Dinge, Frankfurt/M. 2 1978 C.Buchheim: Industrielle Revolutionen. Langfristige Wirtschaftsentwicklung in Großbritannien, Europa und Übersee, München 1994 W.Jagodzinski / K.Dobbelaere: Wandel, S.69

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V. Die evangelischen Landeskirchen

rungen des Dritten Reichs eingeräumt wurde, ermöglichte weitgehend ungestörte Selbstentfaltung innerhalb der eigenen vier Wände und führte zur verbreiteten Zurückweisung von Einmischungsversuchen in diesen Bereich. Alle diese Entwicklungen gingen, ohne das im einzelnen ausführen zu können, mehr oder weniger (auch) zu Lasten der christlichen Kirchen und der von ihnen vertretenen Überzeugungen. "Religion und Konfessionalität traten zurück aus dem öffentlichen und privaten Leben und verloren für die Fundierung einer christlich orientierten 'methodischen Lebensführung' (Max Weber) an Bedeutung ".56 Von daher war die Assoziationskette urspünglich einmal durchaus plausibel, daß die Rationalisierung des Weltverständnisses und der gesellschaftliche Fortschritt mit einer Ablösung von den christlichen Kirchen Hand in Hand gehen. Die Vollendung der Moderne, so schien es, würde früher oder später auch zur vollständigen Ablösung der Menschen von den Kirchen führen. Tatsächlich gibt es eine lange Liste von Beobachtungen, die diese These zu stützen scheint: Bernhard Schäfers nennt die nichtreligiöse Gestaltung von Geburts-, Heirats- und Todesanzeigen, den Wegfall des Tischgebets, den Wegfall religiöser Symbole in und an Häusern, an Wegen und Kreuzungen, den Wegfall des Priester- und Ordenshabits im Straßenbild, die abnehmende Prägung des Tages-, Wochen- und Jahresablaufs durch religiöse Vorgaben, die abnehmende Bedeutung der Konfessionszugehörigkeit, den Wegfall des Schulgebets. 57 Die evangelischen Kirchen konnten über Jahrzehnte und Jahrhunderte hinweg den "Traditionsschwund" und den damit einhergehenden "Sittenzerfall" lediglich beklagen. Letztlich standen sie ihm ohnmächtig gegenüber. Der Säkularisierungszug fuhr ohne sie. Von daher ist verständlich, daß sie sich, gewissermaßen als "Opfer des Prozesses", ins Gegenüber zur "modernen" Gesellschaft, positionierten. Konzeptionell hatten sie nichts entgegenzusetzen, was großflächig hätte wirksam werden können. Die nach wie vor konkurrenzlosen Gemeindeaufbaukonzepte von Emil Sülze über Jakob Schoell bis hin zu Gerhard Hilbert entstammten zwar schon der Jahrhundertwende, ließen sich aber selbst in den 50er und 60er Jahren noch als sachgemäße und situationsgerechte kirchliche Gegenstrategien gegen die "Verweltlichung" der Gesellschaft lesen. Man verblieb in den zwar wirkungslosen, aber doch eben altvertrauten konzeptionellen Vorstellungswelten und zog sich in die verbliebenen kirchlichen Nischen zurück. Die Landeskirchen entwickelten ein reaktives Selbstverständnis. b) Das unfreiwillige Ende der Säkularisierung durch die Ausdifferenzierung der Gesellschaft Die Hypothese vom drohenden Ende der organisierten Religion hat sich mittlerweile als falsch erwiesen. Franz-Xaver Kaufmann hat darauf hingewiesen, daß mit dem Prozeß der Ausdifferenzierung von Gesellschaft nicht nur ein Kompe56 57

B.Schäfers: Gesellschaftlicher Wandel in Deutschland. Ein Studienbuch zur Sozialstruktur und Sozialgeschichte der Bundesrepublik, Stuttgart 5 1990, S.301 B.Schäfers: Wandel, S.302

2. Wandlungsimpulse I: Gesellschaft

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tenzverlust und eine Erosion der christlichen Religion verbunden war, sondern daß damit überraschenderweise auch ein Prozeß der Verkirchlichung des Christentums einhergegangen ist. Der Mitgliederbestand der Landeskirchen ist, trotz gegensätzlicher Erwartungen, nahezu ungebrochen hoch geblieben. Selbst die statistischen Auswirkungen der jüngsten Kirchenaustrittswellen sind zwar bemerkenswert, aber nicht existenzbedrohend. Die Ausdifferenzierung der Gesellschaft, "die Emanzipation von Wirtschaft, Staat und zuletzt auch privater Lebenswelt aus den Führungs- und Deutungsansprüchen des Christentums [hat] nicht dessen Verschwinden, sondern seine Verkirchlichung" bewirkt.58 Rückblickend läßt sich heute feststellen, daß es den Landeskirchen schon in den 20er Jahren dieses Jahrhunderts gelungen ist, sich als stabiler Rahmen für die christliche Religionsausübung zu bewähren und ihre Position im Staatsgefüge auch rechtlich gut zu verankern. Schließlich konnte seit der Verabschiedung des Grundgesetzes auf dem Staatsgebiet der alten Bundesrepublik Deutschland zumindest in diesem Teil Deutschlands von einem prinzipiellen Gegeneinander zwischen Staat und Kirche keine Rede mehr sein. Hinzu kommt, daß die religiöse Überdeterminierung staatlicher Systeme, wie sie der Prozeß der gesellschaftlichen Ausdifferenzierung bei gleichzeitiger Schwächung der Kohärenzsicherungsfunktion der christlichen Kirchen im 19.Jahrhundert möglich gemacht hat, nach dem Zusammenbruch des europäischen Faschismus und dem jüngsten Zusammenbruch des Sozialismus (zumindest vorerst) beendet ist. Viele westliche Staaten wissen sich zwar nach wie vor Gott verpflichtet (Präambel des Grundgesetztes), aber sie sehen die Organisation des Staates nicht mehr als ein Produkt der höchsten Vorsehung (Führerkult) oder als Garant der Realisierung überirdischer Glücksverheißungen (Kommunismus) an. Demokratische Staaten besitzen kein religiös motiviertes Interesse mehr an generalisierten Gegnerschaften, auch nicht gegenüber den christlichen Kirchen. Es gibt in diesen Staaten keine "Hauptgegner" mehr, gegen die alle anderen Systembereiche und Teilsysteme sich zusammenschließen müßten, um sich ihrer zu entledigen. Im Gegenteil, wo Systembereiche in ausdifferenzierten Gesellschaften "Nichtzuständigkeit" konstatieren, da akzeptieren sie aufgrund funktionaler Abhängigkeiten auch Fremdzuständigkeiten. Im Gefüge der ausdifferenzierten Gesamtgesellschaft fällt damit auch den Landeskirchen eine deutlich veränderte Position zu. Eine Selbstpositionierung von Kirche, die, salopp formuliert, dem Motto "alle sind gegen uns" verpflichtet ist, entspricht den tatsächlichen Gegebenheiten nicht mehr. Zwar gibt es in der ausdifferenzierten Gesellschaft einen umfassenden Wettbewerb der Teilsysteme. Dieser Wettbewerb richtet sich jedoch nicht pauschal gegen einen einzigen Systembereich. Vielmehr herrschen prinzipiell zwischen allen Teilsystem58 59

F.-X.Kaufmann: Religion, S.279; vgl. auch S.214f Selbst in der neueren philosophischen Diskussion kann das, wenn auch noch selten, die Anerkennung der Existenz eines eigenständigen Systembereichs "Religion" mit eigenständiger Leitdifferenz und eigenstähdigen Funktionen einschließen. - H.M.Baumgartner: 'Aufklärung' - Ein Wesensmoment der Philosophie?, in: W.Kern (Hg.): Aufklärung und Gottesglaube. Düsseldorf 1981, S.49; H.Lübbe: Religion, S.19f

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V. Die evangelischen Landeskirchen

bereichen ausgeprägte Konkurrenzen um die Reichweite der Zuständigkeiten, um die maßgeblichen Leitdifferenzen und um die Ressourcen, die jedes System zum Überleben benötigt. Von diesem Gerangel ist der Systembereich Religion nicht ausgenommen. Aber unter derartigen Bedingungen sind mit der Fähigkeit eines jeden Systems, dies alles für sich sicherzustellen, gleichzeitig auch Sitz und Stimme im Konzert der Teilsysteme der Gesellschaft gesichert. Die Ausdifferenzierung der Gesellschaft eröffnet auch den christlichen Kirchen, deren Absterben vorhergesagt war, neue Partizipationschancen. Sie sind sehr viel mehr ein Teil dieser Gesellschaft, als sie es selbst glauben oder für möglich halten. Es läge an ihnen, die damit verbundenen Chancen auch zu nutzen. Allerdings wäre die Orientierung am alten Säkularisierungsverständnis und an einer passiv zu erduldenden Opferrolle durch ein neues Selbstverständnis, und zwar als Sozialsystem in einer pluralistischen Gesellschaft, zu ersetzen. Franz-Xaver Kaufmann hat sicherlich Recht, wenn er schreibt: "Daraus läßt sich selbstverständlich nicht schließen, daß das Christentum den verborgenen Schlüssel zum Tor einer Postmoderne besäße, die uns von den 'heillosen' Leiden an der Modernität befreien könnte".61 Die christlichen Kirchen gehen aus der Entwicklung nicht automatisch gestärkt hervor. Im Gegenteil, sie werden einiges für ihre zukünftige Stärke tun müssen. Aber, und das ist das Positive, sie können auch einiges dafür tun. Sie haben etwas zu sagen, und sie haben etwas zu bieten, was in der gegebenen Situation keineswegs mehr so selbstverständlich wie ehedem durch das Raster der permanenten Plausibilitätskontrolle hindurchfällt (vgl. auch Kap.V 3e 5.). Die Bedrückung angesichts der selbsterzeugten Risiken ruft in gleicher Weise nach solidarischer Begleitung wie nach kritischer Stellungnahme. Und schließlich zielt die Sehnsucht nach der verlorenen Ganzheit und der Wiederkehr des Religiösen in der "postmodernen" Gesellschaft auf den ureigensten Zuständigkeitsbereich der christlichen Kirchen. Mögliche Arbeitsfelder und denkbare Inhalte für ein zukunftsoffenes, volkskirchlich ausgerichtetes und landeskirchlich verfaßtes Christentum, das sich selbst als Teilsystem in der ausdifferenzierten Gesellschaft versteht, sind also durchaus vorhanden. Von daher wird nun die Frage dringlich, ob die Landeskirchen strukturell überhaupt dazu in der Lage sind, die gesellschaftlichen Wandlungsimpulse anzunehmen und sich den Herausforderungen zu stellen, mit denen eine ausdiffe60

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Wenn dennoch festzuhalten ist, daß das veraltete Säkularisierungsbewußtsein nach wie vor in der Gesellschaft anzutreffen ist, dann läßt sich das u.a. mit der "Ungleichzeitigkeit der Gleichzeitigen" erklären. Auch die Durchsetzung der kulturellen Selbstdeutungsmuster verläuft zeitverzögert und nichtlinear. Der Kirchenpräsident der EKHN, P.Steinacker, hat darauf hingewiesen, daß das durchaus auch für die Repräsentanten staatlicher Organe gelten kann, als er die Urteilsbegründung des "Kruzifix-Urteils" des Bundesverfassungsgerichts (Abnahme von Kreuzen aus den Klassenzimmern Bayerischer Schulen: "Lernen unter dem Kreuz") kritisierte. Sein berechtigter Vorwurf lautete, die Verfassungsrichter hätten das Toleranzgebot der Verfassung falsch angfewendet und sich dabei von einem veralteten Säkularisierungsverständnis leiten lassen (FAZ vom 17.8.1995). F.-X.Kaufmann: Religion, S.68

2. Wandlungsimpulse I: Gesellschaft

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renzierte Gesellschaft sie konfrontiert, die sich ihrerseits in einem ständigen Prozeß des Wandels befindet. Wieviel Potential besitzen die Landeskirchen, um hier Schritt zu halten? Können sie das, ja, sollen sie das überhaupt wollen? In den folgenden drei Kapiteln wird diesen Fragestellungen nachgegangen werden, die aus systemtheoretischer Sicht über die Zukunftsfähigkeit des landeskirchlich verfaßten, volkskirchlichen Christentums entscheiden. Zunächst wird das Verhältnis von ecclesia invisibilis und ecclesia visibilis (Landeskirche) eingehender untersucht. Der konstitutive Referenzbezug der Landeskirchen auf die ecclesia invisibilis begrenzt ihre Wandlungsfähigkeit, konstitutiert aber zugleich auch ihr Systemprofil.

3. Wandlungsimpulse Π: Das Verhältnis von Landeskirche und ecclesia invisibilis In diesem Kapitel wird der besondere Systemcharakter des Teilsegments "christlich-kirchliche Religion" in der Gesellschaft behandelt werden. Die Landeskirchen unterscheiden sich aufgrund einer "Netzwerkstruktur", in der sie unaufhebbar mit der ecclesia invisibilis verbunden sind, von jedem anderen Systembereich der Gesellschaft. Die Darstellung wird an Luhmanns Gesellschaftsmodell anschließen, die strukturelle Schwäche seines Kirchenverständnisses herausarbeiten, um dann zur Entwicklung eines modifizierten Kirchenverständnisses zu fuhren. Die Leitdifferenz und das Kommunikationsmedium des Sozialsystems "christliche Kirche" sollen von den Ergebnissen der neutestamentlichen Untersuchung her neu bestimmt werden. Von daher wird es dann möglich sein, die Paradoxien und die Grenzen zu benennen, innerhalb deren sich jedes Verständnis der Landeskirche als eines Sozialsystems bewegt. a) Kritische Anmerkungen zu Luhmanns Kirchenverständnis Es ist Luhmanns Verdienst, die christlichen Kirchen wieder an ihren Systemcharakter erinnert zu haben. Sie sind für die Menschen, aber auch für die Gesellschaft als Ganze bedeutungsvoll. Das gilt schon dann, wenn man ihnen, wie Luhmann, lediglich die Funktion der Kohärenzsuggestion zubilligt. Aber Luhmanns Kirchenverständnis weist auch konzeptionell bedingte Schwächen auf. Der streng soziologische Blick auf die Kirchen vermag die Plausibilität religiöser Mitgliedschafts- und Teilnahmemotivationen nur in begrenztem Ausmaß zu erfassen und dem Selbstverständnis der christlichen Kirchen zu genügen. In der Verhältnisbestimmung von ecclesia visibilis und ecclesia invisibilis zeigen sich Mängel. 1. Das Verhältnis von Kirche und Gesellschaft: Die Verzahnung der Kirchen mit anderen gesellschaftlichen Systembereichen scheint zumindest nicht so eng

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V. Die evangelischen Landeskirchen

zu sein, wie es die Theorie der ausdifferenzierten Gesellschaft hypothetisch vorsieht. Demnach wären die christlichen Kirchen Sozialsysteme (Großorganisationen) innerhalb eines Systembereichs, der seine Legitimation aus seiner Spezialisierung und dem damit einhergehenden Angewiesensein der übrigen Teilsystembereiche auf seine Leistungen gewinnt. Die Plausibilität dieser Annahme wird zumindest in Frage gestellt, wenn in anderen Teilbereichen wie Arbeitswelt, Politik oder Wissenschaft Ignoranz oder unverhohlene Ablehnung gegenüber dem Systembereich Religion herrschen können, wohingegen etwa kein Ökonom die Alltagsrelevanz des Rechtes oder der Medizin in Zweifel stellen würde. Sind die Teilbereiche tatsächlich so integriert, wie die Theorie der funktionalen Ausdifferenzierung (Redundanzverzicht der Systembereiche) es vorsieht, oder muß man möglicherweise mit gestaffelten Intensitäten in der gegenseitigen Verzahnung rechnen? An diesem Punkt weist Luhmanns Theorie Erklärungsbedarf auf. 62 2. Mitgliederreligiosität: Luhmann weiß, daß man in unserer Gesellschaft nicht nur aus den Kirchen austreten, sondern u.U. ganz ohne dezidiert kirchlich-religiöse Religionspraxis auskommen kann. Er schreibt das unzweideutig im folgenden Textabschnitt, wobei vorauszuschicken ist, daß er darin allgemein von "der Religion" spricht, inhaltlich aber Formen der k i r c h l i c h e n ^ Frömmigkeit und Teilnahme meint: "Man kann geboren werden, leben und sterben, ohne an Religion teilzunehmen; und auch wenn die Religion sagen wird, daß dies alles in Gottes Welt geschieht, kann der Einzelne dies schadlos ignorieren. Die Möglichkeit religionsfreier Lebensführung ist als empirisches Faktum nicht zu bestreiten ... Alle anthropologischen Begründungen der Funktion von Religion brechen an diesem Tatbestand zusammen; weder Sinnbedürfnisse noch Trostbedürfnisse halten die Religion am Leben. Man kann höchstens sagen, daß sie sich bereit halten sollte, für den Fall, daß jemand solche Bedürfnisse k o m m u n i z i e r t " . ^ Wer so konsequent die "Möglichkeit einer religionsfreien Lebensführung" ins Auge faßt, wird sich die Rückfrage gefallen lassen, ob er damit nicht seine eigene Integrationsthese in Frage stellt. Ist kirchliche Religon tatsächlich ein gesamtgesellschaftlicher Systembereich wie alle anderen? Die Erklärungskraft von Luhmanns Theoriegebäude gerät hier an eine G r e n z e . 6 5

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63 64 65

An diesem Punkt greifen die modelltheoretischen Überlegungen aus Anm.39. Das Gesellschaftsmodell von R.Münch, das in der Anm. kurz skizziert worden ist, erbringt hier klarere Einschätzungen. So ist der Text zu verstehen. Anderenfalls wären seine Aussagen falsch. N.Luhmann: Gesellschaftsstruktur III, S.349 Bei der Untersuchung der Religiosität von Kirchenmitgliedern (s.u. Kap.VI 3.2d) wird sich zeigen, daß die ökonomische Nutzentheorie der soziologischen Funktionstheorie in ihrer Erklärungskraft an diesem Punkt deutlich überlegen ist. Hier liegt eine Grenze des funktionstheoretischen Ansatzes.

3. Wandlungsimpulse II: ecclesia invisibilis

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3. Systembereich Religion vor dem Aus? Eine Reihe von Bemerkungen weisen darauf hin, daß Luhmann die Stunden des Systembereichs Religion für gezählt hält. Die Gesellschaft benötigt die Leistungen dieses Sektors immer weniger. "Religion reformuliert die Bedingungen von Unsicherheit ... Der Bedarf für diese Leistung hängt zusammen und variiert mit dem Entwicklungsstand der Gesellschaft" Das kann bedeuten: Der Bedarf für die spezifische Leistung der Religion sinkt ab, wenn der Entwicklungsgrad der Gesellschaft ansteigt. Mit Blick auf die Entwicklungsgeschichte der Menschheit ist diese These nachvollziehbar. Religion hätte es dann heute nur noch mit den Resten des einstmals deutlich umfassenderen Kompetenzrahmens zu tun. Von der einstigen Größe wäre nur noch die Kompetenz für biographische Krisen übrig geblieben. Jenseits von Statusübergängen und Erwartungsenttäuschungen als den letzten verbliebenen Zonen von "Unbestimmtheit" wären sie nicht mehr "zuständig". In der ausdifferenzierten Gesellschaft bliebe nur ein "verstreut und okkasionell auftretender B e d a r f " 671 den das Religionssegment abzudecken hat, und man wird folglich zu fragen haben: "Wie lange noch?" Die Differenzierungstheorie der Gesellschaft sichert der christlichen Religion einen Platz in der Gesellschaft, aber bei näherem Hinsehen scheint es doch eher der Platz in der Hundehütte vor dem Haus zu sein. An diesem Punkt stellt sich die Frage, ob Luhmann nicht doch zu stark als Soziologe gedacht und die faktische Mehrdimensionalität der Religion unzulässig reduziert hat. Das aber hieße, er hat die Erklärungskraft der Differenzierungstheorie im Hinblick auf die christlichen Kirchen überschätzt. 4. Die Landeskirchen und die ecclesia invisibilis: Schließlich läßt Luhmanns Theorie das kirchliche Selbstverständnis weitgehend unberücksichtigt. In ihrem eigenen Selbstverständnis rechtfertigen die christlichen Kirchen ihre Existenz weder mit irgendeinem gesellschaftlichen "Bedarf" noch sind sie an innergesellschaftlicher Funktionserfüllung interessiert. Weniger ein Erfordernis der Gesellschaft als vielmehr ihr in der Bibel fixierter Auftrag ist für sie maßgeblich. Als Kirchen "in der Nachfolge" orientieren sie sich an Botschaft, Zeugnis und Geschick Jesu Christi und stehen in der Kontinuität des Glaubens an das von Jesus Christus verkündigte "Reich Gottes". Die christlichen Kirchen sind folglich auch als Sozialsysteme (!) nicht sachgemäß verstanden, wenn man ihren konstitutiven Referenzbezug auf die Systemnormen und Spielregln der ecclesia invisibilis unberücksichtigt läßt. Die "profetische" Dimension der Kirche gründet unmittelbar in ihrem Referenzbezug auf die ecclesia invisibilis. Wer diesen Referenzbezug ignoriert, dem bleibt von den christlichen Kirchen möglicherweise tatsächlich nicht viel mehr als diakonisch-seelsorgerliche Restfunktionen,

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N.Luhmann: Religion, S.22 N.Luhmann: Funktion, S.34. "Nicht alle Funktionsbereiche evoluieren unter der Logik funktionaler Differenzierung gleichermaßen, und es fehlt nicht an Stimmen, die sagen, die Neuzeit bekomme der Religion nicht; sie bleibe zurück und gehe zugrunde." N.Luhmann: Gesellschaftsstruktur III, S.269

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V. Die evangelischen Landeskirchen

die in der Gefahr stehen, nach und nach im Wettbewerb der Systeme zerrieben zu werden. Luhmann weiß, daß die christlichen Kirchen mit der Vorstellung von einer "ecclesia invisibilis" operieren.^® Er weist selbst mehrfach darauf hin: "Begriffen als System geistlicher Kommunikation ist auch eine christliche Kirche offensichtlich keine Organisation. Theologen halten denn auch, gegenteiliger Kirchenpraxis zum Trotz, zum Beispiel mit der These des Miteinander der ecclesia visibilis und der ecclesia invisibilis an der Unentscheidbarkeit der Mitgliedschaftsfrage f e s t " . D e n n o c h beharrt er als Soziologe auf seinem Theorierahmen (s.o. Kap.III lc). Für ihn "ist und bleibt die Religion an die Ebene des gesamtgeschaftlichen Systems g e b u n d e n " . F ü r einen Theologen ist das zu wenig. Eine angemessene Verhältnisbestimmung von ecclesia visibilis und ecclesia invisibilis ist Luhmann leider nicht gelungen. Er hat versucht, der ecclesia invisibilis, verstanden als "geistliche Kommunikation", einen Platz in seinem Theoriegebäude einzuräumen, indem er sie auf dem Weg der Evolution in das Sozialsystem Kirche integrierte: "Andererseits gibt es durchaus Anhaltspunkte dafür, daß die Kirchen als Organisation über Entscheidungsprozessse erzeugt [generiert] werden und daß im Laufe der neueren Zeit, wie in einer Art Einstellung auf die Säkularisierung der Gesellschaft, die geistliche Kommunikation zurücktritt, die Organisation dagegen hervortritt, bis schließlich die geistliche Kommunikation als eine Amtspflicht, eine Art organisierte Veranstaltung begriffen w i r d D i e Hypothese einer progressiven Integration der ecclesia invisibilis in die Predigt- und Amtshandlungspraxis der organisierten Kirchen vermag aber nicht zu überzeugen. Die ecclesia invisibilis nicht der Wurmfortsatz der ecclesia visibilis, sondern die Kraftquelle, aus der die organisierte Kirche ihr Erneuerungspotential schöpft. Wenn Luhmann den Eindruck gewonnen hat, daß der Organisationscharakter die kirchlichen Sozialsysteme dominiert und die ecclesia invisibilis nahezu keine Rolle mehr spielt, dann mag er den Arbeits- und Verwaltungsalltag der institutionalisierten Kirchen damit durchaus treffend beschrieben haben. Der biblischen Verhältnisbestimmung von ecclesia visibilis und ecclesia invisibilis ist er aber nicht gerecht geworden. Das Verhältnis von beiden ist komplizierter. Weil an diesem Punkt ein tiefergehen68

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Luhmann hat sogar Teile der Paradoxie erkannt, in der sich die ecclesia visibilis durch ihren Referenzbezug auf die ecclesia invisibilis dauerhaft befindet: Organisationstechniken sind primär Techniken der Dekomposition von Entscheidungszusammenhängen ... Thema der Religion ist aber gerade die alle Dekompositionen, alle Einteilungen und Typisierungen, alle Arten und Wesen, alles Seiende transzendierende Komplexität." - N.Luhmann: Funktion, S.313 [z.B. Joh 17,21] N.Luhmann: Funktion, S.288; Luhmann bezieht sich hier auf den Widerspruch, daß Organisationen eine Mitgliederkartei verwalten und eindeutig zwischen Mitglied und Nichtmitglied trennen können, wärend die Zugehörigkeit zur ecclesia invisibilis prinzipiell offengehalten werden muß. Die Mitglieder der ecclesia visibilis sind also nicht in der Lage, anzugeben, wer dazu gehört und wer nicht dazu gehört. Vgl. auch Funktion, S.313 über das Problem von Dekomposition (Organisationstechnik) und Komplexität (ecclesia invisibilis) N.Luhmann: Religion, S.21 N.Luhmann: Funktion, S.288

3. Wandlungsimpulse II: ecclesia invisibilis

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des Verständnis für die Zusammenhänge fehlt, bleiben die Hinweise auf die ecclesia invisibilis bei Luhmann konzeptionelle Fremdkörper. 5. Konzeptionelle Selbstüberforderung? Luhmann hat möglicherweise zu vieles auf einmal gewollt, als er drei Intentionen miteinander verbunden hat. In dem Bestreben (1.) einen "universell verwendbaren Religionsbegriff" 72 zu definieren, (2.) die Religion als Soziologe im Rahmen einer allgemeinen Theorie sozialer Systeme und im Rahmen der Gesellschaftstheorie zu verstehen und (3.) einen monofunktionalen B e z u g 7 3 der Religion auf die Gesellschaft nachzuweisen ("eine einzige, allgemeine und universell gültige Funktionsformel für Relig i o n " ^ ) , hat er nicht nur die Polyfunktionalität^ und Mehrdimensionalität^ der christlichen Religion übersehen, sondern auch die fundamentale Beziehung des christlichen Religionssystems auf die ecclesia invisibilis unterbewertet. Die christlichen Kirchen sind ganz ohne Zweifel Sozialsysteme, aber sie sind Sozialsysteme "mit Pfiff". Was der Zusatz "mit Pfiff" positiv wie negativ bedeutet, wird im folgenden zu erläutern sein, in dem das Verhältnis von ecclesia visibilis und ecclesia invisibilis näher betrachtet und systemtheoretisch analysiert werden wird. Dabei wird sich zeigen, daß die Möglichkeiten des systemtheoretischen Ansatzes, den Luhmann gewählt hat, noch keineswegs ausgeschöpft sind. Es wird sich auch zeigen lassen, daß man zu deutlich ambitionierteren Ergebnissen hinsichtlich der Positionierung von Religion im Gesamtgefüge der Gesellschaft gelangt, wenn man die Leitdifferenz und das Kommunikationsmedium des Systembereichs christliche Religion anders bestimmt, als Luhmann das getan hat. Luhmann hat selbst einmal gesagt, daß der Versuch einer funktionalen Analyse des Religionssystems "unbefriedigend verlaufen" s e i . D a s sollte allerdings niemanden dazu ermuntern, die fruchtbaren Impulse, die Luhmann den christlichen Kirchen in Bezug auf die (dringend erforderliche) Revision ihrer Selbstkenntnis gegeben hat, zu ignorieren, seine Religionstheorie zu den Akten zu legen und damit gewissermaßen das Kind mit dem Bad auszuschütten. Aus diesem Grund wird nun im folgenden ein konzeptioneller Ansatz vorgelegt, der versucht, die Stärken der Luhmannschen Konzeption zu bewahren, gleichzeitig aber ihr Defizit, die mangelhafte Beachtung der ecclesia invisibilis, zu beseitigen.

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N.Luhmann: Religion, S.24 Luhmann hat darauf hingewiesen, daß Parsons einen anderen Zugang zur Religion gewählt hat. Er versteht Religion in Anlehnung an Tillich auch aus ihrem relationalen Bezug auf eine "ultimate reality" heraus (Religion S.21 Anm.ll). Dagegen setzt Luhmann sein Verständnis: Die Religion "ist und bleibt ... an die Ebene des gesamtgesellschaftlichen Systems gebunden" - Religion, S.21 N.Luhmann: Religion, S.47 vgl. S.23f; N.Luhmann: Funktion, S.83 Vgl. die sechs Funktionen der christlichen Religion bei F.-X.Kaufmann: Religion, S.62f und S.82-88 V.Drehsen: Kontinuität, S. 111-122 N.Luhmann: Unterscheidung, S.237

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V. Die evangelischen Landeskirchen

b) Das Verhältnis von ecclesia invisibilis und ecclesia visibilis Die folgenden Ausführungen beziehen sich die neutestamentlichen Untersuchungen in Kapitel IV. Die dort gewonnenen biblisch-historischen Einsichten führten zu der These von der Referenzstruktur der christlichen Gemeinschaften und Kirchen, mithin auch der evangelischen Landeskirchen. An die grundlegenden Ergebnisse sei noch einmal erinnert: * Die "ecclesia invisibilis" ist im Neuen Testament der eine, unteilbare, raumund zeitübergreifende Herrschaftsbereich des heiligen Gottes, ein religiöses System, das mit Ernst Cassirer als "mythischer Raum" verstanden worden ist. Die ecclesia visibilis ist demgegenüber, unabhängig davon, in welcher welcher sozialen und organisatorischen Ausformung sie vorliegt, ob als religiöse Dienstgemeinschaft, als freie Gemeinde, als Freikirche oder als Landeskirche, ein soziales System. * Der einen unsichtbaren Kirche Jesu Christi steht auf Erden immer schon eine Mehrzahl sichtbarer Gemeinden bzw. Kirchen gegenüber. Die unsichtbare Kirche war immer schon in unterschiedlich profilierten Kirchen repräsentiert und erfahrbar. * Zwischen ecclesia invisibilis und ecclesia visibilis besteht ein einseitiges Referenzverhältnis. Die ecclesia visibilis kann sich grundsätzlich nicht aus sich selbst heraus begründen. Sie ist nicht frei in der Wahl oder im Wechsel ihrer Leitdifferenz. Sie lebt vielmehr von und mit einer abgeleiteten Begründung. Nur solange sie sich auf Jesus Christus und die Inhalte seiner Verkündigung bezieht, besitzt sie die Identität als "Kirche Jesu Christi". Verzichtet sie auf diesen für sie konstitutiven Ursprungsbezug, kann sie möglicherweise vom Traditionsverein bis hin zum Wirtschaftsunternehmen noch sehr vieles andere sein oder werden, Kirche Jesu Christi ist sie dann nicht mehr. Was zunächst allgemein für sichtbare christliche Kirchen gilt, gilt speziell auch für die evangelischen Landeskirchen. Auch sie konstituieren sich in einem permanenten Referenzverhältnis auf die ecclesia invisibilis als sichtbare Kirchen Jesu Christi. Sie erwarten von ihren Mitgliedern, diesen Referenzbezug nachzuvollziehen und die irdische Organisation nicht "bloß" als Verein oder Unternehmen anzusehen. Die Mitglieder sollen gewissermaßen durch die konkrete Gestalt der sichtbaren Kirche "hindurchsehen" und sich auch in ihrem persönlichen Glauben und Leben an den Nonnen der ecclesia /«visibilis orientieren. Dort, nicht in der sichtbaren Kirche, spielt sich das "Eigentliche" ab, das, was der Kirche wichtig und unverzichtbar ist. Die exponierten Repräsentanten der Landeskirchen (Pfarrer/innen; Leitungsorgane) handeln folglich stets "doppelgleisig": Zum einen handeln sie im Namen (und Auftrag) der kirchlichen Organisation, der sie als führende Mitglieder angehören. Darüber hinaus aber handeln sie mit Blick auf das "Reich Gottes", die "ecclesia invisibilis". Sie sind in diesem Sinne tatsächlich "Vertreter" des Höheren und, das mag zunächst verblüffend klingen, sie werden von den Kirchenmitgliedern auch als solche ange-

2. Wandlungsimpulse I: Gesellschaft

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sehen. In Konfliktfällen kann sich das aber sehr deutlich zeigen. Wenn es zu Spannungen zwischen Gemeindemitgliedern und Systemrepräsentanten kommt, kann diese über dem alltäglichen Betrieb häufig vergessene, aber doch stets latent vorhandene und jederzeit abrufbereite Doppelzuschreibung taghell aufblitzen. Gerade Erwartungsbrüche oder Dissonanzen führen dazu, daß Pfarrer/innen und Kirchenleitungen darauf festgelegt werden, daß sie nicht (nur) in ihrem eigenen, persönlichen Interesse und nicht (nur) in einer schwerfälligen Religionsbehörde tätig sind, sondern im Dienst der ecclesia invisibilis stehen. Von ihnen wird erwartet, daß für sie andere Spielregeln gelten als für bürokratische Verwaltungen und überalterte Großorganisationen. Wird diese unter den Gemeindemitgliedern weit verbreitete Erwartungshaltung enttäuscht, fallen Sätze wie: "Und sie wollen Christ sein???" oder "Das ist doch keine Kirche!!!" Wo die Enttäuschung solcherart manifest wird, wird die Doppelzuschreibung unübersehbar. c) Systemnetzwerke Die ecclesia visibilis ist ein abgeleitetes System, das in einem einseitigen Referenzverhältnis zur ecclesia invisibilis steht. Zwischen beiden Systemen herrscht ein eindeutiges Hierarchiegefälle. Ein solches Einbindungs- und Hierarchiegefälle zwischen zwei unterschiedlichen Systemformen findet sich nicht nur im Bereich der Religion. Gunther Teubner hat in einem Artikel mit dem Untertitel "Netzwerke als kollektive Akteure höherer Ordnung" derartige "hybride Organisationen" in der Wirtschaft und der öffentlichen Verwaltung untersuchtes Leider wird der Begriff "Netzwerk" in der Soziologie und der Praktischen Theologie bereits verwendet, um "lockere Verbindungen mit zumeist geringem Organisationsgrad" zu bezeichen.Deshalb muß vorausgeschickt werden, daß Teubner gerade nicht "lockere Verbindungen" zwischen unterschiedlichen Systemen mit dem Netzwerkbegriff bezeichnet, sondern eng verkoppelte und unmittelbar angebundene Systeme. Als "hybride Organisationen" bezeichnet Teubner Zusammenschlüsse von zwei oder mehr autonomen Systemen zu Großsystemen "höherer Ordnung". Am Beispiel der "just-in-time" Zulieferernetze, die in vielen Industriezweigen fest etabliert sind, läßt sich das Prinzip gut erkennen. Auf den ersten Blick sieht es so aus, als beherrsche ein Kernunternehmen, etwa ein Autohersteiler, eine Reihe von kapitalmäßig und rechtlich selbständigen Zulieferfirmen. Tatsächlich aber bestehen nicht nur vertragliche Anbindungen der Zulieferer an den Autohersteller. Da auch das Kernunternehmen von den Zulieferungen ("just-intime") abhängig ist, entsteht hier ein völlig neuer Systemtyp, das "Netzwerk". Das Netzwerk besitzt als System höherer Ordnung eigene "emergente"^ Ei78 79 80

G.Teubner: Die vielköpfige Hydra: Netzwerke als kollektive Akteure höherer Ordnung, in: Krohn / Küppers (Hg.): Emergenz, S. 189-216 H.Lindner: Kirche, S.154 s.o. Kap.III3f Anm.82

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V. Die evangelischen Landeskirchen

genschaften, Eigenschaften, die auf einer niedrigeren Ebene der Systementwicklung noch nicht vorhanden sind. Die Handlungsweise eines Zulieferers wird nicht mehr dem Zulieferer allein angelastet. Da er im Namen und Auftrag des Kernunternehmens tätig ist, wird sie auch dem Kernunternehmen und zudem gleichzeitig dem Gesamtnetzwerk zugeschrieben. "Nicht mehr Personifizierung, sondern polyzentrische Autonomisierung, nicht mehr Einheitszurechnung, sondern simultane Vielfachzurechnung werden erst der Logik des Netzwerks gerecht".81 Auch innerhalb eines Industrienetzwerkes geschieht also das, was eben als besonderes Merkmal kirchlichen Handelns angesehen worden ist, Ereignisse, Aussagen und und Handlungen werden "mehrfach attribuiert".82 Die Übereinstimmungen reichen noch weiter. Gunther Teubner hat gezeigt, daß die Netzwerkklammer inkompatible Systemtypen zusammenschließt. Innerhalb eines jeden gesellschaftlichen Teilsystembereichs findet man stets zwei verschiedene Systemtypen, "marktorientierte" und "funktionsgebundene". Marktorientiert sind Systeme, die auf der Grundlage des Vertragsrechts gesteuert werden und mit Hilfe von formalisierten Tauschbeziehungen arbeiten. 83 Marktorientierung setzt die Gleichwertigkeit der Vertragspartner (z.B. Kunden) voraus. Funktionsgebundene Systeme sind dagegen funktional in ihren jeweiligen Systembereich eingebunden. Sie erbringen eindeutig zugewiesene, feststehende Leistungen, werden von Hierarchien gesteuert und arbeiten (verwaltungsorientiert) mit Hilfe von sozialen Kooperationsbeziehungen. Vertragsregelungen setzen autonome Akteure voraus, während Hierarchien nur funktionieren, wenn eindeutige Über- und Unterordnungsverhältnisse festgelegt sind. Beides, Vertrag und Hierarchie, schließt sich eigentlich aus, weil man nicht gleichzeitig gleichberechtigt und hierarchiegebunden sein kann. Um zu erklären, wie sich dennoch beides zusammenfugen läßt, verwendet Teubner den "re-entry "-Begriff George Spencer Browns."Re-entry" bedeutet die Reintegration eines ursprünglich ausgeschlossenen Faktors. Waren im Marktsystem die formalisierten Beziehungen einer hierarchischen Organisation absichtsvoll ausgeschlossen, um ein Höchstmaß an Flexibilität und Vielfalt möglicher Tauschbeziehungen zwischen gleichberechtigten Partnern ermöglichen zu können, so kehrt in Industrienetzwerken mit der hierarchischen Einbindung der Zulieferbetriebe ein verwaltungsorientiertes Organisationsschema in das Marktsegment des Wirtschaftssektors zurück. Für Industrienetzwerke gilt nach wie vor, daß alle beteiligten Einzelunternehmen marktorientierte Systeme sind. Das Gesamtgebilde aber, das durch ihren vertraglichen Zusammenschluß entsteht, wird hierarchisch gesteuert, also nach Art eines funktionsgebundenen Verwaltungssystems. Das Netzwerkprinzip des "re-entry" findet sich nicht nur im Wirtschaftssegment der Gesellschaft. Auch in der öffentlichen Verwaltung ist es unter dem 81 82 83 84

G.Teubner: Hydra, S.208 Teubner weist darauf hin, daß sich daraus auch neuartige Probleme im Haftungsrecht ergeben. - Hydra, S.210 M.Weber: Wirtschaft, S.382-385 G.S.Brown: Laws of Form, New York 1979; vgl. N.Luhmann: Grundriß, S.230f; W.Reese-Schäfer: Luhmann, S.75-79

3. Wandlungsimpulse II: ecclesia invisibilis

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Stichwort "Privatisierung öffentlicher Leistungen" geläufig. Auch hier findet die Wiedereingliederung eines ursprünglich abgelehnten Systemtyps in den bestehenden Systemrahmen statt. In unterschiedlichen Systembereichen der Gesellschaft kommt es also einerseits zur Ausbildung von funktionsgebundenen Verwaltungsnetzwerken, andererseits aber auch zur Ausbildung von eigenverantwortlich tätigen, flexiblen Marktnetzwerken. Entscheidend für den Erfolg einer Netzwerkgründung ist, daß die Kompetenzen und Weisungsstränge klar geregelt sind. "Re-entry führt zu hybriden Strukturen von hoher Flexibilität, solange es klare Entscheidungsprozeduren gibt, auf welche Systemlogik im Zweifelsfall zurückgegriffen wird".85 Für Industrieunternehmen ist das relativ leicht, denn "letztlich bestimmt der Markt, ob eine Komponente im Netz bleibt oder nicht".86 Das System bleibt auch in seiner komplexesten Form der Leitdifferenz des Systembereichs treu, der es zugehört. In den Landeskirchen liegen die Dinge ein wenig komplizierter. d) Die Landeskirche im Systemnetzwerk "zwischen" Sozialsystem und ecclesia invisibilis Evangelische Landeskirchen lassen sich als Teile eines Systemnetzwerks (im Sinne Gunther Teubners) verstehen.^ Allerdings sind hier nicht Systemtypen eines Teilsystembereichs durch re-entry verkoppelt, sondern zwei unterschiedliche Systemarten, ein soziales System und ein religiöses System, das man im weitesten Sinn als "Wissenssystem" bezeichnen kann. Um die Frage zu beantworten, wie in einem solchen Netzwerk die Entscheidungsprozeduren aussehen, auf die im Zweifelsfall zurückgegriffen wird, ist es notwendig, zunächst die systemspezifischen Differenzen von ecclesia invisibilis (soziales System) und

85 86 87

G.Küppers / W.Krohn: Selbstorganisation, S.21 G.Küppers / W.Krohn: Selbstorganisation, S.21 Man könnte die Eigenart der Landeskirchen durchaus auch von einem semiotischen Modellhintergund her beschreiben. Das Prinzip der indexalischen Merkmalsübertragung bzw. der indexalischen Merkmalsanreicherung stünde dann im Zentrum der Analyse. (Vgl. zum Begriff und zum logischen Verfahren: R.Fleischer: Verständnisbedingungen, S.354-391; R.Roosen: Taufe, S.98-103) Die Bezüge des Themas auf die Semiotik werden im folgenden lediglich in sporadischen, stichwortartigen Hinweisen hergestellt, da die vorliegende Arbeit methodisch einen systemtheoretischen Ansatz verfolgt. Sie ließen sich sehr viel elaborierter entfalten. Luhmann ist in einem Aufsatz zum Verständnis des Mythos sehr nahe an das semiologische Mythenverständnis von Roland Barthes herangekommen. "Der Mythos ... bewirkt, wiederum formuliert mit den Begriffen von Spencer Brown, den Wiedereintritt (re-entry) der Unterscheidung in das Unterschiedene" (Mythos, S.256). Barthes sieht den Mythos als ein "sekundäres semiologisches System" an (Mythen des Alltags (1957), Frankfurt ^1976, S.92). Aber Luhmann scheint Barthes' Arbeit nicht zu kennen. In unserem Zusammenhang ist bedeutsam, daß Luhmann den re-entry-Begriff zwar zum Verständnis eines Kernbereichs der Religion herangezogen hat, nicht aber zum Verständnis der christlichen Kirche, obwohl dies mit Hilfe seines Instrumentaritims möglich ist und im folgenden auch geschehen wird.

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V. Die evangelischen Landeskirchen

ecclesia visibilis (religiöses System) noch ein wenig genauer zu betrachten, als das bisher geschehen ist. 1. Eigenarten sozialer Systeme: Soziale Systeme sind räum- und zeitgebunden. Sie sind in ihre konkrete "Umwelten" eingebunden und können sich nur um den Preis ihrer Selbstzerstörung von ihnen ablösen. Sie stehen in Konkurrenzen sowohl gegenüber Mitbewerbern des eigenen Systembereichs als auch gegenüber dem Universalitätsanspruch anderer gesellschaftlicher Systembereiche. Sie müssen sich profilieren und sich abgrenzen, um sich selbst zu erhalten. Soziale Systeme erheben spezielle Ansprüche und / oder erwarten spezielle Leistungen von ihren Mitgliedern. Folglich kann nicht jeder "Mitglied" sein oder werden. Sie unterliegen einer Systementwicklungsdynamik. Sie kennen keinen Stillstand und können ihren jeweils erreichten, aktuellen Systemzustand grundsätzlich nicht konservieren. Sie können auch die Restkontingenzen ihrer Mitglieder nicht kontrollieren. Je komplexer soziale Systeme werden, desto weniger ist ihnen das möglich, desto stärker sinkt ihre Binnenkohärenz ab. Jedem komplexen Sozialsystem stehen interne Methoden der Dekomposition von Komplexität zur Verfügung, wie etwa Binnendifferenzierung oder Hierarchiebildung. Ohne intern geregelte Kompetenzbereiche, ohne Machtverteilung und ohne Hierarchiebildung sind Sozialsysteme nicht überlebensfähig. 2. Eigenarten der ecclesia invisibilis: Verglichen mit den Gesetzmäßigkeiten, denen Sozialsysteme unterworfen sind, gelten in der ecclesia invisibilis teilweise diametral entgegengesetzte Regeln und Normen: Die ecclesia invisibilis ist kein soziales System, sondern der erglaubte Systemraum des Heiligen. Dieser "mythische" Raum ist nicht gebunden an zeitliche oder räumliche Beschränkungen wie das Sozialsystem. Er ist unmittelbar. Er realisiert sich situativ, sofern ein Referenzbezug auf das Heilige hergestellt wird ("wo zwei oder drei in meinem Namen versammelt sind" - Mt 18,20), und doch ist er universal, absolut und unteilbar. Er ist eins. Er ist heilig und dem Machtbereich des Bösen entgegengesetzt. Im Prinzip steht er allen Menschen o f f e n . E r kennt weder die Restkontingenzen der Mitglieder noch irgendwelche Kohärenzdefizite ("Gemeinschaft der Heiligen"). Er ist antihierarchisch strukturiert. Er ist funktionärs- und privilegienfeindlich (Dienstgebot; Liebesgebot). Er ist dem Ideal einer alle Dekompositionen aufhebenden Komplexität verpflichtet ("daß sie alle eins seien" - Joh 17,21)^9 u n ( j konserviert konzeptionell Elemente des Systemstatus kleiner, gut überschaubarer Sozialsysteme (Der Jüngerkreis als "neue Familie" 90 - Mk 10,29f). 88 89 90

Die daraus resultierende Spannung mit dem Sozialsystemcharakter der Kirchen hat auch N.Luhmann erkannt: Funktion, S.288 Vgl. N.Luhmann: Funktion, S.313 Mk 3,34f; "Das Reich Gottes ist kein Imperium, sondern ein Dorf." - C.Burchard: Jesus von Nazareth, in: J.Becker (Hg.): Die Anfänge des Christentums, Stuttgart 1987, S.34. Die allgemeine Systemtheorie läßt erkennen, daß die frühesten Systementwicklungsstufen (Quasi-System, einfaches, gut überschaubares System) dem Ideal einer antihierarchischen Gemeinschaft am nächsten kommen.

3. Wandlungsimpulse Π: ecclesia invisibilis

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3. Die ecclesia visibilis im spannungsvollen Referenzbezug: Stellt man beides gegenüber und berücksichtigt dabei den Referenzbezug des Sozialsystems auf die ecclesia invisibilis, dann bietet die Landeskirche, die gleichzeitig ein Sozialsystem ist und der ecclesia invisibilis verpflichtet ist, ein spannungsvolles Bild. Die ecclesia invisibilis gibt der Landeskirche die im Systembereich "christliche Religion" gältige Leitdifferenz vor, sie lautet "heilig" / "antiheilig". Einheitliches Kommunikationsmedium des Systembereichs ist "Goff "91, wobei der Begriff in allen christlichen Kirchen trinitarisch konkretisiert ist. Die Inhalte der "Reich Gottes "-Predigt Jesu und deren neutestamentliche Deutungen lassen sich systemtheoretisch als "Systemprogramm" auffassen. Sie konkretisieren, interpretieren und profilieren die Leitdifferenz. Eckdaten des Systemprogramms sind: Machtverzicht, Priorität des Dienens, Priorität der Liebe nach innen wie außen, die Orientierung am Schicksal Jesu von Nazareth und der offene Zukunftshorizont der Christen bzw. der irdischen Kirchen. Mit den Stichworten "Liebe" und "Dienen" ist gleichzeitig eine ethische Zweitcodierung92 im Systemprogramm verankert. Das Prinzip des re-entry, von dem her die Eigenart der Landeskirche rekonstruiert worden ist, impliziert, daß die Landeskirche nicht nur ein weisungsgebundenes System ist, das sich an den Vorgaben der ecclesia invisibilis zu orientieren hat, sondern zugleich auch ein vollwertiges, autonomes Sozialsystem ist und bleibt. Ihr Status als Hybridsystem ändert nichts an der Tatsache, daß sie sich als Sozialsystem selbst zu erhalten und zu bewähren hat, daß sie orts- und zeitgebunden ist, daß sie in ihrer Ressourcenversorgung umweltabhängig ist. Sie steht im Konkurrenz- und Spannungsverhältnis zu Mitbewerbern im Systembereich "Religion".93 Sie organisiert sich durch Ausbildung von Machtstrukturen und Verwaltungshierarchien. Sie unterliegt Wandlungs- und 91

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"Gott" kann nur dann Kontingenzformel (N.Luhmann: Religion, S.12; N.Luhmann: Funktion, S.126) sein, wenn ecclesia invisibilis und ecclesia visibilis weitgehend miteinander identifiziert werden. Das sind sie aber im religiösen Netzwerk gerade nicht. Die ecclesia visibilis weiß um die Schwächen ihrer Systemstruktur. Teilsysteme orientieren sich zwar an ihrer bereichsspezifischen Leitdifferenz, aber sie operieren nicht selten mit "Zweitcodierungen". So arbeitet die Ökonomie etwa mit dem Vertragsrecht (M.Weber: Wirtschaft und Gesellschaft (1921), Studienausgabe Tübingen 1980, S.382-385) und verwendet damit eine juristische Zweitcodierung. Die Politik arbeitet mit Ökonomie, Recht und Ethik, die Religion mit Ethik. Die "Zweitcodierungen" entstammen anderen Systembereichen und stellen insofern innersystemische Bindeglieder zwischen den Systembereichen dar. Allerdings bleiben sie gerade als "Zweit"-Codierungen immer sekundär. Sie erlangen keine Dominanz über die Leitdifferenz des Systems und stehen ggf. zur Disposition. In Spannungs- und Konfliktiällen wird das System mit größerer Wahrscheinlichkeit seiner Leitdifferenz folgen. Die Wirtschaft besinnt sich auf das "wirtschaftlich Machbare", die Politiker besinnen sich auf den "Primat der Politik", die Kirche besinnt sich auf das "Eigentliche" der Kirche. Die integrierende Bindungswirkung der Zweitcodierungen darf von daher nicht überschätzt werden. Es ist nicht böser Wille, der sich hinter der "Unfähigkeit der großen Kirchen zur praktischen und politischen Zusammenarbeit" verbirgt, die vom Generalsekretär des Ökumenischen Rates der Kirchen beklagt worden ist. - vgl. die Notiz in EvKomm H.5 28/1995, Sp.305/3

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V. Die evangelischen Landeskirchen

Alterungsprozessen. Auch für sie gelten die Prinzipien der interessen- und motivationsgeleiteten Mitgliedschaft, der anlaßbezogenen Nachfrage, der hohen Restkontingenzen und der absinkenden Systemkohärenz bei anschwellender Komplexität usw. Die Landeskirche ist in jedem der genannten Aspekte ein eigenständiges Sozialsystem, und sie bleibt es auch im Systemverbund mit der ecclesia invisibilis. Von dieser besonderen Struktur her, als System, das gleichzeitig eigenständig und durch re-entry eingebunden ist, erklären sich nun viele der spezifisch kirchlichen Eigenarten, die im Alltag des Gemeindelebens nicht wenige Irritationen auslösen. Einige charakteristische Merkmale und Probleme der sichtbaren christlichen Kirchen sollen hier nun genannt werden: * Die Landeskirche ist eine "gute" Kirche: Die Landeskirche ist primär "dem Heiligen" verpflichtet. Immer dann, wenn im konsequenten Eintreten in die Nachfolge Jesu Christi die Realisierung von Normvorgaben des Reiches Gottes gewagt wird, kann die sichtbare, irdische Kirche transparent werden. Da geschieht das, was zu Beginn des Kapitels als signifikantes Merkmal von christlichen Kirchen genannt worden ist, man kann "durch sie hindurchsehen". Man kann in ihrem Tun Konturen der ecclesia invisibilis erkennen und erfahren. Solches Transparentwerden ist die zentrale Aufgabe eines abgeleiteten religiösen Systems zweiter Ordnung, das im Systemnetzwerk mit der ecclesia invisibilis verbunden ist. * Die Landeskirche ist eine strukturbedingt "ungehorsame" Kirche: Als Sozialsystem besitzt die Landeskirche zwangsläufig Eigenarten, die mit den Normvorgaben der ecclesia invisibilis nicht kompatibel sind: Sie muß mit Hierarchie und Macht arbeiten, aber beides ist vom Referenzsystem her nicht legitimiert. Sie muß Mitglieder- und Berufsrollen ausdifferenzieren und Professionalisierung fördern, aber Rollendifferenzierung ist im Reich Gottes nicht vorgesehen. Sie muß gegen die Vorgaben ihres Selbstverständnisses ("Gemeinschaft der Heiligen") Restkontingenz hinnehmen und Kohärenzverluste dulden. Entwicklungsbedingt weist sie ein sehr hohes Maß an Selbstbezüglichkeit, Eigendynamik und Eigenmächtigkeit auf, was die Referenzanbindung des Teilsystems lockern und gefährden kann. Sie ist mit anderen Systembereichen der Gesellschaft arbeitsteilig verzahnt und wechselt partiell ständig in Systembereiche mit anderer Leitdifferenz über. Sammelt sie beispielsweise "Schätze auf Erden" (Wirtschaftssegment), wird ihr das als Sündenfall angekreidet, und man hält ihr den Wortlaut aus Matthäus 6,19-21 entgegen. Als Sozialsystem muß sie sich auch von anderen christlichen Kirchen abgrenzen und sich profilieren, um sich identifizierbar zu machen und sich zu erhalten. Gerade indem sie dies tut, verstößt sie aber gegen die Einheit des Leibes Christi. Die Beispiele ließen sich weiter fortsetzen. Die Problemlage ist deutlich geworden. Weil die Landeskirche immer auch ein Sozialsystem ist, ist sie zwangsläufig immer auch eine "ungehorsame" Kirche. Sie kann nur in der Gestalt und unter den Zwängen eines Sozialsystems auf die ecclesia invisibilis hinweisen und für sie transparent werden. Damit befindet sie sich in einer strukturverankerten Dauerkrise: Jederzeit kann sie an der ecclesia invisibilis gemessen werden, woraufhin dann ohne

3. Wandlungsimpulse II: ecclesia invisibilis

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Mühe festzustellen ist, daß ihre Organisationsentwicklung, ihre Entscheidungsprozesse und ihre Handlungen den hohen Normvorgaben ihres Referenzsystems in vielen Punkten nicht gerecht werden. Sie ist strukturbedingt labil, störanfällig und leicht kritisierbar. * Sichtbare Kirchen sind immer auch "unausgereifte" Kirchen: Die neutestamentlichen Untersuchungen haben gezeigt, daß die urchristlichen Gemeindegründungen von Anfang an vielstimmig waren. Sie arbeiteten, systemtheoretisch betrachtet, von Anbeginn an auf der Basis einer "unausgereiften Vertragsgrundlage". Ihr Systemprogramm enthielt in zentralen Punkten Mehrdeutigkeiten, aber auch Widersprüchlichkeiten. So stand der Aufforderung, "in alle Welt" zu gehen und folglich ein hochkomplexes System anzustreben, das Ideal der Jüngergemeinschaft als "neuer Familie" (Mk 10,29 u.ö.) entgegen, das auch heute noch die Bildung von kleinen überschaubaren Systemen impliziert. Die differenzierende Charismenlehre eines Paulus unterschied sich deutlich von der pauschalisierenden Observanzforderung eines Johannesevangeliums. An den Bruchlinien zwischen solchen widerstreitenden Forderungen haben sich immer schon unterschiedliche christliche Gemeinschaften oder Kirchen herausgebildet. Wer dem ersten folgte, tendierte zur Bildung von Großkirchen, wer dem zweiten unmittelbaren Vorrang einräumte, suchte die verdichtete Kohärenz der kleinen Gemeinschaft. Der Konflikt, der so alt ist wie die christlichen Kirchen selbst, weist zahllose Facetten auf, auf die hier nicht näher eingegangen werden kann. Deutlich ist, daß diese "Geburtsdefizite" des Christentums, seine Inkohärenzen und seine semantischen Leerstellen im Systemprogramm, bis heute nicht überwunden werden konnten. Aufgrund der normativen Anbindung des Christentums an das gesamte Neue Testament wird das auch weiterhin unmöglich sein, da selbst einander ausschließende neutestamentliche Forderungen religiös "gleichwertig" nebeneinander stehen und gegensätzliche Standpunkte ermöglichen. Sie bilden so ein systeminternes Konflikt- und Irritationspotential. * Sichtbare Kirchen sind "interpretationsmächtige" Kirchen: Sichtbare Kirchen sind nicht nur autonome Teilsysteme, wie es die oben dargestellte Netzwerkkonstruktion vorsieht, sie sind mehr als etwa industrielle Zulieferbetriebe in der Lage, ihr Muttersystem interpretierend auszuformen. Die Steuerungs- und Eingriffsmöglichkeiten des Muttersystems sind im christlichen Religionssystem beschränkt. Sie laufen über den Umweg biblischer Vorgaben und sind in Einzelfragen unzureichend, unkonkret, spannungsvoll oder widersprüchlich. Die sichtbaren Kirchen benötigen aber für ihre Präferenzordnungen in vielen Punkten eindeutigere und präzisere Regelungen, als die neutestamentlichen Schriften sie hergeben. Das gilt nicht nur für Fragen der Gotteslehre oder der Christologie, es gilt auch für die Regelung von Eintritts- und Zugangsvoraussetzungen, Systemschutz, Kohärenzregelungen (Riten und Normen), Klärung der Umweltrelationen und der Umwelteinbindung. Die Kirchenordnungen des zweiten und dritten Jahrhunderts, aber auch die Schriften der frühchristlichen Apologeten zeigen deutlich, wie groß die Unbestimmtheitsbereiche waren, die noch zu

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V. Die evangelischen Landeskirchen

schließen waren, ehe eine christliche Großkirche Systemcharakter gewinnen konnte. Jede ecclesia visibilis muß ihre intern gültige Präferenzordnung erst zusammenstellen und dazu unter den wechselnden Umwelteindrücken ihrer jeweiligen Zeit biblische Aussagen auswählen, gewichten, interpretieren und systemintern für verbindlich e r k l ä r e n . J e d e Zeit besitzt ihre eigenen Themen und ihre eigenen Probleme, die in dieser Hinsicht nach Klärung r u f e n . 9 5 * Die interpretationsmächtige ecclesia visibilis ist eine "hin und her gerissene" Kirche: Da die Weisungskompetenz im Netzwerk durchlöchert ist, ist der Integrationsgrad der Landeskirche in die ecclesia invisibilis variabel. Die Landeskirche ist hin und hergerissen zwischen neutestamentlichen Normvorgaben und systemspezifischen Existenzerhaltungs- oder Steuerungserfordernissen. Gerade in Detailfragen zeigt sich ein Dauerkonflikt zwischen dem biblischen "Anspruch" und den organisationsbedingten Erfordernissen. Die Landeskirche hat die Freiheit, Einzelentscheidungen bald nach dieser (invisibilis), bald nach jener (Sozialsystem) Vorgabe zu treffen. Sie bewegt sich also ständig in einem Positionsspektrum zwischen zwei Extrempolen. Auf der einen Seite steht die konsequente, aber selbstzerstörende Orientierung an den Normvorgaben der ecclesia invisibilis, auf der anderen Seite die pragmatische, aber identitätsvernichtende Orientierung an den Entwicklungsgesetzen sozialer Systeme. Beide Pole kann und darf sie nie ganz erreichen. Sie kann sich aber im Laufe ihrer Geschichte bald diesem, bald jenem Pol stärker z u n e i g e n . ^ * Die Landeskirche ist aufgrund ihrer strukturell verankerten Dilemmata eine "verbesserungsfähige" und damit immer auch eine "vorläufige" Kirche: Die Landeskirche steht immer in unaufhebbaren und unüberbrückbaren Spannungsfeldern, die sich aus der Grundspannung zwischen dem religiösem Referenzsystem (ecclesia invisibilis) und der irdischen Wirklichkeit der Kirche als Sozial94

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Was in diesem Prozeß geschieht, der (unter erheblichen Spannungen und Konflikten!) in klassischer Weise von den altkirchlichen Konzilien vollzogen wurde, ist auch erkenntnistheoretisch interessant. Hier erfolgte mit Hilfe semantischer Merkmalsübertragung (s.o. Anm.88) eine Bedeutungszuweisung auf die ecclesia invisibilis. Die Unbestimmtheitszonen des Systemprogramms der ecclesia invisibilis wurden von einer interpretationsmächtigen ecclesia visibilis geschlossen. Damit aber gelangten konsensgebundene oder dekretierte Eigenschaften der ecclesia visibilis in das Referenzsystem. Das räum- und zeitübergreifende Referenzsystem wurde mit räum- und zeitabhängigen (konziliaren) Entscheidungen verkoppelt. Einzelne Systemnormen der ecclesia invisibilis wurden temporalisiert, flexibilisiert und dadurch für zeitbedingte Interpretation oder zeitbedingten Wandel geöffnet. Die Interpretationsmacht der einzelnen christlichen Kirchen förderte das Auseinanderdriften der christlichen Religionskultur und den Differenzierungsprozeß der christlichen Kirchen. Sie war aber auch ein Motor der Überlebens- und Anpassungsfähigkeit des Christentums. Heute sind dies beispielsweise die Fragen der Kirchenaustritte oder der Finanzmittelverwaltung nach den Grundsätzen der kameralistischen Buchführung, die nicht nur zweckmäßig ist, sondern auch als Ermunterung zur Geldverschwendung mißbraucht werden kann. Das Bild sollte nicht überstrapaziert werden. Absolute Positionsbestimmungen sind natürlich unmöglich. Vermutlich wäre schon der Versuch einer Einschätzung der gegenwärtigen Bewegungsrichtung der Landeskirchen umstritten.

3. Wandlungsimpulse II: ecclesia invisibilis

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system ergeben. Sie steht den Spannungsfeldern von strukturbedingtem Ungehorsam und strukturbildendem Gehorsam, von Identitätswahrungsnotwendigkeit und ökumenischer Offenheit, von Systemkonkurrenz und erglaubter Einheit der christlichen Kirche, von Kohärenzforderung und Kontingenzspielräumen, von Hierarchiefreiheit und Organisationserfordernissen, von Gehorsamspflicht und Entscheidungsfreiheit. Alle diese Spannungen sind ständig bohrende Anfragen, die die christlichen Kirchen nicht zur Ruhe kommen lassen können. Sie sind bleibende Aufgaben, die nach "Verbesserung" der Strukturen rufen. Eine sichtbare Kirche ist von daher betrachtet grundsätzlich immer eine "Kirche im Werden" . Mit der Aufgabe, ihre irdischen Strukturen zu überprüfen und ihre Entsprechungsqualität, die Isomorphierelationen zum "Reich Gottes" zu verbessern, kann sie in einer sich wandelnden Umwelt niemals fertig werden. Die irdische Kirche, die um ihren defizitären Charakter weiß, wird deshalb jeder Versuchung widerstehen, sich selbst unter Bestandsschutz und ihre unter konkreten historischen Bedingungen gewachsenen Systemstrukturen unter Denkmalschutz zu stellen. e) Bewertung: Die Referenzbindung der Landeskirchen als vielschichtiger Wandlungsimpuls Die christliche Religion läßt sich als eigenständiger Systembereich in der ausdifferenzierten Gesellschaft ansehen. Sie besitzt eine eigene Leitdifferenz, ein Kommunikationsmedium, ein Systemprogramm. Mit der Transformation von Unbestimmtheit erfüllt sie eine Funktion innerhalb der Gesellschaft. Allerdings besitzt die organisierte christliche Religion neben der funktionalen Einbindung in die Gesellschaft eine gesellschaftsunabhängige Begründung und eine gesellschaftsunabhängige Netzwerkstruktur. Als "abgeleitetes Sozialsystem zweiter Ordnung" ist sie nicht abhängig von arbeitsteilig aufgegliederten gesamtgesellschaftlichen Funktionen. Primär ist sie nicht der Sinnkohärenz der Gesellschaft verpflichtet, sondern den Systemnormen der ecclesia invisibilis. Ihre Aufgabe besteht nicht nur darin, Unbestimmtes in Bestimmtheit zu transformieren, sondern umgekehrt auch die Bestimmtheiten und Festlegungen der Gesellschaft mit einer Gegenperspektive zu konfrontieren, indem sie sie auf das Heilige bezieht und vom Heiligen her in Blick n i m m t . 97 So betrachtet sie die soziale, aber auch die individuelle Wirklichkeit coram Deo und hat die Aufgabe, "Freiräume" bereitzustellen, innerhalb deren das Heilige selbst aufscheinen kann. Rainer Volp hat der christlichen Religion diese beiden Aufgaben zugewiesen,

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In den Rahmen dieser doppelten Funktionszuweisung lassen sich die sechs Funktionen von Religion einordnen, die F.-X.Kaufmann unterschieden hat. Die Funktionen der "Identitätsstiftung", der "Handlungsführung im Außeralltäglichen", der "Kontingenzbewältigung" und der 'Sozialintegration" (auf einer Ebene unterhalb der Gesamtgesellschaft) lassen sich dem ersten Funktionsbereich zuweisen, die Funktionen der "Kosmisierung von Weif und der "Weltdistanzierung" dem zweiten Funktionsbereich. - Religion, S.62-64 und 82-88

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V. Die evangelischen Landeskirchen

die Unbestimmtheiten des Alltags in Bestimmtheit zu überführen und die Bestimmtheiten des Alltags mit einem offenen Horizont zu k o n f r o n t i e r e n . 98 Die organisierte christliche Religion ist zunächst und vor allem dem Heiligen verpflichtet. Sie ist das auch in ihrer erwiesenermaßen unzulänglichen Organisationsform als Sozialsystem. Deshalb hat sie sich nicht nur der Entwicklungsdynamik ihrer Organisationsform hinzugeben. Sie darf nicht "nur noch" Großorganisation, Verwaltungsapparat, potenter Arbeitgeber und findiger Refinanzierer sein, so sehr der Druck auf ihr lastet, gerade diesen alltäglichen Anforderungen eben auch ständig aufs neue genügen zu müssen. Als "Kirche Jesu Christi" hat sie die Paradoxie ihres Netzwerkcharakters zu tragen, der gemäß sie etwas zu repräsentieren hat, was sie selbst doch nie ist und nie sein kann. Ihre Netzwerkeinbindung macht sie, um die Formulierung noch einmal aufzugreifen, zu einem System "mit Pfiff", aber gleichzeitig auch zu einem gänzlich ungesicherten und gefährdeten System. Ihre Existenz als Sozialsystem kann sie zwar durch die Wahrnehmung von Funktionen in der Gesamtgesellschaft sichern. Aber der Kirche stehen nicht die gleichen Anpassungs- und Wandlungsmöglichkeiten zur Verfügung wie anderen Sozialsystemen, die auf "schrumpfende Märkte" mit dem Austauschen ihrer Ziele oder u.U. sogar mit einem Wechsel des Systembereichs reagieren können. Die christlichen Kirchen können weder ihre Leitdifferenz noch ihr Kommunikationsmedium noch ihren Systemstatus als abgeleitetes System zweiter Ordnung auswechseln, ohne sich darüber zu verlieren. Die ecclesia visibilis ist kein funktional festgezurrtes Teilsystem der Gesellschaft, so sehr sie doch zugleich in den Gesamtverbund der Gesellschaft integriert ist. Man kann sie als ein "Organ der gesellschaftlichen

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Wie ein roter Faden durchzieht dieser Gedanke die wissenschaftlichen Arbeiten von R.Volp. Mit Hilfe der Semiotik hat er sie im Laufe vieler Jahre in den unterschiedlichsten Facetten theoretisch vertieft und entfaltet: Die christliche Religion hat die Aufgabe, die Bestimmtheiten des Alltags aufzubrechen und in einen "offenen Horizont" zu überführen. (Die Sprache der Religion, in: Ders. (Hg.): Chancen der Religion, Gütersloh 1975, S.221243). In der "religiösen Situation" kommen "Modelle eines erneuerten Weltverhältnisses zum Vorschein" (Situation als Weltsegment und Sinnmarge, in: Ders.(Hg.): Zeichen. Semiotik in Theologie und Gottesdienst, München 1982, S.155). In den "Frei-räumen", die die Kirche bereitzustellen hat, werden "Gegenbilder und Gegenzeichen für die übliche Kultur gesetzt, in denen die Orientierungslosigkeit des Konsumbürgers und die Ortlosigkeit des Touristen aufgelöst werden" (Geistliche Gemeinschaft oder soziale Anlaufstellen?, in: Kirche im Mittelpunkt, hg.v. Institut für Kommunalwissenschaften der Konrad-AdenauerStiftung, St.Augustin 1993, S.81). "Grenziiberschreitungen" sind Aufgabe und Ziel des christlichen Gottesdienstes. (Grenzmarkierung und Grenzüberschreitung. Der Gottesdienst als semiotische Aufgabe, in: W.Engemann / R.Volp (Hg.): Gib mir ein Zeichen. Zur Bedeutung der Semiotik für theologische Praxis- und Denkmodelle, Berlin u.ö.1992, S. 175186) "Als [religiöse] Praxis gilt jede Selektion und Kombination von Zeichen, welche Wirklichkeit verändert" (Liturgik II, Gütersloh 1994, S.693). Von anderen Voraussetzungen her (individuelles Bewußtsein, Gottesbegriff) gelangte auch T.Rendtorff zur Behauptung der "Unmöglichkeit, die Religion bündig und abschließend in die faktischen Gegebenheiten der Gesellschaft einzuordnen." - Gesellschaft ohne Religion?, München 1975, S.85 vgl. S.71-87

3. Wandlungsimpulse II: ecclesia invisibilís

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Öffentlichkeit" b e z e i c h n e n . 9 9 Aber damit beschreibt man sie nur teilweise. Ihre Autorität ist eine abgeleitete, eine geliehene Autorität. Mit allzu viel Nachsicht angesichts ihrer keineswegs überall anerkannten oder auch nur verstandenen Strukturbesonderheiten kann die ecclesia visibilis in der Gesellschaft heute wohl nicht mehr rechnen. Es wird in Zukunft möglicherweise darum gehen, sich gerade als Hybridsystem insgesamt eindeutiger zu positionieren und die besonderen Stärken des Systemcharakters konsequenter, transparenter und nachvollziehbarer auszuspielen, als es bisher geschieht. Was bedeutet das im einzelnen: 1. Gerade als Kirche Jesu Christi sollte die Landeskirche sich ihrer komplexen Systemstruktur und der Beschränkungen, aber auch der Optionen, bewußt sein, die daraus erwachsen. Dazu gehört ein klares Bewußtsein für den signifikanten Unterschied von ecclesia invisibilis und ecclesia visibilis. So selbstverständlich dieser Hinweis erscheinen mag, wer sich eingehender mit der theologischen Fachliteratur über die Kirchengemeinde und Fragen der Gemeindearbeit beschäftigt, hat auch heute noch Anlaß, darüber zu erschrecken, wie leichtfertig immer wieder beides in changierender Begriffsverwendung miteinander vermischt und ineinander verwoben wird (s.o. Kap.II 2d 4.). 2. Wenig sachgemäß sind auch Überzeugungen auf der Basis einseitig verabsolutierender und wertender Gegensätze wie etwa "Charisma oder Institution", "Ekklesia oder Volkskirche", "Geist oder Amt" usw. Mit dem hier entwikkelten Kirchenverständnis wurde der Nachweis versucht, daß eine modelltheoretisch begründete Beschreibung der Kirche jenseits dieser Oppositionspaare möglich und analytisch hilfreich ist. Der in griffigen Formeln verhärtete Schlagabtausch zwischen den jeweiligen Exponenten der kontroversen Anschauungen wird der komplexen Systemstruktur aller sichtbaren christlichen Gemeinschaften und Kirchen nicht g e r e c h t . Stattdessen belastet er den kirchlichen Alltag und begünstigt Selbsttäuschungen und Fehlverhaltensweisen. Aus dieser Einsicht heraus wird mit der vorliegenden Publikation für die Hinwendung der Praktischen Theologie zu einer kybernetisch verantworteten Theoriebildung plädiert. Der Begriff "Kybernetik" steht hier für die zu Unrecht in Vergessenheit geratene Disziplin der Praktischen Theologie, die von Schleiermacher und Nitzsch begründet wurde. 102

99 K.-F.Daiber: Organisationshandeln, S.612 100 Aspekte der systematisch-theologischen Diskussion referiert C.Möller: Gemeindeaufbau I, S.86-89 101 K.-F.Daiber schreibt zurecht, auch das "Organisationshandeln hat an der 'geistlichen' Dimension der Kirche teil" (Organisationshandeln, S.601). Die Frage, die sich aus dieser Einsicht heraus stellt, lautet: Wie hat das Organisationshandeln an der geistlichen Dimension Anteil? Mit der modelltheoretischen Analyse, die hier vorgelegt worden ist, ist eine Antwort auf diese Frage versucht worden. 102 Die Forderung wurde in jüngster Zeit auch von Alfred Jäger und Günter Breitenbach erhoben: A.Jäger: Konzepte der Kirchenleitung für die Zukunft, Gütersloh 1993. Zur Geschichte der Kybernetik als praktisch-theologischer Disziplin bes. S.87-135 und S.257;

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V. Die evangelischen Landeskirchen

3. Die Landeskirche darf nicht vergessen, daß sie ein System ist, das an seiner Referenzqualität gemesssen wird. Sie dient nicht sich selbst, sondern hat ihren bereichsspezifischen Codierungen in erkennbarer Weise gerecht zu werden. Demgegenüber haben organisationsspezifische Rationalitätskriterien, organisationsinterne Verteilungskämpfe, autokatalytische Systemwucherungen und andere tatsächliche oder vermeintliche "Sachzwänge" zurückzustehen. Die Landeskirche muß nicht alles tun, was sie u.U. tun könnte oder worum sie von den staatlichen Institutionen gebeten wird. Wo sich die Landeskirche ihrer maßgeblichen Leitdifferenz nicht mehr bewußt ist und ihre Systemgrenzen überschreitet, wird sie nicht stärker, sondern verwechselbarer, beliebiger und konturloser. Die Akzeptanz der Landeskirche, die, ihrer Situation als Marktsystem entsprechend, nicht mehr selbstverständlich ist, steht und fällt vor allem mit ihrer Referenzqualität. Aber diese Referenzqualität ist kein abstrakter Wert, sondern ein Wert, der in konkreten Organisationsabläufen, im alltäglichen Kommunikationsverhalten und in wahrnehmbaren Handlungen und Projekten zu operationalisieren ist. 103 Eine Landeskirche ist nicht als solche schon transparent für das Heilige, schon gar nicht ist sie eine "heilige Institution". Als abgeleitetes Sozialsystem kann sie aber zu einem Erfahrungsraum werden, der situativ für das Heilige transparent wird. Sie kann ein Ort sein, an dem "das Heilige aufblitzt" . Aber sie kann diesen Zustand weder herbeizwingen, noch kann sie ihn auf Dauer stellen. Sie kann nicht mehr tun, als ihn ständig wieder aufs neue im Vollzug ihres Daseins anzustreben. Indem sie sich so weit ihr das möglich ist, von den Vorgaben der ecclesia invisibilis leiten läßt, bleibt sie im Systemnetz und bewahrt ihre Identität und ihr unverwechselbares und in einer ausdifferenzierten Gesellschaft auch unverzichtbares Profil als "Kirche Jesu Christi auf Erden". 4. Weder die Betonung der Differenz von Kirche und Gesellschaft (etwa im Anschluß an die Säkularisierungsthese oder an die lutherische Zwei-ReicheLehre) noch die Zielprojektion einer zukünftigen Einheit von Kirche und Gesellschaft (reformierte Vorstellung von der Königsherrschaft Christi) bieten adäquate Modelle einer Selbstpositionierung von Kirche. Für die ecclesia visibilis, die sich selbst im Systemnetzwerk an die ecclesia invisibilis gebunden weiß, geht es nicht mehr um die Differenz von Kirche und Gesellschaft, auch nicht um die Identität von beidem, sondern um die Differenz von Kirche und Gesellschaft, die innerhalb der Gesellschaft aufrecht zu halten ist. Das von Roland Barthes aufgestellte Strukturmodell eines "sekundären semiologischen Systems" wird der sozialen und geistlichen Wirklichkeit der ecclesia visibilis G.Breitenbach: Gemeinde leiten. Eine praktisch-theologische Kybernetik, Stuttgart u.ö. 1994 103 "Die Volkskirchen haben Akzeptanzprobleme. Menschen sind zunehmend kritischer gegenüber großen und reichen Institutionen: Zu oft haben sie erlebt, daß diese an ihren eigentlichen Bedürfnissen vorbeigehen, nur an sich selbst denken, kassieren, das Geld in unergründlichen Löchern verschwinden lassen, bürokratisch verwalten, aber im Zweifelsfall ihnen das nicht geben können, was sie gerade brauchen, weil tausend Vorschriften dagegen stehen". - H.Lindner: Kirche, S.53

3. Wandlungsimpulse II: ecclesia invisibilis

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besser g e r e c h t . Das hat zweierlei Konsequenzen: einerseits eröffnet ihr Status den christlichen Kirchen eine kritische Kompetenz im Gegenüber zu anderen gesellschaftlichen Systembereichen (profetische Dimension), andererseits ermahnt er sie, ihrer Referenzbindung in erkennbarer Weise zu entsprechen (kerygmatische, sakramentale und diakonische Dimension der christlichen Kirchen). 1 0 5 5. Ihre Orientierung auf ein "Jenseits" der Gesellschaft ermöglicht der ecclesia visibilis, gegenüber dieser Gesellschaft und ihren Teilsystembereichen die Rolle eines "kritischen Beobachters", eines " W e i s e n " 106, eines "Spielverderbers"107 einzunehmen. Sie weiß, daß die gesellschaftliche Wirklichkeit und das Reich Gottes prinzipiell Unterschiedliches und zu Unterscheidendes sind, und kann daher nicht der Versuchung erliegen, beides in eins zu setzen. 108 Gegenüber irdischen Paradiesverheißungen jeglicher Art befindet sie sich in fundamentaler Opposition. Auch in der ausdifferenzierten Gesellschaft ist der kirchlich-christlichen Religion ihr subversives und zugleich doch auch konstruktives Wissen jenseits der Härte binärcodierter Systemrationalitäten geblieben. Ihr Referenzsystem sichert ihr eine Position, von der her sie das ausgeschlossene Dritte thematisieren und einklagen k a n n 109, ¿essen Existenz die anderen Systembereiche vielfach ignorieren. 110 Sie ist in der Lage, Fehlentwicklungen, Selbstbetrug und kollektiven Irrtum zu erkennen und das "ausgeschlossene Dritte" einzuklagen, um so die Härte der binären Codierungen zu mildern·. Gegenüber Gesundheit und Krankheit, der Leitdifferenz des Medizinsektors, beharrt sie auf der Gotteskindschaft auch der unheilbar Kranken. Gegenüber der Leitdifferenz des Rechtssystems (recht/unrecht) verweist sie auf die Notwendigkeit des Erbarmens. Gegenüber der Ethik, die in Gute und Böse teilt, verteidigt sie das Prinzip der Rechtfertigung des Sünders. Gegenüber der Wissenschaft (wahr/ falsch) beharrt sie auf der Wirklichkeit des Symbols und der Kraft des Schweigens. Gegenüber Macht und Ohnmacht setzt sie auf das Dienstgebot, gegenüber Haben und Nichthaben auf den Wert des Seins, gegenüber Natur und Kultur auf den Schöpfer und gegenüber Leben und Tod auf das Reich Gottes. 104 105 106 107

R.Barthes: Mythen, S.93; s.o.Anm.87 Die doppelte Funktionsbestimmung findet sich bereits bei E.Lange: Überlegungen, S.200f C.Westermann: Weisheit und praktische Theologie, in: PTh 79/1990, S.515-524 Im Sinne der Spieltheorie. Die Spielteilnehmer sind in ihren Aktionen bemüht, den eigenen Nutzen möglichst hoch zu halten und den unmittelbaren und sichtbaren Schaden des gemeinsamen Spiels (anders als den langfristigen oder an machtlose Opfer weitergereichten Schaden) möglichst klein zu halten. Auch dieses Modell eignet sich zur Beschreibung der Interaktionsbeziehungen von Sozialsystemen. 108 In diese Richtung denkt auch R.Anselm: "Freude aus Verunsicherung ziehn - wer hat uns das denn beigebracht!", in: F.W.Graf / K.Tanner (Hg.): Identität, S.132f 109 Ich knüpfe hier positiv an eine Bemerkung Luhmanns an, die er in einem kritischen Kontext formuliert hat: "Die Religion profitiert, mit anderen Worten, von der binären Struktur und dem Ausschluß des Dritten in allen Codes." - Kommunikation, S.191 110 "Codierung schließt dritte Werte wirksam aus." - N.Luhmaiyi: Kommunikation, S.84; Systeme verheimlichen und tabuisieren die Arbitrarität ihrer bipolaren Grundsetzungen, um sie vor Infragestellung zu schützen. - Ebd., S. 184-186

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V. Die evangelischen Landeskirchen

Es ist nachweisbar, daß die christliche Religion bei näherem Hinsehen zu den unterschiedlichsten Leitdifferenzen Korrekturen anzubieten hat, die inhaltlich alles andere als unbedeutend sind. Die christlichen Kirchen brauchen sich ihrer Botschaft auch in einer ausdifferenzierten Gesellschaft durchaus nicht zu schämen. Ihnen fällt eine immens wichtige Aufgabe in der Gesellschaft zu, die man durchaus mit dem traditionellen Ausdruck als Wahrnehmung der "profetischen Dimension von Kirche" bezeichnen kann. Wo die Landeskirchen in überzeugender Weise die Position des ausgeschlossenen Dritten einzubringen vermögen, da spielen sie ihre ureigene systemspezifische Kompetenz aus. Indem sie die Gültigkeit ihrer Leitdifferenz verteidigen und daran festhalten, daß das Heilige im Rahmen profaner Selbsterlösungsprojekte innergesellschaftlich nicht zu haben ist, haben sie der Gesellschaft enorm Wichtiges zu sagen. Sie bleiben damit bei sich selbst, biedern sich nicht dem Zeitgeist an und halten den Horizont des kulturell verfestigten, sich selbst als "profan" verstehenden Welt- und Gesellschaftsverständnisses offen, das sich in unberechtigter Weise verabsolutiert und damit selbst bereits quasi-religiösen Charakteren angenommen hat. Die christlichen Kirchen haben die Aufgabe, "den 'Schatten' der Modernität" zu konkretisieren.

4. Wandlungsimpulse ΙΠ: Die Landeskirchen als gealterte Sozialsysteme 4.1 Sozialsysteme altern Bei der Darstellung des Systementwicklungsprozesses wurde darauf hingewiesen, daß in der Präferenzordnung Ideen, Weltbildreflexe und Anforderungen der Entstehungssituation des Sozialsystems eingefroren sind. Außenweltdaten werden zwar weiterhin von den Mitgliedern wahrgenommen, können aber nicht mehr so leicht in die Präferenzordnung eingearbeitet werden wie im Entwicklungsstadium des Quasi-Sy stems. Das System etabliert sich als Regel weit, die nicht mehr ständig durch aktuelle Umweltereignisse in Frage gestellt oder korrigiert wird. Es führt gewissermaßen ein Eigenleben jenseits der laufenden Vorkommnisse und Zeitdaten. Niklas Luhmann hat das mit der Formulierung ausgedrückt, Sozialsysteme verfüggften über eine "abgesenkte Resonanzfähigkeit" auf Umweltereignisse. 113 Sie nehmen die Umwelt nur noch unpräzise 111 Auf diesen Aspekt weist F.-X.Kaufmann: Religion, S.213 hin. 112 F.-X.Kaufmann: Religion, S.69 113 Luhmann schreibt, "daß das System seine Selbstreproduktion durch interne zirkuläre Strukturen gegen die Umwelt abschließt und nur ausnahmsweise, nur auf anderen Realitätsebenen, durch Faktoren der Umwelt irritiert, aufgeschaukelt, in Schwingung versetzt werden kann. Eben diesen Fall bezeichnen wir als Resonanz." - Kommunikation, S.40

4. Wandlungsimpulse III: Systemalterung

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und schemenhaft als eine Art "Rest der Welt" wahr. Beide Aspekte, die eingefrorenen Umweltdaten und die abgesenkte Resonanzfähigkeit des Systems, werden systemintern nicht zur Kenntnis genommen, mit Luhmanns Worten, sie werden "abgedunkelt". Nur so kann das System als eine stabile Systemwelt für seine Mitglieder in Erscheinung treten. Wenn sich aber die Umwelt wandelt, wird genau das problematisch. Je mehr sich das System von seiner Ursprungssituation entfernt, desto mehr werden die festgeschriebenen Umweltkenntnisse unzureichend, lückenhaft oder sogar falsch werden. Das System verliert sukzessiv seine Anschlußfähigkeit an die Umwelt und ist nicht von sich aus in der Lage, sich auf die veränderten Umweltgegebenheiten einzustellen. Mehr noch, das System wird auch in einer solchen Situation wie selbstverständlich weiterarbeiten. Aber es arbeitet, weil seine Resonanzfähigkeit abgesenkt ist, mit einer mehr und mehr veraltenden und veralteten Vertragsgrundlage. Wenn es dem System gelingt, gleichwohl seine Ressourcenversorgung aufrecht zu erhalten, dann muß überraschenderweise selbst eine stark reduzierte Anschlußfähigkeit nicht zur Existenzbedrohung führen. Systemalterung fordert oder erzwingt nicht in jedem Fall unmittelbare, einschneidende Reaktionen zur Wiederherstellung der Umweltkompatibilität. Sozialsysteme sind nicht gezwungen, kontinuierlich aktuelle Zeitdaten in ihre Präferenzordnung einzuarbeiten. Sie können z.B. auch ihre Umweltabgrenzung verstärken und damit den traditionellen Systemraum (zunächst einmal) unter Bestandsschutz stellen. An die Stelle der ursprünglich durch Mitgliederkonsens festgeschriebenen Präferenzen tritt dann eine zirkuläre "Kohärenzsuggestion", die Akzeptanz der Präferenzordnung aufgrund vorausgegangener Akzeptanzen ("und was alt war, galt als weise..."). Durch "Abdunkeln" der Umwelten, aber auch durch soziale Konventionen oder sozialen Druck kann die Kohärenzsuggestion lange aufrecht erhalten werden. Aktive Grenzüberhöhungsstrategien und abgesenkte Resonanzfähigkeit wirken zusammen, halten ein System innerlich "auf Kurs" und immunisieren es gegenüber Veränderungen in der Umwelt. Maßgebliches Kriterium für die Überlebensfähigkeit eines Sozialsystems ist also nicht, daß es sich programmatisch und konzeptionell stets auf der Höhe seiner Zeit befindet. Maßgeblich ist die Antwort auf die Frage, ob es ihm gelingt (mit welchem Bezug und welcher Einstellung zur Aktualität auch immer), seine Ressourcenversorgung sicherzustellen. Wenn dies mit einer Präferenzordnung "von vorgestern" aufs trefflichste gelingt, hat das System keinerlei Veranlassung, die Präferenzordnung zu verändern.

4.2 Christliche Kirchen als gealterte Systeme Die christlichen Kirchen sind Präferenzordnungen verpflichtet, deren Elemente teilweise bereits ein gewaltiges historisches Alter haben. Es ist wichtig, sich das zunächst einmal unverstellt klar zu machen. Die Schriften des Neuen

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V. Die evangelischen Landeskirchen

Testaments werden bald schon 2000 Jahre alt sein. Einige der grundlegenden Gedanken entstammen sogar alttestamentlicher Zeit und sind damit noch um Jahrhunderte älter. Das "Vaterunser" steht bereits im Matthäus-Evangelium (6,9-13; vgl. Lk 11,2-4). Das Glaubensbekenntnis, das heute noch in jedem Hauptgottesdienst gesprochen wird, bildete sich in seinen Kerngedanken ebenfalls bereits im ersten Jahrhundert nach Christus heraus. Es wurde im zweiten Jahrhundert weitgehend fixiert und über die Vorstufe des Nicänums (325 n.Chr.) im Jahr 381 nach Christus als "Nicaeno-Constantinopolitanum" in seinem Wortlaut festgeschrieben. Bibel, Vaterunser und Glaubensbekenntnis, aber auch Taufe und Abendmahl sind als unverzichtbare Herzstücke der christlichen Präfenrenzordnungen anzusehen, und diese Stücke lassen sich ohne jede Übertreibung als "uralt" bezeichen. Aber auch sehr viel jüngere Teile der evangelischen Präferenzordnungen, wie etwa die Grenzen der evangelischen Landeskirchen, die kirchlichen Gesangbücher und die Gottesdienstagenden sind längst schon von ihrem Alter gezeichnet. Dieses hohe Alter der Grundelemente (landes-)kirchlicher Präferenzordnungen bringt charakteristische Alterungsprobleme mit sich. Fünf dieser Probleme sollen hier vertiefend dargestellt werden: Der Präzisionsverschleiß der Überleitungssemantik (a), die Wiederkehr des ausgeschlossenen Dritten in das Religionssystem (b), die Individualisierung der religiösen Glaubensüberzeugungen (c), die Zersplitterung des religösen Glaubens· und Wissenssystems - das Glaubensbekenntnis (d) und altersspezifische Kommunikationsprobleme (e). a) Die Überleitungssemantik verschleißt Niklas Luhmann hat darauf hingewiesen, daß die bereichsspezifischen Systemprogramme nicht unmittelbar aus der maßgeblichen Leitdifferenz des jeweiligen Systembereichs ableitbar sind. Es ist keineswegs selbstverständlich, was "recht" und "unrecht", was "wahr" und "falsch", was "gesund" und "krank", was "heilig" und "unheilig" ist. 1 Um das für den jeweiligen Systembereich (oder das jeweilige System) festzulegen, benötigt das System eine "Überleitungssemantik", in der die Kriterien festgelegt sind, die befolgt werden müssen, um zu einer präzisen Bestimmung dessen zu kommen, was im Einzelfall als "gerecht", "wahr", "gesund" oder "heilig" anzusehen ist. Für das Recht ist etwa das Prinzip der demokratisch legitimierten und kontrollierten Rechtssetzung maßgeblich oder für die Differenz von wahr und falsch die Wissenschaftstheorie. Die jeweils maßgebliche Überleitungssemantik enthält letztlich arbiträre Festlegungen, die im interkulturellen Vergleich leicht erkennbare Schwankungsbreiten aufweisen. Auch muß die Überleitungssemantik keineswegs ein starres, vollkommen eindeutig festgelegtes Prinzip sein. Sie kann ihrerseits nicht nur wandlungsfähig, sondern auch unscharf sein. Die Überleitungssemantik des Kunstsektors etwa kann in diesem Sinn sogar als vollkommen verschlissen angesehen 114 Über die "Ambivalenz des Sakralen" vgl. M.Eliade: Religionen, S.37-42

4. Wandlungsimpulse ΠΙ: Systemalterung

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werden. Was ein Kunstkritiker "verreißt", lobt ein anderer. Ein verbindlicher Konsens darüber, was "Kunst" ist, existiert nicht m e h r . 1 ¡ m Medizinsektor gibt es einen weitgehenden Konsens über den Kernbereich, die Verletzung und die organische Erkrankung. Aber die kontrovers geführte Diskussion über den Begriff "Gesundheit" zeigt, wie schwierig Abgrenzungen nach außen hin sind. Nicht allein die Grenzen zwischen organischen und psychischen Erkrankungen sind fließend, auch subjektive und objektive Kriterien der Krankheitswahrnehmung oder die kulturspezifische Abgrenzung von schulmedizinischen und "alternativen" Heilmethoden differieren. Die Überleitungssemantik des Medizinsektors weist erhebliche Unscharfen aufH6, m j t der Konsequenz, daß Ärzte sich schon in der Diagnostik, aber auch in der Therapiewahl "fachgerecht" voneinander unterscheiden können. Die Überleitungssemantik der christlichen Religion birgt ein Problem, das dem des Medizinsektors verwandt ist. Auch hier gibt es erhebliche Unscharfen in der Festlegung verbindlicher Referenzkriterien. Urspünglich war das anders. Die christlichen Kirchen haben die Frage "was ist heilig?" seit Anbeginn mit dem Hinweis auf Jesus Christus beantwortet. Jesus Christus ist Gottes Sohn. Er geht den von Gott vorgezeichneten Weg, und er verkündet die im Reiches Gottes maßgeblichen Regeln. Die Menschen wiederum sind aufgerufen, Jesus Christus als Gottes Sohn zu bekennen, sich an seiner Verkündigung und seinem Schicksal zu orientieren, heute schon als "Kinder des Reiches" zu leben und sich auf die Stunde des Gottesgerichts vorzubereiten. Das alles folgt (entsprechendes religiöses Sachwissen vorausgesetzt) letztlich aus dem einen Satz: Jesus von Nazareth ist Gottes Sohn. Dieser Satz läßt sich folglich als orientierendes Grundprinzip der ursprünglichen Überleitungssemantik der christlichen Kirchen ansehen. Wenn Niklas Luhmann feststellt, daß die christlichen Kirchen keine klare Überleitungssemantik haben 1 ^ , hat er damit, historisch betrachtet, Unrecht. Gleichwohl aber vermerkt er einen im Blick auf die Gegenwart der christlichen Kirchen durchaus zutreffenden Sachverhalt. Die Überleitungssemantik des Christentums hat im Verlaufe ihrer langen Geschichte an Präzision eingebüßt. Die Entstehung der Trinitätslehre hat bereits früh zu bedeutenden Relativierungsimpulsen geführt. Sie hat in der christlichen Überleitungssemantik drei heilige Instanzen gleichwertig etabliert. Zwar bemühten sich die Apologeten, den Monotheismus des Christentums zu verteidigen, und die frühe Dogmengeschichte suchte nach Formulierungen, um die Einheit des trinitarischen Gottes zu sichern, aber hier tat sich dennoch eine Kluft auf, die nie ganz geschlossen werden konnte. Das Unschärfephänomen der Überleitungssemantik ist auch in der gegenwärtigen Situation der evangelischen Landeskirchen nachweisbar: Es gibt heute 115 Vgl. G.Schulze: Die Erlebnisgesellschaft. Kultursoziologie der Gegenwart, Frankfurt/M. u.ö. 1993, S.147-150 zum Kunstgenuß im "Hochkulturschema". 116 Der Beruf des Heilpraktikers verdankt sich dieser Unschärfe in der Überleitungssemantik. 117 "Das heutige Religionssystem hat an dieser Stelle nichts Entsprechendes zu bieten." N.Luhmann: Kommunikation, S.190

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V. Die evangelischen Landeskirchen

innerhalb desselben christlichen Religionssystems, pauschal gesehen, vier nebeneinander bestehende und untereinander konkurrierende Möglichkeiten der Schwerpunktorientierung des Christseins. Bedauerlicherweise fehlt in dieser Hinsicht jedes empirische Datenmaterial. Aber der Eindruck wird wohl nicht täuschen, daß mittlerweile eine große Zahl von Gemeindemitgliedern, Pfarrern und Theologen die Christusbindung der Landeskirchen zu Gunsten der Schöpfer- und Schöpfungsorientierung aufgegeben haben. Der Schöpfergott besitzt zweifellos in Zeiten der Ökokrise eine hohe Plausibilität. Auch bietet er den Vorteil einer relativ guten Anschließbarkeit an den Prozeß des religiösen Wandels, der weiter unten noch näher dargestellt werden wird. In der Mitgliederreligiosität wird die Gottesvorstellung fortschreitend entpersonalisiert. "Gott" wird mehr und mehr zum "höheren Wesen" oder auch nur zur "höheren Kraft". Auch der Heilige Geist spielt, wie eh und je in der Geschichte der christlichen Kirchen, eine zwar bescheidene, aber doch unübersehbare Rolle als Normgeber christlicher Existenz (charismatische Erneuerung; AGGA u.a.). Und schließlich kann man neben beidem auch christologische und trinitarische Grundorientierungen innerhalb der evangelischen Landeskirchen ausmachen, wobei die Christusorientierung in den 70er Jahren sogar eine "kleine Renaissance" erlebte (Jesus people). Der Präzisionsverschleiß der ursprünglich einmal christolozentrischen Überleitungssemantik hat zur Folge, daß die Schwerpunktorientierung des Glaubens innerhalb der evangelischen Landeskirchen selbst zu einer Glaubenssache geworden ist. Man kann sich als Christ primär am Schöpfergott orientieren. Man kann Jesus, aber auch die Präsenz des Heiligen Geistes in den Vordergrund stellen und schließlich kann man (in zahlreichen Facetten) "trinitarisch glauben". Klarheit ist nicht mehr vorgegeben. Auswahlverhalten und persönliche Standortsuche sind schon systemintern notwendig geworden. Die jeweilige erste Wahl will selbst (unter Konkurrenzbedingungen bei gegebener Dynamisierungsmöglichkeit der Entscheidungen) erglaubt sein. Das System macht es seinen Mitgliedern von daher nicht leicht, sich zurecht zu finden. b) Die Rückkehr des ausgeschlossenen Dritten 1. Das ausgeschlossene Dritte im Deckmantel der Religion (Antike): Die Leitdifferenz der christlichen Religion "heilig" / "antiheilig" sah das Profane als eigenständigen Bereich nicht vor. Die Systemwelt des Christentums kannte nur das Heilige und das Antiheilige. Sie kannte nur das "Licht" und die "Feinde des Lichts", das Reich Gottes und die Mächte des Unheils. Nach diesem Schema ließ sich alles, der einen oder der anderen Sphäre zuordnen. Einen Eigenwert als "Profanes", der zu beachten oder gar zu akzeptieren ist, gab es nicht. Das Profane hatte keinen Platz in der Systemwelt des Christentums. Es war das "ausgeschlossene Dritte", das, was in seinem Eigenwert systemintern nicht wahrgenommen werden kann. Zwar existierten jenseits des christlichen Religionssystems immer schon andere Sozialsysteme mit ihren jeweils spezifischen

4. Wandlungsimpulse ΠΙ: Systemalterung

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Leitdifferenzen. Das frühe Christentum hat sie jedoch grundsätzlich in sein Ordnungschema "heilig" / "antiheilig" eingegliedert. Der Logik seiner Leitdifferenz entsprechend, kannte das Christentum keine "autonomen" Bereiche in der Welt. Exemplarisch zeigte sich das im Prolog des Markusevangeliums. Sollte der Begriff "Evangelium", den Markus hier gewählt hat (Mk 1,1), tatsächlich auf die frohe Botschaft von der Kaiserproklamation des Vespasian anspielen (s.o. Kap.IV 5.2b), dann ist in der Konfrontation der beiden "Evangelien" (hier Jesus Christus, dort Vespasian) brennpunktartig die christliche Weltsicht gebündelt. Zwei "frohe Botschaften", eine religiöse und eine politisch-religiöse, konnte es nicht geben. Aus dieser Konstellation heraus war der Zusammenstoß des christlichen Religionssystems mit den inkompatiblen Anforderungen anderer Sozialsysteme, wie dem W i r t s c h a f t s s y s t e m ! 0(jer dem politischen System (Apologeten) programmiert. Schon die frühe Christenheit verstrickte sich in Kompetenzüberschneidungen mit anderen Systembereichen. Sie wurde mit dem "ausgeschlossenen Dritten" konfrontiert (das etwas qualitativ anderes ist als das schlechthin Böse der christlich-religiösen Leitdifferenz).! 19 i n d e r Leitdifferenz der christlichen Religion waren die Spannungen, die den "Raubzug" des ausgeschlossenen Dritten ermöglicht haben, im Zuge dessen ihr weite Zuständigkeitsbereiche entwunden und schließlich als "säkular" verstanden wurden, immer schon angelegt. 2. Der christliche Glaube und die Vernunft der Herrschenden: Der Einbruch des ausgeschlossenen Dritten in das Religionssystem ist nicht erst ein Reformations- oder ein Aufklärungsphänomen. Allerdings brachten diese beiden historischen Etappen einen massiven Schub. In Luthers Zwei-Reiche-Lehre kommt das Politische zunächst noch im Gewand des "anders Religiösen" d a h e r . 120

118 Die Einstellung des Christentums zum ökonomischen Erfolg blieb stets unklar und in sich gespalten. Obwohl sie den "Mammon" verachteten, waren die Christen doch stets auch darauf angewiesen, daß zumindest einige unter von so viel besaßen, daß sie davon abgeben konnten. Vgl. Jesu Stellung zum Reichtum, die Bedeutung der Witwen im frühesten Christentum oder in einer konkreten Ortsgemeinde auch die Darlegungen im "Hirt des Hermas". - s.o. Kap.IV 119 Schon gegen Ende des ersten Jahrhunderts kam es in den Auseinandersetzungen um die Akzeptanz des Kaiserkults zu einer Konfrontation mit dem politischen System, die zwar religiös begründet wurde (der Kaiser als Gott), aber politisch motiviert war. In den folgenden Jahrhunderten ging es nicht mehr allein um Grundausrichtungen, sondern auch um Einzelfragen der Religion, die der römische Staat (der sich selbst ebenfalls religiös begründete) zu regeln trachtete. M.T.Fögen hat in einer Untersuchung über "die Enteignung der Wahrsager" (Frankfurt/M. 1993) dargestellt, daß die römischen Kaiser seit Diokletian (284-305) auch einen Kampf um die Verfügungsmacht über Denk- und Glaubensinhalte geführt haben. Dieser Kampf schlug sich im Verbot der ars mathematica (Astrologie) und der Verfolgung von Manichäern und Christen nieder. Die (religiös begründete) politische Macht suchte unter Todesandrohung gegenüber Andersglaubenden, (politisch motiviert) religiöse Inhalte festzulegen. 120 Vgl. zum folgenden: H.Bornkamm: Luthers geistige Welt, Gütersloh 2 1953, S.267-271; H.Bornkamm: Der Christ und die zwei Reiche (1972), in: Ders.: Luther. Gestalt und Wirkungen, Gütersloh 1975, S.255-266; P.Althaus: Theologie Martin Luthers, Gütersloh

V. Die evangelischen Landeskirchen

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"Luther dachte weder von einer moralischen noch von einer amoralischen, ja überhaupt nicht von einer abstrakten Staatsidee aus. Ihn beschäftigte das konkrete Leben: Was muß geschehen, damit im Zusammenleben der Menschen hier und heute Ordnung und Recht gehalten werden?" 121 Auch der Fürstenstaat war für Luther eine Ordnung Gottes, er stand unter dem Gebot Gottes, nicht über diesem Gebot. Er hatte das Leben gegen alle zerstörenden Mächte zu schützen und dem Guten zum Durchbruch zu verhelfen. Es ist des "weltlichen Regiments Werk und Ehre, daß es aus wilden Tieren Menschen macht und Menschen erhält, daß sie nicht wilde Tiere werden". 122 Dabei unterliegt das weltliche Regiment allerdings nicht den Vorschriften der Kirche, sondern ist von Gott mit eigenen Mitteln, mit den Mitteln des natürlichen Rechts und der Vernunft ausgestattet. 123 Luther wußte, daß nicht nur Christen in der Lage sind, gut zu regieren. Gott wirft auch unter die Heiden "hohe Vernunft, Weisheit, Sprachen, Redekunst, daß seine lieben Christen wie lauter Kinder, Narren und Bettler gegen sie anzusehen sind". 124 "Es bedarf keiner Christen für die Obrigkeit ... Es genügt für den Kaiser, daß er Vernunft hat". 125 Nur insofern, als der Staat mit anderen Mitteln regiert wird als die Kirche Jesu Christi, eben mit den Mitteln des Rechtes und der Gesetze, ist der Staat ein "weltlich Ding". Grundsätzlich aber untersteht auch der Staat dem Gebot Gottes. Er ist ihm funktional eingeordnet. Das konnte sich bei Luther bis zu der Behauptung steigern, daß selbst Machtmißbrauch und Ungerechtigkeiten die Herrschenden nicht aus ihrer Einbindung und ihrer Anbindung an Gott herauslösen können. "Obwohl die Mächtigen böse und voll Unglauben sind, ist doch ihr Stand und ihre Gewalt gut und von Gott". 126 Damit ist die "Weltlichkeit", die Luther der weltlichen Regierung bescheinigt, keine Autonomie der Mächtigen, sondern eine "ganz begrenzte, kirchlich diktierte und instrumentalisierte Form von Weltlichkeit im Dienste der theokratischen Weltsicht". 127 Die Geschichte der Reformation in Deutschland hat dann bereits im 16.Jahrhundert die Emanzipation des Reichsrechts vom konfessionsgebundenen Christentum erzwungen. Nachdem der Stein der Reformation, den Luther ins Rollen gebracht hatte, auf halber Strecke liegengeblieben war und es nicht ge4

121 122 123

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1975, S.248-270; M.Heckel: Weltlichkeit und Säkularisierung, in: B.Moeller (Hg.): Luther in der Neuzeit, Gütersloh 1983, S.34-54 H.Bomkamm: Christ, S.257 WA 30/11, S.555,5f Luther "entwickelte alles, was er in seinen zahlreichen Reformvorschlägen zu politischen Fragen sowie zu Rechts-, Wirtschafts- und Schulfragen vorbringt, aus dem von ihm über alles geschätzten aristotelischen Prinzip der Billigkeit, der Epikie, dem natürlichen Recht, das wichtiger ist, als alle geschriebenen Gesetze und Verfassungen. Sie müssen nach diesem Gesetz der Billigkeit ausgelegt werden, wenn sie von Segen sein sollen". - H.Bornkamm: Christ, S.258 WA 51, S.242,18f WA 27, S.417,13 -418,19 WA 56, S. 123,20f M.Heckel: Weltlichkeit, S.36

4. Wandlungsimpulse III: Systemalterung

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lang, ganz Deutschland evangelisch zu machen, existierten in Deutschland katholische und protestantische Städte und Fürstentümer territorial nebeneinander (und ineinander). Um diese faktische Koexistenz auch rechtlich nachzuvollziehen, mußte das Reichsrecht überkonfessionell sein. "Die (äußere, rechtliche) Freiheit des Religiösen wurde - paradox, doch konsequent - durch die Säkularisierung des Rechts g e s i c h e r t " . 128 Q e r Verlauf der Reformation in Deutschland hat damit den Impuls gegeben, der die weltliche Macht weit über den theologisch von Martin Luther vorgedachten Freiheitsspielraum hinauswachsen ließ und sehr viel später dann auch zu einer vollständigen Trennung der Systembereiche (Staat und Kirche) geführt hat. Diese Entwicklung mußte zwangsläufig auch zu einer Nivellierung der Konfessionsprofile im Rahmen des Reichskirchenrechts fuhren. Parallel dazu vollzog sich die inhaltliche Relativierung der Frömmigkeitskulturen aufgrund der praktischen Schwierigkeiten bei der Umsetzung des Augsburger Religionsfriedens von 1555. 3. Das ausgeschlossene Dritte als "Parasit" im Religionssystem (Luther): Martin Luther konnte die Vernunftbegabung der Herrschenden sehr skeptisch beurteilen: "Das edle Kleinod, so natürlich Recht und Vernunft heißt, ist ein selten Ding unter M e n s c h e n k i n d e r n " . 129 Trotz alledem aber bleibt festzustellen, daß Luther (und nicht erst die Reformationsgeschichte) die Systemwelt der christlichen Religion (mit Hilfe von Aristoteles) einen kleinen Spalt weit geöffnet hat. Das Obrigkeitshandeln bekommt Züge eines "weltlich Ding", auch wenn dieses "weltlich Ding" in Luthers Theologie noch keineswegs ein autonomes Ding ist. Es wird nicht mehr ausschließlich an den Leitkategorien des Religionssystems "heilig" / "antiheilig" gemessen. Luther zeigt Verständnis für die Existenz anderer als genuin religiöser Kriterien. Die Vernunftorientierung wird damit (wie marginal auch immer) zu einem "eingeschlossenen Dritten" innerhalb der nach wie vor gültigen religiösen Leitdifferenz. In der klassischen Systemtheorie ist dieser Fall nicht vorgesehen: Ein System öffnet sich selbst und erkennt systemintern die Gültigkeit einer fremden Systemrationalität an. Michel Serres hat den Begriff des "Parasiten" geprägt, um ein derartiges ein Geschehen zu b e s c h r e i b e n . 130 i n seiner Terminologie formuliert, kann man sagen, daß Martin Luther einen Parasiten in das evangelische Religionssystem eingelassen hat, der in Gestalt der Vernunftorientierung dann in späterer Zeit Teile dieses Systems "angefallen", d.h. ihrer spezifisch christlich-religiösen Begründung beraubt hat. Die Vernunftorientierung war weder in der Leitdifferenz noch im Systemprogramm des Religionssystems vorgesehen. Mit der Zeit wuchs sie sich gleichwohl zu einer mächtigen Konkurrenz im protestantischen Religionssystem aus. Die Theologen brachten fortan von einem verkürzten Lutherverständnis her ("weltlich Ding") Verständnis für die staatliche Autonomie auf. Von der Exegese der biblischen Schriften bis zur ethischen Zweitcodierung wurden auch andere Segmente des Systems vom 128 M.Heckel: Weltlichkeit, S.49 129 WA 51, S.211,36 130 M.Serres: Der Parasit, Frankfurt/M. 1987

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V. Die evangelischen Landeskirchen

Geist der Vernunft erfaßt. Es folgten Verständnisbereitschaft für die "Eigengesetzlichkeit der Kulturgebiete", für die "Entkonfessionalisierung des öffentlichen Lebens" und für den "privaten Charakter der Religionsausübung". Schließlich untergrub der Parasit auch die maßgebliche Leitdifferenz des Religionssystems. Das Heilige tritt in dem Maße als absolute Wegweisung zurück, wie sich neben ihm andere Werte ansiedeln dürfen. Es wird dann zum Gegenpol des "innerweltlichen" Bereichs, es wird zum "Transzendenten". Das Antiheilige, der ursprüngliche Gegenpol des Heiligen, wird damit mehr und mehr überflüssig. Das Böse und der Teufel besitzen keine grenzmarkierende und grenzsichernde Funktion für das christliche System mehr, wenn die Ethik weltlicher Systemrationalität (Macht, Gewalt, Krieg als Mittel der Herrschaftsausübung hier - Dienst- und Liebesgebot da) erst einmal akzeptiert ist. Schließlich folgt auch die generelle Preisgabe der ethischen Zweitcodierung. Wer könnte noch Kritik an den ethischen Prämissen anderer Systembereiche (Erkenntnistheorie, Physik, Familie) äußern, nachdem er erst einmal einem von ihnen Autonomie zugestanden hat? Was einem eingeräumt worden ist, ist auch den übrigen dauerhaft kaum vorzuenthalten. Wird aber das Heilige als Absolutes fragwürdig und der Teufel überflüssig, dann hat nach der Logik der absolut gültigen Leitdifferenzen das evangelische Religionssystem mit der Akzeptanz des "weltlich Dings" seine eigene Entgrenzung, seine Selbstauflösung eingeleitet. Es verwundert also nicht, daß es dem Protestantismus nicht gelungen ist, eine unabhängige Systemidentität als eigenständiges Sozialsystem in der Gesellschaft zu e n t w i c k e l n . 132 Er lebte seit dem 16.Jahrhundert als Einsiedlerkrebs in einem fremden Gehäuse, im Gehäuse des Staates, der ihm Bleiberecht und Funktionen zuwies. Der Parasit im System ruinierte die religiöse Leitdifferenz. Die ethische Zweitcodierung aber hat sich verselbständigt. Sie wanderte in die Gesellschaft aus und nahm dabei ihren binären Charakter mit. Die Ethik kannte auch weiterhin die absolute Gültigkeit einer einzigen Leitdifferenz. Sie kannte den "guten" Menschen und den "bösen" Menschen. Sie kannte den "barmherzigen Samariter", der ohne Ansehen der Person hilfsbereit ist, der den Schwachen beisteht und das tut, was ihm vor die Füße gelegt ist. Sie kannte die Bescheidenheit dessen, der nicht zwei Herren dienen kann. Als der Staat nach 1933 seinen positiv stützenden Umgang mit den evangelischen Landeskirchen aufgab, standen sie den Ereignissen desorientiert und tief gespalten gegenüber. Die zweite Barmer These, die Jesus Christus als "Gottes kräftigen Anspruch auf unser ganzes Leben" bekennt, läßt sich von daher auch als ein Versuch ansehen, die alleinige und umfassende Gültigkeit der ursprünglichen Leitdifferenz wieder herzustellen: Neben Jesus Christus gibt es nichts, was in irgendeiner Weise einen gleichberechtigten oder gar vorzuordnenden Anspruch auf das Leben des Christen erheben darf. Deshalb gehört der Chri131 S.Aquaviva: Der Untergang des Heiligen in der industriellen Gesellschaft, Essen 1964; H.Bartsch (Hg.): Probleme der Entsakralisierung. München u.ö. 1970 132 Ein Defizit, das in der Gestalt eines absichtsvoll offengehaltenen Wettstreites nur partiell untereinander kompatibler Ziele bis in die Gegenwart hinein fortbesteht.

4. Wandlungsimpulse III: Systemalterung

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stusglaube nicht bloß in eine "religiöse Privatsphäre", die es neben weitaus wichtigeren Bereichen wie Staat und Nation auch noch gibt. Vom Christusglauben her erschließt sich vielmehr der gesamte W i r k l i c h k e i t s b e r e i c h . 133 i n dieser Einsicht und ihrer öffentlichen Proklamation lebte 1934 noch einmal kirchenintern der von Niklas Luhmann konstatierte Universalitätsanspruch der Leitdifferenzen auf. Von daher läßt sich die These vertreten, daß die Bekenntnissynode mit der zweiten Barmer These versucht hat, den Parasiten auszutreiben, der sich über Jahrhunderte hinweg im Religionssystem der evangelischen Landeskirchen ausgebreitet hatte. Die Aufweichung der Leitdifferenz sollte rückgängig gemacht, der Diffusions- und Assimilationsprozeß des christlichen Religionssystems in Sekundärbereiche wie Politik, Ökonomie, Bildungswesen úsw. gestoppt und damit - systemtheoretisch, nicht in der Sprache der Dialektischen Theologie formuliert - die Identität der evangelischen Landeskirchen als Sozialsysteme des Systembereichs "Religion" zurückgewonnen werden. Der hellsichtige Versuch der Barmer Bekenntnissynode, die Landeskirchen an ihre maßgebliche Leitdifferenz zu e r i n n e r n k a m im Dritten Reich relativ frühzeitig. Im historischen Rückblick läßt sich allerdings erkennen, daß es im Jahr 1934 bereits viel zu spät war, um das Steuer noch radikal herumwerfen und den Parasiten besiegen zu können. Die Mehrzahl der Theologen hatte sich schon lange vorher mit der geborgten Identität der evangelischen Kirche (als funktionales Teilsystem eines Staates) arrangiert. Spätestens im 18.Jahrhundert waren sie zu einem Hort des Vernunftgeistes und zum Multiplikator der Aufklärungsbemühungen ihrer Zeit geworden. Jahrhundertelang hatten sie sich mit ihrem Versuch, rationalen Vernunftgebrauch und aufgeklärte Frömmigkeit zu vereinbaren, im Vorderfeld der geistesgeschichtlichen Entwicklung Europas befunden. Die daraus resultierende evangelische Religionskultur war längst verfestigt. 1934 gab es ein Zurück allenfalls noch für den kleinen Kreis derer, "so mit Ernst Christen sein" w o l l t e n ^ 5 > n u r noch um den Preis des radikalen "Gesundschrumpfens" der evangelischen Kirchen auf die Größenordnung einer Bekenntnisgemeinschaft. Jahrhundertelang hat in der evangelischen Kirche systemintern das eingeschlossene (ursprünglich einmal: ausgeschlossene) Dritte gewuchert, das die Leitdifferenz des Religionssystems untergraben und geschwächt hat. Bis heute haben die evangelischen Landeskirchen ein eingetrübtes Verhältnis gegenüber

133 Zum folgenden vgl. E.Wolf: Königsherrschaft Christi und Lutherische Zwei-ReicheLehre, in: Peregrinatio II, München 1965, S.212-217 134 Vgl. die sozialethische Übereinstimmung von Barmen II ("Anspruch auf unser ganzes Leben") mit Apologie IV, 189 ("Früchte des Glaubens"). Die Apologie bringt die konstitutive Leitdifferenz des christlichen Glaubens: Christus "heiligt in solchen Werken die Herzen und drängt den Teufel zurück und setzt, um das Evangelium unter den Menschen zu bewahren, nach außen dem Reich des Teufels(!) das Bekenntnis der Heiligen(!) entgegen und bekundet in unserer Schwachheit seine Macht". 135 In neueren Publikationen wird der "Kirchenkampf" als "Pfarrerkampf" (A.Jäger: Konzepte, S.270) oder "deutscher Pastorenaufstand" (J.Mehlhausen: Kirchenkampf, S.193 mit L.Marcuse) bezeichnet.

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V. Die evangelischen Landeskirchen

dem Heiligen und ein ungeklärtes Verhältnis zur Eigengesetzlichkeit der Welt. Von der (parasitär bedingten) Aushöhlung der Leitdifferenz her erklärt sich auch der schwierige Frömmigkeitstyp des Protestantismus: Ein guter Protestant ist aufgeklärt, aufgeschlossen, geistig flexibel und auf der Höhe seiner Zeit. Fragt man ihn aber, ob er "religiös" oder gar "fromm" sei, kommt er ins Grübeln. Ein ähnliches Phänomen zeigt sich auch bei den "Berufschristen". Die evangelischen Gottesdienste werden von nicht wenigen Pfarrerinnen und Pfarrern nur noch als lästiges Superadditum im umfangreichen Katalog ihrer beruflichen Verpflichtungen behandelt. Der Sinn für die Liturgie, die religiöse Symbolik und das sakramentale Handeln ist vielen evangelischen Geistlichen abhanden gekommen. Dagegen scheinen Aktivitäten aus dem Bereich der ethischen Zweitcodierung in sehr viel höherem Umfang das Hauptaugenmerk der Verantwortlichen auf allen landeskirchlichen Ebenen auf sich zu ziehen. An diesem "gut" protestantischen Anliegen sind Fragezeichen anzubringen, wenn es darum geht, die Wirkungsgeschichte des Parasiten zu analysieren, um seinem destruktiven Treiben in Zukunft konsequenter zu begegnen: Es ist sehr fraglich, ob die Landeskirchen in der ethischen Zweitcodierung tatsächlich ein tragfähiges Fundament besitzen, von dem aus sie die religiöse Primärcodierung in dem Ausmaß vernachlässigen könnten, wie es faktisch geduldet oder sogar befürwortet wird. Von der ethischen Zweitcodierung führt nämlich kein unumstrittener Weg zurück zur religiösen Erstcodierung. Vielmehr ist die ethische Zweitcodierung ohne religiöse Begründung gesellschaftlich überlebensfähig. Im Konkurrenzkampf der Systembereiche wird sie keineswegs nur von den Kirchen, sondern auch von politischen Parteien (Steuerrecht), Gewerkschaften (Tarifverträge), Trägern der freien Wohlfahrtspflege ("Humanität") oder Wirtschaftsunternehmen (Ethikmarketing) reklamiert und verwendet. Der biblische Jesus von Nazareth hat die ethische Zweitcodierung nicht eigenständig begründet. Er hat sie aus der religiösen Erstcodierung abgeleitet. Es scheint im Hinblick auf die gegenwärtige landeskirchliche "Landschaft" nicht unangebracht zu sein, auf diesen Sachverhalt noch einmal hinzuweisen. Eine Landeskirche, die das Profane im eigenen Haus kultiviert, das Heilige aber marginalisiert, macht sich strukturell unglaubwürdig und damit auch tendenziell überflüssig. Sie untergräbt ihre Authentizität als Kirche. c) Die Individualisierung der Glaubensüberzeugungen Das traditionelle Systemprogramm der christlichen Kirchen ist durch den schleichenden Exodus der Inhalte ins Reich des Profanen und des Individuellen schwer beschädigt worden. Die Präferenzordnung der christlichen Religion beinhaltete ursprünglich nicht allein die Erkenntnis, daß Jesus Christus Gottes Sohn ist. Sie wurde durch ein in sich stimmiges Netz von Glaubensüberzeugungen abgestützt, die sich gegenseitig interpretierten und ergänzten. Die Inhalte des Glaubensbekenntnisses zeigen noch heute, wie dicht dieses Netzgeflecht aus Gotteslehre und Kosmologie, Christologie und Pneumatologie, Ekklesiologie,

4. Wandlungsimpulse ΠΙ: Systemalterung

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Futurologie und Ethik versponnen war. Um nur einiges zu nennen: Gott, der Schöpfer, ist der Herr über den Himmel und die Erde. Jesus Christus ist in das Reich des Todes hinabgestiegen. Anschließend ist er in den Himmel aufgefahren. Von dort wird er wiederkommen, um die Lebenden und die Toten zu richten. Die Kirche ist die "Gemeinschaft der Heiligen" und weiß sich damit dem heiligen Reich Gottes zugehörig. Die Auferstehung der Toten und das ewige Leben sind Inhalte des gemeinsamen Glaubens der Heiligen. Die Vorstellungswelt, in die der Glaube an Jesus Christus eingebettet war, ja von der her er in vieler Hinsicht überhaupt erst plastische Gestalt annahm, reichte weit über das Bekenntnis zum bloßen "Daß" der Gottessohnschaft Jesu von Nazareth hinaus. Dieses Netzgeflecht christlichen Glaubenswissens ist im Zuge der Entwicklung der Neuzeit in einzelne Splitter und Versatzstücke zerfallen. Auch an diesem Punkt hat Martin Luther selbst einen nachhaltig wirksamen Impuls gegeben. Auch dieser Impuls muß im unmittelbaren Zusammenhang mit dem historischen Verlauf der Reformation beurteilt werden: "Es sei denn, daß ich mit Zeugnissen der heiligen Schrift oder mit öffentlichen, klaren und hellen Gründen und Ursachen überwunden und überwiesen werde - denn ich glaube weder dem Papst noch den Konzilien allein, weil es am Tag und offenbar ist, daß sie oft geirrt haben und sich selbst widerwärtig gewest, und ich also mit den Sprüchen, die von mir angezogen und eingeführet, überzeugt und mein Gewissen in Gottes Wort gefangen ist, so kann und will ich nichts widerrufen, weil weder sicher noch geraten ist, etwas wider das Gewissen zu tun". 136 Luther hat die Individualisierung der Glaubensüberzeugungen, die persönliche Glaubens- und Gewissensfreiheit, in das Systemgehäuse des christlichen Glaubens eingebracht und verfochten. Das Wort "Ich" als Einleitungswort in den Auslegungssätzen zu den Stücken des Glaubensbekenntnisses ("Ich glaube, daß mich Gott geschaffen hat...") ist Ausdruck dieser Einstellung. Allerdings sind auch an diesem Punkt Einschränkungen nötig. Die Theologie Luthers und ihre Wirkungsgeschichte sind sauber zu trennen: Martin Luther selbst hat zwar die Wahrheit kollektiver Konzilsbeschlüsse in Frage gestellt, aber keineswegs aus einem programmatischen Gewissensindividualismus heraus. Er stellte sie in Frage, weil er das Wort der Heiligen Schrift höher einschätzte und sich diesem Wort mit letzter Konsequenz persönlich unterwarf. Es ging ihm weder darum, den religiösen Individualismus zu fördern, noch einen persönlichen Gewissenskult oder ein abstraktes Toleranzprinzip. All das war ihm noch fremd. ^ "Ein persönliches Gewissen als Begründung religiöser Freiheit kennt Luther nicht; und das Gewissen als Argument der Freiheit gegen Rom schloß niemals bei Luther die Duldung für andere ein". 138 Luthers Kate136 Schlußsatz der Verteidigungsrede Luthers auf dem Wormser Reichstag am 18.4.1521 (nicht von Luther selbst überliefert) - MA 3, S.14f; vgl. WA 7, S.814-887 137 E.Wolf: Toleranz nach evangelischem Verständnis (1957), in: Peregrinatio II, München 1965, S.284-299; E.Wolf: Gewissen zwischen Gesetz und Evangelium (1958), "ebd., S. 104-118; Heckel: Weltlichkeit 138 E.Wolf: Tolerenz, S.286 mit J.Kühn

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V. Die evangelischen Landeskirchen

chismen und die Visitationspraxis in den protestantischen Landeskirchen lassen erkennen, daß Luther, ähnlich wie beim Vernunftgebrauch der Regierenden, keineswegs der Meinung war, die Gewissensfreiheit in Glaubensdingen sei prinzipiell jedermann zu gewähren. Die protestantischen Landeskirchen legten Wert auf eine straffe religiöse Unterweisung des Kirchenvolks. Für Luther gehörte die Religion zum Stadtrecht. 139 y o n daher forderte er, daß in einer Stadt auch nur eine einzige Predigt gelten kann. "Der Glaube kann nicht erzwungen werden, aber im Rahmen des Stadtrechtes ist der Haufe zur Kirche zu nötigen". 140 von Andersglaubenden hat Luther verlangt, sich still zu verhalten oder aber auszuwandern. Im Verlauf der Reformationsgeschichte hat Luthers biblisch fundiertes und (theoretisch) auch jederzeit biblisch korrigierbares "Ich" aber dann doch Züge des religiösen Individualismus angenommen. Schon bei Täufern und Spiritualisten kam es zu einer starken Betonung der individuellen Frömmigkeit. Auch mündete die unvollendete Reformation im Augsburger Religionsfrieden in die Freigabe der Religion für die Landesherrn ein. Nachdem aber Konfessionswahl und Konfessionswechsel den Fürsten zugestanden waren, war es nur noch eine Frage der Zeit (und der Geistesgeshcichte), bis die Freiheit in Konfessionsdingen auch den Landeskindern zugestanden wurde. An diesem Punkt griffen dann auch die Auswirkungen des überkonfessionellen Reichsrechts und der seit dem 17.Jahrhundert verstärkt reflektierte Toleranzgedanke. Damit aber hat das "Ich" des Martin Luther eine Tür aufgestoßen, durch die schon wenig später andere mit völlig anderer Motivation und Begründung hindurchgehen konnten. Die Geister, die einmal in die Welt gesetzt waren, ließen sich nicht mehr aus der Welt schaffen, auch wenn das nicht schon über Nacht deutlich wurde. Nachdem das "Ich" als Parasit kirchenintern verankert war, begann es dort zu arbeiten. Es löste sich vom strengen Kriterium Luthers, verband sich mit neuen Motivationen und Begründungen und hat in einer langen und differenzierten Wirkungsgeschichtel41 mitgeholfen, das einstmals dicht gewobene Netz der kollektiven christlichen Glaubensüberzeugungen auch kirchenintern zu durchlöchern. Die "Anerkenntnis der prinzipiellen religiösen Unmittelbarkeit" 142 u n c i ¿er Gedanke der Gewissensfreiheit in Glaubensdingen haben dazu geführt, daß die protestantischen Kirchen (trotz vielfältiger Bemühungen) nicht gegenhalten konnten, als die Inhalte des Glaubensbekenntnisses mehr und mehr im Feuer der Kritik dahinschmolzen und im aufgeklärten Staat "jeder nach seiner Facon selig werden" konnte. Die "Legitimität eines undogmatischen Christentums und einer aufgeklärten Individualitätskultur" wurde auch theologisch 139 WA 31/1, S.208 140 E.Wolf: Tolerenz, S.287 141 F.W.Graf: Einleitung - Protestantische Freiheit, in: Ders. / K.Tanner (Hg.): Identität, S.13-19; F.Wagner: Protestantische Reflexionskultur, in: ebd. S.31-49; W.Pannenberg: Gibt es Prinzipien des Protestantismus, die im ökumenischen Dialog nicht zur Disposition gestellt werden dürfen?, in: ebd. S.82; E.Wolf: Toleranz, S.288-291 142 F.W.Graf: Innerlichkeit und Institution. Ist eine empirische Ekklesiologie möglich?, in: PTh 77/1988, S.384

4. Wandlungsimpulse DI: Systemalterung

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D¡ e Landeskirchen wurden zu Vorreitern eines aufgeklärten Subjektivismus, "zu Pflegeanstalten für eine subjektiv bestimmte, sittlich-religiöse Kultur". 144 sie standen für Werte wie Humanität, Sittlichkeit und Nächstenliebe. Daß die Landeskirchen damit ihren Systemcharakter relativierten und sich als Organisationen selbst in Frage stellten, gehört wiederum zu den Paradoxien ihres Systemschicksals. Sie dienten, aber sie dienten nur bis auf Widerruf: Ein konsequent umgesetzter religiöser Individualismus kann sich zwar u.U. der Kirche noch als Medium der persönlichen Inspiration bedienen, er muß das aber keineswegs tun. Letztlich braucht der religiöse Individualismus keinen "religiösen Zwischenhandel". Die Unterstützung der organisierten christlichen Kirche bei der Auswahl der maßgeblichen Glaubensinhalte ist v e r z i c h t b a r . 1 4 5 "Individuelle Freiheit ist in einem elementaren Sinne die Freiheit dazu, die Wirklichkeit der Welt [und die Wirklichkeit des Glaubens] noch einmal anders als andere zu s e h e n " . 146 Derartige Spielräume für den Einzelnen, die Systemvorgaben einer persönlichen Gewissensüberprüfung zu unterziehen, Gegebenes auch zurückzuweisen, gleichwohl aber Kirchenmitglied zu bleiben, sind in der allgemeinen Systemtheorie nicht vorgesehen. Systemnormen sind prinzipiell Kollektivnormen. Ein Sozialsystem kann seine weitreichenden Orientierungsund Entlastungsfunktionen nur erfüllen, weil die Mitglieder sich auf Gemeinsamkeiten geeinigt haben und sich den gemeinsamen Normen (freiwillig oder bis auf Widerruf) unterwerfen. Systeme entlasten, weil sie Verbindliches und Verbindendes festlegen. Der landeskirchliche Protestantismus aber gestattete sich die parasitäre Auflösung der Kollektivnormen gerade in dem Bereich, den man spontan als den Zentralbereich des christlich-kirchlichen Systems bezeichnen würde, im Bereich der Glaubensüberzeugungen. Glaubensüberzeugungen sind im Protestantismus weder verbindlich noch verbindend. Das aber bedeutet, das landeskirchliche Sozialsystem wird nicht mehr durch gemeinsame Glaubensnormen zusammengehalten. Weiter unten wird noch darüber nachzudenken sein, was denn dann die Landeskirchen überhaupt zusammenhält, denn sie sind ja erstaunlicherweise trotz dieses Parasiten nicht zerfallen. unterstützt.

d) Die Zersplitterung des religiösen Glaubens- und Wissenssystems - das Glaubensbekenntnis Was im einzelnen theologie-, kultur- und geistesgeschichtlich geschehen ist, müßte hier eigentlich differenziert und detailliert dargestellt werden. Eine solche Darstellung ist aber im Rahmen der vorliegenden Publikation nicht zu leisten. So beschränke ich mich auf eine ergänzungsbedürftige Skizze, die sich 143 F.W.Graf: Vorwort, S. 11 144 E.Wolf: Toleranz, S.289 145 W.Lück: Lebensform Protestantismus, Stuttgart u.ö. 1992; F.W.Graf / K.Tanner (Hg.): Protestantische Identität heute, Gütersloh 1992 146 F.W.Graf: Innerlichkeit, S.393

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V. Die evangelischen Landeskirchen

zunächst nur auf das bezieht, was im führenden Segment des geistesgeschichtlichen Entwicklungsprozesses, gewissermaßen "in der Spitze des Eisbergs", geschehen ist. Das ursprünglich einmal erstaunlich kohärente und mehrdimensionale Glaubens- und Wissenssystem der evangelischen Landeskirchen ist seit dem 16.Jahrhundert in zahlreiche Segmente zersplittert, die eine jeweils eigene Geschichte durchlaufen haben: Die christlich-kirchliche Ethik sickerte in neu entstandene Teilsysteme der Gesellschaft ein und verlor dort ihren spezifisch christlich-kirchlichen Erkennungswert. Sie lebt bis in die jüngste Gegenwart hinein fort, ist aber ihrer genuin christlich-religiösen Begründung beraubt und wird teilweise nicht einmal mehr als christlich erkannt bzw. a k z e p t i e r t . 147 Das christliche Weltbild (Himmel - Erde - Reich der Toten) wurde aufgespalten, Stück für Stück kritisiert, metaphorisiert und seiner umfassenden lebensbegleitenden Orientierungsund Leitfunktion entkleidet: "Den Himmel überlassen wir den Engeln und den Spatzen". 148 Dj e Hölle ist zwar metaphorisiert, aber nach wie vor höchst präsent. Um die Zuständigkeit für Ewigkeit und Urzeit streitet die Religion sich mit "profan" gewordenen Wissenschaften wie der Astronomie, der Physik, der Mathematik und anderen. Der Glaube an die Auferstehung der Toten und ein Leben nach dem Tod wurde zur Privatsache. Er ist heute, wie schon zu Zeiten der Pharisäer und der Sadduzäer (Mk 12,18), wieder eine persönliche Glaubensangelegenheit. Nach wie vor konkurriert die (privatisierte) Auferstehungsvorstellung mit dem bereits in frühchristlicher Zeit aus der mittelplatonischen Philosophie entlehnten Glauben an die Unsterblichkeit der Seele. Die Hoffnung auf das ewige Leben hat einen ebenso spärlichen wie halbblinden Abklatsch im "Nachruhm" gefunden, der das Motiv zur Benennung ungezählter Gassen, Straßen und Plätze nach "bedeutenden" Männern und Frauen bildet. Das Reich Gottes fristet ein karges Dasein als blutleeres "Jenseits", als semantisches Vakuum, entvölkert, transzendiert oder privatisiert. Ein lebenslang begleitender Erwartungshorizont ist es längst nicht mehr. Der Tag des Gerichts schließlich durchlief einen Prozeß "weltlicher" Neuinterpretation und ist heute als "Gericht der Enkel", vor dem wir uns ständig virtuell zu verantworten haben, selbst in Kirchenkreisen diskursfähig. Schließlich hat auch die religiöse Hingabe sich neue Betätigungsfelder gesucht. Spätestens seit dem 19.Jahrhundert kann der Sinn des Lebens nicht mehr allein religiös gesucht und gefunden werden, sondern auch durch profane Aktivitäten wie die Sorge um die Familie, die Klassenoder die Volksgemeinschaft, die pflichtbewußte oder die erfolgreiche Berufsausübung oder auch (ein sehr junger Sproß) durch Selbsterfahrung. So schwer es auch fallen mag, sich dieser massierten Problematik zu stellen, die Landeskirchen stehen, ob sie es wollen oder nicht, im Erbe dieser Entwicklung. Lediglich in Splittern und Scherben hat ein einstmals eindrucksvoll geschlossenes Glaubens- und Wissenssystem die Emanzipation des Profanen überlebt. Um noch einmal auf die "Spitze des Eisbergs" zurückzukommen. 147 s.u. Kap.VI 3.5 148 Heinrich Heine: Deutschland, aus: c . l

4. Wandlungsimpulse ΙΠ: Systemalterung

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Die geistige Avantgarde ist dem Bewußtseinswandel in der Bevölkerung teilweise gewaltig voraus gewesen. Man muß mit einem langsamen Prozeß des Einsickerns und Durchsickerns durch die verschiedenen Schichten der Bevölkerung rechnen, der regional, Schicht- und bildungsspezifisch völlig unterschiedliche Ausmaße und Geschwindigkeiten hatte. Heinrich Heine hat die Entwicklung richtig vorausgesehen, als er in "Deutschland. Ein Wintermärchen" seinen Liktor sagen ließ: "Und gehn auch Jahre drüber hin, ich raste nicht, bis ich verwandle in Wirklichkeit was du erdacht. Du denkst, und ich, ich handle." Leider fehlen den Landeskirchen präzise empirische Erkenntnisse über den Entwicklungsverlauf und den gegenwärtigen Stand der Dinge. Dieses empfindliche empirische Defizit läßt sich leider nur durch subjektive Erkenntnisse aus der Pfarramtspraxis ein wenig reduzieren: Die Pfarrer/innen begegnen in ihren Parochien selbst heute noch nahezu sämtlichen Glaubensüberzeugungen, die das Glaubensbekentnis artikuliert. Neue, nichtchristliche Elemente wie "Wiedergeburt" und "Seelenwanderung" kommen noch hinzu. Aber die alte Kohärenz der Glaubensüberzeugungen gibt es nicht mehr. Die Glaubenssplitter fristen vielmehr ein isoliertes Eigenleben. "Ist die Religion erst einmal zur 'Privatsache' geworden, kann das Individuum nach freiem Belieben aus dem Angebot 'letzter' Bedeutungen wählen. Geleitet wird es dabei nur noch von den Vorlieben, die sich aus seiner sozialen Biographie ergeben". Der eine neigt diesem, der andere jenem Inhalt zu, nicht selten unter strikter Zurückweisung eines dritten, ebenfalls (früh-)christlichen Gedankens. Man findet alles, in nahezu allen denkbaren Kombinationen gleichzeitig nebeneinander präsent. Wer heute als Pfarrer eine Wohnung zum ersten Mal betritt, kann überhaupt nicht mehr voraussagen, welche Glaubensüberzeugungen vorhanden oder zu erwarten sind. Die Verunsicherung, die daraus resultiert, ist gewaltig. Einheitlichkeit gibt es nicht mehr. Was man vorfindet, sind privatisierte Inhalte, versprengte Versatzstücke, die die Menschen, denen sie unter Umständen viel bedeuten, untereinander kaum noch verbinden. Anders als es sich etwa noch Schleiermacher (Reden) oder Harnack (Wesen) vorgestellt haben, gibt es keinen Konsens im Grundlegenden mehr, auf den man dann Spezielleres aufbauen könnte. Was dem einen wertvoll und unabdingbar ist, gilt dem anderen möglicherweise gerade als suspekt. Die "Ungleichzeitigkeit der Gleichzeitigen" ist ein alltägliches Problem bei jedem Hausbesuch. Das bedeutet auch, daß die "Patchwork-Religion" ( L u c k m a n n ) 1 5 0 das selbstgebastelte Gehäuse individuell ausgewählter bzw. abgelehnter Glaubensüberzeugungen, nicht erst ein Merkmal der gegenwärtigen Religiosität in der Bevölkerung ist, sondern daß sie bereits jahrhundertealte Wurzeln hat. In der Auswahl und Zustimmung zu Glaubensinhalten ist der Protestant eben nicht erst seit wenigen Jahrzehnten frei. Das gleiche gilt auch für die evangelischen Geistlichen, die zwar dem Schriftprinzip Luthers unterworfen sind, darüberhin149 T.Luckmann: Religion, S.141 150 K.Tanner: Von der liberal-protestantischen Persönlichkeit zur postmodemen PatchworkIdentität, in: F.W.Graf / K.Tanner (Hg.): Identität, S.96-104

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V. Die evangelischen Landeskirchen

aus aber in Glaubensftagen keinen normierenden Weisungen ihrer Kirchenleitungen unterliegen. Es ist ein offenes Geheimnis, daß auch in der Pfarrerschaft längst schon zahlreiche Varianten des "Patchwork-Glaubens" Einzug gehalten haben. Auch auf diesem Gebiet fehlt bedauerlicherweise wieder dringend benötigtes empirisches Material. Man ist auf Indikatoren angewiesen. 151 e) Kommunikationsprobleme Richard Münch hat darauf hingewiesen, daß die Ausdifferenzierung der Gesellschaft von verstärkten Bemühungen um eine zwischensystemische Verständigungsfähigkeit begleitet sein muß. Da sich in jedem Segment der Gesellschaft ständig hochspezialisiertes Detailwissen und elaborierte Fachsprachen entwikkeln, können interdisziplinäre Vorhaben und intersystemische Verständigungsprozesse nur noch dann erfolgreich durchgeführt werden, wenn die beteiligten Personen auch trotz ihrer hohen Spezialisierung darauf achten, untereinander diskursfähig zu bleiben. Die ausdifferenzierte Gesellschaft kann auf das integrierende Fundamt einer systemübergreifenden "Normalsprache" nicht verzichten. Gerade von den Spezialisten ist zu fordern, daß sie auch Übersetzerqualitäten besitzen. Damit ist ein zentrales Kommunikationsproblem der Landeskirchen bereits global benannt. Die Anschlußfahigkeit an die Sprache des Mitgliedersegments und damit auch die Diskursfahigkeit der religösen wie der theologischen Fachsprache hat im Zuge des Alterungsprozesses des Christentums schweren Schaden genommen (trotz Psalm 23!). 152 im gesamten kirchlichen Leben, insbesondere beim Bibellesen und -verstehen, im liturgischen Bereich und im Glaubensgespräch zwischen Theologen und Laien ist die Verständigungsfähigkeit des professionellen Segments mit dem nichtprofessionellen Mitgliedersegment massiv beeinträchtigt. So ist in Theologenkreisen immer wieder die Frage zu hören, warum die Menschen heute nicht mehr in der Bibel lesen. Zu selten wird darüber nachgedacht, was denn passiert, wenn jemand aus Neugier oder Interesse, aber ohne exegetische Vorkenntnisse, dieses 2000 Jahre alte Buch aufschlägt und an irgendeiner Stelle zu lesen beginnt, was vielleicht häufiger vorkommt, als Theologen meinen. Man könnte die Antwort wissen, aber ich befürchte, man möchte sie nicht wissen, weil dann die protestantische Mythisierung der "Schrift" zu überprüfen wäre. Der Protestantismus ist jahrhundertelang gut damit gefahren, sich der Zweitcodierung von Sprache, eben der Schrift, anzuvertrauen. Nun aber scheint es erforderlich zu werden, die Erstcodierung, die Sprache selbst, zurückzugewinnen, und das heißt vor allem, die lebendige Sprachfähigkeit in Glaubensdingen wieder neu zu erwerben. 151 So belegen etwa die Osterpredigten oder auch die Himmelfahrtspredigten jedes Jahr aufs neue eindrucksvoll das Spektrum der Glaubensüberzeugungen, das innerhalb der Landeskirchen vorhanden ist. 152 Eine gute Analyse weiterer Kommunikationsprobleme, die im folgenden unberücksichtigt bleiben (TZI; Transaktionsanalyse; Vier-Felder-Modell nach Schulz von Thun), findet sich bei H.Lindner: Kirche, S.227-244

4. Wandlungsimpulse ΠΙ: Systemalterung

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1. Die liturgische Kommunikation: Die Verständnisbedingungen der religiösen Kommunikation haben sich aufgrund der geistesgeschichtlichen Umbrüche zu Beginn der Neuzeit massiv verschoben. Diese Verschiebungen und ihre hermeneutischen Konsequenzen sind bis in die jüngste Zeit hinein in einem erstaunlichen Ausmaß ignoriert worden. In meiner Dissertation über "Verständnisbedingungen religiöser Symbole am Beispiel von T a u f r i t u a l e n " 1^3 habe ich den hermeneutischen Traditionsabbruch nachvollzogen, der die Verständnisbedingungen der Liturgie seit dem 16.Jahrhundert in fundamentaler Weise verschoben hat. An dieser Stelle kann nur auf einige der Ergebnisse hingewiesen werden: Die Bedeutung des Rituals ließ ursprünglich einmal aus dem Handlungsverlauf selbst a b l e s e n . 154 Das Ritual war kognitiv, nicht bloß emotional partizipierend, mitzuvollziehen. Die geistliche Referenzebene des Rituals hatte die irdische Dimension nicht verdrängt. Vielmehr wurde der Symbolwert des Irdischen genutzt, um die Referenzebene anschaulich werden zu l a s s e n . 1 5 5 Die Methoden der religiösen Zeichendeutung waren bis zum Beginn der Neuzeit nicht esoterisch. Die Religion bediente sich vielmehr der weit verbreiteten Anschauungen über den relationalen Charakter der W i r k l i c h k e i t . 156 Den hermeneutischen Schlüssel zum Verständnis der Welt und der Wirklichkeit bildete das Zeichen. Die Zeichentheorie, nicht die analysierende und ordnende Betrachtung des einzelnen Dings, stand im Mittelpunkt wissenschaftlicher und religiöser Welterkenntnis. All das hat sich mittlerweile erheblich verändert. Liturgische Brüche und Spannungen bildeten sich heraus und konnten nicht beseitigt werden. Neue Interpretationen wurden den Zeichenhandlungen hinzugefügt, ohne im Handlungsgefüge selbst verankert zu werden. Der rituelle Handlungsverlauf wurde verkürzt und immer mehr Zeichenbedeutungen, die urspünglich einmal im symbolischen Handlungsverlauf erlebbar waren, wurden verbalisiert.157 Es herrscht ein krasses Mißverhältnis von unscheinbar gewordenen Zeichen und weitreichenden theologischen Z e i c h e n d e u t u n g e n . 158 Als unverständliche Formeln und Redewendungen fristen die Überreste einer einstmals eindrucksvollen religiösen Symbolik heute ein karges Dasein in den liturgischen Gebeten. Die agendarische Liturgie hat ihre Expressivität eingebüßt. Geblieben ist das "Ritual eines Rituals", dessen semantisches Profil in einem langen Prozeß "hermeneutischer Spurentilgung" zerrieben worden und verloren gegangen ist. Die Liturgie versteht sich heute nicht mehr von selbst. Sie hat zwar überlebt, aber als eigenständiger Sektor der Kommunikation, eben als "religiöse" Kommunikation. "Verstehen" muß in jeder einzelnen liturgischen Situation immer wieder aufs neue gesucht werden. Das aber kann den Liturgen kaum gelingen (und wird den Gottesdienstteilnehmern folglich unmöglich gemacht), 153 R.Fleischer: Diss. Ev.theol. Mainz 1984; eine gekürzte Fassung ist: R.Roosen: Taufe lebendig. Taufsymbolik neu verstehen, Hannover 1990 154 R.Fleischer: Verständnisbedingungen, S.279 vgl. R.Roosen: Taufe, S.53f 155 R.Fleischer: Verständnisbedingungen, S.383-391 vgl. R.Roosen: Taufe, S.98-103 156 R.Fleischer: Verständnisbedingungen, S.280 vgl. R.Roosen: Taufe, S.54 157 R.Fleischer: Verständnisbedingungen, S.298-304 vgl. R.Roosen: Taufe, S.67-73 158 R.Fleischer: Verständnisbedingungen, S.408 vgl. R.Roosen: Taufe, S. 107-109

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V. Die evangelischen Landeskirchen

so lange die fundamentale Verschiebung der hermeneutischen Basis noch nicht hinreichend liturgiewissenschaftlich aufgearbeitet ist, so lange die evangelischen Landeskirchen die liturgische Ausbildung ihres Nachwuchses vernachlässigen, und so lange die Liturgen das religiöse Fundament des Gottesdienstes absichtsvoll oder unabsichtlich verschleiern. Die Kommunikationsinhalte, die den Gottesdienstteilnehmern zugemutet werden, bieten nicht selten das Bild eines steinigen Ackerfeldes, voller religiöser Findlinge und versprengter Versatzstücke, aufgelockert durch die angestrengten und höchst persönlichen Aktualisierungsbemühungen der jeweils agierenden Liturginnen und Liturgen. Die Lieder des Evangelischen Kirchengesangbuches bestätigen den beklagten Zustand des christlich-religiösen Zeichenvorrats. Schon im Eingangslied spürt jeder Gottesdienstteilnehmer, daß er in eine andere Sprachwelt eingetaucht ist. Sedimentierte Kirchensprache begegnet einem nicht selten in derart geballter Form, daß regelmäßige Gottesdienstteilnehmer es in der Regel längst aufgegeben haben, nach der kommunikativen Intention der Texte zu fragen, die zu singen sie gebeten werden. Wer über eine längere Pfarramtspraxis verfügt, weiß, daß im Gottesdienst klaglos alles gesungen wird, was vorne an der Liedtafel angeschlagen ist, und sei es inhaltlich noch so fragwürdig. Was geschieht aber, wenn jemand den Gottesdienst besucht, der nicht bereit ist, alles ungeprüft mitzusingen, sondern die Texte auch inhaltlich nachvollziehen möchte? Er findet allerlei "Archaismen" vor. Ingwer Paul hat bei der sprachwissenschaftlichen Untersuchung des Kirchenliedes "Mit Ernst, o Menschenkinder" (EKG 9) derartigen Archaismen nachgespürt. Er fand (1.) ungebräuchliche Wörter wie "Menschenkinder", "fein tüchtig", "Steige", (2.) poetische Ausdrücke wie "wunderstark", (3.) spezifisch religiöse Wendungen wie "das Herz bestellen", "das Heil der Sünder", "Demut", "ich Armer", "ins Herz hinein zeuchen", (4.) Abweichungen von Grammatik und Wortbildung ("die Tal laßt sein erhöhet, macht niedrig, was hoch s t e h e t " ) . Die Anschlußfahigkeit der religiösen Liedsprache an die Normalsprache, die Richard Münch so eindringlich gefordert hat, kann man von daher nur als massiv gestört bezeichnen. Ingwer Paul hat die These vertreten, rituelle Kommunikation sei "vollzugsorientiert". Vollzugsorientierte Kommunikation wird als Gesamtvollzug miterlebt, durchlebt und gedeutet und nicht etwa, wie die alltagsweltliche Kommunikation, "verständigungsorientiert" in ihre Sinnbausteine zerlegt. 160 Vollzugsorientierte rituelle Kommunikation muß sich auf einen bereits vorab vorhandenen Konsens aller Beteiligten stützen. Verstehender Mitvollzug kann nicht mehr wie bei der verständigungsorientierten Kommunikation (im Vierschritt Mitteilung - Information - Verstehen - Rückmeldung) erfolgen, nicht durch ein isoliertes Begreifen einzelner Wortbedeutungen. Sie erfolgt durch eine kollektiv

159 I.Paul: Sprachliche Probleme bei der Vermittlung von sakraler und profaner Sinnwelt, in: Beratungs- und Studienstelle für den Gottesdienst der Evgl. Kirche im Rheinland (Hg.): Erneuerte Agende. Dokumentation einer Studientagung, Selbstverlag Düsseldorf 1992, S.64 160 [.Paul: Probleme, S.67

4. Wandlungsimpulse III: Systemalterung

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vollzogene Relationierung, durch die Zuschreibung aller Kommunikationsereignisse auf einen übergreifenden S i n n h o r i z o n t . Zum Erfolgskriterium für gelungene rituelle Kommunikation wird die persönliche, unmittelbare "Hingabe" jedes Einzelnen an die rituelle Situation. Nur wenn persönliche Hingabe, kanonisches Wissen und ein aktueller Anlaß z u s a m m e n k o m m e n ^ ^ (besonders anschaulich etwa im Kontext der Traufrage beim Traugottesdienst), besteht demnach eine Erfolgswahrscheinlichkeit für die rituelle Kommunikation. Es ist fraglich, ob die genannten drei Bedingungen (Hingabe, kanonisches Wissen, Kasus) in Anbetracht der als Alterungsphänomene des christlichen Kirchentums dargestellten Fakten für den allsonntäglichen "Hauptgottesdienst" noch zu erwarten sind. Wo ein Gruppenkonsens und ein gemeinsamer Referenzbezug erforderlich wären, beherrschen häufig kircheninterne Konkurrenzen in der Überleitungssemantik, aufgespaltene Glaubensinhalte, theologische Sprach- und Begriffsdiffusion, archaische Findlinge, hermeneutisches Unvermögen und Referenzverweigerung der Rezipienten das Feld. Nach jahrhundertelanger Einwirkung des aufgeklärten Geistes auf die Denkgewohnheiten der Menschen kann es nicht ausbleiben, daß veraltete Formulierungen und Denkinhalte - neben der Faszination, die das Alte im Sinne eines ästhetischen Gesamteindrucks immer noch ausüben kann - eine semantische "Störqualität" bekommen haben. Sie können vom Referenzbezug des Gesamtgeschehens ablenken und geglückte religiöse Kommunikation v e r h i n d e r n . 1 6 3 2. Verständigung zwischen Pfarrern und Gemeindemitgliedern: Was im Hauptgottesdienst konzentriert zu beobachten ist, läßt sich auch im kommunikativen Miteinander zwischen Pfarrer/innen und Gemeindemitgliedern wiederfinden. Hier prallen gedankliche Welten aufeinander, wie sie manchmal unterschiedlicher kaum sein könnten. Auf der einen Seite ein gut ausgebildeter Religionsprofi mit seinem in innertheologischen Diskursen geschulten Gedanken- und Begriffsrepertoire, auf der anderen Seite Menschen, die bemüht sind, von den Splittern einer einstmals eindrucksvoll geschlossenen Glaubenswelt das für sie persönlich Beste zu bewahren. Beide sind nur unter größten Anstrengungen überhaupt noch diskursfahig. Gerade diese Anstrengungen aber werden häufig gescheut. Was in solchen Begegnungen stattfindet, haben Günther Bormann und Sigrid Bonnann-Heischkeil beschrieben: "Infolge der weitgehenden Symbolentfremdung wird die Konfrontation mit der kirchlich-theologischen Vorstellungswelt häufig als ein 'Übergang von einer Wirklichkeit in eine andere', als 'eine Art Schock' erfahren". 1 6 4

161 Vgl. G.Bormann / S.Bormann-Heischkeil: Theorie, S.165-169 und S.173 162 I.Paul: Probleme, S. 109 163 Für das Frageverhalten der Menschen läßt sich Ähnliches feststellen. So provoziert die Verlesung eines neutestamentlichen Wunders mit größter Wahrscheinlichkeit die Frage: "Kann das denn stimmen?" Die Frage "Was will mir der Erzähler mit dieser Erzählung sagen?", auf die die Prediger/innen von der Kanzel herab ihre Antwort geben, kommt zunächst gar nicht in den Sinn. 164 G.Bormann / S.Bormann-Heischkeil: Theorie, S.174

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V. Die evangelischen Landeskirchen

Projektionen und Stereotypen stellen sich als typische Fehlverhaltensweisen im Kommunikationsverhalten der Berufschristen ein. "Die Projektionen werden vielfach mit einer Imperativischen Note versehen. So ist z.B. die Routineandacht, an der man in den evangelischen Akademien die Tagungsteilnehmer partizipieren läßt, nicht immer nur ein Akt gemeindlicher Konfession, sondern auch der Dokumentation des Anspruchs. Es wird erwartet, daß der andere mit der ihm zugedachten Rolle konvergiert. Unter diesen Umständen bleibt einem Außenstehenden nichts weiter übrig, als Rücksicht zu nehmen und Konvergenz vorzutäuschen. Die Beobachtung eines Naturwissenschaftlers, daß bei einem Besuch des Pfarrers sein von dem Wunsch nach Information bestimmtes Interesse an kirchlich-theologischen Fragen als Ausdruck der gemeinsamen Überzeugung aufgefaßt und die Kommunikation als gelungen mißverstanden wurde, zeigt das Dilemma der Projektionen". Auch Stereotypen verhindern geglückte Kommunikation. "Stereotypen sind 'Mittel zur Kategorisierung von Personen', sie enthalten 'den kompletten Satz von Attributen, die man für die Mitglieder jeder dieser Kategorien als gewöhnlich und natürlich empfindet'." 166 j n diesem Sinne gehören in der Pfarrerschaft Einteilungen der Gemeindemitglieder in unterschiedliche Typen der unterstellten "Kirchenferne" bzw. der "Kirchennähe" zum weit verbreiteten Allgemeingut: "die treuen Gemeindeglieder", die "Fernstehenden", die "Weihnachtschristen" usw. Die Ausbildung von Stereotypen erleichtert die Orientierung in einem glaubensmäßig überaus heterogenen Arbeitsfeld, und sie entbindet von der Bemühung um eine differenzierende Wahrnehmung der Glaubens- und Mitgliederwirklichkeit. Aber sie beschädigt die Kommunikation, denn Kommunikation auf der Basis gegenseitiger Typisierungen ist selbst stereotyp und anonym. Ein echter zwischenmenschlicher Kontakt kann auf einer solchen Basis nicht zustande kommen. 3. Theologische Leerformeln und Floskeln: Auch in kirchenleitenden Verlautbarungen und im theologischen Fachdiskurs ist die Verwendung von Stereotypen weit verbreitet. Auch hier erfüllen sie zumindest die Funktion, differenzierende oder präzisierende Aussagen zu vermeiden und sich die Belastungen des hermeneutischen Ringens um Klarheit, Verständlichkeit und Mitvollziehbarkeit der Aussagen zu ersparen. Was beispielsweise ist unter der im Zusammenhang der Diskussion über Konzeptionen evangelischer Gemeindearbeit häufig zitierten Formel von "der Kommunikation des Evangeliums" inhaltlich zu verstehen? Was geschieht denn eigentlich inhaltlich und konkret, wenn "das Evangelium zu den Menschen kommt"? Diese und viele andere Formulierungen dienen der Kohärenzsuggestion in einer Situation, in der Kohärenz längst nicht mehr gegeben ist. Sie ignorieren die Pluralität und die Polysemie der biblischen Christus165 G.Bormann / S.Bormann-Heischkeil: Theorie, S.174 166 G.Bormann / S.Bormann-Heischkeil: Theorie, S.175

4. Wandlungsimpulse III: Systemalterung

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Zeugnisse und setzen sich über den mit der Gewissensfreiheit des Glaubenden reformatorisch begründeten Glaubenspluralismus in den evangelischen Landeskirchen hinweg. Die EKHN-Studie "Person und Institution" bietet in diesem Sinn auf den Seiten 161-165 geradezu eine Musterkollektion nichtssagender, gleichwohl aber in Kirchenkreisen überaus weit verbreiteter Leerformeln: Die Kirche muß "ihren Weg zwischen Anpassung und Verweigerung suchen" (S.161). "Es geht dabei grundlegend um die Wahrheit der christlichen Religion" (S.162). "Die Volkskirche steht dabei in der unaufhebbaren Spannung zwischen Offenheit und Weite einerseits und dem Streben nach Verbindlichkeit und Entschiedenheit andererseits" (S.162). "Die Krise der Kirche ist ihre mangelnde Überzeugungskraft und ihre fehlende Beweglichkeit. Es geht um unsere geistige und geistliche Substanz und um die Fähigkeit, dem Wandel Gestalt zu geben" (S.163). "Vielen Menschen fehlt ein lebendiger Austausch über Lebensfragen der Gegenwart" (S.163). "Verkündigung ist ein umfassender Kommunikationsprozeß, in welchem biblische Texte und ihre Überlieferungsgeschichte, die Kirche und ihre gesellschaftliche Umwelt, religiöse Erfahrung und sprachlicher Ausdruck, Glaubensaussagen und Lebenswirklichkeit ein vielfältiges und fruchtbares Spannungsfeld bilden. Wo das Gespür für diesen lebendigen Zusammenhang verloren geht, verlieren Worte ihre Bedeutung und Aussagen ihren Sinn" (S.163). "Kein anderes Geschehen in der Kirche steht in so starker Spannung zwischen hohem Anspruch und ernüchternder Wirklichkeit. Diese Spannung darf nicht vorschnell überbrückt werden" (S.165). Wo kirchenleitendes und theologisches Nachdenken und Reden über Kirche differenzierte Analysen und konkrete inhaltliche Stellungsnahmen scheut, degeneriert es zu unfruchtbarer Kohärenzsuggestion. Karl Ernst Nipkow hat zurecht auf die verbreitete "Unterschätzung der Verständigungsaufgaben über den Glauben und [auf] die Scheu vor gedanklicher theologischer Anstrengung" hingewiesen. 167 Er hat die nicht zu verantwortende Leichtfertigkeit kritisiert, mit der das Thema "Glauben können unter den Bedingungen unserer Zeit" abgehandelt wird. Es geht nicht an, schlichte Beobachtungen als Analysen zu präsentieren, Belanglosigkeiten als Therapiekonzepte auszugeben oder die "Krise der Kommunikationsformen" zu beklagen, die "Krise des T r a d i e r t e n " 168 aber zu übergehen. Es ist nicht hilfreich, mit Hilfe semantischer Leerformeln Kohärenzsuggestion zu betreiben, statt sich der Tatsache des vieldimensionalen Kohärenzzerfalls und der stark reduzierten Anschlußfähigkeit zu stellen, die schon seit Jahrhunderten in den evangelischen Landeskirchen um sich greifen.

167 K.E.Nipkow: Bildung, S.95; so auch H.Lindner: Kirche, S.237; J.Herrmann: Patient Kirche. Anmerkungen zur Krise volkskirchlicher Strukturen, in: PTh 83/1994, S.475 168 K.E.Nipkow: Bildung, S.98

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V. Die evangelischen Landeskirchen

f) Ergebnisse und Konsequenzen für eine Neukonzeption der evangelischen Gemeindearbeit 1. Die Überleitungssemantik der evangelischen Landeskirchen ist ungeklärt und umstritten. Das Sozialsystem hat über Jahrhunderte hinweg systemfremde Parasiten beherbergt, mit der Folge, daß die Akzeptanz der individuellen Religiosität (und der daraus resultierende Glaubenspluralismus in einer als "säkular" bzw. "profan " verstandenen Welt) mittlerweile in den evangelischen Landeskirchen neben dem christlichen Glaubensbekenntnis programmatisch verankert, institutionell gewollt und theologisch legitimiert ist. Im Zusammenwirken der Parasiten mit externen Gründen, die die Landeskirchen nicht zu vertreten hatten (Geistesgeschichte; Kulturgeschichte; Wissenschaftsgeschichte), hatten die Landeskirchen einen irreversiblen Entkonfessionalisierungs- und Entdogmatisierungsprozeß hinzunehmen, der bis heute nicht zum Abschluß gekommen ist. Verbunden war beides mit einem massiven Einbruch der kommunikativen Anschlußfähigkeit und der hermeneutischen Grundlagen des religiösen Weltbildes. 2. Die Landeskirchen sind also gerade hinsichtlich ihrer Glaubensinhalte (Präferenzordnung) als extrem kohärenzschwache Sozialsysteme anzusehen. Unter diesen Bedingungen vollzieht sich heute jede landeskirchliche Verkündigungsarbeit. Unter diesen Bedingungen hat sich folglich auch jedes Nachdenken über Formen und Inhalte evangelischer Gemeindearbeit zu vollziehen. Um Antworten auf die brennenden Fragen der kirchlichen Gegenwart (Was soll getan werden? Was kann sinnvollerweise getan werden? Wie und von wem soll es getan werden?) zu finden, ist empirisch abgesicherte, historisch bewußte, praxisnahe und theologisch verantwortete Arbeit notwendig. Es reicht nicht mehr aus, Kohärenz zu suggerieren, wo Glaubenspluralismus, Entdogmatisierung, Verständnisdefizite und nebulose Unklarheiten herrschen. 3. Damit wird auch darauf hingewiesen, daß der Weg einer unmittelbaren Rückbesinnung auf die ursprüngliche und nach wie vor maßgebliche Leitdifferenz den Landeskirchen versperrt ist. Der energische Versuch von VELKD und EKD, sich 1948 an die Barmer Bekenntnisthesen anzuschließen und damit auch die genuin religiöse Leitdifferenz für das gesamte System zurückzugewinnen, ist nicht etwa aus theologischen oder aus kirchenrechtlichen Gründen gescheitert. Er ist in der Praxis der Gemeindearbeit gescheitert. Man hat das Beharrungsvermögen des Systems unterschätzt und die Traditionsverbundenheit der gewachsenen evangelischen Religionskultur ignoriert. Die Mitgliederbasis erwies sich als außerordentlich träge gegenüber dem abrupten Kurswechsel seiner Führungsetage und setzte, was die Formen des Teilnahme Verhaltens, die Entdogmatisierung und die Entkonfessionalisierung anbelangt, seinen von den Umbrüchen der Geschichte des 20.Jahrhunderts nahezu unberührten Weg weiter fort. Rückblickend läßt sich urteilen, daß es nicht ausreichte, neue Formulierungen in die Grundordnung der EKD aufzunehmen. Den Ausschlag gab die Tatsache, daß es nicht gelungen ist, die Leitideen von Barmen so zu operationalisieren, daß sie auch im Rahmen einer "volkskirchlichen"(!) Gemeindearbeit

4. Wandlungsimpulse ΙΠ: Systemalterung

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umgesetzt werden konnten. Der Selbstreinigungsversuch des deutschen Protestantismus nach 1945 ist, wenn man so will, an der Basis gescheitert, nicht auf dem Papier. Auch nach 1945 blieben das Beharrungsvermögen des historisch gewachsenen evangelischen Religionsverständnisses und ein Gemeindepflegekonzept aus der deutschen Kaiserzeit in der evangelischen Gemeindearbeit maßgebend. Alle weiteren Versuche, die Einsichten aus der Zeit des Kirchenkampfes nach 1945 umzusetzen, blieben daneben bestenfalls superadditum, schlechtestenfalls graue Theorie. Das aber bedeutet: der landeskirchliche Protestantismus ist schon lange vor Barmen zu einem in sich selbst irreversibel irritierten Sozialsystem geworden. Die Parasiten gehören längst bereits zum Inventar. Sie haben die Religionskultur, das Identitätsprofil, das Selbstbewußtsein und Selbstverständnis des evangelischen Protestantismus geprägt. Ohne einen selbstzerstörerischen Identitätsverlust sind sie nicht mehr zu vertreiben. Konsequenzen: Es gibt für die evangelischen Landeskirchen keinen Weg zurück in irgendeine bergende Einheit. Wenn also im folgenden - wie zähneknirschend auch immer - davon auszugehen ist, daß die vor Jahrhunderten eingepflanzten Parasiten im volkskirchlichen Systemraum längst schon irreversibel verankert sind, dann kann es in einer Untersuchung, die sich gerade um die Praxis der evangelischen Gemeindearbeit bemüht, nicht mehr sinnvoll sein, von einer evangelischen Kirche zu träumen, die sich in kompromißloser Rückbesinnung auf ihre bereichsspezifische Leitdifferenz völlig neu reorganisiert. Das gewachsene Selbstverständnis der evangelischen Landeskirchen, ihre religiös-kulturelle Bemühung, mitten im Wandel der Zeiten die aufgeklärte Vernunft und den (selbst-)kritischen Glauben ständig aufs neue miteinander zu verbinden, ist längst schon zu ihrer zweiten Haut geworden. Auch im Mitgliedersegment der Landeskirchen ist die von jeder Generation neu zu vollziehende, individuelle Interpretations- und Deutungsarbeit längst verinnerlicht. ("Meinen Glauben hab ich mir praktisch irgendwo selbst a u f g e b a u t " . 169) Und noch ein weiteres wird in dieser Perspektive erkennbar: Theologen sind sehr viel mehr "Funktionäre" des Systems als ihnen dies möglicherweise vor dem Hintergrund ihrer protestantischen Religionsauffassung selbst lieb ist. Jedes System belohnt seine Funktionsträger für die von ihnen verlangte Treue gegenüber der Präferenzordnung (s.o. Kap.III 3h). Von daher ist verständlich, warum die Auswirkungen der Parasiten im Funktionssegment sehr viel leichter unter Kontrolle zu halten sind als im Mitgliedersegment. Bei extremem Eigensinn droht den Angestellten ein Disziplinarverfahren. Von daher ist auch verständlich, warum unter Funktionsträgern die Neigung besteht, das Mitgliedersegment aus den Augen zu verlieren. Es ist anstrengender, sich ständig darum zu bemühen, kognitive Dissonanzen aufrecht zu erhalten und verstehend einzuordnen, als sie (dis-)qualifizierend zu verarbeiten (die "Fernstehenden" usw.). Ein anderer Weg der Dissonanzbearbeitung wird im Schlußteil der Arbeit vorgeschlagen und zur Diskussion gestellt werden: Sind auch die Folgewirkun169 Fremde Heimat, S.21/1

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V. Die evangelischen Landeskirchen

gen der Parasiten und der jüngeren europäischen Geschichte nicht mehr aus der Welt zu schaffen, so erscheint es doch sinnvoll, dem ungezügelten Wildwuchs durch eine geschickte Auswahl der systemintern verfolgten Prioritäten entgegenzutreten und dadurch den unerwünschten Schaden, so weit wie dies heute überhaupt noch möglich und sinnvoll erscheint, zu begrenzen. Von der Systemtheorie her liegt die Forderung nahe, die maßgebliche Leitdifferenz, die Bindung der sichtbaren Kirche an das Heilige, noch bzw. wieder deutlicher in den Mittelpunkt der landeskirchlichen Aktivitäten zu rücken. Das wird allerdings nicht ohne aktive Steuerungseingriffe der Kirchenleitungen möglich sein. Die erforderlichen Strukturen sind zur Zeit nicht vorhanden. Sie müßten erst geschaffen und kirchenrechtlich verbindlich verankert werden. Aktive Schadensbegrenzung erfordert Traditionsübernahme, aber auch kriterien-orientierte Selbstkritik und konzeptionellen Konsens. Man muß kein Prüfet sein, um vorauszusagen, daß damit ein äußerst schwieriger und ein sehr langwieriger Prozeß anvisiert ist. Zur Zeit ist nicht abzusehen, ob die Landeskirchen überhaupt noch in der Lage sind, die erforderlichen Annäherungen in der Problemfeldanalyse und, daran anschließend, in der Festlegung der Prioritäten zustande zu bringen.

5. Wandlungsimpulse IV: Die Landeskirchen als ausdifferenzierte Großorganisationen Daß die Landeskirchen sich als Sozialsysteme oder als soziale Großorganisationen beschreiben lassen, ist keine neue Behauptung. Die Stärken der Sozialsysteme sind längst auch von Theologen entdeckt und für die Landeskirchen reklamiert worden. Wolf-Dieter Marsch etwa hat unter Verweis auf Helmut Schelsky als positive Leistung der Institution die "Entlastung des einzelnen von Dauerreflexion" genannt. 170 Werner Krusche hat die Fähigkeit von Organisationen, "Gewohnheiten institutionell zu begründen", auch den Landeskirchen zuerkannt. 171 Ellert Herms hat mit Recht betont, "daß die Kirche als Organisation nicht Hindernis und Hemmung, sondern umgekehrt Voraussetzung und Boden für die Lebendigkeit des Glaubens und seine sozialgestaltende Wirksamkeit ist". 172 Der Systemgedanke bewährt sich, wenn es darum geht, sinnvolle und konstruktive Funktionen der Kirchen zu entdecken. Allerdings gilt das nicht allein für positive Eigenschaften. Auch Schwächen der landeskirchlichen Organisation lassen sich von der System- und Organisationstheorie her aufdec 170 H.Schelsky, Ist Dauerreflexion institutionalisierbar? in: J.Matthes: Religionssoziologie I, S.164-189; W.-D.Marsch: Kirche, in: G.Otto (Hg.): Handbuch, S.344f (340-361) 171 W.Krusche: Kirche im Spannungsfeld von Charisma und Institution, in: EvTh 49/1989, S.31 172 E.Herms: Religion und Organisation, in: Erfahrbare Kirche. Beiträge zur Ekklesiologie, Tübingen 1990, S.53

5. Wandlungsimpulse IV: Systemdifferenzierung

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ken. Die Landeskirchen sind ja nicht nur Großorganisationen, sie sind Großorganisationen "im Wandel". Das bedeutet, daß sie starken externen wie internen Wandlungsimpulsen ausgesetzt sind, deren Auswirkungen eben nicht nur positiv sind. Sie können die Funktionserfüllung des Gesamtsystems auch einschränken und die Betroffenen nicht nur entlasten, sondern auch belasten. 173 Schon bei Jakob Schoell kann man diesen Gedanken finden. Er hat seine Darstellung der evangelischen Gemeindearbeit mit der definitiven Feststellung des Organisationscharakters der Kirchengemeinden begonnen. "Die Entwicklung zur organisierten Gemeinde hin wäre gar nicht aufzuhalten, auch wenn wir uns noch so sehr dagegen stemmten. Es geschah doch nicht von ungefähr und nur durch die Liebhaberei unvorsichtiger Organisatoren, daß christliche Gemeinden aufkamen. Sie entsprangen einer sachlichen N o t w e n d i g k e i t " . 174 Aus der Einsicht heraus, daß der Organisationscharakter der Landeskirchen nicht mit nebulösen Verweisen auf das "Wesen der Kirche" und anderes wegzudiskutieren ist, hat Schoell sich mit der Organisation beschäftigt und gefragt, welche Effekte der Organisationscharakter der Kirche gemeindeintern erzeugt. Diese Fragestellung war fruchtbar. Schoell erkannte in allen Organisationen "eine unheimliche Tendenz, immer weiter um sich zu greifen. Da wird dann so lange reglementiert, bis die freie Selbständigkeit ertötet und jede Freudigkeit zu kräftiger Initiative gründlich ausgetrieben ist" (S.7). Er diagnostizierte "Verknöcherung, Veräußerlichung und Knechtung" (S.7) und stellte fest: "Die Weiterbildung der religiösen Gemeinschaft zur kirchlichen Gemeinde ist nicht bloß ein Fortschritt. Der Fortschritt muß damit bezahlt werden, daß man sich um so größeren Gefahren aussetzt. Diese Gefahren zu sehen [und nicht bloß hinzunehmen], ist schon ein Mittel, sie zu überwinden ... Das Kirchentum kann in der christlichen Gemeinde das Christentum ersticken, muß es aber nicht, wo frommer Sinn von Geschlecht zu Geschlecht auf der Hut steht" (S.8). Die unverstellte Einsicht in die strukturbedingten Probleme der Organisation, verbunden mit einer guten Portion zupackendem Optimismus, führte ihn bereits zu der Forderung nach Gegenmaßnahmen, die den Sozialsystemcharakter der Landeskirchen nicht aus dem Blick verloren, sondern genau an den Punkten ansetzten, an denen die strukturbedingten Probleme entstanden. Schoell wollte die "Verknöcherung und Veräußerlichung" stoppen, indem er die Ziele des Gemeindelebens neu definierte. Gemeindeleben sollte so 173 Ein vergleichbarer Fehler wurde m.E. bereits in der theologischen Diskussion über Symbole und Rituale gemacht. Statt die unterschiedlichen Verstehensbedingungen, statt Entstehungs- und Verfallsstadien von Symbolen und Ritualen zu berücksichtigen, hat man vielfach blindlings positive Funktionen für christlich-kirchliche Symbole oder Rituale reklamiert, was zur Folge hatte, daß selbst anspruchsvolle Konzepte wie die Symboldidaktik enttäuschen, weil sie weit hinter den Möglichkeiten der Symboltheorie zurückbleiben. Über Entstehungs- und Verfallsstadien von religiösen Symbolen: R.Fleischer: Verständnisbedingungen, S.378-400; R.Roosen: Taufe, S. 103-109. Zur Kritik der Symboldidaktik: M.Meyer-Blanck: Vom Symbol zum Zeichen. Symboldidaktik und Semiotik, Hannover 1995 174 J.Schoell: Gemeindepflege, S.8

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V. Die evangelischen Landeskirchen

gestaltet werden, daß es "Verinnerlichung, Weiterbildung und Selbständig werdung" (S.8) ermöglichte. Schoell, der lange vor Luhmann schrieb, steht wohl außerhalb des Verdachtes, er habe mit der Anknüpfung an den Organisationsbegriff die Kirche oder die Theologie der Soziologie ausliefern wollen. Aber er steht für die Einsicht, daß es unverzichtbar ist, den Entwicklungsgrad einer Organisation zu berücksichtigen, wenn man organisationsbedingte Fehlentwicklungen erkennen und praxisnahe Lösungen entwickeln möchte. Die Landeskirchen sind soziale Systeme, die sich im Systementwicklungsstadium sozialer Großorganisationen befinden. Die positiven Leistungen der landeskirchlichen Organisation sollen nicht geschmälert oder gar bestritten werden. Da aber mit jedem Systemstadium charakterstische Problemkonstellationen verbunden sind, wird in den beiden folgenden Kapiteln VI und VII vor allem danach gefragt werden, in welcher Weise sich der innere Zustand einer Landeskirche, die sich "im Wandel" befindet, auf die Kirchenmitglieder und die ihr angeschlossenen Ortskirchengemeinden auswirkt. Es wäre eine Illusion, anzunehmen, die Parochien blieben vom Gesamtzustand der Landeskirchen unberührt. Sie partizipieren an den organisationssoziologischen und den wissenssoziologischen Problemen, die die Alterung und die Ausdifferenzierung ihres Muttersystems mit sich bringen.

5.1 Systemdifferenzierung "Systemdifferenzierung ist nichts weiter als die Wiederholung der Systembildung in Systemen". 175 Dj e Abläufe, die bereits aus der Darstellung der Systementwicklung bekannt sind, wiederholen sich immer wieder aufs neue: Binnendifferenzierung und Funktionsdifferenzierung. Als Reaktion auf Überlastungskrisen wurde beides bereits in den frühen Stadien der Systementwicklung etabliert. Aber erst entwickelte und hochentwickelte Systeme machen in großem Umfang davon Gebrauch. Ist der Prozeß der Systementwicklung weit genug fortgeschritten, dann können auch die Teilsysteme ihrerseits weitere Teilsysteme ausdifferenzieren und so fort. "Wie jede Bildung sozialer Systeme erfolgt auch systeminterne Systembildung autokatalytisch, das heißt: selbstselektiv. Sie setzt keine 'Aktivität' des Gesamtsystems, auch keine Handlungsfähigkeit des Gesamtsystems voraus, geschweige denn einen G e s a m t p l a n " . 176 Systemdifferenzierung kann als eigenständige Entwicklung der Teilsysteme erfolgen. Blickt man einmal auf den Prozeß der Systementwicklung zurück, dann kann man feststellen, daß von den ersten Anfängen an alle Entwicklungsschritte des Systems am Prinzip der Herstellung einfacher und überschaubarer Verhältnisse orientiert sind. Ob auf der Interaktionsebene die Umweltkomplexität durch Auswahl und Festlegung eines gemeinsamen Themas reduziert wurde, ob 175 N.Luhmann: Grundriß, S.37 176 N.Luhmann: Grundriß, S.260

5. Wandlungsimpulse IV: Systemdifferenzierung

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Präferenzen präzisiert oder Überlastungskrisen durch Funktionsdifferenzierung gelöst wurden, stets finden strategische Reduktionen statt. Durch die getroffenen Selektionen wurde zwar der Möglichkeitsspielraum des einzelnen Mitgliedes immer mehr durch systeminterne Rollenzuweisungen eingeschränkt. Gerade dadurch aber sorgte das System immer wieder aufs neue dafür, daß sich angewachsene Binnenkomplexität nicht in Form unüberschaubarer oder gar chaotischer Verhältnisse über die einzelnen Mitglieder ergoß. Die Einflußmöglichkeiten der Mitglieder auf das Ganze werden zwar zunehmend beschnitten, die Systemanforderungen an jeden einzelnen aber bleiben doch einfach und überschaubar. Die Herstellung und Erhaltung einfacher und überschaubarer Verhältnisse ist ein zentrales Motiv der Systemdifferenzierung. Durch ihr konsequentes Streben nach Überschaubarkeit bauen Systeme intern mehrdimensionale Komplexität auf und steigern ihre Leistungsfähigkeit in erstaunlichem Ausmaß. Adam Smith (1723-1790) hat diesen Effekt in seinem "Stecknadelbeispiel" erläutert: "Ein Arbeiter, der noch niemals Stecknadeln gemacht hat ... könnte, selbst wenn er fleißig ist, täglich höchstens eine, sicherlich aber keine zwanzig Nadeln herstellen. Aber so wie die Herstellung von Nadeln heute betrieben wird ... zerfallt (sie) vielmehr in eine Reihe getrennter Arbeitsgänge, die zumeist zur fachlichen Spezialisierung geführt haben. Der eine Arbeitter zieht den Draht, der andere steckt ihn, ein dritter schneidet ihn, ein vierter spitzt ihn zu, ein fünfter ... Um eine Stecknadel anzufertigen, sind somit etwa 18 verschiedene Arbeitsgänge notwendig ... Ich selbst habe eine kleine Manufaktur dieser Art gesehen (in der zehn Arbeiter) ... zusammen 12 Pfund Stecknadeln anfertigen, wenn sie sich einigermaßen anstrengten ... so waren die 10 Arbeiter imstande, täglich etwa 48.000 Nadeln herzustellen, jeder also ungefähr 4.800 Stück". 177 Der Vorteil der Ausdifferenzierung bei gleichzeitiger Aufrechterhaltung möglichst einfacher und überschaubarer Verhältnisse in den einzelnen Segmenten ist durch das Stecknadelbeispiel eindrucksvoll beschrieben. Das Beispiel zeigt aber auch, daß die systeminterne Komplexität mehrdimensional a n w ä c h s t . I m m e r mehr Arbeitsabläufe werden zeitlich parallel abgewickelt (zeitliche Komplexität). Durch Spezialisierung innerhalb der einzelnen Segmente verfeinert sich die Verfahrenstechnik oder die Wissensfülle nimmt zu (kognitive Komplexität), und schließlich kann das System aufgrund seiner stark gesteigerten Leistungsfähigkeit auch neue Ziele in Angriff nehmen (operative Komplexität). Wie alle systeminternen Entwicklungen bringt das mehrdimensionale Komplexitätswachstum aber auch eine Reihe von Folgeproblemen mit sich, die das System unter Kontrolle bringen muß. Fünf Aspekte dieser Entwicklung sollen hier dargestellt werden: Das Problem der Kohärenzaufweichung (a), Optionen177 A.Smith: Entstehung und Verteilung des Sozialprodukts (1776), München 1974, S.9f 178 Vgl. zum folgenden H.Willke: Systemtheorie, S.91-131

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Vermehrung und Umstellung auf Finanzsteuerung (b), Temporalisierung der Präferenzordnung (c), Steuerungseffekte in hochkomplexen Sozialsystemen (d), Kohärenzsicherung und Krisenbewältigung (e). a) Kohärenzaufweichung Mit zunehmendem Differenzierungsgrad sinkt die Systemkohärenz ab. Es ist bekannt, daß die einzelnen Systemebenen oder Bereiche innerhalb eines Systems die Tendenz haben, sich im Laufe der Zeit zu verselbständigen. Sie folgen ebenfalls den Gesetzmäßigkeiten der Systementwicklungsstadien, bilden nicht nur eigenständige Selbsterhaltungsinteressen heraus, sondern besitzen gegenüber ihrem Muttersystem u.U. sogar den Startvorteil geregelter Ressourcenversorgung und reduzierter Umweltkontingenz. Daß selbst die Leitungsebene eines Systems vor einer solchen Entwicklung nicht geschützt ist, ist nicht erst durch die politischen Ereignisse des Jahres 1989 (ehemalige DDR) eindrucksvoll bestätigt worden. Gerade die (systemintern erwartete und honorierte) Orientierung der Leitungsebene an der Präferenzordnung und die damit einhergehende reduzierte Sensibilität gegenüber Umweltveränderungen macht sie, wenn nicht durch aktive Maßnahmen gegengesteuert wird, besonders anfällig für eigendynamische Entwicklungen und die Ablösung vom Gesamtsystem. Beides ist nicht nur auf höchster Staatsebene feststellbar, auch in den Leitungsgremien großer Vereine oder Organisationen ist dieser Prozeß vielfach in einem weit fortgeschrittenen Stadium zu beobachten. Was kann die "Verselbständigung von Teilsystemen" im einzelnen bedeuten? Verselbständigung bedeutet zunächst einmal eigenständige Entwicklung. Die einzelnen Arbeitsbereiche oder Ebenen entwickeln sich unabhängig voneinander. Sie verfolgen in fortschreitender Autonomie eigene Ziele und entwikkeln subsystemspezifische Plausibilitätsstrukturen. Je weiter die Entwicklung der Subsysteme fortgeschritten ist, desto weniger wissen sie voneinander, desto weniger haben sie miteinander zu tun. Teilsysteme können sich aber auch in unterschiedlichem Tempo entwickeln. Auch systemintern gibt es das Phänomen der Ungleichzeitigkeit der Gleichzeitigen. Während sich ein Teilsystem schnell entwickelt oder stark wandelt, kann ein anderes zurückbleiben und auf einem völlig anderen Stand verharren. Während sich in dem einen immenses Spezialwissen ansammelt, bleibt ein anderes davon unberührt. Während in einem Segment die Präferenzordnung verändert oder angepaßt wird, folgen andere Segmente unbeirrt den alten Präferenzen. Kurz, mit zunehmender Systemdifferenzierung nehmen die Diffusionstendenzen zu und die Systemkohärenz sinkt ab. b) Umstellung von Präferenzsteuerung auf Finanzsteuerung Die Ausdifferenzierung des Systems in einzelne Teilsysteme, Hierarchieebenen und Segmente fuhrt über die gesteigerte Leistungsfähigkeit der einzelnen Berei-

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che schnell zum Anwachsen der Entwicklungsmöglichkeiten, der "Optionen", über die das System verfügt. Die "Spezialisten", die auf immer engeren Teilgebieten arbeiten, entdecken nämlich, während sie die ihnen vorgegebenen Arbeiten erledigen, auch Optimierungs- oder Diversifizierungspotential. Wenn das in vielen Bereichen des Systems gleichzeitig geschieht, kommt es zu einem überproportional starken Anwachsen der potentiellen Entwicklungsmöglichkeiten. Da aber jede Option erst durch den gezielten Einsatz von Ressourcen realisiert werden kann, ist der Punkt schnell erreicht und überschritten, an dem das System nicht mehr alles tun kann, was es tun könnte, weil die Mittel für die Realisierung nicht vorhanden sind. Diese Situation führt zur Umstellung der Systemsteuerung von der Präferenzsteuerung auf Ressourcensteuerung. Das Verhältnis von Präferenzordnung und Ressourceneinsatz beginnt sich zu drehen. Nicht mehr die Präferenzordnung gibt an, was zu tun ist, sondern die Praxis der Ressourcenvergabe (die einzelne Entwicklungen fördert und andere verhindert) entscheidet darüber, was im System geschehen kann und welche Entwicklungsrichtung das System einschlägt. Neben die durch Kontingentsetzung geschwächte Präferenzordnung schiebt sich als maßgebliche Instanz das Subsystem, in dem die Entscheidungen über Ressourcenvergabe getroffen werden. Aus der großen Zahl der Rollenträger tritt eine relativ kleinere Gruppe von Entscheidungsträgern hervor, die über die Ressourcenvergabe die Entwicklung des Systems steuern. In den Entscheidungsrollen steigt die intrinsische Motivation an, Gestaltungsspielräume wachsen, Machtausübung wird erforderlich. c) Temporalisierung der Präferenzordnung Wenn Optionen nach Maßgabe von Finanzentscheidungen realisiert werden, die man so oder auch anders hätte treffen können, dann hat das auch Folgen für die normative Gültigkeit der Präferenzordnung. Durch Finanzsteuerung verliert die Präferenzordnung ihre Autorität als letzte maßgebliche Instanz. Sie kehrt zurück in die Sphäre des Verfügbaren und wird selbst kontingent. Das Bewußtsein dafür, daß die Entscheidungen und Richtlinien der Präferenzordnung "gemacht" sind und turnusmäßiger Überprüfung durch die Mittelverteilungsgremien standhalten müssen, weicht die Präferenzordnung auf. Sie wird dann nicht mehr "als gottgegeben oder naturwüchsig hingenommen, sondern als bewußte Entscheidung zwischen Alternativen verstanden". 179 Dj e Präferenzordnung wird zur Ordnung auf Zeit, sie gilt nur noch bis auf Widerruf. Selbst weitreichende Entscheidungen werden als vorläufig und revidierbar angesehen. d) Steuerungseffekte in hochkomplexen Sozialsystemen Das starke Komplexitätswachstum in den verschiedenen Dimensionen führt zu einer mehrdimensionalen Zunahme der Systemkomplexität. Systemintern ent179 H.Willke: Systemtheorie, S.30

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wickelt sich ein Geflecht einseitiger, wechselseitiger oder mehrfacher Abhängigkeiten, Beziehungen und Wirkungen. In einem solchen Netzgeflecht sind monokausal begründete Entscheidungen oder Eingriffe nicht mehr sinnvoll. Vor jeder Entscheidung sind die Auswirkungen auf andere Teilbereiche oder andere Segmente mitzubedenken. Einzelne Eingriffe können vielfach verzweigte Wirkungen hervorrufen. Erwünschte und unerwünschte Implikationen können sich einstellen. Nimmt man noch hinzu, daß Systementwicklung nicht linear, sondern zyklisch verläuft, daß in hochkomplexen Systemen mit selbstverstärkenderlSO,

aber auch selbstzerstörender Effektkumulation182 m rechnen ist, daß Schwellenwerte zu berücksichtigen sind und Maßnahmen möglicherweise erst zeitversetzt wirksam werden (sog. "Totzeiten"), dann wird deutlich, wie anspruchsvoll, schwierig und fehlerträchtig Systemsteuerung in hochkomplexen Systemen ist. 183 e) Anwachsen der Selbstbezüglichkeit oder der Kontingenzspielräume Wenn es die vielfältigen Entwicklungen beobachten oder sogar kontrollieren will, muß das System seine internen Steuerungs- und Koordinationsmaßnahmen verstärken. Es muß Kohärenzverluste durch gesteigerte integrative Bemühungen in Grenzen halten. Es muß vermehrt systemeigene Ressourcen zum Zweck der Selbstorganisation einsetzen. Die "Selbstbezüglichkeit" des Systems wächst an (s.o. Kap.III 4). Der Begriff Selbstbezüglichkeit birgt viele Aspekte. Positiv bezeichnet er etwa effektives Informationsmanagement oder leistungsfähiges Controlling. Negativ steht er für Wucherungen der Bürokratie. In jedem Fall entsteht durch Kohärenzverluste Entscheidungsbedarf. Entscheidet sich die Leitung, die Kohärenzverluste hinzunehmen, so muß sie auch die Konsequenzen in Kauf nehmen. Eine nachlässige "Zentralrevision" fördert die Nischenbildung und die Entstehung von "Lokalfürstentümern". In den mangelhaft kontrollierten 180 Deutlich etwa bei der Ausbreitung von Virusinfektionen. 181 Sprichwörtlich geworden ist der "Schweinezyklus" (Cobweb-Theorem): "Auslösender Faktor dieses Zyklus ist das Verhalten der Schweinezüchter, die sich am Verhältnis zwischen Schweine- und Futterpreisen orientiert. Sind die Futterpreise niedrig, so wird die Schweinezucht angeregt. Das erhöhte Angebot kommt aber erst nach einer längeren Periode auf den Markt und kann dann nur - wegen der unveränderten Nachfrage - zu einem niedrigeren als dem erwarteten Preis abgesetzt werden. Das dadurch entstehende ungünstige Verhältnis zwischen Schweine- und Futterpreisen führt zur Einschränkung der Schweinezucht, was dann 1 1/2 Jahre später wiederum aufgrund eines niedrigen Angebots zu hohen Schweinepreisen führt. Das nun entstehende günstige Verhältnis zwischen Schweine- und Futterpreisen regt die Schweinezucht wieder an. Nach 1 1 / 2 Jahren kommt es wieder zu einem Sturz der Schweinepreise." - Schweinezyklus, in: E.Dichtl / O.Issing (Hg.): Vahlens Großes Wirtschaftslexikon IV, München 1987, S.1650f 182 "Angewandt auf das Gesellschaftssystem heißt dies, daß die Gesellschaft, wenn sie komplexer wird, zunehmend auch Effekte erzeugt und auf Effekte reagiert, die nicht durch festliegende Erwartungsstrukturen gesteuert sind." - N.Luhmann: Grundriß, S.544 , 183 Vgl. die Steuergesetzgebung, die voller Beispiele für nicht ausreichend berücksichtigte Neben- und Fernwirkungen steckt (z.B. Quellensteuer).

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und vernetzten Teilsystemen kommt es zur Durchlöcherung der Präferenzordnung und zum Anwachsen von Gestaltungs- und Entwicklungsfreiräumen. Je weniger das System als ganzes koordiniert ist, desto stärker wachsen in den Subsystemen die Kontingenzspielräume an. Fazit: Funktionsdifferenzierung führt also einerseits zu gesteigerter Leistungsfähigkeit. Der Vermehrung von Optionen steht aber bald ein nicht mehr zu behebender Mangel an Ressourcen gegenüber, der zur Ergänzung der Präferenzsteuerung durch "Ressourcensteuerung" zwingt. Unterversorgung und Mangelverwaltung werden zum Dauerzustand in einem System, das ohnehin schon einen ständig steigenden Teil der Ressourcen für den eigenen Selbsterhalt verbraucht und der Zielorientierung entzieht. Die Präferenzordnung weicht auf (temporalisiert), systeminterne K o n t i n g e n z ^ ^ steigt, die Kohärenz sinkt ab.

5.2 Die Landeskirchen als ausdifferenzierte Sozialsysteme Die evangelischen Landeskirchen sind ausdifferenzierte Sozialsysteme. Sie sind nicht allein territorial-räumlich in Kirchenprovinzen, Kirchenkreise (Dekanate) und Kirchengemeinden gegliedert, sondern auch thematisch-funktional gegliedert. Neben die Kirchengemeinden sind kirchliche Ämter, Werke, Akademien, Funktionspfarrstellen usw. getreten. Der vierte Band des Handbuches der Praktischen Theologie mit dem Untertitel "Praxisfeld: Gesellschaft und Öffentlichkeit" gibt über 684 Seiten hinweg einen detaillierten Einblick in den Stand der Systementwicklung. Gerade im "operativen Bereich", dort, wo die Kirche ihren Mitgliedern begegnet, im Diakoniesektor, im Bildungswesen und in der pastoralen Betreuung von speziellen Zielgruppen, sind seit den 50er Jahren zahlreiche Planstellen neu geschaffen und zahlreiche innovative Projekte realisiert worden. Die landeskirchlichen Mitarbeiter/innen begegnen den Kirchenmitgliedern heute nicht mehr nur im Rahmen der parochialen Arbeit, sie bieten ihnen ein breitgefächertes Angebot von Kontakt-, Dienstleistungs- und Hilfsmöglichkeiten. Die Landeskirchen haben ihre Anknüpfungspunkte vervielfacht. Kontaktmöglichkeiten mit "der Kirche" sind nicht mehr allein auf die jeweils eigene Ortskirchengemeinde beschränkt, sondern lassen sich selektiv, interessen-, problem-, bildungs- und schichtspezifisch auswählen und nutzen. Die Anzahl der nichttheologischen Mitarbeiter/innen im Erziehungs- und Beratungssektor ist stark angestiegen worden. 186 Als ausdifferenziertes System haben es die Landeskirchen nun allerdings auch mit den Problemen zu tun, die für ihren Systemstatus charakteristisch sind. Sie sind Systeme mit dauerhaft niedriger Systemkohärenz und hoher Selbstbezüglichkeit geworden. 184 Hier nun zusätzlich auch in der Form von Kontingenz zwischen Subsystemen. 185 Hg.v. P.C.Bloth u.a., Gütersloh 1987 186 K.-F.Daiber: Organisationshandeln, S.607

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a) Dauerhaft abgesunkene Kohärenz 1. Subsystemspezifische Theologie und Frömmigkeitskulturen: Die Kirchenleitungen und Synoden haben durch ihre Differenzierungsentscheidungen das Kontaktpotential der kirchlichen Organisation gegenüber ihren Mitgliedern deutlich verbessert. Gleichzeitig haben sie damit aber auch die Zentrifugalkräfte verstärkt, die nun systemintern wirksam sind. Zwar besitzen alle Subsysteme, die seit dem 19. Jahrhundert innerhalb oder am Rand der kirchlichen Organisation entstanden sind bzw. gegründet wurden, eigene Anschlußkompatibilitäten, die sie mit der kirchlichen Gesamtorganisation verbinden. Aber sie entwickeln auch eigene, dem jeweiligen spezialisierten und hochspezialisierten Problemund Arbeitsfeld entsprechende, situationsgerechte Systemrationalitäten und theologische Schwerpunktsetzungen. Als eigenständige Teilsysteme wissen sie nur schemenhaft übereinander Bescheid, da sie, im systemtheoretischen Sinne, füreinander "Umwelt" sind. Kirchenintern sind längst subsystemspezifische Frömmigkeits- und Religionskulturen entstanden. Kirchengemeinde und Diakonie, Werke und Verbände, Spezialpfarrämter und Universitätstheologie verfolgen (auch) ihre eigenen Handlungsziele, ihre eigenen Handlungsbegründungen und ihre eigenen Existenzsicherungsstrategien. An diesem Punkt hat auch die Polysemie des Christusereignisses längst Früchte getragen. Das aber hat dazu geführt, daß die Gesamtkohärenz stark abgesunken ist. Was die Teilsysteme verbindet, ist neben formellen oder informellen Verbindungen die Ressourcenversorgung durch die Finanzverwaltung der Gesamtorganisation. 187 Hingegen ist die Kooperationsfähigkeit der Teilsysteme nicht selten der Ausdifferenzierung und Spezialisierung zum Opfer gefallen (s.o. Kap.II 7.2a). Man weiß wenig voneinander, versteht einander kaum und benötigt einander zur Erfüllung der eigenen Aufgaben auch nicht. Wo das anders sein sollte, etwa im Zusammenwirken von Funktionspfarrstellen und Kirchengemeinden, haben sich aufgrund mangelnder Abstimmung und fehlender Gesamtkoordination Zustände verhärtet, die engagierte Bemühungen großflächig ins Leere laufen lassen. 2. Kohärenzaufweichung durch externe Impulse: Im Erziehungs-, Beratungsund Diakoniesektor erzwingt der Wettbewerb mit nichtkirchlichen Systemen die Anpassung an die Standards der nichtkirchlichen Organisationen und forciert damit auch die Autonomie der Teilsysteme gegenüber ihrem Muttersystem. Hier wird intensiv daran gearbeitet, ein "neues ekklesiologisches Bewußts e j n "188 auszubilden, das mit den Erfordernissen der jeweiligen signifikanten Umwelten kompatibel ist, die Gegebenheiten in den Parochien aber kaum noch berücksichtigt.

187 Die diakonischen Werke, die Missionswerke, die Bibelwerke, der Evangelische Presseverband und das Zentralinstitut für Ehe- und Familienberatung (EKD) sind rechtlich selbständig. 188 G.Rau: Ekklesiologie kirchlicher Haushaltspläne in Baden, in: W.Lienemann (Hg.): Finanzen, S.351

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3. Kohärenzzerfall von innen: Traditionell waren und sind die Mitbestimmungsund Einflußmöglichkeiten in der landeskirchlichen Organisation parochial geprägt. Werke, Verbände und funktionale Dienste haben wenig Berücksichtigung gefunden. Die EKHN-Studie "Person und Institution" hat sich diesem Problem gestellt und eine juristische, im Kirchenrecht zu verankernde Gleichstellung der funktionalen Dienste mit den Parochien g e f o r d e r t . Auf diesem Gebiet mangelt es bisher noch an praktikablen Vorschlägen. Die erhöhte Selbstbezüglichkeit der Teilsysteme, ihr gesteigertes Eigenleben und die zunehmende Herausbildung von Nischen und Lokalfiirstentümern im Gesamtsystem sind klassische Zerfallssymptome, die mehr Beachtung verdienten, als ihnen bisher geschenkt wird. Selbst die Kirchenleitungen, die Kirchengemeinden, die Pfarrerstelleninhaber/innen und die Kirchenmitglieder bilden unter diesem Gesichtspunkt nur äußerst locker verknüpfte Systembereiche, innerhalb derer man häufig nur pauschal und unzureichend übereinander Bescheid weiß. 4. Selbstisolierung des professionellen Segments: Gravierende Konsequenzen hat dies auch im Bereich des religiösen Wissens. Über dem Versuch, geeignete Meßinstrumente zur empirischen Messung christlicher Religiosität zu entwikkeln, haben Robert Kecskes und Christof Wolf festgestellt, daß es äußerst schwierig ist, eine " r e l i a b l e " 190 Skala für die Dimension des religiösen Wissen zusammenzustellen, weil die einzelnen Fragen "nicht zu schwer" sein dürfen. Betrachtet man als ausgebildeter Theologe den Schwierigkeitsgrad der ausgewählten Fragestellungen^ dann gewinnt man den Eindruck, daß das "Fachwissen Religion", die Kenntnisse konkreter Inhalte des christlichen Glaubens, die in der Bevölkerung heute überhaupt noch abfragbar sind, in einem Ausmaß defizitär ist, das man als Berufschrist darüber geradezu erschrocken sein muß. Eben dieses Erschrecken aber läßt sich als ein Indiz dafür ansehen, wie weit sich der professionelle Sektor der christlichen Kirchen mittlerweile von der nichtprofessionellen Mitgliederbasis abgekoppelt hat. Auf der einen Seite findet sich ein immenses Detailwissen (mit dem zugehörigen "Fachchinesisch"), auf der anderen Seite fehlt häufig selbst einfaches Grundlagenwissen. Franz-Xaver Kaufmann hat darauf hingewiesen, daß die großen christlichen Kirchen sich tendenziell längst von ihrem Mitgliederbestand verab189 EKHN (Hg.): Person, S.182 Nr.64 u.ö. 190 Als 'Reliability' oder 'Zuverlässigkeit' kann das Ausmaß bezeichnet werden, in dem wiederholte Messungen eines Objektes mit einem Meßinstrument die gleichen Werte liefern. Offensichtlich ist ein Meßinstrument, das bei wiederholten Messungen desselben Objektes völlig verschiedene Meßwerte liefert, nicht zuverlässig." - R.Schnell u.a.: Methoden der empirischen Sozialforschung, München u.ö. 4 1993, S.158 191 R.Kecskes / C.Wolf: Christliche Religiosität: Konzepte, Indikatoren, Meßinstrumente, in: KZS 45/1993, S.278 192 "Können Sie mir die Namen von vier Evangelisten nennen?"; "... sagen, welches der höchste christliche Feiertag ist?"; "... vier der zehn Gebote nennen?"; "... sagen, was mit der Dreifaltigkeit gemeint ist?"; "... die Namen der heiligen drei Könige nennen?"; "... die Namen von drei Aposteln nennen?"; "... den Namen eines Profeten nennen?" R.Kecskes / C.Wolf: Religiosität, S.286 (Tabelle A4)

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schiedet haben und in ihren Führungs- und Insiderzirkeln überwiegend mit sich selbst beschäftigt sind: "Die kirchliche Aktivität konzentriert sich immer stärker - soweit ich sehe in beiden Konfessionen - auf Personen, die direkt oder indirekt in einem kirchlichen Dienstverhältnis stehen. Diejenigen also, die heute Kirche im wesentlichen gesellschaftlich repräsentieren, stehen gleichzeitig in einem materiellen Abhängigkeitsverhältnis zu eben dieser Institution" . Die Selbstisolierung des professionellen und semiprofessionellen Segments ist nach Ansicht von Kaufmann so weit fortgeschritten, daß die Auftragserfüllung schweren Schaden genommen hat. Tendenziell teilt er Luhmanns Ansicht über die organisierte christliche Religion, wenn er feststellt, daß sie zu viel Verrechtlichung und zu wenig "echte" Religion zu bieten hat. 194 5. Schwelende Konfliktherde: Die Identitätsdiffiision zwischen Bekenntniskirche und Volkskirche produziert kirchenintern ständige Reibungen zwischen den Vertretern dieser beiden Positionen. Landeskirchen, die in der Orientierung an einem kontur- und uferlosen Pluralismusverständnis an diesem Punkt eindeutige Klarstellungen scheuen, bürden den Kirchengemeinden einen schwelenden Konfliktherd auf. Das ungeklärte Kirchenverständnis führt sowohl gemeindeintern als auch im Miteinander der Kirchengemeinden zu Spannungen und Konflikten, die sich bis in die Konzeptionen der Gemeindearbeit und in die zwischenmenschlichen Beziehungen im kirchlichen Leben hinein erstrecken. Zudem bietet der Netzwerkcharakter der christlichen Kirchen (s.o. Kap.V 3c) Anlaß zu zahlreichen Richtungs- und Positionskämpfen, Mißverständnissen und Zerwürfnissen. Am Beispiel der Neuordnung des Mitarbeiterwesens läßt sich das gut beobachten. Im Streit um die Mitarbeiterrechte oder die Neugestaltung der Dienstanweisungen, Arbeitszeiten und Vergütungen steht der Referenzbezug der Landeskirche ständig mit im Raum und zertrennt die Interessengruppen. Während die Landeskirchen in den letzten Jahrzehnten auch für Mitarbeitergruppen im traditionellen Gemeindedienst wie etwa Küster/innen, Kirchenmusiker/innen, Jugendmitarbeiter/innen eine Angleichung der Arbeitsverträge und Dienstanweisungen an die Standards vergleichbarer nichtkirchlicher Anstellungsträger, also eine Angleichung vom Sozialsystemcharakter der Kirche her, vorgenommen haben, werden die Dienstanweisungen für die Pfarrerschaft traditionell vom Aspekt des Referenzbezugs her (Wortverkündigung und "Dienst") formuliert. Daraus resultieren nicht nur signifikant andere dienstrechtliche Verantwortungen, pauschale Verpflichtungen und arbeitsmäßige Be193 F.-X.Kaufmann: Religion, S.7 mit Verweis auf S. 120-145 194 "... schränkt sich das mögliche Lern- und Erfahrungsfeld für christliche Sinngehalte und für etwas, das man als ein Leben aus dem christlichen Glauben bezeichnen könnte, immer mehr auf den amtskirchlichen Raum ein, dessen Binnenstruktur aber keineswegs besonders geeignet erscheint, um die Sinnhaftigkeit christlicher Lebensvollzüge exemplarisch erfahrbar zu machen." - Religion, S.28

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lastungen für die Pfarrerschaft, sondern auch ein strukturell gespanntes Verhältnis zwischen theologischen und nichttheologischen Mitarbeiter/innen. Im Konfliktfall kann diese Disparität zu einer Quelle hartnäckiger Differenzen und tiefsitzender Verstimmungen innerhalb der Mitarbeiterschaft werden. Aber auch den Gemeinde- und Kirchenmitgliedern kann der Netzwerkcharakter der Landeskirchen zum Stolperstein werden. Wo Gemeinde- und Kirchenmitglieder die Kirche lediglich als verlängerten Arm der ecclesia invisibilis ansehen, neigen sie dazu, die "weltlichen Dimensionen" der Kirche ("Reichtum"; Immobilien, schwerfällige Verwaltung; beamtete Pfarrer usw.) zum Anknüpfungspunkt für eine jederzeit abrufbereite Kirchenkritik zu machen. Die Landeskirche im Systemnetzwerk mit der ecclesia invisibilis ist systembedingt krisenanfällig, vor allem dann, wenn sie mit zweierlei Maß mißt oder sich selbst nicht erklärt. b) Appelle als unbrauchbare Kohärenzsicherungsversuche Ausdifferenzierte Landeskirchen befinden sich im Dauerzustand einer strukturell bedingten Kohärenzkrise. Um hier gegenzusteuern, wird immer wieder gefordert, alle Teilsysteme sollten sich doch als Einheit begreifen, sich stärker vernetzen, mehr kooperieren und ihre Arbeit besser koordinieren (s.o. Kap. II 7.2 a2.). Derartige Appelle sind am Leitbild der ecclesia invisibilis orientiert, in der nicht nur die Vorgabe gilt, "daß alle eins seien", sondern auch eine ethische Zweitcodierung verlangt, Zank und Streit zu vermeiden. Kohärenzverfall und Kontingenzspielräume sind in der ecclesia invisibilis nicht vorgesehen. Der wohlmeinende Appell wechselt also unter der Hand das Referenzsystem. Gerade das macht ihn unwirksam. Strukturell bedingte Probleme der ecclesia visibilis lassen sich durch den Hinweis auf die ecclesia invisibilis gerade nicht aus der Welt schaffen. In ihrer faktischen Wirkungslosigkeit bestätigen sie letztlich nur die Richtigkeit der These, daß die landeskirchlichen Strukturen von den Sachzwängen der Systementwicklung beherrscht sind. Systeminduzierte Kohärenzdefizite könnten allenfalls durch eine konsens- und zielorientierte Arbeit an den Systemstrukturen angegangen werden. Restlos beseitigen lassen sie sich aufgrund des Netzwerkstatus der Kirche ohnehin nie. c) Systemtyp und Kohärenzsteuerung Die Landeskirchen sind kohärenzreduzierte Sozialsysteme. Die Fragen nach der Bewertung von reduzierter Systemkohärenz läßt sich nicht pauschal beantworten. Zwar steht eindeutig fest, daß ein völliger Verlust der Systemkohärenz unmittelbar mit der Auflösung des Systems einhergeht. Allerdings gehen die Gleichungen "hohe Kohärenz = stabiles System" bzw. "niedrige Kohärenz = zerfallsbedrohtes System" in dieser einfachen Form nicht auf. Stattdessen lassen sich drei Typen von Sozialsystemen benennen, die mit deutlich unterschiedlichen Kohärenzniveaus arbeiten und funktionieren:

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1. Profitcenter: Es gibt Sozialsysteme, wie etwa die "Profitcenter"-Konstruktion im Wirtschaftsbereich, die die Vorteile einer schwachen Systemkohärenz gezielt zu ihrem Nutzen einsetzen. 195 Die kleinen, unabhängig voneinander am Markt operierenden Systeme sind beweglicher und angesichts veränderter Umfeldbedingungen auch deutlich anpassungsfähiger als Großfirmen mit gewachsener betriebs-interner Unübersichtlichkeit. Der Wert einer solchen Konstruktion muß allerdings durch zentrale Systemsteuerung (Controlling) ständig erhalten werden, weil anderenfalls die Wachstumsdynamik die Vorteile der Profitcenter-Konstruktion unterlaufen kann. Auch im kirchlichen Bereich ist dieses Prinzip nicht unbekannt. Missionarische Bewegungen nutzen seine Vorteile. Die Größe der einzelnen Kirchengemeinde wird absichtsvoll in einem Rahmen gehalten, der einen unmittelbaren Kontakt, enge persönliche Bindungen zwischen den Gemeindemitgliedern, aber auch eine enge Anbindung des einzelnen Gemeindemitglieds an die Gemeinde ermöglicht. In der Regel bewegen sich die Mitgliederzahlen eine solchen Gemeinde um 200 Personen. 196 Wird eine kritische Größenordnung erreicht, in der die Gemeindekultur Schaden zu nehmen droht, wird die Gemeinde geteilt und auf diese Weise die Binnenkohärenz erneut verdichtet. 2. Verwaltungen: Andererseits gibt es Systeme, wie etwa funktional gebundene Verwaltungen, die bei oftmals sehr hoher Komplexität mit hoher Kohärenz und minimaler Kontingenz arbeiten müssen. Die vorgeschriebenen Aufgaben sollen vorschriftsmäßig, fehlerfrei und reibungslos erledigt werden. Auch solche Systeme sind gezwungen, den Stand ihrer Systementwicklung ständig zu kontrollieren. Sie müssen bedeutende Mittel in die Kohärenzüberwachung investieren, um anschwellenden Kontingenzspielräumen, Nischenbildungen, Leerlauf, Zuständigkeitsüberschneidungen usw. vorzubeugen. Eine ausgefeilte hierarchische Organisation sowie ein engmaschiges Netz von Vorschriften, Kontrollen, Belohnungen und Strafandrohungen ist erforderlich und muß unterhalten werden. 3. Dezentral organisierte Großorganisationen - Auftragstaktik: Schließlich gibt es Großsysteme, die Elemente beider Systemtypen miteinander zu vereinbaren suchen, indem sie sich darum bemühen, die Flexibilität der kleinen Systeme mit der Steuerungs- und Eingriffskompetenz funktionsgebundener Verwaltungen zu verbinden. Bekannt ist etwa die "Auftragstaktik" des preußischen Militärs, die das Element der zentralen Führung mit einem situationsabhängigen Entscheidungs- und Handlunsspielraum der unteren Führungsebenen verbunden hat. Auch die Wirtschaft verfolgt mit den Prinzipien "Hierarchieabflachung und Kompetenzdelegation" ähnliche Ziele für die Restrukturierung gewachsener Großorganisationen. Man verspricht sich durch die Verbesserung der Eigenver195 Auch "divisionale Organisation": "Jede Produktgruppe wird als eigenständige Division geführt, wobei die Spartenleitung jeweils für den wirtschaftlichen Erfolg der einzelnen Erzeugnisse verantwortlich ist". Man spricht von Profitcenter, "wenn den einzelnen Sparten die Gewinnverantwortung übertragen worden ist". - R.Nagel: Divisionale Organisation, in: E.Dichtl / O.Issing (Hg.): Vahlens großes Wirtschaftslexikon I, S.412 196 Vgl. H.Lindner: Kirche, S.177f

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antwortlichkeit eine Steigerung der Mitarbeitermotivation, die dem System in Form von erhöhter Flexibilität und Leistungsfähigkeit zugute kommt. Die Gesamtkohärenz dieses Systemtyps ist nicht nur (wie die beiden anderen) durch die Systementwicklungsdynamik gefährdet. Es sind nicht allein klare Rahmenorientierungen und kontinuierliche Kontrollmaßnahmen notwendig, um sicherzustellen und zu überprüfen, ob die anvisierten Ziele auch tatsächlich erreicht werden. Auch die intensive Berücksichtigung des "anthropologischen Faktors" ist unerläßlich. Komplexe Systeme mit flacher Hierarchie benötigen einen engagierten und fachlich qualifizierten Mitarbeitertyp. Anderenfalls kann die Delegation von Leitungskompetenz Koordinationsverluste erzeugen, die Herausbildung von Kleinfürstentümern fördern oder durch rigide Gängelei unterlaufen werden. Auch birgt die Konstruktion die Gefahr, Mitarbeiter/innen zu überfordern, von denen mehr verlangt wird, als sie zu leisten imstande sind. Alle diese strukturellen Gefahren sind nicht mehr allein durch ein geregeltes Berichtswesen und koordinierte Kontrollmaßnahmen zu bewältigen, sie erfordern gründliche Einarbeitung, eine kontinuierliche, anforderungsorientierte Fortbildung und motivierte, nicht nur leistungsfähige, sondern auch leistungsbereite Mitarbeiter/innen. Derartige Mitarbeiter sind keineswegs überall vorhanden. In großen Verwaltungen, in denen es primär um die vorschriftsmäßige Erfüllung eingehender Aufträge innerhalb eines klar umrissenen und sehr beschränkten Tätigkeitsfeldes geht, ist dieser Mitarbeitertyp nicht gefragt und daher auch selten zu finden. Der Überblick über die drei Systemtypen hat gezeigt, daß Kohärenzminderung keineswegs in jedem Fall als alarmierendes Krisensymptom angesehen werden muß, das einen drohenden Systemzerfall einleitet. Im Gegenteil gilt, daß selbst aktiv geförderte Kohärenzschwäche für ein Gesamtsystem unter bestimmten Voraussetzungen vorteilhaft sein kann. Allerdings gilt das nur unter bestimmten Voraussetzungen: Systeme mit schwacher Binnenkohärenz benötigen eine starke, eine funktionsorientierte und kohärenzsichernde Gesamtleitung. Wo sie fehlt, bedrohen die Zentrifugalkräfte das System. Aus dieser Einsicht heraus lassen sich vier Kriterien benennen, die das System in seiner Balance halten: 1. Ein eindeutig geklärtes Selbstverständnis hinsichtlich des Systemtyps. Allen Beteiligten sollte klar sein, um welchen Systemtyp es sich handelt. 2. Mittelfristig angelegte Führungsgrundsätze und "Leitlinien für die Zuk u n f t " ! ^ sollen eindeutig und schriftlich fixiert sein. "Ein Leitungsgremium erarbeitet sich darin seine eigene Identität, ein Leitbild und die zu verfolgenden Sachziele"198 sie sind einerseits Selbstverpflichtung, andererseits Orientie197 A.Jäger: Konzepte, S.179; vgl. zum Grundlegenden K.M.Magyar / P.Prange: Mein unverwechselbares Unternehmen, 5 Manuale, Wiesbaden 1995; L.Hoffmann: Management und Gemeinde, in: J.Wössner (Hg.): Religion im Umbruch, Stuttgart 1972, S.369-394; H.-U.Pereis: Wie führe ich eine Kirchengemeinde? Möglichkeiten des Managements, Gütersloh 1990; A.Jäger: Konzepte, bes. S. 168-182 198 A.Jäger: Konzepte, S.179

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rungshilfe für die Teilsysteme. Sie sichern nach innen wie nach außen die Einheitlichkeit eines erwartbaren Führungsstils und einen operationalisierbaren Kompetenzrahmen für Leitungssegmente und Subsysteme. 3. Die Führungsebene besitzt laufend aktualisierte Informationen über den Zustand der Teilsysteme (Berichts- und Kontrollwesen) und ist darum bemüht, die Leistungsfähigkeit der operativen Einheiten sicherzustellen und weiterzuentwickeln. Ein dezentralisiertes Großsystem benötigt ein ausreichend hohes Maß an "Selbstbezüglichkeit" im Leitungssegment. Nur dann ist es in der Lage, die Vorteile der geringen Systemkohärenz strukturell zu fördern und ihre schädlichen Wirkungen unter Kontrolle zu halten. 4. Die hohen Anforderungen an das Mitarbeiterprofil erfordern intensive Bemühungen um eine praxis- und problemgerechte Aus- und Fortbildung der Mitarbeiterschaft. d) Die Landeskirchen als dezentral organisierte Großorganisationen Die vorhandenen Gegebenheiten in den evangelischen Landeskirchen zeigen teilweise deutliche Übereinstimmungen mit diesem dritten Systemtyp, den man als Typ einer "dezentralisierten Großorganisation" bezeichnen könnte. Die Landeskirchen bestehen aus vielen, weitgehend eigenständig operierenden Einheiten. Kompetenzen und Zuständigkeiten sind in hohem Ausmaß nach unten delegiert. 199 Gleichzeitig besitzt das landeskirchliche System deutliche integrative Züge, wie etwa die Kirchenordnungen, die Umlagesysteme in der Finanzverwaltung, die zentral geregelte Aus- und Fortbildung, die integrierte Personalverwaltung oder die zentrale Leitung durch Synoden, Kirchenleitungen und Kirchenverwaltungen. Alle diese Faktoren sprechen dafür, daß die Landeskirchen den Systemtyp der "dezentralisierten Großorganisation" verkörpern und damit den anspruchsvollen Mittelweg zwischen weitgehender Teilsystemautonomie und streng weisungsorientierter Teilsystemanbindung gewählt haben. Die Entscheidungs- und Handlungsspielräume in den Teilsystemen sichern dem System eine hohe Flexibilität und eine plurale Binnenstruktur. Motivierte Mitarbeiter/innen, die nicht nur "Dienst nach Vorschrift" machen, sondern von ihrem Auftrag überzeugt sind, bilden das Rückgrat der operativen Teilsysteme. Dies alles wäre nicht nur zeitgemäß, es war, wie die neutestamentliche Untersuchung gezeigt hat, bereits Kennzeichen der frühchristlichen Organisationsentwicklung. Von daher ist nun zu überprüfen, ob die Landeskirchen auch den besonderen Anforderungen gerecht werden, die den Bestand der dezentralisierten Großorganisationen absichern und seine Stärken zur vollen Entfaltung kommen lassen. Damit kommen die "Kirchenleitungen" in den Blick, denen diese Aufgaben in den evangelischen Landeskirchen zufallen. Die Kirchenleitungen haben einerseits die Aufgabe, die Kohärenz des Gesamtsystems zu si199 In reformierten Kirchen konnte dieser Prozeß historisch umgekehrt verlaufen: Gemeinden haben sich zusammengeschlossen. Das Ergebnis ist jedoch identisch.

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chern^OO, andererseits die Arbeitsfähigkeit der Teilsysteme herzustellen bzw. ständig weiter zu verbessern. Ihnen fallen Schlüsselfunktionen zu, die in keinem anderen Teilsystem (etwa in den Ortskirchengemeinden) wahrgenommen werden können. Sie sind Garanten für das Funktionieren des Gesamtsystems und seiner Subsysteme. Können sie dieser anspruchsvollen Doppelfunktion gerecht werden?

6. Kirche leiten im Wandel: Die Kirchenleitung zwischen Wollen, Können und Dürfen Im folgenden soll die These begründet werden, daß die Kirchenleitungen aus strukturellen Gründen heraus, also keineswegs aufgrund mangelnder Begabungen oder aufgrund persönlichen Fehl Verhaltens, in ihrem Wollen gespalten, in ihrem Können behindert und in ihrem Dürfen hin- und hergerissen sind. Dies alles fuhrt dazu, daß der zeitgemäße und chancenreiche Systemtyp, den die Landeskirchen als ausdifferenzierte, dezentral organisierte Großsysteme verkörpern, weit hinter seinen Möglichkeiten zurückbleibt und in vielfacher Hinsicht noch von den Kinderkrankheiten der Organisationsentwicklung geplagt ist, anstatt reife Früchte zu erbringen. a) Die Kirchenleitungen sind in ihrem Wollen gespalten Kirchenleitung erfolgt in einer Tiefenstruktur immer noch nach Standards und Selbstverständlichkeiten, die sich aus der Zeit des landesherrlichen Kirchenregiments bis in die Neuzeit hinein erhalten haben. Das Konsistorialprinzip des 16. und 17. Jahrhunderts sah die Leitung der Kirche arbeitsteilig durch einen Theologen als Vertreter der Kirche und einen Juristen als Vertreter des Fürsten vor. Die Landeskirchen haben durch diese Konstruktion in ihrem Leitungskern eine massive juristische Zweitcodierung (Recht) erhalten. In vielen Landeskirchen ist die Doppelzuständigkeit von Juristen einerseits und Theologen andererseits bis heute noch erhalten geblieben. Juristische Zweitcodierung bedeutet arbeitspraktische Erstcodierung: Die "Kirchenordnungen" (auch "Grundordnung", "Kirchenverfassung") weisen in ihrer Gliederung nach Artikeln und Paragraphen nicht nur der äußeren Form nach, sondern bis in die Formulierung der Inhalte hinein den juristischen Geist einer bürokratischen Ordnung auf. Juristen in den Kirchenleitungen sind von ihrer beruflichen Qualifikation her zunächst einmal Verwaltungsspezialisten. So kann es nicht verwundern, daß sich die evangelischen Landeskirchen über Jahrhunderte hinweg in ihrer inne200 "Kirchenleitung soll für die Einheit der Kirche einstehen, für die Gemeinsamkeit von Zeugnis und Dienst". - M.Kruse / K.-H.Lütcke: Aufgaben der Kirchenleitung, in: Handbuch der Praktischen Theologie Bd.4, Gütersloh 1987, S.631

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ren Organisation an staatlichen Verwaltungsnormen orientiert haben (zumal sie integrierte Teilsysteme des Staates waren) und darüber selbst verrechtlichte, bürokratische und hierarchische Systeme wurden. Selbst über den Bruch des Jahres 1918 hinweg haben sie eine rechtliche Kontinuität gewahrt. "Es war eine über Generationen aufgebaute Rechtskultur zwischen Kirche und Staat, die selbst in revolutionär veränderten Verhältnissen eine begrenzte, aber doch massive kirchenrechtliche Kontinuität erlaubte ... Während evangelische Theologie das Kriegsende als radikalen Zeitbruch erlebte und entsprechend reflektierte, ließen sich die kirchlichen Verfassungen mehr oder weniger rasch und schmerzlos von fähigen Kirchenjuristen auf die neue Situation hin umschreiben, so daß sich der Schaden zumindest in rechtlicher Hinsicht eingrenzen ließ".201 Die evangelischen Landeskirchen verdanken den glimpflichen Ausgang der Verhandlungen über ihren neuen Rechtsstatus und dessen vorteilhafte inhaltliche Ausgestaltung in den 20er Jahren der Arbeit von Kirchenjuristen. 2 0 2 D i e Doppelspitze aus Juristen und Theologen bewährte sich in dieser Zeit und blieb folglich auch für die kommenden Jahrzehnte maßgeblich. Der Begriff "Bürokratie", der heute eindeutig negativ besetzt ist, sollte nicht vorschnell abgewertet werden. "Bürokratie" ist nach Max Weber eine Form der rationalen, formalisierten und damit auch jederzeit kontrollierbaren Herrschaftsausübung. Gegenüber "Willkür" und "Rechtlosigkeit" liegen ihre Vorteile klar auf der Hand. "Die rein bureaukratische .... Verwaltung ist nach allen Erfahrungen die an Präzision, Stetigkeit, Disziplin, Straffheit und Verläßlichkeit, also: Berechenbarkeit für den Herrn wie für die Interessenten ... formal rationalste Form der Herrschaftsausübung. Die Entwicklung 'moderner' Verbandsformen auf allen Gebieten (Staat, Kirche, Heer, Partei, Wirtschaftsbetrieb, Interessenverband, Verein, Stiftung und was immer es sei) ist schlechthin identisch mit der Entwicklung und stetigen Zunahme der bureaukratischen Verwaltung".203 Bei Max Weber läßt sich noch deutlich erkennen, daß die bürokratische Verwaltung einmal als Leitbild einer jeden zeitgemäßen Organisation galt. Allerdings fördert bürokratische Verwaltung auch bürokratische Interessen und Bedürfnisse, die weit über rein verwaltungstechnische Aufgaben hinausgehen. Es gehört zu ihrer Eigenart, daß sie sich dort am wohlsten fühlt, wo sich Sachverhalte normieren, vereinheitlichen und in Weisungsstränge eingliedern lassen. Dieser "Geist der Bürokratie" ließ sich kirchenintern leicht mit dem "autoritären Geist" verbinden, der über Jahrhunderte das kirchliche Selbstbewußtsein bestimmt hatte. Sittliche Verhaltensnormierung und religiöse Unterweisung waren den Kirchen seit dem 16.Jahrhundert übertragen und wurden staatlicherseits von ihnen erwartet. In dieser Zeit wuchs ein "autoritärer Geist"

201 A.Jäger: Konzepte, S.251 202 A.Jäger: Konzepte, S.251-263 203 M.Weber: Wirtschaft und Gesellschaft (1921), Nachdr. 5.rev.Aufl. Tübingen 1980, S.123

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und ein weisungsmächtiges Selbstverständnis, das die Veränderung der Gegebenheiten seit dem Ende des 18.Jahrhunderts überdauert hat. Als "traditionsorientierte Strömung" in Kirchenleitungen und kirchlicher Mitarbeiterschaft manifestiert sich der Geist der Ordnung in einem weitreichenden Regelungsbedürfnis. Die Bemühung um Normierung bzw. Egalisierung macht selbst vor genuin religiösen Bereichen wie etwa den Gottesdienstordnungen oder der Gemeindefrömmigkeit nicht halt. Eine Kirchenkultur der Treue, der Gefolgschaft unter einer patriarchalischen Leitung wird angestrebt. In den gegenwärtig gültigen Kirchenordnungen ist dieser traditionsorientierte Geist (etwa in den Aufgabenbeschreibungen für die Presbyterien oder in den "amtlichen" Vorstellungen über die Gemeindemitglieder) ohne Schwierigkeiten auszumachen. Neben diese traditionsorientierte Strömung in der Kirchenleitung tritt in partieller Synthese oder in scharfer Abgrenzung eine Strömung, die man pauschal als "bekenntnisorientiert" bezeichnen könnte. Hier mischen sich Impulse aus der Zeit der bekennenden Kirche (Barmen 1934) mit Bemühungen um eine bekenntnisgemeindliche Revision des parochialen Systems^O^, um eindeutigere Glaubensorientierung, um stärkere Binnenkohärenz und um eine verbesserte Steuerbarkeit des Gesamtsystems. Klarere theologische Orientierungsvorgaben sollen nach außen hin ein eindeutigeres Kirchenprofil und nach innen hin straffere Weisungs- und Kontrollmöglichkeiten erbringen. Biblische Organisationsvorgaben wie etwa die Leitmetapher von der Bindung der Schafe an den einen Hirten sind hier normgebend wirksam. Die Kirche ist als "Gemeinschaft von Brüdern und Schwestern" verstanden und darf deshalb ihre Organisationsform nicht "ihrem Belieben oder dem Wechsel der jeweils herrschenden weltanschaulichen und politischen Überzeugungen überlassen" (Barmen III).205 D¡ e Landeskirchen sind nicht frei in der Wahl ihrer Organisationsform. Sie sind auch nicht frei in der Ausdifferenzierung ihrer Glaubensinhalte und der Formen ihres Mitgliedschafts Verhaltens. Die starke Orientierung der "bekenntnisorientierten Strömung" an Systemnormen der ecclesia invisibilis lassen Kohärenzschwund und anschwellende Kontingenzspielräume als Verfallssymptome und Fehlentwicklungen innerhalb der sichtbaren Kirche erscheinen, die nach Gegenmaßnahmen in Form von (wie auch immer inhaltlich gefüllten) "missionarischen" Bemühungen rufen. Schließlich gibt es eine "pluralismusorientierte Strömung" innerhalb der Kirchenleitungen. Sie setzt stärker bei den faktischen Zuständen innerhalb der Landeskirchen an und konstatiert, daß Systemdifferenzierung und abgesunkene Kohärenz einen Binnenpluralismus hervorgebracht haben, der sich keineswegs nur auf die Organisationsformen erstreckt (Parochie, Ämter, Werke, Verbände,

204 Im einzelnen existieren unterschiedliche Leitbilder, die von der missionarisch aktiven Kerngemeinde im neupietistischen Sinn bis hin zur ökumenisch orientierten, sozial engagierten und / oder spirituell verbundenen Dienstgruppe reichen. 205 A.Burgsmüller / R.Weth (Hg.): Die Banner Theologische Erklärung. Einführung und Dokumentation, Neukirchen 41984, S.36

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Funktionspfarrämter usw.), sondern notwendigerweise auch die Glaubensinhalte und die Religionskultur in den Landeskirchen selbst erfaßt hat. Pluralismus gilt in dieser Perspektive als Reichtum, den es zu wahren und durch hilfreiche organisatorische Unterstützung zu fördern gilt. Diese Einstellung kann sich auch auf die jüngsten neutestamentlichen Forschungsergebnisse stützen, die unzweifelhaft belegen, daß die Organisationsentwicklung der ecclesia visibilis seit Anbeginn von einem Glaubenspluralismus geprägt war, der geradezu als ursächlich für die Wandlungs- und Überlebensfähigkeit des Christentums angesehen werden muß. Mit einer solchen Grundeinstellung lassen sich egalisierende und standardisierende Eingriffe der Kirchenleitung in das Gesamtsystem, die unter traditions- oder bekenntnisorientierter Perspektive gerade wünschenswert sind, nicht vereinbaren. Das gilt auch vor dem Hintergrund eines gesamtgesellschaftlichen Pluralismus, der autoritäre Ansprüche immer weniger akzeptiert oder duldet. Von daher wird ein anderes Selbstverständnis von Leitung erforderlich. Die Kirchenleitung ist dann ein integrierendes Teilsystem mit der Funktion eines Dienstleisters im Hinblick auf die Arbeits- und Leistungsfähigkeit der operativen Einheiten des Gesamtsystems. Sie hat den Entwicklungsraum für den innerkirchlichen Glaubenspluralismus zu sichern. So lange die Kirchenleitungen in ihren Reihen Vertretern aller drei Strömungen gleichwertig Raum gewähren, werden sie in ihrem Wollen gespalten bleiben. b) Die Kirchenleitungen sind in ihrem Können behindert Die Kirchenleitungen und die ihnen angegliederten Kirchenverwaltungen haben seit den 50er Jahren einen durch ständig steigende finanzielle Mittel gut unterf ü t t e r t e n ^ O ö u n ( j mittlerweile weit fortgeschrittenen Differenzierungsprozeß durchlaufen. Der Systematiker Alfred Jäger hat den Differenzierungsprozeß in den Kirchenleitungen eingehender a n a l y s i e r t . 2 0 7 Er schreibt: "Ein kirchenleitendes und -verwaltendes Organ, dessen Mitarbeiterschaft sich anfangs noch auf einige Räume verteilen ließ, konnte in mittlerer Größe auf zweihundert, in umfangreicherer Ausführung auf weit über 300 Personen anwachsen, ohne daß sich bis Ende der 80er Jahre schon ein weiterer Trendbruch a b z e i c h n e t e " . 2 0 8 "Das allgemeine 'Wachstumswunder' machte sich kirchlich nicht zuletzt darin bemerkbar, daß sich am Beratungs- und Entscheidungstisch sukzessiv mehr Re206 "Die Ergebnisse der Untersuchung können dahin zusammengefaßt werden, daß nominell von einem guten bis sehr guten, teilweise sogar ausgezeichneten Wachstum der Kirchensteuer gesprochen werden muß." - H.P.Bareis: Entwicklung und Bestimmungsfaktoren der Kirchensteuereinnahmen der Gliedkirchen der EKD, in: W.Lienemann (Hg.): Die Finanzen der Kirche, München 1989, S.82 207 A.Jäger: Konzepte, S.293-336. Noch 1987 konnte K.-H. Lütcke schreiben: "Eine umfassende Erörterung und Darstellung der Strukturprobleme und Konflikte in kirchlicher Leitung und Verwaltung gibt es bislang nicht". - Institutionen der Kirchenleitung, in: Handbuch der Praktischen Theologie Bd.4, S.647 208 A.Jäger: Konzepte, S.297f

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ferenten ... einfanden. Aus kleinen Leitungsrunden von einst wurden über die Jahre Gremien in Kabinettsstärke".209 Auch andere Begleiterscheinungen der Ausdifferenzierung sind in den Kirchenleitungen wahrnehmbar: Das kirchenleitende Subsystem besitzt nur lückenhafte Kenntnisse vom Zustand der angeschlossen Teilsysteme.210 Eine Vielzahl von Ausschüssen und Gremien lähmt und behindert sich gegenseitig. "Es tagt und tagt und wird nicht hell".211 Das Komplexitätswachstum, das überwiegend additiv erfolgt ist ("neue Aufgabe - neuer Mann, neuerdings auch neue Frau"212)t hat die Kirchenleitungen in eine Situation wachsender Unübersichtlichkeit und strukturell bedingter Leistungs- und Reibungsverluste gebracht. "Die Lage der Evangelischen Kirche in Deutschland läßt sich verstehen als die einer Großinstitution im Übergang. Sie zeigt nahezu alle klassischen Symptome einer nicht bewältigten Differenzierungsphase einer Organisation: Unüberschaubarkeit, Bürokratisierung, nachlassende Motivation der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Bürokratische Regelungsversuche und Reibungsverluste nehmen zu".213 Die Verwaltungseingriffe sind keineswegs immer an den Erfordernissen einer dezentral organisierten Großorganisation orientiert (z.B. Untersteuerung im Personalwesen; Übersteuerung im Finanzwesen). Gerade das Teilsystem, von dem angesichts zerfallender Gesamtkohärenz die integrierenden Gegenimpulse zu erwarten sind, war in den vergangenen Jahrzehnten stark mit den eigenen Kohärenzproblemen und den Auswirkungen des unbewältigten Komplexitätswachstums beschäftigt. So lange aber die Kirchenleitungen den Systemtyp, den sie zu leiten haben, selbst nicht trittsicher, d.h. einheitlich und nach klaren Prioritätenvorgaben, zu bestimmen wissen, wird es auch in Zukunft nicht anders werden. Erstaunlicherweise war es gerade der seit den 50er Jahren kontinuierlich anwachsende Geldsegen, der im Zusammenwirken mit den jährlich erstellten Haushaltsplänen die Landeskirchen in ein weiteres Strukturproblem hineingeführt hat. Geld war vierzig Jahre lang in ständig ansteigender Menge vorhanden. Es mußte "nach Maßgabe eines Haushaltsplanes" im Grunde nur noch ausgegeben werden. Diese Situation hat sicherlich dazu beigetragen, daß die Kirchenleitungen ständig neue Aufgabenfelder erschlossen haben und dabei letztlich ihre eigenen Gestaltungsspielräume durch immer weitergehende personelle Verpflichtungen drastisch beschnitten haben. Gerhard Rau schreibt in dem bereits zitierten Sammelband über "die Finanzen der Kirche" aufgrund einer Untersuchung der finanziellen Verhältnisse in der Badischen Kirche: "Für innovative Leistungen, das heißt auch für aktuelles Zeugnis und 'elastische' diakonische Programme, fehlen der Kirche bei einer Bin209 A.Jäger: Konzepte, S.300 210 Auch N.Luhmann hat bemerkt, daß Kirchenleitungen große Schwierigkeiten haben, "die eigenen Entscheidungen auf die der Kirchenmitglieder zu beziehen" - Funktion, S.295 211 H.Lindner: Kirche, S.279 212 A.Jäger: Konzepte, S.300; vgl. S.319 213 H.Lindner: Kirche, S.51

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dung von 80% ihrer liquiden Mittel in langfristigen Personalverträgen alle Voraussetzungen. Die restlichen 20% des landeskirchlichen Haushalts sind inzwischen ebenfalls großenteils blockiert durch nationale und internationale Verpflichtungen oder durch den Zwang, Rücklagen zur Haushaltsabsicherung zu b i l d e n " . 2 1 4 Wie stark sich die Kirchenleitungen in den "fetten" Jahren ihrer finanziellen Spielräume und damit auch ihrer Gestaltungsfahigkeit beraubt haben, wird in den "mageren" Jahren seit 1989 überdeutlich, wo hektische Finanzsteuerung zum Leitungsinstrument der ersten Wahl avanciert ist und Sondersynoden einberufen werden, um Sparmaßnahmen zu beschließen. Ob dabei nur aktuelle Lücken gestopft werden oder tatsächlich die verlorengegangenen mittelfristigen Handlungsspielräume zurückgewonnen werden, ist zur Zeit noch nicht erkennbar. Auch die synodale Komponente der landeskirchlichen Leitung, die (von Landeskirche zu Landeskirche in einem unterschiedlichen Ausmaß) die Gemeindebasis institutionell auf der Leitungsebene verankert und damit ein unverzichtbares Element der innerkirchlichen Demokratie darstellt, besitzt in dieser Hinsicht strukturelle Schwächen. Die Aktivitäten dieser Leitungsebene bleiben punktuell begrenzt, "während sich das oberste Leitungsorgan über das ganze Jahr kontinuierlich professionelle Kompetenz aneignen konnte, so daß sich auf dieser Linie relativ problemlos, wenn auch nicht mehr so offenkundig wie einst, konsistoriale Elemente erhalten ließen. Dies gilt besonders im Blick auf die juristische, ökonomische und verwaltungsmäßige Kompetenz, die über die Jahre ein Ausmaß an Insiderkenntnissen erfordert, die von Außenstehenden kaum mehr angemessen erreichbar" s i n d . 2 1 5 Die durchaus ernsthaften Bemühungen um die Beseitigung dieses Strukturproblems haben die Anzahl und den Umfang der vorbereitenden Gremien und der tagenden Arbeitsgruppen erhöht und die Papierberge rapide anschwellen lassen. Die tatsächliche Problemkonstellation aber haben sie nicht erfaßt und deshalb auch nicht zu beseitigen vermocht. Sie liegt nicht auf der Ebene der synodalen Verfahrenstechnik, sondern auf der Ebene des gespaltenen Wollens und des ungeklärten Dürfens der Kirchenleitung. c) Die Kirchenleitungen sind in ihrem Dürfen hin- und hergerissen Es ist der Referenzbezug der Landeskirchen auf die ecclesia invisibilis, der innerhalb der Kirchenleitungen zu strukturellen Spannungen, aber auch zu institutionalisierten Dauerkonflikten führt. An drei Punkten soll das deutlich gemacht werden: am Umgang der Kirchenleitungen mit der Macht, an ihrer de214 G.Rau: Ekklesiologie, S.351. Auf diesen Sachverhalt hat schon E.Lange aufmerksam gemacht: Überlegungen, S. 197 und S. 198 215 A.Jäger: Konzepte, S.321f. In Landeskirchen mit einem stärkeren Gewicht des synodalen Faktors, wie etwa der Rheinischen Kirche, ist die kirchenrechtliche Zuordnung von Kirchenleitung und Synode anders. Das geschilderte Problem ist aber ebenfalls vorhanden.

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fizitären Selbstbezüglichkeit und am Konflikt zwischen Finanzsteuerung und Präferenzsteuerung. 1. Die Kirche und die Macht: Manfred Josuttis beginnt sein Buch "Petrus, die Kirche und die verdammte Macht" mit der Feststellung: "In der Kirche herrscht die Angst vor der Macht".216 Mit dieser Feststellung trifft er den Nagel auf den Kopf. Die evangelischen Kirchen haben nicht erst von Martin Luther die Wegweisung erhalten "Die Christliche Kirche hat keine Macht".217 Die Ordnung der ecclesia invisibilis ist, so wie sie im Neuen Testament bezeugt ist, eindeutig antihierarchisch und dienstorientiert ("Wer unter euch der Größte sein will..."). Wo sich die sichtbare Kirche an dieser Vorgabe orientiert, muß sie ohne Hierarchiebildung und Herrschaftsausübung auskommen. Da das allerdings im Rahmen sozialer Systembildung überhaupt nicht möglich, ist die Kirchenleitung hin- und hergerissen zwischen den Normvorgaben der ecclesia invisibilis (antihierarchisch) und den Sachzwängen der Systembildung (hierarchisch). Sie muß Kirche leiten und benötigt dazu geeignete Strukturen und eindeutige Weisungsbefugnisse, aber sie darf dabei keine Macht ausüben. Das Problem entsteht, weil Kirche, die doch Sozialsystem ist, gleichzeitig auch ecclesia invisibilis sein will. Genau das aber ist unmöglich. Die Ungereimtheiten in der protestantischen "Bischofsrolle" sind ein Symptom dieses Hin- und Hergerissen-Seins zwischen unvereinbaren Anforderungen. Die zahlreichen Varianten im Miteinander von synodalen und konsistorialen Leitungselementen, die in den evangelischen Landeskirchen anzutreffen sind, sind ein weiteres Symptom. Macht ist ein "protestantisches Tabu-Phänomen"218 geworden. Indem Macht tabuisiert und nicht etwa rational und systemgemäß ausgestaltet und kontrolliert wird, werden faktisch vorhandene Herrschaftsstrukturen in eine schwer kontrollierbare Grauzone abgedrängt, um sich dort um so sicherer zu stabilisieren. Es gibt sowohl in den Kirchenleitungen als auch in den Kirchengemeinden Machthierarchien (pauschal: Präses - Mitglieder der Kirchenleitung und Superintendenten - Pfarrer - Mitglieder der Presbyterien - Mitglieder von Gemeindekreisen und "treue" Gottesdienstteilnehmer - andere Gemeindemitglieder). Informell weiß man in aller Regel genau, wer wo "das Sagen" hat. Wo man das nicht wahr haben will, kann es dann unter dem Etikett des "geschwisterlichen Miteinanders" sogar zu hemmungsloser Machtausübung kommen. David Jordahl weiß zu berichten: "Es gibt Landeskirchen, wo die Personalreferenten nahezu die gesamte Pfarrerschaft 'zur Schnecke' gemacht haben".219 Das Tückische an der Tabuisierung von Macht ist, daß sie nicht

216 M.Josuttis: Petrus, die Kirche und die verdammte Macht, Stuttgart 1993, S.7. Vgl. M.Josuttis: Der Pfarrer ist anders, München 1982, S.70-88; D.Jordahl: Die zehn Ängste der Kirche, Stuttgart 1993, S.69-84; Person und Institution, S. 110-116 217 WA 30/II, S.424f 218 M.Josuttis: Der Pfarrer und die Kirchenleitung, in: PTh 73/1984,'S.308 (307-318) 219 D.Jordahl: Ängste, S.74. Auf anderen Ebenen wissen Insider Vergleichbares leicht hinzuzufügen.

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allein unkontrolliert wuchernde Machtausübung provoziert, sondern gleichzeitig auch eine wirksame und reflektierte Machtkontrolle tabuisiert. Darüberhinaus führt Machttabuisierung auch zur "Verschleierung und Tabuisierung von K o n f l i k t e n " . 2 2 0 Dieses Phänomen ist in den Landeskirchen so weit verbreitet, daß man es bereits als Teil der landeskirchlichen Organisationskultur bezeichnen kann. Aus dem Geist des geschwisterlichen Miteinander ist eine Leitungsmentalität erwachsen, die vor allem für Ruhe und Harmonie steht221; zügige oder unwiderrufliche Entscheidungen aber scheut. Dafür stehen eine ganze Reihe von typischen Verhaltensweisen: Konflikte werden nicht oder nur unwillig zur Kenntnis genommen. Eindeutige und verbindliche Auskünfte werden nicht gegeben. Festlegungen werden nach Möglichkeit vermieden. Unter Taktieren, Verzögern und Absichern neigt man sich vorsichtig zur Seite des vermeintlich Stärkeren hin. Heute schon ist vergessen, was gestern noch zugesagt worden ist. Alle diese Verhaltensweisen, so sinnvoll oder nützlich sie im Einzelfall sein mögen, sind doch insgesamt Ausdruck eines verfehlten Selbstverständnisses als Leitung. Denn einer Leitung, die ständig irgendwelchen Ereignissen hinterherläuft und sich in reaktiver Klimapflege oder aktueller K r i s e n i n t e r v e n t i o n 2 2 2 erschöpft, fehlt die Kraft zur Arbeit an den problemerzeugenden Strukturen und den notwendigen Weichenstellungen für die Zukunft. "Der Wille zur Macht ist der Wille zum Leben. Nur eine Kirche, die ihre Angst vor der Macht überwindet, kann selbst lebendig sein und sich am Kampf um die Rettung des Lebens beteiligen" .223 Macht als solche ist keineswegs etwas Negatives. Sie läßt sich zum Guten wie zum Bösen gebrauchen. Sie läßt sich einsetzen, um eine Ordnung des Dienens zu sichern, aber auch, um eine Ordnung der Diktatur zu stabilisieren. Sie läßt sich verwenden, um Pluralismus institutionell zu sichern, aber auch, um den "militärischen Gleichschritt der Gedanken" zu erzwingen. Es geht also gar nicht um die Frage "Macht - ja oder nein?". Es geht darum, Macht innerhalb der kirchlichen Gesamtorganisation rational einzusetzen, um eine hohe Qualität der Aufgabenerfüllung zu sichern und diese Macht demokratischer Kontrolle zu unterwerfen. Die Tabuisierung der Macht war der falsche Weg. 2. Defizitäre Selbstbezüglichkeit: Es mag auch mit der aus der Orientierung an Systemnormen der ecclesia invisibilis erwachsenen Tabuisierung der Macht innerhalb der landeskirchlichen Organisation zu tun haben, daß die Kirchenleitungen mit einer schon "chronisch" zu nennenden defizitären "Selbstbezüglichkeit" arbeiten. Sie fügen der Gesamtorganisation Schaden zu, indem sie an der falschen Stelle sparen und dadurch ihre Arbeits- und Leistungsfähigkeit schwä220 D.Jordahl: Ängste, S.82 221 "So lange es keinen Lärm, keinen Aufruhr und keine Konflikte gibt, wird das Weiterlaufen dankbar in Anspruch genommen." - H.Lindner: Kirche, S.156 222 "Kirchenleitungen reagieren mehr, als daß sie agieren." - M.Kruse /K.-H.Lütcke: Aufgaben, S.627 223 M.Josuttis: Petrus, S . l l

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chen. Im siebten Kapitel der Arbeit wird diese weitreichende Kritik am Beispiel der Kirchengemeinden vertieft werden. Hier geht es zunächst einmal um die Einsicht in die defizitäre Selbstbezüglichkeit der Kirchenleitungen. Den allgemeinen Gesetzmäßigkeiten der Systementwicklung entsprechend steigt die Selbstbezüglichkeit eines Systems mit zunehmender Komplexität an. Demnach können sich Systeme zwischen den Polen "Überbürokratisierung" und "forcierter Kohärenzschwund" bewegen. Aufgabe des Leitungsorgans ist es, die Systemkohärenz zu sichern und dem Wildwuchs der Bürokratie vorzubeugen, also das Ausmaß der Selbstbezüglichkeit des Systems unter Kontrolle zu halten und eine systemspezifische Mittelposition zwischen beiden Polen anzustreben und zu bewahren. Die reichlich sprudelnden Finanzmittel gestatteten den Kirchenleitungen seit den 50er Jahren eine kontinuierliche Vergrößerung ihres Leitungs- und Verwaltungsapparats. Allerdings zeigt sich hier eine möglicherweise sogar als kirchenspezifisch zu bezeichnende Eigenart. Man schlug zu keiner Zeit über die Stränge, obwohl das vom Finanziellen her gesehen durchaus möglich gewesen wäre. "Personell und infrastrukturell konnte man sich stetig etwas mehr an zeitgemäßem Standard leisten, wobei das alte Ethos evangelischer Sparsamkeit und Zurückhaltung selbst in fett gepolsterten Landeskirchen am Werk blieb. In der inneren Modernisierung, Differenzierung, Rationalisierung, Technisierung und Expansion wurde nach solidem, altem Hausvatergeist dann mit- und zumeist nur nachgezogen, wenn es sich nicht mehr vermeiden ließ. Zu Trendsettern des Fortschritts wurden leitende Theologen und Juristen in der ganzen Epoche nie, im Gegenteil konnte die Anpassung an den Stil öffentlicher Verwaltungen dann und wann so weit hinter dem selbstgewählten Leitbild herhinken, daß dies zu Spannungen zwischen der Leitung und ihrer eigenen Verwaltung f ü h r t e ".224 Alfred Jäger erwähnt sicherlich zurecht das alte protestantische Sparsamkeitsund Bescheidenheitsideal. Könnte es aber nicht auch sein, daß eine Kirchenleitung, die unter der Tatsache leidet, daß sie als Leitungsorgan Machtbefugnisse besitzt und Macht auszuüben hat, den Konflikt löst, indem sie sich durch strukturelle Blockade ihrer eigenen Arbeitsfähigkeit selbst lähmt?225 Die defizitäre Selbstbezüglichkeit der Leitungsebene hat schwerwiegende Folgen. Die leitenden Mitarbeiter/innen arbeiten ständig am Rande ihrer Kapazitäten. Wo sie nicht bereits resigniert haben, verschleißen sie sich im Kampf gegen die schlechten Strukturen. Die defizitäre Selbstbezüglichkeit produziert Krisensymptome, die in mancher Kirchenleitung ohne Schwierigkeiten zu ent224 A.Jäger: Konzepte, S.299Í 225 "Das Kollegium beschäftigt sich mit einer Vielzahl von Themen, die der Funktion des Leitungsorgans nicht angemessen sind, d.h. in ihrer Bedeutung ebensogut referatsintern behandelt und abgeschlossen werden können*. Aus der Ist-Analyse der Württembergischen Kirchenleitung - zit. nach Jäger: Konzepte, S.327.

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decken sind: Selbst als dringlich erkannte Maßnahmen können nicht ergriffen werden, weil die Arbeitskapazität erschöpft ist. Die Kommunikationskanäle sind v e r s t o p f t . 226 Kooperations- und Koordinationsschnittstellen fehlen. Unter der defizitären Dienstleistungsfähigkeit sinkt auch die grundsätzliche Dienstleistungsbereitschaft ab. Unkoordinierte Anforderungen, Verfügungen oder Appelle ersetzen eingehende Analysen, wohldurchdachte Beschlüsse oder nachgehende Erfolgskontrollen.227 Eine systematische Fortbildung oder Supervision der Leitenden findet nicht statt. Herbert Lindner beklagt: "Es gibt kein wirklich aussagefähiges Zahlenmaterial einer laufend fortgeschriebenen Kirchenkunde, keine kontinuierliche Marktbeobachtung, keine ausgebildete personale Führung, kein zügiges Entscheidungsmanagement nach reflektierten P r i o r i t ä t e n " .228 Den Kirchenleitungen fehlen also gerade die Hilfsmittel, die es ihnen erlauben würden, den gegenwärtigen Zustand des eigenen Systems sachgemäß zu beurteilen und kontinuierlich zu verbessern. Intuition, Fingerspitzengefühl und subjektive, oft jahrelang zurückliegende Berufserfahrungen als Gemeindepfarrer/innen ersetzen eine solide Datenbasis. Wo aber die aktuelle Situation des Gesamtsystems und seiner Teilsysteme nur subjektiv und schemenhaft erfaßt werden kann, kann auch kein intersubjektiver Konsens hinsichtlich der erforderlichen Prioritäten, Schritte und Verfahren mehr hergestellt werden. Kirchenleitung wird zum "Blindflug" bei tiefverhangener W o l k e n d e c k e . 2 2 9 3. Dauerkonflikt zwischen Finanzsteuerung und Präferenzsteuerung: Der kircheninterne Dauerkonflikt zwischen Finanzsteuerung und Präferenzsteuerung hat seine Ursache nicht allein im Systemstatus, sondern auch in der Netzwerkstruktur der christlichen Kirchen. Die ecclesia invisibilis kennt keine Finanzsteuerung. In ausdifferenzierten Sozialsystemen aber kommt es nahezu zwingend zur Umstellung von Präfenz- auf Ressourcensteuerung. Zwischen beidem herrscht kirchenleitungsintern ein völlig ungeklärtes Verhältnis. Wo ein kriterien- und prioritätenorientierter, mittelfristig geplanter und fortwährend überprüfter Umgang mit finanziellen Mitteln gefordert und zu erwarten wäre, hat Alfred Jäger in der württembergischen Kirchenleitung ein erstaunliches Defizit an "ökonomischer Mitverantwortung" ausgemacht. "Es gehörte zu den Luxus-Phänomenen ... daß sich leitende Theologen und Juristen aus einer ökonomischen Mitverantwortung weitgehend absentieren konnten ... Nach alten, patrimonialen Prinzipien kirchlicher 226 Das Kürzel LKA (Landeskirchenamt) steht nach Ansicht der rheinischen Parochialpfarrerschaft für "Lange k.eine A.ntwort". 227 "Der Anteil an Beschlußanträgen, die vertagt werden, ist erheblich. Terminvorgaben für eine erneute Diskussion und eine eindeutige Formulierung der für eine weitere Diskussion vorzubereitenden zusätzlichen Entscheidungsgrundlagen fehlen überwiegend." - Aus der Ist-Analyse der Württembergischen Kirchenleitung - zit. nach Jäger: Konzepte, S.315 228 H.Lindner: Kirche, S.51f 229 Zur Verzettelung der Kirchenleitung in sekundären Detailfragen als Auswirkung defizitärer Selbstbezüglichkeit vgl. A.Jäger: Konzepte, S.327

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Haushalterschaft sorgte der leitende Hausökonom im stillen Hintergrund, aber im sicheren Wissen um seine tragende Bedeutung dafür, daß die Kirchenkasse Jahr für Jahr wieder besser stimmte ... während das Kollegium in der Haushaltsabteilung noch immer, wie nach 1920, eine bloße Instanz des Zudienens sehen konnte".230 Das Zusammenspiel der Abteilungen, in dem mit der irrigen Annahme ressourcenunabhängiger, rein "geistlicher" Leitungskompetenzen operiert wird, funktioniert nur so lange, wie ständig steigende Einnahmen die Wünsche oder Pläne der Theologen reibungslos zu realisieren gestatten.231 Aber das Spiel ist aus, wenn sinkende Einnahmen aktuelle Finanzsteuerung und einschneidende Eingriffe in das gewachsene System erzwingen. Wenn "gespart werden muß", zeigt sich schlagartig, daß Finanzsteuerung eine Form von Präfenrenzsteuerung ist, allerdings eine Form, die die Präferenzen temporalisiert und die traditionellen Orientierungen in mehr oder weniger großem Ausmaß zur Disposition stellt. An einem Beispiel läßt sich das verdeutlichen: Die Rheinische Kirchenleitung hat 1993 die Freigaberichtlinien für Parochialpfarrstellen verschärft232 und 1994 den Beschluß gefaßt, die Anzahl der Pfarrstellen zu verringern. Freiwerdende Pfarrstellen werden nun in größerem Umfang als bisher halbiert oder gestrichen. Streichungen und Kürzungen erfolgen nach Maßgabe der freiwerdenden Stellen, das heißt aber, sie erfolgen überwiegend unkoordiniert und nach einem Zufallsprinzip. Die Stellen, die wegen Stellenwechsel der Amtsinhaber oder Pensionierung zuerst frei werden, fallen weg. Diejenigen, die zurückbleiben, "erben" dann die Mehrbelastung. Das Verfahren demotiviert die Leistungsträger der Parochialarbeit und führt dazu, daß sie ihrerseits zu "Rationalisierungsmaßnahmen" greifen, um den von einem Tag auf den anderen vergrößerten Dienstumfang wieder zu reduzieren. Kann man es ihnen verdenken, wenn die Strukturanpassungen dabei auch nach dem "Lustprinzip" vorgenommen werden? Was unbeliebt oder beschwerlich ist, wird zuerst gestrichen (z.B. die Hausbesuche). Man kann sich nicht vorstellen, wie es unter den geschilderten Bedingungen zu einer großflächigen Qualitätssteigerung der parochialen Gemeindearbeit kommen soll. Auch bei Entscheidungen, die vom Eigengewicht und Bestandswahrungsprimat des Sozialsystems her getroffen w e r d e n ^ ; bleibt der Referenzbezug der Landeskirche mit auf der Tagesordnung. Gewiß ist beides selbst bei bestem Willen nicht immer harmonisch miteinander zu vereinbaren. Aber das Problem 230 A.Jäger: Konzepte, S.333f; vgl. auch S.327 und S.331 231 "Während ein Marktunternehmen durch unzureichende Reflexion an dieser Stelle rasch bestraft wird, kann sich eine Nonprofit-Institution unter Umständen noch lange halten, bis sich die unangenehmen Folgen mit Sicherheit auch bei ihr melden, sei es in periphären Störeffekten, sei es in substanziellen Aspekten." - A.Jäger: Konzepte, S.21S 232 Richtlinien für die Errichtung bzw. Freigabe von Gemeindepfarrstellen vom 15.5.1975 in der Fassung vom 14.5.1993, in: Kirchliches Amtsblatt der EKiRh Nr.7/1993 vom 16.7.1993 233 s.o. ROSTA; "Bei den Funktionären des Kerns ist eine Konzentration auf die finanzielle Erhaltung festzustellen." - H.Lindner: Kirche, S.165

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ist sicher nicht gelöst, wenn der Eindruck entsteht, daß die (finanziell lange Zeit verwöhnten) Theologen gerade in Anpassungskrisen des Systems der Verwaltungsroutine und dem Rationalisierungsdruck der Pragmatiker nichts mehr hinzuzufügen haben. Bei der Finanzsteuerung handelt es sich eben nicht nur um ein "weltlich D i n g " . 2 3 4 Gerade in einer Situation des strukturell bedingten "Hin- und Hergerissen-Seins" sollten Kirchenleitungen zeigen, daß die Theologie für das kirchenleitende Geschäft "das zu leisten vermag, was von ihr ekklesiologisch mit Recht einzufordern ist: eine überlegte, verantwortliche und zukunftsweisende Wegorientierung".235 Dazu a ber fehlen vielfach selbst elementare Voraussetzungen. Welche evangelische Landeskirche verfügt denn überhaupt über aussagefahiges, zeitnahes und lokal differenziertes Zahlenmaterial? Wie werden die zahlreichen Einzelentscheidungen, die unter Sparzwang (auch in den Kirchengemeinden) getroffen werden, koordiniert? Welche Prioritäten werden empfohlen? Was wird gegen den Motivationsverlust der Leistungsträger getan? Präzise empirischen Selbstaufklärung über die innerkirchlichen Verhältnisse ist kein überflüssiger Luxus, sondern ein Erfordernis sinnvoller Systemsteuerung. Kirchenleitungen haben nicht nur Krisenmanagement zu betreiben, sie haben auch für die kontinuierliche Qualitätsverbesserung der Gemeindearbeit Sorge zu tragen. Ein wichtiger Indikatoren für den inneren Zustand einer Landeskirche, könnte schon eine Zufriedenheitsskala sein, die regelmäßig (und anonym) abzufragen wäre. Systemleitung ist eine kontinuierlich wahrzunehmende Planungs- und G e s t a l t u n g s a u f g a b e . 2 3 6 "Es bleibt ein Irrtum romantischen Gepräges, nach der blauen Blume der richtigen Ekklesiologie zu suchen, um dann zu meinen, nun wäre alles g u t " . 2 3 7

d) Fazit Eingangs wurde die Frage gestellt, ob die Kirchenleitungen den Anforderungen gerecht werden, die der anspruchsvolle Systemtyp einer "dezentralen Großorganisation" an die Leitung stellt. Das Ergebnis ist eindeutig ausgefallen. In ih234

"Der U m g a n g mit gewachsener Komplexität ist in einer Kirchenleitung primär ein theologisches Problem" (A.Jäger: Konzepte, S. 141). Z u r Zweiteilung von juristischer und theologischer Leitung als Ausdruck institutionalisierter Rückständigkeit vgl. A.Jäger: Konzepte, S.312 und 328f. Albert Stein weiß als erfahrener Kirchenjurist: "Die Kirche kommt nicht schon durch Kirchenordnungen 'in O r d n u n g ' . " - A.Stein: Kirchenverfassung, S.617

235 A.Jäger: Konzepte, S. 141 236 "Faktisch ist ein derartiges Handlungselement innerhalb der kirchlichen Praxis deutlich vorhanden, theologisch jedoch vielfach tabuisiert." - K . - F . D a i b e r : Organisationshandeln, S.610. 237 H . H . K n i p p i n g : Kirche f ü r Zeitgenossen, in: G.Schnath (Hg.): Fantasie f ü r die Welt. Gemeinden in neuer Gestalt, Stuttgart 1967, S.16; Alfred Jäger hat deshalb zurecht professionelle Leitungsberatung für die Kirchenleitungen gefordert und kenntnisreich dargelegt, welche Veränderungen der kirchenleitenden Organisation er für erforderlich hält (Konzepte, S.425-452 mit Kernpunkten S.446 und Organigrammen S.449-452). Sein integrierter kybernetischer Entscheidungsprozeß vermeidet die Schwächen herkömmlicher Kompetenzverteilungsschemata innerhalb der Kirchenleitungen. - S.152 mit S.37 (Schaubilder)

6. Kirche leiten im Wandel

409

rem gegenwärtigen Zustand sind die Kirchenleitungen nicht in der Lage, ihrer Aufgabe gerecht zu werden, die Gesamtkohärenz des Systems zu sichern und durch geeignete Maßnahmen eine optimale Arbeitsfähigkeit der Teilsysteme aufrechtzuerhalten. Einiges spricht sogar dafür, daß nicht einmal die Einstufung des Systems und damit auch die sich daraus ergebende zentrale Leitungsaufgabe auf der Leitungsebene unumstritten ist. Es fehlen klare "Leitlinien für die Zukunft". Es fehlt eine unzweideutige und transparente Selbstbindung der Kirchenleitung hinsichtlich der von ihr mittelfristig verfolgten Ziele und Verfahrensweisen. Es fehlt am Willen, die Leistungsfähigkeit der operativen Einheiten kontinuierlich zu verbessern. Es fehlen eine professionelle Personalentwicklung und hilfreiche Bemühungen, um die praxisorientierte Fortbildung der Mitarbeiterschaft. Kinderkrankheiten der Organisationsentwicklung haben das Leitungssegment befallen und lähmen es in seinen Möglichkeiten. Nach systemtheoretischem Verständnis können nicht nur Menschen, sondern auch Strukturen, "anstatt der Entfaltung von Leben zu dienen, dessen Absterben b e w i r k e n " . 2 3 8

7. Die Landeskirchen als wandlungsgehemmte Sozialsysteme a) Ergebniszusammenfassung 1. Die Landeskirchen sind im doppelten Sinne "Sozialsysteme im Wandel". Einerseits stehen sie mitten im gesellschaftlichen Wandel, andererseits unterliegen sie auch einem vielfältigen inneren Impulsdruck, der sie zum Wandel animiert. 2. Als externe Wandlungsimpulse wurden der Wechsel der Landeskirchen vom funktionalen Teilsystem des Staates hin zum Wettbewerber im Marktsystem Religion genannt, der von den Landeskirchen noch nicht hinreichend nachvollzogen worden ist. Auch die Logik der ausdifferenzierten Gesellschaft ruft nach einem aktiveren Heraustreten aus dem Schatten der Säkularisierungsgeschichte. Das Christentum gehört "auch in seinen verkirchlichten Formen nach wie vor zum Bestand neuzeitlicher G e s e l l s c h a f t e n " . 2 3 9 Die Stellung der Landeskirchen wird um so stärker sein, je klarer es ihnen gelingt, ihren Zuständigkeitsbereich abzustecken und ihr Systemwissen plausibel zu vertreten. Sie haben innerhalb der Gesellschaft bei den Menschen zu sein und von ihrer profetisch-weisheitlichen Kompetenz Gebrauch zu machen, indem sie Menschenfeindlichkeit der binären Codierungen und ihre absolute Gültigkeit in Frage stellen. 3. Auch die Netzwerkeinbindung der Landeskirchen in den Systemverbund der ecclesia invisibilis setzt Wandlungsimpulse. Allerdings haben diese Impulse keine eindeutige Impulsrichtung. Obwohl die Landeskirchen in einem strukturell bedingten Spannungs- und Ungehorsamsverhältnis zur ecclesia invisibilis 238 A.Jäger: Konzepte, S.218 239 F.-X.Kaufmann: Religion, S.69

410

V. Die evangelischen Landeskirchen

leben, beziehen sie doch ihre spezifische Systemidentität von der ecclesia invisibilis her. An ihr haben sie sich zu orientieren, an ihr müssen sie sich messen lassen. Auf sie hin haben sie zu wirken. 4. Mit der Frage, wie gut die Landeskirchen gerüstet sind, um der gesellschaftlichen Situation in der fortgeschrittenen Moderne gerecht zu werden und die Chancen wahrzunehmen, die ihnen diese Situation eröffnet, wurde der Blick auf den inneren Zustand des Sozialsystems Landeskirche gelenkt. Die Landeskirchen wurden als gealterte und als ausdifferenzierte Sozialsysteme beschrieben. Dabei ließen sich eine ganze Reihe von Indizien dafìir gewinnen, daß die Landeskirchen in ihrer gegenwärtigen Verfassung nicht optimal organisiert und auf die Anforderungen des Wandels unzureichend vorbereitet sind. Die Untersuchung der Alterungsfolgen zeigte die Landeskirchen als irreversibel irritierte Sozialsysteme mit verschlissener Überleitungssemantik, individuell zersplitterten Glaubensüberzeugungen und stark beeinträchtigter kommunikativer Anschlußfähigkeit. Die Hereinnähme des Profanen in das kirchliche Religionssystem begünstigte den Präzisionsverschleiß des Heiligen, den Trend zur Dominanz der ethischen Zweitcodierung und zur Selbstauflösung der Organisation. Das Heilige wurde mehr und mehr marginalisiert, das kirchliche Christentum stellt sich selbst zunehmend stärker als ethisches Normen- und Wertesystem dar. Würde die Prioritätenfolge tatsächlich umgekehrt, hätten die Landeskirchen sich definitiv aus dem Religionssegment verabschiedet. Als ausdifferenzierte Großorganisationen sind die Landeskirchen Systeme mit dauerhaft abgesunkener Kohärenz und hoher Selbstbezüglichkeit. Bei der Betrachtung der Kirchenleitungen zeigte sich, daß sie den Anforderungen aus strukturellen Gründen nur unzureichend gerecht werden können, daß sie aber auch organisationstheoretisch hinter den vorhandenen Möglichkeiten zurückbleiben. 5. Überblickt man die Ergebnisse der Darstellung, dann zeigen sich die evangelischen Landeskirchen als Großorganisationen, auf denen ein vielschichtiger innerer wie äußerer Impulsdruck lastet. Dieser Impulsdruck zielt auf Systemwandel ab. b) Wandlungsbereitschaft und Wandlungshemmungen Eingangs wurde darauf hingewiesen, daß Impulsdruck keineswegs automatisch zu Systemwandel führt. Systeme haben grundsätzlich die Freiheit, den Wandel zu verzögern oder sogar auf korrigierende Eingriffe in die Präferenzordnung zu verzichten. Da das auch für die Landeskirchen gilt, stellt sich die Frage, wie es um die Wandlungsfähigkeit und der Wandlungsbereitschaft der Landeskirchen bestellt ist. Der Eindruck ist ambivalent: 1. Zügige Reaktionen: Zum einen sieht es so aus, als ob die Notwendigkeit des Wandels in den Landeskirchen zur Zeit gar nicht so sehr umstritten ist. Die Kirchenaustrittswellen der vergangenen Jahre und die damit einhergehende Verschlechterung der Ressourcenversorgung haben hier möglicherweise beflügelnd

7. Die Landeskirchen als wandlungsgehemmte Sozialsysteme

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gewirkt. In den Zeiten der "Finanzkrise" hat sich gezeigt, daß das Instrument der Finanzsteuerung durchaus intakt ist und selbst einschneidende Maßnahmen mit geradezu erstaunlicher Geschwindigkeit zur Beschlußreife gebracht werden konnten. Aber hektische Finanzsteuerung hat eben mehr Interventions- als Programmcharakter, selbst wenn sie in Form der Orientierung am finanziell "Machbaren" oft programmatische Folgewirkungen nach sich zieht. So kann es nicht verwundern, daß das "Wie" und das "Was" des innerkirchlichen Systemwandels zur Zeit sehr viel mehr umstritten ist als das "Ob". Gerade in der Frage nach dem "Wie" und dem "Was" sind die Landeskirchen weit von einem Konsens der Überzeugungen entfernt. 2. Schwerfälligkeit: In Bereichen, die weniger offensichtlich mit den Zwängen kontinuierlicher Ressourcenversorgung gekoppelt sind, etwa im Bereich der evangelischen Religionskultur, gilt nach wie vor, daß selbst Veränderungen, deren Notwendigkeit nicht umstritten ist, allzu lange hinausgeschoben werden. Der Eindruck, daß die Landeskirchen gewöhnlich nur schwerfällig, zögerlich und halbherzig auf Wandlungsimpulse reagieren, trifft immer noch weithin zu. Exemplarisch seien hier die landeskirchlichen Agenden für den Hauptgottesdienst genannt. Als im Jahr 1959 die überarbeitete Agende für den Hauptgottesdienst erschien, gab es kritische Stimmen, die behaupteten, die Agende sei bei ihrer Veröffentlichung bereits 20 Jahre zu spät g e k o m m e n . 2 4 0 D ¡ "Erneuerte Agende", deren Vorentwurf 1990 zur Erprobung in den Gemeinden freigegeben worden ist, hätte um 1970 hervorragende Dienste leisten können und den Kirchengemeinden sehr viel Streit und Ärger über die damals entwikkelten und erprobten neuen Gottesdienstformen^l ersparen können. 1970 aber war sie noch nicht einmal konzipiert. 1990 indessen kam sie so spät, daß sie schon bei ihren Erscheinen konzeptionell nicht mehr unumstritten war.242 e

3. Das Additionsprinzip: Das Additionsprinzip dominiert den landeskirchlichen Systemwandel. Das Altvertraute bleibt erhalten, Neues kommt nach und nach additiv hinzu. Dieses Prinzip läßt sich ebenso beim evangelischen Kirchengesangbuch beobachten, das im Laufe der Zeit immer dicker geworden ist wie in der parochialen Gemeindearbeit. Den traditionellen parochialen Arbeitsfeldern sind in den letzten Jahrzehnten ständig neue Arbeitsfelder und Arbeitsaufträge hinzugefügt worden. Der Umfang ist so lange additiv ergänzt worden, bis sich schließlich selbst die Leitungsgremien in den Landeskirchen genötigt sahen, die bloß selektive Erfüllung der Dienstverpflichtungen nach den persönlichen Präferenzen der Pfarrstelleninhaber/innen zu akzeptieren bzw. sogar zu fordern (s.o. Kap.II 4.2c Anm. 134). 240 W.Lührs: Von der Agende I zur "Erneuerten Agende", in: Für den Gottesdienst, H.30/1988, S.23 241 G.Schnath (Hg.): Werkbuch Gottesdienst, Wuppertal 1967; H.G.Schmidt (Hg.): Zum Gottesdienst morgen, Wuppertal 1969; U.Seidel / D.Zils (Hg.): Aktion Gottesdienst, 2 Bde., Wuppertal 1970 242 R.Roosen: Bemerkungen zum Entwurf der "Erneuerten Agende", in: ThPr 27/1992, S.267-271 (259-272)

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V. Die evangelischen Landeskirchen

c) Ursachen der Wandlungshemmung Für das deutlich gebremste Innovationstempo der Landeskirchen lassen sich eine ganze Reihe von Gründen angeben, die sich untereinander gegenseitig bedingen und verstärken: 1. Netzwerkcharakter: Da sind zunächst einmal Schwierigkeiten, die sich aus dem Netzwerkcharakter der Landeskirchen im Systemverbund mit der ecclesia invisibilis ergeben. Die Systemtheorie weiß, daß eine kontinuierliche Veränderung der Präferenzordnung zur Temporalisierung der jeweils gültigen Werte führt. Was immer gilt, gilt nur noch bis auf Widerruf und ist prinzipiell widerrufbar. Damit sind tendenziell sämtliche Inhalte zur Disposition gestellt. Die Landeskirchen aber sind "ewigen" Normen verpflichtet, die nicht heute so und morgen anders interpretiert werden können. Von daher wird eine Kirche, die sich der ecclesia invisibilis verbunden weiß, dazu neigen, so wenig wie möglich zu verändern. Auch das Liebesprinzip der Christuspredigt läßt sie vor harten Einschnitten und schroffen Abbrächen zurückschrecken. Additive Konfliktlösungen entsprechen dem Geist des harmonischen Miteinander sehr viel mehr. Von daher liegt es nahe, daß eine Landeskirche, die sich im Referenzverbund weiß und sich um Kontinuität und Behutsamkeit bemüht, nicht zur Avantgarde des gesellschaftlichen Wandels gehören kann. 2. Unklare Systemidentität: Lähmend wirkt auch die bereits mehrfach angesprochene unklare Systemidentität (bekennende Kirche - Volkskirche). Eine Landeskirche, die nicht genau zu sagen weiß, was sie sein will, kann auch nicht genau sagen, was sie nicht sein will und warum sie es nicht mehr will. So lange die Landeskirchen ihren Systemstatus sich selbst gegenüber verschleiern, sind sie nicht in der Lage, dem Systemerhalt der "Volkskirche" eindeutige Priorität einzuräumen, ohne sich selbst in diesem Bemühen ständig Steine in den Weg zu legen und inkompatiblen Zielen einen gleichberechtigten Stellenwert beizumessen. Es sollte in einer Landeskirche, die sich selbst als pluralistische Kirche versteht, kein Problem sein, volksmissionarische und andere Spezialformen einer zielgruppenorientierten Gemeindearbeit im Rahmen von Personalkirchengemeinden zu erhalten und zu fordern. Es ist aber ein Problem, wenn eine Landeskirche sich über Jahrzehnte hinweg immer wieder in Diskussionen verzettelt, die auf den Totalumbau der landeskirchlichen Organisation abzielen. So tief kann sich kein System jahrzehntelang in Frage stellen lassen, ohne darüber einen massiven inneren Schaden zu nehmen. 3. Selbstpositionierung im Gegenüber zur Gesellschaft: Auch die weite Verbreitung des an Säkularisierungserfahrungen orientierten innerkirchlichen Selbstverständnisses hemmt die Wandlungsbereitschaft. Wo Kirche sich im Gegenüber zur Gesellschaft positioniert, muß Systemwandel als "Anpassung" erscheinen. Reaktive volksmissionarische Visionen sind dann naheliegender als ein volkskirchlich ausgerichtetes Engagement in der pluralistischen Gesellschaft.

7. Die Landeskirchen als wandlungsgehemmte Sozialsysteme

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4. Filterwahlsystem: Das Filterwahlsystem in den Landeskirchen verstärkt den Effekt der Subsystemisolation des Leitungssegments. Wer in die Landessynoden gewählt ist, hat in der Regel einen langen innerkirchlichen Sozialisationsprozeß auf den unteren Ebenen der Organisation durchlaufen. Er kennt und beachtet die "Spielregeln im Betrieb" und hat längst gelernt, sich mit irgendwelchen Widrigkeiten zu arrangieren. Es entspricht den Gesetzmäßigkeiten der allgemeinen Systemtheorie, daß Treue Funktionärsqualifikation ist. Wer sich dagegen dauerhaft an den landeskirchlichen Verwaltungsstrukturen oder am protestantischen Frömmigkeits- und Andachtsstil reibt, wird mit großer Wahrscheinlichkeit nicht Synodaler. Diese sozialisationsbedingte Isolation des Leitungssegments macht es wahrscheinlich, daß Wandlungsimpulse, die von der Mitgliederbasis oder anderen Umwelten des Systems ausgehen, ignoriert oder marginalisiert werden. Wer seine Position im landeskirchlichen Gefuge erst einmal gefunden hat, wer mit den Gegebenheiten gut zurecht kommt, die Präferenzordnung verinnerlicht hat oder auch nur die Grenzen seiner persönlichen Möglichkeiten im Rahmen des Großsystems erkannt hat, der wird vergleichsweise wenig Anlaß sehen, den Status quo zu verändern. So versickern Wandlungsimpulse. 5. Gewachsene Komplexität: Die gewachsene Systemkomplexität des Leitungssystems bewirkt ein übriges. In Pfarrerkreisen kursiert ein geflügeltes Wort: "In der Kirche gibt es für jede gute Idee einen Ausschuß, in dem sie beerdigt wird. " Trotz aller erkennbaren und vorhandenen Wandlungsbereitschaft lassen sich also eine ganze Reihe von Ursachen benennen, die die Wandlungsfähigkeit der Landeskirchen hemmen. d) Negative Folgewirkungen der Wandlungshemmungen Das langsame Innovationstempo in den Landeskirchen hat Folgen, die weit über die jeweils konkret benennbaren Defizite oder die aktuellen Handlungsimpulse hinausgehen. Eine notorisch verlangsamte Wandlungsfähigkeit evoziert magische Mißverständnisse und positioniert die Landeskirchen im Museumssegment der Gesellschaft. Das "Heilige", dem die christlichen Kirchen verpflichtet sind, ist im Verlauf der Geistesgeschichte der letzten Jahrhunderte einem nachhaltigen Kriterienverschleiß ausgesetzt gewesen. In dem Maße, wie die religiösen Inhalte ihre kommunikative Anschlußfähigkeit, ihre Verstehbarkeit, verloren haben, gleichwohl aber unverändert im innerkirchlichen Gebrauch erhalten werden, läßt sich die Form, in der die unverständlich gewordene Botschaft erscheint, das Gebäude, die antiquierte Sprache, das Kirchenlied usw., selbst als das genuin Religiöse, als das "Heilige", ansehen. Veraltete Formen werden zum "Erkennungsmerkmal" der Landeskirchen. Das Veraltete (nicht mehr nur das Alte!) wird zum Signet, zum Markenzeichen der christlichen Religion. Dieser Zuschreibungswechsel macht die christlichen Kirchen von Sachwaltern des

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V. Die evangelischen Landeskirchen

Alten zu Sachwaltern des längst schon Veralteten. Er macht sie zu Museumswächtern des H e i l i g e n . 2 4 3 Die Heiligsprechung der Form ist ein Einfallstor für magische Religionsvorstellungen. Den Landeskirchen, die sich zum Hüter veralteter, aber heiliger Formen gemacht haben, wird dann selbst von ihren Mitgliedern die "Freiheit zur I n n o v a t i o n " 2 4 4 abgesprochen. Als "Sachwalter der heiligen Formen " dürfen sie nichts mehr verändern, weil - nach magischer Vorstellung - durch jede Veränderung der Form das Heilige selbst beschädigt wird. Sie werden auf ihren Status als Museumswächter behaftet und geraten über dem Versuch, ihre Innovationskompetenz zurückzugewinnen, in einen Erklärungszwang. Die Kirchenmitglieder haben längst schon gelernt, daß die kirchliche Religion nicht zeitgemäß und modern ist. Sie erwarten seit langem schon die veraltete Kirche.245 Kommt sie ihnen anders entgegen, reagieren sie möglicherweise positiv mit Verwunderung oder Erstaunen, vielleicht aber auch negativ mit Kritik oder der Unterstellung von "wirklichen" Absichten, die im Verborgenen gehaltenen werden. Die wandlungsgehemmte Landeskirche verabschiedet sich sukzessive aus einer Gesellschaft, deren Mitglieder den Wandel in den letzten 40 Jahren geradezu kontinuierlich trainiert haben. Seit den späten 50er Jahren verändern sich in zunehmendem Ausmaß liebgewordene Institutionen, altvertraute Gegebenheiten und persönliche Lebensgewohnheiten. Man kann davon ausgehen, daß große Teile der Bevölkerung diesen Wandel mittlerweile derart verinnerlicht haben, daß sie ihn bereits erwarten und bisweilen sogar mit Erstaunen feststellen, daß hier oder da immer noch kein Wandel stattgefunden hat. Die Erwartung prinzipieller Wandelbarkeit ist zu einer Konstante des individuellen Bewußtseins g e w o r d e n . 2 4 6 Daraus resultiert zwar angesichts der verlorenen Traditionseinbindung ein nicht unbeträchtlicher (in psychologischer Hinsicht gut verständlicher) Gegenimpuls, die Sehnsucht nach der Geborgenheit in vertrauten Traditionen. Dennoch werden Traditionen heute anders gewichtet und qualitativ bewertet. Das Alte ist nicht mehr schon deshalb ein zu bewahrendes Gut, weil es alt ist. Es wird vielmehr einer ständigen Prüfung unterzogen und muß einem trennscharfen Kriterium standhalten: Bestand hat heute nur noch, was sich in irgendeiner Weise als funktional bewährt und der "Dauerreflexion"247) d.h. einer fortgesetzten Relevanzprüfimg in der jeweiligen Gegenwart der Gesellschaft, standhält. Unter diesem Gesichtspunkt, und nur unter diesem, kann dann auch das Alte positiv beurteilt und erhalten werden. Für alles, was durch das Sieb der funktionalen Relevanzprüfung hindurchfällt, hat die Gesellschaft als Auffangbecken einen eigenen Systembereich eingerichtet, das Museum. Nur im Museumssegment, in der Vitrine oder unter Denkmal243 Aus diesem Grund besichtigen Touristen im Urlaub "schöne, alte" Kirchen. 244 R.Volp: Gemeinschaft, S.80 245 Vgl. W.Lück (s.o. Kap.II,4.4); R.Mayntz: Soziologie, S.69 hat darauf hingewiesen, daß Wandlungsträgheit auch zu einem Wandel der Mitgliederstruktur führt. 246 F.-X.Kaufmann: Religion, S.47 247 H.Schelsky: Dauerreflexion

7. Die Landeskirchen als wandlungsgehemmte Sozialsysteme

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schütz gilt, was alt ist, bereits als ein positiver "Wert an sich". Der fortwährende gesellschaftliche Wandel hat also insbesondere seit 1945 Fallgruben erzeugt, die für innovationsgehemmte Sozialsysteme überaus gefährlich sind. Die Landeskirchen können sich, da sie Teilsysteme dieser Gesellschaft sind, der kollektiven Neubewertung des Alten nicht entziehen. Zwar können sie durchaus darauf beharren, daß das Alte bereits ein Wert an sich ist, den es unbedingt zu bewahren und aufrechtzuerhalten gilt. Sie werden aber, wenn sie ihre Verkündigungsinhalte weiterhin der Relevanzprüfung durch ihre Mitglieder entziehen, hinnehmen müssen, daß sie von ihnen in einen anderen Systembereich der Gesellschaft eingruppiert werden, eben in das Museumssegment. Die gehemmte Wandlungsbereitschaft und auch Wandlungsfähigkeit der Landeskirchen zieht also weitreichende und schwerwiegende Folgen nach sich. Die ausdifferenzierte, im ständigen Wandel befindliche Gesellschaft hält für ihre Teilsysteme keine unberührten und friedlichen "Oasen der Seligen" mehr bereit. Wer gegenüber massiven Wandlungsimpulsen auf Zeit spielt, hat dafür, ob er es wahr haben möchte oder nicht, einen hohen Preis zu zahlen. e) Konsequenzen für die Landeskirchen Würde eine Landeskirche sich selbst als Sozialsystem in einer sich wandelnden Umwelt betrachten, hätte sie systemtheoretisch begründete Schlußfolgerungen und Konsequenzen zu akzeptieren. Sozialsysteme, das wurde eingangs dargestellt, räumen ihrem Existenzerhalt Priorität ein und reagieren auf Störungen, um ihre eigene Zukunftsfähigkeit zu sichern. Das würde dann auch für die Landeskirchen gelten. Es wäre nicht mehr in Frage zu stellen, ob Landeskirchen sich "anpassen" dürfen. Vielmehr wäre von ihnen zu erwarten, daß sie auf "Störungen" der Ressourcenversorgung reagieren und sich einer kontinuierlichen Selbstüberprüfung unterziehen. Die fortwährende Selbstüberprüfung und die Bemühung um die Aufrechterhaltung und die Verbesserung der Anschlußfähigkeit sind nichts Verwerfliches, sondern notwendige Anstrengungen zur Existenzsicherung und damit zur Aufrechterhaltung der Leistungsfähigkeit und der Zielerfüllung. Landeskirchen (ecclesiae visibilis), die - systemtheoretisch geurteilt - Existenzsicherungsanstrengungen zurückweisen, verabschieden sich strukturell von ihrem Auftrag, weil sie als zerfallende Systeme in einer ausdifferenzierten Gesellschaft unmöglich in der Lage sein können, die Christusbotschaft "zu allen Völkern" zu tragen. Sie befinden sich stattdessen, wie schon Joachim Matthes festgestellt hat, auf der Flucht vor der Gesellschaft. Es besteht nicht die geringste Hoffnung, daß die Gesellschaft ihnen auf diesem Weg folgt. Wer die Menschen zurückläßt, darf sich nicht anschließend darüber wundern, daß sie nicht mehr da sind. Ein eindeutiges Bekenntnis zum volkskirchlichen Charakter des Sozialsystems Landeskirche hätte also weitreichende F o l g e n . 2 4 8

248 Wie im übrigen natürlich auch ein Bekenntnis zum bekenntnisgemeindlichen Charakter, was der Themenstellung entsprechend hier nicht weiter vertieft werden wird.

416

V. Die evangelischen Landeskirchen

Es würde bedeuten, daß die Landeskirchen sich nicht nur für den inneren Zustand der Organisation interessieren, sondern auch mit ihren signifikanten Umwelten zu beschäftigen hätten, um hier verlorene Anschlüsse wiederzugewinnen. Sie würden "Kirchen im Wandel" sein wollen, sich der Aufgabe stellen, das Sozialsystem Landeskirche durch Wandel zu erhalten und den Wandel selbst (im Rahmen ihrer Möglichkeiten) aktiv mitzugestalten versuchen. Wandel bedeutet Abbruch, Neubestimmung und Kontinuität. Über dies alles wäre dann im einzelnen nachzudenken. Damit aber würden sie zeigen, daß sie nicht länger bereit sind, den eigenen Systemwandel bloß passiv hinzunehmen. f) Schlußfolgerungen im Hinblick auf die Kirchengemeinden Die systemtheoretische Untersuchung der Landeskirchen erfolgte in der Überzeugung, daß die Ortskirchengemeinden als "Sozialsysteme in der Krise" von der Lage und dem Zustand ihrer Muttersysteme unmittelbar betroffen sind. Es ist nicht möglich, die Kirchengemeinden zu verstehen, wenn man von den Gegegenheiten absieht, die auf das Gesamtsystem einwirken und das Gesamtsystem bestimmen. Von daher sind in der vorausgegangenen Darstellung erste Konturen eines Szenarios deutlich geworden, innerhalb dessen sich die Arbeit in den Kirchengemeinden tagtäglich vollzieht: Massive Wandlungsimpulse einerseits, reduzierte Wandlungsbereitschaft und Wandlungsfähigkeit andererseits, schließlich noch die drohende Gefahr einer aktiven und passiven Positionierung im Museumssegment der Gesellschaft. In diesem Spannungszustand, einem Zustand vielfach ungelöster Konflikte, vertagter Probleme, ignorierter Wandlungsimpulse, vollzieht sich gegenwärtig die parochiale Gemeindearbeit. Das Wort "vollzieht" wurde absichtsvoll gewählt, um die Problemkonstellation zu verdeutlichen, die nun weiter verfolgt werden. Auch die Kirchengemeinden sind ja Sozialsysteme im Wandel. Sozialsysteme aber kennen keinen Stillstand. Sie kennen selbst dann keinen Stillstand, wenn die äußeren und inneren Bedingungen des Systems deutlich aus dem Lot zu geraten drohen. Sie gewähren den Entscheidungsträgern keine Genesungspausen. Sie kennen keinen vorübergehenden Ladenschluß zum Zwecke dringend anstehender Renovierungsarbeiten. Es wird weitergearbeitet. Die Menschen im System, ganz gleich, ob es sich um Berufschristen oder passive Mitglieder handelt, um Funktionsträger oder Ratsuchende, richten sich auf jeden Systemzustand ein, auch auf einen hochdefizitären Systemzustand. Von daher wird die Leitfrage des nächsten Teils lauten: Wie gehen die Mitglieder mit dem Problem um, daß sie mit einem Sozialsystem konfrontiert sind, das unter einem massivem mehrdimensionalen Wandlungsdruck steht und einen unübersehbaren Innovationsstau vor sich herschiebt?

VI. Die Religiosität der Kirchenmitglieder

Das sechste Kapitel wendet sich den Kirchenmitgliedern und ihrer Religiosität zu. Systemtheoretisch lassen sich die Kirchenmitglieder als "Umwelt" der Landeskirche bzw. der Kirchengemeinden ansehen. Mit einiger Berechtigung hätte die Mitgliederreligiosität also bereits im vorausgegangenen Teil über die Landeskirchen behandelt werden können, die ja ebenfalls Umwelt der Kirchengemeinden sind. Allerdings wirken die besonderen Eigenarten der Mitgliederreligiosität in der Regel auf die Kirchengemeinden unmittelbarer ein als auf die landeskirchliche Organisation. In der täglichen Arbeit der Kirchengemeinden reiben sich fortwährend die Mitglieder mit ihrer Religiosität und die kirchlichen Mitarbeiter/innen mit ihrem Gemeinde Verständnis. Unter diesem Gesichtspunkt war es sinnvoll, der Mitgliederreligiosität ein eigenes Kapitel zu widmen. Der erste Teil behandelt die Kirchenordnung. Die Kirchenordnung ist die "Präferenzordnung" des Sozialsystems Landeskirche. Sie enthält Aussagen über die Kirchenmitglieder, bringt das Bild zum Ausdruck, das die Landeskirche von ihnen besitzt und formuliert die Erwartungen, die sie an sich stellt (1.: "Kirchenordnung und Mitgliederfrömmigkeit"). Im zweiten Teil werden Ergebnisse neuerer soziologischer Umfragen über die Religiosität und die Kirchlichkeit der Gemeindemitglieder zusammengetragen^ (2.: "Empirische Daten über Religiosität und Kirchlichkeit"). Schließlich wird im dritten Teil ein Versuch unternommen, die Datenlage interpretierend zu verstehen. Dabei wird die These vertreten, daß sich die Entwicklungsrichtung und der gegenwärtige Stand der Mitgliederreligiosität als Resultat systeminterner und systemexterner Wandlungsimpulse darstellt: Sie ist das Ergebnis der Systemgeschichte und der 1

Zu Beginn der 90er Jahre wurden vier große Religionsbefragungen durchgeführt: (1.) Die dritte Mitgliederbefragung der EKD wurde von Oktober bis Dezember 1992 durchgeführt. Eine differenzierte Auswertung ist zum Zeitpunkt der Abfassung des vorliegenden Kapitels (Sommer 1995) noch nicht erschienen. Wo auf die dritte EKD-Umfrage Bezug genommen wird, werden die Daten der Vorabauswertung verwendet, die unter dem Titel "Fremde Heimat Kirche", hg.v. Studien- und Planungsgruppe der EKD (Selbstverlag der EKD, Hannover 1993: Postfach 210220, 30402 Hannover) erschienen ist. Auch die Umfrageergebnisse der ersten beiden Mitgliedschaftsbefragungen der EKD werden berücksichtigt: H.Hild (Hg.): Wie stabil ist die Kirche?, Gelnhausen 1974 (durchgeführt im Sommer 1972 = EKD I) und J.Hanselmann u.a. (Hg.): Was wird aus der Kirche?, Gütersloh 1984 (durchgeführt im Herbst 1982 = EKD II). (2.) 1991 und 1992 hatten die Allbus-Umfragen einen Schwerpunkt Religion. Allbus-Umfragen (="Allgemeine Bevölkerungsumfrage der Sozialwissenschaften") werden jährlich durchgeführt (Gesamtbevölkerung über 18 Jahre, Ost und West getrennt ausgewertet). Der Allbus wird herausgegeben vom Zentralinstitut für empirische Sozialforschung an der Universität Köln (= ZA: Bachemer Str.40; 50931 Köln) und dem Zentrum für Umfragen, Methoden und Analysen (= ZUMA: Postfach 122155,68072 Mannheim) und ist dort direkt zu beziehen. (3.) Die Spiegel-Umfrage "Was glauben die Deutschen?", die in Heft 25 46/1992, S.36-57 publiziert ist. Vergleichsdaten in dieser Umfrage beziehen sich auf eine vorausgegangene Umfrage aus dem Jahr 1967.

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VI. Die Religiosität der Kirchenmitglieder

Systemwirklichkeit der evangelischen Landeskirchen. Sie ist Ausdruck eines eigenständigen Religionsverständnisses der evangelischen Kirchenmitglieder. Und schließlich ist sie ein systemgerecht entwickeltes Produkt der ausdifferenzierten Gesellschaft (3.: "Die Religiosität des zerrissenen Menschen - Interpretation der Umfragedaten").

1. Kirchenordnung und Mitgliederfrömmigkeit Um das Mitgliederverständnis der Kirchenordnungen kennenzulernen, werden exemplarisch zwei Passagen aus der Kirchenordnung der Rheinischen Kirche zitiert. Im Grundartikel I der Evangelischen Kirche im Rheinland heißt es: "Die Evangelische Kirche bekennt sich zu Jesus Christus, dem Fleisch gewordenen Worte Gottes, dem für uns gekreuzigten, auferstandenen und zur Rechten Gottes erhöhten Herrn, auf den sie wartet. Sie ist gegründet auf das profetische und apostolische Zeugnis der Heiligen Schrift Alten und Neuen Testaments. Sie bekennt mit den Kirchen der Reformation, daß die Heilige Schrift die alleinige Quelle und vollkommene Richtschnur des Glaubens, der Lehre und des Lebens ist und daß das Heil allein im Glauben empfangen wird. Sie bezeugt ihren Glauben in Gemeinschaft mit der alten Kirche durch die altkirchlichen Glaubensbekenntnisse: das apostolische, das nicänische und das athanasianische Bekenntnis. Sie erkennt die fortdauernde Geltung der reformatorischen Bekenntnisse an. Sie bejaht die Theologische Erklärung der Bekenntnissynode der deutschen Evangelischen Kirche von Barmen ... Sie bekennt sich zu der einen, heiligen, allgemeinen, christlichen Kirche, der Versammlung der Gläubigen, in der das Wort Gottes lauter und rein verkündigt wird und die Sakramente recht verwaltet werden. " Der Grundartikel I läßt sich systemtheoretisch als "Identitätsformel" in der Präferenzordnung der Rheinischen Landeskirche auffassen. Die Präferenzordnung sieht die Landeskirche als einen korporativen Akteur, als eigenständig handlungs- und in diesem Fall auch glaubensfähiges Subjekt. Sie legt die Glaubensinhalte dieses Kollektivsubjekts fest. Die Landeskirche glaubt an Jesus Christus, die Heilige Schrift, die drei altkirchlichen Glaubensbekenntnisse, weiß sich den Grundsätzen von Reformation und Barmen 1934 verpflichtet, versteht die Kirche als Versammlung der Gläubigen unter Wort und Sakrament. Im Artikel 14^ wendet sich die Kirchenordnung dann den Aufgaben der einzelnen Gemeindemitglieder zu:

2

In der Fassung vom 20.1.1979. Im Januar 1996 hat die Landessynode den Artikel 14 um einen Artikel 14a ergänzt, der die Kirchenzucht neu regelt, aber nicht abschafft.

1. Kirchenordnung und Mitgliederfrömmigkeit

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"(1) Die Gemeindeglieder tragen die Mitverantwortung für das Leben und den Dienst der Kirchengemeinde. Sie haben ein Anrecht auf den Dienst der Kirche und Anteil an den kirchlichen Einrichtungen. (2) Im Gehorsam gegen Gottes Gebot sollen sie an den Gottesdiensten der Gemeinde teilnehmen, insbesondere auch der Einladung zum heiligen Abendmahl folgen, den Dienst der kirchlichen Liebe üben und sich für die Ausbreitung des Evangeliums mitverantwortlich wissen. 3 (3) Sie sind gerufen, ihr Leben in der Verantwortung zu führen, welche die Glieder der Kirche Jesu Christi vor Gott haben. Sie sorgen dafür, daß sie kirchlich getraut werden, ihre Kinder getauft, christlich erzogen und konfirmiert und ihre verstorbenen Angehörigen kirchlich bestattet werden. (4) Die Gemeindeglieder sind im Rahmen dieser Ordnung an den Entscheidungen über Leben und Dienst der Kirchengemeinde beteiligt, insbesondere nehmen sie an der Gemeindeversammlung gemäß Artikel 130 teil. (5) Die Gemeindeglieder sollen Dienste, die ihnen die Kirchengemeinde überträgt, willig übernehmen und sorgfältig ausüben. Sie haben die Pflicht, durch ihre Abgaben und Opfer den Dienst der gesamten Kirche mitzutragen und zu fördern. " Artikel 14 der Kirchenordnung setzt voraus, daß die Gemeindemitglieder in ihrer persönlichen Frömmigkeit und in ihrem Verhalten dem Selbstverständnis und den Normen des Gesamtsystems entsprechen. Die Glaubensinhalte, die für den korporativen Akteur maßgeblich sind, sollen auch für die angestellten und die nichtangestellten Mitglieder persönlich verbindlich und verbindend sein. 4 Von dieser impliziten, nicht thematisierten Annahme einer homologen Entsprechungsrelation zwischen Systemglaube und Mitgliederglaube sind alle Forderungen getragen: Mitverantwortung für das Leben in der Gemeinde, regelmäßige Gottesdienstteilnahme, diakonisches Engagement, missionarische Aktivität, christliche Ethik und Erziehung, ehrenamtliche Mitarbeit auf Anforderung, willig und sorgfaltig. An diesen Kriterien orientiert sich die Kirche als System, wenn sie sich selbst über den Stand der Religiosität und Kirchlichkeit ihrer Mitglieder informiert. Die Normvorgaben für Mitgliederglaube und Mitgliederverhalten sind aus dem Referenzsystem, der ecclesia invisibilis, abgeleitet. Die Landeskirche formuliert damit ein Selbstkonzept, das in dieser Form von Anbeginn der Christenheit an noch niemals existiert hat, weil es gar nicht existieren konnte - das 3

4

Von der Landessynode Januar 1996 um den folgenden Wortlaut ergänzt: "Die Gemeindeglieder sollen darauf achten, daß die Sonntage und die kirchlichen Feiertage geheiligt werden und alles von ihnen ferngehalten wird, was die Teilnahme am Gottesdienst und die Würde dieses Tages hindert oder beeinträchtigt." Die Diktion des Artikels 14 changiert in auffälliger, aber für eine Landeskirche keineswegs untypischer Weise zwischen Feststellung, Einladung und obrigkeitlicher Anweisung und bringt damit das veraltete Selbstverständnis eines ehemals funktionalen Teilsystems der Staatsgewalt zum Ausdruck.

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VI. Die Religiosität der Kirchenmitglieder

Konzept der ecclesia invisibilis als Sozialsystem. Selbst da, wo sie konkrete Erwartungshaltungen an ihre eigenen Mitglieder formuliert, ist sie sich offenbar ihrer irdischen Sozialgestalt nicht bewußt.5 Sie verzichtet darauf, sich schon programmatisch Rechenschaft über die eigene Unzulänglichkeit und die Wandlungsfähigkeit aller Sozialsysteme zu geben. Sie interessiert sich nicht für den tatsächlichen Zustand der Mitgliederreligiosität, für die persönlichen Einstellungen oder für das Ausmaß der persönlichen Verbundenheit und Organisationstreue. Die volkskirchliche Wirklichkeit und der volkskirchliche Entwicklungsgrad der Landeskirche sind ausgeblendet. Die Impulskraft der Umweltfaktoren, der eigene Systemcharakter (die Netzwerkanbindung an die ecclesia invisibilis), der Systemstatus der Landeskirche als hochkomplexes, gealtertes, kohärenzgeschwächtes Sozialsystem, die stark angewachsene Restkontingenz der Mitglieder usw., all dies bleibt unberücksichtigt. Stattdessen ergeht die verbindliche Erwartung an die Gemeindemitglieder, ihr Glaube solle den altkirchlichen Bekenntnissen und ihr Verhalten den Vorgaben der Kirchenordnung entsprechen. Genau das aber - soviel kann man wohl als bekannt voraussetzen ist nicht der Fall. Nun ist jede Präferenzordnung umweltunabhängig, und das bedeutet auch, daß sie sich keineswegs für ihre signifikanten Umwelten, für den Alltag des Glaubenslebens oder für den Glauben jedes einzelnen Mitglieds interessieren muß. Allerdings, die kontinuierliche Beschäftigung mit Grundgedanken der Systemtheorie wird im Verlauf der Lektüre bereits den Blick dafür geschärft haben, bleibt in Sozialsystemen nichts ohne Folgen. Die Präferenzordnung der Landeskirche hat ihre Umweltunabhängigkeit mit einem grassierenden Relevanzverlust im Alltagsleben des Systems zu bezahlen. Weil sie eben nicht das beschreibt, was der Fall ist, sondern ein Zerrbild ihrer selbst konserviert, stimmt sie mit dem tatsächlichen Glauben und dem tatsächlichen Verhalten der Gemeindemitglieder nur noch rudimentär überein. Ihre kollektive Verbindlichkeit ist stark beeinträchtigt. Die Konsequenzen für die Bewertung der Mitgliederreligiosität, um die es im folgenden gehen wird, liegen auf der Hand. So lange wie sich die Beurteilung der Mitgliederreligiosität und des Mitgliederverhaltens am Maßstab der Präferenzordnung orientiert, kann die Untersuchung kaum etwas anderes zutage fördern als Verfallsdiagnosen und Untergangsszenarios. Die Alltagswirklichkeit der Landeskirchen ist eben nicht so, wie sie nach Maßgabe der Präferenzordnung eigentlich sein sollte. Wieviele Kirchenmitglieder kennen das athanasianische Bekenntnis, auf das sich die Landeskirche verpflichtet? Die Teilnahmefrequenz der Kirchenmitglieder an Gottesdiensten oder am Gemeindeleben liegt heute selten irgendwo einmal über 10%, häufig aber deutlich niedriger. Von kontinuierlicher missionarischer Anstrengung im Alltag oder von der bereitwil-

5

Die Berücksichtigung dieser Einsicht hatte schon im Neuen Testament zu deutlich differenzierteren Selbstbestimmungen des eigenen Kircheseins auf Erden führen können: Unkraut unter dem Weizen (Mt 13,29); Gute und Böse im Gemeinschaftsverband der Gemeinde (Mt 22,10); Judas als einer aus dem Kreis der Zwölf (Joh 6.70).

1. Kirchenordnung und Mitgliederfrömmigkeit

421

ligen Übernahme auferlegter Dienste kann überhaupt keine Rede sein. Die Reihe der gegenläufigen Beobachtungen ließe sich beliebig weiter fortsetzen. Der weit überwiegende Teil der Kirchenmitglieder glaubt weder das, was die Kirchenordnung voraussetzt, noch tut er, was sie erwartet. Mit derartigen Feststellungen würde jede Untersuchung enden müssen, die sich einzig und allein für den Abgleich von Ideal und Alltag interessiert. Wer dagegen auf der Suche nach situationsadäquaten Interventionsmöglichkeiten ist, wird die Präferenzordnung nicht als Maßstab verwenden können. "Das ausdifferenzierte Bild volkskirchlicher Wirklichkeit wahrzunehmen, scheint nötiger denn je"ß

2. Empirische Daten über Religiosität und Kirchlichkeit Der Religionsbegriff ist in sich so schillernd, vieldeutig und facettenreich, daß es der wissenschaftlichen Diskussion bisher noch nicht gelungen ist, einen befriedigenden Konsens über das Begriffsverständnis hervorzubringen. Wer die Religiosität der Kirchenmitglieder untersuchen möchte, muß deshalb vorab darstellen, was er unter "Religion" versteht. In einem ersten Zugriff sollen ein "weiter" Religionsbegriff (2.1) und ein "enger" Religionsbegriff (2.2) unterschieden werden. 7 Beide Religionsverständnisse werden zunächst hinsichtlich ihrer Implikationen für das Verständnis der Religiosität der Kirchenmitglieder vorgestellt.

2.1 Der "weite" Religionsbegriff a) funktionales Religionsverständnis Funktionale Definitionen der Religion, wie sie z.B. Niklas Luhmann vorgelegt hat, repräsentieren ein weites Religionsverständnis. Sie verstehen Religion als ein "System von Glaubenssätzen, Symbolen und Verhaltensweisen ..., das sich auf die Stellung des Menschen in der Welt bezieht, der menschlichen Existenz Sinn und auf die letzten Probleme des Lebens Antworten gibt".8 Ein derartiges Religionsverständnis geht weit über die kirchliche Religiosität und ihr spezifisch christliches Gottesverständnis hinaus. Aber es läßt sich durchaus fruchtbar machen, um die Leistungen der christlichen Religion zu erfassen. Franz-Xaver 6 7 8

Fremde Heimat, Sp. 4/1 R.Kecskes / C.Wolf: Christliche Religiosität: Konzepte, Indikatoren, Meßinstrumente, in: KZS 45/1993, S.271f R.Kecskes / C.Wolf: Religiosität, S.272. Vgl. auch N.Luhmann (s.o. Kap.V 2.1d); U.BoosNünning: Dimensionen der Religiosität. Zur Operationalisierung und Messung religiöser Einstellungen, München 1972, S.20; H.Kaefer: Religion, S.137-177; R.Wuthnow: Sociology of Religion, in: N.J.Smelser (Ed.): Handbook of Sociology, Newbury Park et al. 1988, S.474

422

VI. Die Religiosität der Kirchenmitglieder

Kaufmann hat in diesem Sinn sechs verschiedene Funktionen der christlichen Religion unterschieden: die Funktionen der "Affektbindung oder Angstbewältigung", der "Handlungsfuhrung im Außeralltäglichen", der "Verarbeitung von Kontingenzerfahrungen", der "Legitimation von Gemeinschaftsbildung", der "Kosmisierung von Welt" und der "Ermöglichung von Widerstand oder Protest gegen einen als ungerecht oder unmoralisch erfahrenen Gesellschaftszustand".9 b) religiöse Vorstellungen und Verhaltensweisen Demgegenüber interessieren sich morphologische Ansätze weniger für die Funktionen von Religion als für ihre charakteristischen Ausdrucksformen, Vorstellungen und Verhaltensweisen. Auch sie repräsentieren ein weites Religionsverständnis. Im Sinne derartiger Zuschreibungen läßt sich etwa in sozialen Bewegungen eine "religiöse Aufladung" 10 feststellen, die in ihrem moralischen Rigorismus, ihrer defizitären Fähigkeit zu Differenzierung und Selbstkritik oder in ihrem missionarischen Eifer zum Ausdruck kommt. H Aber auch die Umorientierung persönlicher Sinnprioritäten läßt sich von einem weiten Religionsverständnis her als Transformation von Religiosität beschreiben. Eine solche Umorientierung fand bereits im 19.Jahrhundert statt, als die Familie verstärkt in das Zentrum der Lebenssorge trat (s.o. Kap.I 4b). 12 Nach dem zweiten Weltkrieg verlagerte sich diese innerweltliche Bestimmung des Lebenssinns auf die Generation der Kinder, die es "einmal besser" haben sollten. Sofern man also die Sinnfrage für ein konstitutives Element von Religion hält, kommt man nicht um die Annahme herum, daß die Frage nach dem Sinn des Lebens bereits seit mehr als hundert Jahren nicht mehr im traditionell christlich-kirchlichen Sinne mit Blick auf eine zukünftige persönliche Rechenschaft vor dem Weltenrichter beantwortet werden muß. Neue Antworten sind additiv hinzugekommen, auch wenn sie nur partiell zu echten Alternativen geworden sein dürften. 14

9 10

11

12 13 14

F.-X.Kaufmann: Religion, S.84f Über "religiöse Aufladung" in Bildung und Politik G.Schmidtchen: Machtverlust der Kirche und religiöse Entwicklung der Gesellschaft, in: M.Seitz / L.Mohaupt (Hg.): Gottesdienst und öffentliche Meinung, Stuttgart u.ö. 1977, S.38 und S.40 Während ich an diesem Kapitel arbeite, erscheint eine Ausgabe des "Spiegel" mit dem Cover-Thema "Feldzug der Moralisten - Vom Umweltschutz zum Öko-Wahn" (Nr.39 vom 25.9.95) Über weitere Inhalte "säkularer" Religiosität zu Beginn des 20.Jahrhunderts: T.Nipperdey: Religion im Umbruch. Deutschland 1870-1918, München 1988, S. 136-153 Vgl. H.Meulemann: Wertwandel in der Bundesrepublik zwischen 1950 und 1980: Versuch einer zusammenfassenden Deutung vorliegender Zeitreihen, in: D.Obemdörfer u.a.(Hg.): Wandel, S.403 Erstaunlicherweise wird die Frage nach dem Sinn des Lebens selbst in neueren empirischen Untersuchungen noch zur Messung der christlichen Religiosität verwendet, obwohl sich christlicher Glaube und säkulare Sinndefinitionen bereits seit mehr als 100 Jahren weder bedingen noch ausschließen: Variable 217 im Allbus 1980-92 (S.213) und R.Kecskes / C.Wolf: Religiosität, S.285: Dimensionen der religiösen Erfahrung, Variable F

2.1 Der "weite" Religionsbegriff

423

c) Religion und Weltanschauung - sozialpsychologisches Religionsverständnis Das sozialpsychologische Religionsverständnis hat überraschende Übereinstimmungen zwischen nationalsozialistischen bzw. kommunistischen Ideologien und dem (christlichen) Sektenmilieu aufgedeckt: "Die Kommunikation der Individuen mit der Umwelt wird gesteuert... Die Leitung verdeutlicht, daß sie eine höhere Einsicht in das Ziel und den Sinn des Lebens hat ... Schwarz-Weiß-Denken ... Schuldgeständnisse ... Jede totalitäre Ideologie umgibt sich mit der Aura von Heiligkeit und von Unantastbarkeit... Bestimmte Worte werden mit anderen, neuen Klischees versehen ... Die übergeordnete Doktrin [bestimmt] das Leben ... [Es wird] eine scharfe Grenze gezogen zwischen jenen Menschen, die in das eigene Weltbild passen, die dazu gehören und jenen, denen die Existenzberechtigung aberkannt w i r d " . Kurt-Helmuth Eimuth hat gezeigt, daß diese acht Kriterien, die der Psychiater Robert Lifton durch Analyse des chinesischen Kommunismus gewonnen hat, auch brauchbar sind, um religiöse Sekten zu identifizieren und sie von christlichen Großkirchen zu unterscheiden. Das bedeutet aber auch, daß totalitäre Ideologien eindeutig von und mit religiösen Strukturen leben, daß sie selbst im Sinne eines weiten Religionsverständnisses - "religiös" sind. Ihre in vielfacher Hinsicht massiv antikirchliche oder antichristliche Grundhaltung wäre damit motiviert. Von der religiösen Qualität totalitärer Weltanschauungen her fällt ein interessantes Schlaglicht auf die neuere deutsche Geschichte. Die religiöse Qualität des DDR-Sozialismus ist zu berücksichtigen, wenn man danach fragt, warum die Menschen in der ehemaligen DDR sich auch nach "der Wende" weiterhin massiv von den christlichen Kirchen fernhalten, obwohl sie deren Existenz doch in Anspruch genommen haben, um die Wende selbst herbeizuführen ("Montagsdemonstrationen" - 9.10.1989). 1950 waren "auf dem Gebiet der ehemaligen DDR noch 11% der Bevölkerung katholisch, 80,6% waren evangelisch und nur 7,6% k o n f e s s i o n s l o s " . ^ 1 9 9 1 waren nach Ausweis der AllbusU m f r a g e ^ 5,5% katholisch, 27% evangelisch und 64,7% konfessionslos.^ Die Statistik weist also einen gewaltigen Niedergang der Mitgliederzahlen während der Zeit der sozialistischen Diktatur in der ehemaligen DDR aus. 19 15 16 17 18 19

K.H.Eimuth: Psychische Kindesmißhandlung - Autoritäre Religionen lassen Kindern keine Chance, Frankfurt ^1994, S.6-8 (Bezugsanschrift: Evgl. Arbeitsstelle für Religions- und Weltanschauungsfragen, Saalgasse 15,60311 Frankfurt/M.) MTerwey: Zur aktuellen Situation von Glauben und Kirche im Vereinigten Deutschland, in: ZA-Information Nr.30, Köln 1992, S.61 Erläuterung der Abkürzung s.o.Anm.2 M.Terwey: Situation, S.61 Nicht nur die DDR, auch andere politische Systeme haben die Kirchlichkeit der Menschen negativ beeinflußt. Man denke etwa an Frankreich, das Franco-Spanien oder den Nationalsozialismus - W.Jagodzinski / K.Dobbelaere: Der Wandel kirchlicher Religiosität in Westeuropa, in: J.Bergmann u.a. (Hg.): Religion und Kultur (KZS SH 33), Opladen 1993, S.79

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VI. Die Religiosität der Kirchenmitglieder

Zur Deutung dieses Befiindes sind sicherlich eine ganze Reihe von Faktoren in Rechnung zu stellen. Die evangelische "Junge Gemeinde" wurde in den 50er Jahren als religiöse Tarnorganisation diffamiert. Ihre Mitglieder wurden unmittelbarem Druck ausgesetzt und mit massiven Benachteiligungen in der Berufsausbildung bedroht. Die Beteiligung an der Jugendweihe wurde gegen Ende der 50er Jahre politisch forciert. Die ehemalige DDR hat sich mit dem Mittel der Ausreisegenehmigung im Alter gezielt ihrer Unterstützungsverpflichtungen gegenüber der älteren Generation entzogen. Mit dem Weggang der Alten gingen nicht allein Kirchenmitglieder, auch die familialen Traditionsketten, ein bedeutsamer Faktor in der religiösen Sozialisation der Enkelgeneration^O wurde geschwächt. Aber nicht allein diese und andere Details sind von Gewicht, auch die Erklärung mit Hilfe des weiten Religionsverständnisses ist bedeutungsvoll. Die Daten der 91er Allbus-Umfrage lassen vermuten, daß ein hoher Prozentsatz der ostdeutschen Bevölkerung im Verlauf der Jahrzehnte zum sozialistischen "Credo" übergetreten ist. Michael Terwey schreibt: "Unter den Bürgern aus der ehemaligen DDR steht der Glaube an die sozialistische Idee auch multivariat noch in signifikanter negativer Beziehung zum Gottesglauben".21 Hier liegt demnach eine echte Konkurrenz von zwei "Weltanschauungen" vor, die von den Menschen in der ehemaligen DDR selbst als weitgehend heterogen und inkompatibel empfunden worden sind. Interessant ist demgegenüber das Ergebnis der dritten EKD-Umfrage: Gefragt nach ihren Austrittsgründen antworteten von 218 ausgetretenen Ostdeutschen 90%, es träfe nicht (!) zu, daß sie "eine andere religiöse Überzeugung gefunden" hätten.22 Offensichtlich waren und sind sich die Ausgetretenen des religiösen Charakters ihrer sozialistischen Überzeugungen nicht bewußt. Darüberhinaus wird die Vermutung kaum von der Hand zu weisen sein, daß die Bevölkerung der neuen Bundesländer nach der jahrzehntelangen Erfahrung nationalsozialistischer und nahtlos anschließender sozialistisch-kommunistischer Herrschaft nun bestrebt ist, möglichst allen Sozialsystemen aus dem Weg zu gehen, die einen Anspruch auf "Leib und Seele" formulieren (könnten), die die Menschen vereinnahmen möchten oder doch zumindest Affinitäten in dieser Richtung nicht ausschließen können (landesherrliches Kirchenregiment). Die Landeskirchen in den neuen Bundesländern stehen deshalb heute vor der immens schwierigen Aufgabe, eine verbreitete Ablehnung und ein tiefsitzendes Mißtrauen zu überwinden. Sie haben dauerhaft und verläßlich zu beweisen, daß sie sich nicht in der Ecke totalitärer Ideologie oder weltanschaulich Vorgestriger befinden. Viel Behutsamkeit, eine reflektiert programmatische Gemeindearbeit und ein sensibles Auftreten in der Öffentlichkeit werden erforderlich sein, um die Folgewirkungen der Geschichte zu überwinden. Es ist kaum vorstellbar, wie in einer solchen Situation die Hinwendung zu volksmissionarischen Strate-

20 21 22

F.X.Kaufmann: Religion, S.37f (Lit.); C.Wolf: Religiöse Sozialisation, konfessionelle Milieus und Generation, in: Zeitschrift für Soziologie 24/1995, S.345-357 M.Terwey: Situation, S.76; vgl. zur Datenbasis S.68-70 Fremde Heimat, S.54

2.1 Der "weite" Religionsbegriff

425

gien (und den mit ihnen traditionell verbundenen Verpflichtungen auf ein kirchliches Glaubensleben) erfolgreich sein kann. Kaum etwas ist schwerer zu überwinden als Mißtrauen. Kaum etwas ist schwerer herzustellen als Vertrauen. d) Religion als Ethik Die religiöse Qualität ethischer Grundüberzeugungen ist im Christentum in Form einer ethischen Zweitcodierung seit Anbeginn verankert. Zum Glauben an Christus gehörte immer auch die Selbstverpflichtung auf seine ethischen Weisungen, auf das Dienstgebot und das Liebesgebot. Jesus stand damit selbst bereits in einer Traditionskette, die sich auf die alttestamentlichen Profeten zurückführen läßt. Auch die Profeten predigten die Heiligung des Alltags durch ein gottgerechtes Leben. Sie konnten diese Forderung sogar schon explizit gegen die Erstcodierung des Religionssystems, gegen Liturgie und kultisch-religöse Frömmigkeitspraxis stellen: "Ich hasse, ich verschmähe eure Feste und mag eure Feiern nicht riechen ... Hinweg mit dem Geplärr deiner Lieder! Das Spiel deiner Harfen mag ich nicht hören! Es ströme aber das Recht wie Wasser und die Gerechtigkeit wie ein unversieglicher Bach!" (Amos 5,21 und 23f) Das aber bedeutet, daß die Ethik im jüdisch-christlichen Kulturraum schon traditionell eine religiöse Qualität besitzt. Der religiöse Mensch, der in diesem Traditionsstrom steht, ist immer auch ein ethisch bewußter Mensch gewesen. Nachdem der gemeinsame Konsens über die maßgeblichen Glaubensinhalte nicht zuletzt auch aufgrund der Parasiten im protestantischen Religionssystem zerfallen war und darüber auch die religiöse Erstcodierung Schaden genommen hatte (s.o. Kap.IV 4.2b), war, wie dargestellt worden ist, lediglich die ethische Zweitcodierung intakt geblieben. Jahrhundertelang hatten die Kirchengemeinden im Interessenverbund mit der staatlichen Obrigkeit gegen Sittenverfall und Laster aller Art gestritten. Im 19.Jahrhundert hat sich dann der Typus eines sich selbst ethisch definierenden Christentums rasant verbreitet. Als "Moralprotestantismus" etikettiert und als "bürgerliches Christentum" kritisiert, fand innerhalb des Protestantismus eine Umorientierung von der verschlissenen Erstcodierung hin zur nach wie vor plausiblen Zweitcodierung statt. Christsein bedeutete schon im 19.Jahrhundert mehr als alles andere, ein "guter Mensch" und kein "schlechter Mensch" zu sein. Das Gegensatzpaar war interpretationsoffen genug, um im Laufe der Jahrzehnte die vielfältigsten Um- und Neudefinitionen dessen zu verkraften, was einen "guten" Menschen denn inhaltlich vom "schlechten" Menschen unterscheidet. Bis heute ist die Selbstdefinition der Kirchenmitglieder als "Christen" in ihrer Affinität zu den als "christlich" betrachteten Werten tief verwurzelt. Die 3.EKD-Umfrage unter Kirchenmitgliedern hat wieder die Frage gestellt, was denn unbedingt dazu gehört, evangelisch zu sein. In der Antwortskala folgt an dritter und vierter Stelle mit Zustimmungsraten von jeweils über 75 % der Befragten: "... daß man sich bemüht, ein anständiger und zuverlässiger Mensch zu sein" und "...daß man seinem Gewissen folgt". Höhere Zustimmungsraten

426

VI. Die Religiosität der Kirchenmitglieder

erhalten lediglich die Ansichten, daß man getauft und konfirmiert ist. Die Identifikation des Ethischen mit dem Christlichen, die indexalische Überlagerung der religiösen Erstcodierung mit der ethischen Zweitcodierung, gehört unter den Kirchenmitgliedern zu den am weitesten verbreiteten Standards ihres religiös-christlichen Selbstverständnisses. Diese Ansicht rangiert weit vor genuin religiösen Verhaltensweisen wie Gottesdienstbesuch (Zustimmung lediglich 36%) oder Bibellesen (21%).23 Ein wenig plakativ formuliert: ein Christ läßt seine Kinder taufen und konfirmieren. Er folgt seinem Gewissen, und er bemüht sich darum, als guter Mensch zu leben. Das macht ihn zum Christen. Ob er darüber hinaus auch noch in den Gottesdienst geht, ist "Privatsache".

2.2 Der "enge" Religionsbegriff - Umfragedaten zum Gottesglauben und zum Glaubensbekenntnis Der enge Religionsbegriff orientiert sich demgegenüber an der Gottesvorstellung. Religion hat es im engen Sinne stets in irgendeiner Weise mit Gott zu tun. Wenn man im Anschluß an Rudolf Otto24 oder Mircea Eliade^ von Gott als von dem "Heiligen" spricht, kann man auch sagen, daß Religion stets dem Heiligen verpflichtet ist. Von ihm her und auf es hin denkt, fühlt und lebt der religiöse Mensch. In der gegenwärtigen Kultur hat sich die Gottesvorstellung in zahlreiche Facetten ausdifferenziert, die zeitgleich nebeneinander existieren. Gott wird personal geglaubt, monotheistisch, trinitarisch und deistisch-transzendent, aber auch als göttliches Wesen, als göttliche Kraft und schließlich auch als göttliche Kraft im Menschen. Auch wenn die christliche Theologie das Vorstellungsspektrum qualitativ zu gewichten gewohnt ist und keineswegs bereit ist, alle diese Gottesvorstellungen auch als "christliche" Vorstellungen im theologisch verantworteten Sinne zu akzeptieren, läßt sich doch nicht bestreiten, daß sie alle aus der Glaubensgeschichte des Christentums hervorgegangen sind und auch alle Bezugspunkte in biblischen Zeugnissen besitzen. Empirische Untersuchungen der Religiosität der deutschen Bevölkerung orientieren sich in der Regel am letztgenannten engen Religionsbegriff. Es wird also nach der Einstellung zum Heiligen in seinen unterschiedlichen Facetten gefragt, nicht nach der Verbreitung religiöser und quasi-religiöser, weltanschaulicher Überzeugungen und Verhaltensweisen. Gemessen an einem weiten Religionsverständnis ist nicht zu bestreiten, daß die Religion auch heute noch in der Gesellschaft tief verwurzelt ist. Gerade die Anhänger antikirchlicher Weltanschauungen oder radikal-rationaler Wirklichkeitskonstruktion sind relativ leicht 23 24 25

Fremde Heimat, S.20. Die Orientierung am "Gewissen" beinhaltet auch nicht unbedingt die Orientierung an den 10 Geboten. Nur etwa jeder Zweite stimmt der Ansicht voll zu, zum Evangelisch-Sein gehöre es, "nach den 10 Geboten zu leben". R.Otto: Das Heilige (1917), München 28 1958 M.Eliade: Die Religionen und das Heilige (1954), Darmstadt 1976

2.2 Der "enge" Religionsbegriff - Glauben an Gott

427

als Verkünder alter und neuer Mythologien zu erkennen. Aber auch vom engen Religionsbegriff her läßt sich problemlos zeigen, daß die Religiosität in der Bevölkerung keineswegs nachläßt oder gar im Verschwinden begriffen ist. Vielmehr scheint sich ein Transformationsprozeß der Verständnisinhalte zu vollziehen, der, in grober Zuweisung, von der Vorherrschaft eines personalen Gottesverständnisses zur Dominanz eines dynamistischen Gottesverständnisses führt. a) personaler Gott - höheres Wesen - höhere Kraft Der Glaube an "Gott" - im weitesten Sinn des Begriffs - ist im christlichen Westeuropa nach wie vor weit verbreitet. Das Spektrum reicht von Irland (ca. 95%) über Italien (ca 90 %), Deutschland und Großbritannien (ca. 75-80%), Norwegen und Dänemark (ca. 60%) bis hin zu Frankreich (ca. 50%). Westdeutschland nimmt also im internationalen Vergleich einen Mittelplatz ein. In den neuen Bundesländern haben Nationalsozialismus und Sozialismus dagegen tiefe Löcher gerissen. In ganz Westeuropa liegen die Zustimmungsquoten zu einem "persönlichen" Gott dagegen deutlich niedriger als die Zustimmung zu einem entpersonalisierten Gottesbegriff. 26 Das bedeutet, unter der Decke vermeintlicher Glaubensstabilität vollzieht sich europaweit ein Prozeß der Neuinterpretation, in dem die personalen Gottesvorstellungen (Gott als Vater bzw. Christus als Gott) verstärkt durch entpersonalisierte Vorstellungen ("höheres Wesen") oder dynamistische Vorstellungen ("höhere Kraft") ersetzt werden. Das Kommunikationsmedium der christlichen Kirchen ("Gott") wird semantisch zunehmend entpräzisiert. Die dritte EKD-Umfrage hat ergeben, daß das in der evangelischen Kirche nicht anders ist. Besonders jüngere Mitglieder und solche, die sich selbst als "weniger stark verbunden" bezeichnen, rücken von den personalen Gottesvorstellungen ab. Während in den Altersklassen über 60 und über 70 Jahren jeder zweite oder gar zwei von drei Befragten der Aussage zustimmten: "Ich glaube, daß es einen Gott gibt, der sich in Jesus Christus zu erkennen gegeben hat", ist es von den 14- bis 29-Jährigen nur etwa jeder vierte Befragte. Demgegenüber stimmt jeder dritte 14- bis 29-Jährige der Aussage zu: "Ich glaube an eine höhere Kraft, aber nicht an einen Gott, wie ihn die Kirche beschreibt. " Von den über 60- und über 70-Jährigen waren es nur 21 bzw. 11 Prozent. b) individueller Umgang mit dogmatischen Glaubensvorstellungen Nach Wolfgang Jagodzinski und Karel Dobbelaere gibt es in ganz Westeuropa einen länderübergreifenden Trend: der Glaube an einen persönlichen Gott korreliert mit der Kirchgangshäufigkeit. Je häufiger jemand den Gottesdienst be26 27

W. Jagodzinski / K.Dobbelaere: Wandel, S.86 Während andere Kommunikationsmedien wie z.B. das "Geld" sich ausdifferenzieren: Bargeld - Guthaben - Anleihe usw. - H.Willke: Systemtheorie, S.225-244

428

VI. Die Religiosität der Kirchenmitglieder

sucht, desto eher glaubt er auch an einen personalen Gott. Je weniger jemand den Gottesdienst besucht, desto eher hat er inhaltlich abweichende Vorstellungen. "Diejenigen, die nicht mehr in die Kirche gehen, glauben zu einem erheblich geringeren Prozentsatz an Gott als die unregelmäßigen oder gar die regelmäßigen Kirchgänger, und sie glauben fast überhaupt nicht mehr an einen persönlichen Gott". Eine Tabelle aus der EKD-Umfrage weist in die gleiche Richtung: 7% der befragten Ausgetretenen (zu unterscheiden von den schon immer Konfessionslosen) geben an, an Christus zu glauben, 11% an Gott, und 46% an eine "höhere Kraft".29 Einen ähnlichen Trend erkennen Jagodzinski und Dobbelaere auch hinsichtlich der Übereinstimmung mit traditionellen Inhalten des christlichen Glaubens. Auch der Glaube an ein "Leben nach dem Tod" oder der Glaube an "Schuld und Sünde" nimmt mit nachlassender Kirchgangshäufigkeit a b . R e duzierte Kirchgangshäufigkeit wäre mithin als persönliches Eingeständnis zu werten, daß man die "kirchenoffiziellen" Inhalte des christlichen Glaubens nur noch im (sehr) eingeschränkten Maß teilt. Sollte diese Hypothese zutreffen, bedeutet das, daß in Anbetracht der äußerst niedrigen Gottesdienstteilnahmefrequenz in den Hauptgottesdiensten europaweit (!) - also in katholischen, in protestantischen und in gemischt-konfessionellen Ländern - unter den Kirchenmitgliedern eine massive Erosion der ursprünglichen christlich-jüdischen Glaubensinhalte stattgefunden hat und auch weiterhin stattfindet. In der EKD haben 1992 11% der Evangelischen im Westen und 7% der Evangelischen im Osten angegeben, "jeden oder fast jeden Sonntag" in den Gottesdienst zu gehen. 31 Während an der Oberfläche mit Blick auf die Mitgliederzahlen möglicherweise immer noch der Eindruck dominiert, die Landeskirchen seien weithin "stabil", ist doch hinsichtlich der Inhalte des christlichen Glaubens längst schon "Feuer unter dem Eis". Von einer pauschalen Zustimmung zum militärischen Glaubensbekenntnis kann überhaupt nicht mehr die Rede sein. Ein Untersuchungsergebnis der dritten EKD-Umfrage bestätigt das für die evangelischen Kirchenmitglieder. Der Glaube, "daß die Aussagen der Bibel und des Glaubensbekenntnisses wahr und gültig sind", sinkt von einer Zustimmungsrate von über 70% bei denen, die sich der Kirche "sehr" verbunden wissen, über 57% und 26% bei den "ziemlich" und "etwas verbundenen" auf 8% und 6% bei den "kaum" und "gar nicht" verbundenen Kirchenmitgliedern ab. 32 In den mittleren und niedrigen Verbundenheitsgraden zwischen "ziemlich verbunden" und "gar nicht verbunden" läßt sich mit einer relativ konstanten 28 29 30 31 32

W.Jagodzinski / K.Dobbelaere: Wandel, S.89; vgl. S.86-89. Daten der Spiegel-Umfrage 1992, S.41 und S.44 bestätigen das. Fremde Heimat, S.56; Daten für Europa bei W.Jagodzinski / K.Dobbelaere: Wandel, S.87 W.Jagodzinski / K.Dobbelaere: Wandel, S.88 Fremde Heimat, S.30 Fremde Heimat, S. 13

2.2 Der "enge" Religionsbegriff - Glauben an Gott

429

Zustimmungsrate zwischen 25% und 35% sogar so etwas die die Existenz einer hermeneutischen Grundregel für den Umgang mit christlichen Glaubensinhalten ausmachen: "Jede Religion hat Stärken und Schwächen. Man sollte sich das jeweils Beste h e r a u s h o l e n " . 3 3 Die Religion wird als eine Art von Marktstand angesehen, aus dessen reichhaltigem Angebot man sich das heraussucht, was einem persönlich brauchbar und nützlich erscheint. Die Anwendung dieser Grundregel auf die Inhalte des Glaubensbekenntnisses könnte in beiden Konfessionskirchen sogar noch deutlich weiter verbreitet sein, als diese Zahlen es vermuten lassen. Uwe Lindloge hat Statements zum Christusglauben, zum Glauben an die Jungfrauengeburt und zum Glauben an die Auferstehung der Toten aus zwei Umfragen der Jahre 1967 und 1980 einer Sekundäranalyse unterzogen. 34 Dabei zeigte sich, daß alle Glaubensaussagen einen Interpretationsspielraum zulassen. Es gibt nicht nur die Möglichkeit der Zustimmung oder der Ablehnung eines Glaubensartikels. Vielmehr liegen zwischen diesen beiden Polen in allen Fällen Möglichkeiten der persönlichen Interpretation. Zwischen Überzeugungen wie "Jesus war Gottes Sohn" (orthodox) und "Jesus war irgendein Mensch, der für mich keine Bedeutung hat" (Ablehnung) liegt z.B. die Annahme: "Jesus war ein großer Mensch, der die Menschen zum Guten führen wollte. Er kann mir heute noch Vorbild sein".35 Lindloge konnte zeigen, daß im Jahresvergleich Formen der orthodoxen Zustimmung zu den Inhalten des Glaubensbekenntnisses abgenommen haben, während persönlich relativierte Vorstellungen oder auch Ablehnungen zugenommen haben. Die inhaltliche Akzeptanz ist rückläufig, ohne jedoch sofort oder in jedem Fall in Totalablehnung umzuschlagen. Diese individuelle Aneignung von Glaubensüberzeugungen aber ist in den protestantischen Kirchen längst schon gewollt. Die evangelischen Christen scheinen in erheblichem Umfang von der Interpretationskompetenz Gebrauch zu machen, die ihnen in den vergangenen Jahrhunderten theologisch, kirchlich und nicht zuletzt auch staatsrechtlich zugesprochen worden ist. Allerdings machen sie nicht im kirchenoffiziellen Sinne von ihr Gebrauch. Sie üben sich weniger im bibelfesten, wortorientierten Glauben als in der Neuinterpretation, der Spiritualisierung, Metaphorisierung und Personalisierung der traditionellen Inhalte des Glaubensbekenntnisses. Und sie nehmen sich, durchaus selektiv, die Freiheit, einzelne Artikel auch schlicht abzulehnen. Im Umgang der Kirchenmitglieder mit Glaubensaussagen sind zwei allgemeine Trends erkennbar. Zum einen eine Präferenz für semantisch offene Glaubensaussagen : 33 34 35

Fremde Heimat, S. 13 U.Lindloge: Was wird aus dem Glauben? in: J.Matthes (Hg.): Kirchenmitgliedschaft, S.265312; vgl. Spiegel-Umfrage 1992, S.41 Die Existenz derartiger Spielräume im Verständnis der Bibel belegt auch die Allbus-Umfrage 1991. "Die Bibel ist das Wort Gottes und muß wörtlich genommen werden" (12,5% West und 7,5% Ost). "Die Bibel ist durch das Wort Gottes inspiriert, aber nicht alles sollte wörtlich genommen werden" (45,1% und 20,3%). "Die Bibel ist ein altes Buch mit Fabeln, Legenden, Geschichten und moralischen Lehren, die von Menschen niedergeschrieben wurden" (33,9% und 43%). "Das betrifft mich nicht" (8,5% und 29,2%). - Allbus 1991, S.328

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VI. Die Religiosität der Kirchenmitglieder

"Je eindeutiger, dogmatischer, absoluter eine Glaubensaussage klingt, mit desto mehr Ablehnung muß sie bei zunehmender innerer Entfernung von der Kirche rechnen ... Je offener eine Glaubensaussage erscheint, je mehr Spielräume sie läßt, desto attraktiver ist sie für eine große Gruppe der Jüngeren, der Höhergebildeten, der Kirchenfernen, selbst der Konfessionslosen". Zum anderen auch eine Neigung zur Relativierung und damit zur inneren Aufweichung oder zur Temporalisierung der Glaubensnorm. Mit absinkendem Verbundenheitsgrad findet die Behauptung "feste Glaubensüberzeugungen machen intolerant" eine kontinuierlich ansteigende Zustimmung. Sie steigt von 11% bei den "sehr Verbundenen" bis auf 39% bei den Konfessionslosen.Schließlich gibt es auch noch die Möglichkeit der Bejahung oder Verneinung unter innerem Vorbehalt: Die Allbus-Umfrage 1991 arbeitete mit einer Skala, die den Befragten die Möglichkeit gab, die Frage, ob es ein Leben nach dem Tod, einen Teufel, den Himmel, die Hölle und Wunder gibt, als "wahrscheinlich" zu bejahen oder zu verneinen. Zwischen 25% und 35% der Befragten machten bei den ersten vier Vorstellungen, fast 50% machten bei der Frage nach der Möglichkeit von Wundern von dieser Möglichkeit Gebrauch. Mit den Stichworten Selektion, persönliche Interpretation, Relativierung und Zustimmung oder Ablehnung unter Vorbehalt sind grundlegende Aspekte des zeitgenössischen Umgangs mit alten christlichen Glaubensvorstellungen benannt. c) Dynamik und Temporalisierung der Gottesvorstellung Zurück zur Gottes Vorstellung. Der Glaube an Gott ist nicht nur etwas Statisches, sondern auch etwas Wandelbares, etwas, das man gewinnen, aber auch verlieren kann. Der Glaube an Gott ist umstritten und bestreitbar. Er unterliegt dem Zweifel, aber auch dem Selbstzweifel. Wenn man sich das klar macht, wird deutlich, daß empirische Umfragedaten eine Starrheit und Konstanz vorspiegeln, die es in dieser Form hinsichtlich des Glaubens an Gott gar nicht gibt. In der dritten EKD-Umfrage gaben 25% bis 35% der Befragten in den Altersgruppen zwischen 14 und 49 Jahren an, "ich glaube an Gott, obwohl ich immer wieder zweifle und unsicher werde". Bei den über 60-Jährigen waren es etwa 20 Prozent.39 Die 91er Allbus-Umfrage hat zwischen Glauben in der Gegenwart und Glauben in der Vergangenheit gefragt. 23,4% der Befragten (alle Konfessionen und Nichtkonfessionelle) in den alten und 24,9% in den neuen Bundesländern gaben an, sie glaubten nicht an Gott, hätten aber früher an ihn geglaubt. 9% und 5% gaben an, sie glaubten, hätten aber früher nicht an Gott

36 37 38 39

Fremde Heimat, Sp. 13/1 Fremde Heimat, S. 13 Vgl. die Tabelle in M.Terwey: Situation, S.67 Fremde Heimat, S.14; Allbus 1991: "Manchmal ja - manchmal nein": West 9,2 Ost 8,8%; Zweifel: West 21,3 Ost 9,0% - S.322

2.2 Der "enge" Religionsbegriff - Glauben an Gott

431

gibt Lebensphasen, die die Affinität der Menschen zu Religion und Kirche deutlich ansteigen lassen, etwa die Phasen der Kindheit, der ersten Elternschaft und des hohen Alters.41 Daß sich die Religiosität der Menschen auch mit der Lebenslaufgeschichte ihrer jeweiligen Altersgruppe verändert, ist im internationalen Vergleichsmaßstab n a c h g e w i e s e n . A u c h über der Beschäftigung mit harten Zahlen und statistischen Prozenten sollte also das Wissen um den dynamischen Charakter von Glaubenseinstellungen nicht verlorengehen. geglaubt.Es

d) Hermeneutik der Gottesvorstellung 1. Das Göttliche im Menschen: In der Allbus-Umfrage 1992 sind zwei Interpretationen der Gottes V o r s t e l l u n g angeboten worden, die Gott in das Innere des Menschen verlagern. Beide Statements erhielten hohe Zustimmungsraten. Dem Deutungsangebot "Gott ist lediglich in der Herzen der Menschen" stimmten "voll und ganz" bzw. "eher" zu: 61,8% der Befragten West und 54,2% Ost. Ablehnend oder eher ablehnend waren 18,9% (West) und 23,5% (Ost). 43 Der Interpretationsvorgabe "Gott ist nur das Wertvolle im Menschen" stimmten 42,7% (West) und 40,1% (Ost) tendenziell oder ganz zu. 4 4 Ablehnend oder skeptisch waren 31% (West) und 32,5% (Ost). Die Zustimmungsraten geben einen Hinweis auf den weit fortgeschrittenen Prozeß der Uminterpretation der christlichen Gottesvorstellung. Die Vorstellung, daß Gott im Menschen selbst angesiedelt ist, in seinem Herzen und seinem ethischen Wollen (Gewissen), ist auch in kirchlichen Kreisen weit verbreitet. Sie paßt zur Ethisierung des Protestantismus im 19. Jahrhundert. Wie aber verträgt sich der Befund mit der hohem Zustimmung zur Gottesvorstellung einer "höheren Kraft", neben der immerhin auch noch eine relativ weite Verbreitung personaler Gottesvorstellungen festzustellen war? Nimmt man sämtliche Werte zusammen, dann erhält man Zustimmungsraten von deutlich mehr als 100 Prozent der Befragten. Wer anders fragt, bekommt offensichtlich andere Antworten zu hören. Das aber bedeutet, daß die Menschen heute Schwierigkeiten haben, sich hinsichtlich ihrer eigenen Gottesvorstellung inhaltlich präzise festzulegen. Nachdem die christliche Überleitungssemantik zerbrochen ist und der Glaube an Jesus Christus nicht mehr die einzige innerkirchlich legitime Möglichkeit ist, an Gott zu glauben, ist auch die semantische Präzision der Gottesvorstellung verloren gegangen. In erheblichem Maße scheinen sich konkurrierende Gottesvorstellungen in den christlichen Konfessionskirchen heute zu überlagern. Sie existieren in den Köpfen der Menschen ne40 41

42 43 44

M.Terwey: Situation, S.63 L.J.Waite: Religious Participation in Early Adulthood: Age and Family Life Cycle Effects on Church Membership, in: American Sociological Review 60/1995, S.84-103; W.Gebhardt: Stabile volkskirchliche Milieus. Einstellungen zu Religion und Kirche in einer westdeutschen und einer ostdeutschen Gemeinde, in: PrTh 29/1994, S.285-300 W.Jagodzinski / K.Dobbelaere: Wandel, S.79-85 Allbus 1992, S.84 Allbus 1992, S.82

432

VI. Die Religiosität der Kirchenmitglieder

beneinander und verharren dort in einem ungeklärten Verhältnis zueinander. Das spricht dafür, daß Klarheit nicht mehr mit letztem Ernst angestrebt wird. Es sieht so aus, als ob man zunehmend damit zufrieden ist, "irgendwie" an Gott zu glauben und erst in der Fragesituation selbst darüber nachzudenken, was das denn inhaltlich bedeutet. Eines ist jedenfalls unstrittig: Vom personalen Glauben an den trinitarischen Gott des Nicänums ist ein großer Teil der Kirchenmitglieder meilenweit entfernt. Das oben unter Punkt b.) vorgestellte hermeneutische Prinzip der persönlichen Glaubensfreiheit und der persönlichen Interpretation macht auch vor der Gottesvorstellung selbst nicht Halt. Es reicht bis hin zu der Freiheit, so lange nicht über den eigenen Gottglauben nachzudenken, bis man von außen mit einem Deutungsangebot konfrontiert wird. e) Spirituelle Erfahrungen mit einer höheren Kraft Wer sich vom personalen Gottesverständnis getrennt hat, hat damit keineswegs bereits ein neues tragfähiges Verständnis gewonnen. Er besitzt in der Annahme eines "höheren Wesens" oder einer "höheren Kraft" lediglich semantische Platzhalter, Leerstellen, die auf konkrete inhaltliche Füllung angewiesen sind. Diese Ansicht wird durch eine Frage aus dem Allbus 1991 möglicherweise bestätigt. Hier wurde gefragt: "Wie oft hatten Sie das Gefühl, einer mächtigen geistigen Kraft ganz nahe zu sein, die Sie irgendwie aus Ihrem Selbst herauszuheben schien?" 81,8% im Westen und 93,2% im Osten antworteten "nie in meinem L e b e n " . 4 5 j) a d¡ e Zustimmungsraten zur Annahme einer "höheren Kraft" aber in allen Umfragen weitaus höher liegen, läßt sich aus den Zahlen herauslesen, daß viele von denen, die behaupten, an die Existenz einer höheren Kraft zu glauben, mit dieser Formulierung keine sporadische oder regelmäßige spirituelle Erfahrung verbinden. Man möchte vermuten, der Begriff wird verwendet, weil er "salonfähig" ist. Er ist selbst ein "irgendwie". Man glaubt "irgendwie", und weil es zur Zeit zumindest in einigen Kreisen (jüngere und geringer Verbundene) der Bevölkerung im Trend zu liegen scheint, glaubt man an eine "höhere Kraft", ohne jedoch inhaltlich etwas damit verbinden zu können. Aber auch die positiven Zustimmungsraten sollten nicht ganz übergangen werden. Immerhin gibt nahezu jeder fünfte im Westen an, eine persönliche Erfahrung mit der "höheren Kraft" gemacht zu haben. f) Glaube an "übersinnliche" Zusammenhänge "Religion boomt" stellt die Vorabauswertung der dritten EKD-Umfrage plakativ fest. Auf dem Markt der religiösen Angebote tummeln sich fernöstliche Weisheiten und Meditationstechniken, "New Age", Spiritismus und Okkultismus, Pendel und Tarotkarten, Edelsteine, Bachblüten und vieles andere. Es handelt sich bei alledem keineswegs um Phänomene, die nur außerhalb der Kirchen45

Allbus 1991, S.337

2.2 Der "enge" Religionsbegriff - Glauben an Gott

433

pforten anzutreffen sind. Die dritte EKD-Umfrage hat festgestellt: "Mehr als ein Viertel aller westdeutschen evangelischen Kirchenmitglieder hat Erfahrungen mit jenem bunten Spektrum religiöser, esoterischer, spiritueller Praktiken und Weltanschauungsangebote gemacht. Bei den jüngeren Befragten zwischen 18 und 39 Jahren liegt dieser Anteil sogar bei 34 Prozent" .46 Schon traditionell ist das Spektrum des Glaubens an übersinnliche Phänomene und Zusammenhänge (Sternzeichen, Horoskope, Wahrsager, Wunderheiler, Glücksbringer usw.) reich entfaltet. Michael Terwey hat Umfragedaten aus einer konfessionsübergreifenden Studie von 1987 mit Angaben über den persönlichen Gottesglauben z u s a m m e n g e s t e l l t . D e m n a c h glaubten 37% der Gottgläubigen und 41% derer, die an eine "höhere Kraft" glauben, gleichzeitig an H o r o s k o p e . 3 2 % der Gottgläubigen und 47% der Kraftgläubigen glaubten an Telepathie. 26% und 30% glaubten an Hellsehen, 21% und 23% an Wahrsagen, 22% und 38% an Parapsychologie, 19% und 27% an Ufos. Insgesamt findet man unter Kraftgläubigen noch einmal deutlich höhere Zustimmungsraten zur Annahme der Existenz von übersinnlichen und unerklärlichen Ereignissen als unter den Gottgläubigen. Aber auch unter den Gottgläubigen haben viele eine unbestreitbare Affinität zum Glauben an das Übersinnliche. Auch aus diesen Zahlen läßt sich entnehmen, daß die Vorstellung, in der Kirche herrsche gewissermaßen eine von allem Aberglauben gereinigte Frömmigkeit und Religiosität, eine fromme Illusion ist.^9 Vielmehr scheinen gerade die Kraftgläubigen, deren Anzahl ja innerkirchlich im Steigen begriffen ist, hier wenig oder gar keine Berührungsängste zu haben. Sieht man von den Zustimmungsraten zu Horoskop (19%), Parapsychologie (20%) und Telepathie (22%) ab, die auch bei den "Atheisten" hoch sind, dann sind nicht die Atheisten, sondern die Kraftgläubigen, unter ihnen viele Kirchenmitglieder, als eigentliche Träger und Multiplikatoren der Parareligiosität zu erkennen. Auch beim Paraglauben gibt es selbstverständlich so etwas wie eine "akzidentielle Nachfrage". Was generell als "Unsinn" abgelehnt wird, kann in einer entsprechenden Situation unter Umständen durchaus noch als akzeptabel gelten oder in Betracht gezogen werden.51 Das bedeutet, daß auch Paraglaube ähnlich wie der Gottesglaube situative und akzidentielle Komponenten besitzt und daß die Einstellungen zum Paraglauben wandlungsfähig sind. Paraglaube 46 47 48 49 50 51

Fremde Heimat, Sp. 11/2 M.Terwey: Pluralismus des Glaubens in der Diskussion, in: ZA-Nachrichten Nr.35 1994, S.122 und den Kontext S.121-127; vgl. auch M.Terwey: Situation, S.68f zu den Daten des Allbus 1991 "Der Frage 'Glauben Sie an einen Zusammenhang zwischen dem menschlichen Schicksal und den Sternen' stimmten 1990 im Westen Deutschlands 30% der Protestanten, 26% der Katholiken und 24% der Konfessionslosen zu." - M.Terwey: Kirche, S.l 10 Vgl. auch die Allbus-Auswertung von MTerwey: Pluralismus, S.124f: "In den alten Bundesländern ist die Mehrheit der Paia-Gläubigen auch gottesgläubig." Eine Affinität des Glaubens an die Auferstehung zum Aberglauben meint auch U.Lindloge: Glauben, S.286 zu erkennen - mit Verweis auf G.Schmidtchen: Protestanten und Katholiken, Bern 1973, S.310 M.Terwey: Pluralismus, S.127f. Im Pfarrberuf wird das gerade in Seelsorgegesprächen mit Tumorpatienten immer wieder deutlich.

434

VI. Die Religiosität der Kirchenmitglieder

wird im Bewußtsein der Menschen geradezu "empirisch" verifiziert. Man glaubt, weil man begründen kann, in welcher Situation sich parareligiöse Annahmen "bestätigt" haben.

2.3 Religiöses Sachwissen und religiöse Erfahrung In der soziologischen Forschung ist in der Regel nicht mehr umstritten, daß Religiosität und auch kirchliche Religiosität mehrdimensionale Konstrukte sind.52 Das bedeutet für die Landeskirchen, daß sich die Zustimmung oder die Ablehnung von Kirche nicht allein an einer einzigen Frage entscheidet, etwa an der Frage, ob jemand an Gott glaubt oder nicht, auch wenn diese Frage von vielen Kirchenmitgliedern als entscheidende Frage angesehen wird. Charles Y. Glock hat 1962 in seinem Aufsatz "On the Study of Religious C o m m i t m e n t " ^ fünf Dimensionen von Religiosität unterschieden: 1. eine Erfahrungsdimension (religiöses Empfinden), 2. eine ideologische Dimension ( religiöser Glaube), 3. eine intellektuelle Dimension (religiöses Wissen), 4. eine ritualistische Dimension (religiöse Praxis) und 5. eine Dimension der persönlichen und gesellschaftlichen Konsequenzen (religiöse Effekte)54. Er hat damit eine umfangreiche Diskussion über Dimensionen der Religion e r ö f f n e t . 5 5 Während die ritualistische Dimension der religiösen Praxis (Gottesdienstteilnahme etc.) empirisch gut zu erfassen ist und damit außer Zweifel steht, hat schon Ursula Boos-Nünning darauf hingewiesen, daß die ersten beiden Dimensionen empirisch nicht zu trennen sind.56 Sie hat empfohlen, sie in einem Faktor "allgemeine Religiosität" zusammenzufassen. Robert Kecskes und Christof Wolf sind bei dem Versuch, ein empirisches Meßinstrument für christliche Religiosität (für eine Lokalbefragung der Kölner Bevölkerung) zu entwickeln, zu dem gleichen Ergebnis gelangt. a) Die Dimensionen des religiösen Wissens In der Dimension des religiösen Wissens ist es Kecskes und Wolf nicht gelungen, zu einer validen und reliablen Skala zu gelangen. Sie begründen das damit, 52

53 54 55 56 57

Vgl. auch V.Drehsen: Kontinuität, S. 114-122. Drehsen unterscheidet 3 Dimensionen hinsichtlich ihrer funktionalen Leistungen für die Menschen: eine personale Dimension, eine interpersonale Dimension (soziale Identität und Kommunikation) und eine transpersonale Dimension (Gesellschaft). In Übersetzung abgedruckt bei: J.Matthes: Religionssoziologie II, S.150-168: "Über die Dimensionen der Religiosität" Man denke etwa an Max Webers These von der Geburt des Kapitalismus aus dem Geist des Calvinismus. Eine Diskussionsübersicht findet man in: RKecskes / C.Wolf: Religiosität, S.279f U.Boos-Nünning, Dimensionen, S. 149 Im Sinne des Dimensionsverständnisses der empirischen Sozialforschung.

2.3 Religiöses Sachwissen und religiöse Erfahrung

435

daß es schwer fällt, Items zu finden, "die sich auf die christliche Tradition beziehen und nicht zu schwer sind oder konfessionsspezifische Inhalte aufweisen".^58 u m das Problem, das sich aus theologischer Sicht hinter dieser Feststellung zweier Empiriker verbirgt, genauer zu verstehen, ist es erforderlich, die ausgwählten Items zur Dimension der allgemeinen Religiosität (bestehen aus Glocks Dimensionen 1. und 2.) und zur Dimension des religiösen Wissens einmal genauer zu betrachten: Items zur religiösen Erfahrung (Kecskes / Wolf S.285) * Die Religion gibt mir eine bestimmte Sicherheit im Alltagsleben, die ich sonst nicht hätte. * Durch den Glauben habe ich schon oft die Nähe Gottes erfahren. * Es ist vorgekommen, daß Gott mir in einer konkreten Situation geholfen hat. * Durch den Glauben bekomme ich ein Gefühl der Geborgenheit, das nicht mit dem Verstand erklärt werden kann. * Ohne den Glauben an Gott wäre das Leben sinnlos. * Der Glaube an Gott hilft mir, in schwierigen Situationen nicht zu verzweifeln. Items zum religiösen Glauben (Kecskes / Wolf, S.286) * Unser Schicksal liegt in Gottes Hand. * Jesus ist Gottes Sohn. * Die Bibel enthält Gottes Wort. * Jesus ist in den Himmel aufgestiegen. * Gott ist allmächtig. * Gott hat sich in Jesus zu erkennen gegeben. * Die zehn Gebote sind von Gott. * Gott belohnt gute Taten. * Der Sinn des Lebens besteht darin, Gott zu dienen. * Jesus hat Tote auferweckt. Items zum religiösen Wissen (Kecskes / Wolf, S.286) * Können Sie mir die Namen der vier Evangelisten nennen? * Können Sie mir sagen, welches der höchste christliche Feiertag ist? * Können Sie mir vier der zehn Gebote nennen? * Können Sie mir sagen, was mit Dreifaltigkeit gemeint ist? * Können Sie mir die Namen der heiligen drei Könige nennen? * Können Sie mir die Namen von drei Aposteln nennen? * Können Sie zwei Wunder Jesu nennen? * Können Sie mir den Namen eines Profeten nennen? Überschaut man als Theologe die Items vor dem Hintergrund des statistischen Ergebnisses von Kecskes und Wolf, dann läßt sich daraus bereits eine erste, weitreichende Einsicht in die Qualität der Religiosität der deutschen Bevölkerung ableiten. Einem fachlich geschulten Theologen erscheinen die genannten 58

R.Kecskes / C.Wolf: Religiosität, S.278

436

VI. Die Religiosität der Kirchenmitglieder

Items als außerordentlich einfach. Kecsces und Wolf aber stellten fest, mehr sei nicht möglich gewesen, weil die Fragen anderenfalls zu schwer geworden wären. Zwar finden sich auch in der Itembatterie zum religiösen Glauben einige Items, die man durchaus auch der Dimension des religiösen Wissens zuordnen könnte (Items 2,4,6,7,10). Aber, auf welchem Niveau wird hier abgefragt? Die Items "Jesus ist Gottes Sohn", "die Bibel enthält Gottes Wort", "Jesus ist in den Himmel aufgestiegen" oder "die zehn Gebote sind von Gott" zielen auf die Kenntnis der absoluten Minimalstandards des christlichen Glaubens. Sie werden offensichtlich von allen Befragten verstanden und können deshalb auch beantwortet werden. Weil das so ist, repräsentieren sie, unabhängig davon, ob sie bejaht oder verneint werden, die bevölkerungsweit verbreiteten Reste des christlichen Grundwissens. Allein der Blick auf die Items von Kecskes und Wolf genügt also, um deutlich zu machen, worauf man sich als Theologe oder Theologin inhaltlich einläßt, wenn man sich der Religiosität der deutschen Bevölkerung zuwendet. An dieser Stelle soll noch einmal an die oben erhobene Forderungen erinnert werden, die kommunikative Anschlußfähigkeit der Theologensprache und der christlichen Verkündigung zu verbessern. Hier wird in Umrissen erkennbar, was eine derartige Forderung, die, pauschal betrachtet, wohl kaum auf Ablehnung stoßen dürfte, inhaltlich bedeutet. Es geht tatsächlich darum, daß die Theologen lernen, vom Olymp ihrer Fachdiskurse herabzusteigen und "sehr, sehr kleine Brötchen zu backen". Ein solides Grundschulniveau ist zu erreichen. b) Religiöse Erfahrung Religiöse Erfahrung ist ein unabdingbarer und unverzichtbarer Faktor christlicher Religiosität.60 Nicht allein die Parareligiosität, auch der christliche Glaube hat eine unmittelbare Verankerung im Erleben der Menschen. Wo religiöse Erfahrung nicht mehr stattfindet, findet auch kein gelebtes Christentum mehr statt. Von daher stellt sich die Frage, ob die konfessionsgebundene Religion zu wenig Möglichkeiten für persönliche religiöse Erfahrung bietet, so daß die Kirchenmitglieder gezwungen sind, in selbstverantwortete Randbereiche der Religion auszuweichen, um zu finden, was sie suchen. Es ist ja bekannt, daß den Paragläubigen und der religiösen Erfahrung im Kirchen- und Theologenalltag vielfach mit Totalablehnung und Gesprächsverweigerung begegnet wird. Schaut 59

60

Das religiöse Wissen in der deutschen Bevölkerung befindet sich nicht nur in den Augen von Theologen auf einem absoluten Minimalniveau, vgl. auch den Soziologen W.Gebhardt: Milieus, S.294 Zur Dimension der allgemeinen Religiosität gehört (zusammen mit den Items zum religiösen Glauben) auch die Itembatterie über religiöse Erfahrung. Sie ist so untrennbarer Bestandteil der Dimension "allgemeine Religiosität", daß Kecskes und Wolf feststellen können, es sei möglich, "jede beliebige Menge von 10 der 16 Items dieser Dimension" zu verwenden, ohne das Untersuchungsergebnis zu beeinträchtigen. - R.Kecskes / C.Wolf: Religiosität, S.281 vgl. S.284

2.3 Religiöses Sachwissen und religiöse Erfahrung

437

man aber die neueren Zahlen und den Entwicklungstrend an, dann sieht es so aus, als ob die Kirchen sich damit der Möglichkeit begeben, mit den eigenen Kirchenmitgliedern im Gespräch über religiöse Fragen zu bleiben. Hier liegt ein Anknüpfungspunkt (kein Endpunkt des Gesprächs!), der in Zukunft sicher noch wichtiger werden wird, als er heute schon ist. c) Religiöse Selbsteinschätzung und religiöses Klima Allbus 1992 fragte die religiöse Selbsteinstufung der deutschen Bevölkerung mit Hilfe einer 10-stufigen Skala ab, die von "nicht religiös" bis "religiös" reichte. Die ermittelten Werte waren über die gesamte Skalenbreite verteilt. 12,4% (West) und 47,2% (Ost) bezeichneten sich als "nicht religiös". 12,2% (West) und 4,8% (Ost) bezeichneten sich als "religiös". Insgesamt wählten 59,5% (West) und 26% (Ost) Selbsteinstufungen im positiven religösen Bereich.61 Kecskes und Wolf haben darauf hingewiesen, daß die religiöse Selbsteinschätzung mit den Antworten auf einzelne Fragen in der Skala allgemeine Religiosität korreliert. Umgekehrt nimmt auch der selbst eingeräumte Gottesglaube bei nachweisbar verminderter "allgemeiner Religiosität" ab.62 Die Umfrageergebnisse über die religiöse Selbsteinschätzung und den Gottesglauben sagen also etwas über das allgemeine religiöse Klima in einer Gesellschaft aus. Demnach wäre das religiöse Klima im Westen weiterhin positiv. Im Osten weht der traditionellen Religiosität dagegen ein eisiger Wind ins Gesicht. Allerdings ist hier zu berücksichtigen, daß diejenigen, die sich selbst als "nicht religiös" einstufen, in erheblichem Umfang Anhänger einer weltanschaulichen "Konkurrenzunternehmung" sind. Nicht allein von daher ist anzumerken, daß die religiöse Selbsteinschätzung und der eingeräumte Gottesglaube keineswegs vollkommen zutreffend sein müssen. Faktische Abweichungen nach oben oder unten sind nicht nur hypothetisch vorstellbar, sie sind auch in den vorliegenden Untersuchungen immer wieder n a c h w e i s b a r .

2.4 Kirchlichkeit a) Kirchlichkeit und Gottesglaube Von der Religiosität der Bevölkerung ist die Kirchlichkeit der Bevölkerung zu unterscheiden. Nicht jeder, der im oben genannten weiteren oder engeren Sinne "religiös" ist, ist auch Mitglied einer christlichen Kirche oder Gemeinschaft. 61 62 63

Allbus 1980-1992, S.217 R.Kecskes / C.Wolf: Religiosität, S.282 und S.283 Ein konkretes Fallbeispiel für die Differenzen in der eingeräumten und der faktischen Kirchgangshäufigkeit findet sich bei P.Cornehl: Teilnahme am Gottesdienst. Zur Logik des Kirchgangs - Befund und Konsequenzen, in: J.Matthes (Hg.): Kirchenmitgliedschaft, S.35-38

438

VI. Die Religiosität der Kirchenmitglieder

Zwar gibt es einen empirisch unbestreitbaren Zusammenhang zwischen Gottesglaube und Kirchenmitgliedschaft. Wer an Gott glaubt, ist mit großer Wahrscheinlichkeit auch Mitglied in einer christlichen Kirche, während Menschen, die von sich behaupten, nicht an Gott zu glauben, deutlich seltener Mitglieder einer christlichen Kirche s i n d . A b e r es gibt auch statistisch ins Gewicht fallende gegenteilige Positionen: Es gibt Konfessionslose, die an Gott glauben, und es gibt Kirchenmitglieder, die nicht an Gott glauben. Die Tatsache, daß es Konfessionslose gibt, die an Gott glauben, ist empirisch so gut belegt, daß sie nicht zu bestreiten ist. So erklärte in der ISSP B e f r a g u n g ^ 1992 jeder fünfte Konfessionslose, an Gott zu g l a u b e n . D i e dritte EKD-Umfrage unterschied zwischen "Ausgetretenen" und "immer schon Konfessionslosen" und ermittelte: knapp 20% der Ausgetretenen (West) und knapp 10% (Ost) glauben an Gott, wenn auch überwiegend unter Zweifeln. Bei den immer schon Konfessionslosen sind es deutlich weniger (5% und 2%). An eine höhere Kraft glauben 46% der Ausgetretenen (West) und 27% der Ausgetretenen (Ost). Unter den immer schon Konfessionslosen sind es 26% (West) und 15% ( O s t ) . N i m m t man die weite Verbreitung der Parareligiosität hinzu, dann läßt sich diese Aussage sogar noch sehr viel stärker formulieren: Konfessionslose sind keineswegs schlichtweg areligiöse Menschen. Die in Kirchenkreisen immer noch verbreitete Behauptung, Kirchenmitgliedschaft sei identisch mit christlicher Frömmigkeit, Nichtmitgliedschaft mit Unglauben und Atheismus, ist in dieser undifferenzierten Form dingend korrekturbedürftig. Es gibt kein Glaubensmonopol der christlichen Kirchen mehr. Vielmehr erstreckt sich das Feld der Gottgläubigkeit und Religiosität weit über den Zuständigkeitsbereich der christlichen Kirchen hinaus. Die 91er Allbus-Umfrage ergab auch einen erstaunlich hohen Prozentsatz von Kirchenmitgliedern, die aussagen, nicht an Gott zu glauben bzw. seine Existenz eher zu bezweifeln: "32,9 Prozent der Katholiken und 42,5 Prozent der Lutheraner in den neuen Bundesländern glauben nicht an Gott. In den alten Bundesländern sind es dagegen 'nur' 21,8 Prozent und 33,9 Prozent".68 im theologischen Nachdenken über die Kirche werden diese hohen Prozentsätze nicht selten einfach ignoriert. Man geht von der selbstverständlichen, aber falschen Annahme aus, jedes Kirchenmitglied sei gottgläubiger Christ. Die Korrektur dieser Einstellung im Blick auf das Nachdenken über die Volkskirchen 64 65

66 67 68

R.Kecskes / C.Wolf: Religiosität, S.282 Die ISSP-Befragung ("International Social Survey Programme") ist ein soziologisches Befragungsprogramm, das jährlich mit wechselnden thematischen Schwerpunkten im internationalen Rahmen ( schriftlicher Fragebogen, mindestens 1000 Befragte) durchgeführt wird (M.Braun / P.Mohler: Bevölkerungsumfrage, S.12f). In Deutschland findet die Befragung im Rahmen des Allbus-Programms statt. MTerwey: Sind Kirche und Religion auf der Verliererstraße? Vergleichende Analyse mit Allbus- und ISSP-Daten, in: ZA-Information 32,1993, S.108 dritter Block, zweite Zeile (95112) Die Prozentzahlen werden durch relativ kleine Gruppen von Befragten relativiert: Konfessionslose West 295 und Ost 550, davon Ausgetretene West 174 und Ost 218 M.Terwey: Situation, S.64

2.4 Kirchlichkeit

439

ist überfällig. Kirchenmitgliedschaft muß keineswegs automatisch auch mit Gottglaube einhergehen. Es gibt offensichtlich Motivationen, die die Menschen veranlassen, in der Kirche zu bleiben, obwohl sie ihr zentrales Credo nicht (mehr) teilen. b) Kirchliches Organisationsmonopol bei schwacher Binnenkohärenz Unter Aufnahme des Säkularisierungsgedankens hatten Thomas Luckmann69 und Peter L. Berger^O in den 60er Jahren die These vertreten, daß die Verselbständigung der Systembereiche aus der Vormundschaft der Kirche, die den Prozeß der neuzeitlichen Gesellschaftsentwicklung maßgeblich bestimmt hatte, auch vor den kirchlichen Institutionen selbst nicht Halt machen würde. Folglich sei mit einem Abdriften der Religion aus der Kompetenz der organisierten christlichen Kirchen zu rechnen. Ein "Zwang zur Häresie"71 würde zur Pluralisierung der Glaubensinhalte führen, einen Markt konkurrierender religiöser Angebote hervorbringen und die Vorherrschaft der traditionellen christlichen Kirchen beenden. Diese These hat sich bereits hinsichtlich der Annahme einer Pluralisierung der Glaubensinhalte bestätigt. Dagegen ist der zweite Teil der These, die Annahme eines Niedergangs der kirchlichen Organisationen (noch) nicht verifiziert.72 Bisher war das Gegenteil richtig. Die christlichen Kirchen haben ihre organisatorische Stärke und ihren Zuständigkeitsanspruch seit der Umbruchphase der Weimarer Republik deutlich verbessert und gefestigt.73 Zwar hat sich seit dem Ende der 70er Jahre ein buntes Spektrum von Aktivitäten und Angeboten im Grenzbereich von Selbsterfahrung, Therapie und multikultureller Patchwork-Religiosität entwickelt.74 Es ist allerdings bisher nur in den relativ engen Grenzen eines subkulturellen Milieus verbreitet (s.u. "Selbsterfahrungsmilieu" Kap.VI 3.7). Erst die kommenden Jahre werden zeigen, ob es sich bei diesen Formen einer neuen "Bastelreligiosität" um ein dauerhaftes Phänomen handelt, das spürbar an Breite und richtungweisender Qualität gewinnen wird, oder ob es sich als vorübergehendes Zeitgeistphänomen ent-

69

70 71 72 73 74

T.Luckmann: Die unsichtbare Religion (1963/1967), Frankfurt/M. 1991; T.Luckmann: Religion in der modernen Gesellschaft, in: J.Wössner (Hg.): Religion im Umbruch, Stuttgart 1972, S.12f P.L.Berger: Auf den Spuren der Engel. Die moderne Gesellschaft und die Entdeckung der Transzendenz (1969), Frankfurt/M. 1981 P.L.Berger: Der Zwang zur Häresie. Religion in der pluralistischen Gesellschaft, Frankfurt/M. 1980 J.Matthes hat schon 1968 die problematische Verknüpfung der Säkularisierungsthese mit der Frage der Privatisierung der Religion kritisiert. - Religionssoziologie II, S.131 F.-X.Kaufinann: Religion, S.279; M.Terwey: Kirche, S.109 Zur den Inhalten und zur Verbreitung der "neuen" Religiosität: R.Waßner: Nicht-verfaßte Religiosität und Gesellschaft. Beobachtungen eines Soziologen, in: Materialdienst der EZW H.l/1995, S.l-11. Über "New Age" vgl. auch: H.Knoblauch: Das unsichtbare neue Zeitalter. •New Age', privatisierte Religion und kultisches Milieu, in: KZS 41/1989, S.504-525; C.Schorsch: Der Drang nach Ganzheit. New Age als synkretistisches Phänomen, in: W.Greive / R.Niemann (Hg.): Religionsvielfalt, S.135-145

440

VI. Die Religiosität der Kirchenmitglieder

puppen w i r d . E m p i r i s c h ließ sich auch 1991 noch eine eindeutige Beziehung zwischen der selbsteingestuften Religiosität und der Kirchenmitgliedschaft ausmachen. Wer sich selbst als religiösen Menschen ansieht, ist mit hoher Wahrscheinlichkeit auch Kirchenmitglied in einer der beiden großen Konfessionskirchen. Quantitativ ernstzunehmende Organisationskonkurrenz ist den Großkirchen bislang also nicht erwachsen. Aber einen gewissen Preis haben die beiden Konfessionskirchen dennoch für den unumstrittenen Systemstatus von religiösen Massenorganisationen zu entrichten, den Preis einer extrem geschwächten Systemkohärenz und einer stark angestiegenen Mitgliederkontingenz. Das gilt sowohl für die katholische als auch für die evangelische Kirche und zeigt sich besonders deutlich in den Einstellungen, mit denen die Mitglieder "ihren" Kirchen begegnen. c) Innere Distanz - die Kirche als ein "Gegenüber" "Offensichtlich wird von Seiten der Kirchenmitglieder die Kirche anders wahrgenommen, als die theologische Programmatik dies vorsieht. Kirchenmitglieder empfinden sich selbst als "Umwelt" der Organisation. Kirche ist für sie häufig gerade deren bürokratischer Kern, ihre Leitungshierarchie, ihre Verwaltung, und dies auf verschiedenen Ebenen" .77 Diese Sätze von Karl-Fritz Daiber bringen den Sachverhalt auf den Punkt, der in der Diskussion über die Ergebnisse der empirischen Mitgliederbefragungen seit mehr als 20 Jahren unter Stichworten wie "distanzierte Kirchlichkeit"78; "Unbestimmtheit"79, "religiöser Indifferentismus"80 oder "Christen in der Halbdistanz"^ diskutiert worden ist. Die Mitglieder sehen ihre Kirche und ihre Mitgliedschaft in dieser Kirche mit anderen Augen. Sie leben und erleben sie aus einer Perspektive heraus, die mit der Perspektive der Theologen und der Kirchenleitungen in vielfacher Hinsicht nicht kompatibel ist. Um das Selbstverständnis der Kirchenmitglieder zu verstehen, darf man nicht mit der Meßlatte der landeskirchlichen Präferenzordnungen operieren. Tut man es doch, dann erscheint das Mitgliedschaftsverhalten der Kirchenmitglieder als "distanziert", als "unbestimmt", als "Indifferentismus" oder als "Halbdistanz". So lange wie man es mit derartigen Begriffen belegt, versteht man seine innere Logik nicht und geht an den Motivationen vorbei, die dieses Mitgliedschafts verhalten tragen und ständig 75

76 77 78 79 80 81 82

Zur Annahme eines Zeitgeistphänomens und damit lediglich beschränkter Reichweite im Rahmen einer generationsspezifischen Verbreitung: M.Klein: Wieviel Platz bleibt im Prokrustesbett? Wertewandel in der Bundesrepublik Deutschland zwischen 1973 und 1992 gemessen am Inglehart-Index, in: KZS 47/1995, S.207-230 M.Terwey: Kirche, S.96 K.-F.Daiber: Organisationshandeln, S.611 EKD I, S.2, S.259-274 u.ö. EKD II, S.39-43; J.Matthes: Unbestimmtheit: Ein konstitutives Merkmal der Volkskirche?, in: Ders. (Hg.): Kirchenmitgliedschaft, S.149-162 F.-X.Kaufinann: Religion, S.146-171 Fremde Heimat, S.15; L.Mohaupt: Volkskirche? Daraufhat auch J.Matthes hingewiesen: Unbestimmtheit

2.4 Kirchlichkeit

441

aufs neue reproduzieren. Deshalb wird es im folgenden darum gehen, sich in die Perspektive der Kirchenmitglieder selbst hinein zu versetzen. 1. Positive Selbsteinschätzung der eigenen Konfession: Befragt nach der Einschätzung ihrer eigenen Konfession, antworteten 1993 80% der Evangelischen, es sei positiv, evangelisch zu sein. Gleich hoch war die Selbsteinstufung des Katholisch-Seins durch die Katholiken. Evangelisch zu sein in diesem weiten Sinne bedeutet zunächst einmal nichts anderes als eine summarische und äußerst undifferenzierte Identitätsaussage. Sie ist vergleichbar mit der Aussage, deutscher Staatsangehöriger zu sein. 2. Positive Selbsteinschätzung - ich bin Christ: Auf die Frage, weshalb sie in der Kirche sind, antworten die Kirchenmitglieder in großer Einmütigkeit und mit den höchsten Zustimmungsraten "weil ich Christ b i n " . I n h a l t l i c h ist diese Antwort ebenso unbestimmt wie die Bewertung des Evangelisch-Seins. Fragt man genauer nach, was es denn bedeutet, Christ zu sein, liegen die Antworten gewaltig auseinander. Sie reichen vom ethisierten Gewissenschristentum bis hin zum Glauben an das Nicänum. Ausgeklammert bleibt oftmals der Aspekt, in welchem Ausmaß man sich am kirchlichen Leben beteiligt (s.u.). Vielmehr ist die Selbsteinstufung "ich bin Christ" zunächst einmal lediglich eine persönliche, aber hochabstrakte Identitätsformel. Man ist Christ, weil man evangelisch ist. Weil man evangelisch ist, ist man in der Kirche^, und weil man in der Kirche ist, ist man Christ. Mit dieser zirkulären Selbstzuweisung formulieren die Kirchenmitglieder das, was für sie selbstverständlich ist. Mit ihr wird auch ein Anspruch vertreten, das Recht, in der Kirche zu sein, in der Kirche zu bleiben und von der Kirche ernst genommen zu werden. "Ich bin Christ. " 3. Gott - Religion - Kirche ein semantisches Feld mit hoher interner Substituierbarkeit seiner Elemente: Die zirkulierende Argumentation im Bereich der Begründung des eigenen Christseins weist auf einen weiteren Aspekt des Kirchenverständnisses, der bisher noch nicht empirisch-quantitativ erforscht ist, aber für das Kirchenverständnis der Mitglieder keineswegs unerheblich ist. Die Begriffe "Gott" - "Religion" - "Glaube" - "Kirche" - "Christsein" und bisweilen sogar auch "Pfarrer/in" sind wechselseitig substituierbar. Die Aussage, "ich glaube an Gott", die Aussage "ich bin Christ" und die Aussage, "ich bin in der Kirche" werden im alltäglichen Sprachgebrauch vielfach synonym verwendet. Menschen treten nachweislich aus der evangelischen Kirche aus, weil sie gegen den Papst sind. Negative Erfahrungen mit Freikirchen und Sekten werden "der 83

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85

M.Terwey: Pluralismus, S.126; Die wechselseitigen Einschätzungen weichen voneinander ab. So schätzten zwar 68% der Katholiken das Evangelisch-Sein positiv ein, aber nur 54% der Evangelischen das Katholisch-Sein. Auf einer 7-stufigen Zustimmungsskala zwischen den Polen "trifft genau zu" und "trifft überhaupt nicht zu" wählten in allen drei EKD- Umfragen etwa 50% die oberen beiden Selbsteinstufìingen. Die unteren beiden Selbsteinstufungen sind rückläufig von 17% und 18% in EKD I und EKD II auf 11 % (West) in EKD III - Fremde Heimat, S. 17 83% stimmten 1992 dem Statement zu, zum Evangelisch-Sein gehöre, Mitglied der Kirche zu sein. - Fremde Heimat, S.20

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VI. Die Religiosität der Kirchenmitglieder

Kirche" angelastet. Im Bewußtsein der Kirchenmitglieder besteht hier vielfach ein semantisches Feld, in dem die einzelnen Begriffe nur unscharf gegeneinander abgegrenzt sind. Das hat zur Folge, daß jeder der Begriffe für einen der anderen eintreten und ihn in einer konkreten Kommunikationssituation ersetzen kann. Aus ihrem beruflichen Alltag sind Pfarrer/innen mit weiteren Aspekten dieses verwirrend oszillierenden Sprachgebrauchs gut vertraut. Sie können immer wieder erleben, daß eine als persönlich verstandene Handlung oder Aussage unvermittelt auf die gesamte (Landes-)Kirche, auf die Religion oder das Christentum zugeschrieben wird. Dann fallen Sätze wie "So etwas darf die Kirche doch nicht tun", "Und das soll Religion sein?" usw. 4. Wichtigkeitseinstufung und Verbundenheitsgrade: Aus der Tatsache, daß es gut und selbstverständlich ist, Christ zu sein, läßt sich noch nicht schließen, daß auch die Kirche als Organisation wichtig ist. Zwar ist sie das unverzichtbare Mittel, um in den Identitätsstatus eines "evangelischen Christen" zu gelangen. Aber sie ist, gemessen an anderen Instanzen des menschlichen Lebens, keineswegs die wichtigste Instanz. Die Allbus-Umfragen unter der deutschen Bevölkerung haben die Frage nach der persönlichen Wichtigkeit einzelner Lebensbereiche seit 1980 bereits mehrfach wiederholt. Die wichtigsten Bereiche für die Bevölkerung waren demnach im Jahr 1992 "Familie und Kinder" sowie "Beruf und Arbeit" mit positiven Nennungen von 80,1% (West) und 88,3% (Ost) für die Familie und 63,3% (West) und 83,4% (Ost) für die Arbeit. 8 6 Hinter "Freizeit und Erholung" (62,9% und 63,7%), "Freunde und Bekannte" (63,4% und 54,7%), "Verwandtschaft" (41,7% und 48%) stand "Religion und Kirche" mit 24,8% und 12,6% auf dem letzten Rangplatz der persönlichen Wichtigkeitseinstufungen.Im Jahresvergleich, den die Allbus-Daten der Jahre 1980 bis 1992 ermöglichen, zeigt sich, daß die Einschätzungen der Gesamtbevölkerung über die Jahre hinweg relativ stabil geblieben sind. So selbstverständlich es in dieser Gesellschaft immer noch ist, Christ und Kirchenmitglied zu sein, so deutlich drückt sich in der Wichtigkeitseinstufüng aber auch die Einstellung aus, daß es für viele im Leben noch Wichtigeres gibt als die Kirchen. 5. Mißtrauen und Distanz: Die Allbus-Umfrage 1991 fragte auch Aspekte des Institutionenvertrauens ab. Während 15,9% (West) und 29,7% (Ost) gegenüber "Gerichten und Rechtswesen" nur wenig oder gar kein Vertrauen hatten, waren es gegenüber "Kirchen und religiösen Organisationen" 35,8% (West) und 50,8% (Ost). 8 8 "Voll" oder "viel" vertrauten 28,2% (West) und 20,3% (Ost) den Kirchen und den religiösen Organisationen. Die kirchlichen Institutionen und Organisationen schwimmen also keineswegs auf einer Woge des Vertrauens. Viele Menschen begegnen ihnen mit Skepsis oder Mißtrauen. Dieser Eindruck bestätigt sich auch im Blick auf die evangelische Kirche. Im Jahr 1983

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Jeweils 1. oder 2. Wichtigkeitsgrad auf einer 7-stufigen Skala - Allbus 80-92, S. 189f Allbus 80-82, S.191-194 Allbus 1991, S.314f

2.4 Kirchlichkeit

443

bejahten 29% der evangelischen Kirchenmitglieder das Statement "Ich bin gläubiges Mitglied meiner Kirche und stehe zu ihrer Lehre". 14% sagten "Ich stehe zur Kirche, aber sie muß sich ändern." 42% waren der Ansicht "Ich fühle mich als Christ, aber die Kirche bedeutet mir nicht viel." Und 10% der evangelischen Kirchenmitglieder meinten "Die Kirche ist mir gleichgültig. Sie bedeutet mir nichts".89 Der Protestantismus hat die individuelle Gottesbeziehung schon traditionell höher veranschlagt als die formale Organisationstreue. In gewisser Weise läßt sich also behaupten, daß die protestantischen Landeskirchen die Früchte des eigenen Wollens ernten, wenn die Mitglieder ihnen skeptisch und unter Vorbehalt gegenübertreten. 90 Allerdings darf man darüber nicht übersehen, daß derartige Einstellungen heute nicht mehr aus einer intensiven Beschäftigung mit den Glaubensinhalten erwachsen, sondern viel eher aus einer zunehmenden Unkenntnis, aus der daraus resultierenden Unsicherheit im Umgang mit der Institution und aus den sporadischen Kontakten. 6. Mittlere Verbundenheitsgrade: Auch die dritte EKD-Umfrage hat wieder die Frage nach dem Ausmaß gestellt, in dem sich die Kirchenmitglieder ihrer Kirche persönlich verbunden fühlen. Auf einer 5-stufigen Skala zwischen den Werten "sehr verbunden" und "überhaupt nicht verbunden" konnten sich die Befragten selbst einstufen. Die Auswertung zeigt eine deutliche Tendenz zur Wahl der mittleren Verbundenheitsgrade. Während sich 10% der Befragten als "sehr verbunden" und 8% der Befragten (West) als "überhaupt nicht verbunden" bezeichneten, wählten 82% mittlere Verbundenheitsgrade: 29% "ziemlich verbunden", 35% "etwas verbunden" und 18% "kaum verbunden".91 Im Osten ergibt sich trotz erheblich reduzierter Mitgliederzahlen tendenziell das gleiche Bild. Wenige sind sehr verbunden, noch weniger sind gar nicht verbunden. Die mittleren Werte erhielten die höchste Z u s t i m m u n g . 9 2 Verglichen mit den Daten der ersten beiden EKD-Umfragen ist eine Tendenz zur Verstärkung der mittleren Verbundenheitsgrade erkennbar. d) Erwartungen an Kirche - Mitglieder und Ausgetretene Die 91er Allbus-Umfrage hat die Zustimmung zu vier Aktivitäten der Kirchen abgefragt: Verkündigung der christlichen Botschaft, Seelsorge am einzelnen, 89

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G.Schmidtchen: Die Situation der Frau, Berlin 1984, Tab.32 zit. nach W i t t k o w s k i : Evangelisch - katholisch - konfessionslos. Vergleichende Fragestellungen, in: J.Matthes (Hg.): Kirchenmitgliedschaft, S.171 Die dritte EKD-Umfrage benutzte eine 7-stufige Skala ("stimme voll und ganz zu" - "stimme überhaupt nicht zu"). 17% der Evangelischen (West) und 11% (Ost) stimmten dem Statement "die Kirche geht am wirklichen Leben des Einzelnen vorbei" mit den höchsten beiden Zustimmungswerten zu. 33% (West) und 40% (Ost) waren nicht dieser Meinung. Im mittleren Bereich lagen jeweils etwa 50%, die eine Verankerung der Kirchen im "wirklichen Leben des Einzelnen" zumindest partiell bezweifeln. In der gleichen Umfrage betrachteten 12% (West) und 7% (Ost) die Kirche als "einfach nicht mehr zeitgemäß". Etwa 6% stimmten der Aussage zu, die Kirche sei "eigentlich überflüssig". - Alle Daten: Fremde Heimat, S.58 Fremde Heimat, S.8 Fremde Heimat, S.24

444

VI. Die Religiosität der Kirchenmitglieder

Stellungnahme zu politischen Fragen, Angebot an Geselligkeit. Auf einer 4stufigen Skala "auf jeden Fall", "schon", "eigentlich nicht" und "auf keinen Fall" fand die Verkündigung der christlichen Botschaft die höchsten Zustimmungsraten. 97,9% (West) und 97,4% (Ost) stimmten hier "auf jeden Fall" bzw. "schon" zu.93 Die Seelsorge am einzelnen ("sich um die Sorgen und Probleme der einzelnen zu kümmern") fand ebenfalls mit 82,2% (West) und 77,2% (Ost) breite Zustimmung. Auf überwiegende Ablehnung stießen Stellungnahmen zu politischen Fragen. 80,7% (West) und 63,3% (Ost) lehnten a b . Ü b e r r a s c h e n d hoch war die Zustimmung zum Angebot von Geselligkeit. 88,2% (West) und 83,7% (Ost) sahen das als Aufgabe der Kirche an. Der Befund ist vor dem Hintergrund der Tatsache interpretationsbedürftig, daß der überwiegende Teil der Kirchenmitglieder von diesem Angebot selbst keinen Gebrauch macht. Offensichtlich hält man das Angebot für eine gute und auch kirchlich angemessene Sache. Das "Gemeindehaus" hat sich im Laufe von 100 Jahren im Bewußtsein der Gesamtbevölkerung gut verankert. Man verbindet mit ihm ein Angebot von "Geselligkeit". Auch das spricht für die Zukunftsfahigkeit des Gemeindehauses. Aber dieses Angebot wird nicht begrüßt, weil man es selbst nutzen möchte, sondern weil man es "für die anderen" gut findet. Es sollte so etwas "schon" geben, meinen zwei von drei Befragten in West und Ost. Lediglich 1,5% (West) und 3,5% (Ost) sind der Meinung, daß dies "auf keinen Fall" Aufgabe der Kirchen sei. Die dritte EKD-Umfrage hat leider nicht nach der Akzeptanz des Geselligkeitsangebots gefragt. Die übrigen drei Bereiche wurden teilweise differenzierter abgefragt. Es ergibt sich ein tendenziell ähnliches Gesamtbild.95 Jeweils mehr als drei Viertel der Befragten in West und Ost sahen es als Aufgabe an, die christliche Botschaft zu verkünden (76% und 82%). Mit ähnlich hohen Prozentsätzen wurden auch die Forderungen unterstützt, "Raum für Gebet, für Stille und inneres Zwiegespräch zu geben" und sich "um eine Gestaltung des Gottesdienstes zu bemühen, durch die sich die Menschen angesprochen fühlen". 96 Die Evangelischen erwarten ferner von ihrer Kirche, daß sie "Alte, Kranke und Behinderte betreut" (Zustimmung von über 80% in Ost und West), daß sie sich um "Menschen in sozialen Notlagen kümmert" (über 75%), daß sie sich "um die Sorgen der einzelnen Menschen kümmert" (über 70%). Aber auch "gegen Fremdenhaß und Ausländerfeindlichkeit" soll sie sich wenden (75% und 79%). Damit ist das klassische Spektrum dessen abgedeckt, was unter "christlicher Nächstenliebe" zu verstehen ist, der Dienst der Kirche für die, die am Rande stehen und in Not sind. Die Erwartung, daß die evangelische Kirche zu politischen Fragen Stellung nimmt oder sich "öffentlich zu wichtigen Gegenwartsfragen äußert", ist unter Protestanten deutlich stärker ausgeprägt als in 93 94 95 96

Allbus 1991, S.354: "aufjeden Fall" 63,3% (West) und 61,9% (Ost) Allbus 1991, S.355 Fremde Heimat, S.27 Eine neue Gottesdienstkultur in den evangelischen Landeskirchen wird gefordert. Daß diese Forderung von den liturgischen Kommissionen gehört, ernstgenommen und konzeptionell umgesetzt wird, ist längst überfällig.

2.4 Kirchlichkeit

445

der Gesamtbevölkerung. Allerdings liegen in beiden Fällen die Zustimmungsraten mit ca. 50% in Ost und West am untersten Ende der Erwartungsintensität. Einzig die Frage, ob es wichtig ist, daß die Kirche sich "um Arbeitsalltag und Berufsleben kümmert", erhielt noch weniger Zuspruch (43% und 44%). Für viele Evangelische scheint festzustehen, daß die Kirche im Arbeitsalltag nichts zu suchen hat. Diese Einstellung trifft sich tendenziell mit dem oben bereits ermittelten Befund, daß es im Leben Wichtigeres gibt als die Kirche. Die Evangelischen besitzen offensichtlich Vorstellungen davon, in welchen Segmenten ihres Lebens die Aktivitäten der Kirche erwünscht, ja sogar begrüßt werden und in welchen Segmenten die Kirche wenig oder gar nichts zu suchen hat. "Schuster, bleib bei deinem Leisten." Demzufolge hat die Kirche ein Evangelium zu verkündigen, durch das die Menschen sich inhaltlich, aber auch formal (liturgische Gestaltung!) angesprochen fühlen. Sie hat dem Gebot der Nächstenliebe in erkennbarer Weise Rechnung zu tragen, wobei das Liebesgebot durchaus nicht nur im Sinne der Mitgliederbetreuung, sondern auch im Sinne einer sozialen Diakonie verstanden wird. Und sie hat Räume bereitzustellen: Räume für "Gebet, Stille und inneres Zwiegespräch", aber auch Räume für Geselligkeit, die denen offen stehen, die nicht anderenorts über entsprechende Möglichkeiten verfügen. Ein derartiges Profil kirchlicher Arbeiten ist in der Gesamtbevölkerung konsensfähig, d.h. es wird auch von denen akzeptiert, die aus der Kirche ausgetreten sind.97 e) Was stört die Ausgetretenen an der Kirche In der dritten EKD-Umfrage erhielten sechs Kritikpunkte überdurchschnittliche Zustimmung: * Die und * Die * Die * Die * Die * Die

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Kirche geht am "wirklichen Leben des einzelnen vorbei." (51% West 37% Ost) Kirche ist "einfach nicht mehr zeitgemäß. " (50% und 41 %) Kirche ist "eigentlichunnötig." (45% und 34%) Kirche ist "zu starr und bürokratisch." (48% und 38%) Kirche "predigt nur Moral und Gesetz." (39% und 32%) Kirche ist "lust- und sexualfeindlich." (34% und 25%) 9 8

Fremde Heimat, S.61 (Schaubild). Die Erwartung, daß die Kirche "die christliche Botschaft verkündet", ist mit 53% und 63% Zustimmung stark, wird aber von der Zustimmung zu den seelsorgerlichen Aktivitäten deutlich übertroffen. Hier zeigt sich möglicherweise, daß Ausgetretene die Kirche stärker unter dem Gesichtspunkt der ethischen Zweitcodierung zu akzeptieren vermögen. Man sollte allerdings nicht vergessen, daß die evangelischen Landeskirchen diesem Eindruck durch den semantischen Verschleiß ihrer Erstcodierung entgegenkommen. Auch innerhalb der Kirchen werden sich nicht wenige finden, die der Meinung sind, die Kirche sei eigentlich eine ganz gute Einrichtung, wenn nur die "dumme" Sache mit der Glaubensverpflichtung und dem Neuen Testament nicht wäre. Oben wurde ja das Umfrageergebnis zitiert, demzufolge jeder dritte Protestant nicht an Gott glaubt. Fremde Heimat, S.59

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VI. Die Religiosität der Kirchenmitglieder

"Ein Vergleich mit den gar nicht verbundenen Kirchenmitgliedern zeigt: Sie vertreten bei aller Ähnlichkeit weniger entschieden die Meinung, daß die Kirche "am wirklichen Leben des einzelnen vorbeigeht" (50%), "zu starr und bürokratisch" ist (40%) und "zu wenig Raum für Fragen und Zweifel läßt" (29%). Die Abstände liegen zwischen 7 und 14 Prozentpunkten. In dieser unterschiedlichen Haltung zur Institution Kirche zeigt sich, daß der Austritt nicht einfach als Schlußpunkt einer ablehmenden Verbundenheit verstanden werden darf. Zu wenig Beachtung und Entgegenkommen, zu viel unerfüllt gebliebene Bedürfnisse scheinen zumindest mitverantwortlich zu sein und nach dem kleinen Schritt über die Grenze der Kirchenmitgliedschaft an Bedeutung zu gewinnen".99

f) Vorherrschende Tendenzen des Mitgliedschaftsverständnisses und des Teilnahmeverhaltens 1. Tendenz zur reflektierten und bewußt aufrecht erhaltenen Mitgliedschaft: Die öffentliche Diskussion über die Möglichkeit des Kirchenaustritts bringt immer mehr Kirchenmitglieder dazu, sich selbst ebenfalls mit dieser Frage zu beschäftigen. Schon die erste EKD-Umfrage hatte festgestellt, daß die alte, nicht hinterfragte Selbstverständlichkeit, mit der man Mitglied einer christlichen Kirche ist ("ich bin in der Kirche, weil sich das so gehört"), zunehmend von einem reflektierten "Ja", oder eben auch "Nein" zur Kirche abgelöst wird ("ich bin in der Kirche, weil ich das selbst will"). Dieser Trend hat sich weiter fortgesetzt. 1992 gaben 57% der Mitglieder an, der Kirchenaustritt komme für sie nicht in Frage. Jeder Vierte aber hatte schon einmal über den Kirchenaustritt nachgedacht und war zu dem Ergebnis gekommen, ein Austritt komme "doch nicht in Frage". Allerdings sollte in diesem Zusammenhang nicht übersehen werden, daß Kirchenmitgliedschaft schon seit dem 19.Jahrhundert Entscheidungscharakter hat. Marxisten, Sozialisten, Atheisten, Freimaurer und andere machten damals bereits von der Freiheit Gebrauch, anderen Denkmöglichkeiten und Überzeugungen zu folgen, auch wenn das Ritenmonopol der großen Konfessionskirchen und anderes viele letztlich noch vom trennenden Kirchenaustritt abhielt. 2. Selbstbestimmte und bewußt ausgewählte Teilnahme an Gottesdiensten: Peter Cornehl hat in seinem Aufsatz "Teilnahme am Gottesdienst. Zur Logik des Kirchgangs" die Erhebungsdaten aus der zweiten EKD-Umfrage ausgewertet. 102 Weder an der statistischen Tendenz noch an Cornehls Beurteilung hat sich seither Bedeutendes verändert. Selbst im Osten zeigt sich trotz stark geschrumpfter Mitgliederzahlen tendenziell das gleiche Bild. Nach wie vor gehört die Verpflichtung zum Kirchgang nur für den kleineren Teil der Kirchenmit99 100 101 102

Fremde Heimat, S.60 EKD I, S.36f Fremde Heimat, S.9 P.Cornehl: Teilnahme, S.l5-53

2.4 Kirchlichkeit

447

glieder zum Kernbestand der Aktivitäten eines Christenmenschen. Ein Drittel der Befragten der dritten EKD-Umfrage waren der Meinung es gehöre "unbedingt zum Evangelisch-Sein", daß man "zur Kirche g e h t " . 103 Cornehl hat darauf hingewiesen, daß dieser Befund nicht so zu interpretieren ist, als sei den Kirchenmitgliedern der Kirchgang insgesamt völlig gleichgültig. Faktisch geht man ja auch als evangelischer Christ in die Kirche, aber man geht selektiv. Die Kirchenmitglieder bestimmen selbst, zu welchen Anlässen und in welchem Umfang sie an Gottesdiensten teilnehmen. Anders als die Kirchenordnungen sind die Kirchenmitglieder zu einem weit überwiegenden Teil der Ansicht, daß das persönliche Christsein nicht an der Kirchgangshäufigkeit hängt. 104 Es ist bekannt, daß die durchschnittlichen wöchentlichen Gottesdienstteilnehmerzahlen seit etwa 25 Jahren um die 5 Prozent-Marke herum p e n d e l n . 105 Die Anzahl der wirklich regelmäßigen Gottesdienstteilnehmer, also derer, die wöchentlich oder fast wöchentlich den Gottesdienst besuchen, ist noch geringer. Fragt man die Mitglieder, wie häufig sie in einen Gottesdienst gehen, erhält man Zahlen, die gemessen an den tatsächlichen Teilnahmeziffern eindeutig überhöht s i n d . 106 Etwa 10% der Kirchenmitglieder geben an, nahezu wöchentlich zu g e h e n . 107 Weitere 10% geben an, ein bis zweimal monatlich zu gehen. 19% (West) und 25% (Ost) "ein paarmal im Jahr". Zu großen kirchlichen Feiertagen oder aus familiären Anlässen heraus gehen 23% (West) und 25% (Ost). Nur bei familiären Anlässen 30% (West) und 22% (Ost). Aus diesem Gefälle läßt sich (unabhängig von der Frage, wie korrekt die Angaben sind) herauslesen, daß die Landeskirchen im Bereich der Kasualgottesdienste und der jahreszyklischen Gottesdienste die höchste Zustimmung und den höchsten Zulauf erfahren. Dies gilt im übrigen auch für die katholische Kirche. 108 Die Gottesdienstteilnahmefrequenz der Kirchenmitglieder ist einer differenzierten, aber in sich durchaus stabilen Logik verpflichtet. Peter Cornehl hat vier verschiedene Motive zur Begründung der Kirchgangssitte unterschieden: normative Übereinstimmung (1.), soziale Einbindung (2.), persönliches Interesse aufgrund von bestimmten Themen, Themenangeboten und Anlässen (3.), zeitliche Rhythmisierung (4.). Die Logik der Gottesdienstteilnahme erschließt sich, wenn man in Rechnung stellt, daß die Kirchenmitglieder die vier Motive unterschiedlich gewichten. Diejenigen, für die das erste oder zweite Motiv dominierend ist, stellen die regelmäßigen Gottesdienstteilnehmer. Ihr Anteil ist 103 104 105 106

Fremde Heimat, S.20 und S.28 P.Cornehl: Teilnahme, S.20 Fremde Heimat Sp.3/2: "Von einem kontinuierlichen Rückgang kann keine Rede sein." In der Selbsteinschätzung der Kirchgangsgewohnheiten gibt es aber Ausschläge nach beiden Seiten hin. Auch den umgekehrten Fall gibt es. Anhand der Daten aus der zweiten EKD-Umfrage ließ sich zeigen, daß 19% derer, die sich als "Nichtkirchgänger" bezeichnet hatten, an anderer Stelle angegeben hatten, in die Kirche gegangen zu sein (P.Cornehl: Teilnahme, S.22). Sie empfanden sich aber wohl eher als "Mitgänger" und nicht als Kirchgänger. In die Antworten auf die Frage nach der Kirchgangsgewohnheit fließt ein Moment der Selbsteinschätzung der eigenen Kirchlichkeit bzw. der inneren Nähe oder Distanz zur Kirche mit ein. 107 EKD II, S.206; Fremde Heimat, S.30 108 M.Terwey: Kirche, S. 100

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VI. Die Religiosität der Kirchenmitglieder

tendenziell rückläufig. Regelmäßige wöchentliche Gottesdienstteilnahme findet immer weniger statt. Demgegenüber sind die Motive drei und vier nach wie vor unter Kirchenmitgliedern weit verbreitet und dominierend: Gottesdienstteilnahme findet an den großen Jahresfesten und zu den Anlässen statt, die das persönliche Interesse der Teilnehmer finden oder aus einer persönlichen Betroffenheit heraus erwachsen. 3. Lebenszyklus und Familienkreis: Die Teilnahme an Kasualgottesdiensten gehört zum Motivkomplex anlaßbezogener Teilnahme aufgrund von persönlicher Betroffenheit. Diese Form der Gottesdienstteilnahme erfreut sich unter den Kirchenmitgliedern der höchsten Zustimmung. Für 91% der Evangelischen gehört "unbedingt" zum Evangelisch-Sein, daß man getauft ist. Für 84% gehört die Konfirmation unbedingt d a z u . HO j n d e r Taufe treffen sich religiöse Motivation und persönlich-familiäres Interesse und führen zu einer überwältigenden Zustimmungsrate. Die Inanspruchnahme der Taufe ist nicht nur elementarer Bestandteil des Familienlebens, sondern auch der religiösen Hoffnungen und Wünsche für das Kind. Sie ist zugleich bewußt erlebte Kirchlichkeit und Kirchenzugehörigkeit. m Die Taufe ist der Punkt, an den sich latente Religiosität ankristallisiert. Hier wird sie sichtbar. Auch Trauung und Beerdigung haben einen hohen Stellenwert bei den Kirchenmitgliedern. Etwa jedes zweite Mitglied gibt an, in der Kirche zu sein, weil es auf die kirchliche Trauung und die kirchliche Beerdigung nicht verzichten möchte. Lediglich 13% geben an, daß das auf sie überhaupt nicht zutrifft. 112 Sowohl die situativen als auch die zyklischen Anlässe bieten Denkanstöße zur Beschäftgung mit G l a u b e n s f r a g e n . S i e repräsentieren alle drei Ebenen, auf denen die christliche Religiosität angesiedelt ist: die persönliche, die familiale und die gesellschaftlich-kulturelle Ebene. In den Formen der anlaßbezogenen und der zyklischen Gottesdienstteilnahme haben sich vorreformatorische Traditionen der Gottesdienstteilnahme bis heute erhalten. Hier liegt das Moment der Kontinuität im religiösen Wandel. Die Menschen gehen dann zum Gottesdienst, wenn sie selbst innerlich stark beteiligt sind. Und sie gehen nach wie vor in einem Ausmaß, das in Anbetracht der immer wieder zu vernehmenden Kassandrarufe vom Zerfall der christlichen Kirchen geradezu erstaunlich hoch und langfristig erprobt ist. Lediglich 1% (West) und 12% (Ost) gaben 1992 an, "nie" in den Gottesdienst zu gehen. Man darf sein Urteil in dieser Frage allerdings nicht vom Blick in die sonntäglichen Hauptgottesdienste oder gar von den Präferenzordnungen der Landeskirchen trüben lassen. Ungeachtet aller landeskirchlichen Normerwartungen halten die Kirchenmitglieder mit einer geradezu erstaunlichen Beharrlichkeit seit Jahrhunderten schon an ihrer tradier109 Zum folgenden J.Matthes: Volkskirchliche Amtshandlungen, Lebenszyklus, Lebensgeschichte, in: Ders. (Hg.): Erneuerung, S.83-112; P.Cornehl: Frömmigkeit - Alltagswelt - Lebenszyklus, in: WPKG 64/1975, S.388-401 110 Fremde Heimat, S.20 111 Vgl. die Statements zum Tauf- und Konfirmationsverständnis in Fremde Heimat, S.l 8f 112 Fremde Heimat, S.l7 113 W.Gebhardt: Milieus, S.298f

2.4 Kirchlichkeit

449

ten Kirchengangssitte fest. Die verbreitete Form der anlaßorientierten, selbstgewählten Gottesdienstteilnahme verrät auch etwas über das allgemeine Religionsverständnis der Kirchenmitglieder. Ihre Religiosität besitzt eine starke Verankerung im persönlichen sozialen Umfeld. Sie wird nicht "auf Vorrat" gehalten. Es wird kein "Schatz frommer Taten" aufgehäuft. Vielmehr wird die Religion dann abgerufen, wenn sie auch gebraucht wird. Zum Fest im Gottesdienst (gerade die "hohen" Gottesdienste sind ja häufig auch diejenigen, die am besten vorbereitet und ausgestaltet werden) gehört das Fest im Kreis der Familienangehörigen und Freunde unmittelbar mit hinzu. In derartig punktuellen Kontakten entsteht für viele das maßgebliche Bild von Kirche und Gemeinde. Hier bildet sich auch die positive Einstellung der Kirchenmitglieder zu ihren Gemeindepfarrerinnen oder -pfarrern heraus, die sich ebenfalls bereits seit drei Jahrzehnten nachweisen läßt. 114 4. Ökumenische Orientierung und Offenheit: Das traditionelle Ineinander und Nebeneinander zweier großer christlicher Kirchen hat im Bewußtsein der Mitglieder zu einer Erosion der Konfessionsprofile geführt. Die Überzeugung, "wir glauben doch alle an einen Gott", gehört zum Kernbestand der religiösen Überzeugungen. Angesichts von konfessionsgemischten Ehe- und Verwandtschaftsverhältnissen sind konfessionelle Grenzziehungen und Abgrenzungsbemühungen der christlichen Großkirchen immer weniger plausibel. Wenn in Traugesprächen zunehmend "ökumenische" Trauungen gefordert werden, zeigt sich, wie wenig den Kirchenmitgliedern bewußt ist, daß es eine "ökumenische" Kirche gar nicht gibt. Nach wie vor wird evangelisch oder katholisch getraut. Im Bewußtsein der Mitglieder aber sind die Differenzen zwischen beiden Kirchen gering. Wechselseitig bringt man Sympathie für die Angehörigen der jeweils anderen Konfession auf, wobei Katholiken sogar noch häufiger positiv über Evangelische denken als umgekehrt. Neuere soziologische Umfragen zeigen darüber hinaus, daß die Entwicklungstendenzen der Mitgliederreligiosität und des Teilnahmeverhaltens in beiden großen Konfessionskirchen ähnlich verlaufen. Stärkere Abweichungen gibt es, pauschal betrachtet, nicht zwischen den Evangelischen und den Katholiken, sondern zwischen Kirchenmitgliedern und Nichtkonfessionellen. 1 5. Trend hin zur "Mitsprache"-Konfessionalität: Schließlich gibt es einen noch nicht quantifizierten Trend hin zur "Mitsprache"-Konfessionalität. Er zeigt sich deutlich in dem Kirchenvolksbegehren, das zuerst in der katholischen Kirche Österreichs und dann in der deutschen katholischen Kirche stattgefunden hat. Eine nennenswerte Zahl von Kirchenmitgliedern ist offensichtlich nicht länger 114 Nach wie vor maßgeblich P.Krusche: Der Pfarrer in der Schlüsselrolle, in: J.Matthes (Hg.): Erneuerung, S.161-188 115 So schätzen 68% der Katholiken das Evangelisch-Sein positiv ein und 54% der Evangelischen bewerten die katholische Konfessionszugehörigkeit positiv (M.Terwey: Pluralismus, S.126); vgl. aber das differenziertere Bild in der Spiegel-Umfrage 1992, S.53 116 I.Lukatis / W.Lukatis: Protestanten, S.66f; W.Pittkowski: Evangelisch, S.180. Das bestätigt auch der hier vorgenommene Abgleich von Allbusdaten und Ergebnissen der dritten EKDBefragung.

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VI. Die Religiosität der Kirchenmitglieder

bereit, sich die Glaubensinhalte ihrer Konfession ausschließlich "von oben" diktieren zu lassen. Sie artikuliert ihren Unmut über die "veralteten" Glaubensauffassungen und die "verknöcherte" Institution. Sie reklamiert das Recht für sich, als Kirchenmitglieder über die Glaubensinhalte und die Organisationskultur des organisierten Christentums mitzuentscheiden. Das ist neu und zeugt von einem deutlich gestärkten Selbstvertrauen der Mitglieder in die geistliche Kompetenz ihrer eigenen Überzeugungen und in die eigene geistliche Kompetenz. Zwar gibt es in der evangelischen Kirche eine völlig andere Mitsprachetradition und ein deutlich stärkeres demokratisches Element. Aber darüber sollte die "Fülle der undialogischen F u n k t i o n e n " n i c h t übersehen werden, die auch in evangelischen Kirchengemeinden den Kommunikationsalltag im Verkehr von Kirchenvertretern und Kirchenmitgliedern bestimmen. Man denke nur etwa an die Verkündigungskultur, an die Sprache der kirchlichen Ordnungen oder Ansehen und Stellung der Pfarrer/innen in der Gemeinde. Auch in den evangelischen Landeskirchen ist eine Standardisierung und "Anonymisierung der spezifisch personalen religiösen Beziehungen" festgestellt und beklagt w o r d e n . 1 Die verbreitete Überzeugung "Ich bin Christ" bedeutet demgegenüber auch, daß die Mitglieder erwarten, mit ihren Vorstellungen von "ihrer" Kirche auch innerhalb der Organisation ernstgenommen zu werden. Schon zum drittenmal ist nun in einer EKD-Umfrage der Unmut über die Unfähigkeit der evangelischen Landeskirchen, eine wirklichkeitsnahe und zeitgemäße Verkündigung des Evangeliums flächendeckend zustande zu bringen, belegt worden. 1 ^

g) Das parochiale "Gemeindeleben" Nach der Allbus-Befragung 1991 nehmen 38,7% (West) und 71,7% (Ost) nie an irgendwelchen kirchlichen Veranstaltungen teil. Regelmäßig beteiligen sich 10,5% (West) und 4,6% (Ost). 1 2 0 Bei der dritten EKD-Umfrage gaben von den Evangelischen 72% (West) und 68% (Ost) an, sich nicht am kirchlichen Leben zu beteiligen. Fragt man, wann sich denn die Gemeindemitglieder überhaupt beteiligen, dann stellt man fest: Relativ hohe Beteiligungsneigung finden Angebote zur punktuellen und kurzzeitig befristeten Teilnahme: Gemeindefeste, kirchenmusikalische und kirchliche Veranstaltungen. Deutlich geringer ist die Beteiligungsneigung in Gruppen und Kreisen der Gemeinde. Auch die Bereitschaft zur eigenen aktiven Mitarbeit in der Kirchengemeinde ist eher gering. 15% der Evangelischen stimmen der Aussage zu, in der Kirche zu sein, weil sie die "Möglichkeit zu sinnvoller Mitarbeit" gibt. Aber 41 % sehen ihre Mitgliedschaft nicht unter dem Gesichtspunkt einer potentiellen Mitarbeit ("trifft nicht zu"). 17% sehen ihre Mitgliedschaft unter dem Gesichts117 118 119 120 121

G.Bormann / S.Bormann-Heischkeil: Theorie, S.273 G.Bormann / S.Bormann-Heischkeil: Theorie, S.275 Fremde Heimat, S.27 (Schaubild - vorletztes Item) Allbus 1991, S.346 Fremde Heimat, S.31

2.4 Kirchlichkeit

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punkt, daß die Kirche "Gemeinschaft" bietet, aber für 36% trifft das nicht zu.122 D e r Gedanke an die Gemeinschaft in einer Kirchengemeinde und die mögliche Mitarbeit im Rahmen des Gemeindelebens erfährt damit die geringste Zustimmung und die höchste Ablehnungsrate aller 16 Vorgaben der Frage nach Gründen für die eigene Kirchenmitgliedschaft. Gefragt, ob sie denn bereit zur Mitarbeit wären, "wenn es überschaubare und zeitlich begrenzte Aufgaben wären" , die den eigenen Fähigkeiten entgegen kämen, antworteten drei Viertel der Befragten "Nein". Lediglich 2% der Befragten waren grundsätzlich bereit zur Mitarbeit. Unter bestimmten Voraussetzungen würden aber etwa 15% zeitlich befristet mitarbeiten und knapp 10%, wenn es ihren Fähigkeiten und Neigungen entspricht. 123 Faßt man diese Zahlen zusammen, dann muß man feststellen, daß die zweite Säule der Gemeindearbeit, das Gemeindehausleben, im Bewußtsein des weit überwiegenden Teils der Gemeindemitglieder keine oder lediglich eine sehr begrenzte Rolle spielt. Die vorliegenden Zahlen bestätigen die Vorstellungen der Landeskirchen und ihrer Präferenzordnungen, die die Kirchengemeinden als "Heimat" oder "Lebenswelt" ihrer Mitglieder ansehen, nicht. Allerdings ist bei genauerem Hinsehen doch feststellbar, daß das Projekt "Gemeindehausleben" unter aktiver Mitwirkung der Laien in der Gemeinde keineswegs völlig chancenlos ist. Es ist lediglich in seiner Reichweite begrenzt. Es ist kein Angebot für alle Kirchenmitglieder, sondern eine Option für einen Teil der Kirchenmitglieder. Wenn das Angebot überzeugt, ist ein durchaus nennenswerter Teil der Kirchenmitglieder bereit, teilzunehmen oder sogar auch selbst aktiv mitzumachen. Dabei wird man auch im Blick haben, daß die Projekte und Vorhaben des Gemeindelebens sich in der Regel zwar an alle Mitglieder wenden, aber immer nur von wenigen Organisatoren geplant und getragen werden können. Die erforderliche (und organisatorisch verkraftbare) geringe Anzahl von Aktiven scheint durchaus auch morgen noch zu finden zu sein. Um die Zukunftsfähigkeit eines "Gemeindelebens" muß einem also nicht bange sein. Allerdings wird der Stellenwert, der dem Gemeindehausleben im Rahmen eines Gesamtkonzeptes evangelischer Gemeindearbeit einzuräumen ist, neu zu bestimmen sein. Von einem "Kern" oder "Herzstück" wird man nicht mehr reden können, wohl aber von einem wichtigen Segment der evangelischen Gemeindearbeit.

2.5 Ergebnisse Mißtrauen und Distanz prägen in einem starken Ausmaß das Verhältnis der Mitglieder zur kirchlichen Organisation. Die Einstellungen der Mitglieder stehen in diametralem Gegensatz zum Selbstverständnis der Organisation, die in ihrer Präferenzordnung gerade von der völligen Übereinstimmung und Identifi-

122 Fremde Heimat, S. 17 123 Fremde Heimat, S.31

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VI. Die Religiosität der Kirchenmitglieder

kation der Mitglieder mit den Organisationszielen und Inhalten ausgeht. Man weiß sich der Landeskirche in vieler Hinsicht lediglich partiell verbunden: 1. Die Mehrzahl der Mitglieder glaubt nicht an den Gott des trinitarischen Glaubensbekenntnisses, sondern hat ein spiritualisiertes und semantisch entleertes Gottesverständnis. Ein hoher Prozentsatz der Kirchenmitglieder zeigt Affinitäten zu parareligiösen Einstellungen und Erfahrungen. Ein weiterer Teil glaubt gar nicht an Gott. Kirchenmitgliedschaft läßt sich auch aus der Perspektive der ethischen Zweitcodierung des Christentums rechtfertigen und aufrechterhalten. Das religiös-christliche Sachwissen befindet sich auf einem sehr niedrigen Niveau. Konfessionsprofile verlieren an Bedeutung. Das christliche Bewußtsein vieler Mitglieder ist ökumenisch orientiert. 2. Regelmäßige, kontinuierliche Gottesdienstteilnahme kennzeichnet schrumpfende Minderheiten. Es dominiert die selbstgewählte und selbstgewollte Teilnahme, nicht die Orientierung an den kirchlichen Erwartungen. Das gilt auch für die Teilnahme am parochialen Gemeindeleben. Der weit überwiegende Teil der Mitglieder schließt Mitarbeit im Gemeindeleben aus. Die Kirchenmitglieder verstehen sich absolut nicht als "Millionenheer von ehrenamtlichen Mitarbeitern" , das im Rahmen des Priestertums aller Gläubigen auf Abruf bereit steht, um "willig und sorgfältig" (Kirchenordnung) die ihm auferlegten Dienste zu verrichten. 3. Die Mitglieder folgen eigenen Überzeugungen und setzen eigene Prioritäten. Sie leben in einer religiösen Welt, für die den Vertretern des organisierten Christentums oft genug der Zugang fehlt. Umgekehrt aber ist es ebenso. Die Mitglieder wissen in aller Regel fast nichts über das Innenleben und das Selbstverständnis der Organisation. 124 Lediglich hinsichtlich der Forderung einer regelmäßigen, wöchentlichen Gottesdienstbeteiligung läßt sich ein verbreiteter Reflex von Seiten der Mitglieder wahrnehmen. Es herrscht unter den Kirchenmitgliedern ein ausgeprägtes "schlechtes Gewissen", weil man dieser Forderung nicht entspricht, obwohl man sie kennt. 125 124 Inner- und zwischenkirchliche Organisations- und Verwaltungsstrukturen sind der Mehrheit der evangelischen Gemeindemitglieder unbekannt. Bekannt sind lediglich die Pfarrer/innen, die eigene Kirchengemeinde und die "Evangelische Kirche in Deutschland" als Begriff und Projektionsfläche eigener religiöser Vorstellungen. Dagegen weiß kaum ein Kirchenmitglied, daß es Kirchenkreise, Landeskirchen oder sogar Kirchenbünde, wie die VELKD oder die EKU gibt (Vgl. EKD I, S.162-171). Die anachronistische Organisationsform der EKD als Bund selbständiger Kirchen (vgl. T.Koch: Die Evangelische Kirche in Deutschland'- Kirche Jesu Christi?, in: ZEvKR 37/1992, S.43; H.-D.Wendland: Parochie, S.275) ist den Mitgliedern ebenfalls unbekannt. 125 Fremde Heimat, S.21/2; W.Gebhardt: Milieus, S.293. Gerade bei Hausbesuchen kommt es immer wieder zu Eingeständnissen dieses Gewissendrucks und zu allerlei Rechtfertigungen, weil man doch nicht so häufig in den Gottesdienst geht, wie "die Kirche" sich das wünscht. Mit derartigen "Beichten" belastet, geraten Erstkontakte oder Seelsorgegespräche leicht in ein negatives Autoritätsgefälle hinein. Der "Sünder" macht sich kleiner als sein pastoraler Gesprächspartner. Das aber ist für den Gesprächs- oder Seelsorgeprozeß äußerst ungut. Hier ist zu fragen: Kann es auf Dauer günstig sein, wenn ein überwiegender Teil der Kirchenmitglieder den Pfarrer/innen mit einem "schlechten Gewissen" begegnet?

2.4 Kirchlichkeit

453

Aber die Mitgliederreligiosität und Kirchlichkeit sollte nicht nur unter dem Gesichtspunkt mangelnder oder überhaupt nicht vorhandener Kompatibilität mit Kirchenordnungen wahrgenommen werden. Sie enthält konstruktive und konkrete Vorstellungen von den Aufgaben einer christlichen Kirche und dem sinnvollen und notwendigen Ausmaß christlicher Religiosität im Leben eines Menschen: Die Kirche soll nach verbreiteter Meinung das Evangelium zeitgemäß verkünden. Sie soll diakonisch aktiv sein, Nächstenliebe üben und den Einzelnen mit seinen Sorgen und Nöten begleiten. Sie soll auch über den Tellerrand der Individualität hinausblicken und sich den Bruchstellen der (Welt-)Gesellschaft zuwenden. Trotz aller inhaltlichen und strukturellen "Unchristlichkeit", die man der Masse der Kirchenmitglieder immer wieder aus theologischer Sicht vorgehalten hat, zeigt sich in diesen Forderungen doch unbestreitbar christliches Urgestein. Die dargestellten Vorstellungen und Erwartungen sind ohne Zweifel evangeliumsgemäß. Sie dokumentieren die nachhaltige Wirkung jahrhundertelanger christlicher Verkündigung. Darüber hinaus sind sie auch außerhalb der Kirchen gesamtgesellschaftlich konsensfähig. Es gibt Segmente des gesamtgesellschaftlichen Handelns, die von den Kirchenmitgliedern ebenso wie von den Nichtmitgliedern als "Domänen" der christlichen Kirchen angesehen werden. Selbst Nichtkonfessionelle wissen und erwarten, daß sie mit der Predigt des Evangeliums und mit dem Engagement für die Schwachen konfrontiert werden, wenn sie es mit der Kirche zu tun haben. Nun kann man fragen, wie die Kirchen mit diesem Befund umzugehen haben. Die Erosion der Glaubensinhalte und der Bindungsintensitäten erfordert nicht, daß die christlichen Kirchen der "verdunstenden" Religiosität ihrerseits Rechnung zu tragen und sich an den untersten Standards des religiös Vorstellbaren zu orientieren hätten. Niemand erwartet, daß ein Pfarrer im Gottesdienst die Predigt ausfallen läßt, um stattdessen Saxofon zu spielen. Vielmehr wird nach wie vor erwartet, daß die christlichen Kirchen "das Evangelium" predigen, und dieses Evangelium ist nun einmal das Evangelium von und über Jesus Christus. Damit aber werden die christlichen Kirchen von ihren Mitgliedern auf ihre ureigene Sache behaftet. Allerdings sehen die Kirchenmitglieder es als Aufgabe der Kirchen an, ihnen die Inhalte und die Relevanz der Botschaft Jesu Christi in einer evidenten, verständlichen und unter Umständen auch "schönen" (R.Bohren) Weise deutlich zu machen. Die Verkündigung soll mitvollziehbar und diskursfähig sein, und die Mitglieder möchten nicht vereinnahmt werden. Sie wollen in ihrer Eigenständigkeit und in ihrer Glaubensautonomie ernstgenommen werden. Sie erwarten, daß ihnen von "der Kirche" die Freiheit zugestanden wird, selbst denken, selbst glauben und selbst über die Relevanz einer Verkündigung zu urteilen. Die Daten über Religiosität und Kirchlichkeit geben auch eine deutliche Antwort auf die Frage, "wieviel" Religion der Mensch nach Ansicht der Kirchenmitglieder "braucht". Die Antwort fällt völlig anders aus als die Antwort eines professionellen Christenmenschen. Während dieser sich eben aus beruflichen Gründen im Zustand einer ständige christlich-religösen "Daueraktivität"

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VI. Die Religiosität der Kirchenmitglieder

befindet und tagtäglich mit Bibel, Gesangbuch, Losungen, Vater Unser, "Zuspuch und Anspruch" usw. umgeht, ist der überwiegende Teil der Bevölkerung der Ansicht, man brauche nur wenig Religion im Leben. Es gibt auch anderes im Leben. Es gibt auch Bereiche, die über lange Strecken im Leben als wichtiger eingeschätzt werden: Familie und Arbeit beispielsweise, wenn und so lange man sie denn hat. Anschluß an Religion und Kirche wird gesucht, wenn man beide unmittelbar benötigt. Der Mensch braucht wenig Religion, dies ist die eine Seite der Einstellung. Aber es gibt noch eine zweite Seite. In deutlicher Übereinstimmung fordern die Kirchenmitglieder von ihren Kirchen, für das "Ensemble der Opfer dieser Gesellschaft" (E.Lange) einzutreten. Darin kommt das solidarische und verbindliche Moment ihres Religionsverständnisses zum Ausdruck. Die Kirchen werden auf ihre eigene ethische Botschaft behaftet. Man erwartet von ihnen, daß sie tun, was sie predigen. Die christliche Kirche und der christliche Glaube werden als "ernsthafte Sache" angesehen. Hier zeigt sich eine Tiefendimension der Alltagsreligiosität. Religion und Kirche haben es mehr noch als alle anderen Bereiche dieser Gesellschaft mit Prinzipienfestigkeit, Ehrlichkeit, Berechenbarkeit und Konsequenz zu tun. Wieviel Religion braucht der Mensch nach Ansicht der Kirchenmitglieder? Er braucht wenig Religion, aber ernsthafte und erkennbare R e l i g i o n . 126

3. Die Religiosität des zerrissenen Menschen - Interpretation der Umfragedaten Nachdem im vorhergehenden Abschnitt empirische Daten über grundlegende Aspekte der Religiosität und des Teilnahmeverhaltens der Kirchenmitglieder zusammengetragen worden sind, wird es nun darum gehen, herauszufinden, warum die Einstellungen und Verhaltensweisen der Mitglieder so sind, wie sie sind. Gibt es Erklärungen für die weite Verbreitung der teilweise ja schon traditionell von den Normerwartungen der Landeskirchen abweichenden Religiosität und Kirchlichkeit der Mitglieder? Findet man solche Erklärungen, dann wird möglicherweise auch die zweite Frage zu beantworten sein, die sich angesichts des empirischen Befunds geradezu aufdrängt: Gibt es Erklärungen dafür, daß die Mitglieder ihrer Kirche treu bleiben, obwohl sie keineswegs so sind, wie die Organisation es gerne hätte, und obwohl sie sich dieser Tatsache durchaus bewußt sind? Mögliche Antworten auf diese Fragestellungen werden weiterhin zunächst im Rahmen des systemtheoretischen Ansatzes gesucht. Da sich im Verlauf der Darstellung bereits mehrfach bestätigt hat, daß Systementwicklung und Systemwandel sich stets gleichermaßen unter externen wie auch unter internen Systembedingungen vollziehen, ist auch in diesem Fall anzunehmen, daß interne und externe Ursachen für den Zustand der Mitgliederreligiosität 126 Vgl. aber auch Anm.223

3. Die Religiosität des zerrissenen Menschen

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verantwortlich sind. Von daher wird eine vierteilige Behauptung aufgestellt, deren erste drei Teile bereits entfaltet worden sind: Religiosität und Mitgliedschaftsverhalten sind 1. von uralten religiösen Grundüberzeugungen der Mitglieder geprägt, 2. vom systemspezifischen Zustand der Landeskirchen motiviert, 3. ein Ergebnis geschichtlicher Entwicklungen und 4. ein Produkt der gesellschaftlichen Ausdifferenzierung. Zu 1. : Im ersten Teil der Arbeit über die Geschichte der protestantischen Mitgliederreligiosität wurde dargestellt, daß die Kirchenmitglieder die konfessionellen Normerwartungen der Reformatoren zu keiner Zeit vollständig akzeptiert haben. Selbst unter massivem Druck und unter Zwangsandrohungen waren sie nicht dazu zu bewegen, ihr Religionsverständnis und ihre religiöse Praxis restlos zu "reinigen" und den Erwartungen der protestantischen Theologen anzupassen. Es zeigte sich, daß sie tiefverankerte Vorstellungen davon besaßen, wie christliche Religion erlebt und gefeiert wird. Diese Vorstellungen brachten sie in wechselnde kirchliche Organisationen ein und hielten dort auch gegen den Willen der kirchlichen Organisation an ihnen fest. Die Zucht- und Kontrollmaßnahmen der Kirchengemeinden (und des Staates) bewirkten zwar ein hohes Maß an Verkirchlichung der Religiosität. Unterhalb der Oberfläche allerdings haben sich über Jahrhunderte hinweg die Vorstellungen von der Zusammengehörigkeit der christlichen Religion mit dem Lebenszyklus, dem Jahreszyklus, dem Fest, der Gemeinschaft und der Magie erhalten, die auch schon die vorreformatorische Religionspraxis gekennzeichnet hatten. Zu 2.: Auch zur Begründung der Annahme, daß die Landeskirchen die Form der Mitgliederreligiosität aufgrund ihres inneren Zustandes selbst hervorgebracht haben, und daß die Mitgliederreligiosität sich als Reflex auf diesen Zustand plausibel erklären läßt, weil systemspezifische Erfahrungen systemspezifische Einstellungen und Verhaltensweisen erzeugen, haben sich bereits zahlreiche Belege finden lassen: Im Zuge der kirchenoffiziell geförderten Individualisierung und Pluralisierung von Glaubensinhalten, der Dekonfessionalisierung und Entdogmatisierung, mußte die Bindungsintensität des Einzelnen an die Normerwartungen der Institution zwangsläufig nachlassen. Hinzu kommt, daß der Gesamtzustand der Landeskirchen (gealterte und ausdifferenzierte Organisationen im Wandel) es den Mitgliedern schwer macht, sich mit ihnen zu identifizieren. Was bei der Analyse der Landeskirchen erarbeitet worden ist, soll hier nicht im einzelnen wiederholt werden. Es dürfte allerdings kaum zu bestreiten sein, daß eine Organisation, die sich in dem beschriebenen Gesamtzustand befindet, von ihren Mitgliedern kaum als transparent oder attraktiv erlebt werden kann. Auch unter diesem Gesichtspunkt ist es für die Kirchenmitglieder naheliegend, sich nicht allzu eng an die Landeskirchen zu binden, sondern mit "der Kirche" nur dann Kontakt aufzunehmen, wenn sie sie unmittelbar benöti-

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VI. Die Religiosität der Kirchenmitglieder

gen, und sich dabei nach Möglichkeit nicht allzu tief in die hermeneutischen oder organisatorischen Ungereimtheiten und Konfliktzonen hineinzuverstricken. Zu 3.: Es ist kaum zu bezweifeln, daß das Kirchenbild der Evangelischen auch von der Tatsache mitgeprägt worden ist, daß die Landeskirchen jahrhundertelang unter dem landesherrlichen Kirchenregiment standen. Sie waren ein Teil der staatlichen Obrigkeit, und verhielten sich gegenüber ihren Mitgliedern entsprechend. Die psychologischen Eindrücke dieser Herrschaftskonstellation sind noch nicht überwunden, obwohl der Status der Landeskirchen sich inzwischen völlig verändert hat. Ein Großteil der Mitglieder empfindet die kirchliche Organisation auch heute noch als ein machtvolles, Ehrfurcht gebietendes Gegenüber. Aber auch im Verständnis dessen, was die christliche Religion inhaltlich ausmacht, lassen sich die Auswirkungen historischer Entwicklungen ausmachen. Wolfgang Lück hat die sicher verkürzte, aber gleichwohl nachvollziehbare These vertreten, daß das Religionsverständnis der deutschen Bevölkerung von den Normvorgaben des alten Preußischen Landrechtes bestimmt ist. 127 Ursprünglich zur Konfliktvermeidung zwischen den streitenden Theologen und den verschiedenen Konfessionen gedacht, habe die Bevölkerung die Gebote der "Toleranz", "Selbstbestimmung" und "Freiheit" verinnerlicht und sei im Laufe der Zeit dazu übergegangen, diese drei Normen für die eigentlich christlichen Normen zu halten. Ein guter Christ zeichne sich folglich dadurch aus, daß er tolerant ist und die Freiheit der Andersglaubenden achtet. Ein solches ethisch orientiertes, ökumenisch ausgerichtetes und dogmatisch "gereinigtes" Religionsverständnis war auch erklärtes Erziehungsziel der Religionspolizei des 18.Jahrhunderts. Die dritte EKD-Umfrage hat die weite Verbreitung derartiger religiöser Ansichten unter den Evangelischen gerade wieder b e l e g t . 128 j ) e r Einfluß der Nachkriegsgesetzgebung, die ebenfalls Auswirkungen auf das Religions- und Kirchenverständnis hatte, wird weiter unten noch angesprochen werden. Zu 4.: Schon bei der Datenerhebung hat sich gezeigt, daß viele der genannten Faktoren nicht allein innerhalb der evangelischen Landeskirchen wirksam sind, ja daß sie nicht einmal als spezifisch deutsche Konstellationen anzusehen sind. Europaweit läßt sich die semantische Aufweichung der christlichen Glaubensinhalte und die innere Ablösung von den organisierten christlichen Großkirchen feststellen. Diese Beobachtung macht es zwingend, über die Lebenssituation der Menschen in der ausdifferenzierten Gesellschaft nachzudenken und die These aufzustellen, daß die gesellschaftliche Situation einen bedeutenden Einfluß auf Art und Inhalte des Glaubens und der Kirchlichkeit ausübt. Dieser vierte Teil der These über die Ursachen der distanzierten Kirchlichkeit soll nun im folgenden entfaltet und belegt werden.

127 W.Lück: Praxis, S.114-117 und 121-123 128 Vgl. Fremde Heimat, S.13: Ich meine "feste Glaubensüberzeugungen machen intolerant.": "Jede Religion hat Stärken und Schwächen. Man sollte sich das jeweils Beste herausholen."

3.1 Religion in der Gesellschaft - Interpretationsansatz

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3.1 Religion in der Gesellschaft - Begründung des gewählten Interpretationsansatzes a) Das Problem der Interpretation von Umfragedaten Wer Umfragedaten interpretieren möchte, sollte sich zunächst klar machen, daß Datenerhebung und Dateninterpretation zweierlei sind. Die Dateninterpretation unterliegt einer speziellen hermeneutischen Problematik und ist von der Datensammlung sorgsam zu u n t e r s c h e i d e n . 129 "Die erhobenen Daten 'sagen' von sich aus überhaupt nichts. Kein Computer und kein Programm kann ein in irgendeiner Hinsicht theoretisch interessantes Ergebnis liefern, wenn den Analysen keine sinnvollen Theorien zugrunde liegen". 130 Entscheidend ist also, vor welchem Theoriehintergrund die Daten "zum Sprechen gebracht" werden. In dieser Hinsicht weichen die vorliegenden Interpretationsansätze, die zur Erklärung der Ursachen nachlassender Glaubenstreue und Kirchenbindung herangezogen werden, erheblich voneinander ab. Drei Ansätze sollen vorgestellt werden. 1. Stabilität, Distanz, Heimat: Die Auswertung der 1. EKD-Mitgliederbefragung aus dem Jahr 1972 trägt den Titel "Wie stabil ist die Kirche?" Der Titel wurde vermutlich absichtsvoll ein wenig plakativ und marktgerecht gewählt. Er stand auch keineswegs in völliger Übereinstimmung mit den wissenschaftlichen Intentionen der A u t o r e n . 131 Aber er signalisierte ein eindeutiges hermeneutisches Interesse. Der Untersuchung ging es darum, herauszufinden, wie "stabil" die Kirche ist. Wer eine solche Leitfrage formuliert, erzeugt bei seinen Lesern die Erwartungshaltung, daß die Dateninterpretation im Gefalle eines kirchenzentrierten Interesses geschehen wird, das seinerseits von einem Krisenbewußtsein gespeist ist. 132 Es geht thematisch um die Zukunft der evangelischen Landeskirchen vor dem Hintergrund der Vermutung, daß die Kirchen nicht mehr ganz so "stabil" sind, wie sie es einmal gewesen sind oder wünschenswerterweise sein könnten. Folglich sind Defizite zu ermitteln, um damit (mittelfristig) die angeschlagene Stabilität der Volkskirche wieder zu verbessern. Obwohl schon auf der dritten Seite des Vorworts eine Entwarnung gegeben wird ("Zu einer pessimistischen Prognose für die Volkskirche besteht kein Anlaß"), fuhrt die Wahl des Titels doch die Aufmerksamkeitsrichtung in die engen Grenzen einer kirchenoffiziellen Probleminterpretation.

129 Zur Wissenschafts- und erkenntnistheoretischen Diskussion in der empirischen Sozialforschung, die im folgenden exemplarisch am Beispiel der Dateninterpretation bei Religionsumfragen erörtert wird, vgl. R.Schnell u.a.: Methoden der empirischen Sozialforschung, München 4 1993, S.37-115 130 R.Schnell u.a.: Methoden, S.445 131 Vgl. etwa die Kritik des Säkularisierungsverständnisses und den Anschluß an P.L.Bergers Religionskonzeption ("religiöser Pluralismus"; Marktmodell) - S.25f 132 Vgl. den Hinweis auf die Kirchenaustritte schon auf der ersten Seite des Textes - S.7

458

VI. Die Religiosität der Kirchenmitglieder

In gleicher Weise als "kirchturmfixiert" lassen sich Interpretationen bezeichnen, die in das Datenmaterial über die Gottesdienstteilnahmefrequenz der Gemeindemitglieder Kategorien unterschiedlicher "Nähe" oder "Ferne" zur Institution der Volkskirche eintragen. Wer nur sehr wenig oder gar nicht in den Sonntagsgottesdienst geht, gilt in dieser Sicht als "distanziertes Kirchenmitglied" oder als "kirchlich d e s i n t e g r i e r t " . 133 Folglich gibt es Publikationen über die "kirchlich distanzierte Christlichkeit" 134> u n ( j e s gibt unter den Praktikern in den Kirchengemeinden die verbreitete Überzeugung, daß es "an den Rändern der Kirche b r ö c k e l t " . 135 Der Deutungsansatz aber ist mindestens so fragwürdig, wie er beliebt zu sein scheint. Er operiert mit einem unbewußt wirkenden Leitbild. Man habe sich Kirchlichkeit als eindimensionales Phänomen vorzus t e l l e n ^ über dessen Zustand sich hinreichender Aufschluß gewinnen läßt, wenn man sich die statistische Verteilung der Gottesdienstteilnahme aller Mitglieder anschaut. Tatsächlich aber sind verschiedenartige Kirchgangssitten unter Evangelischen schon seit mehr als 100 Jahren nebeneinander verbreitet. Auch der Titel der Vorabauswertung der dritten EKD-Umfrage, "Fremde Heimat Kirche", signalisiert in diesem Sinne wieder die Existenz eines innerkirchlichen Interpretationshorizontes. Die Auswertung möchte das Verständnis für die Religiosität und Kirchlichkeit der Kirchenmitglieder verbessern und wählt dazu als Leitbild den Begriff der Kirche als "Heimat". Der Kirche wird im Blick auf die Mitglieder eine Aufgabe zugewiesen. Sie soll "Heimat" für sie sein oder besser, sie möchte gerne Heimat für ihre Mitglieder sein. Denn sie ist es offensichtlich nicht. Es wird festgestellt, daß die Kirche für viele ihrer Mitglieder eine "fremde Heimat" ist und nicht etwa eine Geborgenheit stiftende Heimat. Die Beheimatung zeigt Risse. Die Dateninterpretation der Vorabauswertung erfolgt zwar nur partiell im Gefalle dieser Selbstwahrnehmung von Kirche (Heimat), aber man kann doch fragen, ob damit tatsächlich der Kern des Verhältnisses von kirchlicher Organisation und Mitgliederreligiosität getroffen ist. Ist die innere Distanz gegenüber gesellschaftlichen Institutionen nicht mittlerweile zu einem allgemeinen Phänomen geworden, das auch ganz andere Institutionen betrifft? Weder der Staat noch die Kommunen, die Parteien oder die Gewerkschaften sind heute noch in der Lage, ihren Mitgliedern eine geistige 133 M.Terwey: Pluralismus, S. 128 134 N.Mette: Kirchlich distanzierte Christlichkeit, München 1982; M.Kroeger: Die religiöse Innenseite der distanzierten Kirchlichkeit (Vorlagen Nr.41), Hannover 1986 und umgekehrt: R.Köster: Die Kirchentreuen, Stuttgart 1959 135 A.Grözinger: Es bröckelt an den Rändern, München 1992 136 Dieses Problem begegnet auch in einer an sich richtungweisenden soziologischen Studie zum Wertewandel. W.Biirklin u.a. (Dimensionen des Wertewandels. Eine empirische Längsschnittanalyse zur Dimensionalität und der Wandlungsdynamik gesellschaftlicher Wertorientierungen, in: Politische Vierteljahresschrift 35/1994, S.579-606) haben die Religion auf eine einzige Dimension reduziert, auf die Frage nach der Einstellung zur politischen Relevanz der Kirche. Damit fragen sie eine Konstellation ab, die zu Kaisers Zeiten einmal bestimmend war und erhalten das Ergebnis, daß sich die Einstellung zu dieser Frage im Generationentakt geändert hat. Wer das Kaiserreich noch miterlebt hat, denkt hier tatsächlich anders als die Kinder der Nachkriegsära. Wen üben-ascht das? Der Vieldimensionalität von Religion und Kirchlichkeit wird der Aufsatz nicht gerecht.

3.1 Religion in der Gesellschaft - Interpretationsansatz

459

Beheimatung zu bieten. Das spezifisch Kirchliche kommt über dieser Einsicht noch gar nicht in den Blick. Es erschließt sich erst, wenn man andere Interpretationshorizonte wählt. 2. Säkularisierung: Neben den Interpretationsansätzen, die im Schatten des Kirchturms gedeihen, gibt es Interpretationsansätze im Kontext der Säkularisierungsthese. Säkularisierung ist hier verstanden als "Ablösung christlicher und kirchlicher Deutungsmuster, Bindungen und Gebote sowie ihre Ersetzung durch außerhalb der Kirchen entstandene funktionale Äquivalente. Die voll säkularisierten Personen stützen sich im Ideal auf Rationalität und Wissenschaft, indem sie alle transzendenz- bzw. jenseitsbezogenen Glaubensvorstellungen ablehnen. Dementsprechend lösen sie sich von solchen Organisationen, die traditionell religiöse Vorstellungen verbreiten - insbesondere also von den K i r c h e n " . 137 Wer einen solchen Deutungsansatz wählt, interessiert sich weniger für die Zukunft, die Stabilität oder das Abbröckeln der christlichen Kirchen, sondern mehr für die Frage, in welchem Ausmaß die Religionskritik und der Wissenschaftsoptimismus der Aufklärung die christlich-kirchliche Religiosität der zeitgenössischen Menschen mittlerweile erfaßt und eingeebnet hat. Im Kontext des Leitgedankens einer ständig anschwellenden Säkularisierungswelle, die nicht allein den Zuständigkeitsbereich der christlichen Kirchen in der Gesellschaft fortwährend verkleinert, sondern schließlich auch die Inhalte der christlichen Religiosität selbst erfaßt, entstehen Formulierungen wie "Zwang zur Häresie" (Berger), "Religion auf der Verliererstraße?" 138 oder "Ende der Religion?" 1 3 9 Mit der Wahl dieses Interpretationsansatzes ist noch nicht ausgesagt, daß die Verfasser der jeweiligen empirischen Untersuchungen auch persönlich davon überzeugt sein müssen, die Religion sei "auf der Verliererstraße" oder gar "am Ende". Der Soziologe Michael Terwey hat bei der Untersuchung der Frage, ob Kirchen und Religion auf der Verliererstraße sind, für das Jahr 1991 einen deutlich abgebremsten Säkularisierungstrend ermittelt. Er spricht von einer "starken Verlangsamung weiterer Säkularisierungsprozesse". Auch bereitet die empirische Verifikation der Existenz von "Säkularisierungsstufen" Schwierigkeiten. 141 immer häufiger wird eingeräumt, daß sich die demokratisch-pluralistische Gesellschaft trotz aller Veränderungen wohl doch nicht auf dem Weg zur restlosen Säkularisierung und zum Aussterben der Religion be137 M.Terwey: Kirche, S.97. Zum Säkularisierungsgedanken in der soziologischen Diskussion vgl. auch A.Weymann: Handlungsspielräume im Lebenslauf. Ein Essay zu Einführung, in: Ders.(Hg.): Handlungsspielräume. Untersuchungen zur Individualisierung und Institutionalisierung von Lebensläufen in der Moderne, Stuttgart 1989, S.4 (Lit.) 138 M.Terwey: Kirche 139 Die Formulierung ist dem Konferenzthema des Zentralarchivs für Empirische Sozialforschung (17.-18.6.1994 in Köln) entnommen: "Weltanschauungen im Wandel. Religiöser Pluralismus oder Ende der Religion". Eine Übersicht mit abstracts der gehaltenen Vorträge, die zur Zeit noch nicht erschienen sind, verschickt das Zentralarchiv auf Anfrage. 140 M.Terwey: Kirche, S.95 141 Zum Problem der empirischen Verifikation von "Säkularisierungsstufen": H.Meulemann: Die Struktur religiöser Vorstellungen in der Bundesrepublik Deutschland: Eine konfiimatorische Faktorenanalyse, in: ZA-Information Nr. 16, Köln (Selbstverlag) 1985, S.62f (40-70)

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VI. Die Religiosität der Kirchenmitglieder

findet. 142 Der "religiöse Rest" erweist sich als sehr viel zählebiger, als die Säkularisierungstheoretiker es einst angenommen hatten. Das soll hier aber nicht weiter vertieft werden, denn es geht zunächst einmal nur darum, darauf hinzuweisen, daß auch eine Dateninterpretation im Horizont der These progressiv fortschreitender Säkularisierung sich an einem interpretationsleitenden Modell orientiert.

3. Generalisierte Mitgliedschaftsmotivationen: Schließlich gibt es einen Deutungsansatz im Rahmen der allgemeinen Organisationstheorie. Niklas Luhmann hat darauf hingewiesen, daß die Mitgliederbindung in komplexen Großorganisationen häufig von "generalisierten Motivationen" bestimmt ist. 143 "Generalisierte Mitgliedschaftsmotive und damit relative Unabhängigkeit gegenüber dem unmittelbaren Sozialkontakt, der die einfachen Sozialsysteme kennzeichnet, sind typisch für organisierte Sozialsysteme". 144 Die Mitglieder sind nicht mehr in der Lage, das Gesamtsystem auch nur annähernd zu überblicken und seine inneren Abläufe zu verstehen. In dieser Situation "generalisieren" sie ihre Zustimmung zur Organisation. Sie orientieren sich an einigen wenigen Aspekten, die sie individuell überblicken. Das undurchschaubare Ganze bejahen sie pauschal. 145 Dieser Verständnisansatz läßt sich auch zur Begründung der eigenwilligen Mitgliederreligiosität verwenden. Die Mitglieder folgen nach diesem Verständnis einer Gesetzmäßigkeit, die durch den Systemstatus der Landeskirchen bedingt und unumgänglich gemacht ist. "Die Kirchenmitgliedschaft ist wie jede Organisationsmitgliedschaft durch ein hochgeneralisiertes Motivations- und Entscheidungsmuster bestimmt". 146 Generalisierte Mitgliedschaftsmotive ermöglichen es den Mitgliedern, "das Religionssystem der Gesellschaft explizit zu bejahen, zu fördern und sich den Zugang offen zu halten, ohne diese positive Einstellung den Belastungen, Fehlgriffen und Unerträglichkeiten der Interaktion, dem Tonfall der Segnungen, der Qual der Kirchenbänke oder der offensichtlichen Unaufmerksamkeit und den neugierigen Blicken anderer Teilnehmer aussetzen" zu müssen. 147 142 W.Jagodzinski / K.Dobbelaere: Wandel, S.69f; C.Wolf: Sozialisation 143 N.Luhmann: Organisierbarkeit, S.276f; N.Luhmann: Zweckbegriff, S. 128-143; N.Luhmann: Funktion, S.300-302; EKD I, S.37f 144 EKD I, S.37 145 Der Automobilclub ADAC kann in diesem Zusammenhang als ein vielleicht etwas überraschendes Beispiel dienen: Nur wenige Kemdienstleistungen, wie etwa die Pannenhilfe auf Autobahnen, prägen Identität und Image dieses Vereins. Um diese Kerndienstleistungen herum hat der ADAC im Laufe von Jahrzehnten zahllose weitere Aktivitäten von weiteren Dienstleistungen bis hin zu betriebswirtschaftlich eigenständigen Unternehmen gruppiert. Es gibt vermutlich nur wenige ADAC-Mitglieder, die überhaupt noch in der Lage sind, sie alle aufzuzählen. Das ist aber auch nicht nötig, denn der Verein kann darauf bauen, daß nahezu jedermann seine Kerndienstleistung kennt, das Hilfeversprechen für jeden Autofahrer, sei er nun Vereinsmitglied oder nicht, der unterwegs mit seinem Auto liegenbleibt: "Anruf genügt". Daneben können sämtliche anderen Aktivitäten ruhig verblassen. Vor der Fixierung und der Publikation ihrer identitätsbildenden Kernziele und Kernaktivitäten sollten auch die Kirchengemeinden nicht zurückscheuen. 146 N.Luhmann: Funktion, S.295; vgl. N.Luhmann: Organisierbarkeit, S.260 147 N.Luhmann: Funktion, S.302

3.1 Religion in der Gesellschaft - Interpretationsansatz

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Dieser Deutungsansatz im Rahmen der allgemeinen Organisationstheorie ist gut geeignet, um zu erklären, weshalb ein so hoher Prozentsatz aller Evangelischen das Evangelisch-Sein als etwas Positives ansieht (s.o. 80%), andererseits aber die Kirche als Organisation nicht annähernd gleich hohe Vertrauens- und Sympathiewerte erhält. Die Mitgliedschaftsmotivation ist generalisiert. Religion, Christsein und Kirche bilden einen semantischen und gefühlsmäßigen Gesamtkomplex, den man nur ungern aufgibt, selbst wenn man im Detail vieles auszusetzen hat. Damit wäre auch eine erste Antwort auf die Frage gefunden, warum nur relativ wenige Mitglieder die Kirche von sich aus verlassen, obwohl sie sie doch so relativ selten nutzen. Häufig bedarf es dazu sogar erst eines massiven äußeren Anstosses, wie ihn etwa die drei Sondersteuern darstellten, die der Staat in den 70er, 80er und 90er Jahren erhoben hat. Auf die Einführung des Konjunkturzuschlags, des befristeten Solidaritätszuschlags und des unbefristeten Solidaritätszuschlags folgten jeweils unmittelbar und reaktiv größere Kirchenaustrittswellen, die nach einiger Zeit dann wieder abebbten. Unter dem Gesichtpunkt einer generalisierten Mitgliedschaftsmotivation läßt sich Kirchenmitgliedschaft als eine Art von Selbstverständlichkeit verstehen, über deren Details man sich nicht fortwährend den Kopf zerbricht. Man besitzt sie, wie man auch eine Versicherungspolice besitzt, die man auch nicht tagtäglich benötigt, oder eine deutsche Staatsbürgerschaft, deren Existenz erst ein Auslandsaufenthalt ins Bewußtsein zurückruft. Generalisierte Mitgliedschaftsmotivationen entlasten beide Seiten, die Mitglieder, aber auch die Organisation. Die Organisation steht nicht in allem, was sie tut und unterläßt, auf dem Prüfstand ihrer Mitglieder. Sie kann sich vieles (unbeobachtet) leisten, kann vieles tun und vieles unterlassen. Schwellenwerte sind sehr viel toleranter als einzelne Eindrücke. So lange die große Linie und der äußere Eindruck halbwegs überzeugend sind, wird die Organisation nicht einmal allzu viele Rückmeldungen erhalten. Erst und nur dann, wenn "das Maß voll" ist, melden sich die Mitglieder verstärkt zu Wort. Damit ist der Erklärungswert der Generalisierungsthese erschöpft. Die These kann lediglich erklären, warum die Mitglieder so geduldig still halten. Sie kann nicht erklären, warum sie zuweilen nicht mehr still halten, wann sie sich zu Wort melden oder ihren Austritt aus der Organisation erklären. Auch für die Mitgliedschaft in den christlichen Kirchen gilt, daß sie in zunehmendem Maße bewußt gewählt und freiwillig aufrecht erhalten wird. Die These bietet der Organisation also kein Ruhekissen, auf dem sie ruhig schlafen könnte. Sie hält den Erosionsgedanken und den Erdrutschhorizont offen. Man denke etwa an den Mitgliederschwund bei Gewerkschaften und politischen Parteien, der den Mitgliederschwund bei den Kirchen um ein Vielfaches übertrifft. Von daher kann die Annahme einer generalisierten Kirchenmitgliedschaft lediglich als ein erster Schritt auf dem Weg zum Verständnis der Mitgliederreligiosität angesehen werden. Sie erklärt nicht, warum die Religiosität und die Kirchlichkeit doch zumindest teilweise einer angebbaren Logik folgen. Es gibt in den Landeskirchen nicht nur "stille", passive Mitgliedschaft, sondern auch selbstbe-

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stimmtes, auswählendes Engagement. Und es gibt auch religiöse Kontinuität. Damit bleibt die Frage bestehen: Warum also hat die Religiosität im 20.Jahrhundert gerade diese spezifischen Formen angenommen und nicht etwa andere? Gibt es angebbare Ursachen, die die gängigen Inhalte der Religiosität und die gängigen Formen des Mitgliedschaftsverhaltens verstehbar machen? Niklas Luhmann hat selbst gesehen, daß die Theorie der generalisierten Mitgliedschaftsmotivation ergänzungsbedürftig ist. Er schrieb: "Die Motivlage, die diese Stabilität absichert, ist sicher heterogen bedingt und ließe sich weiter aufbrechen" . 148 Eben dies soll nun versucht werden. b) Der gewählte Interpretationsansatz Die Übersicht über vorliegende Deutungsmöglichkeiten zeigt daß Dateninterpretation nur möglich ist, wenn die Interpreten das vorliegende Datenmaterial mit Hilfe von interpretationsleitenden Kriterien und Fragestellungen vorstrukturieren. B e i Anwendung eines anderen Ansatzes ergeben sich andere Bewertungen. Das Interpretationsergebnis läßt die erkenntnisleitenden Grundannahmen erkennen, unter denen es zustande gekommen ist. Da das grundsätzlich für jede Dateninterpretation gilt, weil sich mit Hilfe von Modellen nie die "ganze Wirklichkeit" erkennen läßt, sondern stets nur der Ausschnitt, den das jeweils angewendete "Modell" strukturell erfaßt, soll nun explizit dargelegt werden, welchen erkenntnisleitenden Überzeugungen die nachfolgende Interpretation verpflichtet sein wird. Niklas Luhmanns Modell einer in autonome Teilsystembereiche ausdifferenzierten Gesellschaft bildet den Ausgangspunkt der Überlegungen. Es wird darauf hin befragt werden, welche religiösen Spielräume die ausdifferenzierte Gesellschaft den Menschen eröffnet und in welche Bahnen sie die Religiosität der Menschen lenkt. Damit wird implizit angenommen, daß die Menschen in dieser Gesellschaft einerseits von den Lebensumständen fremdbestimmte, "mitgerissene S u b j e k t e " 150 sind, daß sie aber andererseits auch erfahrungsorientierte, selbstbestimmende und entscheidungsfähige Subjekte sind. Zwei Soziologen können exemplarisch für diese Sicht des Menschen in der Gesellschaft genannt werden. Ulrich Beck hat mit seiner Publikation "Risikogesellschaft" auf die "Rückbetroffenheiten" hingewiesen, denen der Mensch aufgrund mangelhafter Koordination und Kontrolle der wildwuchernden Systementwicklungen ausgesetzt ist. Gerhard Schulze hat dagegen in der "Erlebnisgesellschaft" die wachsende "Erlebnisorientierung" der Menschen und damit den Aspekt der Wählbarkeit und Gestaltbarkeit von lebenskulturellen Ensembles thematisiert. 148 N.Luhmann: Funktion, S.302 149 Faktisch sind die Zusammenhänge noch komplizierter, weil Leitfragen und Interpretationshorizonte schon in der Phase der Fragebogenentwicklung eine konstitutive Rolle spielen. Das soll hier aber nicht weiter vertieft werden. 150 M.Welker: Kirche, S.39 151 G.Schulze: Die Erlebnisgesellschaft. Kultursoziologie der Gegenwart, Frankfurt/M. u.ö. 1993

3.1 Religion in der Gesellschaft - Interpretationsansatz

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Ein Interpretationsansatz, der nach den Auswirkungen der gesellschaftlichen Ausdifferenzierung auf die Religiosität der Bevölkerung fragt, unterscheidet sich deutlich von den beiden zuerst referierten Interpretationsansätzen. Es wird weder primär darum gehen, mit Blick auf die Überlebenschancen der kirchlichen Organisationen herauszufinden, welche religiös-kirchliche Substanz heute "noch" da ist und welche schon "abgebröckelt" ist. Noch wird vor dem Hintergrund der Säkularisierungsgeschichte geprüft werden, ob überhaupt noch kirchlich-christliche Substanz in breiten Kreisen der Bevölkerung vorhanden ist. Stattdessen sollen die grundlegenden Daten über die Religiosität und das Mitgliedschaftsverhalten der Bevölkerung in den Horizont der Differenzierungsthese Luhmanns gestellt werden. Damit ist zugleich die Grundannahme ausgesprochen, daß das Phänomen "Religion" auch in der modernen Gesellschaft nicht aussterben w i r d * ^ sondern daß es lediglich seine Erscheinungsbilder wandelt. Auch bröckelt es nicht irgendwo "an den Rändern" der Kirchen. Es "bröckelt", wenn man die unglückliche Metapher doch einmal aufnehmen möchte, überall in der Kirche. Nicht erst seit gestern, schon seit dem 19.Jahrhundert entwickelt sich die christliche Religiosität der Kirchenmitglieder eigenständig, d.h. unter weitgehendem Absehen von kirchlichen Erwartungen und christlichen Idealvorstellungen fort. Im folgenden soll gezeigt werden, daß sich das, was vielfach als "abgesunkene " Glaubenstreue und Bindungsintensität der Kirchenmitglieder interpretiert wird, vor dem Hintergrund der ausdifferenzierten Gesellschaft als notwendig, folgerichtig und situationsgerecht erweisen läßt. Der aktuelle Zustand der Religiosität sagt viel aus über die "prekäre Lage des Einzelnen in der modernen Gesellschaft"!53 1 e r sagt aber vergleichsweise wenig aus über die Zukunft der organisierten Religion. Der Versuch, eine "Zerfallsgeschichte der christlichen Religiosität" zu schreiben, ist m.E. schon im Ansatz falsch. Vielmehr soll es im folgenden darum gehen, ein Verständnis für die Wirkkräfte zu gewinnen, die den situationsgerechten Wandel der christlichen Religiosität hervorgebracht und begünstigt haben. Damit wird nicht behauptet, daß Menschen, die aus der evangelischen Kirche austreten, bloße "Opfer der gesellschaftlichen Verhältnisse" sind. Aber die ersten drei Teile der vierteiligen These wurden bereits behandelt. Hier soll es nun darum gehen, den oben postulierten vierten Teil zu entfalten, den Aspekt des Lebens unter den Bedingungen einer ausdifferenzierten Gesellschaft. Diesem Aspekt ist m.E. in der Diskussion bisher noch zu wenig Aufmerksamkeit entgegen gebracht w o r d e n . Er sollte aber nicht ignoriert werden. Denn erst wenn man versteht, warum sich die Religiosität und die Kirchlichkeit der Mitglieder so wandelt, wie sie sich wandelt, kann man abschätzen, welche konkreten Anforderungen - vielleicht auch Zumutun152 "Heute ist die zu diskutierende Ausgangslage viel stärker davon wieder geprägt, daß die Tagesordnung der Welt auch die Religionen der Welt sind, die Religionen auch der einzelnen in der ja subjektiv angeeigneten Weise." - K.-F.Daiber: Konzepte, S.372 153 D.Pollack: Chiffrierung, S.23 154 Hinweise findet man vor allem bei Soziologen, etwa bei F.-X.Kaufmann: Religion, S.146171 und S.216-222

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VI. Die Religiosität der Kirchenmitglieder

gen oder Überforderungen - sich daraus für die Wandlungsbereitschaft und die Wandlungsrichtung der landeskirchlichen Organisation und der landeskirchlichen Gemeindearbeit ergeben. Im Bild gesprochen, es wird dann möglich sein, abzuschätzen, welche Schritte zu gehen sind, um dorthin zu kommen, wo die Gemeindemitglieder heute schon sind. Ob man sie gehen kann oder gehen möchte, das steht dann immer noch auf einem anderen Blatt. Verschiedene Aspekte der Lage der Menschen in der ausdifferenzierten Gesellschaft sollen dargestellt werden. Auf diese Art lassen sich die ermittelten Umfragedaten in einem erstaunlich weitreichendem Maße in das Szenario der ausdifferenzierten Gesellschaft einzeichnen. Im einzelnen werden behandelt: Der zerrissene Mensch - psychologische und spieltheoretische Aspekte der "Patchwork-Identität" (3.2), Individualisierung (3.3), Innovationsschub, Verlust der Zeithorizonte und unmittelbare Evidenz (3.4), Zersplitterung und Entkirchlichung der Ethik (3.5), Sprungbiographie (3.6) und Milieugesellschaft (3.7).

3.2 Der zerrissene Mensch - psychologische und spieltheoretische Aspekte der "Patchwork-Identität" a) Grenzgänger zwischen den Systemwelten Verknüpft man das Wissen um das Verhältnis von System und Mensch, das im dritten Kapitel der Arbeit gewonnen worden ist, mit Luhmanns Theorie der ausdifferenzierten Gesellschaft, dann schärft sich der Blick für die Lage, in die die ausdifferenzierte Gesellschaft den Menschen versetzt: Sozialsysteme bestehen nicht aus Menschen. Der Mensch ist nie "mit Haut und Haaren" Bestandteil eines sozialen Systems. Vielmehr benötigt ein Sozialsystem zu seinem eigenen Funktionieren immer nur einen gewissen "Teil" des Menschen, es benötigt "Rollenträger". Nur insofern und so lange wie sich jemand in seinem (kommunikativen) Verhalten an den Normvorgaben eines konkreten Systems orientiert, sich also "systemgemäß" verhält, "gehört" der Mensch auch zu diesem System hinzu. Alle Sozialsysteme besitzen ihre eigenen systemspezifischen Rationalitätskriterien: Wahrheit (Wissenschaft), Rentabilität (Wirtschaft), Recht (Justiz), Liebe (Ehe und Partnerschaft) usw. Alle tragen sie ihre eigenen Verhaltensanforderungen in Form von Rollenerwartungen an den Menschen heran. Will er sich systemgerecht verhalten, ist er gezwungen, diesen Anforderungen nachzukommen. Die ausdifferenzierte Gesellschaft macht also den Menschen zu einem "Grenzgänger zwischen den Systemen". Er findet sich selbst nicht nur in einem einzigen System wieder, sondern ist als Arbeitnehmer/in, Mieter/in, Freund/in oder Ehepartner/in, Erzieher/in, Nachbar/in, Vereinsmitglied, Kundin usw. Rollenträger in einer ganzen Vielzahl von Sozialsystemen, die untereinander

3.2 Der zerrissene Mensch

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allenfalls begrenzt kompatibel sind. 155 Um ein Beispiel zu geben: Die Kreditwürdigkeit eines Unternehmens orientiert sich an seiner Bonität. Für die Banken gilt als Grundprinzip der Kreditvergabe: "Wer hat, dem wird gegeben. Wer aber nicht mehr hat, dem wird genommen, was er noch hat". Eine Bank, die sich nicht konsequent an dieses Marktgesetz hielte, würde schnell vom Markt verschwinden. Man könnte auch das Macht- und Selbsterhaltungsinteresse des Staates als Beispiel nennen, das Durchsetzungsinteresse des Militärs, die Genuß- und Erlebnisorientierung auf dem Freizeitsektor. Alle diese Prioritäten sind nicht kompatibel mit dem Dienst- und Liebesgebot, das die christlichen Kirchen vertreten. Aber selbst ohne den Blick auf die Normerwartungen der Religion wird man konstatieren müssen, daß die verschiedenen Normprioritäten untereinander allenfalls begrenzt kompatibel sind. Der Mensch in der ausdifferenzierten Gesellschaft lebt also in einer strukturbedingten Dauerspannung. Er ist nicht nur von morgens bis abends wechselnden Rollenerwartungen und Normvorgaben ausgesetzt, er hat auch im Verlaufe seines Lebens mit schwankenden und unterschiedlichen Anforderungen umzugehen. Seine ständig wechselnde soziale Umwelt fordert von ihm fortwährend aktive und passive Anpassungsleistungen. Das einzelne soziale System ist durchaus fähig, eine in sich konsistente Präferenzordnung zu konstituieren. Das Wissenschaftssystem etwa kann sich an den Kriterien von Maß und Ordnung, von empirischer Verifikation, von Ursache und Wirkung oder rationalem Vernunftgebrauch orientieren. Kann der Mensch in der ausdifferenzierten Gesellschaft das aber auch? Vor allem, kann er es restlos, wie es etwa die These von der vollständigen Säkularisierung annimmt? Er kann es nicht, und das läßt sich leicht begründen: Die Systembereiche der Gesellschaft sind nur mangelhaft aufeinander abgestimmt, teilweise widersprechen sich ihre Systemnormen sogar. Jedes einzelne System ist ausschließlich der Leitdifferenz seines maßgeblichen Systembereichs verpflichtet. Der Mensch aber, der "Grenzgänger zwischen den Systemwelten" sieht sich unverhofft mit einer Vielzahl nicht abgestimmter Systemanforderungen konfrontiert. Er hat "die Zeche zu zahlen", die sich aus dieser defizitären Situation ergeben. Er hat die widerstreitenden Anforderungen in sich selbst "auszubalancieren" . Und er kann das nur tun, indem er persönliche Kompromisse schließt, insbesondere Kompromisse mit dem Prinzip der kritischen, aufgeklärten Rationalität. 156 Das wird deutlich, wenn man sich fragt, welche Folgen denn die Lage des Menschen in der Gesellschaft für die Bewertung von sozialen Normen hat. Wie wird ein Mensch wohl reagieren, der ständig einander widersprechenden Nonnerwartungen ausgesetzt ist und sich im Tageslauf, aber auch im Lebenslauf ständig neu orientieren, darstellen und verhalten muß? 155 Vgl. R.K.Fenn: Toward a New Sociology of Religion, in: Journal for the Scientific Study of Religion 11/1972, S.16-32 156 Auch in der Philosophie wird die Frage diskutiert, ob nicht in einer "Welt von Gegensätzen" das traditionelle Rationalitätsverständnis neu überdacht werden muß. H.F.Spinner: Der ganze Rationalismus einer Welt von Gegensätzen. Fallstudien zur Doppelvemunft, Frankfurt/M. 1994

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VI. Die Religiosität der Kirchenmitglieder

Antworten auf derartige Fragen erhält man üblicherweise von der Psychologie. Schon die Psychoanalyse Sigmund Freuds hat mit der Unterscheidung von Ich, Es und Überich und ihrem besonderen Interesse an den Strukturen des Unbewußten auf die verbreitete Existenz psychischer Mechanismen hingewiesen, die sich im Zusammenhang mit unserer Fragestellung nicht mehr allein als pathologisch, sondern als hilfreich oder sogar notwendig erweisen l a s s e n . 157 Aber auch mit Hilfe der ökonomischen S p i e l t h e o r i e ^ läßt sich das Verständnis für die Lage des Menschen in der ausdifferenzierten Gesellschaft erhellen. Beides wird nun geschehen. b) Psychologische Möglichkeiten, mit Normendiffusion umzugehen Zunächst werden hypothetisch einige psychologische Antworten auf die Frage zusammengetragen, wie Menschen auf die Normendiffusion in der ausdifferenzierten Gesellschaft reagieren können: 1. Relativierung der Normen: Wer sich ständig wechselnden Normerwartungen ausgesetzt sieht, lernt, daß Normerwartungen immer relativ sind. Normen, die inflationiert werden, verlieren ihren Exklusivitätsanspruch. Sie werden zu "Spielregeln". Spielregeln aber befolgt man sinnvollerweise nur dann und nur so lange, wie man das betreffende Spiel spielt. Spielregeln sind nie absolut, sondern systemspezifisch oder situativ gültig. Unter veränderten Umständen sind sie nicht mehr zu beherzigen. Andere Regeln sind jederzeit vorstellbar und auch erlernbar. Die ausdifferenzierte Gesellschaft bereitet den Boden für eine ausgeprägt situative Ethik. Alle Systemnormen (nicht nur die kirchlichen) verlieren den Charakter absolut bindender und verbindlicher Gebote. 2. Temporalisierung der Prioritäten: Eine der gängigsten Methoden, mit widerstreitenden Verhaltensanforderungen umzugehen, ist die Temporalisierung der Prioritäten. In der Firma gelten andere Gesetze als im Umgang mit Familienangehörigen oder Nachbarn. Folglich pendelt der Betroffene "zwischen den Welten", ist beispielsweise in der Firma ein streng leistungs- und gewinnorientierter Rationalisierer und privat ein einfühlsamer Familienmensch. Die Situation bestimmt die jeweiligen Verhaltensweisen. Diese Einsicht läßt sich verallgemeinern: Die ausdifferenzierte Gesellschaft erzwingt die Transformation der normativen Prinzipienethik in eine systemgerecht angepaßte Situationsethik. "Unter verschiedenen Voraussetzungen gibt es also offenbar verschiedene ethische Antworten (Werte). Wir basieren auf einer pluralistischen E t h i k " . 157 Eine gute Einfuhrung in die Problematik bietet der Aufsatz von L.Rosenmayr: Geduld mit den Menschen. Zu Hans Strotzkas Grundlegung einer Ethik aus psychoanalytischer Sicht, in: KZS 38/1986, S.372-386 158 Grundlegend: J.v.Neumann / O.Morgenstern: Spieltheorie und wirtschaftliches Verhalten, Würzburg 1961 159 H.Strotzka: Fairness, Verantwortung, Fantasie. Eine psychoanalytische Alltagsethik, Wien 1983, S.14 (Das Buch ist tiefenpsychologisch orientiert und läßt den Aspekt der Systemdifferenzierung unberücksichtigt.)

3.2 Der zerrissene Mensch

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3. Dissonanzen abdunkeln (Verdrängung): Wo es unvermeidlich ist, einander widerstreitenden Anforderungen ausgesetzt zu sein, kann eine der Anforderungen in einer Art subjektiver Selbstbereinigung marginalisiert oder / und ignoriert werden. Man lebt dann mit dem Gefühl ungetrübter Sinnkohärenz. Ein Zusammenhang zum Prinzip der Temporalisierung von Prioritäten ist herstellbar. 4. Aufweichen und Ausdünnen der Prioritäten: Gängig ist auch die Einstellung, es sei alles nicht so "fürchterlich ernst" gemeint. Systemnormen sind nicht das "Gesetz der Meder und Perser", "pharisäische" Strenge gilt als Übereifer und Fanatismus. Der Mensch ist fehlbar. Und überhaupt sind alle Menschen "kleine Sünderlein". Die "Sünde", mit der man kokettiert ("heute habe ich gesündigt"), ist schon gar keine mehr. Sie ist ein Stück Lebensstil. 5. Trennen, schweigen, tabuisieren: Der französische Soziologe Jean-Claude Kaufmann sieht das Schweigen in der Ehe als eine der wichtigsten Methoden zur Bearbeitung von Dissonanzen an. ^ a s für die Ehe gilt, läßt sich auch für den Umgang mit Dissonanzen behaupten, die sich aus der Wanderung zwischen den Systemwelten ergeben. "Man spricht nicht darüber", "privat" wird nichts "Dienstliches" verhandelt. Schweigen kann ein durchaus probates Mittel zur Beilegung nicht konsensfähiger Divergenzen sein. Tabuisierung ist ein verschärftes Mittel: Tabuisierung erzwingt Schweigen über etwas, das nicht ausgesprochen, ja nicht einmal gedacht werden darf. Tabuisierung dient der Entschärfung unüberbrückbarer Dissonanzen. Tabubereiche sind Rumpelkammern und Müllecken des Selbstbildes und des Lebensstils. 6. Sprachloses Handeln: "Die Konversation ist fast immer zwei- oder mehrgleisig. Im Umkreis der gleichen Frage gibt es das, was man offen äußert, was man diskret zu verstehen gibt, was man durch Mimik und Verhalten nahelegt, was man für sich ausdrückt und was man vor sich selbst versteckt. ... Es ist nicht selten, daß eine Kommunikationsweise das Gegenteil der anderen sagt". 161 Wo Schweigen sich mit sprachlosem Handeln verbindet, kann das ein "wortloser G e w a l t a k t " 162 se ¡n, der unterhalb der Schwelle offener Aggressionsaustragung schwelt. Es kann aber auch ein Verfahren zur Aufrechterhaltung nicht konsensfähiger Einstellungen und Überzeugungen sein. Man redet nicht (mehr) darüber und geht in dem jeweiligen Punkt "seiner eigenen Wege". 7. Projektion: Das Fremdartige, das man in sich selbst nicht wahrhaben möchte, wird im Gegenüber wahrgenommen und im Gegenüber bekämpft. So erhält man sich selbst gegenüber die Illusion die Prinzipien des Guten, Wahren oder Schönen aufrecht, rein und unbefleckt zu verkörpern. 8. Indifferenz: Man befolgt die Normen, die gesetzt sind, ohne sie jedoch auch innerlich zu bejahen. Man tut, was in der jeweiligen Situation opportun ist und 160 J.-C.Kaufinann: Wäsche, S.223-242 161 J.-C.Kaufinann: Wäsche, S.231 162 J.-C.Kaufinann: Wäsche, S.228

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VI. Die Religiosität der Kirchenmitglieder

unumgänglich erscheint, um nicht in überflüssige Konflikte hineingezogen zu werden. So spart man Energie und Kraft für das Engagement auf Gebieten, die einem persönlich wichtiger sind. Indifferenz ist nicht nur eine typische Haltung vieler Arbeitnehmer ihrem Betrieb gegenüber, sondern auch ein probates Mittel staatsbürgerlicher Existenz. Die Einstellung signalisiert: Ist Teilhabe auch unumgänglich, so gibt es doch Wichtigeres auf der Welt, für das es sich lohnt, die eigenen Ressourcen zu schonen. 9. K o m p r o m i s s e 163; Der persönliche Kompromiß mit Systemnormen hilft, Anschließbarkeit an die Normen anderer Systeme herzustellen. Der Kompromiß kann unterschiedliche Formen annehmen und aus unterschiedlichen Haltungen entspringen: Man vermeidet extreme Positionen aller Art und bemüht sich, stets eine "Mittellage" einzuhalten. Ein "goldener Mittelweg" wird gesucht, die Extreme und die Ambivalenzen werden gebändigt. "Jeder gibt ein Stück weit nach", und "man kommt sich auf halbem Weg entgegen". Die Einigung erwächst aus der "besseren Einsicht" in die Notwendigkeit, den Frieden zu bewahren. Man zeigt "Geduld mit den Menschen", kennt ihre "kleinen Schwächen", weiß daß die Mentalitäten "verschieden" sind, duldet und akzeptiert Abweichungen als notwendige Formen der Lebensbewältigung in einer komplexen, unüberschaubaren Welt. "Das Leben ist eben so" und erwartet nicht von jedem das gleiche. Duldsamkeit und Fairness gegenüber anderen ("man muß sich in die Lage des anderen hineinversetzen") machen Dissonanzen erträglich. Derartige Kompromisse sind das tägliche Brot in einer ausdifferenzierten Gesellschaft. 10. Humor, Spiel, Phantasie und "kleine Fluchten": Humor hilft Regelverstöße leichter zu nehmen. Ein "bißchen" Humor zu haben, ist geradezu Bürgerpflicht. Spiel, Phantasie und Regression gestatten die "kleinen Fluchten", die die heterogenen Anforderungen des Alltags immer wieder aufs neue erträglich machen. Die Psychologie weiß schon lange, daß es "unmenschlich [ist] ... vom Menschen zu verlangen, daß er immer an der vordersten Front seines auf Entscheidung und Lebensernst - damit auch auf Leistungen - orientierten Bewußtseins sich a u f h a l t e " . 1 6 4 D e r Soziologe, der die Mechanismen der ausdifferenzierten Gesellschaft kennt, müßte dem eigentlich hinzufügen, daß es nicht nur unmenschlich, sondern in der ausdifferenzierten Gesellschaft auch unmöglich ist. 165 11. Komplexitätsreduktion durch Meiden von Dissonanzquellen: Je vielfältiger die widerstreitenden Anforderungen, desto schwieriger wird es, sie überhaupt noch in der eigenen Persönlichkeit auszubalancieren. Von daher liegt es im Interesse der Hin- und Hergerissenen, Anzahl und Umfang widerstreitender 163 Ausführlich bei H.Strotzka: Fairness 164 L.Rosenmayr: Geduld, S.3 80 165 Bei der Durchsicht sozialwissenschaftlicher Arbeiten über die Religiosität der Bevölkerung entsteht allerdings der Eindruck, daß das noch zu selten geschieht. Es ist in der Soziologie immer noch durchaus salonfähig, dem Mythos vom Siegeszug der rationalen Vernunft im Fortschritt der Gesellschaft zu huldigen.

3.2 Der zerrissene Mensch

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Normerwartungen möglichst gering zu halten. Man kann das erreichen, indem man sich darum bemüht, potentiell widerstreitenden Anschauungen, Erwartungen oder Verpflichtungen möglichst wenig zu begegnen. Das hat auch Folgen für die Kirchen: "Nicht der Besuch der Kirche, sondern das Fernbleiben von ihr wird zur sozialen Norm". 166 12. Komplexitätsreduktion durch Zurückweisung von Dissonanzquellen: In der ausdifferenzierten Gesellschaft kann niemand mehr über alles Bescheid wissen und alles zentral regeln. Wer es dennoch versucht, gerät in den Ruf, "nichts vom Leben" zu verstehen, weltfremd zu sein, denn (fast) jeder stolpert in seinem Lebensalltag früher oder später über die Grenzen globaler Ansprüche. Massenorganisationen, die schon traditionell einen globalen Anspruch auf Weltdeutung und Weisungskompetenz erheben, werden zunehmend kritisch beurteilt. Die Soziologie spricht von einem Prozeß der "Deinstitutionalisierung". Betroffen sind neben den Kirchen auch die Gewerkschaften oder die politische Parteien. 13. Gemeinschaft: Dissonanzen lassen sich leichter begrenzen, aber auch aushalten, wenn man sie in einer Gruppe von "Gleichgesinnten" erträgt. 167 Menschen in vergleichbaren Lebenslagen und mit vergleichbaren Kohärenzproblemen bzw. Identitätsbalancen schließen sich zu Freundeskreisen, Cliquen, Szenen und Milieus zusammen und stabilisieren auf diese Weise ihre Einstellungen. c) Normendiffusion und Mitgliederreligiosität Der Überblick zeigt, daß die Psychologie über ein breites begriffliches Instrumentarium verfügt, um das Spektrum der möglichen Reaktionen zu beschreiben, die sich aus der verzwickten Lage des Menschen als Grenzgänger in der ausdifferenzierten Gesellschaft ergeben. Bei der Darstellung der einzelnen Aspekte wird bereits aufgefallen sein, wie leicht es ist, die Konturen der Mitgliederreligiosität in dieses Szenario einzutragen. Hier finden sich bereits plausible Erklärungen für die Relativierung der christlichen Ethik, für die Transformation der Prinzipienethik (10 Gebote) in eine Situationsethik, für den Trend zur semantischen Entschärfung des Gottesverständnisses und die Entdogmatisierung des Glaubensbekenntnisses. Hier finden sich Begründungen für die verbreitete Sprachlosigkeit im Umgang mit Themen des christlichen G l a u b e n s 168 und den auch in der dritten EKD-Umfrage immer wieder festgestellten Trend zur "Mittellage" in vielen Segmenten des Religions- und Mitgliedschaftsverständnisses. Die ausdifferenzierte Gesellschaft erzwingt die Distanz zu allen 166 W.Jagodzinski / K.Dobbelaere: Wandel, S.76 167 D.B.Kandel: Homophily, Selection, and Socialization in Adolescent Friendships, in: American Journal of Sociology 84/1978, S.427-436. Der Begriff "homophily" bezeichnet als Fachterminus die Tendenz eines Menschen zur Wahl mental, religiös, materiell usw. ähnlicher Personen in den eigenen Freundeskreis bzw. als Beziehungs- und Ehepartner/innen. 168 Gebhardt: Milieus, S.293 u.ö.

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VI. Die Religiosität der Kirchenmitglieder

Institutionen, die ein geschlossenes Wertesystem repäsentieren, sie fördert Vermeidungs- und Abgrenzungsverhalten, Kohärenzschwund und illusionären Selbstbetrug. Sie fördert ein Leben im Windschatten unbewußt vorgenommener Ausgleichsstrategien. Sie erzwingt Vereinzelung und Verschweigen. Sie bringt kollektive Stromlinienförmigkeit, aber auch neue Formen von Gemeinschaft hervor. Religiosität und Teilnahmeverhalten der Kirchenmitglieder tragen schon von daher unübersehbar den Prägestempel der ausdifferenzierten Gesellschaft. d) Spieltheoretische Aspekte der "Patchwork-Identität" Mit der "Spieltheorie" liegt in den Wirtschaftswissenschaften bereits seit langem ein erklärungsstarker Beschreibungsansatz vor, um das Verhalten von Menschen innerhalb einzelner Systeme und Systembereiche zu beschreiben: Die "Spieltheorie", auch als "Nutzentheorie" bezeichnet, ist ein Zweig der Entscheidungstheorie. 169 Mit der Annahme einer prinzipiell vorhandenen Strategiefähigkeit des Menschen unterscheidet sie sich diametral vom Credo der Soziologie: "In der Ökonomie lernt man, wie man wählen muß, und in der Soziologie, daß man gar nichts zu wählen hat" .170 Menschen sind nicht nur wahlfähig. Sie sind auch in der Lage, die Ergebnisse ihrer Wahl tendenziell abzuschätzen, d.h. sie zu antizipieren. Ihre Wahlentscheidungen orientieren sich am Verhältnis von "Kosten" (Investitionen) und "Nutzen" (erhoffter Investitionserfolg). "Menschen entscheiden sich für diejenigen Handlungen, deren Folgen sie gegenüber den Folgen jeder anderen realisierbaren Handlung b e v o r z u g e n " . 1 sie treffen also immer eine "rationale Wahl", indem sie die möglichen Folgen ihrer eigenen Entscheidungen abschätzen und diejenige Entscheidung wählen, deren Folgen ihnen persönlich am meisten zusagt. Wie kann eine solche "rationale Wahl" im Einzelfall aussehen? Mit Hilfe einiger Beispiele lassen sich Faktoren verdeutlichen, die die Wahl beeinflussen. 1. Aufrechterhaltung der zukünftigen Handlungsfähigkeit: Kriterium der rationalen Wahlentscheidung ist nicht allein der unmittelbare Erfolg, also der größtmögliche persönliche Nutzen, sondern gleichzeitig auch die Aufrechterhaltung der zukünftigen Handlungsfähigkeit. So könnte ein Bankangestellter sich etwa sehr schnell sehr viel Geld verschaffen, indem er seine Bank ausraubt. Der "größtmögliche Nutzen" wäre damit erreicht, aber die zukünftige Handlungsfähigkeit spätestens dann verloren, wenn er an seinem Arbeitsplatz oder 169 M.Bitz: Spieltheorie, in: E.Dichtl / O.Issing (Hg.): Vahlens Großes Wirtschaftslexikon Bd.4, München 1987, S.1720-1721; T.Schildbach: Entscheidung, in: M.Bitz u.a. (Hg.): Vahlens Kompendium der Betriebswirtschaftslehre II, München 1990, S. 82-95 170 H.Wiesenthal: Einleitung. Die Ratlosigkeit des homo oeconomicus, in: J.Elster: Subversion der Rationalität (1979/1983), Frankfurt/M. u.ö. 1987, S.13 (im Original kursiv) 171 J.Elster: Subversion, S.22

3.2 Der zerrissene Mensch

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auf der Flucht festgenommen wird. Von daher ist es auch für die Fahrer eines Geldtransporters günstiger, sich mit dem laufenden monatlichen Gehalt und den vertraglich gesicherten Zusatzzahlungen zufrieden zu geben. Der "optimale" Nutzen ist also nicht der maximal erreichbare Nutzen, sondern der Nutzen, der sich verläßlich und kalkulierbar dauerhaft sicherstellen läßt. Von diesen Überlegungen her läßt sich eine spieltheoretische Grundlegung der Ethik vornehmen, die mit der (soziologischen) "funktionalen" Theorie des ethischen Handelns nichts mehr gemeinsam hat. Eine moralisch qualifizierte Verhaltensweise ist aus dieser Perspektive heraus nicht mehr funktional im gesellschaftlichen Miteinander verankert ("damit das Zusammenleben der Menschen gelingt"), sondern das Ergebnis einer nutzenstrategischen rationalen Wahlentscheidung des Individuums unter jeweils konkreten, aber situativ durchaus wechselnden Bedingungen. Individuelle Wahlfreiheit führt, solange es um die Befriedigung elementarer menschlicher Bedürfnisse geht, in der Regel zu identischen Wahlentscheidungen, weil die optimale Wahl für die meisten Menschen tendenziell identisch ist (z.B. regelmäßige, zuverlässige Berufsausübung statt Bankraub). Insofern kann der Eindruck entstehen, die Menschen orientierten sich an externen Normen, die sie aus moralischen Gründen heraus akzeptierten. Die individuelle Wahlentscheidung kann aber durchaus auch zu nichtkonformen Resultaten führen. Wo materieller Wohlstand in ausreichendem Maß vorhanden ist, wird Arbeitsreduktion oder Arbeitsvermeidung durchaus zur Option einer rationalen Wahl. Der pauschale Begriff des "abweichenden Verhaltens" 173 w i r d dieser Tatsache nicht gerecht. Mit Hilfe der Spieltheorie läßt sich sehr viel plausibler als mit Hilfe der Theorie abweichenden Verhaltens nachvollziehen, warum sich in einer Wohlstandsgesellschaft, in der die materiellen Grundbedürfnisse vieler Menschen als befriedigt angesehen werden dürfen, die Präferenzen der Wahl auf neue (nichtmaterielle) Felder verschieben und warum die L e b e n s s t i l e ^ damit natürlich auch vielfältiger werden. Determinieren persönliche Bedürfiiisse, Wünsche, Geschmacks- und Stilfragen die Wahlentscheidungen, vervielfachen sich die potentiellen Ergebnisse rationaler Nutzenabwägungen. Es kommt zur Ausdifferenzierung der Lebensstile. Von der Vorstellung kollektiv bindender Nor172 Auch das Phänomen der "Doppelmoral" läßt sich spieltheoretisch als durchaus verständlich nachvollziehen: Der Handwerker, der einen Auftrag erhalten hat, weil er dem Bauherrn versprach, nicht nur kostengünstig, sondern auch mit höchster Qualität zu arbeiten, weiß natürlich, daß er an dem Auftrag nichts mehr verdient, wenn er sein Versprechen tatsächlich einhält. Für ihn ist es materiell vorteilhaft, wenn er die Qualitätsanforderungen deutlich herabsetzt. Arbeitet er aber allzu schlampig, und spricht sich das herum, dann muß er damit rechnen, übermorgen weniger Aufträge zu erhalten. Doppelmoral kann zwar existenzsichemd sein, aber sie wird von einem spieltheoretischen Kalkül in Grenzen gehalten. Die Handwerkerleistung wird sich folglich mit einiger Wahrscheinlichkeit auf einem "mittleren" Qualitätsniveau halten. 173 G.Wiswede: Soziologie des abweichenden Verhaltens, Stuttgart 21979 174 H.Lüdtke: Expressive Ungleichheit. Zur Soziologie der Lebensstile, Opladen 1989. Einen sortierenden Uberblick über die schillernde Begriffsverwendung in der soziologischen Forschung gibt: H.-P.Müller: Lebensstile. Ein neues Paradigma der Differenzierungs- und Ungleichheitsforschung, in: KZS 41/1989, S.53-71

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VI. Die Religiosität der Kirchenmitglieder

men her müßte ein solcher Prozeß als Zunahme hedonistischer Lebensformen, als "Normenverschleiß" oder "sittliche Verwilderung" gedeutet werden. Damit aber wäre er in seiner Ursache mißverstanden. Die Menschen sind weder besser noch schlechter geworden. Auch ist der Entwicklungsprozeß, den viele Einzelfaktoren in der ausdifferenzierten Gesellschaft möglich machen, kein Verfallsprozeß. Vielmehr verläuft die Entwicklung im Rahmen einer konstruktiven Realisierung und Ausschöpfung der vorhandenen Möglichkeiten. 2. Das Olson-Theorem: Die Verstetigung des größtmöglichen Nutzens ist im Wirtschaftssektor unter anderen Bedingungen zu erreichen als im Eheleben oder im Erziehungswesen. "Rat\onal-choice"-Entscheidungen sind nicht blind gegenüber systemspezifischen Normen und Verhaltensanforderungen, aber sie fügen ein eigenes Akzeptanzkriterium hinzu. Sie versuchen, unter den jeweiligen Gegebenheiten den größtmöglichen eigenen Nutzen bei gleichzeitig geringstmöglichem Verlustrisiko herbeizuführen. Verfolgen alle Mitspieler diese Prämisse, dann führt dies zu Konsequenzen, auf die Mancur Olson aufmerksam gemacht hat. D a s SO g "Olson-Theorem" besagt, "daß strikt eigennützig kalkulierende Akteure um so weniger bereit sind, individuelle Beiträge zur Verfolgung gemeinsamer Interessen zu leisten, je größer ihre Zahl ist und je sicherer sie auch ohne Eigenbeitrag in den Genuß eines eventuell anfallenden Kooperationsertrages g e l a n g e n " . 176 Es ist deutlich, daß dieses Theorem dem christlichen Ethos von der bedingungslosen Nächstenliebe diametral entgegen steht. Aber gerade, wenn man sich dem christlichen Ethos verpflichtet weiß, sollte man sich davor hüten, das Olson-Theorem pauschal als falsch zurückzuweisen. Es empfiehlt sich stattdessen, dieses Theorem zunächst einmal zu überprüfen und seine Erklärungskraft zu erproben - auch hinsichtlich des Teilnahme- und Mitgliedschaftsverhaltens der evangelischen Kirchenmitglieder. Können sich nicht gerade deshalb so viele Mitglieder der Gesellschaft auf ihr privates Wohlergehen konzentrieren, weil Institutionen wie die Kirchen, die Verbände der freien Wohlfahrtspflege, die Sozialämter usw. in großem Maß vorhanden sind? In unserer Gesellschaft ist die Sorge für das "Ensemble der Opfer" zu einem Markt geworden, auf dem ein reges Leben und ein konzentrierter Wettbewerb herrschen. Das Olson-Theorem behauptet: Schon durch seine bloße Existenz ermöglicht dieser Markt es vielen (auch Kirchenmitgliedern), sich am privaten Nutzen zu orientieren. 3. Immaterieller "Nutzen": Nicht nur materielle Werte können als "Nutzen" angesehen werden. Es gibt auch immateriellen Nutzen. Das jahrhundertealte Ringen um Religions-, Gewissens- und Gedankenfreiheit zeigt, daß Menschen nicht erst seit gestern danach streben, im Rahmen der jeweiligen systemspezifischen Normvorgaben gleichzeitig den größtmöglichen persönlichen Freiheitsspielraum zu erreichen. Der größtmögliche Freiheitsspielraum ist auch in diesem Fall nicht der maximale Freiheitsspielraum, sondern der optimale Frei175 M.Olson: Die Logik des kollektiven Handelns (1965), Tübingen 2 1985 176 H. Wiesenthal: Einleitung, S.14 (im Original kursiv)

3.2 Der zerrissene Mensch

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heitsspielraum. Ein Freiheitsgrad, der in jedem Fall auch das Weiterhandeln in Zukunft und damit die zeitliche Verstetigung des Nutzens gestattet. Daß derartige Nutzenerwägungen auch im Umgang mit den christlichen Kirchen eine Rolle spielen, zeigt sich deutlich bei der Frage nach den Gründen, ein Kind taufen zu lassen. Die Zustimmung zur Taufe steht ja unter den evangelischen wie katholischen Christen ungebrochen hoch im Kurs. Sie wird in der dritten EKDUmfrage u.a. damit begründet, daß das Kind "unter den Schutz Gottes gestellt" werden (74%) und ihm "für die Zukunft nichts verbaut" werden soll (50%). Von Skeptikern ist in Taufgesprächen auch immer wieder der Satz zu hören, "man weiß nicht, wozu es einmal nützlich sein kann" bzw. " es kann nicht schaden", womit die Nutzenerwägung im Blick auf die Zukunft unmittelbar ausgesprochen ist. 4. Kirchenmitgliedschaft als Nutzenwahl: Auch die hohe Bereitschaft der Kirchenmitglieder, in der Kirche zu bleiben (obwohl man doch viele ihrer Forderungen und Ansprüche nicht mehr auf sich nimmt), läßt sich im Rahmen der Nutzentheorie deuten. Dazu sind zwei Vorüberlegungen nötig: * Aus der Grundannahme der prinzipiellen Strategiefähigkeit des menschlichen Handelns folgt auch die Möglichkeit einer "mittelfristigen" strategischen Orientierung. Menschen verfugen über die Fähigkeit zu strategischer Flexibilität. Was nicht sofort zu erreichen ist, läßt sich vielleicht in Etappen ("Salamitaktik") oder auf Umwegen erreichen. Man kann auch zum Ziel gelangen, wenn man einen Schritt zurück geht, um bei der nächsten Gelegenheit wieder zwei nach vorn zu gehen. Strategische Flexibilität beinhaltet sowohl die Freiheit in der Wahl von Abfolgen als auch die Freiheit in der Abfolge der W a h l e n . 178 Auch strategische Flexibilität ist eine Form von Rationalität. Sie verliert selbst auf Umwegen ihr Ziel nicht aus den Augen, ist aber mit der herkömmlichen Rationalitätsvorstellung, derzufolge ein rational Handelnder zu jedem Zeitpunkt konsistenten und vollständigen Präferenzen verpflichtet ist, nicht mehr deckungsgleich. Die Auswahl der Präferenzen kann selbst wieder unter strategischen Gesichtspunkten erfolgen, und die entscheidungsrelevanten Faktoren werden zwangsläufig von Systembereich zu Systembereich unterschiedlich sein. * Wenn man nicht genau vorhersagen kann, wie sich das Gegenüber in einer gegebenen Situation verhalten wird, neigt man dazu, das Risiko, das mit jeder Entscheidung eingegangen wird, zu minimieren. Spieltheoretisch wird das als "Nutzenwahl unter Unsicherheitsbedingungen" bezeichnet. Der Verlust oder Schaden, der bei einer Fehlentscheidung eintreten könnte, soll möglichst gering gehalten werden. Ist die Entscheidung irreversibel, dann ist auf jeden Fall zu beachten, daß die Anschlußfähigkeit nicht verloren geht, die ein zukünftiges Weiterhandeln ermöglicht. Unter den Bedingungen von Unsicherheit empfielt es sich also, sich auf jeden Fall "verbindlich" zu verhalten. Verbindlich heißt aber nicht mehr unbedingt auch "rational". "Bei gewissen Arten der strategi177 Fremde Heimat, S. 18 178 J.Elster: Subversion, S.96-106

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VI. Die Religiosität der Kirchenmitglieder

sehen Interaktion, in denen sich jeder Handelnde aufgrund der zu erwartenden Entscheidungen anderer entscheiden muß, kann es vorkommen, daß es überhaupt kein als rationales Handeln zu bezeichnendes Verhalten gibt". 179 Risikovermeidung geht im Zweifelsfall vor Rationalität. Nimmt man beides zusammen, dann läßt sich die hohe Bereitschaft, die Kirchenmitgliedschaft trotz aller kritischen Einstellungen und abweichenden Verhaltensweisen aufrecht zu erhalten, als "Aufrechterhaltung von Anschlußfähigkeit unter den Bedingungen von Unsicherheit" auffassen. Hier wird eine langfristige strategische Wahl getroffen. Es könnte ja doch einmal von Nutzen sein, der Kirche nicht völlig den Rücken zu kehren. Konkret zeigt sich das nicht nur in der Begründung der Taufzustimmung, sondern auch in einer überdurchschnittlich hohen Zustimmungsrate zu dem Satz: "Ich bin in der Kirche, weil ich auf kirchliche Trauung und Beerdigung nicht verzichten möchte" (ca. 49% Vollzustimmung gegenüber 13%, die angaben, daß dies auf sie überhaupt nicht zutrifft). Schließlich muß auch der allgemein weit verbreitete Gottesglaube (unabhängig von der inhaltlichen Präzisierung) hier in Rechnung gestellt werden. Selbst wenn man nicht recht zu sagen weiß, wie man sich Gott denn eigentlich vorzustellen hat und selbst wenn man immer wieder zweifelt, ist doch nicht auszuschließen, daß "irgendetwas daran" ist. 180 Ein derartiges Nutzenkalkül trägt zugegebenermaßen nichtrationale Züge, aber nichtrationale Züge und Entscheidungen gehören eben zum Alltag (!) der ausdifferenzierten Gesellschaft. In ihm erhält sich möglicherweise das seriöse Wissen um die Grenzen der Rationalität und die Unbeherrschbarkeit der Kontingenzen im Leben des Grenzgängers zwischen den Systemen. 181 Nichtrationale Nutzenerwägungen sind kein Spezifikum der Begründung von Religiosität und Kirchenmitgliedschaft, sondern ständige Begleiterscheinungen und unumgängliche, nichtpathologische Konfliktlösungsstrategien, wie sie die Lage des Menschen in der ausdifferenzierten Gesellschaft zwingend erfordert. So entbehrt die Leitmetapher von der "persönlichen Freiheit des Menschen in der modernen Gesellschaft" bei näherem Hinsehen in mancher Hinsicht der Grundlagen. Dennoch prägt sie dominierend das Selbstbewußtsein der Bevölkerung und wird im ökonomischen Wettkampf um Marktanteile weidlich ausgeschlachtet. "Nutzenkalküle" können sowohl auf gesellschaftlicher als auch auf milieuspezifischer und individueller Ebene irrationale Elemente enthalten. Selbst individuelles Wunschdenken und Selbsttäuschungen können Grundlage von Nutzenkalkülen s e i n . 182 Damit ist der Punkt markiert, wo am Rande der Theorie vom rationalen Wahlhandeln die Theorie vom irrationalen Wahlhandeln aufscheint.

179 J.Elster: Subversion, S.24 180 Erstaunlicherweise fragt die EKD-Umfrage das Statement "Ich bin ich der Kirche, weil ich an Gott glaube" nicht ab. 181 Ähnlich äußert sich G.Rau: Das Alltägliche, S.188-191 182 vgl. J.Elster: Subversion, S.211-243

3.2 Der zerrissene Mensch

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e) Ergebnis Überblickt man den psychologischen wie auch den spieltheoretischen Zugang zum Verständnis der schwierigen Situation des Menschen in der ausdifferenzierten Gesellschaft, dann läßt sich vom psychologischen Zugang her eher der Diffusionsdruck erklären, dem die Mitgliederbindung ausgesetzt ist. Die ausdifferenzierte Gesellschaft erzwingt die Lockerung der Systemkohärenzen. Demgegenüber erklärt der nutzentheoretische Ansatz eher das erstaunliche Phänomen der hohen Bindungsstabilität trotz weitgehender inhaltlicher Dissonanzen. Während Luhmann trotz seines funktionalen Religionsverständnisses einräumen mußte, daß man auch ganz ohne Religion und Kirche leben kann, erklärt die Spieltheorie, warum man auch bei kritischer Einstellung Kirchenmitglied bleiben kann. In beiden Fällen zeigt sich, wie weit die Menschen heute vom Rationalitätsideal der aufgeklärten Vernunft des 18.Jahrhunderts entfernt sind. Der Prozeß der Ausdifferenzierung der Gesellschaft hat die Ausbildung neuer Rationalitäten ("situative Rationalität") und neuer Formen von Moral (situative Kosten-Nutzen-Abwägung) erzwungen, die den traditionellen Vorstellungen von Rationalität und Moral nicht mehr entsprechen. Die Überlegungen zum Wahlhandeln des Einzelnen unter den Bedingungen einander widerstreitender Systemwelten (psychologisch) und situativer Unsicherheit (Spieltheorie) lassen erkennen, wie weit der zeitgenössische Mensch strukturell von den Möglichkeiten der Orientierung an zeitübergreifenden und allgemein verbindlichen Normen und Werten entfernt ist. Die vom Prozeß der Ausdifferenzierung erzwungenen "Patchwork-Ethiken" und "Patchwork-Rationalitäten" bis hin zu "Patchwork-Irrationalitäten" produzieren und reproduzieren fortwährend die vielfach noch unbekannte und unerkannte Normalform menschlicher Identität, die "Patchwork-Identität" des tagtäglich hin- und hergerissenen Menschen.

3.3 Individualisierung Die ausdifferenzierte Gesellschaft hat neben der strategischen Rationalität und der situativen Ethik, die aus den Erfordernissen des Umgangs mit widerstreitenden Systemnormen und Systemanforderungen erwachsen, noch weitere Einstellungen, Verhaltensweisen und Lebenslagen hervorgebracht, die sich besser verstehen lassen, wenn man den Prozeß der Ausdifferenzierung inhaltlich genauer betrachtet. Der amerikanische Soziologe Ronald Inglehart hat darauf hingewiesen, daß die kulturellen Umwälzungen, die in den letzten 50 Jahren stattgefunden haben, vor dem Hintergrund einer kontinuierlichen Steigerung der Leistungsfähigkeit und damit einem fortwährenden Anwachsen des materiellen Wohlstands zu sehen s i n d . Damit hat er eine Schlüsselvariable benannt, die 183 R.Inglehart: The Silent Revolution in Europe, in: American Political Sciences Review 65/1971, S.99-107; R.Inglehart: The Silent Revolution. Changing Values and Political Styles

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VI. Die Religiosität der Kirchenmitglieder

tatsächlich das Verständnis für die Ursachen vieler der Entwicklungen zu schärfen vermag. Die Leitfrage, die er mit seinen umfangreichen empirischen Forschungen zum Wertwandel in der westlichen Welt beantworten möchte, lautet: Wie entwickeln sich die Verhaltensweisen, Lebensvorstellungen und Lebenszyklen von Menschen, wenn sie über fast 50 Jahre hinweg ständig verbesserten Optionen und einem ständig ansteigenden materiellen Wohlstand ausgesetzt sind, so wie dies ja in der westlichen Welt seit 1945 geschehen ist? a) Individualisierungsschub, Mobilitätsdruck und "persönliche Freiheit" Die europäische Kulturgeschichte kennt das Toleranzgebot und mit ihm die Forderung nach Gewissens-, Glaubens- und Gedankenfreiheit bereits seit 200 Jahren. Zur umfassenden Breitenwirkung aber gelangten diese Ideale erst seit den 50er Jahren unseres Jahrhunderts. 184 Die Verfassungsziele der Bundesrepublik Deutschland, die auf den Hintergrund der Erfahrungen des Dritten Reiches zu begreifen sind, haben sicherlich dazu beigetragen. In radikaler Abkehr von der totalitären Erfassung und Kontrolle der Bürger wurden die Privatsphäre des Einzelnen, seine Überzeugungen und seine Lebensgewohnheiten zu besonders schützenswerten Gütern erhoben. Auf Totalität folgte liberale Pluralität. Aber auch der Systemcharakter der Gesellschaft als einer ausdifferenzierten Gesellschaft darf in diesem Zusammenhang nicht untergewichtet werden. Die prosperierende Nachkriegsgesellschaft hat den Individualisierungsschub beflügelt. Wachsender Wohlstand, eine tendenziell eher familienfeindliche Polit i k ^ u n ( j e i n e intensivierte staatliche Fürsorge haben unter anderem die materiellen Voraussetzungen geschaffen, die es immer mehr Menschen gestatteten, sich ohne Existenzsorgen vom engeren Familienverbund entfernen zu können. Die Individualisierung der Menschen war theoretisch längst vorgedacht, aber sie wurde erst machbar, als sie auch bezahlbar wurde. Mit der gewachsenen persönlichen Unabhängigkeit wuchsen auch die Anspruchsniveaus. Die Vorund Nachkriegsehen waren sicherlich, grundsätzlich betrachtet, weder besser noch schlechter als die Ehen, die in späteren Jahrzehnten geschlossen wurden. Aber die Ansprüche und Vorstellungen hinsichtlich einer sinnerfüllten und befriedigenden Partnerschaft stiegen im Laufe der Zeit an. Trennung wurde in dem Maß zur erwägenswerten Option, wie Bildungsniveaus und berufliche Qualifikationen anstiegen, wie sich persönliche Autonomie entwickelte und among Western Publics, Princeton 1977; R.Inglehart: Kultureller Umbruch. Wertwandel in der westlichen Welt, Frankfurt u.ö. 1995 184 F.-X.Kaufmann spricht von "verzögerter Selbstdurchsetzung". - Religion, S.216 185 F.-X.Kaufinann: Der Staat beutet die Familie aus, in: EvKomm 27/1994, S.214-218; Über den Einfluß der staatlichen Gesetzgebung auf die Struktur der Lebensläufe: K.U.Mayer / W.Müller: Lebensläufe im Wohlfahrtsstaat, in: A.Weymann (Hg.): Handlungsspielräume, S.41-60; vgl auch die kulturkritische Publikation von M.Miegel / S.Wahl: Das Ende des Individualismus. Die Kultur des Westens zerstört sich selbst, München 1993 186 Die These ansteigender Scheidungsziffern aufgrund erhöhter persönlicher Anspruchsniveaus stammt von Jean-Claude Kaufmann. Er behauptet, "daß die Paarbeziehung immer noch im Zentrum steht, ja sogar eine zentralere Bedeutung besitzt als jemals zuvor" (Wäsche, S.7).

3.3 Individualisierung

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damit auch die individuellen Gestaltungs- und Entscheidungsspielräume zunahmen. Nicht zuletzt fiel auch ins Gewicht, daß selbst ein einzelnes Gehalt noch zur Unterhalterhaltszahlung für den geschiedenen Partner oder die geschiedene Partnerin ausreichte. Die allgemeine Bildungsexpansion hat einen sozialen und geographischen Mobilisierungsschubl87 ausgelöst, der den Zwang zur Individualisierung der Lebensläufe mit sich brachte. Schon höhere Bildungsabschlüsse (Fachhochschulen, Universitäten) sind häufig nur dann zu erreichen, wenn die Studenten/innen ihren Wohnort wechseln. Aber auch die Arbeitsplätze für Menschen mit gehobenerer Bildung sind in aller Regel nicht mehr an ihrem Geburtsort vorhanden. Wer schließlich im Lauf seines Erwerbslebens berufliche Aufstiegs- und Verbesserungschancen wahrnehmen möchte, wird ebenfalls häufig mit Mobilitätserfordernissen konfrontiert. So erfordert ein "erfolgreiches" Ausbildungs- und Erwerbsleben immer wieder die Bereitschaft, umzuziehen und damit Wurzeln auszuziehen und gewachsene Bindungen aufzulockern oder abzubrechen. Es kann nicht ausbleiben, daß die Bindungsintensitäten im Laufe der Zeit geringer werden. Mobilität forciert die Verarmung der sozialen Beziehungen und die Individualisierung der Lebensführung. 188 Zwangsmobilität begünstigt Zwangsprivatisierung. Beides läßt sich als Entzug von Beheimatung verstehen. Der Individualisierungsschub hat Verhaltensweisen begünstigt, die sich an den Leitbildern der persönlichen Freiheit und des persönlichen Erfolgs orientieren. Der zeitgenössische Mensch kann nicht nur wählen, er muß wählen. Der "Markt der tausend Möglichkeiten" überhäuft ihn mit einer Flut von konkurrierenden Angeboten an Gütern und Genüssen, Sinnentwürfen und Selbstverwirklichungsvorschlägen. Unter dem Leitbild der persönlichen Freiheit und der Wählbarkeit der Verhältnisse und des Seins hat sich ein knallharter Verdrängungswettbewerb mit ständig wechselnden Trends, Moden und immensen Umsätzen etabliert. Die Mobilisierung der Menschen ist von einem Prozeß der Ideologisierung der persönlichen Freiheit begleitet. Der Zustand des Ausziehen-Wollens und 187 M.Walzer: Kritik und Gemeinsinn, Frankfurt/M. 1993, S.165f unterscheidet vier verschiedene Formen von Mobilität: geographische Mobilität, soziale Mobilität, Beziehungsmobilität und politische Mobilität. Vgl. auch U.Beck: Risikogesellschaft, S.125-130 188 Der Mobilisierungschub besitzt, zumindest theoretisch, eine sozio-ökonomische Komponente: Menschen mit niedrigeren Bildungsabschlüssen, weniger spezialisierter Berufsqualifikation und geringeren Einkommensvorstellungen sind auch in einem deutlich geringeren Ausmaß von Mobilitätserwartungen betroffen. Daß der Mobilitätsdruck aber auch die unteren Schichten der Bevölkerung nicht unberührt ließ, läßt sich gleichwohl aus der gesellschaftlichen Entwicklung heraus verstehen. Das Angebot an hochqualifizierten Arbeitsplätzen hat mit dem sprunghaften Ansteigen hoher und höchster Bildungsabschlüsse nicht Schritt gehalten. Die Berufsausbildungsgänge waren und sind nicht mehr integriert, sondern von tatsächlichen Arbeitsmöglichkeiten auf dem Arbeitsmarkt abgekoppelt. Aus dieser Konstellation resultierte ein Verdrängungswettbewerb um die Arbeitsplätze, der sich bis in die unteren gesellschaftlichen Schichten hinein erstreckt. Die traditionellen Arbeitemülieus, die zumindest in Teilen bis in die 50er Jahre hinein halbwegs intakt waren, sind heute ebenfalls zerbrochen. - H.Keup: Zerstört Individualisierung die Solidarität? Für eine kommunitäre Individualität, in: Ders. (Hg.): Der Mensch als soziales Wesen. Sozialpsychologisches Denken im 20.Jahrhundert, München u.ö. 1995, S.357f

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VI. Die Religiosität der Kirchenmitglieder

des Ausgestoßen-Seins, des Vereinzelt-Werdens und Vereinzelt-Werden-Wollens wird vom Leitbild der "persönlichen Freiheit" und der "persönlichen Selbstverwirklichung" ideologisch überhöht. Unter dem Vorzeichen der Inanspruchnahme "persönlicher Freiheit" gilt es, das Leben "aktiv" zu gestalten. Die verstärkte Orientierung an Kriterien des persönlichen Erfolgs hat hedonistischen, narzistischen und egoistischen Bestrebungen eine weite Verbreitung und ein stabiles Maß an sozialer Akzeptanz verschafft hat. Aber die Ideologisierung der persönlichen Freiheit ist nicht nur von denen erzeugt und aufgezwungen, die von den Verhältnissen profitieren. Sie ist in einem Ausmaß verinnerlicht und akzeptiert, daß sie in weiten Kreisen der Bevölkerung zu einer normativen, nicht mehr in Frage gestellten Selbstverständlichkeit geworden ist. Wer immer es mit den Menschen in dieser Gesellschaft zu tun hat, kommt an ihrem "ich bin und ich will" nicht mehr vorbei. Selbst da, wo Menschen zu unschuldigen Opfern fremdverantworteter Umstrukturierungsprozesse werden, wenn etwa im Zuge von Rationalisierungsmaßnahmen tausende von Mitarbeitern entlassen oder ganze Produktionszweige ausgelagert werden, trifft man unter den Betroffenen auf das leitende Grundgefühl von der Individualität. Es erzeugt bei den Betroffenen Selbstzweifel und Versagens vorwürfe. Vor allem der Privatbereich ist zum Entfaltungsraum individueller Freiheiten geworden. Er wird wehrhaft gegenüber externen Weisungs- und Mitbestimmungsansprüchen verteidigt. "Die Ablehnung von Kontrolle im intimen Bereich ist das große Paradigma von Freiheit, und hier entzündet sich die Kritik an nahezu allen I n s t i t u t i o n e n " . b) Konsequenzen für Religiosität und Kirchlichkeit 1. Aufgezwungene und selbstgewählte Mobilität schwächt die Kirchenbindung, denn die Kirchen sind eben schon tratitionell "Kirchen im Dorf". Sie stehen assoziativ für Werte wie Tradition, Heimat und Geborgenheit in einem vertrauten Sozialraum. Wenn dieser Sozialraum mehr und mehr durchlöchert und zerschlagen wird, verliert der Kirchturm seine Einbindung in den Lebenszusammenhang der Menschen. Er wird zum Solitär, seine Plausibilität sinkt ab. Der vertraute Ton der heimatlichen Kirchenglocke kann dann schließlich sogar zur Lärmbelästigung werden, gegen die man vor Gericht zu Felde zieht. 2. Nicht zufällig hat in den 60er Jahren ein großes Abschmelzen der Gemeindehausbeteiligung und der kontinuierlichen Gottesdienstteilnahme stattgefunden, in der Dekade also, die als "die goldenen 60er" in die Geschichtsschreibung eingegangen ist. Dj e LaSt ¿ e r Kriegsschäden war überwunden, es ging mit hohen jährlichen Zuwachsraten steil bergauf. Das bedeutete aber auch, daß immer weniger Menschen tatsächlich in den Genuß unmittelbarer Zuwendungen durch die Kirchengemeinden kamen und immer mehr Kirchenmitglieder zu ideellen Förderern wurden, die nicht mehr mit Händen greifen konnten, was 189 G.Schmidtchen: Machtverlust, S.34 190 W.Jagodzinski / K.Dobbelaere: Wandel, S.84f

3.3 Individualisierung

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mit ihren Zahlungen geschah. Anwachsende materielle Spielräume ließen Freiheitsgrade entstehen, die es den Menschen ermöglichten, sich zumindest in großen Teilen ihres Lebens der Illusion von der persönlichen Autonomie hinzugeben. Einstellungen wie "Ich komme selbst zurecht", "Ich brauche keine Hilfe und keine Helfer", "Die Kirche ist eigentlich überflüssig" wachsen auf diesem materiell gut abgefederten Boden. Der Prozeß hat sich längst schon intensiviert und seinerseits ausdifferenziert. Er schwächt die Solidarität mit der Sozialgemeinschaft. Er entzieht den Kirchen nicht nur Ressourcen, sondern auch Akzeptanz. Da das Akzeptanzniveau und die persönlichen Einblicksmöglichkeiten abgesunken sind, muß in zunehmendem Maße erläutert und öffentlich dargestellt werden, was die Landeskirchen und die Kirchengemeinden eigentlich tun. Mit diesem neuen Begründungs- und Rechtfertigungsdruck umzugehen fällt den Kirchen, die traditionell hohe und höchste Wertschätzung gewohnt sind, nicht leicht. 3. Die Freiheitsorientierung trifft als Institutionenkritik unmittelbar die Kirchen, selbst da, wo sie objektiv eher illusionär ist. "Subjektiv ist das Gefühl verbreitet, sich von kirchlicher Institution in weiten Bereichen des Lebens emanzipiert zu haben. Nicht nur in den selbstverständlichen praktischen Bereichen, wie Kleidung und Ernährung, sondern auch in politischen Fragen, in Fragen einer bekömmlichen Lebensweise, in der Arbeitsethik, in der Bildungsmotivation, Sexualität, Struktur des Schulunterrichts, Ehe, Kindererziehung glauben große Mehrheiten, sie brauchen die Kirche nicht, sie handelten hier nach eigenen Anschauungen ... In dieser Autonomieillusion kommt die Macht eines gesellschaftlichen und außerhalb der Kirche etablierten Verständigungsprozesses zum Ausdruck, dessen Nonnen und Erwartungen so weit internalisiert wurden, daß sich der einzelne in diesen Prozeß Eingewickelte und somit Abhängige doch als frei Entscheidender begreifen kann" 4. Seit 200 Jahren schon sind Glaubensüberzeugungen "Privatsache". Auf diesem Gebiet durfte nach verbreitetem Verständnis jeder nach eigenem Gutdünken selig werden. Der Individualisierungsschub verstärkt hinsichtlich der Einstellung zur normativen Verbindlichkeit dogmatisch-religiöser Überzeugungen also lediglich einen Traditionsstrang, in dem der Protestantismus längst schon zu Hause ist. Für eine solche individualisierte Sicht stehen auch eine Reihe von Statements in der dritten EKD-Umfrage: "Jede Religion hat Stärken und Schwächen, man sollte sich das jeweils Beste herausholen", "Ich meine, feste Glaubensüberzeugungen machen i n t o l e r a n t " ^ "i c h habe meine eigene Weltanschauung, in der auch Elemente des christlichen Glaubens enthalten sind"193 j aber auch die dort ebenfalls abgedruckte Einzelaussage "Meinen 191 G.Schmidtchen: Machtverlust, S.29-31 192 Fremde Heimat, S. 13 193 Fremde Heimat, S.57

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VI. Die Religiosität der Kirchenmitglieder

Glauben hab ich mir praktisch irgendwo selber aufgebaut. Durch das, was ich so mitgekriegt hab, am Rande, und den Rest hab ich mir dazugedacht, ja". 194 Mit großer Selbstverständlichkeit werden Glaubenüberzeugungen heute individuell begründet und vertreten. Die persönliche Überzeugung ist maßgebliches und ausschlaggebendes Argument. Die offiziellen kirchlichen Normvorgaben und Überzeugungen spielen im Bewußtsein der Menschen vielfach nur noch als notwendige Versatzstücke, als Baumaterial für die persönlichen Überzeugungen eine Rolle. "Was Gott ist, bestimme ich s e l b s t " . 195 5. Die Zeit der Hirten und ihrer Schafe ist unwiderruflich vorbei. Auch die Kirchen können ihre Mitglieder nicht mehr länger als eine Art von Verfiigungsmasse ansehen, als "Kirchenvolk" oder als "Herde", und in paternalistischer Weise ihre Mündigkeit beschneiden. Auf allen Ebenen und Arbeitsfeldern begegnet die Landeskirche heute Menschen, die von ihrer "persönlichen Freiheit" und der Freiheit, die Inhalte ihres Glaubens selbst zu bestimmen, überzeugt sind. Sie erwarten, in dieser Freiheit von ihren kirchlichen Gesprächspartnern ernstgenommen zu werden. Dies in konsequente Programmatik umzusetzen, würde von den Landeskirchen nicht weniger erfordern als ihre gesamte Kommunikationskultur auf den Prüfstand zu stellen. Da wäre dann dem Gedanken standzuhalten, daß die Gemeindemitglieder die Form und die Inhalte ihrer Kirchlichkeit in eigener Regie entwickeln und auch v e r a n t w o r t e n . 196 6. Kirchenmitglieder sind heute in der Regel nicht mehr "fromm", auch nicht mehr "kirchlich", sondern allenfalls noch "religiös". Als "Frömmigkeit" sollen dabei äußere Erkennungszeichen der Identifikation mit kirchlichen Normerwartungen gelten, wie regelmäßige Bibellektüre, Losungen, Morgenandacht, tägliche Gebetspraxis usw., aber auch psychologisch zwanghafte Haltungen und Einstellungen. All dies wird überwiegend kritisch betrachtet. Der freie Christ läßt sich nicht mehr pauschal irgendwelche Formen ritualisierter Lebensführung als verbindlich vorgeben. Er entscheidet selbst, was, wann und wie er glaubt. 7. Die zahlreichen Auswirkungen der Individualisierung lassen sich in die Formel fassen: Individualisierung begünstigt die Entkirchlichung der Religiosität. 194 Fremde Heimat, S.21/1 195 Titelüberschrift der Zeitschrift "Psychologie Heute" H.7 22/1995; Vgl. hier auch den Artikel über Jugendreligiosität von H.Barz: Meine Religion mach ich mir selbst, S.20-27; Aus kirchlicher Sicht urteilt die EKD-Studie "Christsein gestalten: "In der Breite wird man vielmehr mit einem wenig stabilen subjektiven 'Synkretismus', einer jeweils persönlichen Mischung aus konkurrierenden Deutungsangeboten mit christlichen Anteilen, rechnen müssen. Auch Sprichwortweisheiten, Astrologie, Populärwissenschaft und anderes gehen in die 'religiöse Flickerlteppichnäherei' (Thomas Luckmann) ein" (S.34). Problematisch an dieser Beschreibung erscheint der Synkretismusbegriff, der eine in diesem Zusammenhang kontraproduktive Wahmehmungsperspektive signalisiert. Man versteht die Kirchenmitglieder gerade nicht, wenn man ihrem Glauben Synkretismus vorwirft. 196 s.o. Kap.II 7.4 Nr.5; Ein "Kirchenvolksbegehren" wäre, so gesehen, nicht nur ein erster Schritt auf dem Weg zu einer völlig neuen Kommunikationskultur in der Kirche, sondern lediglich der erste Schritt auf dem Weg zu einem veränderten christlichen Selbstverständnis und einem veränderten Verständnis des Christlichen auch innerhalb der kirchlichen Organisation.

3.4 Unmittelbare Evidenz

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3.4 Innovationsschub, Verlust der Zeithorizonte und unmittelbare Evidenz a) Darstellung der Phänomene Die Ausdifferenzierung hat eine gewaltige Produktivität freigesetzt. Die Menschen werden ununterbrochen mit "Fortschritten" aller Art geradezu überschüttet und überfüttert. Ständig vermehrt sich der Wissensbestand in den spezialisierten Teilbereichen. Ununterbrochen drängen technische Neuerungen auf den Markt, verbesserte und vermehrte Angebote stürzen in einem nicht mehr überschaubaren Ausmaß auf die Menschen ein. Selbst Normalverdiener sind heute in der Lage, sich aufgund der verbesserten Luftverkehrsanbindung und der vernetzten Kommunikationswege einen globalen Aktionsradius zu erschließen. Alle diese Entwicklungen verändern in ihrer Summe die Lage des einzelnen in der Gesellschaft: Zwar hat das Gesamtsystem seine Leistungsfähigkeit enorm gesteigert, aber kaum jemand kann noch seinen eigenen Videorecorder programmieren. Wenn der Computer kaputt geht, die Spülmaschine streikt oder das Auto liegen bleibt, ist man auf Spezialisten angewiesen. Je weiter die Entwicklung voranschreitet, desto weniger versteht man noch die Welt und ihre Zusammenhänge, desto größer wird die Fremdheit des Einzelnen in der Welt, desto größer wird seine Hilflosigkeit, seine Ohnmacht, seine Überforderung. Die Abhängigkeit von Spezialisten und Dienstleistern aller Art wird zur Selbstverständlichkeit, wenn der Einzelne sich bestenfalls noch auf den wenigen Spezialgebieten auskennt, mit denen er sich besonders intensiv beschäftigt. Das hohe Innovationstempo erzieht die Menschen. Es schafft Erwartungshaltungen und zwingt die Menschen in einen Käfig geschichtsloser Gegenwart. 197 Wenn der Wandel erst einmal so gewiß geworden ist, daß er erwartbar Wirdes, h a t das tiefgreifende Konsequenzen für die Einstellung der Menschen zu Vergangenheit und Zukunft und für ihr Orientierungsverhalten in der jeweiligen Gegenwart: Die Zukunft ist ungewiß, gewiß ist nur, daß sie anders sein wird. Die Vergangenheit aber gerät, ebenso wie alles andere, auf den Prüfstand der Gegenwart. Wer ständig mit Angeboten aller Art überfüttert wird und zur Auswahl geradezu gezwungen ist, dem bleibt überhaupt nichts anderes übrig, als "sich selbst ein Bild zu machen", um seine Wahlentscheidungen zu treffen. Wenn aber ständig auf vielen Gebieten neue Impulse auftreten, bleibt zu wenig Zeit für eingehende Prüfungen, differenzierte Stellungnahmen, historisch begründete Abwägungen oder gar für die Aneignung tiefergehenden Expertenwissens. Weil die Entscheidung schnell getroffen werden muß, wird sie 197 "Alles was ist, ist bis auf weiteres. Nichts, was war, ist fiir die Gegenwart verbindlich, während die Gegenwart nur wenig über die Zukunft vermag." - Z.Bauman: Vom Pilger zum Touristen - Postmoderne Identitätsprojekte, in: H.Keup (Hg.): Mensch, S.295 (295-300); H.U.Gumbrecht: Die Postmoderne ist (eher) keine Epoche, in: R.Weimann / H.U.Gumbrecht (Hg.): Postmoderne, S.366-372 198 R.Inglehart: Umbruch, S.l 1

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VI. Die Religiosität der Kirchenmitglieder

vor allem unter dem Aspekt des persönlichen Eindrucks oder des persönlichen Bedürfnisses erstellt. Je vielfaltiger die Angebote sind und je geringer die individuelle Sachkenntnis, die zur Verfügung steht, desto stärker orientiert sich die Wahlentscheidung am Kriterium der "unmittelbaren Evidenz". Die Dinge müssen vor allem "einleuchtend" sein. Man muß sofort erkennen, wozu sie da sind und wie sie funktionieren. Was nicht spontan überzeugt, wird aussortiert und abgelehnt. Im Extremfall reicht folglich bereits ein Knopf zu viel oder einer zu wenig aus, um über den Markterfolg eines neu eingeführten Produkts zu entscheiden. Das Kriterium der unmittelbaren Evidenz dient der Aufrechterhaltung von einfachen, überschaubaren und kontrollierbaren Lebensverhältnissen. Es beruht auf dem Prinzip der strategischen Reduktion und ist von der Not erzwungen, in der sich der überflutete, zunehmend inkompetente Mensch befindet. In seiner Lage helfen nur noch elementare Fragen: Was leuchtet mir ein? Was überzeugt mich? Was nützt mir? Was tut mir gut? Und schließlich die allgemeine Regel: Was sich bewährt, wird beibehalten. Was den Rahmen des Vertrauten, Selbstverständlichen und Notwendigen stört, wird, sofern es sich nicht innerhalb des relativ schmalen Bandes der indivuellen Neigungen bewegt, abgelehnt. Das Kriterium der unmittelbaren Evidenz wird nicht nur auf materielle Güter angewandt. Es dient auch der Beurteilung von Werthaltungen, Sitten und Grundüberzeugungen. Nichts gilt mehr als "Wert an sich". Auch Tradition und Sitte geraten in die Mahlwerke einer Entscheidungsprozedur, die vom Kriterium der unmittelbaren Evidenz dominiert ist. Was nicht mehr "einleuchtet", das wird abgelehnt. Das bedeutet aber auch, daß Tradition und Sitte keineswegs per se als überholt betrachtet werden, was fälschlicherweise immer wieder behauptet wird. Aber sie stehen auf einem harten Prüfstand. Sie sind nur noch insofern und nur so lange akzeptiert, wie sie sich auch in der Gegenwart als "einleuchtend" und nützlich bewähren. Jede andere Bezugnahme auf Vergangenheit gilt als "Nostalgie", als möglicherweise noch "schöne", letztlich aber dysfunktionale Marotte. Die christlichen Kirchen sind von diesem Prüfverfahren nicht ausgenommen. Bei näherem Hinsehen wird deutlich, warum sie es ihren Mitgliedern außerordentlich schwer machen, sich mit ihnen zu identifizieren. b) Die Landeskirchen als "anstrengende Heimat" Die Landeskirchen sind ausdifferenzierte Sozialsysteme im Wandel, die die Last einer langen Geschichte mit sich herumtragen. Sie haben kein eindeutiges Selbstverständnis, eine ungeklärte Leitdifferenz und eine vielstimmige Überleitungssemantik. Als evangelische Landeskirchen verfolgen sie das intellektuell ambitionierte Programm, aufgeklärte Vernunft und kritischen Glauben miteinander zu verbinden, was von denen, die sich in dieser Art der Religiosität üben, nicht weniger verlangt, als einen Zustand permanenter kognitiver Dissonanz aufrechtzuerhalten (s.o. Kap.V 4.2h). Der Glaube, der innerhalb der Landes-

3.4 Unmittelbare Evidenz

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kirchen vertreten und gelebt wird, ist individualisiert, entdogmatisiert, entkonfessionalisiert usw. Die Aufzählung ließe sich unter Aufnahme der Ergebnisse der vorhergehenden Darstellungen weiter ergänzen. Das Problem, das sich daraus ergibt, liegt auf der Hand: Die Landeskirchen, ihre Glaubenswelt und ihre Glaubenslandschaft sind zu kompliziert, um angesichts des Drucks zur Entscheidung unter dem Kriterium unmittelbarer Evidenz Bestand haben zu können. Selbst viele Berufschristen sind heute nicht mehr in der Lage, die komplexen, vieldimensionalen und multifaktoriellen Gegebenheiten zu überschauen. Um wieviel schwieriger ist diese Aufgabe aber für Kirchenmitglieder, die eben gerade nicht Theologie studiert haben? Das Sozialsystem Landeskirche wird der Grundfunktion aller Sozialsysteme, einfache und überschaubare Verhältnisse herzustellen und damit von der Komplexität der Umwelt zu entlasten, in seinem gegenwärtigen Zustand nicht mehr gerecht. Es belastet sich und seine Mitglieder mit einer Fülle von Problemen, widerstreitenden Anforderungen, Ansichten und Halbherzigkeiten. Die Landeskirche ist eine "schwierige Heimat". Die Fähigkeit, kognitive Dissonanzen auszuhalten, ist schichtspezifisch ausgeprägt. Während Angehörige höherer Schichten die Anforderungen eines "statusungewissen Lebens"199 durchaus eine gewisse Zeit lang ertragen und u.U. sogar genießen können, neigen Angehörige der unteren Schichten dazu, sehr schnell Klarheit zu schaffen. Improvisation und Grauzonen lehnen sie ab und damit eben das, was die Landeskirchen ihnen etwa mit dem Konzept vom "konziliaren Verständigungsprozeß" abverlangen: mühevoll und beharrlich erarbeitete wechselseitige Lern- und Wachstumsprozesse. Für derartige Langatmigkeiten fehlt dem überwiegenden Teil der Kirchenmitglieder schlicht die erforderliche Zeit, das erforderliche Interesse oder beides. Die Anforderungen des täglichen Lebens lassen vielen zu wenig Raum, um über Fragen der Religion oder gar ein sachgerechtes Verständnis der eigenen Kirchenmitgliedschaft nachzudenken. c) Religiosität, Kirchlichkeit und unmittelbare Evidenz Entscheidungen unter dem Gesichtspunkt der unmittelbaren Evidenz begünstigen (1.) die semantische Ausdünnung der Glaubensinhalte, (2.) die Landeskirchen, (3.) die Ritualisierung der Kirchenmitgliedschaft und (4.) ein Verständnis von Landeskirche als eines religiösen Dienstleistungsunternehmens. 1. Semantische Ausdünnung der Glaubensinhalte und Schweigen: Je weiter sich die Gesellschaft von den kosmologischen Grundüberzeugungen des antiken Menschen entfernt, desto schwieriger wird es für den Einzelnen, an einem wortgetreuen Verständnis des Glaubensbekenntnisses festzuhalten. Dessen präzise kosmologische Vorstellungswelt entwickelt ein großes Irritationspotential und ruft nach eingehender hermeneutischer Beschäftigung. Was aber, wenn dazu die Zeit oder auch schlicht die Fähigkeiten fehlen? Dann bietet sich die se199 F.-X.Kaufinann: Religion, S.62

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VI. Die Religiosität der Kirchenmitglieder

mantische Ausdünnung der religiösen Vorstellungswelt geradezu an. Die Inhalte des Glaubensbekenntnisses werden selektiv ausgewählt, bejaht oder verworfen, metaphorisiert und spiritualisiert. Die neuen Umfragen zur Verbreitung des Gottesglaubens bestätigen die weite Verbreitung dieses Verfahrens. Man glaubt nicht mehr an Jesus Christus. Das ist nur vor dem Hintergrund eines relativ komplexen Bibelwissens angemessen möglich. Ein solches detailliertes Bibelwissen ist aber überhaupt nicht mehr vorhanden. Man glaubt nur selten an einen personalen Gott, weil das intellektuell schwierig geworden ist ("wo wohnt er denn?"). Über die Grenzen der Kirchenmitgliedschaft hinaus aber ist der Glaube an ein "höheres Wesen" oder eine "höhere Kraft" verbreitet, was immer das auch sein mag. Die Vermutung drängt sich auf, daß diese Glaubensvorstellung gerade deshalb konsensfahig ist, weil sie semantisch unpräzise ist und von eingehenderen Glaubensüberlegungen entlastet. Für den, der an eine "höhere Kraft" glaubt, ist dieser Glaube "unmittelbar evident". Das heißt aber auch, man ist mit dieser Glaubensvorstellung sehr schnell fertig. Sie ruft nicht nach einem "Mehr" an Auseinandersetzung oder einer vertieften Glaubensanstrengung.200 s i e ist gänzlich unkompliziert. Sie ruht abrufbereit irgendwo im Hintergrund des anstrengenden Alltagslebens.201 2. Die Landeskirche profiziert von der "Fast-food-Religiosität" ihrer Mitglieder: Es mag überraschend klingen, wenn hier nun behauptet wird, daß die Landeskirchen als Organisationen des christlichen Glaubens von dieser ausgedünnten Fast-food-Religiosität ihrer Mitglieder profitieren. Aber dieser Gedanke läßt sich durchaus begründen: Ein intensives persönliches Glaubensleben macht die Kirchenmitgliedschaft tendenziell eher überflüssig. Man könnte ja durchaus auch ganz ohne irgendeine Kirche glauben. Die persönliche Gottesbeziehung benötigt eigentlich keinen religiösen Zwischenhandel. So gesehen wäre die Landeskirche tendenziell sogar unnötig. Gerade das ist sie aber offensichtlich nicht. Es zieht die Menschen gerade nicht in hellen Scharen aus den engen Mauern der Organisation in die weite Freiheit des individuell durchdachten und verantworteten Glaubenslebens. Sie arbeiten nicht engagiert und konzentriert an der Entwicklung einer freien, organisationsungebundenen Religiosität. Ja, sie arbeiten, aufs große und ganze betrachtet, überhaupt nicht an ihrer Glaubenswelt, nicht einmal systemintern. Gesucht ist vielmehr der schnelle und stille Konsens im Elementaren. Und so tun sie das, was "unmittelbar evident" ist: Sie greifen auf das Angebot der Organisation zurück, Mitglied zu sein und sich damit "im Zweifelsfall" (s.o. Taufzustimmung) auf der sicheren Seite zu befin200 Das zeigen die inkonsistenten Umfrageergebnisse zur Hermeneutik des Gottesglaubens. 201 C.Reents hat den Gottesglauben von Schülern untersucht und in einer Weise beschrieben, die auch für Erwachsene als durchaus repräsentativ gelten kann: "Vielen bleibt bezüglich der Gottesfrage eine freundlich-diffuse Ratlosigkeit, verstärkt durch ein reduziertes Sprachvermögen und theologische Defizite, durch Schweigen im Lebensumfeld, durch ein Denken in einfachen Alternativen, durch soziale Ablösungsprozesse und erstes Erkennen der Funktionslosigkeit mancher alter Gottesbilder in einer zweckrational bestimmten Umwelt. Der Abschied vom Kinderglauben hinterläßt in der Regel eine schweigende Leere." - Was wird aus dem Kinderglauben? Gottesbilder im Wandel, Gütersloh 1987, S.28

3.4 Unmittelbare Evidenz

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den. Dazu ist die Organisation da, daß sie (als korporativer Akteur) die Wahrheit repräsentiert, die individuell so schwer zu durchschauen ist. Organisationsmitgliedschaft entlastet, auch in dem Sinne, daß man den Fachleuten getrost überlassen kann, was einem selbst nicht mehr einleuchtet.202 Die ausdifferenzierte Gesellschaft erzwingt ohnehin ständigen Kontakt mit irgendwelchen Fachleuten. Mitgliedschaft (statt Glaubensarbeit) hat einen weiteren Vorteil. Es wurde bereits darauf hingewiesen, daß sich Mitgliedschaft generalisieren läßt. Eine generalisierte Mitgliedschaftsmotivation entlastet von dem Zwang, ständig überprüfen zu müssen, ob die Kirche oder die eigene Religiosität auch "in Ordnung" sind. Die Mitgliedschaft wird aufrechterhalten, aber sie wird in den Hintergrund gestellt, so wie man die Versicherungspolicen im Schrank vergiß, die man ebenfalls nicht tagtäglich benötigt. Schließlich kommt noch ein drittes Moment hinzu. Man wählt aus der reichhaltigen Palette nur noch das aus, was unmittelbar zu brauchen ist und was unmittelbar einleuchtet. Damit ist die Logik des Teilnahmeverhaltens angesprochen, eine Logik, die zumindest tendenziell darauf hinausläuft, den Spatzen in der Hand (die Leistungen des Sozialsystems Kirche) der Taube auf dem Dach (dem Glauben an die ecclesia invisibilis) vorzuziehen. Mit alledem ist die Vermutung ausgesprochen, daß eine Landeskirche, die von ihren Mitgliedern erwartet, daß sie sich intensiver Glaubensanstrengungen unterziehen, mit dieser Forderung ihren eigenen Organisationscharakter ignoriert. Konsequent zu Ende gedacht, macht sie sich mit einer derartigen Forderung selbst überflüssig. Oder andersherum, die Landeskirche (als hochkomplexes Sozialsystem, im Entwicklungsstadium eines Quasi-Systems wäre das völlig anders!) wird gerade deshalb so gern in Anspruch genommen, weil sie ihre Mitglieder von der Notwendigkeit entlastet, sich ständig selbst um die Inhalte ihres Glaubens zu bemühen. 3. Ritualisierung der Kirchenmitgliedschaft: Die anlaßbezogene Nachfrage nach kirchlichen Dienstleistungen ist erwiesenermaßen hoch und stetig. Auch dieser Befund läßt sich in die Überlegungen zur unmittelbaren Evidenz einordnen. Kirchenmitgliedschaft ist generalisierbar. Sie braucht keine permanente Betätigung, aber anlaßbezogene Abrufbarkeit. Deshalb erfreut sich die spontan aktualisierte Mitgliedschaft in Situationen normativer oder akzidentieller Betroffenheit weitester Verbreitung. Das kirchliche Angebot wird unter dem Gesichtspunkt der "Brauchbarkeit zur Angst- und L e b e n s b e w ä l t i g u n g " 2 0 3 genutzt und entsprechend individuell reduziert. An Tiefpunkten und Höhepunkten des Lebens rufen die Kirchenmitglieder nach pastoraler Begleitung. Hier nehmen sie das Angebot des helfenden Gesprächs oder der rituellen Expression gern an. Die Logik des Ritualvollzugs besitzt allerdings ihre eigenen Tücken. Niklas Luhmann hat darauf hingewiesen, daß es die Eigenart des religiösen Rituals 202 Zur Umdefinition des Berufsverständnisses seit dem 18.Jahrhundert im Sinne eines "Fachmannes" mit persönlicher Eignung und Neigung vgl. H.-H.Schrey: Beruf III: Protestantismus und Katholizismus der Neuzeit, in: TRE 5, S.671f 203 M.Terwey: Pluralismus, S.129; Fremde Heimat, S.19

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VI. Die Religiosität der Kirchenmitglieder

ausmacht, gerade dort sprachfähig zu sein, wo die allgemeine Sprachfähigkeit am Ende ist. Das Ritual führt die Menschen durch Situationen der Sprachlosigkeit, indem es sie "ent-mündigt", indem es sie ihres eigenen Mundes beraubt und nicht selbst zu Wort kommen läßt. Das bedeutet aber, daß der Ritualvollzug auf die innere Beteiligung oder Zustimmung der Anwesenden gar nicht unbedingt angewiesen ist. Norbert Bolz hat diesen Sachverhalt in die einprägsame Formel gefaßt: "Das Ritual betrügt den Gott".204 j n e i n e r Situation kollektiver Sprachlosigkeit kann niemand überprüfen, ob die für einen gelungenen Ritualvollzug notwendige innere Beteiligung und Hingabe der T e i l n e h m e r ^ tatsächlich auch vorhanden ist. Es ist durchaus möglich, ein Gottesdienstritual innerlich distanziert oder gar gelangweilt über sich ergehen zu lassen. Ebenso ist vorstellbar, daß bei den unterschiedlichsten Teilnehmern, wie sie etwa eine Beerdigungsgesellschaft ausmachen, eine ganze Palette von Beteiligungsgraden vorhanden ist. Hier ist es unmöglich, festzustellen, ob tatsächlich alle "ihre Herzen zu Gott erhoben" haben, die am Ritual teilnehmen. Das bedeutet nicht, daß man nun allen, die an einem Kasualgottesdienst teilnehmen, vorwerfen sollte, "den Gott zu betrügen". Aber ohne Zweifel ist das bei bloßer Ritualteilnahme besonders leicht möglich und in Kasualgottesdiensten noch einmal leichter als im Sonntagsgottesdienst. Es ist doch auffällig, daß angesichts der hohen Prozentzahlen von Kirchenmitgliedern, die angeben, nicht an Gott zu glauben, die Zustimmungsraten zu Kasualgottesdiensten immer noch derartig hoch ausfallen. Eigentlich müßten sie niedriger l i e g e n . 2 0 6 Das Gottesdienstritual läßt potentiell jeden, der nicht innerlich teilnehmen will, mit sich selbst und mit seinem Schweigen in Ruhe. Es ist liberal. Vielleicht macht das gerade einen Teil seiner Attraktivität aus. Was bedeutet das für das Kriterium der "unmittelbaren Evidenz"? Evident ist die Teilnahme unter dem Gesichtspunkt der unmittelbaren Betroffenheit, unter dem Gesichtspunkt der eigenen Unfähigkeit, das Geschehene "in Worte zu fassen", und schließlich unter dem Gesichtspunkt der sozialen Dimension der gemeinsamen Gottesdienstfeier. In einer Situation, wo man selbst nichts oder nur wenig zu sagen weiß, liegt es offensichtlich nahe, die Kirche in Anspruch zu nehmen. Selbst von denen, die im Zweifel sind und mit dem, "was" in dieser Situation geredet wird, nicht unbedingt übereinstimmen, wird doch allgemein begrüßt, "daß" in einer solchen Situation die Kirche da ist, die sprachfahig ist und redet. Gesucht wird also, um auf das Eingangsbild noch einmal zurückzukommen, die hilfreiche Intervention der kirchlichen Organisation, der Spatz in der Hand, selbst dann, wenn man die Taube auf dem Dach, 204 Interview mit N.Bolz im FAZ-Magazin H.805 vom 4.8.1995; so auch schon M.Weber: Wirtschaft, S.348 205 I.Paul nennt drei Kriterien eines gelungenen Ritualvollzugs: Präsenz (persönliche Hingabe), Ursprungsmythos und Kasus - Rituelle Kommunikation, Tübingen 1990, S.71-73 u.ö. 206 Mit seltener Deutlichkeit wird die Möglichkeit eines inneren Vorbehaltes gegenüber dem Glaubenshintergrund des Rituals in der dritten Strophe des Kirchenliedes "So nimm denn meine Hände" nach beiden Seiten hin offengehalten: "Wenn ich auch gleich nichts fühle von deiner Macht, du fuhrst mich doch zum Ziele, auch durch die Nacht: So nimm denn meine Hände und führe mich bis an mein selig Ende und ewiglich."

3.4 Unmittelbare Evidenz

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die Kontrastbotschaft vom Reich Gottes, die den Bestand dieser Organisation überhaupt erst motiviert und garantiert, längst aus dem Sinn verloren hat. 4. Die Landeskirche als "religiöser Dienstleister": Der Gedanke vom Spatzen und der Taube läßt sich unter dem Aspekt des Netzwerkcharakters der landeskirchlichen Organisation weiter generalisieren. Die Kirche überläßt ihren ja Mitgliedern die Wahl, sich ihr entweder über den Weg des Glaubens oder über den Weg der Organisationsmitgliedschaft zu nähern. Welcher Zugang zu Kirche erfordert weniger Kraft, Auseinandersetzung und Zeit? Die Antwort liegt auf der Hand. Das aber bedeutet: Die Ausdifferenzierung der Gesellschaft forciert über den Druck zur zügigen Entscheidung unter dem Kriterium der unmittelbaren Evidenz die Ausbreitung eines funktional reduzierten Kirchenbildes, das sich auf den Organiationscharakter beschränkt und die Netzwerkstruktur in ihrer Bedeutung marginalisiert (bzw. in den Kompetenzbereich der Theolog/innen delegiert). Sie entzieht der Glaubensbindung die Plausibilität und reduziert die Kirchenbindung tendenziell auf persönliche und kollektive Nutzenaspekte. Sie stabilisiert die Tendenz, die Landeskirchen als religiöse Dienstleistungsbetriebe anzusehen, von deren Angeboten man bei Bedarf Gebrauch macht. Je weniger religiöses Wissen unter den Kirchenmitgliedern vorhanden ist, desto plausibler wird ihnen der Dienstleistungscharakter der Landeskirchen. Plakativ formuliert: Wer heiraten möchte, muß nicht unbedingt alles über Jesus Christus wissen, es reicht aus, wenn er die Telefonnummer seiner Pfarrerin kennt. Die Landeskirchen werden damit dem Organisationsstatus anderer Unternehmen des sozialdiakonischen Sektors gleichgestellt. "Mitgliedschaft [in komplexen Großsystemen] hat nicht unbedingt etwas mit der eigenen Einstellung zu t u n " . 2 0 7 ihr besonderer Systemcharakter fallt dem Zwang zur unmittelbaren Evidenz zum Opfer. Ein derartiges Kirchenverständnis wird in den kommenden Jahren sicherlich weiter zunehmen.

3.5 Zersplitterung und Entkirchlichung der christlichen Ethik Die Folgephänomene der ausdifferenzierten Gesellschaft (Individualisierung, Enthistorisierung, unmittelbare Evidenz) begünstigen die Aufsplitterung der Ethik in situative Teilethiken mit inkompatiblem Charakter und teilweise sogar gegenläufigen Tendenzen. Vier Aspekte der Entwicklung sollen dargestellt werden: Die Zunahme privater Nutzenkalküle (a), "Was Moral ist, bestimme ich selbst" (b), die sozialen Bewegungen und die Umettikettierung der protestantischen Ethik (c), die schleichende Entkirchlichung der Gewissensorientierung (d).

207 W.Lück: Praxis, S.29

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VI. Die Religiosität der Kirchenmitglieder

a) Zunahme privater Nutzenkalküle In einer Umfrage aus dem Jahr 1995 notierte das Institut für Demoskopie Allensbach eine deutliche Zunahme privater Nutzenkalküle. Im Jahr 1981 hatten beispielsweise 76% der Befragten angegeben, man dürfe "auf keinen Fall" Steuern hinterziehen, selbst wenn man dazu die Möglichkeit habe. 1995 waren es 63% ( W e s t ) . 2 0 8 Man dürfe auf keinen Fall Geld behalten, das man gefunden hat, meinten 1981 73% und 1995 55% (West). Man dürfe auf keinen Fall für den eigenen Vorteil lügen meinten 1981 65% und 1995 44% (West). 2 0 9 Die Umorientierung der privaten Werthaltung zugunsten des persönlichen Vorteils findet sich auch in anderem Bereichen: Versicherungsbetrug wird mehr und mehr zum "Kavaliersdelikt", die persönliche Akzeptanz von Solidargemeinschaften wie der Krankenversicherung oder der Rentenversicherung sinkt ab. Der persönliche Nutzen wird dem Kollektivnutzen vorgezogen. Die Meinung, jeder sei sich selbst der Nächste, wird auch durch vielfältige Erfahrungen immer wieder bestätigt. Die Hinwendung zu einer Ich-bezogenen Ethik des persönlichen Nutzens vollzieht sich vor einem größeren Horizont. Sie ist eingebettet in einen Trend zur Entfaltung einer "postmodernen", "multikulturellen" Lebensweise und I d e n t i t ä t . 2 1 0 Unmittelbare Erlebnisorientierung ist das erklärte Programmm, ein Ich-orientierter Ich-Welt-Bezug bildet die Motivationsgrundlage. Zwar hat die Idee des "postmodernen, multikulturell orientierten" Menschen bisher keineswegs die gesamte Gesellschaft erfaßt. Sie ist besonders unter Menschen mit höherer Bildung und Mittelklassehabitus unter 50 Jahren verbreitet. Diese Gruppen stellen aber einen Großteil der Trendsetter und Meinungsmacher der Gesellschaft. Sie zeichnen sich mehr als die Angehörigen anderer Milieus durch das Bewußtsein aus, richtungweisende Werthaltungen zu verkörpern und die maßgeblichen Standards der Gesellschaft von morgen heute schon zu vertreten. Unter diesem Gesichtspunkt ist das Milieu auch von den Kirchen ernstzunehmen: Sein "postmaterialistischer", Ich-orientierter Umgang mit der Welt und den Werten der Gesellschaft steht der weltorientierten Verantwortungsethik der Kirchen diametral entgegen. Es ist von daher auch nicht verwunderlich, daß sich in diesen Kreisen, die Gerhard Schulze unter dem Begriff "Selbsterfahrungsmilieu" zu beschreiben versucht hat^U, das höchste Ausmaß an Ablehnung und innerer Distanz gegenüber den Kirchen findet.

208 Alle Zahlen FAZ vom 20.9.1995; Im Vergleich Ost: 1990 88% und 1995 63% 209 Ost 1990 69% und 1995 53% bzw. Ost 1990 69% und 1995 43% 210 W. Welsch (Hg.): Unsere postmoderne Moderne, Weinheim 1987 bietet einen Einstieg in die Diskussion. 211 s.u. Kap.VI 2.7 212 Aus kirchlicher Sicht heraus wird dieses Bild nicht unbedingt aufgehellt, wenn man hinzunimmt, daß zumindest in Teilen des Milieus intensiv mit Formen einer "neuen", nicht institutionell gebundenen Religiosität experimentiert wird. R.Waßner nennt folgende Berufsgruppen, die "empfanglich" für neue Religiosität sind: "Es sind typischerweise Angehörige der sozialen Mittelschicht, mit guter Schul- und Berufsausbildung; Sozial-, Kultur- und Pfle-

3.5 Zersplitterung und Entkirchlichung der christlichen Ethik

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Auch wenn das "Projekt Postmoderne" starken Widerspruch wachgerufen hat213 und in seiner radikalsten Ausprägung durch die Wende des Jahres 1989 einen starken Dämpfer bekommen hat^l^ sind die Kirchen von der Verstärkung der Nutzenorientierung in der Bevölkerung doch unmittelbar betroffen. Auch sie werden von den nachrückenden Generationen schärfer, als sie es bisher gewohnt sind, unter dem Aspekt des persönlichen Nutzens beurteilt. Die Kirchenmitgliedschaft soll nicht nur Geld kosten, sie soll auch etwas einbringen. Sie nimmt damit den Charakter einer Versicherungsmitgliedschaft an, die zumindest die Mitwirkung der Geistlichen anläßlich der Höhe- und Tiefpunkte des Lebens oder den Kindergartenplatz für das eigene Kind zu garantieren hat. Das reaktive Anschwellen der Kirchenaustrittsziffern anläßlich unmittelbar spürbarer Steuererhöhungen des Staates in den 70er, 80er und 90er Jahren zeigt, wie sehr die Kirchenmitgliederschaft heute auch unter Kostengesichtspunkten gesehen wird und die Kirchensteuer folglich in Betracht kommt, wenn es darum geht, kompensatorische Einsparungsmöglichkeiten zu realisieren. geberufe sind stärker vertreten, aber auch kaufinännische und Verlagsangestellte, Lehrer, Künstler, nicht zu vergessen Hausfrauen" - Religiosität, S.3 213 Zwar ist der "postmoderne" Mensch als das konsequenteste Produkt der ausdifferenzierten Gesellschaft anzusehen. Es ist aber durchaus fraglich, ob er tatsächlich auch das fortgeschrittenste Produkt ist. Überblickt man die Ergebnisse zur Lage des Menschen in der ausdifferenzierten Gesellschaft, dann zeigt sich eben nicht nur eine enorme Expansion der individuellen Wahlmöglichkeiten. Es zeigt sich auch, daß die Modernisierungsspirale die Menschen, die ihr unterworfen sind und sich ihr unterwerfen, einem gewaltigen Druck aussetzt. Zu konstatieren war die Auflösung der traditionellen Schichtenstruktur, der Zusammenbruch kollektiv verbindlicher Wertorientierungen, Ohnmacht und Ausgeliefertsein, flüchtige Bindungsqualitäten, unvollständige, diskontinuierliche Beheimatung, Narzismus, Einsamkeitsgefühle usw. Die ausdifferenzierte Gesellschaft produziert nicht nur neue Werte, sie produziert auch einen hohen Bedarf an Begleitung, Hilfe, menschlicher Nähe und kollektiv verbindlichem Sinn. Der Fortschrittsoptimismus der "Moderne", der nur eine Entwicklungsrichtung der Kultur kannte, den Weg in ein besseres Morgen, läuft aus. In der Metapher von der "Post"-Moderne kommt das bereits implizit mit zum Ausdruck (J.-F.Lyotard: Eine post-moderne Fabel über die Postmoderne oder: In der Megalopolis, in: R.Weimann / H.U.Gumbrecht (Hg.): Postmoderne, S.293). Das Glaubensbekenntnis der Moderne, demzufolge das "Neue" zugleich stets auch das "Gute" ist und die neue Zeit stets die bessere Zeit sein wird (vgl. F.-X.Kaufmann: Religion, S.36-39), hat Risse bekommen, die zunehmend verspürt werden. Ulrich Becks Buchtitel "Risikogesellschaft" signalisiert, wie einschneidend die Veränderung der Wahrnehmungsperspektive ist. Die "Entmythologisierung der Moderne" (F.-X.Kaufinann: Religion, S.34) hat eingesetzt, und mit ihr mehren sich auch die kritischen Anfragen an die Begleiterscheinungen der Moderne. Man kritisiert das "Zeitalter des Narzißmus" (C.Lasch, München 1980). Man spricht vom "Ich-Wahn" (C.Keller: Der Ich-Wahn. Abkehr von einem lebensfeindlichen Ideal, Stuttgart 1986) und sucht nach dem "sozialen Kitt" (H.Keup: Individualisierung, S.338f), der die Gesellschaft zusammenhalten könnte. Man bedauert, daß die "Kunst eines konventionellen, öffentlichen Lebens" verloren gegangen ist (R.Hitzler: Und Adam versteckte sich. Privatheit und Öffentlichkeit als subjektive Erfahrung, in: Soziale Welt 4/1985, S.503-518). Man fragt nach den verbindlichen und verbindenden Werten jenseits der flüchtigen Beheimatung in Szenen und Milieus und sucht nach neuen Begründungsmöglichkeiten für den Wert der Gemeinschaft, für kollektive Normen und tragfähige, kollektive Zukunftsvisionen (Einen Überblick über den Stand der Diskussion bietet: H.Keup: Individualisierung). 214 Annahme eines Zeitgeistphänomens und damit auch beschränkter Reichweite im Rahmen einer generationsspezifischen Verbreitung: M.Klein: Platz

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VI. Die Religiosität der Kirchenmitglieder

b) "Was Moral ist, bestimme ich selbst. " Was sich bereits im Umgang mit Glaubensüberzeugungen beobachten ließ, läßt sich auch hinsichtlich der persönlich-ethischen Überzeugungen feststellen. Mit großer Selbstverständlichkeit werden ethische Überzeugungen heute individuell begründet und vertreten. Die persönliche Überzeugung ist maßgebliches und ausschlaggebendes Argument. Die offiziellen kirchlichen Normvorgaben spielen im Bewußtsein der Menschen vielfach nur noch als notwendige Versatzstücke eine Rolle, gewissermaßen als Baumaterial für die persönliche Überzeugung. Auf die Frage "Ist Moral gesellschaftlich vorgegeben, oder bestimmt jeder für sich selbst, was Moral ist" antworteten in einer Spiegelumfrage 1995 74% der Bevölkerung, dies sei "von jedem selbst f e s t z u l e g e n " . 2 1 5 "Was Moral ist, bestimme ich selbst. " Daß die Wahlfreiheiten in einer christlich geprägten Kultur faktisch gar nicht so groß sind und vieles auch weiterhin traditionell christlich ist und bleibt, ist denen, die im Bewußtsein der Legitimität persönlicher Gestaltungsräume und Wahlfreiheiten leben, nicht immer klar. Die Spiegelumfrage zeigt, daß trotz aller Betonung der subjektiven Wahlfreiheiten in Sachen Ethik die traditionellen Grundlinien der christlichen Ethik nach wie vor hoch im Kurs stehen. Es ist also keine gänzlich neue Ethik, die sich da entwickelt. Es scheint vielmehr die alte christliche Ethik zu sein, die lediglich individualistisch umettikettiert wird. Auf die Frage, "Ist die folgende Handlungsweise unerläßlich für ein moralisches Leben?" betonten 91%, es sei unerläßlich, zwischen "Gut und Böse zu unterscheiden". Das ist nach wie vor die maßgebliche Norm der alten christlichen Zweitcodierung, der schon die "Kinder des Lichtes" verpflichtet waren. Auch unter den folgenden fünf Nennungen befinden sich mit jeweils sehr hohen Zustimmungsraten drei traditionell christliche Werte: Treue gegenüber dem Partner (89%), "nicht lügen, nicht stehlen" (85%), "sich für Schwächere verantwortlich fühlen" (83%). Dazwischen befinden sich "sich für die Umwelt verantwortlich fühlen" (85%) und "Tiere schützen" (85%). Offensichtlich schrumpft aber das Wissen um die christliche Grundsubstanz der persönlichen Überzeugungen mehr und mehr zusammen. Lediglich jeder zweite Befragte meinte, es sei für ein moralisches Leben unerläßlich "an Gott zu glauben und die 10 Gebote zu b e f o l g e n " . D i e Einzelgebote aber erreichten, abgelöst aus dem Zusammenhang der beiden Gebotstafeln, sehr viel höhere Zustimmungsraten. Das Lernziel "Nächstenliebe" steht in der Allbus-Umfrage 1992 gleich hinter dem Lernziel "Selbständig denken lernen" und weit vor "gehorchen lernen", "hart arbeiten" und "beliebt sein" an der zweiten Stelle der ethischen Prioritäten der deutschen B e v ö l k e r u n g . 2 1 7 \ y a s hier als Privatisierung ethischer Überzeugungen beobachtet worden ist, läßt sich auch in anderer 215 Der Spiegel Nr.39 vom 25.9.1995, S.77 216 Der Spiegel Nr.39 vom 25.9.1995, S.70; vgl. Fremde Heimat, S.20: 54% der Evangelischen sind der Meinung, daß es unbedingt zum Evangelisch-Sein gehört, nach den 10 Geboten zu leben. 217 Allbus 1992, S.235

3.5 Zersplitterung und Entkirchlichung der christlichen Ethik

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Hinsicht beobachten, bei der Ethik der sozialen Bewegungen (c) und bei der Beurteilung des Gewissens (d): c) Die sozialen Bewegungen und die Umettikettierung der protestantischen Ethik Die "sozialen Bewegungen" (Anti-AKW-, Friedens-, Selbsterfahrungs-, Ökologie·, Bürgerinitiativ-, Frauenbewegung), die seit den 80er Jahren die engen Grenzen des Universitätsmilieus, aus dem sie ursprünglich hervorgegangen sind, verstärkt hinter sich gelassen haben, bilden einen unübersehbaren Gegentrend zur postmodernen Vereinzelung und zur privatisierenden Flucht aus der kollektiver Verantwortung.218 Paradoxerweise finden die "sozialen Bewegungen" die meisten Anhänger gerade in den Kreisen, die sich auch durch ein hohes Maß an Ich-orientierter Weltsicht und andere "postmoderne" Verhaltensweisen a u s z e i c h n e n . ^ ^ Auch das ist ein Indiz für die Zersplitterung selbst der individuellen Ethik in Folge gesellschaftlicher Ausdifferenzierung. Was die Sympathisanten der sozialen Bewegungen spontan vereint, sind gemeinsame ethische Überzeugungen. Man orientiert sich an den Maximen der "Menschlichkeit", den Erfordernissen der Zukunftssicherung oder der Erhaltung und Pflege der natürlichen Umwelt. Die Forderungen, "ganzheitlich" zu denken und Verantwortung für die (Welt-)Gesellschaft wahrzunehmen, werden nicht nur vehement, sondern auch so erfolgreich vertreten, daß sich um die einzelnen Facetten dieser Ziele herum bereits ein eigenes Marktsegment entwickelt hat.220 Di e soziale "Beweglichkeit" hat mittlerweile zahlreiche Beispiele einer aktiven Beeinflussung der Gesamtgesellschaft hervorgebracht. Die Mobilisierbarkeit großer Bevölkerungsteile zwingt Politiker, Produzenten und Marktanbieter zu vorbeugender Rücksichtnahme. Sie beeinflußt ihre strategischen Überlegungen. Wer einmal in dem (sehr grobmaschigen und keineswegs ethisch kohärenten) Raster symbolträchtiger Verstöße gegen das Gebot der "Menschlichkeit" oder der ökologischen "Ganzheitlichkeit" hängengeblieben ist, hat mit öffentlichkeitswirksamer Publizistik zu rechnen und Reaktionen des mobilisierungsfähigen Teils der Bevölkerung zu furchten. Nachdem österreichischer Wein (Gift), württembergische Nudeln (Hygiene), Fische (Ekel) u.a. aufgrund von KaufVerweigerung zeitweise nahezu völlig vom Markt verschwunden waren oder eine Ölplattform gegen den Willen der Betreiberfinna und der eng1

218 "In den Gegenbewegungen sozialer Verständigung ist auch zum Ausdruck gekommen, daß die Potentiale von Toleranz, sozialer Gerechtigkeit und demokratischer Selbsttätigkeit im Deutschland der letzten Jahrzehnte relativ zugenommen haben, und zwar keineswegs nur in 'modernen', 'individualisierten' Milieus." - M.Vester u.a.: Milieus, S.25 219 Vgl. G.Schulze: Erlebnisgesellschaft, S.660, der die Gruppen unter dem Stichwort "Selbstverwirklichungsmilieu" beschrieben hat. Eine Milieubeschreibung des Selbsterfahrungsmilieus s.u. Kap.VI 2.7 220 In diesem Marktsegment sind Aktionsgruppen, politische Parteien und Vereine erfolgreich tätig, treten als öffentlicher Impulsgeber auf und sichern durch den Erfolg beim Publikum, das sie zur Solidarisierung aufrufen, auch ihr materielles Auskommen (Spenden, Mitgliederbeiträge, Merchandising).

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VI. Die Religiosität der Kirchenmitglieder

lischen Regierung nicht im Meer versenkt wurde, ist die Rücksichtnahme auf ethische Grundorientierungen in der Bevölkerung für viele (aber keineswegs alle) Systeme zu einem Faktor der mittelfristigen Existenzsicherung geworden. Die Bewegungen sind in einem nicht unerheblichen Maß mit religiösen Überzeugungen und Impulsen (im Sinne des "weiten" Religionsbegriffs) aufgeladen. Gerade unter "Bewegten" läßt sich gut beobachten, daß die ethische Zweitcodierung aus dem Systemraum der protestantischen Religion heraus in die Gesellschaft hinein eingewandert ist.221 im Gewand eines allgemeinen "Humanitätsgebots" oder einer Pflicht zur ökologischen Zukunftssicherung hat sie diese tief durchdrungen. Die Bewegungen zeichnen sich gerade hinsichtlich ihrer ethischen Ziele, religionsgeschichtlich betrachtet, durch ein gut protestantisches Religionsverständnis in der Tradition des 19.Jahrhunderts aus.222 Allerdings ist zu beachten, daß die sozialen Bewegungen sich selbst gerade nicht als christliche Bewegungen verstehen. Das nötigt zu einer ergänzenden Behauptung: Die ethischen Ziele und Maximen haben bei ihrem Auszug aus dem Kompetenzbereich der protestantischen Kirchen das Etikett "christlich" abgestreift und sind im Bewußtsein derer, die sie verfechten, zu "allgemein menschlichen" Zielen und Maximen mutiert. Formelhaft gesprochen: Aus Glaubensverantwortung wird in der ausdifferenzierten Gesellschaft Verantwortung. Die ethische Zweitcodierung der christlichen Religion verliert ihren Charakter als "christliche" Zweitcordierung. Sie wird "umettikettiert".223 Mit gro-

221 Vor dem Hintergrund dieser Überlegungen, wäre noch einmal auf Luhmanns Vorwurf zurückzukommen, die Kirchen hätten heute keine Religion mehr zu bieten. "Fast gewinnt man den Eindruck, als ob die Religion sich heute als eine Art Parasit gesellschaftlicher Problemlagen entwickele" (N.Luhmann: Kommunikation, S.191). Wenn die vorgetragene Überzeugung richtig ist, daß die sozialen Bewegungen selbst vom Geist protestantischer Ethik und Religiosität angeleitet sind, dann ist Luhmanns Polemik an diesem Punkt fehl am Platz. Dann wären die Kirchengemeinden und die Menschen, die sich aus religiöser Überzeugung heraus an der Arbeit der Bewegungen beteiligen, im besten protestantischen Sinne bei ihrer eigenen Sache. 222 Es läßt sich sogar behaupten, daß die Ethik ihre ursprüngliche Verankerung, die religiöse Erstcordierung, in diesem Emigrationsprozeß zumindest partiell mitgenommen hat. Die moralische Erregbarkeit, die sich, von den höher Gebildeten ausgehend, in immer weiteren Teilen der Bevölkerung angesichts von vermeindlichen oder tatsächlichen Verstößen gegen die "Ganzheitlichkeit" der Welt und des Lebens feststellen läßt, trägt in ihrer kompromißlosen Intensität und ihrer totalisierenden Einseitigkeit, aber auch ihrer unausgewogenen, sprunghaften Symbolhaftigkeit eindeutig religiöse Züge. Kompromißlosigkeit und Kohärenzsuggestion sind ebenso charakteristische Merkmale der Religion wie die Transformation von Unbestimmbarkeit in Bestimmbarkeit. Allerdings wird Religiosität hier in einer antiinstitutionellen, inkonsistenten Weise als "ethisierte Bürgerreligiosität" ausgelebt. Nimmt man den empirischen Befund hinzu, daß das Selbstverwirklichungsmilieu (als maßgeblicher Träger der sozialen Bewegungen) ausgeprägt kirchenkritisch ist, dann drängt sich der Verdacht auf, daß das Milieu u.a. deshalb so kirchenkritisch auftritt, weil es selbst religiös ist (s.o. über den DDR-Sozialismus Kap. VI 2.1c). Leider steht der quantitativ-statistische Beweis einer negativen Korrelation von Bewegungsidealen und Kirchenkritik noch aus. 223 Der oben bereits aufgegriffenen Frage, wieviel Religion der Mensch brauche (s.o. Kap.VI 2.5), läßt sich nun eine weitere modifizierende Antwort hinzufügen: Nach seinem eigenen Verständnis braucht er um so viel weniger Religion, je weniger er noch imstande ist, seine eigenen ethischen Grundüberzeugungen und Handlungsimpulse als christlich zu identifizie-

3.5 Zersplitterung und Entkirchlichung der christlichen Ethik

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ßem Erfolg werden dem Christentum auf diese Art die Urheberrechte streitig gemacht. d) Die schleichende Entkirchlichung der Gewissensorientierung Was sich bereits als Individualisierung ethischer Grundüberzeugungen und als Umettikettierung der protestantischen Ethik in den sozialen Bewegungen beobachten ließ, läßt sich auch in der Auseinandersetzung um die Christlichkeit des Gewissens feststellen. Auch hier vollzieht sich die schleichende Entkirchlichung und Entchristlichung der nach wie vor christlichen Grundsubstanz der gesellschaftlichen Ethik. Die Gewissensorientierung, die im 19.Jahrhundert einer der maßgeblichen Gründe für die Festigkeit der kirchlichen Organisation trotz verbreiteter persönlicher Gestaltungs- und Glaubensfreiheiten war, scheint sich in jüngerer Zeit gerade gegen die Kirchen zu wenden und die Kirchenbindung in wachsendem Maße auszuhebeln. Den statistischen Befund liefert die dritte EKD-Umfrage: Danach waren 1992 76% der Evangelischen in Ost und West der Meinung, daß es "unbedingt zum Evangelisch-Sein" gehört, seinem Gewissen zu folgen und 79% bzw. 77% waren der Meinung, es gehöre unbedingt dazu "ein anständiger und zuverlässiger Mensch zu s e i n " . 2 2 4 Dies waren die höchsten Zustimmungsraten nach Taufe und Konfirmation. Allerdings gab lediglich jeder zweite Befragte (55% und 54%) an, zum Evangelisch-Sein gehöre unbedingt, "nach den 10 Geboten zu leben". Zwischen der Gewissensorientierung und der Gebotsorientierung der evangelischen Christen klafft eine deutlich L ü c k e . 2 2 5 Die Gewissensbegründung erfahrt in der evangelischen Kirche eine deutlich höhere Zustimmung als der genuin christliche Rekurs auf die 10 Gebote. In dieser Lücke entzündet sich der schwelende Kampf um die Gewissen. Viele Evangelische haben sich daran gewöhnt, die "Stimme des Gewissens" ganz selbstverständlich an die Stelle zu setzen, an der einst die Gebote standen. Das Gewissen selbst gilt als das eigentlich Christliche. Die christliche Qualität der Gewissensentscheidung ist aber, da die Rückbindung an die 10 Gebote sich offensichtlich lockert und damit auch die Kontrollmöglichkeiten verloren gegangen sind, zur reinen Überzeugungssache geworden. Man muß daran glauben, daß Gewissensüberzeugungen eine christliche Qualität besitzen. Man kann aber durchaus auch anderer Meinung sein. Genau das scheint in zunehmendem Maß auch zu geschehen. Es ist in der ausdifferenzierten Gesellschaft keineswegs mehr ausgemacht, daß jede Gewissensentscheidung selbstverständlich und automatisch als eine christliche Entscheidung anzusehen ist. Im Gegenteil: Das freischwebende Gewissen läßt sich duchaus auch mit dem Etiren. Sinkt sein Vermögen auf Null ab, so kann er u.U. zu der Überzeugung gelangen, er brauche überhaupt keine Religion. 224 Fremde Heimat, S.20 225 Vgl. R.Schloz: Zerfall der religiösen Kommunikation - Partikularisierung des Ethos?, in: F.W.Graf / K.Tanner (Hg.): Protestantische Identität heute, Gütersloh 1992, S.227f

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VI. Die Religiosität der Kirchenmitglieder

kett "allgemeine, humanistische Ethik" versehen, ohne daß die maßgeblichen Grundüberzeugungen und Handlungsimpulse darüber überhaupt verändert werden müßten. In der dritten EKD-Umfrage begründeten 44% und 48% der Ausgetretenen ihren Kirchenaustritt mit der Überzeugung, daß sie "mehr an humanistisch-ethischen Werten" orientiert sind als an christlichen Werten.226 Was dem einen gerade als Ausweis der persönlichen Christlichkeit erscheint, empfindet der andere als Beleg seiner humanistisch-ethischen Orientierung. Der Spalt, der sich hier auftut, schwächt die Kirchenbindung, und er scheint tiefer zu werden. In der Allbus-Umfrage 1991 waren in Ost und West mehr als 80% der Befragten der Meinung, es sei "Sache des Gewissens", darüber zu entscheiden, "was richtig und falsch ist". Aber lediglich 32,3% (West) und 13,9% (Ost) gaben an, das solle "auf Gottes Gesetzen b e r u h e n " . 2 2 7 Auch wenn zu vermuten ist, daß sich unter den Gewissensbefürwortern selbst wieder viele befanden, die das Gewissen als eine religiöse Instanz ansehen, zeigen diese Zahlen doch, daß der Gewissensbegriff ein höchst problematischer Nährboden von Kirchlichkeit ist. Er scheint den Kirchen mehr und mehr entwunden zu werden. Es ist vorstellbar, daß seitens der Landeskirchen bislang nicht einmal erkannt worden ist, in welchem Ausmaß die Grundlagen der christlichen Ethik und damit auch der evangelischen Kirchlichkeit hier einer "humanistischen" Umettikettierung unterzogen und damit dem Kompetenzbereich der christlichen Religion entzogen werden. e) Fazit: Christliche Ethik in der ausdifferenzierten Gesellschaft Materiell protestantische Ethik, ja protestantische Kirchlichkeit, wird (teilweise sogar mit antikirchlichem Unterton) als allgemein menschliche Ethik angesehen. Sie wird entkirchlicht, indem sie ihrer Geschichtlichkeit beraubt wird. Weder die befragten Einzelnen, noch die sozialen Bewegungen interessieren sich in nennenswerter Weise für die Herkunft ihrer ethischen Grundüberzeugungen. Eben das kennzeichnet die Einstellungen als ein "postmodernes" Phänomen, für das der Verlust der Vergangenheitsdimension und das Handeln unter dem Eindruck unmittelbarer Evidenz ja charakteristisch ist. In einer Gesellschaft, die die Menschen dem "Präsentismus" unterwirft, erfolgt die Entkirchlichung der Ethik geradezu zwangsläufig. Der Prozeß gefährdet weniger den Kernbestand der christlichen Ethik, als er das Wissen um die Christlichkeit dieser Ethik untergräbt. Werte wie Hilfbereitschaft, Nächstenliebe oder die Unterstützung der Schwachen finden nach wie vor höchste Zustimmungsraten auch unter Kirchenfernen und Ausgetretenen. Aus dem politischen Kalkül sind sie ebensowenig wegzudenken wie aus dem alltäglichen Nachbarschaftsverhalten. Aber das Bewußtsein für die Wurzeln dieser Überzeugungen schwindet. Die von der ausdifferenzierten Gesellschaft erzwungene kollektive Vergeßlichkeit 226 Fremde Heimat, S.54; 19% und 18% gaben an, das träfe auf sie gar nicht zu. 227 Allbus 1991, S.351 und 349. 52,8% (West) und 70,8% (Ost): Das sollten "Gesetze entscheiden". - Allbus 1991, S.350

3.5 Zersplitterung und Entkirchlichung der christlichen Ethik

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entwindet der Kirche ihre ethische Zweitcodierung. Wo das erfolgreich geschieht und großflächig plausibel wird, kann es nicht ausbleiben, daß die Kirchen im öffentlichen Bewußtsein mehr und mehr überflüssig werden. Im Systembereich "humanistische Moral" befinden sich die Landeskirchen ja längst schon im Strudel einer starken Organisationenkonkurrenz (Sozialamt, freie Träger, gemeinnützige Vereine, Spendenorganisationen usw.). Hier werden sie nicht mehr mit ihren eigenen Maßstäben, sondern an der Leistungsfähigkeit und Organisationsstruktur ihrer Konkurrenten gemessen.

3.6 Sprungbiographie a) Auseinanderdriften der Lebensphasen "Es gab eine soziale Konstruktion des menschlichen Lebens, die kannte nur ... die disziplinierte Kindheit, das lange 'Reich der Notwendigkeit' und das Greisenalter. Es gibt heute eine soziale Konstruktion des menschlichen Lebens, die kennt den milden Morgennebel der Kindheit, das Stadium der Bildung und Ausbildung, die Parallelstadien von Arbeit und Freizeit, das Stadium der Pensionierung und die Abenddämmerung des Greisenalters".228 D e r Anstieg des materiellen Wohlstandes hat im Zusammenspiel mit weiteren Faktoren auch der Ausgestaltung des Lebenslaufs neue Möglichkeiten eröffnet. Seit den 60er Jahren ist es immer größeren Teilen der Bevölkerung möglich, die Wahrnehmung autonomer Lebensformen zu finanzieren. Bereits in Alterssegmenten, die früher noch keine Autonomie (Jugend) oder nur noch eine eingeschränkte Autonomie (Alter) besaßen, sind heute ausgeprägte Spielräume zur Wahrnehmung und Realisierung persönlicher Lebensvorstellungen vorhanden. Auf Kompatibilität und Anschlußfahigkeit zwischen den Generationen und Altersklassen muß immer weniger geachtet werden. Das hat Folgen für die Lage des Einzelnen. Jede Generation, jede Altersklasse sozialisiert sich selbst bei voller Ausschöpfung der ihr jeweils zur Verfügung stehenden "Selbstentfaltungsmöglichkeiten", und diese Möglichkeiten sind strukturell sehr unterschiedlich. Einem unverheirateten Studenten mit subventioniertem Krankenkassenbeitrag und Mensaverpflegung stehen völlig andere Möglichkeiten offen als einem Ehepaar nach der Geburt des ersten Kindes oder den Ruheständlern, die bei geistiger und körperlicher Gesundheit die "Kinder aus dem Haus" haben und sich um ein geregeltes Einkommen nicht mehr zu sorgen brauchen. Wo vor wenigen Jahrzehnten noch Kontinuitätswahrung zwischen den Generationen und Altersklassen zur eigenen Zukunftssicherung nötig und geboten war, sind heute Kontinuitätsabbrüche möglich und realisierbar. Aus ihrer massenhaften Wahrnehmung erklärt sich das Phänomen der "Sprungbiographie": 228 R.Dahrendorf: Lebenschancen, Frankfurt/M. 1979, S.129; vgl. zum folgenden die Aufsätze in: A.Weymann (Hg.): Handlungsspielräume

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VI. Die Religiosität der Kirchenmitglieder

Identitätsbildung vollzieht sich nicht mehr sukzessive, sondern sprunghaft und situationsorientiert. Die abrupt wechselnden Lebensumstände (z.B. zwischen den Lebensphasen: Elternhaus und Schule; Studium und erste Berufserfahrungen; Ehe, Kinder und Erziehungsanforderungen) und die aktive Teilhabe in phasenbedingt wechselnden, individuellen Bezugsgruppen erfordern eine ständige Um- und Neuorientierung hinsichtlich der jeweils gültigen ethischen Maßstäbe und sozialen Normen, hinsichtlich der jeweils erwarteten Einstellungen und Verhaltensweisen. Kompatibilität und Kontinuität zwischen den einzelnen Phasen ist immer weniger gegeben, ja auch immer weniger möglich, je mehr die phasenspezifischen Verhaltensanforderungen sich verschärfen. Biographische Entwicklung zersplittert zur "Sprungbiographie". Die Betroffenen fallen beim Übertritt von einer Lebensphase zu einer anderen geradezu "aus allen Wolken" und finden sich schlecht vorbereitet in der nächsten Phase wieder. Anschließbarkeit und kontinuierliche Übergänge sind immer weniger möglich. Was schließlich nach dem Durchlaufen mehrerer Phasen zurückbleibt, ist weniger eine gewachsene soziale Identität, als vielmehr ein Sammelsurium aus Versatzstücken, Resten und Splittern vergangener und gegenwärtiger Prägsamkeiten. Die Beheimatung, die ein derartiger Sozialisationsprozeß bietet, ist nicht mehr dauerhaft, sondern diskontinuierlich. Sprungbiographien bieten soziale Beheimatung nur noch als "Heimat auf Zeit". Wer den abrupten Normenwechsel, der im Zuge der eigenen Lebensaltersentwicklung immer wieder gefordert ist, verschläft und den Zielen und Normen einer "abgelaufenen" Phase allzu lange treu bleibt, den "bestraft das Leben". Er wird zum "Biographiehavaristen". Niemanden bekümmert morgen noch sein Geschwätz in der Clique von gestern. Sprungbiographien produzieren Identität auf Widerruf. b) Religiosität und Kirchlichkeit im Verlauf des Lebens Einige erste Einsichten hinsichtlich der Auswirkungen von Sprungbiographien auf Religiosität und Kirchlichkeit lassen sich aus Arbeiten über die zweite EKD-Umfrage gewinnen. In den einzelnen Lebensphasen spielen Religiosität und Kirchlichkeit jeweils unterschiedliche Rollen, mehr noch, die Schwerpunkte wechseln zwischen einer stärker kirchenungebundenen Religiosität, einer stärker kirchenvermittelten Religiosität und sogar auch einer unreligiösen Kirchlichkeit. Fünf Aspekte sollen kurz angesprochen werden, die Jugendreligiosität (1.), Elternschaft (2.), Teilnahme am Erwerbsleben (3.), andere Lebensphasen: Singles (4.) und Alte (5.). 1. Die 18 bis 29-jährigen229: Dj e Altergruppe der 18 bis 29-jährigen Evangelischen stellte in der dritten EKD-Umfrage den höchsten prozentualen Anteil de229 Neben den Daten der dritten EKD-Umfrage vgl. A.Feige: Jugend und Religiosität, in: Aus Politik und Zeitgeschichte (Beilage zur Wochenzeitung 'Das Parlament') Β 41/42 1993, S.38; A.Feige: Vom Schicksal zur Wahl, in: PTh 83/1994, S.93-109; H.Barz: The pursuit of happiness. Empirische Befunde zur Religion der ungläubigen Jugend in Deutschland, in: PrTh 29/1994, S.106-116; A.Schöll: Alltagsreligiosität von Jugendlichen. Kritische Anmer-

3.6 Sprungbiographie

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rer, die angaben, an eine "höhere Kraft" zu glauben (38%), und auch den höchsten Anteil derer, die angaben, "weder an Gott noch an eine höhere Kraft" zu glauben ( 1 1 % ) bzw. überzeugt zu sein, daß es keinen Gott gibt (4%).230 j n ihren Glaubensüberzeugungen ist sie stärker antidogmatisch orientiert als die übrigen Altersgruppen. "Je offener eine Glaubensaussage erscheint, je mehr Spielraum sie läßt, desto attraktiver ist sie für eine große Gruppe der Jüngeren"^ 1 (aber auch der höher Gebildeten und derer, die sich als "weniger verbunden" bezeichnen). Eine Art von "religiöser Suchbewegung" ist unter Jugendlichen verbreiteter als in anderen Altergruppen. Überdurchschnittlich hoch ist der Glaube an ein Weiterleben nach dem Tod mit 55 % Zustimmung in der Shell-Studie 1991.232 Hier spielen auch Reinkarnationsvorstellungen eine wichtige Rolle. Spirituelle Erfahrungen sind überdurchschnittlich verbreitet. Das Interesse an fremden Religionen ist ausgeprägter. Schließlich läßt sich ein Hang zur "religiösen Bastelei" feststellen. Versatzstücke aus den unterschiedlichsten Religionen werden miteinander kombiniert. Dennoch wird man die Tendenzen zu Okkultismus233i New Age234 u n d anderen Formen unmittelbarer religiöser Erfahrung trotz aller öffentlichen Aufmerksamkeit, die sie genießen, quantitativ nicht überbewerten dürfen. Insgesamt gesehen befindet sich die Jugend nicht auf einem "Okkulttrip". Aber konkrete Kenntnisse und inhaltliche Vorstellungen sind schon aufgrund der hohen kommunikativen Dichte, die in dieser Altersgruppe herrscht, weit verbreitet.235 "Für eine neue und konsistente Verfaßtheit von Religiosität bei Jugendlichen zeugt das Interesse an Okkultem kaum".236 Hier kommt nichts völlig Neues auf, was sich morgen schon zur ernsthaften Institutionenkonkurrenz für die Landeskirchen auswachsen könnte. In ihren Einstellungen zu Religion und Kirche fallt die Altersgruppe tendenziell nicht völlig aus dem Gesamtbild der Mitglieder heraus, sie reproduziert es vielmehr auf einem abgesenkten Bindungsniveau. So ist die Verbundenheit mit der Kirche zwar insgesamt deutlich geringer, zeigt aber ebenfalls die Tendenz zu den mittleren Verbundenheitsgraden. Fast niemand bezeichnet sich als "sehr verbunden" (1% gegenüber 10% aller Mitglieder) und 15% bezeichnen sich als "überhaupt nicht verbunden" (gegenüber 8%).237 Auch in der Einstellung zum "Evangelisch-Sein" findet man tendenziell ähnliche Antwortverteilungen wie bei der Gesamtheit aller

230 231 232 233

234 235 236 237

kungen zur Studie 'Jugend und Religion' von Heiner Barz, in: PrTh 29/1994, S.l 17-134; V.Drehsen: Vom Beat zur Bricolage. Synkretismus und jugendliches Protestverhalten, in: W.Greive / R.Niemann (Hg.): Neu glauben? Religionsvielfalt und neue religiöse Strömungen als Herausforderung des Christentums, Gütersloh 1990, S.l 14-134 Fremde Heimat, S.l4 Fremde Heimat, S.l4 H.Barz: Persuit, S.l 12 H.Zinser: Moderner Okkultismus als kulturelles Phänomen unter Schülern und Erwachsenen, in: Aus Politik und Zeitgeschichte Β 41/42 1993, S.16-24; B.Grom: Faszination Esoterik, in: Aus Politik und Zeitgeschichte Β 41/42 1993, S.9-15 H.Knoblauch: Zeitalter; C.Schorsch: Drang Fremde Heimat, S.l 1 A.Feige: Schicksal, S.l02 Zum folgenden: Fremde Heimat, S.8 und S.30

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VI. Die Religiosität der Kirchenmitglieder

Evangelischen, wieder auf einem abgesunkenen Niveau. Zum Evangelisch-Sein gehört unbedingt hinzu "getauft sein" (87% Z u s t i m m u n g ^ 8) t "konfirmiert zu sein" (77%), "Kirchenmitglied zu sein" (76%), "ein anständiger und zuverlässiger Mensch zu sein" (69%) und "seinem Gewissen zu folgen" (63%). "Kirchgang" (17%) und "Bibellesen" (9%) gehören noch weniger dazu als in der Generation der Eltern. Die persönliche Mitgliedschaft wird mit etwa gleich hohen Zustimmungsraten aus religiösen Gründen ("weil ich Christ bin", "weil ich religiös bin"), aus ethischen Gründen ("weil die Kirche viel Gutes tut", "sich für Gerechtigkeit in der Welt und die Zukunft der Menschheit einsetzt"), aus Nützlichkeitserwägungen heraus ("weil ich auf die kirchliche Trauung oder Beerdigung nicht verzichten möchte") oder aus Gründen der Familienkontinuität aufrecht erhalten ("weil meine Eltern auch in der Kirche sind").239 73 % haben nach der Konfirmation keine kirchlichen Angebote mehr wahrg e n o m m e n . 240 86% geben an, sich nicht am Leben der Gemeinde zu beteiligen. 80% lehnen die Mitarbeit in der Gemeinde ab. 241 Das Kirchgangs verhalten folgt dem Teilnahmemuster der Elterngeneration: 40% geben an, nur zu familiären Anlässen in die Kirche zu gehen, weitere 26% gehen anläßlich kirchlicher Feiertage und familiärer Anlässe. Lediglich 12% geben an, nie zu gehen. Insgesamt ist die eigene Einstellung zur Kirche massiv von der Einstellung der Eltern geprägt (75%).242 Die 18 bis 29-jährigen haben Erwartungen an die Kirche, die tendenziell mit denen aller Kirchenmitglieder übereinstimmen. Vergleichsweise weniger wird gewünscht, daß die Kirche "die christliche Botschaft verkündigt" (61 %). Gegenüber ca. 70%, die "Raum für Gebet, für Stille und inneres Zwiegespräch" , sowie eine ansprechendere Gestaltung des Gottesdienstes erwarten, ist diese Zahl auffällig. Hier könnten Erfahrungen mit Predigten und Gottesdienstteilnahme während der Zeit des Konfirmandenunterrichts nachklingen. Ein schlechtes Zeugnis für die "Kirche des Wortes", aber vielleicht auch ein Hinweis auf eine mögliche Entwicklungsrichtung der Religionskultur in den Kirchengemeinden: Gebet, Stille und Besinnung? Zu der verbreiteten Zustimmung zu Diakonie und Individualseelsorge, die generell unter allen Kirchenmitgliedern zu finden ist, kommt bei den 18 bis 29-jährigen noch ein deutlich stärkeres Moment der sozialen Diakonie hinzu. Hier kommt die von Michael Welker als "Akzentverschiebung und D i m e n s i o n s e r w e i t e r u n g " 2 4 3 bezeichnete Tendenz zur Zuweisung von Krisenbereichen der gesellschaftlichen Entwicklung in den 238 Im folgenden werden nur die Zahlen der Westgruppe genannt, insgesamt 316 Befragte. Die Ostgruppe ist mit 40 Befragten zu klein, um eine repräsentative, quantitative Auswertung zuzulassen. 239 Fremde Heimat, S.33 240 Fremde Heimat, S.50 241 Fremde Heimat, S.38 242 Fremde Heimat, S.43; Es folgen "andere Verwandte" (21%), Pfarrer/innen (23%), Lehrer/innen (17%). Jugendgruppen haben mit 4% eine quantitativ sehr geringe Bedeutung, obwohl sie natürlich für die Betroffenen einen bedeutsamen Faktor ihrer religiösen Sozialisation darstellen können. 243 M.Welker: Kirche, S.41f vgl. S.73

3.6 Sprungbiographie

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kirchlichen Zuständigkeitsbereich besonders deutlich zum Tragen: Die Kirche soll sich gegen Ausländerhaß wenden (68% Zustimmung), "Entwicklungshilfe leisten" (61%), für "Werte eintreten, die für das Zusammenleben der Menschen wichtig sind" (61%), sich für "die Gleichstellung der Frau engagieren" (60%), sich "für Arbeitslose einsetzen" (57%). Ein Engagement für die "Erhaltung der Umwelt" steht mit 68% Zustimmung hoch im Kurs. Relativ unbeliebt sind dagegen auch in dieser Altergruppe Stellungnahmen zu politischen Fragen (36% Zustimmung) und die Beschäftigung mit Arbeitsalltag und Berufsleben (35%).244 Versucht man ein Fazit, dann findet sich in der Altergruppe derer, die tendenziell eher unverheiratet sind, eine eigene Wohnung besitzen und aufgrund ihrer großen (geistigen und sozialen) Freiheitsspielräume und ihrer relativen (materiellen) Unabhängigkeit das Leben deutlich mehr als die anderen Altersgruppen "aus vollen Zügen genießen" können, eine freie Religiosität, eine eher distanzierte Einstellung zur Kirche als Institution, aber auch eine klare Vorstellung von den Aufgabenfeldern der Kirche und eine überwiegende Zustimmung zur gesellschaftlichen Relevanz der Kirche.245 Summarisch ergibt sich der Eindruck, daß die Arbeit der Kirche "für die anderen", vor allem für die, die Hilfe brauchen, durchaus gefordert und anerkannt wird. Aber die Kirche soll sich in gebührender Entfernung halten und einem persönlich nicht allzu nahe treten. Vor dem Hintergrund der Lebenssituation derer, die so denken, ist diese Einstellung sogar durchaus nachvollziehbar. Warum sollte sich jemand, der jung, gesund und ungebunden ist und darüberhinaus an die eigene Unsterblichkeit glaubt, ängstlich seiner Kirchenmitgliedschaft versichern? 2. Elternschaft: Zu den folgenden Etappen eines Lebenslaufs liegen deutlich weniger gesicherte Erkenntnisse vor. Aber einiges läßt sich auf der Grundlage der Erhebungsdaten der zweiten EKD-Umfrage dennoch feststellen. So kann als gesichert gelten, daß die Geburt eines Kindes das "Thema Kirche" wieder zurück ins Bewußtsein ruft. Ingrid Lukatis schreibt dazu, "daß das Interesse von Frauen an Fragen religiöser Erziehung steigt, wenn sie selbst Kinder zu erziehen h a b e n " . 2 4 6 Zwar geben Frauen generell einen etwas höheren Verbundenheitsgrad mit der Kirche an, die Verbundenheit scheint aber nach der Geburt eines Kindes noch einmal leicht anzusteigen. Interessant ist auch das Ergebnis, daß Männer "ihre Kirchenbindung dann etwas höher einschätzen, wenn sie zusammen mit Kindern im Haushalt leben" .247 Einen ähnlichen Befund ermittelte 244 Fremde Heimat, S.35 245 A.Feige spricht von einem "Syndrom von häufig kritisch-antiinstitutionell wirkenden Kognitionen einerseits und andererseits christlich intonierten Gefühlslagen und verdeckt religiösästhetischen Ausdrucksmustern (wenn z.B. bei Konzerten von Michael Jackson ein ganzes Stadion mit Kerzen und erhobenen Armen 'for a better world' mitsingt)", das sich "mehrheitlich keineswegs völlig außerhalb des Symbol- und Praxisraums kulturellen Christentums" formuliert. - Jugend, S.5 246 I.Lukatis: Frauen und Männer als Kirchenmitglieder, in: J.Matthes (Hg.): Kirchenmitgliedschaft, S.131 mit Verweis auf G.Schmidtchen, Die Situation der Frau, Berlin 1984, S.74 247 I.Lukatis: Frauen, S.132

500

VI. Die Religiosität der Kirchenmitglieder

Winfried Gebhardt in einem soziologischen Milieuvergleich zwischen zwei Dörfern in West- und Ostdeutschland. Auch hier ließ sich nachweisen, daß sich die Affinitäten zur Religiosität, aber besonders auch zur eigenen Kirchlichkeit mit der Geburt des Kindes verstärkten. Was im Leben vorher allenfalls eine nicht hinterfragte Selbstverständlichkeit war, wird über dem Status Wechsel, dem Biographieabbruch, zum Thema: Wie halte ich es mit der Taufe und mit der religiösen Erziehung meines Kindes? Die Geburt eines Kindes verschärft den Druck, denn nun sind definitive Festlegungen zu treffen. Die religiöse Sprachlosigkeit und das Schweigen werden gewissermaßen von außen aufgebrochen. Positionsnahme, und sei sie noch so stark von inneren Vorbehalten belastet, ist in dieser Situation unvermeidlich. Häufig fallt die Antwort in dieser Situation zugunsten einer verstärkten Hinwendung zur Kirche(ngemeinde) aus. Gebhardt schreibt: "Die Inanspruchnahme kirchlicher Kasualien ist elementarer Bestandteil des Familienlebens. Interessant erscheint uns dabei, daß die Feststellung der Wichtigkeit kirchlicher Kasualien für die Familie ebenso wie die Selbstdefinition als 'religiös' nicht für die eigene Person beziehungsweise für die des Ehepartners getroffen wird, sondern fast ausschließlich auf die eigenen Kinder bezogen wird. Religion und kirchliche Kasualien werden ... für die Erziehung ihrer Kinder als 'wichtig' angesehen, auch wenn dies nicht begründet werden kann: 'Irgendwie legt man halt doch Wert darauf, daß das Kind getauft wird'. Und oftmals sind es gerade die Initiationsriten wie die Taufe der eigenen Kinder, in der latente Religiosität wieder manifest wird, beziehungsweise in der 'religiöse Fragen' wenigstens ansatzweise gestellt und problematisiert w e r d e n " . 2 4 8 Die Phase der Elternschaft bringt die jungen Eltern nicht allein ihrer eigenen verschütteten Religiosität näher, sie verschafft ihnen auch einen Anknüpfungspunkt an die Ortskirchengemeinde. Über den Umweg des Kindes, des Kindergartenplatzes im evangelischen Kindergarten, des Gemeindefestes mit Kindergrogramm usw. findet manch eine Frau, gelegentlich aber auch ihr Mann, den Weg zurück in die Gottesdienste ihrer Ortskirchengemeinde, in das Gemeindehausleben oder die Gemeindeleitung. 3. Berufstätigkeit: Demgegenüber scheint die volle Teilnahme am Erwerbsleben einer aktiven Beteiligung am Gemeindeleben geradezu abträglich zu sein. "Arbeit bestimmt Chancen und Zwänge des Lebenslaufs in durchgreifender und sehr langfristiger Weise" 249 Dies gilt auch für die Kirchlichkeit der Menschen. Thomas Luckmann hatte bereits 1967 bemerkt: "Allgemein gesagt korreliert der Grad der Beteiligung am Arbeitsprozeß der modernen Industriegesellschaft negativ mit dem Grad der Involviertheit in die kirchliche Reli-

248 W.Gebhardt: Milieus, S.292f. Den gleichen Befund hat eine empirische Studie im USamerikanischen Raum erbracht, der ja von seiner Kirchenkultur her völlig anders gelagert ist. - R.M.Stolzenberg / M.Blair-Loy / L.J.Waite: Religious Participation in Early Adulthood: Age And Familiy Life Cycle Effects on Church Membership, in: American Sociological Review 60/1995, S.84-103 249 A.Weymann: Handlungsspielräume, S.23 (mit einem umfassenden Forschungsüberblick)

3.6 Sprungbiographie

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gion".250 Ingrid Lukatis konnte diese Annahme auf der Datenbasis der zweiten EKD-Umfrage bestätigen. Auch hier erwies sich die Erwerbsbeteiligung als "Schlüsselfaktor" für die Beziehung zur K i r c h e . 1 Teilberufstätige Frauen weisen "ein ebenso hohes Maß an Verbundenheit auf wie die ausschließlich als Hausfrauen tätigen weiblichen Befragten".252 Demgegeüber zeigen vollberufstätige Frauen "deutlich mehr Distanz, ja A u s t r i t t s n e i g u n g " . 2 5 3 o a s Ausmaß an Distanz unterscheidet sich nicht von dem der vollberufstätigen Männer. Dieser Befund läßt sich nahtlos in die oben angestellten Überlegungen zur Auswirkung der ausdifferenzierten Gesellschaft auf den "Grenzgänger zwischen den Systemen" einzeichnen. Die autonomen Teilsysteme formulieren Anforderungen, die mit den kirchlichen Erwartungen nur schwer oder überhaupt nicht zu vereinbaren sind. Sie erzwingen alle möglichen Formen von innerer Distanzierung oder Relativierung der Kirche. Darüber hinaus absorbiert die Arbeitswelt den größten Teil des Tagesablaufs und schafft dadurch Lebensumstände, die nur noch sehr wenig Freiräume lassen. Gerade die persönlichen Freiräume aber sind in einer ausdifferenzierten Gesellschaft Bereiche, die mit konkurrierenden Angeboten hart umkämpft werden. Von daher ist verstehbar, warum eine volle Erwerbsbeteiligung Religion und Kirche zur Hintergrundvariable schrumpfen läßt, die lediglich in generalisierter Form noch weiterhin mitläuft. Allerdings gibt es auch in diesem Alter einen kontinuierlichen Anknüpfungspunkt an die Kirche, die Kasualhandlungen. Selbst wenn man nicht aus religiösen, sondern überwiegend aus sozialen Gründen heraus an diesen Gottesdiensten teilnimmt, so bilden die Kasualgottesdienste doch in den Jahrzehnten anstrengender Erwerbstätigkeit ein wichtiges und häufig ganz zu Unrecht unterschätztes Bindeglied zur Kirche. In diesem Gottesdiensten erreichen die Pfarrerinnen und Pfarrer schon im Laufe weniger Jahre den weit überwiegenden Teil ihrer Gemeindemitglieder. Hier lernt man sie kennen, und hier macht man sich ein Bild von ihnen. Im Umfeld jeder einzelnen Amtshandlung finden Gespräche mit zahlreichen Menschen statt, die den pastoralen Wirkungskreis weit über den betroffenen Einzelnen hinaus ausdehnen. Hier kommt auch die eigene Religiosität anlaßbezogen zur Sprache. Hier wird Kirchenmitgliedschaft zum Thema, auch für diejenigen, die sonst wenig oder gar keine Zeit haben. Von daher läßt sich vermuten, daß die Qualität, mit der die Kasualhandlungen und die Kasualseelsorge wahrgenommen werden, eine entscheidende Bedeutung für die pauschale Beurteilung der Pfarrer/innen, der Kirchengemeinde und der ganzen Kirche durch die Kirchenmitglieder besitzt. 4. Andere Lebensphasen und Lebenslagen - Singles: Die ausdifferenzierte Gesellschaft hat neue Lebenslagen und neue Lebensphasen hervorgebracht. Wenn 250 T.Luckmann: Religion, S.64; Vgl. T.Luckmann: The Decline of Church-Oriented Religion, in: R.Robertson (Ed.): Sociology of Religion, Middlesex 1969, S.141-151 251 I.Lukatis: Frauen, S. 143 252 I.Lukatis: Frauen, S. 127 253 I.Lukatis: Frauen, S.143; Vgl. G.Czell: Religion und kirchliche Sozialisation in der Alltagswelt, in: M.Arndt (Hg.): Religiöse Sozialisation, Stuttgart 1975, S.47

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VI. Die Religiosität der Kirchenmitglieder

die Phase der Elternschaft die Menschen näher an die Kirchengemeinde als Organisation heranbringt, dann kann das für die Alleinlebenden, deren Zahl stark gewachsen ist, nicht zutreffen. Hier fehlt es gewissermaßen an einem "biologischen Sesam-öffne-dich". Auf der anderen Seite ist aber gerade unter den "Singles", die naturgemäß über deutlich mehr freie Zeit verfügen, auch eine größere Affinität zu Selbsterfahrung und allgemeiner Religiosität feststellbar. Es wäre wünschenswert, auf diesem Gebiet über genauere kirchensoziologische Untersuchungsdaten zu verfügen. Der Trend zur Privatisierung und zum Rückzug auf das eigene Selbst birgt religiöse Implikationen: "In den fünfziger und sechziger Jahren haben die Menschen auf die Frage, welche Ziele sie anstreben, klar und eindeutig geantwortet: in den Kategorien eines 'glücklichen' Familienlebens, mit Plänen für das Einfamilienhaus, das neue Auto, die gute Ausbildung für die Kinder und die Erhöhung des Lebensstandards. Heute sprechen viele hier eine andere Sprache, die - zwangsläufig vage - um 'Selbstverwirklichung', die 'Suche nach der eigenen Identität' kreist, die 'Entwicklung der persönlichen Fähigkeiten' und das 'In-Bewegung-Bleiben' zum Ziel h a t " . 2 5 4 Gerade das Übermaß an Angeboten und Wahlmöglichkeiten, das die ausdifferenzierte Gesellschaft den Menschen bietet, läßt die Ansprüche an die Qualität des Lebens und auch an die Qualität des Zusammenlebens stark ansteigen. Je weniger das "Draußen" überschaubar, verstehbar, gestaltbar und damit auch verläßlich und berechenbar ist, desto wichtiger wird das " D r i n n e n " . 2 5 5 So kommt es zur reaktiven Aufwertung der Privatsphäre und der Persönlichkeit. Der Privatraum wird "zum überlasteten Ausgangspunkt der Interpretation alles anderen, von Person, Geschichte und G e s e l l s c h a f t " . 2 5 6 D e r Einzelne steht vor der Aufgabe, nicht nur die Splitter seiner eigenen Patchwork-Biographie zu einem Konstrukt persönlicher Identität zu verbinden, er hat auch die Versatzstücke seines Verstehens und die Flicken seiner kulturellen Einbindung zu integrieren und dies alles unter dem Druck unmittelbarer Evidenz, also ohne dabei auf die Fundamente der Tradition bauen zu können. Unter dem Druck dieser Aufgaben kommt es keineswegs notwendigerweise, aber unter Angehörigen mittlerer Altersklassen mit gehobener geisteswissenschaftlicher Bildung und Mittelschichthabitus in einem auffällig hohen Ausmaß, zum Rückzug in die eigene Lebenswelt. Die Lebenswelt wird " p s y c h o m o r p h " .257 Was draußen fehlt, wird nun in verstärktem Maße drinnen g e s u c h t . 2 5 8 Die Privatsphäre soll das hohe Maß an Sicherheit, Geborgenheit und Dauerhaftigkeit gewähren, das die Außenwelt nicht mehr zu geben vermag. 254 U.Beck: Risikogesellschaft, S.156 255 Das gilt besonders für Angehörige mittlerer und unterer Gesellschaftsschichten, die im Außenbereich der Gesellschaft tatsächlich relativ wenig Gestaltungs- und Veränderungsmöglichkeiten haben. 256 A.Weymann: Handlungsspielräume, S.5 257 R.Sennett: Verfall, S.293. Zur innenorientierten Semantik G.Schulze: Erlebnisgesellschaft, S.249-258 258 "Wie nie zuvor befassen sich die Leute heute mit ihrer individuellen Lebensgeschichte und ihren besonderen Emotionen". - R,Sennett: Verfall, S.17

3.6 Sprungbiographie

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Da das Zusammenleben von Menschen grundsätzlich immer konfliktträchtig ist, ist ein weiterer Rückzug erforderlich, der Rückzug auf das Selbst. "Die Konsequenz ist, daß die Menschen immer nachdrücklicher in das Labyrinth der Selbstverunsicherung, Selbstbefragung und Selbstvergewisserung hineingeraten. Der (unendliche) Regreß der Fragen: 'Bin ich glücklich?', 'bin ich wirklich selbsterfüllt?', 'Wer ist das eigentlich, der hier 'ich' sagt und fragt?', führt in immer neue Antwort-Moden, die in vielfältiger Weise in Märkte für Experten, Industrien und Religionsbewegungen umgemünzt werden. In der Suche nach Selbsterfüllung reisen die Menschen nach Tourismuskatalog in alle Winkel der Erde. Sie zerbrechen die besten Ehen und gehen in rascher Folge immer neue Bindungen ein. Sie lassen sich umschulen. Sie fasten. Sie joggen. Sie wechseln von einer Therapiegruppe zur anderen. Besessen von dem Ziel der Selbstverwirklichung reißen sie sich selbst aus der Erde heraus, um nachzusehen, ob ihre Wurzeln wirklich gesund sind".259 Der Rückzug auf das Selbst kann in dem Maß zur Falle werden, wie die Erfahrung sich einstellt, daß totale Autonomiebestrebungen ständige Begleiter haben: Einsamkeit und Depression. Das erklärt, weshalb ein Leben als "Single" von den Betroffenen selbst selten als so attraktiv und befriedigend empfunden wird, wie es auf die außenstehenden, in Partnerschaften eingebundenen Zeitgenossen wirkt. Der religiöse Wunsch nach der Rückkehr in die verlorene Ganzheitlichkeit und Authentizität geht nicht selten mit einem hohen Bedarf an verläßlicher und zuverlässiger, aber nicht aufdringlicher Lebensbegleitung einher. Es ist durchaus vorstellbar, daß die Kirchen hier Anknüpfungspunkte finden könnten. Zur Zeit wird man allerdings eher "Fehlanzeige" feststellen. Die Landeskirchen verfügen weder über die personellen noch über die konzeptionellen Voraussetzungen, um hier erfolgreich Fuß fassen zu können. Das ist insofern bedauerlich, als sie mit ihrer seelsorgerlichen Kompetenz, gemessen an der bisweilen haarsträubenden, aber umsatzstarken Scharlatanerie im Psycho- und Selbsterfahrungssektor260 allemal konkurrenzfähig wären. Allerdings hätten sich die Landeskirchen zunächst einmal das Vertrauen in ihre Kompetenz zu erwerben. Es wird ihnen heute nicht mehr vorab zugesprochen. )

5. Andere Lebensphasen und Lebenslagen - Die Alten: Neben den Singles soll noch kurz auf die Gruppe der Alten eingegangen werden. Diese Gruppe hat sich in den letzten Jahrzehnten in mindestens zwei Gruppen geteilt, die "mobilen Alten" und die nicht mehr mobilen Alten. In beiden Lebensphasen zeigen sich deutlich Unterschiede hinsichtlich Religiosität und Kirchlichkeit. Unter den über 70-jährigen lag der Glaube an Gott, "der sich in Jesus Christus zu erkennen gegeben hat" 1992 mit 68% noch einmal deutlich höher als in der Gruppe der 60 bis 69-jährigen (58%). 2 6 1 Unklar ist hier allerdings, ob der Altersfaktor selbst noch einmal zu einer weiteren Verstärkung der Religiosität führt oder ob die Menschen immer schon so "fromm" waren, wie sie im Alter 259 U.Beck: Risikogesellschaft, S.1S6; vgl. A. Weymann: Handlungsspielräume, S.S 260 G.Boysen: Im Sog der Psychoszene. Erfahrungen und Kommentare, Stuttgart 1988 261 Fremde Heimat, S. 14

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VI. Die Religiosität der Kirchenmitglieder

eben sind. Deutlich unterscheiden sich beide Gruppen auch in ihrer Nähe zur Ortskirchengemeinde. Auch hier liegen keine exakten Umfragedaten vor. Aber man kann im Pfarrdienst gut beobachten, daß die "mobilen Alten" tendenziell dazu neigen, ihre neue Freiheit im Alter zu genießen und die Bindung an die Ortskirchengemeinde nicht von sich aus zu suchen. Allerdings haben sie über Sterbefälle im Familien-, Freundes- oder Bekanntenkreis doch immer wieder Kontakt mit der Kirche und ihrer Verkündigung. Sie sind sich der Tatsache durchaus bewußt, daß sie im Vorfeld der Frage nach den letzten Dingen leben. Anders ist es im fortgeschrittenen Alter. Diese Altergruppe stellt neben den Ehewilligen den höchsten Anteil derer, die wieder in die Kirche aufgenommen werden möchten. Inwiefern hier auch genuin religiöse Erwägungen eine Rolle spielen ist unklar. Unbestreitbar aber verspricht die Kirchenmitgliedschaft im höheren Alter Vorzüge nicht nur im Hinblick auf eine kirchliche Beerdigung, sondern auch im Hinblick auf die diakonischen Unterstützungsangebote und die Gesprächs- und Geselligkeitsmöglichkeiten in den Kirchengemeinden. Ihr Alter stellt die häufig allein lebenden Frauen vor Probleme, die in der Gemeinschaft von Mitbetroffenen leichter zu tragen sind. Diese Gemeinschaft wird in der Kirchengemeinde gesucht und gefunden. Der kurze Überblick hat den Blick für die Tatsache schärfen können, daß sich die einzelnen Lebensphasen und Lebenslagen in unterschiedlicher Weise auf die Einstellung zu Religion, Kirche und Kirchengemeinde(arbeit) auswirken. Es gibt Phasen von potentiell größerer Nähe und solche, in denen sich das Leben eher kirchenferner, aber keineswegs unbedingt areligiös abspielt. Es scheint sogar mit der Phase der Elternschaft eine Zeit zu geben, die die Kirchennähe fördert, ohne deshalb unbedingt auch das Religiositätsniveau anzuheben. c) Frauen in der Kirchengemeinde - Kirchlichkeit als "Ornament der Arbeitsbiographie" Der negative Zusammenhang von Vollzeiterwerbtätigkeit und Kirchennähe schärft den Blick für die Bedingungen, unter denen Kirchlichkeit zu regelmäßiger Teilnahme und aktiver Mitarbeit im Gemeindeleben wird. Um im Gemeindeleben mitarbeiten zu können, muß man Zeit mitbringen, und man muß in irgendeiner Weise auch selbst etwas "davon haben". Das macht in sehr einfacher Weise verständlich, warum es Frauen sind, die den weit überwiegenden Anteil derer stellen, die sich im Gemeindeleben in irgendeiner Weise engagieren. Der statistische Befund ist ja längst bekannt: Frauen zeigen ein höheres Maß an Kirchlichkeit als Männer. Frauen sehen sich selbst als stärker verbunden an. Frauen nehmen häufiger am gottesdienstlichen Leben und an Gemeindeveranstaltungen teil. Sie hören häufiger kirchliche Rundfunksendungen, beteiligen sich stärker in der kirchlichen Jugendarbeit, stellen den weit überwiegenden Teil der ehrenamtlichen Mitarbeiterschaft und weisen den Gedanken an Kir-

3.6 Sprungbiographie

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chenaustritt weit häufiger von sich als M ä n n e r . 2 6 2 jjier nun wäre ein Ansatz gefunden, um zu erklären, daß auch dieses Phänomen sich zumindest teilweise auf die Lebensumstände des Menschen in der ausdifferenzierten Gesellshaft zurückfuhren läßt: "Hausfrauen sowie Frauen und Männer im Rentenalter als die nicht (mehr) Erwerbstätigen finden in der Kirchefngemeinde] anscheinend ein 'Angebot', das den eigenen, aus häuslicher Isolation und weitgehender Trennung von anderen Lebensbereichen erwachsenen Bedürfnissen, aber auch den damit verbundenen Teilnahmemöglichkeiten am besten entspricht: ihnen bietet die Kirche[ngemeinde] Kontakte, Kommunikationsmöglichkeiten, einen - begrenzten - Anteil am öffentlichen Leben, im Alter auch Hilfe zur Bewältigung nun mehr verstärkt auftretender existentieller F r a g e n " . 2 6 3 Peter Alheit hat diese These noch allgemeiner formuliert. Er spricht davon, daß sich unter der Dominanz der Arbeitswelt Lebensläufe geformt haben, in denen die Kirchlichkeit264 n u r n o c h als ein "Ornament der Arbeitsbiographie"265 vorkommt. "Dafür spricht nicht allein die traditionell hohe Distanz der Industriearbeiter zur Kirche. Indiz ist vor allem die Konzentration religiöskirchlicher Aktivitäten in Gruppen, die von der Erwerbsarbeit weiter entfernt sind: bei Kindern und Jugendlichen, bei Frauen und bei Alten ... Religiöses Engagement in der Kirche ist also nicht nur sozialstrukturell ungleich verteilt. Religiosität [besser: Kirchlichkeit] ist gleichsam ein 'Luxus' der (Noch-) Nichterwerbstätigen. Oder funktionalistischer betrachtet: Religion [besser: Kirchlichkeit] vermag nur an den 'Weichstellen' der gesellschaftlichen Durchschnittsbiographie überhaupt in den Lebenslauf 'einzudringen' - während der Kindheit und Jugend [, bei Teilerwerbstätigen, Hausfrauen] und im A l t e r " . 2 6 6 Aus dieser Perspektive heraus betrachtet, steht auch die Teilnahme am Gemeindeleben unter dem Aspekt einer unmittelbaren persönlichen Relevanz: "Ein beträchtlicher Teil religiöser 'Aktivisten' bevorzugt den Rahmen der institutionalisierten Religion nicht, weil es immer so üblich war, sondern weil es gute persönliche Gründe dafür gibt. Er befriedigt damit ein spezifisches Aktivitäts- und Kommunikationsbedürfnis: mit anderen zu singen und zu musizieren, für den Frieden zu arbeiten und gegen den Hunger in der Welt, Gymnastik zu treiben oder Kaffee zu trinken. Religion [besser: Kirchengemeinde] ist in diesem Kontext ein 'Kommunikationsmilieu' wie der Turnverein oder der Tennisclub. Und 262 263 264 265

Ausführliche Kommentierung der Umfragedaten bei I.Lukatis: Frauen, S.l 19-125 I.Lukatis: Frauen, S.l44 Irritierenderweise spricht er von "Religion" statt von "Kirchlichkeit". P.Alheit: Religion, Kirche und Lebenslauf - Überlegungen zur 'Biographisierung' des Religiösen, in: ThPr 21/1986, S.l40 266 P.Alheit: Religion, S.l40

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VI. Die Religiosität der Kirchenmitglieder

wie bei jenen ist nicht mehr zwangsläufig der Familienzyklus das 'Einfallstor', sondern Entwicklungen auf lebenszyklischem Niveau" .267 Diese lebensnahe und für manch einen Theologen vielleicht desillusionierende Einsicht in die konstituierenden Bedingungen des "Gemeindelebens" ist allerdings nicht Alheits letztes Wort zur Kirchlichkeit unserer Zeitgenossen. Ebenso wie Emil Sülze oder Friedrich N i e b e r g a l l 2 6 8 ¡ s j a u c h Alheit der Meinung, daß man auch über der regelmäßigen Teilnahme am kirchlichen Vereinsleben an den christlichen Glauben herangeführt werden kann. "In unseren biographischen Materialien gibt es eine Reihe von Beispielen dafür, daß bewußte religiöse Aktivität erst während des Erwachsenenalters aufgenommen wird: angeregt durch einen Posaunenchor, durch den fortschrittlichen Kindergarten oder die aktive Friedensarbeit einer Kirchengemeinde".269 Es muß nicht alles Freizeitgestaltung bleiben, was als Freizeitgestaltung begonnen hat. Über die quantitativen Größenordnungen, um die es dann geht, sollte man sich zwar nicht täuschen. Aber es besteht auch kein Anlaß zur Resignation. Die fundamentale Einstellung gegenüber Religion und Kirche ist wohl von den Eltern abhängig, allenfalls noch von Verwandten und Freunden. Aber immerhin gaben in der dritten EKD-Umfrage auch 23% der Befragten Pfarrer/innen, 17% der Befragten Lehrer/innen und 4% der Befragten Jugendgruppenleiter/innen als Personen an, die ihre Einstellung zu Glauben und Kirche maßgeblich mitgeprägt h ä t t e n . 2 7 0 Es wird sich dabei auch um Prägungen im positiven Sinne handeln. In diesem Zusammenhang ist auch daran zu erinnern, daß menschliche Nähe verkrustete Einstellungen aufzuhellen vermag. Die positive Bewertung, die die Pfarrer/innen in den EKD-Umfragen in einer erstaunlich großen Breite immer wieder erfahren haben, ist zu einem hohen Prozentsatz auf den unmittelbaren persönlichen Kontakt zurückzuführen, der sich aus den Hausbesuchen anläßlich von Amtshandlungen und Seelsorge ergibt. In der persönlichen Begegnung wächst und verändert sich auch die Einstellung zur Kirche und zur Kirchengemeinde.

3.7 Milieugesellschaft a) Mikromilieus Unter dem Druck der ausdifferenzierten Gesellschaft hat seit den späten 50er Jahren eine Aufspaltung der dreistufigen Schichtenstruktur der Gesellschaft ein 267 P.Alheit: Religion, S.141 268 So schon nachzulesen bei F.Niebergall: Theologie I, S.275 269 P.Alheit: Religion, S.141. Zur Biographieforschung, die hier nicht referiert wurde, weil ihre Ergebnisse schlecht quantifizierbar sind vgl. A.Grözinger / A.Luther (Hg.): Religion und Biographie. FS G.Otto zum 60.Geb., München 1987; F.Schweizer: Lebensgeschichte als Thema von Religionspädagogik und Praktischer Theologie, in: PTh 83/1994, S.402-414 270 Fremde Heimat, S.43

3.7 Milieugesellschaft

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gesetzt. Nachdem die alten Formen der Beheimatung in verbindlichen und verbindenden Gewohnheiten, Sitten, Traditionen, Familienverbänden, Regionen usw. mehr oder weniger aufgegeben wurden, hat die ausdifferenzierte Gesellschaft neue Formen der Ersatzbeheimatung hervorgebracht: Cliquen, Szenen und " M i k r o m i l i e u s " . 2 7 1 Gerhard Schulze hat in seinem Buch "Die Erlebnisgesellschaft" den Prozeß der Milieubildung als einen Prozeß der aktiven "Beziehungswahl" beschrieben.272 Die Menschen "tendieren dazu, ihre sozialen Netzwerke primär nach dem Gesichtspunkt ähnlicher Erlebnisdisposition aufzubauen".273 si e reagieren auf "milieuinduzierende Zeichen"274 w ¡ e e t w a "Sprachcodes, Umgangsformen, Kleidung, Besitzgegenstände, alltagsästhetische Stile, körperliche Merkmale, territoriales Verhalten und vieles mehr".275 Beziehungswahl erfolgt hochselektiv. Was nicht interessiert, wird ignoriert. "Die Brüderlichkeit hat sich grundlegend gewandelt; sie erscheint heute als Bereitschaft, mit einer ausgewählten Gruppe umzugehen, und ist verbunden mit Zurückweisung all derer, die nicht dem lokalen Zirkel angehören" .276 Gesucht wird die stabilisierende Geborgenheit, die gemeinsame Ansichten und Interessen zu geben vermögen. Beziehungswahl und Mikromilieubildung stellen ein bedeutsames Gegengewicht zur Individualisierung dar.277 Aber Mikromilieus, die unter dem Gesichtspunkt der freiwilligen und subjektiv bejahten Beziehungswahl zustande kommen, besitzen ein Doppelgesicht: Einerseits üben die milieuinduzierenden Zeichen einen starken Anpassungsdruck auf die Gruppenmitglieder aus. Nur wer den Zeichenvorgaben entspricht, gehört dazu. Andererseits aber sind die Mikromilieus fragile und in sich wandlungsfähige Gebilde. Sie leben nur so lange, wie sie durch Wahlhandlungen hervorgebracht und am Leben erhalten werden. Ändern sich die Lebenslagen der Mitglieder, zerfallen sie, leben in anderer Besetzung weiter, verändern ihr Anforderungsprofil usw.

b) Makromilieus Soziologie und Politikwissenschaft haben unter Aufnahme von Ergebnissen der Lebensstilforschung und der Kohortenforschung seit dem Ende der 70er Jahre 271 S.Hradil: Sozialstrukturanalyse in einer fortgeschrittenen Gesellschaft, Opladen 1987, S.167 272 G.Schulze: Die Erlebnisgesellschaft. Kultursoziologie der Gegenwart, Frankfurt/M. 1993, S.175 273 G.Schulze: Erlebnisgesellschaft, S.183 274 R.Hodge / G.Kress: Social Semiotics, Oxford 1988 275 G.Schulze: Erlebnisgesellschaft, S.178 276 R.Sennett: Verfall, S.319 277 Die Behauptung, daß der "Weg in den Individualismus unumkehrbar" ist (H.Lindner: Kirche, S.340 vgl. "Person und Institution"), ist in dieser einseitigen Form nicht richtig. Die Milieubildung ist ein Korrektiv zur Individualisierung. Vgl. auch N.Luhmann: Gesellschaft, S.149: "Fortschreitende Differenzierung findet ihre Grenze und ihr Korrektiv ... nicht nur in der Form zentraler Einrichtungen (Symbole, Sprache, Rollen, Entscheidungsprozesse), die als gemeinsam erlebt werden und das Gemeinsame gewährleisten, sondern auch darin, daß alle Einzelsysteme ihrer Struktur nach eine schon geordnete Umwelt voraussetzen müssen, sich also gar nicht zu weit entfernen können, ohne ihre eigene selektive Identität zu verlieren."

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VI. Die Religiosität der Kirchenmitglieder

verstärkt nach Großmilieus gesucht, die oberhalb der kleinzelligen Mikromilieus angesiedelt sind.278 Unter Milieuforschern herrscht eine grundsätzliche Übereinstimmung in der Ansicht, daß "mit dem Zusammenbruch der homogenen sozio-kulturellen Milieus ... das Zeitalter der Weltanschauungen und der Großideologien zu Ende" gegangen ist.279 Die soziale Schichtung der Gesellschaft ist aufgesplittert, die Lebenstile haben sich pluralisiert, auch wenn sich die Spuren der ursprünglichen Schichtenstruktur zumindest in einzelnen Milieus noch sehr deutlich erkennen lassen. Ehe die Milieus selbst dargestellt werden, sollen zum besseren Verständnis einige Aspekte der Milieutheorie geklärt werden: 1. Das Problem der empirischen Abgrenzung von sozialen Milieus: Da beim Milieubegriff, anders als beim Begriff der "sozialen Lage", nicht allein objektiv meßbare Kriterien, wie Alter, Schicht, Bildung, Einkommen, Stellung im Beruf, Generationsmerkmale usw.280 e i n e R0He spielen, sondern der Aspekt der subjektiven Milieuwahl und damit auch subjektive Mentalitäten, Einstellungen und Selbstpositionierungen zu berücksichtigen sind, ist die Konstruktion von Milieutheorien ein sowohl empirisch wie auch theoretisch schwieriges Unterfangen. Schon die Auswahl der Kriterien, die der Unterscheidung der einzelnen Milieus dienen sollen, stellt Weichen für die späteren Ergebnisse. Hinzu kommen die Probleme der Interpretation von überaus komplexen Datenmengen, wie sie für Milieustudien erforderlich sind. Hermeneutische Zuweisungen und Gewichtungen sind vorzunehmen, Trennstriche sind einzuzeichnen, die es im Leben der Menschen oder in ihren Mentalitäten in dieser Form überhaupt nicht gibt. Jedes Makromilieumodell ist daher notwendigerweise ein "hypothetisches K o n s t r u k t " . 2 8 1 Das erklärt, warum zwischen den bisher publizierten Milieua n a l y s e n 2 8 2 teilweise erhebliche Unterschiede bestehen. 2. Milieu und Generation: Die Milieuforschung relativiert das oben gezeichnete Bild vom Individualisierungsschub, den die ausdifferenzierte Gesellschaft hervorbringt, in einem erheblichen Umfang. Sie hat herausgearbeitet, daß der 278 Zur Geschichte des sehr viel älteren Begriffs vgl. M.Vester u.a.: Soziale Milieus im gesellschaftlichen Strukturwandel, Köln 1993, S.125-134; S.Hradil: Sozialstrukturanalyse, S.168f 279 F.-X.Kaufinann: Religion, S.225. "So lösen sich z.B. die Strukturen kollektiven Arbeiterbewußtseins, die spezifische Angestelltenmentalität, die Wert- und Verhaltensunterschiede zwischen sozialen Schichten immer mehr auf." - S.Hradil: Sozialstrukturanalyse, S.166 280 S.Hradil: Sozialstrukturanalyse, S.158 281 S.Hradil: Sozialstrukturanalyse, S.169 282 Die SINUS-Milieus sind aus einer Kombination von drei Mentalitätsformen (modern - traditionell - Mischform) und drei Formen des Distinktionsverhaltens (Lebenslage / Klassenhabitus der Unterschicht, Mittelschicht, Oberschicht) entstanden. M.Vester u.a. haben diese Milieus in einem Sozialraum nach Bourdieu lokalisiert (Milieus, S.21-28). Hradil kombiniert allgemein akzeptierte Lebensziele mit Sozialstrukturmerkmalen (Lebenslagen) und unterscheidet sieben Milieus (Sozialstrukturanalyse, S.169). P.Gluchowski: Lebenstile und Wandel der Wählerschaft in der Bundesrepublik Deutschland, in: Politik und Zeitgeschichte, B12 1987, S. 18-32 kombiniert vier gesellschaftliche Schichten mit drei unterschiedlichen Bedürfnissen (Pflicht und Akzeptanz - überwiegende und reine Entfaltungsbedürfnisse) und erhält neun Milieus.

3.7 Milieugesellschaft

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Druck zum Wandel der Lebensverhältnisse, des Weltbildes und des persönlichen Selbstverständnisses nicht alle Menschen in der Gesellschaft in gleicher Weise erreicht. Auch hier gilt das Prinzip der Ungleichzeitigkeit der Gleichzeitigen. "Dieser Wandel ist wesentlich ein Produkt der jüngeren Generation, der besseren Ausbildung und des höheren Einkommens, während die älteren, ärmeren und weniger gut ausgebildeten Teile der Bevölkerung deutlich an das Wertsystem der fünfziger Jahre gebunden b l e i b e n " . 2 8 3 Aus dieser Einsicht heraus läßt sich prognostizieren, daß auch in Zukunft neue Milieus entstehen werden. Das Milieumodell, das im folgenden vorgestellt werden wird, ist von daher lediglich als Momentaufnahme aus der zweiten Hälfte der 80er Jahre (vor der Wiedervereinigung!) anzusehen. 3. Milieu und Religion: Für die Frage nach den Entwicklungsbedingungen der Religiosität in der ausdifferenzierten Gesellschaft ist die Milieutheorie von erheblicher Bedeutung. Obwohl bis heute keine umfassenden und detaillierten Studien zur Religionsverteilung in den einzelnen Milieus vorliegen, läßt das wenige, was vorhanden ist, bereits eindeutig erkennen, daß sich in den einzelnen Milieus die Formen der Religiosität und des kirchlichem Mitgliedschaftsverhaltens unterschiedlich verteilen. c) Das Milieumodell von Gerhard Schulze: fünf soziale Milieus Im folgenden wird Gerhard Schulzes Milieuskizze ausführlicher dargestellt. Schulze unterscheidet lediglich fünf verschiedene Milieus, drei traditionellere und zwei jüngere Milieus, in einem Koordinatensystem der Faktoren Alter und Ausbildungsabschluß (als Indikator für "persönlichen Stil"). Er behauptet, daß "Lebensalter und Bildungsgrad diejenigen Merkmale [sind], mit denen sich die trennschärfsten Grenzlinien zwischen Erlebnismilieus in der BRD zeichnen lass e n " . 2 8 4 Er hat eine Trennlienie um das 40. Lebensjahr herum gezogen und mit dieser Linie die "jüngeren Milieus" (unter 40 Jahre) von den "älteren Milieus" (über 40 Jahre) a b g e t r e n n t . 2 8 5 j n der Kategorie Bildung ordnet er Ausbildungsabschlüsse ab Fachabitur und Abitur der gehobenen Bildung, ab mittlerer Reife der mittleren Bildung und unterhalb der mittleren Reife einer niedrigen Bildung zu. Aus der Kombination von drei Bildungsgraden und zwei Altersklassen ergeben sich die fünf Schulze-Milieus. Die fünf Milieubeschreibungen, die Schulze vorgelegt hat, werden im folgenden nicht paraphrasiert, sondern sehr ausführlich zitiert werden. Dieses ungewöhnliche Verfahren habe ich gewählt, weil es Schulze mit stilsicheren Be283 U.Beck: Risikogesellschaft, S. 156 284 G.Schulze: Erlebnisgesellschaft, S.188 285 Es ist zu beachten, daß Schulze selbst nicht der Meinung ist, mit der Zahl 40 ließe sich eine starre Milieugrenze fixieren. Er möchte vielmehr einen Grenzbereich angeben, einen relativen Wert, der unter Schwankungen nach beiden Richtungen hin gegen Ende der 80er Jahre bedeutsam war. Dies verdeutlicht er auch mit einem "unscharfen" Milieumodell. - Vgl. G.Schulze: Erlebnisgesellschaft, S.213-217 und 382-386

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VI. Die Religiosität der Kirchenmitglieder

Schreibungen gelingt, die an sich abstrakten und hochkomplexen Milieubilder anschaulich zu machen. Er läßt mit seinen Formulierungen überzeugend deutlich werden, wie in den einzelnen Milieus scheinbare Äußerlichkeiten, ja selbst körperliche Merkmale mit Stilempfindungen und Geschmacksfragen, mit typischen Verhaltensweisen und schließlich sogar mit inneren Werten, Einstellungen und Grundüberzeugungen verknüpft sind. Schulzes Schilderungen regen zu zahlreichen Assoziationen an. Wer in seiner Kirchengemeinde regelmäßig Hausbesuche macht oder gemacht hat, wird manche Beobachtung und manche Zuordnung als überaus erhellend und inspirierend erleben. Auch sind Schulzes Beschreibungen, was in diesem Bereich eher selten vorkommt, mit großem Genuß zu lesen. Aus allen diesen Gründen erschien es sinnvoll, Schulzes Milieubeschreibungen ausführlich zu zitieren. Es wird sich zeigen, daß die Einsicht in die Milieustruktur der Gesellschaft geeignet ist, der Diskussion über die Formen evangelischer Gemeindearbeit neue Anstöße zu geben. 1. Niveaumilieu (über 40 Jahre, höhere Bildung): "Der Stiltypus dieses Milieus ist ganz auf das Hochkulturschema ausgerichtet. Man liest überregionale Tageszeitungen, Zeit und Spiegel, Belletristik. Musikalisch dominiert die klassische Musik ... Fast alle beteiligen sich an der Hochkulturszene, gehen ins Konzert, ins Theater, ins Museum, in die Oper, in Ausstellungen, Dichterlesungen und ähnliches. Auch die Fernsehpräferenzen haben einen hochkulturellen Einschlag ... Zu anderen alltagsästhetischen Schemata geht das Milieu auf Distanz. Trivialmusik etwa, Goldenes Blatt, Heimatromane, Volkstheater und andere Zeichen des Trivialschemas sind verpönt, ebenso der Kosmos des Spannungsschemas: Pop-, Folk-, Rockmusik, Actionfilme. Schwer vorstellbar: ein Gymnasialdirektor als Teilnehmer am Trachtenumzug (Trivialschema) oder in der Diskothek (Spannungsschema) ... um das Milieu zu besichtigen, muß man nur während der Konzertpause ins Foyer gehen ... prototypische Figuren des Berufslebens: der ältere Lehrer, der Professor, der Rechtsanwalt ... bevorzugen teure Restaurants mit gehobener Atmosphäre ... Das Äußere ist gepflegt, die Sprache gehoben, die Umgansgformen sind gut. Der Bekleidungsstil ist eher konservativ; man legt Wert auf Qualität, oft auch Eleganz, die jedoch dezent bleibt ... Verbannt sind "Geschmacklosigkeiten", Wegwerfmöbel, avantgardistische Elemente. In der Gesamtkomposition des Interieurs präsentieren sich altbekannte Varianten gehobener Bürgerlichkeit; man meint beim ersten Besuch, schon einmal dagewesen zu sein, das Ensemble von Vitrine mit kostbarem Porzellan, Ölgemälden, lederner Sitzgarnitur, Perserteppichen schon zu kennen. Es entsteht das Gefühl, leise sein zu müssen ... [Existenzielle Anschauungsweise:] Das Weltbild des Niveaumilieus ist von oben nach unten geordnet; als primäre Perspektive dominiert die

3.7 Milieugesellschaft

Dimension der Hierarchie ... Normale existentielle Problemdefinition in dieser Welt der hierarchischen Ordnungen ist das Streben nach Rang. Im gegebenen System der Ränge ... sucht der einzelne nach einer gehobenen Position. Alle Bedeutungsebenen der alltagsästhetischen Praxis des Hochkulturschemas sind auf dieses Niveaustreben ausgerichtet. Kontemplation ist das Genußschema konzentrierter Hingabe an das Höhere; antibarbarische Distinktion meint die Abgrenzung von den Niedrigeren; die Lebensphilosophie der Perfektion enthält die Botschaft, daß in jedem legitimen Rangsystem der höchste Rang der beste ist ... Zum Nachfolgemilieu des Bildungsbürgertums wird das Niveaumilieu durch den antibarbarischen Typus der Distinktion, der an dem kenntlich wird, was man nicht sein möchte: stillos, unkultiviert, ohne Selbstkontrolle, inkompetent... In keinem anderen Milieu ist die Aufgeschlossenheit gegenüber dem öffentlichen Bereich ... so groß wie im Niveaumilieu. Dem entspricht der verhältnismäßig hohe Anteil an Parteimitgliedern, dabei tendieren die Präferenzen mehr ins konservativ-bürgerliche L a g e r " . 2 8 6 2. Integrationsmilieu (über 40 Jahre, mittlere Bildung): "Das Besondere an diesem Milieu ist seine Durchschnittlichkeit. Alle anderen Milieus haben ihre charakteristischen Extreme ... Kennzeichnend für das Integrationsmilieu ist seine gediegene Mittellage. Das Eigenheim ist gepflegt, bleibt aber innerhalb der architektonischen Norm, die Kleidung maßvoll modisch, aber nicht außergewöhnlich, das Auto komfortabel in bestem Zustand, aber unauffällig ... Ein Angehöriger des Integrationsmilieus experimentiert nicht mit gewagten Inneneinrichtungen, hält sich eher einen Foxterrier als einen afghanischen Hirtenhund, tritt nicht aus der Kirche aus, ist ein guter Nachbar, trifft sich im Verein, hält seinen Garten in Ordnung und vermeidet öffentliches Aufsehen, ohne sich zu verstecken. Er versucht nicht, mehr zu scheinen als zu sein, und unterscheidet sich dadurch vom klassischen Kleinbürger, der immer gerne größer gewesen wäre. Man kauft sich keinen Porsche, selbst wenn man ihn sich leisten könnte ... Es dominieren die Angestellten und Beamten der unteren und mittleren Ebene. Das Milieu besetzt weder besonders einflußreiche und verantwortungsvolle Positionen, noch macht es sich mit niedrigen Arbeiten die Hände schmutzig ... Solange Hochkultur im Rahmen bleibt geht man durchaus mal ins Theater, in die Oper, ins Konzert. Mozart, Beethoven, Schumann ja, Schönberg, Stockhausen, Henze nein. ... [Existentielle Anschauungsweise:] ... ein Streben nach Konformität. Das sozial Erwünschte ist auch das subjektiv Erwünschte. Konventio286 G.Schulze: Erlebnisgesellschaft, S.283-290

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VI. Die Religiosität der Kirchenmitglieder

nen werden nicht als Einschränkungen empfunden, sondern als Möglichkeit, sich auszuleben. Indem man das Erwartete und allgemein Gebilligte tut, erlebt man Zugehörigkeit zur Gemeinschaft. Während sich das Niveaumilieu an Maßstäben orientiert, die Rangordnung definieren und damit Risiken des Versagens, ist die Glücksstrategie des Integrationsmilieus einfacher. Normal zu sein, ist ein erreichbares Ziel ... Es zählt zu den Besonderheiten der mittleren Position, daß man etwas zu verlieren hat, sich gegen drohenden Verlust jedoch nicht durch Machtmittel, sondern nur duch Konformität gegenüber den Mächtigen schützen kann. Der brave Mann ist kein großer Mann ... Nur die Erwartung der Arbeitsmoral ist geblieben, zeitlich beschränkt auf die Arbeitszeit, sozial unbeschränkt in der Extension über verschiedene Milieus. Im übrigen ist es dem einzelnen in historisch einmaligem Maße freigestellt, so zu leben, wie er möchte ... In dieser Situation ist man nicht mehr konform, weil man muß, sondern weil man will. Das Integrationsmilieu bleibt das Projekt der Wiedergewinnung von Konformität aus Lust an der Anpassung ... Erlebnisparadigma ist die "nette Runde" ... Die nette Runde vermittelt das Gefühl des Dazugehörens, dessen wechselseitige Versicherung das eigentliche Thema der Unterhaltung ist. Es dominiert die Bestätigung: "Ja", "das geht mir genauso", "aha", "interessant", "das finde ich gut", "ich auch" usw. Witze und heitere Zwischenbemerkungen führen zu kollektiven Parallelisierungen in Form von Gelächter. Der Topos von der netten Runde ist einem gemeinsamen Haus vergleichbar, zu dem jeder ein wenig beiträgt, um Wohnrecht zu erhalten; Freundlichkeiten sorgen für ein angenehmes Raumklima ... Wichtigster Lebensbereich ist das Heim und die darum gezogenen konzentrischen Kreise - Haus, Garten, Küche, Nachbarschaftskontakte, angenehme Wohnumgebung, bei vielen auch kirchliches Leben und lokale Vereine. Dieser Orientierung entspricht eine eher mißtrauische Haltung gegenüber Fremden und eine abwehrende Haltung gegenüber Neuartigem ... Daß die Dinge so bleiben können, wie sie sind, drückt sich in einer relativ hohen Zufriedenheit mit dem Leben im allgemeinen, der Wohnsituation und den materiellen Umständen im besonderen aus". 2 8 7 3. Harmoniemilieu (über 40 Jahre, niedrige Schulbildung): "Prototypen des Milieus sind die zur Miete wohnende Angestelltenwitwe, der ältere Arbeiter, das Rentnerehepaar, die Hausfrau im Billigmarkt mit ihrer Einkaufstasche auf Rädern ... man trifft das Milieu, wo das Billige und nicht allzu Modische zu haben ist, im Schuhdiscount, bei C&A, in der Großwohnanlage auf Mallorca. Anbieter von 287 G.Schulze: Erlebnisgesellschaft, S.301-310

3.7 Milieugesellschaft

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Kaffeefahrten und dazugehörigen Konsumartikeln rekrutieren ihr Publikum fast ausschließlich aus diesem Milieu. Körperlich unterscheidet sich das Milieu deutlich von den anderen Milieus durch seine Langsamkeit, Behäbigkeit, Ungelenkigkeit... Es dominiert die einfache Sprache, der Dialekt ... Auffälligstes Merkmal der Inneneinrichtung ist eine Tendenz zur Besetzung des Raumes mit Objekten. Das Prinzip "viel ist schön" führt oft zu Überlagerungen mehrerer ästhetischer Materialschichten. Über dem dicken gemusterten Teppich liegt ein anders gemusterter Zierteppich, darauf ein Spitzendeckchen, auf dem ein verschnörkeltes Glastischchen steht ... Brokatdeckchen ... silberne Untersetzer, dann eine Schicht Schnapsgläser, geschart um eine Kristallvase. Die darin stehenden Papierblumen füllen den Luftraum über dem Tischchen ... Blasmusik, deutsche Schlager, Heimatfilm, Fernsehquiz, Naturfilme ... goldenes Blatt, Neue Post, Frau im Spiegel, Bildzeitung ... richtet sich das Interesse auf lebenspraktisch verwertbare Informationen: Kleinanzeigen, Sonderangebote, Werbung, Lokalnachrichten. Beim Radiohören und beim Fernsehen tendiert das Milieu mehr als andere zu Themen, die sich mit der Region beschäftigen ... Unübersehbar ist eine milieuspezifische Tendenz zum Rückzug in die Privatsphäre und zur Inaktivität ... Kein Milieu tritt öffentlich weniger in Erscheinung ... Man bleibt, wo man sich am sichersten fühlt: zu Hause .... Auch wenn sich die Angehörigen des Milieus durch die Öffentlichkeit bewegen, in der Fußgängerzohne, in Kaufhäusern, Linienbussen bleiben sie eher unauffällig. Als gelte es, sich zu tarnen, ist die Farbpalette der Kleidung überwiegend auf zurückhaltende Töne beschränkt - grau, beige, oliv, dunkelblau ... Mit einem Outfit der Undeutlichkeit macht sich das Milieu systematisch zum Hintergrund ... Angst vor dem Unbekannten, vor nicht durch Regeln abgesicherten Situationen, vor Drahtseilakten der Bewältigung des Ungewohnten. 'Unberechenbare Situationen machen mich meistens ziemlich nervös' ... 'Es ärgert mich, wenn mir etwas Unerwartetes am Tag zustößt' ... Von der Wirklichkeit ist nichts Gutes zu erwarten, von den anderen Menschen nicht, von der Zukunft nicht, von der Gesellschaft nicht ... Besonders gering ist die politische Beteiligung ... Auffällig ist die besonders hohe Neigung zur politischen U n t e r o r d n u n g " .288 Man strebt weder nach Rang noch nach Konformität, sondern vor allem nach Geborgenheit. 4. Selbstverwirklichungsmilieu (unter 40 Jahre / mittlere oder höhere Bildung): "Typisch für das Selbstverwirklichungsmilieu ist der Grenzverkehr zwischen alltagsästhetischen Zeichen- und Bedeutungskosmen, zwi288 G.Schulze: Erlebnisgesellschaft, S.292-299

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VI. Die Religiosität der Kirchenmitglieder

sehen Mozart und Rockmusik, Kunstausstellung und Kino, Kontemplation und Action ... Dank seiner Mobilität, seinem Drang nach draußen und seiner Neigung zur Selbstdarstellung besetzt das Selbstverwirklichungsmilieu unsere Alltagserfahrung stärker als jedes andere Milieu. Es dominiert in Studentenkneipen, den 'Griechen', den 'Italienern' der Großstädte, bevölkert Bistros, Cafés, Bars, drängt in Kinos, Jazzkonzerte, Kleinkunsttheater, beherrscht das Feld des Freizeitsports, flutet durch die Boutiquen, überzieht die Welt mit kollektivem Individualtourismus ... Das Bedürfnis nach Originalität führt zu Empfänglichkeit für neue Zeichen: Moden, Sportarten, Musikstile, Redensarten, Ansichten. Aus dem gleichen Motiv heraus ist die innere Segmentierung des Milieus besonders ausgeprägt. Es schließt Alternative ein und Yuppies, Weiblichkeit alten und neuen Stils, Aufsteiger und Aussteiger, Konsumsüchtige und Abstinente. Doch die existentielle Anschauungsweise begründet Verwandtschaft ... Dieser Selbstbezug - 'Weil ich es so will' - definiert Verwandtschaft über die symbolischen Grenzen hinweg ... Immer wieder wurde das Milieu seit Ende der sechziger Jahre Ausgangspunkt sozialer Bewegungen: Studentenbewegung, Frauenbewegung, Alternativbewegung, Anti-AKW-Bewegung, Ökologiebewegung Im Konsumstil tendiert das Milieu zu einer Mischung von Nachlässigkeit und gewählter Stilisierung. Der Wechsel von Jeans und T-Shirt zum besonderen Outfit ist etwas Alltägliches. Beide Stile, Nonchalance und Chic, eigenen sich gleichermaßen zur Symbolisierung der ichbezogenen existentiellen Anschauungsweise ... Häufig sind kreative und psychosoziale Berufe (etwa Therapeuten, Sozialpädagogen, Lehrer, Designer, Architekten) ... Normale existentielle Problemdefmition ist die Selbstverwirklichung, die Entfaltung des Inneren Kerns. Die Situation soll so eingerichtet sein, daß diese Entfaltung möglich ist .... Selbsterfahrungsgruppen .... Selbstdeutungsliteratur ... Meditations workshops, kreatives Malen, Yoga, Tanztherapie und zahlreiche andere Formen der Beschäftigung mit sich selbst ... Kontemplation und Action als Formen des Genusses, Primitive und Normalbürger als Feindbilder der Distinktion, Perfektion und Narzismus als Lebensphilosophien ... skeptisch gegenüber Autoritäten und hierarchischen S t r u k t u r e n " . 2 8 9 5. Unterhaltungsmilieu (unter 40 Jahre, niedriger Schulabschluß): "Es ist das Milieu der Fließbandarbeiterinnen, der Kfz-Mechaniker, der ungelernten Verkäuferinnen ... Typisch sind Berufe, die wenig 289 G.Schulze: Erlebnisgesellschaft, S.312-320

3.7 Milieugesellschaft

Aufmerksamkeit auf sich ziehen ... Ahnlich dem Harmoniemilieu ist auch das Unterhaltungsmilieu wenig in der Öffentlichkeit sichtbar, aber aus anderen Gründen. Nicht Tarnung und Rückzug sind die Ursache - im Gegenteil ist das Milieu mobil und keineswegs zurückhaltend -, sondern das Verschwinden in Angebotsfallen: Kino, Fußballplatz, Automatensalon, Videothek, Autorennen, Fitneßstudios, Diskotheken, Kneipenszene. Für andere auffällig wird das Milieu eher unterwegs. Sowohl der Fahrstil, den man unter Anspielung auf die unvermeidliche Verfolgungsjagd in amerikanischen Krimiserien als action-orientiert bezeichnen kann, ist Ausdruck des Spannungsschemas als auch die symbolischen Zitate der Rennfahrerkultur durch Veränderungen am Auto: getunte Motoren, extra breite Reifen, tiefergelegte Karosserie, überdimensionierte Auto-Stereoanlage ... [Ich-zentrierte Wirklichkeitskonstruktion:] Primäre Perspektive der Wahrnehmung der inneren Wirklichkeit ist die Kategorie des Bedürfnisses ... "ich bin das, was ich gerade will" ... Es geht darum, sich mit dem zu versorgen, was man möchte, unbeschwert vom Ehrgeiz inneren Wachstums ... Jene skrupulöse Suche nach den eigentlichen Bedürfnissen, die für das Selbstverwirklichungsmilieu so typisch ist, erscheint im Unterhaltungsmilieu unwichtig. Gerne greift man auf die Serviceleistungen der Erlebnisanbieter zurück ... Uninteressant ist die komplizierte, mit kognitiver Arbeit verbundene Erfahrung, etwa in Form eines Leitartikels, einer Für und Wider abwägenden Analyse, einer längeren Rede, einer Fernsehdiskussion. Politische Anteilnahme und Neigung zum Nachdenken und Diskutieren sind gering. Bildzeitung und andere Boulevardblätter finden in diesem Milieu viele Kunden. Erfahrung, ob sie nun aus Printmedien, dem Radio, dem Fernsehen kommt, soll vor allen Dingen starken objektiven Erlebnisreiz besitzen und in kurzen Periodisierungen angeboten werden ... Am klarsten wird dieses Prinzip durch Unterhaltungsapparate vorgeführt, die unablässig Stimuli produzieren, um den menschlichen Partner des Apparates zu Reaktionen zu provozieren ... Action als Genußform ... Dazu kommen jedoch Elemente der traditionellen Unterschichtenkultur ... Die Eltern der Angehörigen des Unterhaitungsmilieus gehören meist zum Harmoniemilieu: Ein Hang zum Praktischen, etwa die Pflege von Auto oder Motorrad und das Herumbasteln in der Wohnung bei den Männern; aufräumen, Sachen in Ordnung bringen, etwas Gutes kochen, saubermachen bei den Frauen ... Erwartung, daß man wenig Hilfe erwarten kann, so daß man besser an sich selbst denkt ... Angst vor Orientierungsverlust ... Angst vor Unbekanntem. Die diesen Haltungen eigene Selbstverstärkung wird durch die Abneigung unterstützt, sich selbst zum Thema des Nachdenkens zu m a c h e n " . 2 9 0 290 G.Schulze: Erlebnisgesellschaft, S.322-329

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VI. Die Religiosität der Kirchenmitglieder

d) Die Milieugesellschaft - eine zerspaltene Gesellschaft Die Wiedergabe von Schulzes Milieubeschreibungen zeigt, daß die Gesellschaft unter ihrer geschlossenen Oberfläche in Segmente auseinander gebrochen ist. Die Angehörigen der einzelnen Segmente bringen grenzüberschreitend nur wenig Verständnis füreinander auf und begegnen sich mit einem reduzierten Ausmaß an Sympathie und Kontaktbereitschaft. "Das gesamtgesellschaftliche Gefiige von Subjektivität läßt sich als eine Struktur gegenseitigen Nichtverstehens charakterisieren, die durch Altersgrenzen und Bildungsgrenzen bestimmt ist".291 Das Prinzip der spontanen Wahl von Beziehungen (und eben auch Zurückweisung von Beziehungsangeboten) sorgt dafür, daß Milieugrenzen immer wieder neu errichtet bzw. gewahrt bleiben. Milieus sind "soziokulturelle Gravitationsfelder mit eigenen W i r k l i c h k e i t e n " . 2 9 2 sie konservieren und reproduzieren ständig ihren je eigenen milieuspezifischen Habitus, eigene Mentalitäten, Interessen, Lebenswelten und Lebensprojekte. Nach außen hin wird all dies vom Prinzip der Abgrenzung, der Distinktion, geschützt. Schutzes Milieubeschreibungen machen deutlich, wie wenig zutreffend heute noch pauschalisierende Beschreibungen oder Bewertungen "der" Gesellschaft sind. Die Kenntnis der Milieus erlaubt es in aller Regel sehr schnell, den Urteilenden selbst und mit ihm sein Urteil dem einen oder anderen Milieu zuzuweisen. In der Milieugesellschaft gibt es ausgeprägte Zonen der Ungleichzeitigkeit der Wertorientierungen. Milieuspezifische Weltsicht ist keine Ausnahme, sie ist längst der Normalfall. Aus dieser Einsicht resultiert auch eine kritische Rückfrage an die kirchensoziologischen Umfragen. Die Zuordnung der Umfrageergebnisse erfolgt in aller Regel nach Standardmerkmalen wie Alter, Bildung oder Geschlecht der Befragten. Schulzes Milieutheorie aber macht neue Auswertungen sinnvoll und wünschenswert. Wer etwa die Verteilung des Gottesglauben unter Hochgebildeten untersucht, müßte sinnvollerweise angeben, ob sich sein Ergebnis auf Angehörige des Niveaumilieus bezieht oder auf Angehörige des Selbstverwirklichungsmilieus. Hier könnten u.U. deutliche Abweichungen vorliegen. Ebenso wäre es nicht unwichtig zu wissen, welche Differenzen in der religiösen und kirchlichen Einstellung von Jugendlichen gleichen Alters, aber unterschiedlicher Milieuzugehörigkeit bestehen. Schließlich erscheint es wünschenswert, in das Umfragedesign selbst Milieuindikatoren a u f z u n e h m e n . 2 9 3 D ¡ Milieutheorie der Gesellschaft eröffnet der Kirchensoziologie neue Fragestellungen, die aber gewiß dazu beitragen könnten, die Umfrageergebnisse dichter an die differenzierte religiöse Wirklichkeit in der Gesellschaft h e r a n z u f ü h r e n . 2 9 4 e

291 G.Schulze: Erlebnisgesellschaft, S.335 292 G.Schulze: Erlebnisgesellschaft, S.267 293 Schulzes Milieus (Variablen Alter und Bildung) lassen sich mit statistischen Methoden aus dem vorhandenen Datenmaterial herausrechnen. Anders ist das bei den differenzierteren SINUS-Milieus, die den Modemitätsgrad und den Schichthabitus berücksichtigen. 294 Die Einsichten in die unterschiedlichen Lebenszyklen oder die Theorie der Milieugesellschaft eröffnen einen erheblichen Bedarf an differenzierteren Datenauswertungen. Leider ist

3.7 Milieugesellschaft

517

e) Die Milieugesellschaft und die Gemeindepflege Gerhard Schulze hat die Themen Religion und Kirche in seiner Untersuchung leider nur am Rande mitlaufen l a s s e n . 295 vieles hätte man sich als Theologe eingehender und differenzierter g e w ü n s c h t . 2 9 6 £>a m ir aber keine Milieustudien bekannt sind, die den Religionsaspekt gründlicher aufarbeiten, soll auf das Wenige zurückgegriffen werden, das sich aus Schulzes Arbeit entnehmen läßt. Dieses Wenige läßt nicht nur erahnen, wie fruchtbar eine vertiefte Auseinandersetzung mit dem Thema "Religion und Milieu" sein könnte, es birgt trotz aller Unsicherheiten, die im Detail bestehen, doch bereits richtungweisende Impulse für die Theorie der parochialen Gemeindearbeit. Auf diesen Aspekt wird sich die Darstellung im folgenden beschränken: 1. Milieus nicht länger unbeachtet lassen: Für die Theorie der Gemeindearbeit (und auch die Kirchensoziologie) bedeutet jedes Milieumodell, daß eine Wirklichkeitskonstruktion, die lediglich "den" Menschen und "die" Gesellschaft kennt, aber die Zwischenlagen, die vermittelnden Milieus, außer acht läßt, in der Gefahr steht, erhebliche Fehleinschätzungen zu konservieren und zu produzieren. Weder die Religiosität, noch die Kirchlichkeit, geschweige denn die Bereitschaft zum Engagement im Rahmen des Gemeindehauslebens ist in den Milieus gleichmäßig verteilt.

(laut mündlicher Auskunft aus Hannover) auch für die Endauswertung der dritten EKD-Umfrage keine Milieuauswertung vorgesehen. 295 Zur Messung der Religiosität verwendet er die alte Skala von U.Boos-Nünning: Dimensionen, 1972 mit lediglich 6 Items, davon ein fragwürdiges Item (Frage 122, S.604; s.o. Anm.14). Die Einstellung zur evangelischen Kirche wird überhaupt nicht abgefragt. In den Antwortvorgaben des Hauptfragebogens fehlt der religiös-kirchliche Aspekt nahezu durchgängig, so in Frage 10, 13,17, 19,59. - S.595-599 296 Dies gilt besonders für die Analyse des Selbstverwirklichungsmilieus. Es ist das Milieu, in dem Schulze den stärksten antikirchlichen Impetus und die höchste Sympathiequote für die sozialen Bewegungen festgestellt hat (Erlebnisgesellschaft, S.660). Ein anderes analysestarkes Milieumodell, das SINUS-Modell (s.o. Anm.282), hat in der Region, in der Schulzes Milieugraphik das Selbsterfahrungsmilieu piaziert, nicht weniger als vier verschiedene Milieus piaziert. Dem Aspekt unterschiedlich stark ausgeprägter persönlicher Fortschrittsorientierung wird in den SINUS-Milieus ein milieutrennender Charakter zugesprochen. Damit kommen zu den beiden eindeutig fortschrittsorientierten Milieus "hedonistisches Milieu" (mit Mittelschichthabitus) und "alternatives Milieu" (mit Oberschichthabitus) noch zwei Milieus mit mittlerer Modemitätsorientierung hinzu, ein "technokratisch-liberales Milieu" (Oberschichthabitus) und ein "aufstiegsorientiertes Milieu" (Mittelschichthabitus; vgl. die Tabelle bei M.Vester u.a.: Milieus, S.16). Die SINUS-Milieus erfassen damit auch Menschen mit einer gegenüber Fortschrittsoptimisten und Traditionalisten gleichermaßen vermittelnden Mentalitätslage. Berufsgruppen wie Ingenieure, Naturwissenschaftler, Informatiker u.v.a. kommen in den Blick, deren traditionell liberale und ausgleichsorientierte Werthaltung bei Schulze nicht vergleichbar deutlich ins Gewicht fallen. Schulzes Milieumodell ist weniger an derartigen Zwischenlagen orientiert, als an trennscharfen Konturen. Er interessiert sich weniger für die breiten Zonen der Übergänge und Zwischenwerte. Das macht es einerseits möglich, die soziologische Diskussion über den "postmodernen Menschen" oder über "Zeitgeist und Postmoderne" in den Verständnisrahmen seines Milieumodells einzuzeichnen (= Selbsterfahrungsmilieu), andererseits aber vermißt man teilweise doch schmerzlich die notwendigen inneren Differenzierungen.

5 1 8

VI. Die Religiosität der Kirchenmitglieder

2. Die unsichtbaren Grenzen des Gemeindehauslebens: Nur ein einziges von fünf Milieus besitzt nach Schulzes Datenauswertung eine ausgeprägte Affinität zur Teilnahme am kirchlichen Gruppen- und Vereinsleben, das Integrationsmilieu. Den übrigen vier Milieus kommt das Gemeindehaus mental nicht entgegen. Im Kreis der "aktiven" Gemeindemitglieder kann man immer wieder die Frage hören "Wir haben doch alle eingeladen, warum kommen denn so wenige?" Die Milieutheorie bietet eine plausible Antwort auf diese Frage. Die vielen kommen nicht, weil sie sich dort nicht "zu Hause" fühlen. Das Gemeindehaus pflegt eine Geselligkeitskultur, die nur einem Milieu wirklich entgegen kommt. Den übrigen Milieus erscheint sie als "fremdartig" oder als "befremdlich". Nach Renate Mayntz weisen alle Organisationen eine "selbstselektive Tendenz" auf, d.h. daß "potentielle Mitglieder eines bestimmten Typs sich eher als solche eines anderen Typs um die Aufnahme in eine Organisation bemüh e n " . ^ Nach dieser Regel rekrutiert das Integrationsmilieu die Mitspielerinnen ständig aus dem eigenen Milieu und erschwert anderen die Zugangs- und Entfaltungsmöglichkeiten. Diese "selbstselektive Tendenz" läßt sich in zahllosen Gemeindehäusern beobachten. Die Milieusicht lehrt ein weiteres. Es gibt mindestens ein Milieu, das mental darauf angewiesen ist, daß die kirchlichen Mitarbeiter/innen kommen. Die Angehörigen des Harmoniemilieus besitzen weder das familienübergreifende Geselligkeitsbedürfnis, noch das notwendige Selbstbewußtsein, um selbst im Gemeindehaus anzuklopfen. Von diesen Menschen kann die Gemeinde nicht erwarten, daß sie von sich aus kommen. Man muß schon selbst zu ihnen gehen. Die Angehörigen des Harmoniemilieus stellen das "Ensemble der Opfer", von dem Ernst Lange annahm, daß es sich in der Kirchengemeinde versammelt. Wenn Schulzes Analyse stimmt, hat Lange Unrecht. Das Ensemble der Opfer ist im Gemeindehaus gerade nicht anzutreffen. Es sitzt zu Hause und wartet auf Besuch. Auch die bis in die jüngste Zeit hinein immer wieder vertretene Behauptung, "die Kerngemeinde gibt die Chance, fur sozial Desintegrierte Räume sozialer Integration zu s c h a f f e n " 2 9 8 w äre demnach allenfalls partiell richtig. Aus unterschiedlichen Gründen kann die Gemeinde auch von den Angehörigen der übrigen Milieus nicht pauschal erwarten, daß sie "kommen". Für die Angehörigen des Niveaumilieus läßt sich mit einiger Wahrscheinlichkeit behaupten, daß ihr Streben nach Perfektion, Niveau und gehobenem Geschmack weder mit dem durchschnittlichen Erscheinungsbild noch mit der durchschnittlichen Geselligkeits- und Frömmigkeitskultur der Gemeindehäuser in Einklang zu bringen ist. Wer, wie die Angehörigen des Unterhaltungsmilieus, "action als Genußform" betrachtet, kann mit der Betulichkeit des Gemeindehauslebens schwerlich etwas im Sinn haben. Das Selbstverwirklichungsmilieu schließlich ist das Milieu, in dem das höchste Ausmaß an Kirchenkritik festzustellen w a r ^ 9 9 bei gleichzeitig größten Zustimmungsraten zur Alternativ)

297 R.Mayntz: Soziologie, S. 120 298 G.Kehrer: Gemeinde, S.259 299 G.Schulze: Erlebnisgesellschaft, S.660

3.7 Milieugesellschaft

519

bewegung, Friedensbewegung und den Grünen. Das Milieu sucht weder Geselligkeit noch kontinuierliche Bindungen, es sucht "Bewegung", Aufbruch und Selbsterfahrung. Mit derartigen Motivationen ist man im Gemeindehaus in aller Regel an der falschen Adresse. Das bedeutet aber, das Gemeindehauskonzept ist ein spezialisiertes Zielgruppenkonzept, das sich an die Angehörigen des Integrationsmilieus wendet. Für die Angehörigen der anderen Milieus, die ja ebenfalls Kirchenmitglieder sind, stellt es (zumindest in seiner überwiegend verbreiteten Gestalt) kein attraktives Angebot mehr dar. Schon die Annahme einer "Einheit der Gemeinde" erweist sich unter Milieugesichtspunkten als Fiktion. Es gibt sie nicht mehr. Das Gemeindehauskonzept wird in seiner soziologischen Reichweite in der Regel überschätzt. Es ist eben gerade kein Angebot für alle und für jeden. Es geht an einem großen Teil an den Menschen in der Milieugesellschaft konzeptionell vorbei. Es ist veraltet und dringend revisionsbedürftig.300 3. Pfarrer/innen aus dem Selbstverwirklungsmilieu: Die Pfarrer/innen, die in den vergangenen Jahrzehnten neu ins Pfarramt gekommen sind, waren zum weit überwiegenden Teil Angehörige des Selbstverwirklichungsmilieus.301 Das hatte Konsequenzen, die selten beachtet wurden und werden. Es liegt nahe, daß sie bestrebt waren, die Standards ihres eigenen Milieus in der Gemeindearbeit umzusetzen und das Erscheinungsbild der Gemeinde ihrem eigenen Empfinden anzupassen. Die eigentümliche Symbiose aus äußerlicher Nachlässigkeit (bis hin zum Zustand der Baulichkeiten und Gartenanlagen), persönlicher Zugewandheit und alternativer Gestimmtheit, die heute landauf landab erstaunlich häufig im Mitarbeiterkreis evangelischer Kirchengemeinden anzutreffen ist, bestätigt das. Die Milieutheorie läßt erkennen, daß ein milieuspezifisch verengtes Erscheinungsbild an der sozialen Vielfalt, an den Mentalitäten und Distinktionen vorbeigeht, die unter den Gemeindemitgliedern vorhanden sind, insbesondere dann, wenn es sich an dem Milieu orientiert, das im Veranstaltungsleben der Gemeinde am wenigsten anzutreffen ist. Die Standards des Selbstverwirklichungsmilieus weichen erheblich von den Standards ab, die im Kreis der ehrenamtlichen Mitarbeiter/innen vorherrschen (Integrationsmilieu). Die Erfahrung zeigt, daß beide Seiten aufgrund dieser Tatsache, die zumeist unbewußt und deshalb auch unthematisiert bleibt, erst einen schmerzhaften Prozeß wechselseitiger Mißverständnisse und Anpassungsleistungen durchlaufen, ehe sie "miteinander zurecht kommen". Dieser Prozeß aber bringt nicht nur Reibungs- und Motivationsverluste mit sich, er gelingt auch nur selten in einer Form, die beide Seiten wirklich zufriedenstellt. So kann es kaum überraschen, daß unter den Pfarrer/innen, die sich "die Gemeinde" so viel anders vorgestellt hatten, ein Entfremdungsgefühl gegenüber den faktischen Zuständen weit verbreitet ist. 300 Vgl. auch die Kritik von G.Bormann / S.Bormann-Heischkeil: Theorie, S.91 301 Der Pfarrer, auf dessen Traum M.Josuttis in seinem Buch "Der Traum des Theologen", München 1988 immer wieder zurückkommt (S. 11), ist ein typischer Vertreter der älteren Generation des Selbsterfahrungsmilieus.

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VI. Die Religiosität der Kirchenmitglieder

4. Pluralismus der Gemeindekulturen: Wenn das Gemeindehaus ein milieuspezifisches Angebot darstellt, dann wäre darüber nachzudenken, ob es Angebotsformen geben kann, die anderen Milieus besser entgegenkommen. Die Praxis zeigt, daß es einzelne Kirchengemeinden gibt, die aufgrund ihrer bevorzugten Lage, der besonderen Eigenart ihrer Kirche, eines geeigneten Arbeitsschwerpunktes oder einer ansprechenden Predigt das Niveaumilieu anzusprechen vermögen. Der überwiegenden Anzahl der Kirchengemeinden gelingt das hingegen nicht. Dagegen müssen die Angehörigen des Harmonie- und auch des Unterhaltungsmilieus besucht werden. Hier ist viel Zeit und Energie aufzubringen, ohne auf schnelle Früchte hoffen zu können. Wo der Besuchsdienst ausfallt und der persönliche Kontakt fehlt, sind die beiden Milieus faktisch aus der Gemeinde vertrieben. Das Selbstverwirklichungsmilieu schließlich stellt den höchsten Anteil von Kirchenkritikern und Befürwortern sozialer Bewegungen. Mental werden hohe Anforderungen an die Qualität der zwischenmenschlichen Beziehungen, an gegenseitige Achtung und Wertschätzung gestellt. Sein antiinstitutioneller Vorbehalt ist hoch und durch Einladungen ins Gemeindehaus kaum zu überwinden. Wer mit dem Milieu in Kontakt kommen möchte, muß sich selbst auf den "Markt" begeben. Das setzt die Entwicklung neuer parochialer Arbeitsformen und (durchaus auch kommerzieller) Angebotsformen außerhalb der Gemeindehäuser voraus. Diese kurze Übersicht macht bereits deutlich, daß es in einer Milieugesellschaft nicht mehr sinnvoll sein kann, wenn sich sämtliche Kirchengemeinden konzeptionell im Integrationsmilieu verankern. Eine reflektierte, quantitativ verantwortete und überparochial koordinierte Öffnung der traditionellen parochialen Arbeitsformen ist erforderlich. Zur Zeit aber stehen Konzepte, die dieser Anforderung genügen könnten, noch nicht in der notwendigen Anzahl zur Verfügung. Vorerst wäre schon viel gewonnen, wenn die Einsicht in die Milieustruktur der Gesellschaft die Akzeptanz des Gedankens steigern würde, daß die auseinanderdriftenden Milieus einen Wandlungsdruck auf die Formen der evangelischen Gemeindearbeit ausüben, indem sie nach einer konzeptionellen Neugewichtung des Gemeindehauslebens und nach der Entwicklung neuer Formen und Schwerpunkte der evangelischen Gemeindearbeit rufen.

4. Ergebnisse und Ausblick a) Ergebnisse Am Ende von Kapitel V ("Die Landeskirchen als Sozialsysteme im Wandel") wurde die Frage gestellt: Wie gehen die Mitglieder mit dem Problem um, daß sie mit einem Sozialsystem konfrontiert sind, das unter einem massivem mehrdimensionalen Wandlungsdruck steht und einen unübersehbaren Innovationsstau vor sich herschiebt? Eine summarische Antwort auf diese Frage kann nun ge

4. Ergebnisse und Ausblick

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geben werden. Die Mitglieder halten sich aus den Problemzonen und Konfliktbereichen, in denen sich die Landeskirchen befinden, weitestgehend heraus. Sie elementarisieren ihr Religionsverständnis und vereinfachen ihre Beziehungen zur christlich-kirchlichen Organisation. "Die Kirche" wird nicht unter Anknüpfung an die Glaubensdimension der ecclesia invisibilis als eine (Glaubens-)Gemeinschaft verstanden, sondern unter Anknüpfung an die Organisationsdimension der ecclesia visibilis als ein Gegenüber. 1. Die Verbundenheit der Mitglieder mit ihrer Landeskirche gründet in der Regel nicht in dogmatischer Treue, konfessioneller Identität, persönlicher Bibelfestigkeit oder kontinuierlicher Andachtspraxis. Religiosität und Kirchlichkeit der Kirchenmitglieder weichen in signifikanter Weise von den Normvorgaben der kirchlichen Präferenzordnungen ab. Die Kirchenmitglieder betrachten sich selbst als vollwertige Christen, aber Religion ist für sie eine "Privatsache". Unterhalb der Gemeinsamkeit eines weit verbreiteten Gottesglaubens existiert ein reiches Spektrum individuell-variierender religiöser Vorstellungen und als "persönlich" erachteter Interpretationen. Es gibt eine offene Flanke hin zur Parareligiosität und einen unmittelbaren Zusammenhang zwischen Religiosität und persönlichem Erleben. 2. Unter den evangelischen Kirchenmitgliedern besteht keinerlei Einvernehmen hinsichtlich der Notwendigkeit gemeinsamer Glaubensüberzeugungen, der Notwendigkeit einer religiösen Erziehung, der Notwendigkeit des Gottesdienstbesuchs, der Orientierung an den 10 Geboten und der Bewertung der Kirche als Organisation. In all diesem Punkten reicht das Spektrum der Ansichten von deutlicher Befürwortung bis hin zu radikaler Ablehnung. 3. Die Mitgliedschaftsmotivation ist weithin generalisiert, erweist sich bei näherer Nachfrage als sehr unterschiedlich b e g r ü n d e t ^ Und bekommt in jüngeren Jahrgangsstufen eine Tendenz zur Dienstleistungs- und Nutzenorientierung. 4. Was wird von den Landeskirchen erwartet? Der Konstanz einer starken Verkündigungserwartung steht eine abnehmende Erwartung im Bereich der Wertrepräsentanz und eine gestärkte diakonische, in jüngeren Jahrgangsstufen auch sozial-diakonische, Erwartung g e g e n ü b e r . 3 0 3 5. Das schon traditionell anlaßbezogene Teilnahmeverhalten der Kirchenmitglieder weist weiterhin eine Konstanz auf hohem Niveau, eine gute Ausrechenbarkeit und eine plausible innere Logik auf. 6. Religiosität und Kirchlichkeit sind mehrdimensionale Phänomene. Sie erfüllen unterschiedliche Funktionen und lassen sich auf vielen Ebenen in unterschiedlicher Weise selektiv abfragen oder nutzen. Was jeweils für den Einzel302 So schon K.-W.Dahm in einer Auswertung der ersten EKD-Umfrage: Verbundenheit mit der Volkskirche: Verschiedenartige Motive - Eindeutige Konsequenzen? in: J.Matthes (Hg.): Erneuerung, S. 113-159 303 Vgl. die Funktionsbereiche bei K.-W.Dahm: Beruf, S.l 16-125; E.Lange: Schwierigkeit, S.19 und 26

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VI. Die Religiosität der Kirchenmitglieder

nen an diesem Gesamtkomplex wichtig oder unwichtig ist, attraktiv oder unhaltbar, variiert zusätzlich noch einmal im Verlauf von Lebensphasen und in Abhängigkeit von Erwerbstätigkeitszyklen oder Milieuzugehörigkeiten. Die Religiosität und die Kirchlichkeit der Kirchenmitglieder sind kein eigenständiger Bereich, der isoliert von der gesamtgesellschaftlichen Entwicklung betrachtet werden dürfte. Sie sind vielmehr in das Gesamtgewebe der Gesellschaft hineinverflochten. Sie entwickeln sich in Kontakt und Auseinandersetzung mit m i n d e s t e n s 3 0 4 j einwirkenden Faktoren: (1.) der Kontinuität christlich-religiöser Grundüberzeugungen, derer Wurzeln vorreformatorisch sind, (2.) der geschichtlichen Herkunft der evangelischen Landeskirchen aus dem landesherrlichen Kirchenregiment, (3.) dem systemspezifischen Zustand der Landeskirchen und seinen Auswirkungen, die in den Parochien spürbar werden und schließlich folgen sie (4.) den Spielräumen, die die ausdifferenzierte Gesellschaft ihren Mitgliedern eröffnet und den Anforderungen, vor die sie sie stellt. Religiosität und Kirchlichkeit der Mitglieder sind ein situationsgerechtes, gut abgestimmtes und vielseitig anschlußfähiges Produkt der gesamtgesellschaftlichen Entwicklung. Sie sind es, weil die "Grenzgänger zwischen den Systemwelten" in der Lage sind, Synthesen herbeizuführen und Kompromisse zu schließen, wo sie von den Einzelsystemen mit ihren inkompatiblen Anforderungen und Normerwartungen allein gelassen werden. Sie sind es, weil es den Menschen in der ausdifferenzierten Gesellschaft gelingt, trotz Individualisierungsschub und Abbruchbiographie, trotz Patchwort-Identität und Traditionsvergessenheit, trotz verstärkter Nutzenkalküle und zersplitterter Ethik die Anschlußfähigkeit von Religion und Gesellschaft (wenn auch unter Bedenken) aufrecht zu erhalten. v

e r

b) Ausblick Für die evangelischen Landeskirchen ist mit diesen Einsichten allerdings nur wenig gewonnen, nicht mehr, als daß die Probleme, mit denen sie konfrontiert sind, Profil und Dimensionen bekommen haben. Denn hinter viele der Untersuchungsergebnisse, die oben referiert worden sind, ließe sich der Satz anhängen: "ob es den Landeskirchen nun gefällt oder nicht". Mit größter Wahrscheinlichkeit gefällt der Gesamtbefund den Landeskirchen nicht. Es kann aus der Sicht einer Landeskirche und ihrer ja weiterhin gültigen Präferenzordnung nicht positiv sein, daß die Religiosität so plausibel an die Sachzwänge angepaßt ist, in die die ausdifferenzierte Gesellschaft ihre Mitglieder hineinverwickelt, daß man 304 Dargestellt wurden vor allem die Einflußdimensionen, die auf alle Kirchenmitglieder einwirken. Einflußdimensionen, die unterhalb der Kollektivschwelle liegen, wie etwa die persönliche religiöse Sozialisation, der Einfluß unterschiedlicher persönlicher Mentalitäten oder das Thema "Religion und Biographie", das in jüngster Zeit auch durch Forschungen zur Kirchenaustrittsmotivation Auftrieb erhält (etwa die Tiefeninterviews in U.Müller-Weißner u.a.: Kirche ohne Volk. Kirchenaustritte - Interpretation und Schlußfolgerungen, hg.v. Dekanat Ludwigshafen 1991) oder persönliche Erfahrungen mit einzelnen Pfarrer/innen und Kirchengemeinden oder Gemeindeprojekten waren ausgeklammert.

4. Ergebnisse und Ausblick

523

sie beinahe schon als Seismographen des gesellschaftlichen Gesamtzustandes ansehen könnte. Die Landeskirche hat nach Maßgabe ihrer Ordnung andere Vorstellungen davon, wie christliche Religiosität auszusehen haben. Wie also soll sie mit dem Konflikt umgehen, der zwischen der Organisation und ihrer Ordnung auf der einen Seite und den Mitgliedern auf der anderen Seite besteht? Mehr noch, wie soll sie mit dem Konflikt angesichts der Tatsache umgehen, daß sie selbst mittlerweile Sozialsysteme im Marktsegment "Religion" sind und nicht mehr dem Funktionssegment angehören? Ihre Existenz ist mithin nicht mehr qua Funktionserfüllung zu sichern, sie muß durch aktive Bemühungen um die Mitgliederbasis gesichert werden. Das aber bedeutet: Sie muß durch Systemwandel gesichert werden. Systeme können lediglich ihre Präferenzordnungen, und damit die systemspezifischen Anforderungen an ihre Mitglieder, nicht aber die Menschen selbst verändern. Die Landeskirchen können ihre hauptamtlichen Mitarbeiter/innen durch Belohnung oder Strafandrohung motivieren, die Regeln der Präferenzordnung zu berücksichtigen. Ihre Mitglieder aber können sie (nachdem das Mittel der metaphysischen Strafandrohung aufgegeben ist) lediglich mit Hilfe von Appellen oder Dienstleistungsversprechen an sich binden. Von daher reicht u.U. nicht einmal mehr die einseitige (kirchenoffizielle) Veränderung der Präferenzordnung aus. Die Mitglieder haben ein Mitspracherecht über Art und Umfang der erforderlichen Korrekturen. Im Zweifelsfall stimmen sie mit ihren Füßen ab. Nur wenn die Mitglieder sie akzeptieren, kann eine Korrektur der Präferenzordnung auch im Glaubens- und Gemeindeleben wirksam werden. Die Erfahrungen der Landeskirchen mit der Grundordnung der EKD von 1948 bestätigen die Richtigkeit dieser Behauptung. Es war ein geringes Problem, die Präferenzordnung der deutschen Kirchen zu ändern. Es ist aber in fast 50 Jahren nicht gelungen, die vollzogene Änderung auch an der Basis durchzusetzen und nachhaltig im Mitgliederverhalten zu verankern. Daß von den Mitgliedern ein effektiver Kontrolldruck auf die landeskirchliche Organisation ausgeht, ist aber nur die eine Seite der Medaille. Die zweite Seite ist, daß die Landeskirche ein abgeleitetes Sozialsystem nachrangiger Ordnung im Netzwerkverbund mit der ecclesia invisibilis ist. Das mag die Mitglieder weniger belasten, aber die Organisation darf es nicht ignorieren. Sie darf ihr Fähnchen nicht in jeden beliebigen Wind drehen, sondern hat ihre Identität als "Kirche Jesu Christi" zu wahren. Die Hauptlast dieses schwierigen Ringens um die Mitglieder einerseits und die Identitätswahrung der Organisation andererseits vollzieht sich in den Kirchengemeinden. Und sie vollzieht sich tagtäglich. Es wird weitergearbeitet, auch wenn das System eigentlich eine Ruhepause, eine Phase des Innehaltens und der programmatischen Selbstbesinnung dringend nötig hätte. Von daher wird es im folgenden Kapitel der Arbeit in erster Linie um die Frage gehen, wie denn in der Ortskirchengemeinde weitergearbeitet wird, obwohl das System eine Denkpause für die Klärung des eigenen Selbstverständnisses, für die Festlegung seiner globalen Ziele, für die Verbesserung der eigenen Organisationsstruktur usw. dringend gebrauchen könnte.

VII. Die Kirchengemeinde im Wandel

Die Ortskirchengemeinde ist ebenso wie ihr Muttersystem, die Landeskirche, ein Sozialsystem "im Wandel". Die Formulierung "im Wandel" soll auch hier wieder den doppelten Aspekt des Systemwandels erfassen. Die Kirchengemeinden sind einerseits eingebettet in signifikante Umwelten: die Gesellschaft, die Menschen in dieser Gesellschaft, ihre jeweils spezifischen lokalen Umwelten*, aber auch die Landeskirchen, deren Tochtersysteme sie sind. Alle diese Umwelten wirken mit externen Wandlungsimpulsen auf die Kirchengemeinden ein. Andererseits sind die Kirchengemeinden auch internen Wandlungsimpulsen ausgesetzt: Die Schwierigkeiten der evangelischen Gemeindearbeit im Rahmen einer hybriden Organisationsstruktur mit dem Doppelschwerpunkt Kirchturm und Gemeindehaus, aber auch die Probleme, die konzeptionellen Vorgaben für die evangelische Gemeindearbeit umzusetzen, können als interne Wandlungsimpulse aufgefaßt werden. Die externen wie die internen Wandlungsimpulse, die auf die Ortskirchengemeinden einwirken bzw. in den Ortskirchengemeinden wirksam werden, wurden im Verlauf der Arbeit eingehend behandelt.2 Im folgenden wird es nun noch darum gehen, die gesammelten Untersuchungsergebnisse für das Verständnis der Ortskirchengemeinde als eines "Sozialsystems im Wandel" fruchtbar zu machen. Die vielfältigen Wandlungsimpulse sind ja weder in ihrer Impulsqualität vergleichbar, noch sind sie in ihrer Impulsrichtung gleichgerichtet. Die Kirchengemeinde als "Sozialsystem im Wandel" zu beschreiben, wird von daher vor allem bedeuten, sie als ein System zu beschreiben, das damit fertig werden muß, den unterschiedlichsten untereinander nicht kompatiblen Wandlungsimpulsen ausgesetzt zu sein. Der Druck der Verhältnisse zwingt die Verantwortlichen in den Kirchengemeinden zu einer großflächigen Transformation der offiziellen Systemnormen. Sie müssen entscheiden und sie müssen handeln, obwohl die Verhältnisse eigentlich nach einer Besinnungspause zur Neuordnung der Prioritäten und Profile rufen. Folglich bleibt nichts anderes übrig, als die "Spielregeln", die vor Ort gelten sollen, unter weitgehender Berücksichtigung der gegebenen Verhältnisse selbst festzulegen. Das hat Folgen. Nur ein Bruchteil der evangelischen Ge1 2

Ballungsgebiet oder Flächengemeinde; Großstadt, Großstadtrandgebiet, Kleinstadt, Kreisstadt oder Dorf; Innenstadt oder Stadtrand, Industrieregion, Ferienregion, Agrarregion usw. Von einer vertiefenden Darstellung der lokalen Umwelten der Ortskirchengemeinden habe ich abgesehen. Zahllose Details und lokale Besonderheiten (insbesondere im Bereich der informalen Ordnungen) wären zu berücksichtigen gewesen und hätten den Umfang der ohnehin nicht eben knappen Darstellung weiter aufgebläht. Die Entscheidung ist mir um so leichter gefallen, als mit der Habilitationsschrift von Herbert Lindner "Kirche am Ort. Eine Gemeindetheorie" im Jahr 1994 eine Publikation erschienen ist, die eben diese Aspekte in den Mittelpunkt ihres Interesses gerückt hat. Vgl. auch C.Bäumler: Menschlich leben in einer verstädterten Gesellschaft. Kirchliche Praxis zwischen Öffentlichkeit und Privatheit, Gütersloh 1993

1. Spannungen

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meindearbeit in den Ortskirchengemeinden wird tatsächlich noch von kirchenoffiziellen Normvorgaben gesteuert. Der weit überwiegende Teil dagegen vollzieht sich heute in der Orientierung an "informalen" Ordnungen und Einstellungen. Die Kirchengemeinde als "Sozialsystem im Wandel" ist also eine Kirchengemeinde, die nach der Maßgabe informaler Ordnungen gesteuert und entwickelt wird. Das Kapitel ist in vier Teile gegliedert. Zunächst wird dargestellt, welche Spannungen und Belastungen sich aus den Wandlungsimpulsen ergeben, die auf die Kirchengemeinden einwirken (1.: "Spannungen unter denen sich die Gemeindearbeit vollzieht"). Anschließend wird systemtheoretisch dargestellt, warum sich informale Ordnungen entwickeln und wie sie entstehen (2.: "Systemtheoretische Aspekte der Entstehung informaler Ordnungen"). Eine Darstellung der informalen Ordnungen in den evangelischen Kirchengemeinden wird sich anschließen (3.: "Informale Ordnungen in den Kirchengemeinden"). Unter Berücksichtigung der Inhalte und der Entstehungsbedingungen der informalen Ordnungen in den Kirchengemeinden wird es schließlich möglich sein, zu einem Vorschlag für die strukturelle Neuordnung der evangelischen Gemeindearbeit zu gelangen (4.: "Christsein entfalten - Diskussionsvorschlag für die konzeptionelle Neuordnung der parochialen Gemeindearbeit").

1. Spannungen, unter denen sich die Gemeindearbeit vollzieht In geraffter Übersicht werden noch einmal die fünf Impulsfelder dargestellt: die Landeskirchen und ihre Präferenzordnungen (a), die Eigenarten der Mitgliederreligiosität (b), die praktisch-theologischen Konzeptionen der Gemeindearbeit (c), die Gemeindepflege als Auslaufmodell (d) und das fehlende Alternativkonzept für eine bessere volkskirchliche Gemeindearbeit (e). An jedem einzelnen Punkt wird sich zeigen lassen, daß die Gegebenheiten Spannungen erzeugen, die in der täglichen Arbeit der Kirchengemeinde ausgehalten bzw. gelöst werden müssen. In ihrer Summe erzwingen sie die Ausbildung informaler Ordnungen. a) Die Landeskirchen Die Landeskirchen wurden als Sozialsysteme in einem konzeptionell noch weithin unbewältigten Prozeß des Wandels dargestellt: das ungeklärte Selbstverständnis als Volkskirche und bekennender Kirche, die Schwierigkeiten, die sich aus der Doppelexistenz als Sozialsystem und Netzwerkkomponente ergeben, die fehlerträchtige Verhältnisbestimmung von Kirche und Gesellschaft. Unter dem Gesichtspunkt der Systemdifferenzierung und Systemalterung erwies sich die Landeskirche als Großsystem mit stark herabgesetzter Kohärenz, weithin verlorener Umweltkompatibilität und defizitär ausgebildetem Funktionsbe-

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VII. Die Kirchengemeinde

wußtsein seiner Leitungsebenen. Die Fülle der offenen Fragen und der ungelösten Probleme, unter denen die Landeskirchen leiden, dämpft nicht nur ihre Wandlungsbereitschaft, sie begünstigt im Zuge eines autokatalytischen Entwicklungsprozesses auch die Emigration der Kirche aus der Gesellschaft und ihre (Selbst-) Positionierung im Museumssegment der Gesellschaft. Mit Blick auf die Kirchengemeinden kommt erschwerend hinzu, daß die Präferenzordnung des Systems längst schon von der Systementwicklung überholt worden ist. Üblicherweise beinhaltet die Präferenzordnung eines Systems aber die Normen, die systemintern verbindlich und verbindend sind. Gerade das ist bei den Landeskirchen nicht mehr der Fall. Weder das Bild, das die Landeskirchen in der Präferenzordnung von sich selbst und ihrer eigenen Konfessionsgeschichte zeichnen, noch die Vorstellungen, die sie von ihren Mitgliedern und deren Glaubensüberzeugungen besitzen, entsprechen den tatsächlichen Verhältnissen. Der Relevanzverlust der Kirchenordnungen ist so weit fortgeschritten, daß es im Interesse der Landeskirchen liegt, ihre Mitglieder nicht mehr mit dem exakten Inhalt dieser Ordnungen vertraut zu machen. Alle Sozialsysteme haben die Tendenz, ihre Mitarbeiterschaft in Übergangssituationen, die als "Krisensituationen" verstanden werden, besonders nachdrücklich auf die Einhaltung der Systemordnung zu verpflichten, um die Krise zu meistern. Da die Landeskirchen sich selbst in einer solchen Übergangskrise sehen, ergehen auch in den Landeskirchen verstärkte Observanzforderungen an Mitglieder und Mitarbeiter. Daraus ergibt sich eine erste Spannung, unter der sich die tägliche Arbeit in den Ortsgemeinden zu vollziehen hat: Die Haupt- und Ehrenamtlichen werden auf eine Präferenzordnung verpflichtet, die einen gewaltigen Korrekturbedarf hat, auf eine Arbeitsgrundlage, von der sie wissen, daß sie der Gemeindewirklichkeit in vielfacher Hinsicht nicht mehr entspricht. b) Die Mitglieder Die Landeskirchen gehen nicht gegen Mitglieder vor, die sich den Erwartungen, die in ihren Präferenzordnungen fixiert sind, widersetzen. Faktisch akzeptieren sie vielmehr das gesamte Spektrum persönlicher Glaubensüberzeugungen und Mitgliedschaftsmotivationen. Die Untersuchung der Mitgliederreligiosität hat gezeigt, wie tief der Graben ist, der die Mitglieder von den Normerwartungen der landeskirchlichen Präferenzordnung trennt. Ein selbstverständlich gewordenes Beharren auf den persönlichen Glaubensüberzeugungen und eine anlaßbezogene Partizipation am gottesdienstlichen und kirchlichen Leben sind Normalformen der evangelischen Kirchlichkeit. Man besitzt die Kirchenmitgliedschaft eher "für alle Fälle", ohne sie auch tagtäglich bewähren zu müssen. Diese Einstellung begünstigt ein verbreitetes und wichtige Lebensphasen bestimmendes Desinteresse an der eigenen Ortskirchengemeinde und ihrem "Gemeindeleben". Die Spannungen, die sich daraus ergeben, sind in der Praxis der Gemeindearbeit auszuhalten und auszutragen. Die kirchenoffizielle Erwar-

1. Spannungen

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tung, daß Taufe, Glaube und Mitgliedschaft die einzelnen Mitglieder doch geradezu selbstverständlich in die Gemeinschaft der Gläubigen hineintreiben müßten, wird fortwährend frustriert, weil Kirchenftinktionäre und Kirchenmitglieder in diesem Punkt inkompatible Standpunkte einnehmen. Sie begegnen sich nicht mit dem gleichen Kirchen- und Gemeinde Verständnis. c) Die praktisch-theologische Theoriebildung Die Untersuchung neuerer Konzeptionen der evangelischen Gemeindearbeit im Kapitel II hat ergeben, daß nicht wenige Konzepte sich bei näherem Hinsehen als praxisfern erweisen. Ein beträchtlicher Teil der Fachdiskussion handelt von hypothetisch wünschenswerten Funktionen oder Aufgaben der Kirchengemeinde, von "eigentlich" notwendigen oder biblisch erforderlichen Radikaleinschnitten in die volkskirchliche Organisation, von volksmissionarischer Umorganisation und Neuausrichtung der Ortskirchengemeinden. Wo das kybernetische Therapiekonzept bereits bekannt ist, ehe noch die Situationsanalyse durchgeführt wurde, kann nicht verwundern, daß auf unzureichende Diagnosen schlichte Heilungsversprechen folgen, früher "Volksmission" oder "Volkserziehung", heute missionarische Dienstgruppen, ansteckendes Engagement, Sauerteig oder konziliare Verständigung. Eine angemessene Berücksichtigung der äußeren und inneren Situation der evangelischen Landeskirchen bzw. der Plausibilität der in ihr gewachsenen Strukturen und Frömmigkeitsstile ist vielfach unterblieben. Zu selten werden die Kirchenmitglieder als eigenständiger Faktor in der Konzeptionsentwicklung angesehen. Viel zu oft werden sie zu Objekten eines konzeptionellen Wollens degradiert. Zur Zeit gibt es keinen Konsens darüber, daß Konzeptionen der evangelischen Gemeindearbeit es mit der Arbeits- und Organisationswirklichkeit in volkskirchlichen Parochien zu tun haben. Nach wie vor läßt sich in Konzeptionen der Gemeindearbeit die implizit verfolgte Annahme nachweisen, eine umfassende qualitative Niveauverbesserung des parochialen Christentums lasse sich trotz jahrhundertelanger Fehlschläge doch irgendwann noch einmal bewerkstelligen. Wo etwa eine frisch bestellte Hirtin mit ausgefeiltem kybernetischen Konzept oder bibelfestem Glauben eifrig zu Werke gehe, die verbliebenen guten Geister sammele und ihnen Flügel schenke, da ließen sich unter ihrer (nichtdirektiven) Anleitung durchaus weitreichende und gut sichtbare Früchte heimholen. Gerade volksmissionarische Konzepte erliegen der scheinbaren Evidenz und der suggestiven Kraft einer derartigen Konzeptentwicklung für ein geschichts- und ortloses volkskirchliches Christentum. 3 Die Einsicht, daß die Kirchengemeinde ein beziehungsreiches, höchst lebendiges Sozialsystem ist, das längst schon plausibel 3

Vgl. die kybernetischen Stufenmodelle bei M.Herbst: Gemeindeaufbau, S.249f und die detaillierte Entfaltung des Modells S.305-410; T.Sorg: Christus, S.24-43; K.Eickhoff: Gemeinde entwickeln. Für die Volkskirche der Zukunft, Göttingen 1992, S.310-362; J.Knoblauch: Gemeinde gründen in der Volkskirche. Ein Prozeß in vier Schritten, in: Ders. u.a. (Hg.): Gemeinde gründen in der Volkskirche, Moers 1992, S.45-50

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VII. Die Kirchengemeinde

entwickelt und differenziert ausgeformt ist, ehe nur ein Berufschrist daherkommt, um seine Handschrift einzutragen und seine Spuren zu hinterlassen, bleibt darüber konzeptionell unbedacht. Zu einer derart simplifizierenden Auffassung von pastoraler Gemeindearbeit gehört nicht selten auch ein simplifizierendes Modell der sozialen Gemeindewirklichkeit.^ Die Kirchengemeinde wird dimensional drastisch verkleinert und als eine Art von "Familie" angesehen, ein kleines Häuschen, unter dessen Dach "Brüder und Schwestern" in friedlicher Eintracht beieinander leben (sollen). Das neutestamentliche Bild von der "Gemeinde als Familie" (Mt 12,46-49 par) rechnet noch nicht mit dem Umfang einer neuzeitlichen Kirchengemeinde, der in der Regel mehrere tausend Kirchenmitglieder aller sozialen Schichten mit unterschiedlichsten Glaubensauffassungen und Mitgliedschaftsmotivationen angehören. Die Kirchengemeinde ist weder eine "kleine" noch eine "große Familie". Sie ist vielmehr ein komplexes Sozialsystem, das mit Hilfe einer Familienmetapher auch nicht annähernd sachgemäß zu beschreiben, geschweige denn zu bearbeiten ist. Auch in diesen Punkten werden wieder Spannungen deutlich. Was fangt eine Theologin oder ein Theologe mit Konzeptionen an, die mit dem Zerrbild eines geschichts- und ortlosen volkskirchlichen Christentums arbeiten, die die Kirchenmitglieder und die Plausibilität ihrer systemspezifisch entwickelten Frömmigkeit ignorieren, und die den Systemcharakter der Parochien verschweigen? Auch wer verkürzte oder sogar verfehlte Vorstellungen von der Kirchengemeinde im Kopf hat, ist nicht von der Verpflichtung entbunden, die tägliche Arbeit vor Ort zu tun. Allerdings wird es ihm schwer fallen, das Gelernte und das Vorfindbare miteinander in Einklang zu bringen. d) Die Gemeindepflege als Auslaufmodell Im zweiten Kapitel der Arbeit wurde auch gezeigt, daß sich die Praxis der Gemeindearbeit nach wie vor im konzeptionellen Fahrwasser der Jahrhundertwende befindet. Die Eckwerte des Gemeindepflegekonzeptes (in SchoelP scher, Sülze * scher oder Hilbert'scher Prägung) sind mittlerweile in vielen Presby teñen einstellungs- und handlungsleitend wirksam geworden. Sie dominieren die erkenntnisleitende Perspektive, die verinnerlichten Bewertungen und die maßgeblichen Zielbestimmungen evangelischer Gemeindearbeit: Steigerung der sichtbaren Präsenz, Verkirchlichung der Kirchenmitglieder und Orientierung am Maßstab einer pfarramtsspezifischen Frömmigkeit sind längst zu selbstverständlichen, kaum einmal hinterfragten Zielen der evangelischen Gemeindearbeit geworden. Über alle konzeptionellen Differenzen hinweg wird die Qualität einer Gemeindearbeit am quantitativen Umfang des "Betriebs" im sichtbaren Bereich abgelesen. Erwartet wird, daß die Pfarrer/innen - in Zusammenarbeit mit einem mehr oder weniger großen Kreis von Ehrenamtlichen 4

Zur Idee des "Kulturstaates", deren ganzheitliches Gesellschaftsverständnis nach wie vor im Gedanken der Parochie weiterlebt, vgl. N.Luhmann: Grundriß, S.624-629

1. Spannungen

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vor allem im Gemeindehaus etwas bewegen und dort die sichtbare Präsenzquote erhöhen. Wer das schafft, gilt als "gute Pfarrerin" oder "guter Pfarrer", wobei dann gar nicht selten darüber hinweggesehen wird, mit welcher Art von Programmangeboten und Freizeitaktivitäten das Gemeindehaus denn angefüllt wurde. Umgekehrt sackt in der Sympathiequote ab, wer im Gemeindehaus "nicht ankommt". Eine arbeitspraktische Blickverengung ist die Folge. Zur Gemeinde gehört in dieser Wahrnehmungsperspektive nur, wer sich auch regelmäßig blicken läßt. Landauf, landab wird in Pfarrerkreisen von "der Gemeinde" oder von "meiner Gemeinde" gesprochen, wenn lediglich von dem Bruchteil der Gemeindemitglieder die Rede ist, der sich dann und wann einmal im Gemeindehaus versammelt. An diesen wenigen aber wird abgelesen, ob "die" Gemeinde "jung" oder "alt", "engagiert" oder "kritisch", "traditionsorientiert" oder "aufgeschlossen", "bodenständig" oder "missionarisch" ist. Der Rest wird leider gar nicht so selten unter unseligen Rubriken wie "Kasualchristen", "Weihnachtskirchgänger" oder "Taufscheinchristen" abgebucht. Das Gemeindepflegekonzept, das sich über Jahrzehnte hinweg aufgrund seiner Flexibilität und seiner vielseitigen Anpassungs- und Ausgestaltungsfähigkeit glänzend bewährt hat, ist in den letzten Jahrzehnten zunehmend an Grenzen gestoßen. Es knirscht im Getriebe der Kirchengemeinden. Gerade die Flexibilität, die eine fortwährende additive Vermehrung der Aktivitäten und damit eine bestechende Anpassungsfähigkeit an veränderte gesellschaftliche Lagen, Themen und Entwicklungen erlaubte, hat das Konzept nun in eine Sackgasse geführt. Nach dem Prinzip des additiven Wachstums sind in den vergangenen Jahrzehnten auf die althergebrachten Geschlechtergruppen (Frauen, Männer, Jugend, Kinder) sozialpolitische Themengruppen (Frieden, ökumenische Partnerschaft, Stadtteil, Ökologie u.a.) gefolgt. Sie wurden in jüngerer Zeit wiederum durch Gruppen für Menschen in besonderen Lebenslagen ergänzt (Asylanten, Alleinerziehende, "Mutter hat frei" usw.). Theoretisch wäre es durchaus vorstellbar, auch in Zukunft so weiterzuarbeiten. Die Arbeitsvorhaben und Arbeitsfelder der Gemeinden lassen sich ohne Schwierigkeiten weiter vermehren. An Ideen fehlt es keineswegs.5 Es fehlt an Kraft und an Mitspielern. Gerade die uferlose Elastizität und Erweiterungsfähigkeit des Gemeindepflegekonzepts provoziert letztlich seinen Zusammenbruch. Das Konzept beansprucht die Mitarbeiter/innen bis an die Grenze ihrer Belastbarkeit und darüber hinaus. Es signalisiert ständig, daß "eigentlich" noch sehr viel mehr getan werden könnte und auch getan werden müßte. Da kann es nicht mehr verwundern, 5

Man sollte auch nicht übersehen, daß Desiderate für die parochiale Gemeindearbeit in den ausdifferenzierten Landeskirchen ja nicht nur vor Ort erkannt werden. Sie werden ständig auch in einer großen Zahl von Spezialpfarrämtem, Werken und Verbänden erdacht und den Gemeinden vorgeschlagen: Volksmission, christliche Ökumene, Dritte Welt und Entwicklungshilfe, Erwachsenenbildung, Kindergartenarbeit, Schülerarbeit, Ausländerarbeit, Dialog mit nicht-christlichen Religionen, Behindertenarbeit, Sekten- und Weltanschauungsfragen, Presse und Publizistik, Gustav-Adolf Werk, Polizeiseelsorge, Notfallseelsorge u.s.w. So stürzen auch von dieser Seite her ständig unkoordinierte Anregungen, Bitten oder Verpflichtungen auf die Kirchengemeinden ein und verengen den ohnehin kaum vorhandenen Spielraum weiter.

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ΥΠ. Die Kirchengemeinde

wenn in Mitarbeiter- und Pfarrerkreisen das Gefühl verbreitet ist, die eigene Arbeitsleistung sei ungenügend und unzureichend (nicht selten auch verbunden mit einem nagenden schlechten Gewissen mit Blick auf die Normvorgaben des Reiches Gottes). Die psychologischen Auswirkungen auf die Mitarbeiter/innen lassen den entscheidenden Fehler des Konzeptes erkennen: Es hat unmenschliche Konsequenzen. Das Konzept überfordert strukturbedingt die Leistungsfähigkeit und die Leistungsbereitschaft der Menschen, die es mit Leben zu erfüllen und zu tragen haben. In vielen Kirchengemeinden sind die erforderlichen Kräfte längst nicht (mehr) vorhanden und auch nie im erforderlichen Ausmaß zu gewinnen. Die ständige Überbelastung der ehrenamtlichen Mitarbeiter/innen führt selbst unter Gutwilligen zu Motivationsverlusten und Resignation. Auch spricht sich herum, in welch hohem Ausmaß die Kirchengemeinden ihre ehrenamtlichen Mitarbeiter/innen beanspruchen. Das provoziert vorbeugende Ablehnung und verschärft das Mitarbeiterdilemma in den Kirchengemeinden. Schon ein Votum aus dem Jahr 1909 spricht von dieser Erfahrung: "Die Heranziehung von Mitarbeitern macht den Pfarrern unsägliche Mühe. Es ist wie das Anstoßen einer Uhr, die nicht mehr gehen will".*· Die interne Kritik am "Aktionismus" der Gemeinden wird nicht zuletzt auch deshalb lauter, weil kaum zu erkennen ist, daß über all den Aktivitäten der Effektivitäts- und Wirkungsgrad der Gemeindearbeit tatsächlich zugenommen hätte. Bei der Darstellung der fünf Schulze-Milieus wurde deutlich, daß vier von fünf Milieus in der Gemeindehausarbeit konzeptionell ausgeklammert sind. In einer Zeit, in der sich die Milieudifferenzen innerhalb der Gesellschaft nicht etwa einebnen, sondern weiter vertiefen, kann das nicht folgenlos bleiben. Immer mehr Mitglieder fühlen sich zurecht von ihrer Kirchengemeinde ausgegrenzt und vernachlässig. Bei anwachsender Dienstleistungsorientierung der Mitglieder wird die Frage nach der Leistung der Kirche und der Evidenz des persönlich nutzbaren Angebots lauter. Aus internen wie externen Gründen stößt also das alte Gemeindepflegekonzept von Jakob Schoell zunehmend an Grenzen. Es sind nicht allein Grenzen der menschlichen Leitstungsfahigkeit und Grenzen der Mitarbeitermotivation, sondern auch Grenzen der externen Akzeptanz, die dazu führen, daß nicht wenige Beobachter die Kirchengemeinde heute als System "in der Krise" ansehen. Weil sich die Menschen im engsten Leitungskreis der Gemeinden über die Maßen belasten sind die Mitarbeiter/innen weit entfernt von der fröhlichen Freiheit der Kinder Gottes. Damit ist nun auch an diesem Punkt wieder eine Spannung erkennbar, unter der sich die parochiale Gemeindearbeit vollzieht. In einer Situation, wo das Gemeindepflegekonzept zunehmend problematisch wird, wo die Zweifel wachsen, ob der eingeschlagene Weg richtig ist, und wo die Kräfte schwinden, wird weitergearbeitet. Der Druck, der sich aus dieser Situation ergibt, ist ebenfalls täglich von den Betroffenen auszuhalten und zu bearbeiten. 6

Stock: Der evangelische Gemeindegedanke in den letzten beiden Jahrzehnten und seine Bedeutung für die Zukunft, in: Die christliche Welt 23/1909, Sp.1067

1. Spannungen

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e) Ein praktikables Alternativkonzept für eine volkskirchliche Gemeindearbeit fehlt Die evangelische Gemeindearbeit leidet unter konzeptionellen Ermüdungserscheinungen. Aus den unterschiedlichsten Richtungen ist sie starken Wandlungsimpulsen ausgesetzt (Präferenzordnung, ecclesia invisibilis, Sozialsystem, Gesellschaft, Mitgliederreligiosität, Gemeindepflegekonzept). In dieser Situation mangelt es nicht an dem redlichen Bemühen, die Folgewirkungen der Strukturkrise einzudämmen oder hilfreiche Entlastungspotentiale zu erschließen. Was den Leitungsgremien der Kirchengemeinden aber schmerzlich fehlt, ist ein praxistaugliches Alternativkonzept. Es fehlen Orientierungen und klare Wegweiser, die aus dem Dickicht der alltäglichen Betroffenheiten herausfuhren und es gestatten, die undurchdringliche Komplexität der gewachsenen Verhältnisse zu strukturieren. Es fehlt an überzeugenden, konsensfähigen und volkskirchlich praktikablen Alternativen zum alten Gemeindepflegekonzept von Jakob Schoell.

f) Leitthese Die Übersicht hat gezeigt, in welchen vielfältigen Spannungsfeldern sich die parochiale Gemeindearbeit täglich bewegt und aktuell zu bewähren hat. Die Ortskirchengemeinden sind Sozialsysteme, die starken Wandlungsimpulsen ausgesetzt ist, sie sind "Sozialsysteme in der Krise". Sind die Wandlungsimpulse erst einmal wirksam, geht es nicht mehr um die Frage, ob der Wandel vom System begrüßt wird, oder ob er unerwünscht ist. Es geht nur noch darum, ob ein Sozialsystem willens, fähig und in der Lage ist, den Wandel aktiv zu begleiten, oder ob es ihn, sehenden oder schlafenden Auges, passiv hinzunehmen hat. Wenn also die Kirchengemeinden (und mit ihnen auch die Kirchenleitungen) in Ermangelung praktikabler Alternativkonzepte für die evangelische Gemeindearbeit darum bemüht sind, die Gemeindearbeit trotz aller Schwierigkeiten und Belastungen, die das (auch in den Personalakten der Pfarrerschaft) nach sich zieht, in den gewohnten Gleisen fortzusetzen, dann läßt sich nach den Regeln der allgemeinen Systementwicklung prognostizieren, daß sich der Systemwandel dezentral, spontan und wildwüchsig vollziehen wird. Diese Behauptung wird hier aufgestellt und im folgenden auch belegt werden. Der Systemwandel in den Ortskirchengemeinden verläuft nicht kontrolliert und koordiniert, sondern wildwüchsig, unkontrolliert und partiell destruktiv. Damit stellen sich die Fragen nach dem "Was" und dem "Wie" des Wandels in den Ortskirchengemeinden. Was wandelt sich, und wie wandelt es sich? Was geschieht, wenn ein Sozialsystem wie die Kirchengemeinde dauerhaft starken, aber inkompatiblen Wandlungsimpulsen ausgesetzt ist? Was geschieht etwa in der Praxis der Gemeindearbeit, wenn die Gemeindeleitung am Ideal eines sichtbar florierenden Gemeindelebens orientiert ist, die Gemeindemitglieder aber auf der selbstbestimmten Gestaltung ihres Teilnahmeverhaltens, der Frei-

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VII. Die Kirchengemeinde

heit ihrer Glaubensüberzeugungen und der Distanz zur Ortskirchengemeinde bestehen? Was geschieht, wenn die Gemeindepfarrer/innen einer kaum überschaubaren Aufgabenfülle ausgesetzt sind, die Kirchenleitungen sie auf die Einhaltung einer wirklichkeitsfernen Kirchenordnung verpflichten und die Presbyterien dem Erhalt des status quo verpflichtet sind, weil ihnen aufgrund unzureichender Vor- und Ausbildung realisierbare Alternativen unbekannt sind? Was geschieht, wenn auch unter diesen Bedingungen tagtäglich weitergearbeitet werden muß, weil Sozialsysteme nicht wegen dringend erforderlicher Renovierungs- und Umbaumaßnahmen vorübergehend geschlossen werden können? Die Antwort auf diese vielen Fragen ist verblüffend einfach. Die Kirchengemeinden haben längst schon damit begonnen, "geheime", aber funktional gut an ihre Situation angepaßte "Spielregeln" zu entwickeln und ihre eigenen Ordnungen zu befolgen: Ordnungen, die die diffusen und widerstreitenden Tatsachen und Anforderungen "unter einen Hut" zu bringen vermögen; Ordnungen, die zwar von den kirchlichen Ordnungen erheblich abweichen, aber keineswegs unsinnig sind; Ordnungen, die zwar den Vorstellungen und Vorgaben der Kirchenleitungen nur noch am Rande gerecht werden, die es aber all denen, die die tägliche Arbeit zu tun haben, ermöglichen, "irgendwie zurecht zu kommen". Für derartige Ordnungen, die zwar nicht den Strukturvorgaben, wohl aber den Strukturproblemen innerhalb eines Sozialsystems gerecht werden, hat die Systemtheorie einen Namen: "informale Ordnungen". Informale Ordnungen gibt es in allen Sozialsystemen. In der Organisationstheorie^ und in der UnternehmensberatungS sind sie längst bekannt. Die Praktische Theologie hat sie allerdings bisher noch nicht entdeckt. Die These, die nachfolgend entfaltet werden wird, lautet: In Ermangelung realitätsgerechter und praktikabler Ordnungen vollzieht sich die evangelische Gemeindearbeit am Ort weitgehend in der Orientierung an "informalen Gemeindeordnungen". Mit der systematischen Analyse der Inhalte, der Entstehungsbedingungen und der funktionalen Wertigkeit dieser "informalen Strukturen" wird die vorliegende Arbeit praktischtheologisches Neuland beschreiten.

2. Systemtheoretische Aspekte der Entstehung informaler Ordnungen "Jedes Unternehmen ist das Resultat seiner ungeschriebenen Gestze".^ Diese etwas plakative These lenkt den Blick auf eine noch zu selten wahrgenommene 7

8 9

M.Irle: Soziale Systeme. Eine kritische Analyse der Theorie von formalen und informalen Organisationen, Göttingen 1963; N.Luhmann: Funktionen, S. 18-20; N.Luhmann: Organisation, in: W.Küpper / G.Ortmann (Hg.), Mikropolitik, Rationalität, Macht und Spiele, Opladen 1988, S.165-185; W.Girschner: Theorie, S.76-93 P.Scott-Morgan / A.D.Little: Die heimlichen Spielregeln. Die Macht der ungeschriebenen Gesetze im Unternehmen, Frankfurt u.ö. ^1995 P.Scott-Morgan / A.D.Little: Spielregeln, S.31

2. Entstehung informaler Ordnungen

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Dimension sozialer Systeme. Man versteht Systeme so lange nicht angemessen, wie man sie nicht auch in ihrem Arbeitsalltag versteht. Erst hier erweist sich, ob die papierenen Normen der Präferenzordnung mit Leben zu erfüllen sind. Hier zeigt sich, was praktikabel ist und was nicht, was vorbedacht und was unvorhersehbar ist. Hier ringen die Menschen um Entscheidungen, hier bringen sie sich selbst mit ihrer Persönlichkeit und ihren Eigenheiten ein. Hier prägen sie das Erscheinungsbild des Sozialsystems. Zunächst wird dargestellt, warum informale Ordnungen entstehen (a). Anschließend wird dargestellt, wie informale Ordnungen entstehen (b).

a) Warum informale Ordnungen entstehen 1. Informale Ordnungen entstehen aus der begrenzten Fähigkeit des Menschen zu unpersönlich-rationalem Handeln: Es gibt nicht nur Verhalten "von" Systemen (als emergente Systemeigenschaft eines eigenständig handlungsfähigen Kollektivsubjektes), es gibt auch menschliches Verhalten "in" Systemen, und dieses Verhalten muß keineswegs immer in völliger Übereinstimmung mit der Präferenzordnung stehen. "Menschen sind weder willens noch in der Lage, sich stets exakt so zu verhalten, wie die Organisation das w ü n s c h t " . 10 Das soziale System kann die bereits erfolgreich überwundenen Stadien der Systementwicklung nie hinter sich lassen, sondern trägt sie stets in sich. In komplexen Sozialsystemen gibt es immer auch einfachere Sozialsysteme, Quasi-Systeme und elementare Interaktionen. Das System kann und will sie nicht unterbinden, und dies hat Folgen. Da lassen sich etwa die Mitarbeiter/innen einer Firma, die doch eigentlich den übergeordneten Firmeninteressen verpflichtet sein sollten, nach wie vor von Grundregeln der Interaktion leiten: Persönliche Sympathien und Antipathien kommen ins Spiel, die auf der erreichten Systementwicklungsstufe gar nicht mehr "vorgesehen" sind. Die Mitarbeiter/innen pflegen "ihre eigenen Arbeitskontakte, Kommunikationswege, Machtbeziehungen und Statuszuweisungen. Es entwickelt sich eine eigene, meist gruppenbezogene Welt mit informellen Führern, auf die in bestimmten Situationen mehr gehört wird als auf zuständige Vorgesetzte, mit Vertrauenspersonen, die man zu Rate zieht, mit Kollegen, mit denen jeder unnötige Kontakt vermieden wird, mit Querbezügen zu weit entfernt arbeitenden Informanten und vielerlei Tauschbezügen". 11 Kurz, es entwickelt sich ein informelles Leben, das seine eigenen Ordnungen und auch seine eigenen Plausibilitäten besitzt und befolgt. "Die Zweckrationalität der Organisation findet ihre Grenzen in der Widerspenstigkeit der Menschen und ihrer begrenzten Fähigkeit zu unpersönlich-rationalem H a n d e l n " . 12 Die 10 11 12

W.Girschner, Theorie, S.79 W.Girschner, Theorie, S.82f W.Girschner, Theorie, S.79

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VII. Die Kirchengemeinde

Unfähigkeiten der Menschen, ausschließlich systemrational zu handeln und darüber eigene Bedürfnisse, Interessen und Persönlichkeitsmerkmale auszuklammern, sind eine erste Ursache für die fortwährende Enstehung informeller Ordnungen innerhalb von sozialen Systemen. 2. Informale Ordnungen entstehen aus Systemeigenschaften: Weitere Anstöße zur Ausbildung informaler Ordnungen gibt das Sozialsystem selbst. "Das gilt z.B. dann, wenn organisationsspezifische Anforderungen den individuellen Bedürfnissen und Interessen besonders stark widerstreiten, wie es leicht bei einem hohen Leistungsdruck in Verbindung mit als sehr schlecht erlebten Arbeitsbedingungen und Einkommensverhältnissen der Fall ist. Dann entwickeln sich vielfältige Formen offener oder verdeckter protestierender Widerstandshaltungen. Sie reichen von der Leistungsverweigerung, Kleinsabotage (der Mann an der Maschine bemerkt die Reparaturnotwendigkeit, meldet sie aber nicht), der Nichtbeachtung organisatorischer Regelungen bis hin zum 'Krankfeiern'." 1 3 Alle diese Verhaltensweisen folgen dem gleichen Grundprinzip. Gegen überzogene Anforderungen des Systems sichert sich eine Gruppe von unmittelbar Betroffenen erträglichere Arbeitsbedingungen. Auslöser sind in allen Fällen unrealistische Normvorgaben des Systems. Wer aber informales Arbeitsverhalten nur unter dem Aspekt fehlender Arbeitsmotivation oder eigennütziger Uminterpretation rationaler Systemvorgaben sieht, greift zu kurz. Informales Arbeitsverhalten entsteht auch aus sachlogischen Erfordernissen. Es resultiert aus strukturellen Eigenschaften der Präferenzordnung, aus ihrer aufgelösten Zeitbindung und aus ihren "generalisierten Anforderungen": Präferenzordnungen konservieren ihre Ursprungssituation und sind damit der Zeitbindung enthoben. Eine Präferenzordnung kann deshalb in einer sich wandelnden Gesellschaft schon aus strukturellen Gründen nur kurz auf der Höhe der Gegenwart sein. Die Rückständigkeit der Präferenzordnung liegt gewissermaßen "im System" und diese strukturelle Rückständigkeit zwingt die Menschen, die als Mitarbeiter in der konkreten Situation unter Entscheidungs- und Handlungsdruck stehen, ggf. auch "gegen den Wortlaut des Gesetzes" zu handeln. Keine Präferenzordnung kann sämtliche denkbaren Vorkommnisse und alle Eventualitäten vorab regeln. Präferenzordnungen arbeiten immer auch mit "generalisierten Erwartungen".^ "Generalisierte Erwartungen lassen inhaltlich mehr oder weniger unbestimmt, was genau erwartet wird 13

14

W.Girschner: Theorie, S.80. Ähnlich abwägend urteilt auch R.Mayntz: Soziologie, S.130f, wo sie darstellt, wie "die Gruppe ebensogut wie die Konformität auch die Abweichung von den von der Organisationsleitung erwarteten Verhaltensweisen stützen kann ... Je bedrückender das innere Klima einer Organisation ist, je mehr eine bestimmte Kategorie von Mitgliedern Zwangsmaßnahmen ausgesetzt ist, um so stärker wird die Tendenz sein, in kleinen Gruppen mit gegen die Organisation, gegen die übergeordnete Autorität gerichteten Normen Schutz und gegenseitige Unterstützung zu gewinnen." N.Luhmann: Grundriß, S.445

2. Entstehung informaler Ordnungen

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zum Beispiel wie die Scherben aussehen werden, wenn man den Teller fallen läßt -. Sie können auch den Zeitpunkt, ja das 'ob überhaupt' des Eintreffens offen lassen ... Durch zeitliche, sachliche und soziale Generalisierungen wird Unsicherheit aufgenommen und absorbiert". Das System verläßt sich darauf, daß die Mitarbeiter/innen in der Praxis schon selbst entscheiden werden, wie sie aufgrund der allgemeinen Vorgaben konkret zu handeln haben. Damit tut sich schon in der formalen Systemordnung ein weiter Interpretations- und Handlungsspielraum auf. Bisweilen muß die Präferenzordnung schon deshalb überschritten werden, weil sie eine bestimmte Situation gar nicht vorgesehen hat. Informales Verhalten ist dann situativ und spontan erforderlich und es ist durchaus im Sinne des Systems. "Zu informellen und ungeplanten Veränderungen der Arbeitsorganisation kommt es ... weil anders ein reibungsloser Arbeitsablauf oder die flexible Beseitigung aufgetretener Schwierigkeiten gar nicht zu bewerkstelligen wäre. Zu den bekannten Beispielen gehören umständliche Dienstwege in der öffentlichen Verwaltung oder schwerfällige Kooperationsregeln. Da geht es eben manchmal schneller und einfacher, wenn Sachbearbeiter aus verschiedenen Ämtern in der Kantine Informationen austauschen oder man eine Maschine mit Hilfe von Improvisationen schnell wieder zum Laufen bringt, bevor auf umständlichem Wege die Instandhaltungsabteilung eingeschaltet wird". Informale Ordnungen entstehen also auch, weil sie schlicht und einfach erforderlich sind, um das System arbeitsfähig zu halten. Sie entstehen aus Defizitsituationen heraus, sie kompensieren aktuell auftretende oder strukturell verankerte Probleme, sie verstetigen die Ablauforganisation, sie vereinfachen komplexe und unübersehbare Situationen oder Sachverhalte. In all dem halten sie das System flexibel, anpassungsfähig und arbeitsfähig. Informale Ordnungen haben also ein Janus-Gesicht. Aus der Perspektive des formellen Systems kann man feststellen, was Niklas Luhmann beobachtet hat: "Das organisatorisch Vorgesehene wird auf der Ebene der Interaktion unterlaufen, deformiert oder gar absichtlich zum Entgleisen gebracht".^ Aber das ist nur die halbe Wahrheit. Informelle Regelverletzungen können durchaus auch systemintern erwünscht sein und erwünschte Folgen haben. Sie überbrükken Schwachstellen der Organisation, sorgen für einen "reibungslosen Arbeitsablauf oder die flexible Beseitigung aufgetretener Schwierigkeiten"^, sie verhindern Erstarrung und fördern die Anpassung des Systems an veränderte Bedingungen. Einerseits sind sie der Sand im Getriebe der wohldurchdachten Systemabläufe, andererseits aber auch das Schmieröl, das den gesamten Apparat am Laufen hält. Das System ist geradezu darauf angewiesen, daß die Mitarbeiter die vorhandenen Leerstellen selbst ausfüllen oder vorhandene Ungereimthei15 16 17 18

N.Luhmann: Grundriß, S.445 W.Girschner: Theorie, S.81 N.Luhmann: Interaktion, S. 1S W.Girschner, Theorie, S.80

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VII. Die Kirchengemeinde

ten selbst überbrücken, und es muß sogar intern auf die Fähigkeit seiner Mitarbeiter/innen setzen, dies auch fortwährend zu leisten. Zugespitzt könnte man sagen, Sozialsysteme brauchen kreative Abweichungen. Sie profitieren von der Dysfunktionalität ihrer Mitarbeiter/innen. Indem sie auch innerhalb des Systems von ihren Kontingenzspielräumen Gebrauch machen und in das System informale Systeme einbauen, mildern die Mitarbeiter/innen die "Härten" des formalen Systems. b) Wie informale Ordnungen entstehen - Eine "Trampelpfadtheorie" des Systemwandels Niklas Luhmann hat in seinem "Grundriß" eine Mikrotheorie des Systemwandels vorgelegt, die sich auch hervorragend eignet, um zu erläutern, warum sich in Sozialsystemen fortwährend informale Ordnungen herausbilden müssen und wie das geschieht. Während nämlich die Präferenzordnung der Zeitbindung weitgehend enthoben ist, unterliegt das soziale Leben, das sich nach den Richtlinien dieser Ordnung vollzieht, gerade einer absoluten und radikalen Gegenwartsbindung. Niklas Luhmann ist der Frage nachgegangen, wie Systeme sich selbst am Leben erhalten: "Da ein soziales System (wie viele andere temporalisierte Systeme, wie alles Leben überhaupt) aus ereignishaften Elementen besteht, steht es in jedem Moment vor der Alternative: Aufhören oder Weitermachen ... Auf Handlung muß Handlung folgen - oder eben gar nichts! " 19 Systeme leben nur auf der Ebene ihrer Elemente, nicht auf der Ebene der Präferenzordnung. Nur hier "ist ein System voll konkretisiert. Nur hier gewinnt ein System zeitweise wirkliche Existenz".20 Anderenfalls existieren soziale Systeme nur als Erinnerung oder als Erwartung. 1. Die radikale Gegenwartsbindung sozialer Systeme: Sozialsysteme gewinnen erst auf der Ebene der Kommunikationsereignisse, die nach Maßgabe von Passagen der Präferenzordnung gestaltet werden, an Leben. Von daher kann man behaupten, daß sie aus einer Vielzahl von einzelnen "Ereignissen", aus "Episoden"21, bestehen. Episoden sind immer nur momenthaft, punktuell und kurzlebig: "In temporalisierten Systemen gibt es keinerlei andere Realitätsgrundlagen als die im System selbst produzierten Ereignisse".22 Und diese Ereignisse verschwinden unaufhörlich mit der Gegenwart in die Vergangenheit. Um zu überleben, muß das System also ständig neue (systemspezifische) Ereig19 20 21

22

N.Luhmann: Grundriß, S.474; vgl. auch S.28 und S.77 N.Luhmann: Grundriß, S.394f N.Luhmann: Grundriß, S.553; Systeme mit temporalisierter Komplexität können "die Elemente nur als Ereignisse vorsehen, sie also nicht festhalten" (Grundriß, S.388); vgl. S.28 und S.79: "Alle Elemente verschwinden. Sie können sich als Elemente in der Zeit nicht halten, sie müssen also laufend neu hervorgebracht werden". N.Luhmann: Grundriß, S.508

2. Entstehung informaler Ordnungen

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nisse hervorbringen. Überspitzt formuliert bedeutet das, daß die unlösliche Verknüpfung von System, Gegenwart und Einzelereignis das System in dem Augenblick zum Verschwinden bringt, wo das Einzelereignis beendet ist. Auf dieser Einsicht gründet Luhmanns Mikrotheorie des Systemwandels. Luhmanns Behauptung scheint der Alltagserfahrung zu widersprechen, die uns doch lehrt, daß soziale Großsysteme keineswegs fragil oder ständig in ihrer Existenz bedroht sind. Sie erscheinen uns vielmehr als stabil, dauerhaft und robust. Das ist nicht falsch, aber es verträgt sich durchaus mit Luhmanns Mikroperspektive. Denn Luhmann kann darauf verweisen, daß sich der Eindruck der äußeren Stabilität oftmals mehr dem Blick auf das Verwaltungsgebäude verdankt als dem Blick auf die darinnen befindliche Verwaltung. Die nämlich hält ihre Stabilität schon bei einer umfangreicheren Grippewelle nicht mehr aufrecht. Um es allgemeiner zu formulieren, sie hält sie nur so lange aufrecht, wie es ihr gelingt, trotz aller Widrigkeiten und Menschlichkeiten ihre Stabilität immer wieder neu zu reproduzieren. In der Regel fällt das nicht auf, weil ein soziales System eben nicht nur aus einer einzelnen Episode besteht, sondern aus einer Vielzahl von Episoden, die sich zeitgleich oder zeitversetzt an zahlreichen Orten hier, da und dort vollziehen. Die Mikroperspektive zeigt, daß gleichwohl in jeder einzelnen Episode die Systemzugehörigkeit selbst auf dem Spiel steht. Ein Beispiel: Wird der Sachbearbeiter meinen Antrag bearbeiten, oder wird er erst einmal die Tageszeitung lesen und anschließend einen Arzttermin wahrnehmen? Systemzugehörigkeit entscheidet sich daran, ob ein einzelnes Ereignis nach den Vorgaben der systemspezifischen Präferenzordnung gestaltet wird. Nur in dem Augenblick, wo das geschieht, wird eine Episode zum Element des Systems. So gesehen, kann man sehr wohl behaupten, daß an dem Ort, wo die Einzelepisode endet, auch das System selbst "erlischt". Dort ist dann nichts mehr (selbst wenn an anderen Orten innerhalb des Systems durchaus noch etwas ist). Solange der Sachbearbeiter beim Arzt ist, bleibt mein Antrag liegen. Hypothetisch könnte man sich vorstellen, daß alle Mitglieder eines Systems zur gleichen Zeit schlafen gehen, so daß von einem bestimmten Zeitpunkt an keine Kommunikationsereignisse mehr nach den Regeln der Präferenzordnung stattfinden. Das System wäre dann nicht mehr existent. Hätten am nächsten Morgen alle Mitglieder die Regeln der Präferenzordnung vergessen, könnte auch das System nicht mehr zum Leben erwachen. Es wäre gestorben. Faktisch geschieht das jedoch nicht. Luhmann hat das berücksichtigt und folglich postuliert, alle sozialen Systeme besäßen die Fähigkeit zu ihrer eigenen Selbstreproduktion. Sie vergehen mit jeder einzelnen Episode. Aber sie bilden sich auch in jeder einzelnen Episode wieder neu.23 Wenn in jeder einzelnen Episode das Gesamtsystem selbst auf dem Spiel steht, kann man auch behaupten, daß jedes einzelne Kommunikationsereignis in 23

Die Fähigkeit zur eigenen Selbstreproduktion bezeichnet er als "Autopoiesis" des Systems. Über Autopoiesis schreibt Luhmann: "Dieser Begriff sagt nur, daß Selbstreproduktion auf der Basis instabiler Elemente (=Ereignisse R.R.) notwendig ist, wenn nicht das System schlicht aufhören soll, zu existieren. Selbstreproduktion ist dann ihrerseits Voraussetzung fur Evolution." - Grundriß, S.503; vgl. auch G.Kiss: Grundzüge, S.90-102

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irgendeiner Weise mit Berücksichtigung (von Teilen) der Präferenzordnung gebildet werden und auf die Präferenzordnung beziehbar sein muß. Die Präferenzordnung enthält ja die Spielregeln für die Gestaltung systeminterner Ereignisse. Sie sind in der Vergangenheit gewonnen worden und stehen nun in der Gegenwart als (wechselseitige) Erwartungen und Bereitschaften zur Verfügung. Um das auszudrücken, prägt Luhmann den Begriff "Selbstreferenz". Selbstreferenz bedeutet, daß soziale Systeme sich "mit jeder Operation auch auf sich selbst beziehen" .24 in jeder einzelnen Episode ist die Präferenzordnung zumindest in Teilen als Verweisungsebene und Entscheidungsprämisse präsent. Solange die Gestaltung der Ereignisse mit Hilfe der systemeigenen Regelungen vorgenommen wird, reproduziert sich das System in der Gegenwart immer wieder neu, indem es (auch) auf die eigenen Systemvorgaben Bezug nimmt. Selbstreferenz ist immer nur ein Faktor der Gesamtsituation. In Form von Erwartungen, Bereitschaften und kommunikationssteuernden Hintergrundvariablen ist sie in der Situation präsent, aber sie ist nicht mit der Situation identisch, und sie ist nicht mit ihr zu verwechseln. Selbstreferenz ist immer nur "mitlaufende" oder "mitschwingende" Selbstreferenz.25 Zusammenfassend läßt sich festhalten: Soziale Systeme sind nie stabil, aber sie sind auch nicht die Blättchen, die der Wind verweht. Systemintern können sie unabhängig voneinander, synchron und zeitversetzt, eine Vielzahl von Ereignissen ablaufen. Je höher die Zahl dieser Einzelereignisse ist, desto stärker verdichtet sich ein Gesamteindruck von Systemstabilität. Tatsächlich aber resultiert der Eindruck von Systemstabilität aus einer Wahrnehmungsunschärfe des beobachtenden Blicks, der mit einer "mittleren Auflösung" arbeitet. Derartige mittlere Auflösungen sind im Kommunikationsalltag weit verbreitet und gut bewährt. Um die Entstehungsbedingungen informaler Ordnungen zu erhellen, genügt die mittlere Auflösung allerdings nicht. Hier ist es erforderlich, sich auf eine Mikroebene der sozialen Kommunikation zu begeben. Auf dieser Mikroebene läßt sich dann erkennen, daß soziale Systeme sich in jeder einzelnen Situation mit Hilfe mitlaufender Selbstreferenz kontrollieren. Sie realisieren und verlieren sich zeitgleich und kontinuierlich in einer Vielzahl von geglückten oder mißglückten einzelnen Kommunikationsereignissen. 2. Die Entstehung informaler Ordnungen aus situativen Normabweichungen (Trampelpfad): Auf dieser Mikroebene der Betrachtung läßt sich nun eine Theorie des Systemwandels entwickeln, die sich von herkömmlichen Vorstellungen über Systemwandel deutlich unterscheidet. Begreift man strukturkonforme Reproduktion (nach Maßgabe der Präferenzordnung) als Kriterium für Systemstabilität, dann läßt sich umgekehrt eine abweichende, innovative, nicht konforme Reproduktion in einer konkreten Situation als Ursprungsimpuls des Systemwandels ansehen. Systeminterne Kommunikation muß ja in jeder be24 25

N.Luhmann: Grundriß, S.593 "Reine Selbstreferenz im Sinne eines 'nur und ausschließlich sich auf sich selbst Beziehend ist unmöglich... Faktisch kommt daher Selbstreferenz nur als ein Verweisungsmoment unter anderen vor". - N.Luhmann: Grundriß, S.604f

2. Entstehung informaler Ordnungen

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stimmten Situation "anschlußfähig" sein, d.h. sie muß so gut verständlich sein, daß weiter gehandelt werden kann^6 U nd der Kommunikationsversuch nicht leerläuft und abgebrochen werden muß. Nun kann es sein, daß eine Situation mit den systemintern zur Verfügung stehenden Mitteln nicht erfolgreich gestaltet werden kann. In diesem Augenblick bietet sich die Strukturabweichung als eine der Möglichkeiten^? an, um den Kommunikationsprozeß dennoch fortsetzen zu können. Luhmann schreibt dazu: "Normalerweise wird die Annahme von Selektionsvorschlägen erwartet, sonst würde ihre Kommunikation unterbleiben. Zugleich läuft aber immer auch, wie immer marginal, die Möglichkeit der Ablehnung mit. Das System immunisiert sich nicht gegen das Nein, sondern mit Hilfe des Nein; es schützt sich nicht gegen Änderungen, sondern mit Hilfe von Änderungen gegen Erstarrung in eingefahrenen, aber nicht mehr umweltadäquaten V e r h a l t e n s m u s t e r n " . 2 8 Situationsbedingte Normabweichungen sind, so gesehen, durchaus etwas Legitimes und auch völlig Alltägliches. Strukturabweichungen in Kommunikationsereignissen sind nicht nur allgegenwärtig, sie lassen sich auch gar nicht verhindern. Sie ermöglichen es den kommunizierenden Menschen, ihre Verständigung auch dann aufrecht zu erhalten, wenn die mitlaufende Präferenzordnung sich als unzulänglich erweist. Mit dieser Behauptung wird der populären Vorstellung widersprochen, sozialer Wandel werde erst durch "Massenerhebungen, Klassenkämpfe, politisierbare kollektive Zielsetzungen oder durch bewußte Rollendistanzierung gegen Strukturzwänge "30 ermöglicht. Situationsbedingte Normabweichungen sind Quellen der Entstehung informaler Ordnungen und Ursprungsimpulse des Systemwandels. Auf der Kommunikationsebene, dort wo Mitgliedschaft gelebt und realisiert wird, ist eine strukturidentische Reproduktion der Präferenzordnung in aller Regel gar nicht möglich. "Dies bedeutet auch, daß Strukturänderungen laufend passieren, ohne als solche angekündigt, gewollt, verantwortet zu sein".31 Sozialsysteme, die, um zu überleben, auf ihre kontinuierliche Selbstreproduktion angewiesen sind, können diese Selbstreproduktion doch nie vollständig und fehlerfrei vollziehen. Die weit überwiegende Mehrzahl der Strukturabweichungen bleibt allerdings folgenlos. "Etwas salopp formuliert: da die Ereignisse sowieso gleich wieder verschwinden ... macht es auch nichts, wenn sie die Form eines Widerspruchs 26 27 28 29

30 31

Vgl. N.Luhmann: Grundriß, S.476 Andere Möglichkeiten wären etwa Rückfragen, Erklärungen, Belehrung, Erziehung. N.Luhmann: Grundriß, S.506f Soziale Systeme sind grundsätzlich nicht stabil. Der Begriff Systemstabilität ist im Prinzip nur noch brauchbar, wenn damit ein rein theoretisch wohl denkbares, faktisch aber nie realisierbares Ereignis bezeichnet wird: die völlig identische Produktion unabhängiger Episoden nach Maßgabe einer unwandelbaren Präferenzordnung. Wenn in der europäischen Geistesgeschichte gleichwohl immer wieder das Desiderat der Systemstabilität (um der Überprüfbarkeit oder der Rechtssicherheit willen) formuliert wurde, dann erfolgte dies auch unter der irrigen Annahme, Unscharfen in der Präferenzordnung seien grundsätzlich negativ und müßten so lange präzisiert werden, bis sie verschwunden sind. - vgl. R.Fleischer: Verständnisbedingungen, S.324-329 G.Kiss: Grundzüge, S.6 N.Luhmann: Grundriß, S.476

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Das kann aber auch anders sein. An dieser Stelle setzt die Trampelpfadtheorie des Wandels an. Es macht nichts aus, wenn irgendjemand irgendwo über eine Wiese läuft. Wenn aber viele Menschen im Verlaufe vieler Monate stets etwa an der gleichen Stelle die Wiese überqueren, bildet sich ein Trampelpfad heraus. Das bedeutet, wenn sich gleichartige Abweichungen in gehäufter Zahl einstellen und ihnen eine gewisse Regelhaftigkeit zuwächst, prägen sie die Erwartungshaltungen der beteiligten Menschen. "Gebranntes Kind scheut jedes Feuer".33 sie lösen sich von der Situationsebene und finden Eingang in den Bereich der mitlaufenden Selbstreferenz. Sie übernehmen dort die Rolle der Präferenzordnung und beginnen ihrerseits, die Ausgestaltung der Situation zu bestimmen. Aus situativen Abweichungen sind dann informale Ordnungen geworden. Die Situation wird dauerhaft nach Maßgabe der bisherigen situativen Erfolgswahrscheinlichkeiten (und nicht mehr nach den Vorgaben der Präferenzordnung) gestaltet. Die neuen Ordnungen haben der offiziellen Ordnung vorraus, daß sie unter dem Anforderungsdruck der Kommunikationssituation entstanden sind. Sie haben sich bewährt, weil sie an die Erfordernisse angepaßt sind. Sie können aber u.U. sehr weit von dem entfernt sein, was die offizielle Präferenzordnung für die Gestaltung der entsprechenden Situation vorsieht. Luhmann ist noch einen Schritt weiter gegangen und hat behauptet, daß Strukturabweichung zum Systemwandel, also zur Veränderung der maßgeblichen Präferenzordnung, führt. Verfestigte Erwartungen, die in größerer Breite innerhalb eines Systems auftreten und ihrerseits kommunikationsleitende Funktion übernehmen, erzeugen einen Druck, der dazu führt, den jeweiligen Aspekt der Präferenzordnung zu modifizieren. An diesem Punkt trifft Luhmanns Theorie nur bedingt auf die Landeskirchen und die Kirchengemeinden zu. Beide sind als wandlungsgehemmte Sozialsysteme nur schwer in der Lage, informalen Ordnungen offiziellen Charakter zu verleihen. In den Landeskirchen verbleiben sie mit hoher Wahrscheinlichkeit überlange auf einer nichtlegalisierten Ebene, verfestigen sich und führen (vielfach geduldet oder sogar gefördert von Kirchen· und Gemeindeleitungen) ein wildwüchsiges Eigenleben. Unter einem anderen Gesichtspunkt ist Luhmanns Theorie des Systemwandels aber durchaus auf innerkirchliche Verhältnisse übertragbar. Der entscheidene Anstoß zu Veränderung kommt "von unten", er wird an der Basis erzeugt. Änderungen, die sich längst schon "im kleinen", in einer Vielzahl von Einzelsituationen, bewährt haben, führen zu sukzessive verfestigten Erwartungshaltungen und können schließlich auch die Veränderung der Präferenzordnung bewirken. 34 Nur im annehmen".32

32 33

34

N.Luhmann: Grundriß, S.508 "Die Generalisierung von Erwartungen auf Typisches und Normales hat mithin eine Doppelfunktion: Sie vollzieht einerseits eine Selektion aus der Gesamtheit angezeigter Möglichkeiten ... und sie überbrückt Diskontinuitäten in sachlicher, zeitlicher und sozialer Hinsicht, so daß eine Erwartung auch dann noch brauchbar ist, wenn die Situation sich geändert hat: Das gebrannte Kind scheut jedes Feuer." - N.Luhmann: Grundriß, S.140 "Interaktionssysteme können zur gesellschaftlichen Evolution beitragen oder auch nicht; sie tragen bei, wenn sie Strukturbildungen anbahnen, die sich im Gesellschaftssystem bewäh-

2. Entstehung informaler Ordnungen

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Nachhinein werden die Veränderungen der systemintern u.U. längst schon etablierten Kommunikationserwartungen als "Systemwandel" interpretiert und in die Präferenzordnung aufgenommen. Die Präferenzordnung zieht nach, sie aktualisiert die Eindrücke ihrer Quellsituation und verbessert ihre situative Relevanz. Das bedeutet aber umgekehrt, daß jede Veränderung der Präferenzordnung, die "von oben", also durch die Leitungsebene, erfolgt, "unten" einer Bewährungsprobe unterzogen wird. Nur was sich in der Situation bewährt, wird Bestand haben. Damit ist ein wichtiges Kriterium für die Anpassung landeskirchlicher Präferenzordnungen erkannt: Es reicht nicht aus, neue Paragraphen in ein Gesetzbuch, eine Satzung oder eine Ordnung aufzunehmen. Im Leben des Systems sind sie erst dann verankert, wenn sie situativ brauchbar sind und sich im Kommunikationsalltag des Systems bewähren. c) Merkmale und Eigenarten informaler Ordnungen 1. Informale Ordnungen sind im besten Sinne menschliche Ordnungen. Das System kennt in seiner offiziellen Präferenzordnung lediglich den Rollenträger, der nur so lange als ein Teil des Systems anzusehen ist, wie er sich systemspezifisch verhält. Die offizielle Ordnung schließt die Restkontingenz des Menschen aus. Über den Umweg informaler Ordnungen aber kommt sie wieder in das System zurück. In informalen Ordnungen kommen auch andere Aspekte des Mensch-Seins zum Ausdruck, der Mensch mit seinen individuellen Stärken und Schwächen, der Mensch mit persönlichen Interessen und Bedürfnissen, der Mensch mit Kreativität, Phantasie, Lernfähigkeit und Problemlösungskompetenz. 2. Unter der Decke ihrer stabilen Ordnung befinden sich alle Sozialsysteme in ständiger Bewegung und im ständigen Bemühen um die Herstellung informaler Gleichgewichte zwischen Mensch, Mitarbeiter und Präferenzordnung. Mit seiner zeitenthobenen Präferenzordnung wäre ein System lediglich ein totes Stück Papier, würde es nicht durch die Mitglieder und auch durch ihre kalkulierten Regelverstöße lebendig erhalten. Informales Verhalten kompensiert die strukturellen Schwächen der Präferenzordnung. 3. Wer auf die Existenz informaler Verhaltensweisen lediglich mit blinder Kritik und der Androhung von Disziplinarmaßnahmen reagiert, übersieht deren anlaßbezogene Folgerichtigkeit. Informale Ordnungen entstehen und stabilisieren sich als Reaktion auf aktuell wirksame Anlässe und konkrete Erfahrungen innerhalb des Systembetriebs. Die Mitarbeiter/innen stellen sich auf ihre eigenen Erfahrungen ein und versuchen, "unter den gegebenen Verhältnissen" das Beste aus einer Situation zu machen. Die informalen Ordnungen, die daraus entstehen, sind situativ motiviert und stellen aus Sicht der Handelnden plausible Reaktionen dar. ren." - N.Luhmann: Grundriß, S.575. In diesem Sinne lassen sich Interaktionen auch als "riesiges Versuchsfeld" (S.575) systemischer Evolution bezeichnen.

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4. Informale Ordnungen können wirksamer und zählebiger sein als offizielle Präferenzen. Aber sie sind nur so lange gültig, wie sie sich in der Praxis auch bewähren. Sie unterliegen einer permanenten Relevanzkontrolle. Wenn sie ihre Funktionen nicht mehr erfüllen, werden sie durch andere Spielregeln ersetzt. 5. Informale Ordnungen lassen sich auch nutzentheoretisch verstehen (s.o. Kap. VI 3.2d). In Sinne der Maxime von der Verstetigung des größtmöglichen Nutzens bemühen sich Mitarbeiter wie Mitglieder darum, den Spielraum auszuloten und auszuschöpfen, den sie systemintern besitzen, ohne darüber ihren Verbleib im System zu gefährden. Informale Ordnungen folgen häufig dem Prinzip der Minimierung von Anstrengung oder Komplexität. 6. Informale Ordnungen unterliegen einer eigenen Entwicklungsdynamik. Wenn sie nicht kontrolliert und reflektiert werden, verselbständigen sie sich. Über täglicher (an informalen Kriterien und Impulsen orientierter) Entscheidungsroutine kann der maßgebliche Wortlaut der Präferenzordnung in Vergessenheit geraten. Ist die Präferenzordnung ohnehin geschwächt, wird sie verdrängt. Die informalen Ordnungen sichern dann den Systemerhalt und die Systemkohärenz. 7. Obwohl informale Ordnungen und informales Verhalten für die flexible Anpassung und den Fortbestand des Systems unerläßlich sind, neigen Sozialsysteme dazu, deren Existenz weitgehend zu ignorieren. Dies erfolgt aus Gründen der Funktionserfüllung (Systeme besitzen Orientierungsfunktion. Sie garantieren Ordnung, Überschaubarkeit und Erwartbarkeit), aber auch aus Gründen der Steuerbarkeit. Das System vermeidet es, sich seiner Achillesfersen bewußt zu werden, der Menschlichkeit seiner Mitarbeiter/innen, der Unzulänglichkeit seiner Ordnungen und der Unplanbarkeit der Situationen. Es tabuisiert seine eigenen Schwachstellen. 8. Reformvorschläge, Innovationskonzepte und systeminterne Reorganisationsversuche sind zum Scheitern verurteilt, wenn sie die geheimen Spielregeln des Systems unbeachtet l a s s e n . 35 Weil informale Ordnungen in der Praxis entstehen und sich täglich in der Praxis zu bewähren haben, sind sie hochgradig resistent gegenüber grauer Theorie oder praxisfremden Vorstellungen und Anforderungen.

3. Informale Ordnungen in den Ortskirchengemeinden Die tägliche Arbeit in den Parochien vollzieht unter ständigem Einwirken eines Geflechtes von Spannungsfelder und Konfliktzonen. Die Kirchengemeinden können die Spannungen, anders als die Leitungsebenen der Landeskirchen, nicht einfach überspielen, marginalisieren oder aussitzen, denn jeder einzelne 35

Dies ist die Kemthese von P.Scott-Morgan und A.D.Little, Spielregeln. Sie haben sie in ihrem Buch ausführlich begründet und erläutert.

3. Informale Ordnungen in den Ortskirchengemeinden

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Fall ruft an seinem Entstehungsort nach Antworten, Stellungnahmen und Entscheidungen. Damit provozieren die Spannungs- und Konfliktfelder ununterbrochen situationsspezifisches, informales Vorgehen und informale Lösungen. Die Folgen liegen auf der Hand. Die informalen Lösungen, die in den Kirchengemeinden gefunden worden sind, haben sich schon längst zu informalen Ordnungen verfestigt. In den Ortskirchengemeinden vollzieht sich dezentral ein großflächiger Systemwandel, die Neuorientierung der gesamten Gemeindearbeit an informalen Ordnungen. Die Einheit der Landeskirchen und ihrer Präferenzordnungen ist zerfallen und sie zerfällt weiter, weil brauchbare und praktikable Vorgaben der Präferenzordnungen entweder fehlen oder aber schon längst nicht mehr greifen. An die Stelle der gemeinsamen Ordnungen ist ein breites Spektrum ortsspezifisch ausgeprägter Lösungsstrategien und Verhaltensweisen getreten. Ehe die "geheimen Spielregeln" der Gemeindearbeit und des Gemeindelebens inhaltlich dargestellt werden, sollen einige methodische Vorbemerkungen und Einschränkungen vorweg geschickt werden: 1. Informale Ordnungen kursieren im Kreis der Betroffenen. Sie werden bisweilen sogar in diesem Kreis selbst verheimlicht oder auch nur unbewußt verfolgt. Sie werden weder gedruckt noch publiziert. 2. Die folgenden Darstellungen streben keinerlei Vollständigkeit an. Stattdessen wird eine Auswahl charakteristischer Problemkonstellationen analysiert. Bei der Auswahl der Aspekte ging es darum, den Nachweis zu führen, daß auch die informalen Ordnungen des Gemeindelebens nicht subjektiver Willkür oder gar Destruktivität entspringen, sondern daß sie selbst dann, wenn sie bedenkliche Züge annehmen (was teilweise durchaus der Fall ist), situativ folgerichtig und damit plausibel sind. Sie entstehen als Reaktion auf konkrete, u.U. tagtäglich einwirkende Gegebenheiten. 3. Die nachfolgend dargestellten Beobachtungen wurden zum überwiegenden Teil im Verlauf einer zehnjährigen Tätigkeit im Gemeindedienst der evangelischen Kirche im Rheinland gemacht. Zwar wird die Darstellung darum bemüht sein, sich nicht in regionalen Besonderheiten zu verzetteln. Aber es liegt in der Eigenart der informalen Ordnungen, die ja stets problembezogen und situationsgebunden entstehen und sich in konkreten Situationen auch wieder zu bewähren haben, daß das Bild gleichwohl regionale und subjektive Züge behalten wird. Die vorgetragenen Eindrücke lassen sich nicht pauschalisieren. 4. Die Aussagekraft der Darstellung wird von daher unterschiedlich empfunden werden. Vieles ist ergänzungsbedürftig und auch ergänzungsfahig. Es ist zu erwarten, daß an anderen Orten und in anderen Landeskirchen vieles anders erlebt und erledigt wird. In derartigen Fällen würde der Wert der Darstellung zumindest darin liegen, die Existenz der informalen Ordnungen bewußt (auch wenn sie im einzelnen nicht zutreffend beschrieben worden sind) und sie damit der persönlichen Reflexion und der wissenschaftlichen Diskussion zugänglich gemacht zu haben.

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VII. Die Kirchengemeinde

Sechs Teilbereiche der Ortskirchengemeinde sollen behandelt werden: Die Gemeindeleitung unter dem Stichwort "Gemeinde verwalten" (3.1), die Pfarrer/innen: "Familienpflege" (3.2), die hauptamtlichen Mitarbeiter/innen: "(k)ein ganz normales Beschäftigungsverhältnis" (3.3); die Mitglieder: "Kirche bei G e l e g e n h e i t " ^ (3.4); die ehrenamtlichen Mitarbeiter/innen: "Von der Nützlichkeit des Engagements" (3.5) und die Gemeindehausbesucher: "Von der Nützlichkeit des Gemeindehausbesuchs" (3.6). Die Entstehungsvoraussetzungen werden jeweils zunächst kurz dargestellt bzw. in Erinnerung gerufen, um daran anschließend darzustellen, welche informalen Verhaltensweisen oder Ordnungen ihnen entsprechen.

3.1 Gemeindeleitung: Gemeinde verwalten a) Entstehungsbedingungen Unter "Gemeindeleitung" soll hier ein konzeptionell verantwortetes, aktives Systemsteuerungsverhalten verstanden werden, wohingegen die kontinuierliche Fortschreibung gewohnheitsmäßig verfestigter Ordnungen und Verfahrensabläufe als "Gemeindeverwaltung" bezeichnet w i r d . E s ist kein Zufall, daß die Kirchenvorstände und Presbyterien ihre Kirchengemeinden, gemessen an dieser Sprachregelung, höchst selten einmal leiten, sondern sie sehr viel häufiger lediglich verwalten. Zunächst werden fünf Faktoren genannt, die dieses Leitungsverhalten nahelegen: die Kirchenordnung (1.), das Presbytergelübde (2.), das Presbyterium im gruppendynamischen Fließgleichgewicht (3.), Rechtsdenken und bürokratische Verwaltung (4.), die Komplexität der Gemeinde und die Hybridstruktur der Gemeindearbeit (5.). 1. Die Kirchenordnung: Die "Gemeinden unter dem Kreuz" besitzen bis heute in der Rheinischen Kirche eine mentalitätsprägende Bedeutung. Die Rheinische Kirchengeschichte kennt zahlreiche Beispiele dafür, daß evangelische Kirchengemeinden in den Not- und Verfolgungszeiten des 16. und 17. Jahrhunderts völlig ohne pastorale Leitung oder Versorgung überleben mußten und selbst unter widrigsten Umständen tatsächlich überlebt h a b e n . Auch die Kirchengemeinden, die seit dem Beginn des 18. Jahrhunderts in zunehmendem Maße neu gegründet wurden, entstanden in der Regel auf Initiative von ortsansässigen Laien hin. Solche neu gegründeten Kirchengemeinden besaßen zunächst ledig 36 37

38

Nach dem Buchtitel von M.Nüchtem: Kirche bei Gelegenheit, Stuttgart 1991 Zum folgenden K.Foitzig: Arbeitsplatz Kirchengemeinde: Lerngemeinschaft zwischen Verwaltung und Verheißung, Gütersloh 1989; J.Tries: Aufbrüche II: Curriculum Leitungsfunktion, hg.v. Rhein. Verband Evgl. Tageseinrichtungen für Kinder e.V., Lenaustr. 41, 4000 Düsseldorf 30, 1989; H.-U.Perels: Wie führe ich eine Kirchengemeinde? Möglichkeiten des Managements, Gütersloh 1990; H.Lindner: Kirche, S.255-284 A.Rosenkranz: Kurze Geschichte der Evangelischen Kirche im Rheinland bis 1945, Neukirchen 21975, S. 18-65

3.1 Gemeindeleitung: Gemeinde verwalten

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lieh ein Presbyterium, in dem die führenden Köpfe der Ortsgemeinde versammelt waren, einen eigenen Pfarrer oder eine eigene Kirche hatten sie (noch) nicht. Nachdem sich die Gemeinden gefestigt hatten, gründeten sie Schulen, organisierten die Diakonie und verfügten aufgrund der Mitgliederzusammensetzung der Presbyterien nicht selten auch über den sozialen Einfluß, der es ihnen gestattete, die Kirchenzucht auszuüben. Nicht nur "unter dem Kreuz", sondern auch in den nachfolgenden Generationen bildete sich auf diese Weise aus den unmittelbaren historischen Gegebenheiten heraus die Überzeugung von der Priorität der Gemeinde vor dem pastoralen Dienst aus, die bis heute in vielen Rheinischen Presbyterien anzutreffen ist. Sie entspricht den faktischen Gegebenheiten in den Gründungszeiten der Gemeinden. Darüber hinaus ist sie auch durch den Umstand legitimiert, daß die Laien in den Presbyterien tatsächlich einmal in der Lage waren, ihren Bekentnisstand zu wahren, weil sie seine Eigenart kannten. In Übergangs- und Umbruchzeiten haben viele Gemeinden bis in unser Jahrhundert hinein immer wieder unter Beweis gestellt, daß sie auch ohne pastorale Betreuung Gottesdienste, Unterricht und Seelsorge selbständig fortführen konnten. Derartige Konstellationen hat die Kirchenordnung der Rheinischen Kirche in ihrem Artikel 105^9 vor Augen, in dem es heißt: "Das Presbyterium hat die Aufgabe a) über der rechten Verkündigung des Wortes Gottes und der rechten Verwaltung der Sakramente in der Gemeinde zu wachen; b) darauf zu achten, daß der Bekenntnisstand und die Ordnung der Gemeinde gewahrt werden; c) Sorge zu tragen, daß der missionarische Auftrag der Gemeinde erfüllt und denen nachgegangen wird40, die sich nicht am Gemeindeleben beteiligen ...41 e) den Geboten Gottes auch im öffentlichen Leben Geltung zu verschaffen; f) für die Diakonie der Gemeinde zu sorgen; g) als rechter Haushalter die Verwaltung der Gemeinde zu verantworten; h) die Gemeinde im Rechtsverkehr zu vertreten. " Unter den veränderten Verhältnissen der Gegenwart kann ein Presbyterium durchaus noch in der Lage sein, einige der ihm auferlegten Verpflichtungen zu erfüllen. Der Text hat aber doch, verglichen mit den Gegebenheiten des 17. oder des 18. Jahrhunderts, erheblich an Evidenz und Praktikabilität eingebüßt. Er konserviert Plausibilitätsstrukturen aus einer vergangenen Zeit. Die homogene (Bürger-)Gesellschaft mit einheitlichen Glaubens- und Moralstandards, auf 39 40 41

In der hier zitierten überarbeiteten Neufassung von der Landessynode 1995 angenommen. Bis 1995 stand im alten Art 105 KO noch der ergänzende Satz "die kirchliche Zucht zu üben". Dieser Satz ist bei der Überarbeitung des Artikels gestrichen worden. Unter d) folgt ein "moderner" Einschub: "Sorge zu tragen, daß Schwerpunkte in der Gemeindearbeit entwickelt werden."

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ΥΠ. Die Kirchengemeinde

die eine Kirchengemeinde qua Presbyterium einwirken könnte, ja, die sie selbst repräsentiert, gibt es schon lange nicht mehr. Aber es gibt regelmäßig Neuwahlen zum Presbyterium. Man muß sich nur einmal vorstellen, daß ein Bewerber vor einer solchen Wahl seine Pfarrerin bittet, ihm doch zu erklären, welche Aufgaben denn das Presbyterium hat. Die Situation ist real. Beide schlagen die Kirchenordnung auf. Die Pfarrerin gerät ins Schwitzen, der Kandidat ins Grübeln. Wie kann man denn einem gutwilligen Bewerber heutzutage die Aufgabe erläutern, denen "nachzugehen, die sich nicht am Gemeindeleben beteiligen"? Wie auch immer man es dreht und wendet, es wird schon im ersten Gespräch über den Absätzen des Artikels 105 der Eindruck entstehen, daß in der Kirchenordnung Dinge stehen, die man doch besser nicht allzu wörtlich nimmt. Es ist nicht verwunderlich, wenn in der Rheinischen Kirche viele Prebyterinnen und Presbyter gewählt werden, ohne das Wort "Kirchenordnung" auch nur zu Gehör, geschweige denn das Buch selbst zu Gesicht bekommen zu haben. 2. Das Presbytergelübde (Art.84 Rhein.KO): Sehr viel kritischer noch als im Artikel 105 KO kommt die Aufhebung der Zeitbindung (ein typisches Merkmal aller Präferenzordnungen) im Artikel 84 KO zum Ausdruck. Dort steht der Text des Gelübdes, das alle Presbyter/innen im Rahmen eines Einführungsgottesdiensts mit den Worten ablegen: "Ja, mit Gottes Hilfe". Der Text lautet: "Seid ihr bereit, das Euch übertragene Amt in der Leitung unserer Kirche im Gehorsam gegen das Wort Gottes und in der Bindung an das Bekenntnis der Kirche sorgfältig und treu auszuüben? Versprecht Ihr, über Lehre und Ordnung unserer Kirche zu wachen, bei allen Euch anvertrauten Aufgaben und Diensten die geltenden Ordnungen unserer Kirche zu beachten und in allem danach zu trachten, daß die Kirche auf dem Wege der Nachfolge Christi, ihres einen Hauptes, bleibe?" Dieses Gelübde besaß ein konkretes semantisches Profil, so lange es noch Laienpresbyterien gab, die jederzeit in der Lage waren, ggf. auch ohne Pfarrer die Geschicke ihrer Gemeinde konfessionell, theologisch, geistlich, organisatorisch und materiell in ihre eigenen Hände zu nehmen. Seither aber hat sich die Gesellschaft weiterentwickelt und ausdifferenziert. Die Komplexität in allen Bereichen des Lebens ist stark angestiegen, parallel dazu haben Spezialisierung und Professionalisierung aller Art zugenommen. Auch die innerkirchlichen Verhältnisse sind dieser Entwicklung gefolgt. Die theologische Ausbildung hat sich historisiert. Sie ist vielschichtiger, aber auch unüberschaubarer geworden. Die Religiosität der Bevölkerung hat sich entkirchlicht, entkonfessionalisiert, entdogmatisiert und entdifferenziert. Kann man vor diesem Hintergrund tatsächlich noch davon ausgehen, daß denen, die da ihr Gelübde sprechen sollen, klar ist, was mit "Wort Gottes" und "Bekenntnis unserer Kirche" (angefangen von der Bibel über das Nicänum und die reformatorischen Bekenntnisschriften bis hin zu Barmen) inhaltlich gemeint ist? Wie sollen Laien über Lehre und Ordnung der Kirche wachen, wenn sie die Ordnungen gar nicht kennen und selbst die Pfarrer/innen untereinander darüber kontroverse Ansichten vertreten? Schließ-

3.1 Gemeindeleitung: Gemeinde verwalten

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lieh gibt es in den evangelischen Landeskirchen Deutschlands weit und breit keinen Konsens darüber, was der "Weg in der Nachfolge Christi" ist und wie er genau aussieht. Trotz alledem wird von den Laien erwartet, sich auf dies alles in einem Gottesdienst vor Gott und vor der versammelten Gemeinde zu verpflichten. 3. Das Presbyterium im gruppendynamischen Fließgleichgewicht: Im Presbyterium sind Menschen mit völlig unterschiedlichen Erfahrungen, Gemeindebildern und Erwartungshorizonten versammelt.^ Schon in der Zusammensetzung der Presbyterien gibt es Bruchlinien, die die Einheit dieses Leitungsgremiums strukturell bedrohen. Eine erste Bruchlinie verläuft zwischen den akademisch ausgebildeten Theologen und den nicht theologisch vorgebildeten Mitgliedern.43 Mit dem elaborierten Religions- und Glaubenswissen der Theologen kann normalerweise kein Laienmitglied mithalten. Andererseits aber werden Pfarrer/innen vom Presbyterium gewählt. Hier tritt das Presbyterium als Entscheidungsgremium in einer Machtposition auf, die lange in Erinnerung bleiben und durchaus auch auf den Umgang mit bereits amtierenden Pfarrer/innen durchschlagen kann. Schließlich trennt beide, daß die Berufschristen für ihre Tätigkeit bezahlt werden, wohingegen die Laienmitglieder unentgeltlich tätig sind. Im Zweifelsfall können Beschlüsse des Presbyteriums (auch in Anbetracht des Zahlenverhältnisses^) die Weisungsmacht der Laienmehrheit demonstrieren. Wechselseitige Unterlegenheits- und Überlegenheitsgefühle, aber auch Macht- und Ohnmachtempfindungen sind Sollbruchlinien zwischen Theologen und Nichttheologen. Sie werden durch die Normvorstellung vom geschwisterlichen Miteinander nur unzureichend und bis auf Widerruf verklammert. Eine zweite Bruchlinie verläuft zwischen Mitgliedern mit qualifizierten Berufserfahrungen, die in der Gemeindeleitung dringend benötigt werden (Ingenieur- und Bauberufe; Finanzberufe; Verwaltungsberufe) und Mitgliedern, die weniger spezielle Qualifikationen, in jedem Fall aber ihre persönlichen Erfahrungen in der Gemeinde bzw. im Gemeindehaus und ihren gesunden Menschenverstand e i n b r i n g e n . V o r diesem Hintergrund kann es zur Ausbildung eines Autoritàtsgefálles unter den nichttheologischen Mitgliedern des Presbyteriums kommen. Zwar sind alle im geistlichen Sinne Geschwister, aber einige Geschwister haben immer das letzte Wort. Sieht man einmal von den Pfar42 43 44

45

Vgl. etwa K.-W.Dahm: Verbundenheit mit der Volkskirche: Verschiedene Motive - Eindeutige Konsequenzen?, in: J.Matthes (Hg.): Erneuerung, S.l 13-159 Dazu W.Lück: Der Pfarrer und sein Kirchenvorstand. Eine komplizierte Beziehung, in: PTh 78/1989, S.l39-152 Rheinische Presbyterien sind Laiengremien unter pastoraler Mitwirkung und in der Praxis zumeist auch unter pastoraler Leitung. Ohne ins Detail gehen zu wollen, kann man feststellen, daß in der Regel jeweils vier Presbyterstellen auf eine Pfarrerstelle entfallen. Bei drei Pfarrbezirken in einer Gemeinde bilden drei Pfarrer/innen, 12 Presbyter/innen und ein/e Mitarbeitervertreter/in das Presbyterium der Ortskirchengemeinde. Die Überzahl der Laienstimmen entspricht presbyterialer Tradition. Zur Zusammensetzung der Kirchenvorstände in der Bayerischen Kirche vgl. H.Lindner: Kirche, S.267f

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VII. Die Kirchengemeinde

rer/innen ab, dann verfügen lediglich die Inhaber der Kirchmeisterpositionen (Baukirchmeister/in, Finanzkirchmeister/in und Diakoniekirchmeister/in) über eindeutig abgegrenzte Kompetenzen. Nur wer eine solche Position bekleidet, besitzt ein eigenes Terrain genuiner Zuständigkeit. Er ist wichtig und häufig auch profilbildend für Selbstverständnis und Arbeitsstil der Gemeindeleitung und das Konzept der Gemeindearbeit. Wer als Nichttheologe aber keine derartige Funktion bekleidet, befindet sich auf dem Terrain der ungeklärten Zuständigkeiten und muß sich zunächst einmal selbst Kompetenzerwartungen und Gehör verschaffen. Hier eröffnet sich der Gruppendynamik ein weites Feld. Die offene Struktur des Leitungsorgans führt dazu, daß auch Kirchmeister/innen, die die in sie gesetzten Erwartungen (menschlich oder fachlich) nicht erfüllen, informal degradiert und zum Spielball der Gruppe werden können. Eine dritte Bruchlinie entsteht entlang des Aktivitätsgrades der Presbyter/innen. Die Kirchenordnung hat eine Hürde errichtet, die theoretisch nur von solchen Gemeindemitgliedern zu nehmen ist, die sich intensiv und regelmäßig am "Leben" der Gemeinde beteiligen. In Artikel 84 KO heißt es: "Das Presbyteramt kann nur solchen Gemeindegliedern übertragen werden, die sich durch gewissenhafte Erfüllung der Pflichten evangelischer Gemeindeglieder als treue Glieder der Gemeinde bewährt haben." Persönliches Engagement, ehrenamtliche Leitungsfunktionen und regelmäßiger Kirchgang qualifizieren zum Presbyteramt. Das führt dazu, daß Mitglieder des Presbyteriums den Gemeindehausbetrieb überproportional stark r e p r ä s e n t i e r e n . 4 6 Wer viele ehrenamtliche Tätigkeiten ausübt, kann auf einen stärkeren Rückhalt in der "Kerngemeinde" bauen und wird mit sehr viel größerer Wahrscheinlichkeit gewählt als ein unbekannter Kandidat. Stärkerer Rückhalt bedeutet aber auch eine stärkere Position im Presbyterium. Anders verhält es sich mit den "Quereinsteigern", die als Neuzugezogene, Konfirmandeneltern oder Kindergarteneltern in das Presbyterium gewählt werden, weil bei der Kandidatensuche die hohen Hürden der Kirchenordnung u.U. gar nicht aufrecht zu erhalten sind. Sie kommen schon als "zweite Wahl" ins Presbyterium, haben keine Lobby im Gemeindehaus und werden nicht selten zunächst einmal mehr oder weniger mißtrauisch beäugt. Zumindest in den ersten Jahren ihrer Tätigkeit haben sie eher wenig Einfluß. Gerade in dieser Zeit aber werden die maßgeblichen Einstellungen und Orientierungen erworben. Man lernt "den Betrieb" kennen. Das bedeutet, daß diejenigen, von denen am ehesten zu erwarten ist, daß sie die Interessen der überwiegenden Mehrheit aller Gemeindemitglieder, die durchschnittliche protestantische Volkskirchlichkeit, vertreten, im Presbyterium zu wenig Gehör finden. Wenn sie dann nach Jahren der Zugehörigkeit zunehmend akzeptiert werden, haben sie u.U. längst vergessen, was sie urspünglich einmal bewegt und beschwert hatte. 46

Vgl. auch die Umfragedaten aus einer Erhebung unter Kirchenvorstandsmitgliedern im Evangelischen Dekanatsverband Wiesbaden W.Lück: Pastorenkirche? Mitgliedschaft und Mitarbeit in der Kirche aus der Sicht der Öffentlichkeitsarbeit, in: WPKG 66/1977, S.286290

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Das Presbyterium ist also keineswegs eine homogene Grappe, sondern allenfalls ein filigranes Netzgeflecht unterschiedlichster Kompetenzen, Qualifikationen, Macht- und Einflußmöglichkeiten. Es besitzt nur wenig dauerhafte, aber sehr viele aushandelbare Strukturen. Es befindet sich ständig in einem labilen Fließgleichgewicht. Seine Rollen- und Kompetenzverteilungen müssen (insbesondere nach Mitgliederwechseln) immer wieder neu ausgehandelt und u.U. auch von den Positionsinhaber/innen selbst ständig neu verteidigt werden. Zumeist geschieht das, wie es in Gruppen allgemein üblich ist, nicht direkt und offen, sondern auf implizite und nichtverbale Weise, manchmal aber auch im Affront und in unmittelbarer Konfrontation. Gerade wegen der zahlreichen nicht festgelegten Positionen kann presbyteriale Gemeindeleitung ein sehr anspruchsvolles und ambitioniertes Unterfangen sein. Es kommt tatsächlich darauf an, was die jeweilige Gruppe in der Praxis daraus macht. Die offene Struktur bringt eine hohe Anpassungsfähigkeit an veränderte Gegebenheiten mit sich. Nahezu alles kann intern ausgehandelt und ggf. anders oder besser gemacht werden. Das Leitungsgremium kann flexibel auf neue Erfordernisse reagieren. Wenn es gut läuft, ist das presbyteriale Leitungsmodell ein richtungweisendes und vorzeigbares Modell demokratischer Leitung. Gleichberechtigung steht nicht nur auf dem Papier, wenn es dem Presbyterium tatsächlich gelingt, ein Klima zu pflegen, in dem es weder Herren noch Knechte, weder Titel noch Privilegien gibt. Es gibt Presbyterien, denen das gelingt. Allerdings ist das auch ein Unternehmen, das mit ständigen Gratwanderungen verbunden ist. Es scheitert in der Praxis nicht selten an den "Menschlichkeiten". Wenn die Menschen nicht "mitspielen", dann ist die presbyteriale Leitung deutlich weniger als andere Leitungsformen vor Deformierungserscheinungen geschützt - dies ist die Rückseite der vorsätzlichen Offenheit. Presbyteriale Leitung kann zur Pfarrerdiktatur ausarten. Das Presbyterium kann von einem Küchenkabinett aus Pfarrer/in und Kirchmeister(n) geleitet werden, das die restlichen Mitglieder zu Stimmvieh degradiert. Presbyterien können aber auch zu einer schlechten Kopie anderer Leitungsvorbilder werden, etwa zum "Stadtrat", zum Aufsichtsrat, zum Arbeitgeber usw. In derartigen Fällen haben die angestellten Mitarbeiter/innen oft wenig Freiraum und noch weniger Freude an ihrem Beruf. Man sieht, wie zahlreich die Gefährdungen sind, die das ambitionierte Projekt "demokratische Gemeindeleitung" zum Scheitern bringen können und in der Praxis oft genug auch tatsächlich scheitern lassen. 4. Rechtsdenken und bürokratische Verwaltung: Bis heute trägt die Landeskirche mit der Verrechtlichung ihrer Ordnungen und ihrer bürokratisch organisierten Verwaltung funktionale Erfordernisse aus der Zeit des landesherrlichen Kirchenregiments mit sich herum. Die Verrechtlichung war ein Erfordernis fürstlicher und staatlicher Leitungsinteressen. Sie ermöglichte es, die Landeskirchen in das jeweilige Staatswesen einzubinden. Im Hinblick auf das innere Selbstverständnis der Landeskirchen erwies sich die juristische Codierung immer schon als sperriges Vehikel. Durch die Ausdifferenzierung der Gesellschaft hat

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sich das Problem verschärft. Nach Luhmann akzeptiert das Rechtsdenken als eigenständiger Systembereich der Gesellschaft nur die Leitdifferenz "recht" / "unrecht". Eine verrechtlichte Kirche ist von daher gezwungen, sämtliche innerkirchlich relevanten Sachverhalte in rechtlichen Kategorien (Gesetz, Verordnung, Verfügung, Anweisung usw.) zu formulieren. Dagegen aber sträuben sich nicht wenige Tatbestände eines Religionssystems, das eigentlich beansprucht, vom konstitutiven Bezug auf das Heilige, von der persönlichen Glaubensüberzeugung der Mitglieder und der christlichen Ethik zu leben. Wie läßt sich - im Extremfall - das spontane, herkömmliche Normen geradezu demonstrativ mißachtende Engagement Jesu Christi in rechtsrelevante Kategorien einpassen? Aber auch schon deutlich bescheideneren Erfordernissen eines christlichen Religionssystems zeigt sich das Rechtsdenken nicht gewachsen. Paragraphen eigenen sich hervorragend, um die geregelte Ordnung und damit auch die Steuerbarkeit eines Systems zu garantieren. Ein Kirchenordnungsparagraph aber, der wie der Artikel 14 KO der Rheinischen Kirche im Jahr 1996 noch immer darauf abzielt, sämtliche Mitglieder auf ein normiertes, regelgerechtes Religionsverhalten zu verpflichten, ist, man kann es nicht anders sagen, eine Farce. Zahlreiche weitere Beispiele für die Auswirkungen dieser Codierungsproblematik ließen sich hinzufügen. Wenn sich also die Arbeit der Presbyterien in der Orientierung an juristischen Kategorien vollzieht, dann ist unvermeidlich, daß sie von dieser Seite her immer wieder mit Problemen belastet wird, deren Entstehungsursache in der Inkompatibilität der Leitdifferenzen zu suchen ist. Ein Presbyterium hat Verwaltungsordnungen einzuhalten, Formen und Fristen zu wahren, Dienstwege zu beachten, seine Beschlußfähigkeit zu sichern usw. Natürlich darf man die bürokratische Ausrichtung der kirchlichen Verwaltung nicht nur negativ beurteilen. Sie kann, wenn sie konstruktiv und mit vorausschauender Einfühlsamkeit gehandhabt wird, durchaus die Vorteile mit sich bringen, die schon Max Weber erkannt hatte. Aber sie ist eben nicht grundsätzlich davor geschützt, zu degenerieren und als Formalbürokratie dann mehr Bremsklotz und Hindernis zu sein als Stütze zur Absicherung demokratischen Leitungsverhaltens. An der Bruchstelle zwischen geistlichem Selbstverständnis, religiös motiviertem Engagement und juristischer Codierung sprühen in der Praxis der Gemeindeleitung immer wieder die Funken. Hier entzündet sich manche amüsante Anekdote, hier entzündet sich aber auch viel Unbehagen und viel Ärger. Ein ausgefuchster Bürokrat, der die Regeln der Verwaltung kennt, ist den anderen stets eine Nasenlänge voraus. Wenn er die Kunst beherrscht, mit kirchlichen Ordnungen konstruktiv und souverän umzugehen, ist das ein Gewinn für jedes Presbyterium. Im gegenteiligen Fall aber kann er als "Paragraphenreiter" oder "Bedenkenträger" die Entschlußfreudigkeit des Presbyteriums lahmlegen und selbst gutwillige und ruhige Gemüter an den Rand der Verzweiflung treiben. Wer die Verwaltungsvorschriften nicht kennt, der wird, wenn er Glück hat, von einer hilfreich konstruktiven Kirchenverwaltung wohlwollend entlastet. Hat er aber weniger Glück, tappt er in sämtliche Fettnäpf-

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chen, die am Wegesrand stehen, beißt auf Granit und kann an den Folgen seiner Unkenntnis ersticken. Beides ist vermutlich nicht der Normalfall, aber beides ist in zahllosen Episoden belegt. Das Rechtsdenken in der Kirchenverwaltung prägt Mentalitäten. Bürokratische Verwaltung erträgt aus strukturellen Gründen "leichter 'Überapathie' als 'Überaktivität' - trotz gegenteiliger Behauptungen" .47 Verrechtlichung bedeutet Normierung, Standardisierung und Formalisierung. Wenn etwas gültig ist, dann muß es für alle gelten. Mit Sonderwegen, lokalen Eigenheiten, innovativen Impulsen, Erscheinungen, die es "noch nie gegeben" hat, weiß schwer umzugehen, wer gewohnt ist, in juristischen Kategorien zu denken. Das Gemeindeleben und die Gemeindearbeit in einer pluralistischen Gesellschaft aber vollziehen sich nicht in den juristisch vorgezeichneten Bahnen und Kategorien. Sie weichen immer wieder von ihnen ab. Damit ist vorprogrammiert, daß an der Schnittstelle zwischen Kirchenverwaltung und Gemeindeleitung ständig irgendwelche Unwägbarkeiten und Abstimmungsprobleme auftauchen. Sie binden Arbeitskapazität, lähmen die Innovationsfreudigkeit der Presbyterien und erhöhen die Selbstbezüglichkeit des Systems. In einem verrechtlichten Arbeitsklima gedeihen zwangsläufig Eigenschaften, die in der ecclesia semper reformanda eigentlich eher unerwünscht sein müßten: Umständlichkeit und Unselbständigkeit, Entschlußunfähigkeit und mangelnde Veränderungsbereitschaft. Bürokratische Verwaltung ist nicht nur mentalitätsbildend, sie ist auch nicht für jedermann in gleicher Weise attraktiv. Mit einiger Wahrscheinlichkeit fühlen sich im Leitungsgremium einer verrechtlichten Kirche gerade solche Menschen wohl, denen bürokratische Abläufe entweder vertraut oder zumindest nicht unangenehm sind. Presbyterien sind also auch aus strukturellen Gründen tendenziell eher mit Menschen besetzt, die von ihrer Persönlichkeit her gehorsam, pflichtbewußt, wertkonservativ und rückwärtsorientiert sind. So lange ein System gut funktioniert, ist das hervorragend, denn es sichert Kontinuität, Zuverlässigkeit und Berechenbarkeit. In Krisensituationen aber, wo Innovationen, riskante Strukturreformen und einschneidende Neuordnungen erforderlich sind, ist ein derart zusammengesetztes Presbyterium schnell überfordert. 5. Die Komplexität der Gemeinde und die Hybridstruktur der Gemeindearbeit: Die Mitglieder eines Presbyteriums bringen viel guten Willen und kirchentreues Verhalten mit. Nicht selten sind sie bereits ehrenamtlich in der Gemeindearbeit engagiert. Das bedeutet, daß sie gewohnt sind, einen mehr oder weniger großen Teil ihrer freien Zeit "in der Gemeinde" zu verbringen. Das Engagement im Presbyterium kommt dann zusätzlich hinzu, denn es ist nicht üblich, bei der Übernahme des Presbyteramtes andere Aktivitäten aufzugeben. Presbyter/innen sind nicht nur vielbeschäftigte Menschen, sie bringen auch einen reichen Erfahrungsschatz mit und kennen die Verhältnisse in der "Kerngemeinde" sehr genau. Professionelle Leitungserfahrung in sozialen Großsystemen aber bringen sie in aller Regel nicht mit. Eine derartige Qualifikation wird auch nicht erwar47

H.Lindner: Kirche, S. 165

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tet. Aus diesem Defizit erwachsen Folgeprobleme, die häufig nicht beachtet oder unterschätzt werden. Die Mitglieder eines Presbyteriums haben keine präzisen Vorstellungen von der sozialen Komplexität oder der religiösen Vielgestaltigkeit einer Kirchengemeinde mit mehreren tausend Mitgliedern.^^ Es fehlt ihnen an detaillierten Kenntnissen und Einblicken in das pastorale Tätigkeitsfeld. Auch fehlt ein definiertes Verständnis von Leitung und eine explizierbare Kenntnis der Gemeindepflegekonzeption bzw. der mit dieser Konzeption verfolgten Ziele. Der Hybridcharakter der Gemeindearbeit zwischen Kirchturm und Gemeindehaus wird allenfalls erahnt, aber kaum einmal als Strukturproblem erkannt. Wo das alles nicht vorhanden ist, da bleibt den Mitgliedern eines Presbyteriums gar nichts anderes übrig, als sich von der eigenen Lebenserfahrung, vom persönlichen Eindruck und vom gesunden Menschenverstand leiten zu lassen. Dagegen ist schwerlich etwas einzuwenden, so lange der Erfahrungshorizont ausreicht und der gute Wille vorhanden ist, um die unmittelbar anstehenden Aufgaben zu bewältigen. Wo es um die Kleinarbeit in den Presbyterien geht, die unzähligen Beschlüsse, die in jeder Sitzung zu fassen sind, reichen die genannten Kriterien auch vollkommen aus und machen jeden, der beides mitbringt zum vollwertigen Mitglied der Gemeindeleitung. Erst in Grenz- und Krisensituationen und in konzeptionellen Fragen reicht dies alles nicht mehr aus. Wer nicht gewohnt ist, in Systemkategorien zu denken, der kann nämlich mit dem im alltäglichen Umgang an einzelnen Menschen geschulten "gesunden Menschenverstand" tatsächlich an Grenzen stoßen. Leider ist das noch zu wenig bekannt. 49 Die Kirchenordnung gibt in ihrem Artikel 105 unfreiwillig selbst ein Beispiel für diese Problematik. Satz (c) fordert das Presbyterium auf, "dafür zu sorgen, daß denen nachgegangen wird, die sich nicht am Gemeinde leben beteiligen". Wenn unter 3000 Gemeindemitgliedern zwei sind, die das nicht tun, werden sich sicher leicht Wege finden, die es dem Presbyterium ermöglichen, der Anforderung gerecht zu werden. Wenn aber unter 3000 Gemeindemitgliedern 2871 sind, die das nicht tun, zeigt sich schlagartig etwas völlig anderes: Die Kirchenordnung verniedlicht die Systemproblematik. Weil sie aber der Logik komplexer Sozialsysteme nicht gerecht wird, ist sie an diesem Punkt schlicht unbrauchbar. Komplexe Sozialsysteme lassen sich nämlich nicht nach Art einer Großfamilie "leiten". Um komplexe Sozialsysteme zu steuern, stehen im wesentlichen zwei Möglichkeiten zur Verfügung, Steuerung durch Festlegung von Rahmenbedingungen und Steuerung mit Hilfe von Impulsen. Beides aber ist durchaus störanfällig und funktioniert nie mit der Präzision des Kausalgesetzes, das sich im zwischenmenschlichen Zusammenleben so hervorragend bewährt. Dietrich Dörner hat in seinem Buch "Die Logik des Mißlingens" gezeigt, daß selbst akademisch ausgebildete Menschen in komplexen, schwer 48 49

Vgl. dazu auch C.Möller: Lehre I, S.98-100 D.Dörner: Die Logik des Mißlingens. Strategisches Denken in komplexen Situationen, Reinbek 1992

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überschaubaren Spielsituationen scheitern, wenn sie nicht zumindest intuitiv die schwierigen Regeln der Systemsteuerung beachten. Indem er den Nachweis erbringen konnte, daß geschulte und praxiserfahrene Manager in derartigen Entscheidungssituationen im Durchschnitt bessere Ergebnisse produzierten als ungeschulte Versuchspersonen, konnte er auch zeigen, daß Steuerungsverhalten in komplexen Situationen erlernt werden kann. Für das Presbyterium bedeutet das: Ein Presbyterium, das ein komplexes Sozialsystem zu leiten hat, benötigt Systemwissen und erlernte, fachlich qualifizierte Leitungskompetenz. Komplexe Systeme stellen ihr Leitungsgremium auch vor Anforderungen, zu deren Bewältigung der gesunde Menschenverstand allein nicht mehr ausreicht. Aber das erforderliche Systemwissen und eine konzeptionell reflektierte Steuerungskompetenz sind im Presbyterium allenfalls zufällig vorhanden. Die Presbyterwahlordnung fordert sie nicht, und die Mitarbeiterfortbildung fördert sie nicht. Beides hat prognostizierbare Folgen. Wenn sich weder mit gutem Willen allein noch mit der Fortschreibung der Hybridstruktur die Anpassungskrise der parochialen Gemeindearbeit bewältigen läßt und das erforderliche know how in den Leitungsgremien der Kirchengemeinden fehlt, dann wird sich nach der Logik der autodynamischen Systementwicklung die Krise auch in Zukunft weiter verschärfen. b) Informale Ordnungen der Gemeindeleitung "Jede Organisation hat eine organisatorisch immanente Entwicklung. Sie wird vom Prinzip der Minimierung von Anstrengung gesteuert".50 Dem Prinzip, das Nächstliegende und das Nützliche zu tun und dabei nach Möglichkeit übermäßige oder unnötige Anstrengungen zu vermeiden, folgen auch die informalen Ordnungen im Presbyterium. Jeder der genannten Problemkonstellationen lassen sich informale Lösungen gegenüberstellen, an denen sich das Presbyterium insgeheim orientiert. Mit dem theologischen Verständnis von Gemeindeleitung haben die informalen Ordnungen bisweilen nur noch rudimentäre Gemeinsamkeit. Untereinander aber sind sie eng verzahnt. Sie stützen und ergänzen sich wechselseitig. Folgende Prinzipien werden dargestellt: Naheliegende Kompetenzverteilung (1.), das Betriebsklima hat Priorität (2.), "Familienfürsorge" (3.) und Vorlagenberge abtragen - Gemeinde verwalten (4.). 1. Naheliegende Kompetenzverteilung: Dem Problem der Unschärfe der Kirchenordnungsartikel begegnen die Presbyterien mit naheliegenden Zuständigkeitsverteilungen. Wenn es denn keineswegs einfach ist, sich im Dickicht der Bekenntnisformulierungen, der Konfessionsprofile und der weitreichenden Kohärenzansprüche der Landeskirche zu orientieren, Wichtiges von Unwichtigem und Zeitgemäßes von Althergebrachtem zu unterscheiden, dann liegt es nahe, den Pfarrer/innen die Zuständigkeit für alles "Geistliche" exklusiv zu überlassen. Hier folgt man willig ihrer Ansicht, die man ohnehin selten genug über50

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prüfen kann, und lernt möglicherweise im Laufe der Zeit, daß auch die Pfarrer/innen untereinander nie völlig einer Meinung sind. Es zeugte von Übermut, sich als Laie auf dieses Glatteis zu begeben. Die ungenügende theologische Hermeneutik und die protestantische Unsitte, das Verlesen zusammenhangloser Bibelsprüche als "Andacht" zu deklarieren, dienen ebenfalls nicht gerade der Aufwertung des geistlichen Parts. Das "Weltliche" dagegen, von dem die Pfarrer/innen nach landläufiger Ansicht ohnehin nichts oder allenfalls zu wenig verstehen, beanspruchen die nichtordinierten Mitglieder für sich. Hier ist man lebenserfahren und kompetent. Die Logik der Kompetenzverteilung erschließt sich im Verlaufe jeder Sitzung, wenn etwa die "Andacht" schweigend hingenommen wird, wohingegen sich über der Frage, ein Bügeleisen oder ähnliches für das Gemeindehaus zu erwerben, lebhafte und langanhaltende Diskussionen entzünden. Es soll nicht behauptet werden, daß das in jedem Presbyterium so ist oder gar so sein muß. Es wird zahlreiche Presbyterien geben, in denen das anders ist. Schon ein gewachsenes Selbstverständnis des Gremiums, eine starke Presbyterpersönlichkeit, eine reflektierte Geschäftsordnung oder eine gut vorbereitete Sitzungsleitung können dafür sorgen, daß es anders zugeht. Informale Ordnungen entwickeln und bewähren sich ja grundsätzlich in enger Orientierung an den örtlichen Gegebenheiten. Deshalb sei noch einmal daran erinnert, daß es hier und auch im folgenden vor allem darum geht, zu zeigen, daß bestimmte Konstellationen ein erwartbares Verhalten hervorrufen und zur Verfestigung prognostizierbarer informaler Ordnungen führen. 2. Das Betriebsklima hat Priorität: Das ambitionierte presbyteriale Leitungskonzept, das mit dem Preis zahlreicher Bruchlinien und ungeklärter Zuständigkeiten innerhalb des Presbyteriums erkauft wird, erfordert einen hochsensiblen zwischenmenschlichen Umgang. Das gruppendynamische Fließgleichgewicht läßt sich am leichtesten unter Kontrolle halten, wenn sich das Gremium vor allem anderen um ein "gutes Betriebsklima" bemüht. Wichtiger als alle Sacharbeit ist das "geschwisterliche Miteinander". Nur wo jeder bereit ist, im Zweifelsfall auch entgegen besserer Einsicht zurückzustecken und die Einmütigkeit höher zu bewerten, als irgend einen noch so dringlichen oder profilierten Beschluß, kann verhindert werden, daß sich unerwünschtes Sitzungsverhalten einstellt. Wenn das Miteinander erst einmal gestört ist, bilden sich entlang der zahlreichen Spannungslinien schnell Grüppchen und Gruppierungen heraus. Lager und Fronten können entstehen, deren Verhalten bis hin zu Obstruktion und unverhohlener Fundamentalopposition reichen kann. Die informale Spielregel, in jedem Falle zunächst einmal das persönliche Miteinander, das Betriebsklima, zu pflegen, hat von daher einen guten Sinn. Aber sie bleibt nicht ohne Folgen. Es gelingt naturgemäß am leichtesten, das gegenseitige Einvernehmen zu finden, wenn man nicht aus den eingefahrenen Gleisen ausbricht, sondern stets an das Gewohnte und Vertraute anknüpft. Presbyterien sind von daher - auch wenn sie sich selbst u.U. ganz anders sehen - zunächst einmal Garanten des Bewährten und Bestehenden. Innovatives Be-

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streben ist in einem derartigen Leitungsgremium nicht nur riskant (im Hinblick auf das gruppendynamische Fließgleichgewicht), sondern auch zeitaufwendig. Es erfordert viel Überzeugungsarbeit, ist ständig von Rückschlägen bedroht und fällt mit großer Wahrscheinlichkeit in Form von Mehrarbeit auf den zurück, der den Vorschlag unterbreitet. Wer das ein paarmal erlebt hat, der wird seine Kraft und seinen langen Atem kritisch abschätzen, ehe er sich mit weiteren Ideen exponiert. Auch an diesem Punkt wird die Gemeindearbeit von informalen Ordnungen bestimmt. Nach dem bewährten Additionsprinzip der evangelischen Gemeindearbeit läßt sich das eine oder andere Vorhaben immer noch der bestehenden Arbeit hinzufugen. Wenn aber in Umbruchsituationen tiefe Einschnitte in Altvertrautes oder gar ein Abschied von bewährten Konzeptionen und Denkmustern erforderlich wird, sind Presbyterien in der Regel überfordert. 3. "Familienfiirsorge": Das Problem der hohen Komplexität des Sozialsystems Kirchengemeinde wird in den Presbyterien durch Reduktionsstrategien gelöst. Dabei spielt die Orientierung an gängigen Leitmetaphern eine wesentliche Rolle: Die Gemeinde als "Familie", die Gemeinde als "harter Kern" oder die Gemeinde nach dem Zwiebelschalenmodell als "lebendiges Zentrum", um das herum in konzentrischen Kreisen verschiedene Schwundstufen abnehmender Religiosität und Kirchenbindung gruppiert sind. Auch das Ziel der Gemeindearbeit wird metaphorisch begründet: "Weck die tote Christenheit" (EKG 217,2). Ziel ist das "lebendige Christentum". Als "lebendig" gilt die sichtbare Präsenz im Gottesdienst und im Gemeindehaus, als "totes" Christentum gelten demgegenüber die anlaßbezogenen Normalformen evangelischer Kirchlichkeit. Diese Sicht ist um so plausibler, als sich ein großer Teil der Mitglieder des Presbyteriums ohnehin aus dem Umfeld des Gemeindehauses rekrutiert. Pfarrstellenausschreibungen sind in dieser Hinsicht sehr instruktiv, denn sie zeigen, wie weit dieses einseitig verkürzende und verzerrte Bild von der Gemeindearbeit verbreitet ist. Gesucht werden in aller Regel Pfarrer/innen, die neben der pastoralen Grundversorgung von mehreren tausend Gemeindemitgliedern vor allem die Fähigkeiten mitbringen, die benötigt werden, um einen größeren Mitarbeiterkreis aufzubauen und vielfältige Impulse im Gemeindehaus zu setzen. Nicht selten sind allein schon aus der Anzeigengestaltung und der sprachlichen Ausgestaltung der Beschreibungen die tatsächlichen Prioritäten deutlich herauszulesen. Die Logik informaler Komplexitätsreduktion verkürzt "die" Gemeinde auf den Kreis der kontinuierlich präsenten Gemeindemitglieder und die Gemeindearbeit auf die Gemeindehausarbeit. Einen guten Pfarrer erkennt man vor allem daran, ob es ihm gelingt, das Gemeindehaus mit Leben zu erfüllen. Der pastoralen Grundversorgung wird demgegenüber deutlich weniger und nicht selten überhaupt keine Aufmerksamkeit gewidmet. Die informale Komplexitätsreduktion im Leitungsgremium der Kirchengemeinde wird nicht allein aufgrund ihrer weiten Verbreitung so selten in Frage gestellt. Sie ist auch durchaus funktional. Die gealterte und ausdifferenzierte Kirche in einer pluralistischen Gesellschaft ist eben eine so schwierige Heimat, daß nicht einmal mehr alle Profis für sich in Anspruch nehmen könnten, der

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Evidenzanmutung und der suggestiven Kraft einfacher Lösungsstrategien standzuhalten. Von einem Laien aber kann das schon gar nicht erwartet werden. Komplexitätsreduktion mit Hilfe der "Kern-fern"-Metapher bietet sich da geradezu an. In der überschaubaren Welt der "Kerngemeinde" kann jeder mitreden, der regelmäßig teilnimmt, und jeder weiß, was dort zu tun und zu lassen ist. Orientierung im volkskirchlich gewachsenen Christentum fällt demgegenüber weitaus schwerer. 4. Vorlagenberge abtragen - Gemeinde verwalten: Die bürokratisierte Verwaltung sorgt dafür, daß die Gemeindeleitung kontinuierlich mit Aufgaben versorgt wird und über Arbeitsmangel nie zu klagen hat. Vorlagen, Fristen und Formalia sind zu beachten. Sei auch die einzelne Aufgabe noch so selbstverständlich oder gar nebensächlich, alles, was im Apparat passiert ist oder passieren soll, ist ordnungsgemäß zur Kenntnis zu nehmen oder zu beschließen. Im Extremfall (oder bei pflichtbewußter Verwaltung) reicht die Liste von der Höhergruppierung des Zivildienstleistenden und der Urlaubsvertretung für eine Reinigungskraft bis hin zu der Frage, wer einen Schlüssel für den Jugendkeller bekommen darf. Es fällt schwer, darüber keine Satiren zu schreiben. Aber auch sehr viel gewichtigere Dinge sind zu entscheiden, Ausschüsse zu besetzen, Finanzen zu verwalten oder Dienstanweisungen zu erstellen. Kurz, die Verwaltung hält die Presbyterien in Bewegung und erzeugt damit einen ständigen Druck, der das Presbyterium zwingt, sich zunächst und vor allem mit dem Nächstliegenden zu beschäftigen. Das Nächstliegende aber ist vor allem der alltägliche Kleinkram. Die informale Spielregel für das nächstliegende Leitungsverhalten lautet deshalb: die anstehenden Beschlußvorlagenberge abtragen. Das geschieht dann auch. Ist der Berg nach drei- oder vierstündiger Sitzung abgetragen, wird die Sitzung mit Lied und Dank beendet. Ausblick und Rückblick unterbleiben aus Zeitmangel. Jeder eilt dann schnell nach Hause, denn auch der nächste Tag wird seine eigene Plage haben. Die Auseinandersetzung mit dem Zukunftshorizont unterliegt keiner Fristbindung und steht deshalb in der Prioritätenliste erst sehr weit hinten. Wer zügig entscheiden muß, hat nur wenig Zeit für Visionen und Konzeptentwicklung. Er hat immer schon vollauf genug zu tun und ist an zusätzlicher Arbeitsbelastung wenig interessiert. In dieser Situation bietet sich die Verwaltung des jeweiligen status quo mit dem erprobten Mittel der Finanzsteuerung an. Vorhandene oder nicht vorhandene Geldmittel bestimmen darüber, ob Handlungsspielräume genutzt oder Planstellen gestrichen werden. Finanzsteuerung ist konzeptionell konservativ. Sie bemüht sich, zu realisieren, was finanzierbar ist, zu erhalten, was da ist, und zu beschneiden, was selbst bei bestem Willen nicht mehr zu bezahlen ist. Solange Geld im ausreichenden Maße vorhanden ist, macht Finanzsteuerung sogar Spaß. Wird das Geld knapper, schwindet die Freude und die Entscheidungslast drückt schwerer. Problematisch ist das Mittel der Finanzsteuerung aber weniger wegen seiner emotionalen Begleitdimensionen, sondern wegen seiner konzeptionellen Eingleisigkeit. Wo die Geldmittel knapper werden, kann man mit der Methode der Finanzsteuerung allenfalls einen

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ehrenvollen Gemeindeabbau begleiten, aber keinen konzeptionellen Neubeginn starten. Mit schrumpfenden Geldmitteln schrumpfen auch die Gemeindeaktivitäten mit. Eine durchgreifende Wende zum Besseren ist mit Finanzsteuerung allein nicht zu erreichen. Zwei weitere Eigenarten der bürokratischen Verwaltung verstärken die Fixierung der Gemeindeleitung auf den jeweiligen status quo: Zum einen ist die Gemeindeleitung weithin sich selbst überlassen. Auf eine systematische und flächendeckende Betreuung, Fortbildung und Schulung der Gemeindeleitungen sind die Landeskirchen weder personell noch konzeptionell eingerichtet. Kirchenkreis oder Landeskirche reagieren erst, wenn sie durch Erschütterungen, Unruhe oder einen Lärmpegel aufgeschreckt werden, der außerhalb der Gemeindegrenzen einfach nicht mehr zu überhören ist. So lange alles lautlos abgewickelt wird, "unter der Decke" oder "im Rahmen" bleibt, halten sich die übergeordneten kirchenleitenden Instanzen zurück. Auch von daher ist es erste Bürgerpflicht der parochialen Gemeindeleitung, die Ruhe zu wahren. Die Ruhe aber läßt sich nun einmal am besten wahren, indem man so wenig wie irgend möglich zu bewegen versucht. Zum anderen wird immer nur das zum Verhandlungsgegenstand in der Sitzung, was auch Tagesordnungspunkt ist. Ein Beschwerdebrief an den Vorsitzenden erreicht deshalb mühelos die Sitzungsteilnehmer. Wenn aber eine Kirchengemeinde 70 bis 95 Prozent ihrer Mitglieder konzeptionell vernachlässigt, weil sie sich am Leitbild des "aktiven Gemeindehauschristentums" orientiert und sich 70 bis 95 Prozent der Gemeindemitglieder eben nicht "aktivieren" lassen, dann wird mit großer Wahrscheinlichkeit im Presbyterium überhaupt nichts geschehen. Das Problem wird nicht wahrgenommen, weil es nicht zum Tagesordnungspunkt wird. Es würde erst dann Gegenstand der Beschäftigung werden, wenn ein Presbyterium gezielt nach konzeptionellen Alternativen für die eigene Gemeindearbeit fragte. Das aber ist in einer wandlungsgehemmten Kirche unter dem Druck eines spannungsvollen Miteinander im Presbyterium, einer bürokratischen Leitungskultur und verfestigter informaler Ordnungen schwerlich zu erwarten. In dieser Situation ist es einfach naheliegender, das Nächstliegende zu tun, den status quo zu verwalten und auf riskantes, harmoniegefährdendes, aber möglicherweise richtungweisendes Leitungsverhalten zu verzichten. c) Die informalen Ordnungen der Gemeindeleitung als Wandlungshemmung Ebenso wie das gruppendynamische Fließgleichgewicht und die bürokratische Gemeindeleitung blockiert auch die Selbstevidenz informaler Leitmetaphern den notwendigen Konzeptionswandel der evangelischen Gemeindearbeit. Angesichts stagnierender Beteiligung am Gemeindehausleben, verstärkter Austrittsneigung unter den Gemeindemitgliedern und einem erheblichen internen Kräfteverschleiß unter haupt- und ehrenamtlichen Mitarbeitern sind die Presbyterien als Leitungsgremien der Kirchengemeinden aufgefordert, die Verhältnisse zu verbessern. Sie stehen unter einem erheblichen Wandlungsdruck und haben in der

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Regel auch viele der Probleme längst schon erkannt. Wenn sie sie dennoch nicht zu überwinden vermögen, liegt das nicht an persönlich-menschlicher Untüchtigkeit oder einem Mangel an gutem Willen. Im Gegenteil, an Engagement und der Bereitschaft, sich auch weit über ein normales Maß einzusetzen, scheint es, trotz verbreitetem Murren, in der kirchlichen Mitarbeiterschaft nicht zu fehlen. Aber es fehlt an der Fähigkeit, komplexe Sozialsysteme reflektiert zu leiten. Dietrich Dörner hat in der "Logik des Meßlingens" eine umfangreiche Liste von typischen Fehlern zusammengestellt, die selbst hochgebildeten Menschen unterlaufen können, wenn sie sich in einer Leitungssituation befinden, der sie aufgrund ihrer Komplexität nicht mehr gewachsen sind. Alles, was Dörner nennt, findet man in den Presbyterien wieder. Seine Zusammenstellung ist instruktiv genug, um hier ausfuhrlich wiedergegeben zu werden. Die Fehler wachsen auf dem Boden typischer Defizite und Unterlassungen: Der Leiter befindet sich in einer hochkomplexen, schwer durchschaubaren Situation und besitzt keinen Überblick (mehr). Er weiß nicht, welche Ziele oder welche Einzelmaßnahmen Priorität haben. Er verfolgt keine mittelfristigen Ziele und kann keine Etappenziele benennen, die er unterwegs erreichen möchte. Er kennt die Schlüsselfaktoren nicht, denen er besonderes Augenmerk zuwenden muß. Er geht intuitiv und ad hoc vor. Unter diesen Bedingungen entwickelt sich dann ein Leitungsverhalten, das von drei Faktoren geprägt ist: von Hilflosigkeit^!, v o n kurzfristigem Aktionismus und schließlich von der Bemühung, die eigene Ratlosigkeit nicht zugeben zu müssen. Wie die Maus im Laufrad fortwährend gezwungen ist, das Tempo zu erhöhen, um mitzuhalten, erhöht auch der Leiter das Tempo. Er reagiert hektischer. Er faßt mehr Beschlüsse, bereitet sie aber schlechter vor. Er baut die Verwaltungsorganisation kontinuierlich weiter aus, ohne ihre Effizienz zu verbessern. Er erhöht die Leistungsanforderungen gegenüber Untergebenen. Befehle werden häufiger. "Mit der Verlagerung der Verantwortung durch Delegation ist man nicht nur die Verantwortung los, sondern hat zugleich auch die potentiell Schuldigen" (S.45). Im fortgeschrittenen Stadium nimmt das Leitungsverhalten auch pathologische Züge an. Ständig werden neue Projekte ins Leben gerufen, aber es mangelt an zielorientierter Kontinuität. Die Richtungen wechseln wie das Wetter. Eingehende und konzentrierte Beschäftigung mit Schlüsselfragen findet nicht mehr statt. "Verkapselungsverhalten" (S.43) greift um sich. Der Leiter konzentriert sich auf einzelne isolierte Faktoren, ohne angeben zu können, welche Bedeutung sie für das Gesamtprojekt besitzen. Er beschäftigt sich intensiv mit unwichtigen Details und flieht "in die klein(lich)e Regulation längst nicht mehr wichtiger Alltagsverrichtungen" (S.155). Er weigert sich, neue oder entscheidungsrelevante Informationen zur Kenntnis zu nehmen (S. 146-155). Resignation, Demotivation oder Zynismus (S.31f) greifen um sich. Das eigene Schei-

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R. Schwarzer: Streß, Angst und Hilflosigkeit. Die Bedeutung von Kognitionen und Emotionen bei der Regulation von Belastungssituationen, Stuttgart 1981; R. Schwarzer: Worry and Emotionality as Separate Components in Text Anxiety, in: International Revue of Applied Psychology 33/1984, S.205-220

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tern erahnend, mehren sich schließlich Strategien, deren tieferer Sinn es ist, dem Scheitern nicht ins Auge sehen zu müssen: * Nachprüfungen werden sicherheitshalber unterlassen (S.40-42). * "Wenn ich die Folgen meiner Handlungen gar nicht erst zur Kenntnis nehme, bleibt mir die 'Kompetenzillusion'." (S.269)52 * Fremdattribuieren: "Ich habe das Beste gewollt, aber die Umstände haben verhindert, daß das, was ich wollte, auch eintrat" (S.273). * Zielinversion: "Man gibt ein Teilziel ganz auf oder strebt sogar das Gegenteil des ursprünglich angestrebten Zustandes an" (S. 101).53 * Vertikale Flucht: "Abheben in die Welt des nicht mehr zu Denkenden, des nicht Analysierbaren, des Unfaßbaren. Auch das gibt Ruhe und Frieden" (S.286). Alle diese Verhaltensweisen hat Döraer fernab des innerkirchlichen Problemhorizontes ermittelt. In dieser oder jener Ausprägung aber kann man sie in vielen Presbyterien wiederfinden. Die Eingangsbehauptung läßt sich also auch theoretisch bestätigen: Der presbyterialen Gemeindeleitung fehlt die Fähigkeit zur Steuerung eines komplexen Sozialsystems.im einzelnen bedeutet das: Es fehlen grundlegende und richtungweisende Systemanalysen. Es fehlt das Wissen um den Hybridcharakter der evangelischen Gemeindearbeit. Es fehlt das Bewußtsein für die Bedeutung und die Eigendynamik der informalen Spielregeln. Und schließlich fehlt es an konzeptionellen Alternativen. Es fehlt nicht an der Leistungsfähigkeit und dem Leistungswillen der Betroffenen. Ihr Leitungsverhalten ist so plausibel, wie es unter diesen Umständen eben sein kann.

3.2 Pfarrer/innen: "Familienpflege" Spätestens seit Karl-Wilhelm Dahm das Buch "Beruf: Pfarrer" publiziert hat, wissen wir, Pfarrer zu sein ist, was immer es noch alles sein mag, auch ein Beruf. Was Pfarrer/innen tun, ist " A r b e i t " . S i e haben Pflichten und Rechte, sie 52 53

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Vgl. auch D.Dömer: Logik, S.291-293 Die Beziehung zum Schicksal des Missionskonzepts "öffnen und verdichten" läßt sich deutlich erkennen. Während die Synoden beschlossen haben, die Kirchengemeinden sollten sich den Fernstehenden öffnen, waren die Kirchengemeinden weder konzeptionell noch personell auf eine derartige Öfihung vorbereitet. Was lag näher, als den Vorschlag unter lautem Beifall zu den Akten zu legen? "Die verbale Behauptung der Öffnung oder der Missionierung von 'Femstehenden' ist dann eine Selbsttäuschung oder Selbstbeschwichtigung, die es erlaubt, mit gutem Gewissen letztlich unter sich zu bleiben." - H.Lindner: Kirche, S.336f "Der Modus der Steuerung der Ortsgemeinde wird selten reflektiert. Zumeist nehmen Theologien an, richtige Wesens- oder dogmatische Zielaussagen würden genügen." - H.Lindner: Kirche, S.122. Ähnlich auch Lindners Problemanalyse S.274-284, die aber nicht unter dem Aspekt der Systemkomplexität, sondern unter dem Gesichtspunkt des Leitbildes und der Leitbildpflege weiterentwickelt wird. M.Josuttis: Der Traum des Theologen. Aspekte einer zeitgenössischen Pastoraltheologie 2, München 1988, S.59

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VII. Die Kirchengemeinde

haben ein Arbeitsfeld zu versorgen. Sie leben nicht nur mit ihrer Berufsausübung, sie leben auch von ihr. Solange sie im Dienstverhältnis ihrer Landeskirche stehen, beziehen sie eine regelmäßige Besoldung. Pfarrer/innen sind Berufschristen. Das unterscheidet sie von allen unbezahlten Christen. Aber der Pfarrberuf ist kein Beruf wie jeder andere. Wer ihn ausübt, kann sich der prägenden und umformenden Kraft dieser Systemrolle nicht entziehen, er wird selbst "anders". Das gab Manfred Josuttis Anlaß zu der Behauptung, "der Pfarrer ist a n d e r s " . E r ist nicht anders, weil er etwa schon von Natur aus ein andersartiger Mensch wäre. Er wird "anders", und zwar unter dem Eindruck seines Berufsfeldes. Sein Arbeitsfeld und sein AnstellungsVerhältnis im Dienste des Sozialsystems "evangelische Landeskirche" lassen ihn "anders" werden. Ehe die Aspekte dieses Andersseins als plausible Reaktionen auf die Strukturbedingungen des Berufsfeldes und als sinnvolle Orientierung an "geheimen Spielregeln" dargestellt werden, sollen auch in diesem Abschnitt zunächst wieder einige der determinierenden Rahmenbedingungen in Erinnerung gerufen werden. Dabei wird insbesondere an die Ergebnisse des zweiten Teils der Arbeit angeknüpft und erinnert werden. a) Entwicklungsbedingungen der informalen Ordnungen Sieben Aspekte, die zur Ausbildung informaler Ordnungen im Pfarrberuf fuhren, werden im folgenden dargestellt: Kirchenordnung, ecclesia invisibilis und der kirchliche Anspruch auf das "ganze" Leben der theologischen Mitarbeiter (1.), die Ideologie von einem "freien" Pfarrberuf (2.), die historisch gewachsene Bedeutung der Pfarrerpersönlichkeit (3.), additive Aufgabenvermehrung (4.), zerschlissene Arbeitszeit als Streß- und Risikofaktor (5.) und Burnout-Gefahr (6.). 1. Kirchenordnung, ecclesia invisibilis und der kirchliche Anspruch auf das "ganze" Leben der theologischen Mitarbeiter: Es wurde bereits darauf hingewiesen, daß die Kirchenordnung den Systemcharakter der Kirche als Sozialsystem außer acht läßt und sich selbst (im Sinne eines handlungs- und glaubensfähigen Kollektivsubjektes) en bloc als Teil der unsichtbaren Kirche Jesu Christi begreift. In direkter Bezugnahme auf die ecclesia invisibilis erfolgt auch die Aufgabenbeschreibung der Pfarrer/innen. Nach Confessio Augustana VII ist die Kirche die "Versammlung aller Gläubigen, bei welcher das Evangelium rein gepredigt und die heiligen Sakramente evangeliumsgemäß gereicht werden". In Anlehnung an dieses Kirchenverständnis formuliert die Kirchenordnung der Rheinischen Kirche: "Der Pfarrer hat als Diener am Wort und Hirte der Gemeinde den Auftrag, das Evangelium zu verkündigen und die Sakramente zu verwalten. Er hat den Dienst der christlichen Unterweisung und der Seel-

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M.Josuttis: Der Pfarrer ist anders, München 1982

3.2 Pfarrer/innen: "Familienpflege"

561

sorge auszuüben. In Gemeinschaft mit den anderen Mitgliedern des Presbyteriums obliegt ihm die Leitung der Kirchengemeinde" (Art.68 KO).

Den Pfarrer/innen kommt damit die Schlüsselfunktion für das Kirchesein der Kirche zu. Indem ihnen die konstituierende Grundfunktion von Kirche als Berufsrolle zugewiesen wird, werden sie zu Garanten für die unverzichtbare Referenzanbindung der irdischen Organisation an die unsichtbare ecclesia Jesu Christi. 57 Aus der Logik der Referenzanbindung des Amtsträgers an die ecclesia invisibilis erwachsen zwei weitreichende Konsequenzen, die ihren Niederschlag auch in der Kirchenordnung gefunden haben: die fehlende Trennung von Person und Amt und die fehlende Trennung von Beruf und Privatleben. Eine Trennung von Person und Amt kann es mit Blick auf die Glaubensbindung nicht geben, ohne die es keine Teilhabe am Reich Gottes gibt. Nur wer Jesus Christus als die Wahrheit erkennt und an ihn glaubt, erhält Zugang zum Reich Gottes, des Vaters (Joh 14-17). Glauben aber kann man nur "mit Leib und Seele", mit der ganzen Person. Von daher liegt es in der Logik des Referenzbezugs, von den Amtsträgern zu fordern, daß sie keinen "Feierabend" kennen. Ein Christ ist immer und unter allen Umständen Christ. Er kann die fundamentale Überzeugung seines Lebens nicht nur zwischen 8 Uhr morgens und 22 Uhr abends besitzen und vertreten. Er kann nicht irgendwann einmal "außer Dienst" sein. Für ihn gibt es weder Arbeit noch Freizeit, weder Berufliches noch Privates. Er hat mit seiner ganzen Person, seiner persönlichen Lebensführung, auch mit seinem Privat- und Familienleben, für seinen Glauben einzustehen. Er ist Christ, rund um die Uhr, mit ganzen Herzen, ganzer Seele und aller seiner Kraft. In diesem Sinne lautet einer der Kommentare zum Artikel 69 KO (besondere Aufgaben des Pfarrers): "Der Pfarrer hat seine ganze Kraft für den übernommenen Dienst einzusetzen".58 Theodor Strohm hat eine vergleichende Untersuchung über das Verhältnis von Beruf und Privatsphäre im Pfarrdienstrecht der Gliedkirchen der EKD vorgelegt. Durchgängig traf er auf die Verknüpfung beider Sphären. "Amt und Person des Pfarrers bzw. der Pfarrerin sind aneinander gebunden. Immer sind auch die Lebensführung, ja die Gesamtpersönlichkeit und das Gesamtverhalten des Pfarrers bzw. der Pfarrerin im Blick".59 Aus dieser Logik heraus unterwerfen die Landeskirchen selbst die persönliche Lebensführung ihrer Pfarrer/innen dem landeskirchlichen Disziplinarrecht. "Werden Mängel oder Nachlässigkeit im Dienst oder im persönlichen Leben bekannt und haben Seel57 58

59

Daß die Reformation daneben den Gedanken des Priesterums aller Gläubigen kennt, wurde bereits erwähnt und wird weiter unten noch einmal aufgenommen. Die Kirchenordnung der Evangelischen Kirche im Rheinland mit Erläuterungen, hg. und kommentiert von OKR N.Becker Art 69 KO Anm.5 (Hervorhebung von mir.). Vgl. auch § 47 des Entwurfs fllr ein neues Pfarrerdienstgesetz der EKU-Kirchen: "Es gehört zur besonderen Verantwortung des pfarramtlichen Dienstes, daß Pfarrerinnen und Pfarrer so wenig wie möglich von ihrem Dienstbereich abwesend sind." T.Strohm: Tendenzen im Pfarrdienstrecht, in: ThPr 27/1992, S.162

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ΥΠ. Die Kirchengemeinde

sorge und Beratung nicht zu einer Änderung geführt", drohen Disziplinarverfahren (Art. 72,3 Rheinische KO). Aber nicht allein auf die Lebensführung der Pfarrer, auch auf ihr gesamtes Familienleben erstreckt sich das disziplinarrechtliche Interesse. Im Entwurf für ein neues Pfarrerdienstgesetz, das 1995/96 in der Diskussion ist, werden die Konsequenzen dieser Sichtweise für den Fall einer Trennung (keiner Scheidung) der beiden Ehegatten durchgespielt. Dort heißt es im § 41.3: "Ist die häusliche Gemeinschaft aufgehoben oder ein Antrag auf Ehescheidung gestellt, so kann das Konsistorium (Landeskirchenamt) die Pfarrerin oder den Pfarrer im Interesse des Dienstes beurlauben oder mit einer anderen pfarramtlichen Tätigkeit beauftragen ... vorher [ist] Gelegenheit zur Stellungnahme zu geben. Rechtsbehelfe haben keine aufschiebende Wirkung".60 Ehe man den unzeitgemäßen Charakter derartig weitreichender Regelungen kritisiert, sollte man sich noch einmal klar machen, daß auch die disziplinarrechtlichen Präzisierungen durch die Anknüpfung am Referenzbezug der Landeskirche und durch die Schlüsselrolle, die den Pfarrern unter dieser Perspektive hinsichtlich des Kircheseins der Kirche zugesprochen wird, gedeckt sind. Sie verstehen sich in dieser Perspektive (!) im Grunde von selbst und können gar nicht anders formuliert sein. Die Landeskirche, die sich selbst als Teil der ecclesia invisibilis begreift, würde ihr eigenes Kirchesein preisgeben, wenn sie denen, die dieses Kirchesein durch ihr Handeln unter Wort und Sakrament auf Dauer stellen sollen, eine wie auch immer geartete Teilzeitflucht aus dem Glaubensleben gestatten würde. Von ihrem theologischen Selbstverständnis her hat sie ein konstitutives Interesse daran, ihren Funktionären hier nicht die geringsten Spielräume einzuräumen. Daß den Pfarrer/innen damit eine unmäßige, eine nicht zu tragende Bürde aufgelastet wird, ist in dieser Sichtweise zunächst einmal tatsächlich unwichtig. Die Landeskirche, die ihren eigenen Systemcharakter als Sozialsystem in ihrer Präferenzordnung vor sich selbst verschweigt und in ihrem disziplinierenden Organisationshandeln möglicherweise sogar tabuisiert, kann gar nicht anders, als zu derart weitreichenden Forderungen zu kommen. Es sind die Glaubensrealitäten der reinen, heiligen, unbefleckten ecclesia invisibilis, die hier zu Normvorgaben für das Pfarrdienstrecht werden, weil die Kirche sich in ihrer maßgeblichen Ordnung selbst nicht als Sozialsystem und damit auch nicht als Arbeitgeber mit Personalverantwortung ansieht. Damit ist der Sündenfall einer Kirchenordnung im Blick, die auf der Grundlage eines theologisch zutiefst fragwürdigen Selbstverständnisses ihr Personal in Arbeitsbedingungen zwingt, die Assoziationen von Leibeigenschaft aufkommen lassen. Eine irdische Kirche kann, in welcher Organisationsform auch immer, niemals eine reine, saubere und unbeflekte Kirche sein. Den neutestamentlichen Evangelisten war das bewußt (s.o. Kap.IV 5.3e), und auch Martin Luther hat keinen Zweifel daran aufkommen lassen: "Summa, unsere Heiligkeit ist im Himmel, da Christus ist, und nicht in der Welt vor den Augen, 60

"Die Maßnahme ist aufzuheben, wenn innerhalb eines Jahres seit der Aufliebung der häuslichen Gemeinschaft kein Antrag auf Ehescheidung gestellt ist."

3.2 Pfarrer/innen: "Familienpflege"

563

wie ein Kram auf dem Markt" .61 Die landeskirchlichen Ordnungen aber setzen sich darüber hinweg und machen die persönliche Untadeligkeit zur maßgeblichen Norm für ihre theologischen Angestellten. Mit ihrem bis in den Intimbereich hinein reichenden Reglementierungsbedürfnis umgibt die kirchliche Organisation kulturbedingte Moral- und Ehestandards mit dem Heiligenschein der ecclesia invisibilis. Die Problematik solcher Regelungen hat Theodor Strohm unverhohlen angesprochen. Widersprechen Kirchenrechtsartikel mit einem derart weitreichenden Reglementierunganspruch nicht demokratischen Grundrechten? Mißbraucht die Kirche ihre Arbeitgebermacht nicht, wenn sie den besoldeten und damit materiell abhängigen Mitarbeiter/innen Grundrechte vorenthält? "Wie läßt sich gerade der Persönlichkeitsbereich rechtlich überhaupt in den Blick nehmen, ohne auf unerträgliche Weise die Sphäre des Innersten und Persönlichen anzutasten und zu reglementieren? Wo etwa der staatliche Rechtsrahmen durch die Formulierung der allgemeinen Grundrechte einen deutlichen persönlichen Schutzraum gewährt, meinen Pfarrdienstgesetze der evangelischen Landeskirchen in ihrer Haupttendenz nach wie vor, konkrete Anforderungen an den Persönlichkeitsbereich des Pfarrers und der Pfarrerin in die über Beschäftigung oder Nichtbeschäftigung entscheidende Gesetzgebung einbringen zu müssen. Ohne daß staatliches Recht als solches bereits kirchliche Relevanz beanspruchen könnte, muß sich das Kirchenrecht doch der Frage stellen, ob es hinter die prinzipiellen verfassungsrechtlichen Errungenschaften der demokratischen Völkerfamilie weiterhin zurückfallen will".62 Anknüpfend an ein theologisch fragwürdiges Selbstverständnis hält die landeskirchliche Ordnung an unzeitgemäßen Vorstellungen von der "Ganzheitlichkeit" des Pfarrdienstes fest und sichert sie disziplinarrechtlich ab. Der Druck, der damit auf die Betroffenen ausgeübt wird, ist eine der maßgeblichen Quellen für die Entstehung informaler Ordnungen im Pfarrdienst. 2. Die Ideologie von einem "freien" Pfarrberuf: Die Anknüpfung der Kirchenordnung beim Referenzbezug der Landeskirche stützt die Ideologie vom "freien" Pfarrberuf. Mit den drei Eckpfeilern "Diener am Wort", "Hirte der Gemeinde" und "Mitglied der Gemeindeleitung" wird das pastorale Arbeitsfeld allenfalls grob umrissen, aber nicht einmal annähernd beschrieben. Diese auffällige Zurückhaltung hat eine Ursache in der Engführung der Selbstwahrnehmung der Landeskirche. Ein Pfarrer ist nur Pfarrer, wenn er als Zeigefinger Jesu Christi den Referenzbezug auf das Reich Gottes herstellt. Wie er das inhaltlich im einzelnen tut, ist aus dieser Sicht heraus mehr oder weniger seine Sache. Von daher erklärt sich der an sich merkwürdige Umstand, daß zahlreiche 61 62

M.Luther: Vorrede auf die Offenbarung Sankt Johannis (1530), WA Dt.Bibel 7,420,10; vgl. C.Möller: Lehre, S.129-132 T.Strohm: Tendenzen, S. 171

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VII. Die Kirchengemeinde

Landeskirchen ihren Pfarrer/innen Dienstanweisungen vorenthalten. Der Pfarrberuf gilt auch unter vielen Theologen als "Beruf der persönlichen Freiheiten". Pfarrer/innen, so meinen viele, seien niemandem als allein Gottes Wort verpflichtet. Wer diesen Beruf erwählt, wählt die Nachfolge in die Freiheit Martin Luthers, der, unter Berufung auf die Heilige Schrift, selbst Papst und Kaiser zu trotzen wagte. Von daher erscheint dann gerade der Pfarrberuf als "ein Beruf mit so vielen Möglichkeiten der Selbstbestimmung und des Wachstums".63 Die Realität des Pfarrberufs sieht freilich vollkommen anders aus. Die Gemeindepfarrer/innen sind eben nicht nur ihrer Referenzbindung verpflichtet, sondern auch dem Sozialsystem, in dem sie tätig werden. Ohne Dienstanweisung sind sie faktisch dem wildwüchsigen und unkontrollierten Druck der örtlichen Verhältnisse ausgesetzt. Aber auch, wo sie mit Dienstanweisungen ausgestattet sind, ist das, aufgrund der Eigenarten dieser Dienstanweisungen, die oben dargestellt worden ist (s.o. Kap.II 4.2c), nicht unbedingt anders: Schon die Kirchenordnung schränkt die freie Berufsgestaltung massiv ein, wenn sie hervorhebt, daß die Gemeindeleitung "in Gemeinschaft mit den anderen Mitgliedern des Presbyteriums" zu erfolgen hat. Was das aufgrund der Zusammensetzung der Presbyterien konkret bedeuten kann, wurde oben dargestellt. Der unscheinbare Satz der Kirchenordnung birgt Sprengstoff. Aber auch die Erwartungen an die Praxis der Gemeindearbeit stehen doch im großen und ganzen fest. Die Kirchengemeinden haben in der Regel Vorstellungen davon, was zu tun und was zu lassen ist. Von daher besitzt der vermeintlich "freie" Pfarrer in seiner Berufsgestaltung allenfalls "Variationsmöglichkeiten ... aber keine wirkliche Wahl".64 Es soll nicht bestritten werden, daß es im Pfarrberuf auch Freiheiten gibt. Aber diese Freiheiten gehen nicht über das Maß dessen hinaus, das im Wirtschaftsleben üblicherweise Angestellten zugestanden wird, die auf schwach verketteten und mit hoher Zeitautonomie ausgestatteten Arbeitsplätzen tätig sind. Beim Pfarrberuf ist das im Kern die inhaltliche Ausgestaltung von Verkündigung und Seelsorge im Rahmen der Vorgaben der Präferenzordnung (Art 70 KO), die freie Terminplanung und Arbeitszeitgestaltung und die Freiheit, "jenseits einer normalen Arbeitswoche "65 verbleibende Gestaltungsfreiräume nach Belieben zu nutzen. Die unzutreffende Vorstellung von der "Freiheit des 63

64 65

E.Lange: Schwierigkeit, S.31. Das hohe Maß an persönlicher Ausgestaltungsfreiheit scheint auch dem Trend des modernen Wertewandels entgegenzukommen. Gesucht werden sinnvolle Tätigkeiten, die den persönlichen Vorstellungen und Bedürfilissen entsprechen. E.Lange: Schwierigkeit, S.16 H.Lindner: Kirche, S.298. Vgl. die in den 60er Jahren ermittelten Arbeitsstundenauflistungen bei G.Bormann / S.Bormann-Heischkeil: Theorie, S. 100-145 (Württemberg); W.Marhold: Pfarrer, S.177 (Kanton Zürich 1969); Y.Spiegel: Pfarrer, S.468 (Berlin), die mit regelmäßigen Wochenarbeitszeiten von weit über 60 Stunden unzumutbar hohe Größenordnungen ausweisen. "Eine unveröffentlichte Auswertung von Zeitprotokollen der Pfarrer einer süddeutschen Mittelstadt durch H.Lindner und W.Lukatis erbrachte 1973 ähnliche Daten. Neuere Erhebungen der pastoralsoziologischen Arbeitsstelle Hannover zeigen für jüngere Pfarrer der evangelisch-lutherischen Kirche Hannovers eine durchschnittliche Arbeitszeit von 67 (1978) bzw. 67,75 (1980) Stunden pro Woche." - M.Josuttis: Pfarrer, S.128f

3.2 Pfarrer/innen: "Familienpflege"

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Pfarrberufs" kann in der Praxis der Gemeindearbeit zu zahlreichen Spannungen und Konflikten führen, wenn sich die Pfarrstelleninhaber/innen der Illusion hingeben, es gäbe eine derartige Freiheit tatsächlich. 66 3. Die historisch gewachsene Bedeutung der Pfarrerpersönlichkeit: Über Jahrhunderte hinweg war das evangelische Pfarrhaus sichtbarer Ausdruck der Einheit von Glauben und Leben, von Beruf und P r i v a t s p h ä r e . A l s "Glashaus" mit offenen Türen sollte es jedermann Einblick und Zugang gewähren. Seine Bewohner waren Vorbild und Muster bürgerlichen Glaubens- und Familienlebens.68 "Das galt nicht nur im Innenraum von Glaubenshaltung und Bibelfestigkeit, sondern auch im Blick auf die christliche Praxis. Hilfsbereitschaft, Fürsorglichkeit, Solidarität und alle anderen christlichen Tugenden erwartete man in der Pfarrfamilie vorbildlich gelebt. Keine Flüche, keine 'häßlichen Worte', kein Sich-gehen-Lassen, pünktliche Beherrschung bürgerlicher Formen, Gehorchen 'aufs Wort' ... Die Pfarrfamilie repräsentierte christlich-bürgerliches Leben und setzte Maßstäbe dafür".69 Das gläserne Pfarrhaus entsprach nicht allein den oben bereits diskutierten kirchenleitenden Vorstellungen von einem Christenleben im Dienst der Kirche, es war auch sinnfälliger Ausdruck der Personalisierung des pastoralen Berufsbildes im Zuge der Individualisierung des Glaubens. Dieser zweite Aspekt bedarf einer vertiefenden Betrachtung, denn er prägt bis heute das Selbstverständnis vieler Pfarrerinnen und Pfarrer. Die Individualisierung und die Privatisierung der Glaubensüberzeugungen im Protestantismus (s.o. Kap.V 4.2c und 2d) hatten weitreichende Konsequenzen für das Berufs- und Selbstverständnis der Pfarrerschaft.70 Sie begünstigten ein überstarkes Anwachsen der Bedeutung der einzelnen Pfarrerpersönlichkeit. "Mit der Privatisierung der Religion verliert ... der Beruf des Pfarrers an gesellschaftlicher Bedeutung. Es liegt in der Konsequenz dieser Entwicklung, daß sich der Pfarrer zunehmend auf sich selbst zurückzieht, daß er sich selbst, seine private Welt und schließlich seine Gesinnung zum Gegenstand seines Berufs erklärt. Aus Überzeugung soll einer Pfarrer werden ... Nicht was der Pfarrer tut, sondern was er ist, scheint nunmehr - nicht nur für ihn, sondern auch für die Kirchenmitglieder - von Bedeutung zu sein. Der Pfarrer wird zur Symbolfigur 66

67

68 69 70

"In der Universitätsausbildung dürften die Theologen und Theologinnen kaum wahrnehmen, daß es außer ihrem eigenen Amt noch andere Ämter in der Kirche gibt." - W.Lück: Pfarrer, S.139. Sie nehmen in aller Regel auch nicht wahr, daß eine Kirchengemeinde unter systemtheoretischen Gesichtspunkten sehr viel besser zu verstehen ist als unter dem Aspekt der Freiheit der persönlichen Berufsgestaltung. M.Greiffenhagen (Hg.): Das Evangelische Pfarrhaus. Eine Kultur- und Sozialgeschichte, Stuttgart ^1991. Hier insbes. F.W.Kantzenbach: Das reformatorische Verständnis des Pfarramtes, S.23-46 W.Steck: Im Glashaus: Die Pfarrfamilie als Sinnbild christlichen und bürgerlichen Lebens, in: M.Greiffenhagen (Hg.): Pfarrhaus, S. 199-125 MGreiffenhagen: Einleitung, in: Ders. (Hg.): Pfarrhaus, S.13 Zum folgenden auch W.Steck: Die Privatisierung der Religion und die Professionalisierung des Pfarrberufs, in: PTh 80/1991, S.306-322

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ΥΠ. Die Kirchengemeinde

stilisiert. Er ist nichts anderes als eine lebendige Repräsentanz der individuell verwirklichten Religion. Seine Tätigkeit besteht dann in der Expression seiner selbst" .71 Mit der Individualisierung des Glaubens ging auch eine Neubewertung des Amts Verständnisses einher. "Sonst machte das Amt den Pfarrer, heute macht der Pfarrer das A m t " . D a s Amt verlor seine Korsettfunktion, auch einen schwachen Pfarrer zu stützen. Der Amtsinhaber stand nach gewandeltem Amtsverständnis mit seiner Persönlichkeit für die Botschaft ein, die er zu vermitteln hatte. So wird es vielfach bis heute gesehen und erlebt. "Er muß das Amt in die eigene Regie nehmen. Er muß es so wahrnehmen, daß er dabei unter Aufnahme höchst unterschiedlicher Erwartungen und zugleich orientiert an seinem speziellen kirchlichen Auftrag Ansprechbarkeit für die nach religiös-weltanschaulicher Orientierungsgewißheit suchenden Menschen gewinnt".73 Die Zentralstellung der Pfarrerpersönlichkeit, der Vorbildcharakter seiner gesamten Lebensführung, ist nicht allein gesamtkirchlich erwünscht und der Disziplinargewalt der Landeskirche unterstellt, er ist im Zuge der Entwicklungsgeschichte des Protestantismus plausibel umgesetzt worden und prägt bis heute sowohl Erwartungshaltungen unter Gemeindemitgliedern als auch das Selbstverständnis vieler Pfarrer/innen. Mit ihrer Person und ihrer Lebensführung haben sie glaubwürdige Garanten für die insgesamt hochkomplexe und unüberschaubare Kirche (und ihre maßgeblichen Bekenntnisse) zu sein. Aus der Sicht der Gemeindemitglieder handelt es sich damit um eine durchaus sinnvolle Komplexitätsreduktion. Ist der Pfarrer (als Mensch) in Ordnung, dann wird wohl auch die Kirche und die Sache der Kirche in Ordnung sein. Nicht was Kirche "eigentlich" ist, interessiert die Kirchenmitglieder, sondern wie sie erfahren wird. Dem Rollenträger aber erwächst daraus ein immenser psychischer Druck. Was er überzeugend zu personifizieren hat, ist nicht weniger als "exemplarische ethisch-religiöse Subjektivität". 74 im Extremfall kann das bedeuten: Nur "durch seinen Ausdruck macht er Eindruck".75 Das pastorale Selbstverständnis als "ethisch-religiöser Virtuose" entstammt einer vergangenen Zeit. Es ist nicht realisierbar. Die Berufsrolle eines "persönlichen Bürgen des Gesamtsinns", eines exemplarischen und für jedermann gültigen Vorbildes ist in der ausdifferenzierten Gesellschaft sinnlos geworden76i weil die ausdifferenzierte Gesellschaft keine werthomogene Bürger71 72 73 74 75 76

W.Steck: Privatisierung, S.316 F.Dernburg, zit. nach W.Gräb: Der Pfarrer als Musterprotestant. Zum Wandel einer kirchlichen Funktionselite, in: F.W.Graf / K.Tanner (Hg.): Identität, S.250f W.Gräb: Pfarrer, S.251 G.Lämmermann: Der Pfarrer - elementarer Repräsentant von Subjektivität?, in: ZEE 35/1991, S.21-33; W.Gräb: Pfarrer, S.255 W.Steck: Privatisierung, S.316 "Der berufliche Untergrund ihrer individuellen Lebensführung kommt ihnen wie heimtükkisches Glatteis vor, auf dem man sich bestenfalls - wenn auch mit skurrilen Figuren, Drehungen und Wendungen - einigermaßen aufrecht halten kann; ein Untergrund, auf dem man mittlerenfalls stürzen und reaktionsschnell wieder aufstehen kann, daß es vielleicht niemand gesehen hat; ein Untergrund, auf dem man schlimmstenfalls einbricht. Das ist dann das be-

3.2 Pfarrer/innen: "Familienpflege"

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gesellschaft ist (die war auch schon zu Zeiten des "gläsernen Pfarrhauses" eine Illusion??) und es einen allgemein verbindlichen Gesamtsinn in ihr nicht mehr gibt. Stattdessen gibt es viele systembereichsspezifische und subkulturelle Sinnsegmente. Die ausdifferenzierte Gesellschaft hat die berufliche Situation der Gemeindepfarrer/innen radikalisiert. Im Arbeitsalltag der Parochialpfarrer gibt es beinahe täglich all das, was die Organisationstheorie zurecht für schädlich hält: Zielkonflikte, Guppenkonflikte, RollenüberlastungWer bei irgend einem Hausbesuch die Türklingel betätigt, kann heute nicht mehr im voraus wissen, welche religiöse Einstellung ihn hinter der Haustür erwartet und welche inhaltliche Erwartung ihm entgegen gebracht wird. Grundsätzlich aber erwarten Menschen von einem Kommunikationspartner eher Akzeptanz, Stabilisierung, Bestätigung und Einvernehmen^ als Dissenz, Kritik, Zurechtweisung oder Belehrung. Diese Erwartung wird nun von Vertretern jeder denkbaren Position an die Gemeindepfarrer/innen herangetragen. Erwarten die einen persönlichen Glaubensernst, Bibelfestigkeit oder konfessionelle Identität, so erwarten die anderen, daß der Pfarrer sein "pastorales Gehabe" ablegt und "menschliche Qualitäten" zeigt. Dies alles setzt die Betroffenen einem massiven Flexibilitätsdruck aus. Zerbricht die kommunikative Anknüpfungsmöglichkeit, hat das für den Berufschristen folgenschwere Konsequenzen: Vertrauensverlust, Kontaktvermeidung, Autoritätsverlust, Akzeptanzverlust, Oppositions verhalten, Obstruktion, Destruktion usw. "Das Hohe Lied der pastoralen Tugend" ist nicht ohne Grund die "Menschlichkeit des Pfarrers". 81 Ein Pfarrer kann sich vieles erlauben, Verstöße gegen die Menschlichkeit nicht.82 Mit allem, was hier gesagt worden ist, ist nichts Unbekanntes angesprochen worden. Die überaus schwierige Position der Parochialpfarrer/innen im Anforderungs- und Erwartungsgeflecht der Gemeindemitglieder ist über Jahrzehnte hinweg in der Fachliteratur immer wieder angesprochen und dargestellt worden. In derart widersprüchlichen Strukturen kann niemand dauerhaft unverletzt bleiben. Zwei Voten seien exemplarisch für viele andere zitiert:

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81 82

rufliche und persönliche Scheitern, beides auf einen Streich." - W.Streck: Privatisierung, S.308 Über selektive und schichtspezifische Kontakte des Pfarrhauses: K.-S.Kramer: Pfarrhaus und soziales Umfeld, in: MGreiffenhagen: Pfarrhaus, S.209-221 R.Mayntz: Soziologie, S.74-84 P.Krusche: Krisenagent, S.283 "Der Pfarrer soll ein heimliches Vorbild sein, ein symbolischer Garant der Menschlichkeit, Nachbarschaft, Hilfsbereitschaft und verläßlicher Präsenz, der aber nicht auf dem hohen Roß der Unnahbarkeit sitzt." - W.Marhold: Der Pfarrer in der Sicht der Kirchenmitglieder, in: WPKG 64/1975, S.172; "ein professioneller Nachbar" - E.Lange: Schwierigkeit, S.32 W.Steck: Privatisierung, S.308 Schon Paulus scheint sich für diesen zweiten Weg entschieden zu haben. Er bemühte sich, auf die Menschen in ihrer Situation einzugehen, "allen alles zu sein", den Juden ein Jude, den Griechen ein Grieche, den Schwachen ein Schwacher (1 Kor 9,19-23), dem einen "Milchbrei" und dem anderen "feste Speise" (1 Kor 3,2; vgl. Hebr 5,12f) anzubieten. Diese Entscheidung verschärft die Problematik der Identitätsbildung im Pfarrberuf, aber sie sichert die kommunikative Anschlußfähigkeit. Im Extremfall kann das dazu führen, daß die Konturen der eigenen Identität zu verwischen beginnen, wie es Woody Allen in seinem Film "Zelig" so hervorragend dargestellt hat.

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ΥΠ. Die Kirchengemeinde

"Mit ihrer Position wird ihnen ein Ort in dem sozialen Feld der Normen, Werte, Gefühle, Denkinhalte zuteil, an dem sie je nach der Lagerung der vorhandenen Kommunikationskonflikte sozusagen von selbst, eben als Träger der Position Pfarramt, zum Exponenten, u.U. zum Auslöser der Konflikte werden können". 83 "Die Schwierigkeit, Pfarrer zu sein, ist in dieser Situation vor allem die, im Schnittpunkt von Erwartungen zu stehen, die sich zu einem Teil widersprechen und in ihrer Summe viel zu groß sind, als daß man sie erfüllen könnte".84 Auch diese Spannungen suchen nach einem Ventil. Sie finden es in geheimen Spielregeln für die Pfarramtsführung. 4. Additive Aufgabenvermehrung: Es wurde bereits dargestellt, daß das Gemeindepflegekonzept vorzüglich an veränderte gesamtgesellschaftliche Verhältnisse und Strömungen angepaßt werden kann. Durch additive Aufgabenvermehrung hat die evangelische Gemeindearbeit jahrzehntelang mit der gesellschaftlichen Entwicklung Schritt halten können. 85 Allerdings war für diese hohe Flexibilität auch ein hoher Preis zu zahlen. Die Kirchengemeinden wurden fortwährend mit zusätzlichen Projekten und Themenfeldern konfrontiert. Aufgrund von Globalzuständigkeiten und Letztverantwortlichkeiten traf die Ausdifferenzierung der parochialen Arbeit fast immer auch die Pfarrerschaft. "Ein tüchtiger Pfarrer - das ist im Verständnis des Publikums heute nicht zuerst ein tüchtiger Theologe. Er ist vielmehr Manager, Bürovorsteher, Finanzexperte, Bauherr, Pädagoge, Psychologe, Tagungsleiter, Freizeitgestalter und womöglich noch Sportfunktionär und Diskjockey obendrein". Im Anhang dieses Buches ist eine Liste möglicher Aktivitäten in der parochialen Gemeindearbeit abgedruckt. Es kann an dieser Stelle nur empfohlen werden, sie einmal kurz einzusehen. Das Arbeitsfeld der Parochialpfarrer/innen ist mittlerweile so komplex geworden, daß es als durchaus normal gezusehen ist, wenn selbst kirchliche Mitarbeiter/innen und Theolog/innen sich über die Vielfalt der Aufgaben täuschen und die Unübersichtlichkeit des parochialen Arbeitsfeldes in Zweifel ziehen. "Der Pfarrer ist die Zentralfigur der evangelischen Kirche und damit auch der Kirchengemeinde".87 Wie das Licht die Motten anzieht, so zieht er ungezählte Erwartungshaltungen auf sich. "Der Pfarrer erscheint als zentrale Bezugsperson für das, was Kirche in der gegenwärtigen Gesellschaft repräsentiert, unter einer Vielfalt kaum einzugrenzender Aspekte: der Darsteller einer religiösen Institution, Vermittler von Werten, Garant für sinnvolle Tradition, Funktio83 84 85 86 87

G.Bormann / S.Bormann-Heischkeil: Theorie, S.79 E.Lange: Schwierigkeit, S.20 H.Lindner:Kirche, S.298 C.Hepp: Erinnerung oder Erwartung: das kirchliche Amt im Urteil der Laien, in: H.D.Bastian (Hg.): Kirchliches Amt im Umbruch, München u.ö. 1971, S.260 W.Lück: Praxis, S. 116f

3.2 Pfarrer/innen: "Familienpflege"

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när einer Organisation - aber auch als weithin akzeptierte Kontaktfigur, Mann allgemeinen Vertrauens, potentieller Gesprächspartner, Begleiter, Berater, Zeremonienmeister usw".88 Dem Prinzip der additiven Aufgabenvermehrung wohnt ein latenter Zynismus inne. Das System verschleißt gerade seine leistungsfähigsten Mitarbeiter/innen. Je mehr jemand leistet und je besser er arbeitet, desto mehr wird an ihn herangetragen. Wer viel schafft, bekommt umso mehr zu tun. Wenn er nicht rechtzeitig zu aktiven Selbstschutzmaßnahmen greift (s.u. geheime Spielregeln), wird er irgendwann über die Grenzen seiner Leistungsfähigkeit hinausgetrieben. Wer dagegen von vornherein wenig tut, sich ungeschickt verhält und vieles falsch macht, wird auch weniger gefragt und ist dieser Gefahr deutlich weniger ausgesetzt. Ein System, das keine Leistungsprämien kennt, sondern von allen Mitarbeiter/innen prinzipiell gleich viel erwartet, behütet die Schwachen und bestraft die Leistungsfähigen. Ein weiteres Problem stellen auch mangelhafte oder vollständig fehlende Vertretungsregelungen dar. Fällt ein Pfarrer wegen Krankheit, Urlaub oder Pfarrstellenwechsel aus, ist es durchaus nicht ungewöhnlich, daß die Kirchen- und die Gemeindeleitung von dem verbliebenen Kollegen wie selbstverständlich erwartet, daß er die gesamte Arbeit übernimmt. Das kann etwa bedeuten, daß von einem Tag auf den anderen statt 2000 Gemeindemitgliedern 4000 zu betreuen sind. Je nach Dauer einer Krankheit oder einer Vakanz kann sich die unerwartete und unbezahlte Mehrbelastung über viele Monate, ja selbst über ein Jahr hinziehen. Grundsätzlich ist der Umfang der pastoralen Zuständigkeiten jederzeit erweiterbar. In der Kirchenordnung der Rheinischen Kirche ist festgelegt, daß Pfarrer "besondere Einzelaufgaben", die ihnen von der Gemeinde übertragen werden, nicht ablehnen dürfen. Zwar sollen "Ausbildung und Eignung berücksichtigt" werden, aber "die Übernahme solcher Aufgaben gehört zu den Amtspflichten des Pfarrers" (Art.69 Anm.17), sie zurückzuweisen, ist folglich "Amtspflichtverletzung". Darüberhinaus kann die Dienstanweisung jederzeit auch gegen den Einspruch des Betroffenen abgeändert werden. "Gegen eine Änderung kann der Pfarrer zwar Bedenken geltend machen, Zustimmungsrecht hat er jedoch nicht" (Art 69 Anm.9). Auch überparochiale Tätigkeiten können einem Gemeindepfarrer jederzeit aufgetragen werden. "Unbeschadet seiner Dienstpflicht gegenüber der Gemeinde, in die er gerufen ist, ist der Pfarrer der gesamten Kirche zum Dienst verpflichtet. Über den Bereich der Ortsgemeinde hinausgehende Aufgaben können ihm durch die Kreissynode, durch die Landessynode und durch die Kirchenleitung übertragen werden" (Art. 69,4 Rheinische KO). 5. Zerrissene Arbeitszeit als Streß- und Risikofaktor: Die unregelmäßige Arbeitszeitbelastung im Pfarrberuf ist ein häufig übersehener Risiko- und Streßfaktor. Über den gesamten Tagesverlauf hinweg kommt es berufsbedingt zu starken Schwankungen des Aktivitäts- und Anspannungsgrades. Die einzelnen 88

P.Krusche: Pfarrer, S.161

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Aktivitäten verteilen sich nach Maßgabe eines Terminkalenders über den gesamten Tag h i n w e g . E i n e Spanne von 10, 12 oder 14 Stunden ist in diesem Beruf keineswegs ungewöhnlich. Wenn morgens um 7 oder 8 Uhr das Telefon klingelt, beginnt der Dienst. Klingelt es nicht, beginnt er vielleicht auch erst viel später. Das weiß man aber nicht am Tag vorher. Spät abends endet der Dienst vielleicht gegen 20 oder 22 Uhr, manchmal später. Nicht jeder kann nach einem langen Arbeitstag sofort abschalten. Zwischendurch aber können sich durchaus kleinere oder sogar größere Lücken im Terminkalender ergeben. Wie geht man mit derartigen Lücken um? Derartige Schwankungen im Aktivitätsniveau nehmen auf die Biorhythmen des menschlichen Körpers keine Rücksichten und begünstigen so psychische oder organische Erkrankungen. Ein Pfarrer, der "immer im Dienst" ist, ist auch dann im Dienst, wenn sein Körper oder seine Seele ruhebedürftig sind. 6. Burnout-Gefahr: Versucht man eine Zusammenfassung, dann läßt sich ein tiefer Riß zwischen dem kirchenamtlichen Pfarrerbild und der pastoralen Arbeitswirklichkeit ausmachen. Erwartet wird nicht selten eine ausgeglichene und kommunikationsfähige Pfarrerpersönlichkeit mit "meditativer Grundhaltung "90, die Inkorporation eines denkbar unangefochtenen Christenmenschen, der mit seiner ganzen Kraft und seinem ganzen Haus unermüdlich dem Verkündigungsauftrag dient. Die Berufspraxis sieht anders aus. Sie vollzieht sich unter Umwelt· und Arbeitsbedingungen, die derartige Trugbilder schon aus strukturellen Gründen zunichte machen. Die pluralistische Gesellschaft, die privatisierte Mitgliederreligiosität und die ausdifferenzierte Palette der Gemeindepflegeaktivitäten lassen keine homogene Pfarrerrolle mehr zu. "Der Pfarrer steht (mit seiner Person und seiner Persönlichkeit) für die Kirche in ihrer Präsenz bei den Mitgliedern - und zwar wechselseitig unter dem Aspekt der Person, des BerufsImage, des Handelns oder Redens. Das bedeutet ein solches Maß an 'Komplexität' von nicht kongruenten Rollenerwartungen, Bezugsgruppen, Normverständnissen und Systemabhängigkeiten, daß ein diffuses Berufsfeld entsteht. Es setzt den Berufsträger beträchtlichen internen Streßsituationen und vor allem einer permanenten Infragestellung seines theologischen Auftrages aus".91 Alle diese Einsichten sind nicht neu, im Gegenteil, sie sind längst bekannt. Es gibt wohl kaum eine Publikation über den Pfarrberuf oder die evangelische Gemeindearbeit, in der nicht die Überlastung der Parochialpfarrerschaft beklagt wird. Seit vielen Jahrzehnten aber scheint es ebenso selbstverständlich, diese Situation stillschweigend oder achselzuckend hinzunehmen. Man kann das mittlerweile wohl nur noch tiefenpsychologisch erklären. Wenn Pfarrer klagen, fühlt sich offensichtlich niemand angesprochen, und keiner hört mehr hin. Auf diesem Ohr ist die Kirche des Wortes taub. Die erhöhte Gefährdung der physischen und psychischen Gesundheit im Parochialdienst ist systeminduziert. Schon vor 20 Jahren hat Yorick Spiegel auf 89 90 91

Auch der Arbeitsumfang im Wochen-, im Monats- und im Jahresablauf schwankt. H.Lindner: Kirche, S.98 P.Krusche: Pfarrer, S. 181

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die "wachsende Überforderung des Gemeindepfarrers, die sich in einem hohen Krankenstand ausdrückt", hingewiesen.92 Auch ist längst bekannt, daß der Pfarrberuf die Stabilität der Ehe bedroht. Übergroß ist die Versuchung, die belastenden Faktoren des Berufslebens im Privatbereich "abzureagieren". Statt aber die strukturellen Ursachen für die Zerrüttung der Pfarrehen aufzudecken, greifen viele Landeskirchen zum Mittel des Disziplinarrechts und behandeln die Opfer der innersystemischen Verhältnisse als Täter, denen individuelle Schuld vorzuwerfen ist. "In schlechten Strukturen können selbst fähigste Personen in Kürze kaputt gehen".93 Der Pfarrberuf führt zu berufsspezifischen psychologischen Anpassungsreaktionen. Mit Manfred Josuttis gesprochen, unter der Last ihres diffusen Berufsalltags werden Pfarrer/innen "anders". Der Pfarrberuf erzeugt Worcaholic-Syndrome94 Und birgt eine erhebliche Burnout-Gefahr. 95 Ständige Überarbeitung, defizitäre intellektuelle Präsenz, herabgesetzte Fähigkeit zu echter zwischenmenschlicher Kontaktaufhahme, emotionale Erstarrung und Antriebsarmut sind gerade in den mittleren Pfarrerjahrgängen weit verbreite Symptome.96 Auf diesem Gebiet fehlt es an kirchenleitenden Bemühungen um eine effektive Verbesserung der Verhältnisse, an konzentrierten Hilfsanstrengungen, die die Bezeichnung "geschwisterlich" tatsächlich verdienen. Wenn auch unter derartigen Bedingungen in den Ortskirchengemeinden weitergearbeitet wird, dann bedeutet das auch, daß diejenigen, die heute im Pfarrdienst tätig sind, selbst gefordert sind, ihre Gesundheit zu schützen, ihr Familienleben intakt zu halten und sich ihre die persönliche Arbeitsfreude zu bewahren. Gelingt das nicht, bezahlen sie: mit ihrer Gesundheit, mit ihrer Ehe oder mit der Zerrüttung der Verhältnisse in der Kirchengemeinde. Unter all diesen Voraussetzungen entstehen die "geheimen Spielregeln" des Parochialpfarramtes. Nur unter diesen Bedingungen sind sie verständlich, selbst da, wo sie "bedenklich" zu nennende Formen annehmen. b) Informale Ordnungen des Pfarrberufs Auch die informalen Ordnungen des Pfarrberufs entwickeln sich aus der Notwendigkeit, vor allem anderen das Nächstliegende zu tun. Die folgenden Regeln werden dargestellt: Komplexität reduzieren (1.), "Bloß nicht anecken" (2.), "den blinden Fleck nutzen" (3.), Kapazitäten freihalten (4.) und "Pflege deine Privatsphäre" (5.). 92 93 94 95 96

Y.Spiegel: Pfarrer, S.471 A. Jäger: Konzepte, S.209 Vgl. die Darstellung bei H.Lindner: Kirche, S.299-301 B.P.Buunk et al.: Burnout, Uncertainty, and the Desire for Social Comparison Among Nurses, in: Journal of Applied Social Psychology 24/1994, S.1701-1718 (Lit.) "So ist der Pfarrer als Schnittpunkt eines vielwertigen innerkirchlichen Selbstverständnisses und der vieldeutigen und oft diSiisen gesellschaftlichen Erwartungen erhöht einer Identitätsproblematik ausgesetzt, die bei vielen zu einem habitualisierten Defizitbewußtsein bzw. zu einem übersteigerten Selbstwertgefühl [und Geltungsbedürfnis] als dessen Kontrastphänomen" führt. - W.Marhold: Pfarrer, S.180

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1. Komplexität reduzieren: Auch im Pfarramt ist es üblich, die ausdifferenzierte Palette der Mitgliederreligiosität und die Komplexität des Arbeitsfeldes mit Hilfe einfacher Leitmetaphern und einfacher Zielvorgaben für die Gemeindearbeit zu strukturieren. Dabei kommen schon aus Gründen der internen Kompatibilität die gleichen Leitmetaphern zur Anwendung wie im Presbyterium, das Bild von den konzentrischen Kreisen abnehmender Religiosität, die Kern-fern-Metapher, die Vorstellung vom lebendigen Gemeindehausleben und der "toten Restgemeinde". Mit Hilfe derartiger Metaphern strukturiert sich das unübersichtliche Gebilde wie von selbst in Bezirke unterschiedlicher Wichtigkeit. Wo die suggestive Kraft dieses Leitbildes wirkt, "wird die Erwartungsstruktur der Ortsgemeinde in ihrer Gesamtheit ... unsichtbar"^: Weniger wichtig oder gar unwichtig sind diejenigen, die nicht regelmäßig präsent sind, die volkskirchlich orientierten Kirchen- und Gemeindemitglieder. Sie mögen weit mehr als 3/4 aller Gemeindemitglieder stellen, gleichwohl rangieren sie auf der informalen Wichtigkeitsskala weit hinten. Theologische und konzeptionelle Argumente, die diese Einschätzung abstützen und verfestigen, wurden oben bereits dargestellt. Sie sollen hier nicht wiederholt werden. Deutlich wichtiger als die vielen ist der relativ kleine Kreis derjenigen, die in Gemeindeleitung oder "Gemeindeleben" präsent sind. Auch bei Hausbesuchen genießen sie Priorität. Da die Mitglieder des Presbyteriums das aus den bereits dargestellten Gründen durchaus in Ordnung finden, schließt sich der Kreis. "Gib ihnen, was sie w o l l e n " . "Familienpflege" wird zur Aufgabe der ersten Wahl. Es gilt, stets da präsent zu sein, wo "die Wichtigen" oder zumindest die sich versammeln, die sich für wichtig halten. Wer zur großen "Familie" der Kerngemeinde gehört, wird konsequent umsorgt. Eine Pfarrerin oder ein Pfarrer, die diese Kunst beherrschen, werden bald im Presbyterium als "fleißig" gelten. Das ist allein schon deshalb wichtig, weil das Presbyterium bei Überzahl der Laienstimmen über Wohl und Wehe der Hauptamtlichen entscheidet. Ist der gute Ruf erst einmal verfestigt, kann man das Tempo getrost etwas zurückfahren. Ist er dagegen ruiniert, drohen harte Zeiten. Nach Brechts Einsicht aus der "Dreigroschenoper" sieht man immer nur die, die im Licht stehen, während man die nicht sieht, die im Dunkeln stehen. So ist es auch in der Gemeindearbeit: Sinnvolle Schwerpunkte der Gemeindearbeit sind solche Schwerpunkte, die sich mit relativ wenig Aufwand wirkungsvoll in Szene setzen lassen und insbesondere die "Familienmitglieder" beeindrucken. 2. "Bloß nicht anecken": Konflikte und Spannungen, die ja im Pfarrberuf in vielfältiger Weise strukturell angelegt sind, dürfen auf keinen Fall eskalieren. Geschieht das doch, können sie unberechenbare Dimensionen annehmen und sich im Geflecht der innersystemischen Beziehungen so rasant ausbreiten wie ein Ölfleck auf dem Wasser. Das ist dann äußerst unheilvoll, denn die Bettfedern, die einmal aufgewirbelt sind, kann niemand mehr einsammeln. Hier wirken die Gesetzmäßigkeiten sozialer Großsysteme und eben gerade nicht Spiel97 98

J.Matthes: Gesellschaftsentwicklung, Pfairamt und Pfarren-olle, in: WPKG 61/1972, S.24 F.Schwarz / C.Schwarz: Theologie, S.73

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regeln des zwischenmenschlichen Umgangs. In einem problembeladenen und komplexen Sozialsystem wie der Ortskirchengemeinde ist es unmöglich, Ursachen und Wirkungen eindeutig zu rekonstruieren, um Fragen des Verschuldens zu klären. Vorbeugende Risikovermeidung ist von daher ebenso unumgänglich wie der Verzicht auf schriftliche Verlautbarungen. Die bürokratische Verwaltung sammelt alles. Ist die Personalakte erst einmal angeschwollen, lassen sich Schuldfragen in Zentimetern messen.^ Aus allen diesen Erwägungen heraus ist es sinnvoll, das berufliche Engagement stärker vom Gedanken der mittelfristigen Nutzenverstetigung leiten zu lassen als von profetischer Kompetenz, biblischer Konsequenz oder persönlichem Ehrgeiz. 3. Den "blinden Fleck" nutzen: Erfahrungsgemäß kommt kaum je ein Mitglied des Presbyteriums auf die Idee, nachzufragen, wie denn mit den restlichen 70 bis 95 Prozent der Gemeindemitglieder umgegangen wird, mit denen, die nicht zum "lebendigen" Teil der Gemeinde gehören. Hier liegt der blinde Fleck in der Wahrnehmungsperspektive des Presbyteriums. In diesem Bereich lassen sich am leichtesten berufsinterne Rationalisierungsmaßnahmen durchführen, ohne befürchten zu müssen, darüber folgenschwere Konflikte im Presbyterium auszulösen. Es ist der Bereich der Hausbesuche, der Amtshandlungen, der pastoralen Seelsorge und Sozialarbeit, also der Bereich, auf den die Gemeindemitglieder in ihrer Gesamtheit den größten Wert legen. Hier haben sie die höchsten Erwartungen. Gerade in diesem Bereich liegt das einzige konfliktarm realisierbare Rationalisierungspotential der Gemeindearbeit. Was wird die Maus wohl tun, der befohlen wird, einen Käse zu behüten? Die Frage läßt sich, bezogen auf die Pfarrermentalitäten, gewiß nicht pauschal beantworten. Im Gegenteil. Über der Antwort auf diese Frage scheiden sich die pastoralen Geister. Hier trifft nach wie vor Ernst Langes Beobachtung zu: "Es ist ja unstreitig, daß eine große Mehrheit von Pfarrern in diesen Schwierigkeiten höchst redlich bei ihrem Beruf und bei ihrer Sache bleib e n " . ! ^ E s W äre unangemessen und falsch, der Pfarrerschaft insgesamt pauschal vorzuwerfen, daß sie von dem Einsparungspotential, das sie an dieser Stelle ihres Arbeitsfeldes tatsächlich einmal relativ ungefährdet besitzt, hemmungslos und in unverantwortlichem Ausmaß Gebrauch macht. Aber es kann eben auch nicht davon ausgegangen werden, daß ein Mensch, der unter starkem Druck steht, die Ventile, die ihm zur Verfügung stehen, ungeöffnet läßt. Hier ist dem persönlichen Wollen und dem pastoralen Selbstverständnis ein breiter Gestaltungsraum geöffnet. Er reicht von pausenlosem, selbstaufreibendem Ein99

Eine kritische Darstellung des bürokratischen Vorgehens bei Abberuftingsverfahren: A.Fuchs: Abberufung - ein brennendes, aber verdrängtes Thema, in: Rheinisches Pfarrerblatt H.3/1995, S.4-9 100 Das gilt insbesondere dann, wenn, wie es in der Rheinischen Kirche zur Zeit anvisiert wird, die Pfan-er/innen zu Angestellten einer Zeitarbeitsfirma degradiert werden, die nach einigen Jahren ihrer Tätigkeit im Presbyterium um Wiederwahl nachsuchen müssen. 101 Sollte das wider Erwarten doch einmal geschehen, greift die oben dargestellte "Harmonieregel" und sorgt i.d.R. schnell für erlahmenden Nachfrageeifer. 102 E.Lange: Schwierigkeit, S.30

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satz über viele Zwischenstufen bis hin zur Totalrationalisierung, die auf Hausbesuche und die seelsorgerlich-diakonische Betreuung der Gemeindemitglieder vollständig verzichtet. Diese letzte Reaktion wird um so notwendiger, je stärker ein Presbyterium oder eine Kirchenleitung die angestellte Pfarrer/in mit Vertretungs-, Verwaltungs- oder "Kerngemeinde"-Arbeit überfrachtet. Es gibt Arbeitsbedingungen im Parochialpfarramt, und sie scheinen gar nicht so selten zu sein, in denen die hauptamtlichen Pfarrer/innen von der Not der Umstände gezwungen sind, die Mehrzahl der Gemeindemitglieder systematisch zu vernachlässigen und ihre sinnvollen und keineswegs unbilligen Erwartungen sehenden Auges zu mißachten. 4. Kapazitäten freihalten: In einer Arbeitssituation, in der ständig unvorhergesehene Aufgaben über den Amtsträger hereinbrechen können, empfiehlt es sich, das Arbeitsverhalten strategisch auszurichten. Wer eine Situation vollständiger Überforderung und Überlastung vermeiden will, tut gut daran, sein Arbeits verhalten vorausschauend zu organisieren. Es ist wichtig, sich nie so viel Arbeit aufzuladen, daß nicht zumindest noch ein kleiner Rest an "Arbeitskapazität" frei wäre. Vorsorgliche Arbeitsvermeidung ist ein Gebot der pastoralen Arbeitssituation. Nicht allein von daher, aber auch aus dieser Sicht sind einige weitere Spielregeln der Gemeindearbeit durchaus sinnvoll und angemessen: * Rationalisieren, rationalisieren und noch einmal rationalisieren: Wer ständig zu viel zu tun hat und oft am Morgen noch nicht einmal weiß, was er abends alles getan haben wird, muß zügig, reibungslos und effektiv arbeiten. Ein gutes Terminkalendermanagement ist unabdingbar. Vorbereitungsergebnisse müssen, wenn irgend möglich, mehrfach genutzt werden. Auch empfiehlt es sich, Praxiserfahrungen und Praxistips auszutauschen. Es ist immer wichtig, zu wissen, wie die Kollegen, die in vergleichbaren Situationen arbeiten, die Schwierigkeiten bewältigen. Hier liegt allerdings auch ein Problem. Viele Pfarrer/innen lassen sich, schon im Hinblick auf Kirchenordnungsvorgaben und Erwartungshaltungen in der eigenen Kirchengemeinde, nur ungern in die Karten gucken. Kontakte zu Freunden und entfernten Bekannten sind da häufig ergiebiger. Auch der Buchmarkt hilft mit einem umfangreichen Sortiment fertiger Konzepte, von der Sonntagspredigt zum Ablesen über Kindergottesdienstmodelle, Konfirmandenstunden, Schulgottesdienste, Filme, Videos, Vorlesebücher, Ableseandachten und vieles mehr. Die Modelle und Vorlagen sind zwar in der Regel nicht situationsgerecht und dem eigenen Rezipientenkreis höchst selten einmal angemessen. Wer aber erst einmal die inneren Skrupel überwunden hat und auch vor völlig deplazierten Zitaten fremden Gedankenguts nicht mehr zurückschreckt, kann viel Vorbereitungszeit einsparen. Die Versuchung lockt. Ihr erliegen viele und das Ergebnis ist manchmal (nicht nur) für gebildete Menschen kaum zu ertragen. Mag die Qualität der Arbeit auf der Strecke bleiben, so lassen sich doch Freiräume gewinnen, die den Pfarrern nicht nur von der Kirchenordnung, sondern auch von der Dienstanweisung und bisweilen sogar vom Presbyteriumswillen vorenthalten werden.

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* "Hauptsache erledigt": Unter dem Druck, schnell arbeiten zu müssen, um Freiräume zu bewahren, entwickelt sich die Regel "Hauptsache erledigt". Eingehende Beschäftigung, mehrfache Vorgespräche vor Amtshandlungen, Nachbetreuung und Wiederholungsbesuche finden nicht mehr statt. Das alles kostet Zeit. Wer viel zu tun hat und für seine Freiräume selbst sorgen muß, weil er sie sonst nicht hat, wird sich mit einiger Wahrscheinlichkeit diese Zeit nicht mehr nehmen. Im Verlauf von Jahrzehnten wachsen darüberhinaus Erwartungshaltungen. Die Gemeindemitglieder reagieren schließlich mit Erstaunen, wenn ein Pfarrer auch nach der Beerdigung noch einmal vorbeischaut. Damit schließt sich der Kreis. Ist keine Nachfrage da, muß sie auch nicht befriedigt werden. Die Unterlassung wird zum Standard und regt niemanden mehr auf. Bloß keine schlafenden Hunde aufwecken. * Frei sprechen: Die Fähigkeit, frei zu sprechen (und auch frei zu predigen) wirkt sich in der Zeitökonomie günstig aus. Wer frei sprechen kann, redet nicht selten auch deutlich zugänglicher und verständlicher als jemand, der alles vom Blatt abliest. Die hohe Kunst der freien Rede kann allerdings unter dem Druck der Vielfachbelastung auch zu einer gerade unter Pfarrer/innen verbreiteten Krankheit mutieren, der Gabe, bei jeder passenden und unpassenden Gelegenheit zügellos drauflos zu reden. Belanglosigkeiten oder Geschwätz ersetzen dann die Verständigungsbemühung in der Situation. Auch dieses Verhalten erspart Vorbereitungszeit. * "Bloß nichts neues anfangen": Mit diesem Satz begrüßen viele Mentorinnen und Mentoren ihre Vikarin oder ihren Vikar. Erfahrungsgemäß kann man in jeder Kirchengemeinde jederzeit ein neues Projekt ins Leben rufen, aber es ist ungeheuer schwer, es wieder loszuwerden. Was die hochmotivierte Vikarin beginnt, muß der Pfarrer später u.U. jahrelang bei vollem Terminkalender ausbaden. Wehret den Anfängen. * Keine vermeidbaren Vertretungen übernehmen: Das alte Territorialprinzip pastoraler Zuständigkeiten ist in der Praxis der Gemeindearbeit (insbesondere von Stadtgemeinden) vielfach überholt und nicht konsequent aufrecht zu erhalten. Die rechtlichen Regelungen zum Thema "Dimissoriale" aber sind halbherzig und löchrig. Diese Grauzone nutzen Rechtskundige aus, um Kasualanfragen aller Art an andere Kollegen zu "delegieren". Auch gibt es Pfarrer/innen, neben deren Telefon ständig ein kleiner Zettel liegt. Auf diesem Zettel sind 10 bis 12 Ausreden notiert, die man so jederzeit zur Hand hat, falls ein Kollege anruft und darum bittet, diesen oder jenen "Dienst" zu übernehmen. Der Mensch ist ein lernfähiges Wesen. Im Laufe der Zeit weiß dann jeder im Pfarrkollegium, wen man gar nicht erst zu bitten braucht. Der erwünschte Effekt, ist eingetreten: "Selig ist in unserer Zeit, wer die Kraft hat, sich als Faulenzer betiteln zu lassen, denn ihm gehört das Leben". 104 103 Nicht selten ist das auch eine Frage der unsichtbaren, aber hochwirksamen Altershierarchie in der Kirche. 104 Votum eines Pfarrers der ehemaligen DDR zit. nach C.Möller: Lehre I, S.28

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* Einkapseln: Ein Anrufbeantworter eignet sich auch vorzüglich als Anrufverhinderer. Wenn man ihn einschaltet, kann man in aller Ruhe mithören und zurückrufen, wenn man es für erforderlich hält. Das hat sich schnell herumgesprochen. Wer heute etwa am Samstagabend in einer mittleren Großstadt versucht, einen Pfarrer zu erreichen, wird mit einiger Sicherheit zunächst einmal mit fünf Anrufbeantwortern sprechen, ehe er einen menschlichen Gesprächspartner zu hören bekommt. So lange wie die gesamtkirchliche Organisation sich nicht darum bemüht, Bereitschaftsdienste mit entsprechenden Telefonnummern einzurichten, kann kaum etwas anderes p a s s i e r e n . 105 £>ie Weichherzigen und die Einfühlsamen werden dann auch in Zukunft ebenso die Dummen bleiben wie die Gemeindemitglieder, die ausgerechnet am Samstagabend einen Pfarrer benötigen. * "Keine vermeidbaren Kontakte pflegen" : Alles kostet Zeit, selbst persönliche Kontakte. Wer mit seiner Zeit sorgsam haushalten muß, kann sich keine vermeidbaren Kontakte leisten. Das gilt für berufliche Kontakte mit Kolleginnen und Kollegen ebenso wie für private Pflichtkontakte. Es ist kein Zufall, daß die Solidarität unter Kollegen so gering ist und daß gerade in den ersten Jahren des Pfarramtes viele persönliche Kontakte abgebrochen werden oder einschlafen. * Passiver Widerstand und "Ablage P.": Wer sich irgendwo einmischt, ist selbst Schuld. Nur Berufsanfänger oder Arbeitssüchtige melden sich im Pfarrkonvent, wenn wieder einmal ein neuer Posten zu besetzen ist. Es ist nur eine Frage der Nervenstärke, sich nicht zu melden, auch wenn minutenlang Schweigen herrscht. Irgendwann wird ein anderer "weich" und der bittere Kelch ist vorübergegangen. In gleicher Weise kann man auch ungeliebte Anfragen, Bitten oder Aufträge zunächst einmal ignorieren. Rückfragen und Nachfragen von weit entfernten Stellen bleiben nicht selten aus. Große Ankündigungen verlaufen im Sande. Aber auch im näher gelegenen Verwaltungsbetrieb sind verzögerte Bearbeitungszeiten durchaus normal. Sie werden nicht übel genommen. Der größte Teil der unbestellt eingehenden Post wandert direkt ungelesen in den Papierkorb ("Ablage P"). Lesen kostet Zeit. Ein großer Papierkorb wird zum Arbeitsmittel, wenn der diffuse Anforderungsdruck erst einmal stark genug ist. * Attraktive Schwerpunkte pflegen: Unter den zahllosen Tätigkeitsfeldern finden sich immer auch einige, für die man sich persönlich besonders erwärmt. Es ist in jedem Fall sinnvoll, hier Schwerpunkte des Engagements zu bilden. Was man gern tut, wird gut getan, die Qualität der Arbeit steigt, und mit ihr steigt auch die subjektive Berufszufriedenheit. Das Problem ergibt sich erst aus der Uferlosigkeit der landeskirchlichen "Diensterwartungen". Wer die Schwerpunkte des persönlichen Interesses überwiegend außerhalb der Kirchengemeinde fin105 Geregelte Bereitschaftsdienste wären gut für alle Betroffenen. Die Gemeindemitglieder hätten eine Telefonnummer, unter der mit Sicherheit jemand zu erreichen ist, und die Pfarrer/innen hätten definitiv außerhalb der Bereitschaftszeiten dienstfrei. Sie wären dann nicht mehr "immer im Dienst".

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det, kann sich u.U. ungeliebter Verpflichtung in der eigenen Kirchengemeinde "aus dienstlichen Gründen" entledigen. Das hebt die Berufszufriedenheit und steigert das Prestige auf landeskirchlicher Ebene, auch wenn die Qualität der parochialen Gemeindearbeit darunter leidet. 5. "Pflege deine Privatsphäre": In einer ausdifferenzierten Gesellschaft ist es sinnlos geworden, eine pastorale Musterrolle spielen zu wollen, um aller Welt Vorbild zu sein. Die eigenen vier Wände werden um so dringender als Ruheund Rückzugsraum benötigt, je stärker die Belastungen des beruflichen Alltags sind. Im Parochialpfarrdienst sind sie häufig sehr hoch. Wer seiner Familie und seiner Gesundheit etwas Gutes tun möchte, macht das Pfarrhaus zu einem Ort des privaten Familienlebens und der Erholung. Zwar hat sich diese Einstellung längst schon in der Pfarrerschaft ausgebreitet. Aber kirchenrechtlich gilt sie nach wie vor als illegitim. Von daher steht jeder einzelne vor der Aufgabe, seine Privatsphäre selbst zu schützen. Manch einem gelingt das hervorragend, andere schaffen es nie. Wieder andere wollen es gar nicht schaffen oder haben sich längst daran gewöhnt, daß die Realitäten im Pfarrdienst eben anders ist. * "Nimm deinen Urlaub": Es gibt Superintendenten, die offensichtlich Anlaß haben, jedes Jahr aufs neue einen Mahnbrief zu schreiben, in dem sie die Pfarrer/innen dazu auffordern, ihren Resturlaub nicht verfallen zu lassen und den Jahresurlaub vollständig auszuschöpfen. Wer als Pfarrer/in glaubt, seinen Urlaub im Pfarrhaus verbringen zu können, ist an seinem Unglück zumindest mitschuldig. In dem Augenblick, wo das Telefon klingelt und man den Hörer abhebt, ist der Urlaub unterbrochen. Im Pfarrdienst ist es nahezu unmöglich, auf irgendjemandes Verständnis zu stoßen, wenn man mitteilt, gerade Urlaub zu haben. Ein Kurzurlaub oder ein Wochenendhaus ohne Telefonanschluß sichert das Erlebnis von Privatsphäre zuverlässiger als jeder Anrufbeantworter. Leider zerschellt dieser Einsicht oft genug an den harten Sachzwängen, die etwa durch fehlende oder inakzeptable Vertretungsregelungen gesetzt sind. * "Schütze deine Freizeit": Ein halbwegs regelmäßiger freier Abend oder gar ein arbeitsfreier Tag muß mit Zähnen und Klauen verteidigt werden. Nur, wie macht man das "im Geiste der Geschwisterlichkeit", wenn das Gegenüber nicht mitspielt? Vielfach sind die traditionellen "Pfarrersonntage" längst schon der Ausdifferenzierung des Berufsfeldes zum Opfer gefallen. Dienstbesprechungen mit Präsenzpflicht, Pfarrkonvente und Presbyteriumssitzungen werden immer wieder auf diesen Tag gelegt. Ist der Tag erst einmal über Jahre hinweg zum Arbeitstag geworden, wird man kaum noch auf Verständnis hoffen können, wenn man ihn wieder zurück bekommen möchte. Die Akzeptanz des Wunsches nach einem arbeitsfreien Tag ist ebenso wie die Akzeptanz des Wunsches nach einer Privatsphäre von Kirchengemeinde zu Kirchengemeinde unterschiedlich hoch. Es gibt Presbyterien, die dem Wunsch nach Privatheit und selbstbestimmter Freizeit einfühlsam und verständnisvoll nachgeben. Es gibt auch Presbyterien, die auf ein solches Anliegen mit massivem Unwillen und offener Konfrontation reagieren.

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* "Schütze deine Ehe wie dich selbst": "Kleine Fluchten" sind unbedingt erforderlich. Sie festigen das Ehe- und Familienleben nachhaltiger als jede Therapie und jedes "geschwisterliche" Gespräch mit Dienstvorgesetzten. Wo ein vertragsrechtlich abgesicherter Schutz der Freizeit und der Intimsphäre fehlt, ist jeder auf sich selbst zurückgeworfen. Wer die informale Spielregel "Schütze deine Ehe wie dich selbst" nicht von Anfang an konsequent zu beherzigen lernt und auch mit der ggf. erforderlichen Härte verteidigt, läuft Gefahr beruflich, familiär oder gesundheitlich ein hohes Lehrgeld entrichten zu müssen. 6. Fazit: Die Kunst der parochialen Pfarramtsführung ist die Kunst, sich Freiräume zu verschaffen und Freiräume zu bewahren, Freiräume, die sich gleichermaßen beruflich wie auch privat nutzen lassen. Mit dieser Aufgabe ist jede Pfarrerin und jeder Pfarrer täglich konfrontiert. Das Ergebnis konsequenten Ringens um Freiräume kann geradezu paradoxe Züge annehmen. Wer die Kunst perfekt beherrscht, sich berufliche und private Freiräume zu erhalten, was u.a. bedeutet, nur da zu sein, wo das Licht der Aufmerksamkeit hinscheint, wird nicht selten als "erfahrener" und "erfolgreicher" Pfarrer angesehen. Er kann möglicherweise sogar als ausgeglichener, meditativer Mensch auftreten, als Mensch voller Wärme und kommunikativem Esprit, als jemand, der stets ansprechbar ist und Zeit hat, wenn man ihn benötigt - allerdings mit einer gewichtigen Einschränkung: nur für die, die zur "Familie" gehören. c) Bewertung 1. Informale Ordnungen und das Prinzip der Selbstorganisation: Die Betriebswirtschaft kennt das "Prinzip der Selbstorganisation" als bedeutsamen Faktor der Mitarbeiterführung und der Mitarbeitermotivation. 106 Man weiß, daß die Mitarbeiter, wenn es um die Optimierung ihres Arbeitsplatzes geht, stets die besten Rationalisierer sind. Sie kennen die Erfordernisse ihres Arbeitsfeldes genauer als jeder Vorgesetzte und jede Beratungsfirma. Unternehmen, die ähnlich wie die Landeskirchen im Vertriebsbereich mit schwach vernetzten Arbeitsplätzen arbeiten (etwa Firmenvertreter von Versicherungen oder Bauträgergesellschaften), nutzen das Prinzip der Selbstorganisation gezielt zur Systemsteuerung und zur Erhöhung der Mitarbeiterzufriedenheit. Indem sie ihren Arbeitnehmern weitgehende Arbeitszeitautonomie einräumen, steigern sie gleichzeitig die Leistungsfähigkeit und die Berufszufriedenheit ihrer Mitarbeiter. Die informalen Ordnungen im Gemeindepfarrdienst verdanken sich ebenfalls dem Prinzip der Selbstorganisation. Hier wirkt sich dieses Prinzip aber vollkommen anders aus. Es wird weder zur Steigerung der Leistungsfähigkeit noch zur Erhöhung der Mitarbeiterzufriedenheit eingesetzt. Es wird seitens der Leitungsebene überhaupt nicht gezielt eingesetzt. Es wirkt gewissermaßen 106 R.Warkus, Arbeitnehmerwünsche zur Arbeitszeit. Eine empirische Studie zur Arbeitszeitflexibilisierung, Diss GH Wuppertal (FB Wirtschaftswissenschaften) 1989, S.205-209

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wildwüchsig im Untergrund der Organisation. Die Pfarrer/innen, die von ihrer Leitung hinsichtlich realisierbarer Zielvorgaben im Stich gelassen sind, bedienen sich des Prinzips der Selbstorganisation, indem sie informale Ordnungen ausbilden, die es ihnen gestatten, die Globalanforderung des Pfarrdienstes ("immer im Dienst"; "letztlich für alles verantwortlich") zu operationalisieren und in schwerpunktorientiertes Berufshandeln umzusetzen. Die informalen Spielregeln im Pfarrdienst sind also situationsgerechte Antworten auf die strukturelle Lage der Betroffenen. Aber selbst in diesem Fall, der ja aus der Sicht der Organisation teilweise destruktive Züge trägt, profitiert die Gesamtorganisation von der kreativen Problemlösungskompetenz ihrer Mitarbeiter. Die Pfarrerschaft kompensiert mit Hilfe der informalen Verhaltensweisen nicht allein Defizite und Strukturmängel der Berufsanforderungen. Sie verhindert auch den Zusammenbruch des Gesamtsystems, indem sie die Dienstbereitschaft des Systems trotz dauerhaft reduzierter Praxisrelevanz der Präferenzordnung

aufrechterhält. Ein System, das keine maßgebliche Präferenzordnung mehr besitzt, müßte nach den Gesetzmäßigkeiten der allgemeinen Systemtheorie längst zusammengebrochen sein. Wenn die Landeskirchen gleichwohl überdauern, verdanken sie das zum einen den generalisierten Motivationen ihrer Mitglieder, zum anderen aber der Flexibilität ihrer Parochialpfarrerschaft, die selbst unter widrigsten Umständen aufs große und ganze gesehen doch immer noch "bei ihrem Beruf und bei ihrer Sache bleiben". 2. Entmythologisierung und Professionalisierung des Pfarrberufs: Die informalen Ordnungen im Pfarrdienst lassen sich sowohl als improvisierte Reparaturmaßnahme im Dienste funktionierender Systemabläufe als auch als intelligente Selbstschutzstrategien der Betroffenen ansehen. In beidem zeigen sich Konturen einer (teilweise vermutlich noch keineswegs bewußten) Entmythologisierung des Pfarrberufs. Unter dem Druck der Arbeitsbedingungen hat eine Professionalisierung der Einstellung zum eigenen Tun eingesetzt, die auch eine fortschreitende Trennung von Privatbereich und Dienstbereich impliziert. Die "berufliche Kunstfertigkeit verdankt sich nicht [mehr] vorwiegend der Harmonie von Gesinnung und Lebenspraxis, sondern eher der Fähigkeit, zwischen sich selbst und seinem Beruf, vor allem aber zwischen der eigenen Lebenspraxis und der anderer unterscheiden zu k ö n n e n " . 108 Pfarrer zu sein, ist ein Beruf, der auch der materiellen Existenzsicherung dient. Die Annahme einer latenten oder absichtsvollen Professionalisierung der Einstellung zum Pfarrberuf hilft auch die Frage zu beantworten, warum nicht sämtliche Pfarrer/innen binnen kurzem der Zentrifugalkraft informaler Ordnungen so massiv erliegen, daß sie schließlich fast gar nicht mehr arbeiten. Professionalisierung schließt persönliche Glaubens- und Arbeitsmotivation nicht aus, sondern ein. Sie ergänzt oder überformt sie allerdings. Der Professionalisierungsgedanke eröffnet den Anschluß des eigenen Verhaltens an die Werte

107 E.Lange: Schwierigkeit, S.30 108 W.Steck: Privatisierung, S.322

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der A r b e i t s k u l t u r l 0 9 u n c i a n spieltheoretische Nutzenerwägungen: Zur Verstetigung des größtmöglichen Nutzens gehört auch die Sorge um die Familie, die persönliche Gesundheit, der Kampf gegen vorzeitigen Verschleiß, Identitätsdiffusion und Burnout. Damit stabilisiert Professionalisierung das Arbeitsverhalten auch im Sinne des Arbeitgebers. 3. Problematische Aspekte informaler Ordnungen: So unumgänglich die Entwicklung informalen Arbeitsverhaltens im Gemeindepfarramt auch ist, es soll nicht übergangen werden, daß die informalen Ordnungen auch problematische Aspekte haben. Sie sind teilweise nicht nur menschlich bedenklich, sondern auch für den Systemerhalt kontraproduktiv. Ihre konsequente Umsetzung erfordert robuste Naturen 1 ( w a s keine geschlechtsspezifische Frage ist). Allerdings zieht der Pfarrberuf häufig gerade Menschen mit Samariternaturell an. m Solche Menschen können sich in einem Berufsalltag, der viel Effizienz und Zielstrebigkeit im Handeln erfordert, leicht in den Fallstricken ihres Helfersyndroms verfangen. Wo das geschieht, wird das Qualitätsniveau der Arbeit absinken. "Lieb" zu sein ist entgegen verbreiteter Ansicht keine hinreichende Berufsqualifikation für den Pfarrberuf. Wie hoch die Schäden sind, die sich die Landeskirchen durch die mangelhafte Fürsorge für ihre Schlüsselmitarbeiter zufügen, ist nicht bekannt. Es gehört aber zu den Grundeinsichten der Organisationstheorie, daß die Leistungsfähigkeit eines Systems, das seine wichtigsten Mitarbeiter derart überlastet, weit hinter den Möglichkeiten zurück bleibt, die unter deutlich verbessserten Arbeitsbedingungen zu erreichen wären. Die schlecht geregelten Arbeitsverhältnisse sind nicht nur schlecht für die betroffenen Personen, sie sind auch schlecht für die Organisation. "Abgesehen von den hohen psychischen Kosten solcher Konflikte führen sie auch zu einer Art von Reibungsverlust im Energiehaushalt der Organisation und können ihr Funktionieren und ihren Leistungsgrad empfindlich b e e i n t r ä c h t i g e n " . ! ^ Die Landeskirchen haben ihre Nachlässigkeit in Personalfragen mit der Vernachlässigung des überwiegenden Teils ihrer Mitglieder zu bezahlen. 4. Wie geheim sind die "geheimen" Spielregeln? Der Begriff der "geheimen" Spielregel ist ein wenig irreführend. Besser wäre der Begriff "tabuisierte" Spielregel. Wer tatsächlich einmal offen über seine "geheimen" Prioritäten zu sprechen wagt, kann nicht selten erleben, daß vieles davon in Gemeindekreisen längst bekannt ist. Auch Führungspersonen auf allen Ebenen der Landeskirchen kennen diese Regeln (zumal sie selbst vielfach einmal Gemeindepfarrer/innen gewesen sind). Mehr noch, in persönlichen oder als informell definierten Gesprächen unter vier bis sechs Augen oder sogar in Pfarrkonventen ("wir sind unter uns und kennen den schweren Dienst") kann man erleben, daß informales 109 Vgl. W.Girschner, Theorie, S.84-93 110 Zumindest aber die einiOhlsame Unterstützung durch ein wohlwollendes Leitungsgremium. 111 W.Schmidbauer: Die hilflosen Helfer. Über die seelische Problematik der helfenden Berufe, Reinbek 1977; M.Josuttis: Pfarrer, S.70-88 112 R.Mayntz: Soziologie, S.84

3.2 Pfarrer/innen: "Familienpflege"

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Verhalten angesprochen, akzeptiert, bisweilen sogar begrüßt und gefordert wird: "Machen Sie einmal frei", "überfordern Sie sich nicht", "lassen Sie einfach mal etwas liegen", "bilden Sie Schwerpunkte", "Sie müssen nicht alles machen", "man kann nicht immer vorbereitet auf die Kanzel gehen". Derartige Sätze hat jeder, der im Pfarrdienst tätig ist, schon gehört. Die informalen Regeln sind also weder geheim, noch sind sie neu. Aber sie sind tabuisiert. Sie wirken im Verborgenen, jenseits der theologischen Programmatik, der persönlichen Selbstdarstellung und der (kirchen-)offiziellen Verlautbarungen. Ein Mantel des Schweigens umgibt sie. Sozialsysteme verpflichten ihre Rollenträger auf die Einhaltung, nicht die Aufweichung der Systemrollen. Sie dunkeln ihre eigenen Schwachstellen ab, indem sie sie unter Tabuschutz stellen. Das zeigt sich im Pfarreralltag immer dann, wenn die gleichen kirchenleitenden Persönlichkeiten, die im informellen Gespräch durchaus die Orientierung an subjektiven Prioritäten und pragmatischen Verhaltensweisen billigen, bei offiziellen Anlässen die verbreitete Nichtbeachtung der kirchlichen Normen und Sitten beklagen, die Unfähigkeit der Mitarbeiter k r i t i s i e r e n ^ u n d mehr Respekt vor der kirchlichen Ordnung fordern. Auch die Mitarbeiter, die in kirchlichen Sozialsystemen Personalverantwortung tragen, verhalten sich nicht anders, als es die Organisationstheorie für Inhaber derartiger Positionen grundsätzlich vorsieht. Gerade dieses Taumeln zwischen einer persönlich-informellen Haltung, in der der Rollenträger sich darum bemüht, dem Mitarbeiter "menschliches" Verständnis entgegenbringt und der offiziellen Systemrolle, in der er von Mitgliedern und Mitarbeitern die korrekte Ausfüllung der ihnen zugewiesenen Systemrollen einfordert, kann als Ausdruck der systeminternen Tabuisierung informaler Ordnungen angesehen werden. Die kirchenleitenden Instanzen kennen die tabuisierten Spielregeln des Pfarrdienstes nicht nur, sie "spielen" mit. Mehr noch, sie besitzen ein erhebliches Eigeninteresse an ihrer Aufrechterhaltung. Sie versichern sich damit selbst, daß es möglich ist, die Arbeit im Parochialpfarramt jahrzehntelang bei bester Gesundheit durchzustehen, ohne Abstriche am Arbeitspensum vornehmen zu müssen. Aus diesem Interesse heraus sind sie bereit, über den Preis hinwegzusehen, der für die Aufrechterhaltung dieser unfrommen Illusion zu entrichten ist: die dauerhafte Vernachlässigung der volkskirchlich sozialisierten Gemeindemitglieder. Diese Einsicht ist weder neu, noch ist sie geheim, aber sie steht unter Tabuschutz. 5. Warum setzen sich die Pfarerr/innen nicht gegen ihre Arbeitsbelastung und die Arbeitsbedingungen zur Wehr? 1 1 5 Nach allem, was dargestellt worden ist, 113 Aufgrund der hermeneutischen und der kommunikativen Problematik der kirchlichen Verkündigungsinhalte, die oben dargestellt worden ist, wird die kirchenofiizielle Pfarrerschelte häufig in semantische Leerformeln eingekleidet. So lautet ein geläufiger Vorwurf: "Wenn das Wort Gottes ordentlich gepredigt würde, wären die Kirchen voll." 114 Vgl. dazu M.Josuttis: Traum, S.141f 115 "Der Pfarrer hat an der Last der Massengemeinden am schwersten zu tragen. Um so erstaunlicher ist es, daß er die verfehlte Gemeindeorganisation so gleichmütig und ohne den

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ΥΠ. Die Kirchengemeinde

läßt sich eine möglicherweise verblüffende Antwort vorschlagen. Die Pfarrer solidarisieren sich nicht, weil sie das Überlastungsproblem mit Hilfe informalen Arbeitsverhaltens in den Griff bekommen. Allerdings ist das ein Pyrrhussieg. Der regelwidrige und damit, aus kirchenoffizieller Sicht betrachtet, verwerfliche Charakter des informalen Verhaltens erzwingt auch auf Seiten der Pfarrerschaft einen verschärften Tabuschutz. Nicht nur die Kirchenleitungsorgane, auch die Pfarrerschaft "spielt" das Spiel mit den zwei verschiedenen Ebenen (dienstlich-offiziell und privat-informell) mit: Sind kollegiale Kontakte schon aus Gründen der Zeitökonomie sparsam zu handhaben, so erscheint es vielen darüber hinaus äußerst ratsam, sich, was ihr persönliches Arbeitsverhalten anbelangt, möglichst wenig in die Karten schauen zu lassen. Schweigen kann viel Ärger ersparen. Es ist durchaus ratsam, die Dienstmaske nicht zu lüften. Sind an irgendeiner Stelle aus völlig anderen Gründen einmal Dämme gebrochen, sind Konflikte aufgetreten, die die Wellen über das übliche Maß hinaus hochschlagen lassen und kirchenamtliches Interesse wecken, dann können sich unbedachte Äußerungen unversehens auf einer Liste von Dienstverfehlungen in der Personalakte wiederfinden. Die schizophrene Doppelrolle der Dienstvorgesetzten, die gleichzeitig geschwisterlicher Freund und Ratgeber, andererseits aber Disziplinarinstanz sind, gebietet große Vorsicht. Damit aber verhindert der Tabuschutz, unter dem die informalen Ordnungen des Pfarrdienstes stehen, die wirkungsvolle Solidarisierung der Betroffenen. 116

3.3 Hauptamtamtliche Mitarbeiter/innen: (k)ein ganz normaler Beruf Im Zuge der Entstehung und Ausdifferenzierung des Gemeindehauskonzeptes hat sich auch die Zahl und der Spezialisierungsgrad der hauptamtlichen Mitarbeiter/innen in den Kirchengemeinden erhöht. Neben Küster oder Kantoren traten kirchliche Verwaltungsmitarbeiter/innen, Diakonissen und Diakone, Gemeindehelfer und Gemeindeschwestern, Jugendmitarbeiter/innen u.a.H^ Jedem Tätigkeitsfeld liegt eine eigene Entwicklungsgeschichte und eine eigene Begründung zugrunde. Aber jeder dieser Berufe birgt auch seine eigenen Probleme, und schließlich besitzt jede Kirchengemeinde sehr unterschiedliche Erfahrungen mit diesem oder jenem Mitarbeitertyp. Kaum einmal sind oder waren eigentlich zu erwartenden leidenschaftlichen Protest hinnimmt." - H.Schnell: Gemeinde, S.43; vgl. D.Jordahl: Ängste, S.74f 116 Eine völlig andere Erklärung für die Unfähigkeit der Theologen, sich -wirkungsvoll zu solidarisieren, hat M.Josuttis vorgeschlagen: "Die Streitlust der Theologen ist die Konsequenz einer beruflichen Situation, in der der einzelne mit profetischem Anspruch auftritt und in der jeder die eigene Gemeinde als Ein-Mann-Sekte organisieren möchte. Der Gottesmann fühlt sich in seinem messianischen Selbstbewußtsein durch jeden anderen, der in ähnlicher Weise auftritt, gestört." - M. Josuttis: Traum, S.159 117 Vgl. die Darstellung bei H.Lindner: Kirche, S.310-312

3.3 Hauptamtamtliche Mitarbeiter/innen

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irgendwo alle Mitarbeitertypen im Dienst. All das macht es unmöglich, ein einheitliches Bild von der Mitarbeiterschaft zu zeichnen. Die unterschiedlichen Tätigkeitsbereiche erfordern eine sehr viel differenziertere Betrachtung, als sie hier geleistet werden kann. Nur bei sehr detaillierter Betrachtung lassen sich auch die informalen Spielregeln rekonstruieren, die sich im Mitarbeitersegment entwickelt haben. Auf diesem Gebiet fehlen mir leider intimere Kenntnisse, da meine berufliche Situation es mit sich brachte, daß ich als Gemeindepfarrer eher der Seite zugerechnet wurde, die man nicht in die Karten gucken läßt. Aus all diesen Gründen lag es nahe, hier keine eingehende Analyse der informalen Verhaltensweisen kirchlicher Mitarbeiter vorzulegen. Es wird Berufenere geben, die das besser und möglicherweise auch unverzerrter können. Ich habe mich deshalb darauf beschränkt, einen Vergleich mit den Arbeitsbedingungen im Pfarrdienst vorzunehmen und weiterführende Analysen ausgeklammert. Pfarrdienstanforderungen werden aus dem Referenzbezug der kirchlichen Organisation auf die ecclesia invisibilis abgeleitet, weil die Parochialpfarrer/innen von der Kirchenordnung als Garanten des Kirche-Seins der Landeskirchen angesehen werden. Sie haben den Referenzbezug zu garantieren und sind deshalb "immer im Dienst". Es ist ihnen nicht gestattet, Privatsphäre und Dienst zu trennen. Bei den übrigen Mitarbeiter/innen im Parochialdienst ist das völlig anders. Ihr Dienstverhältnis wird vom Sozialsystemcharakter der Landeskirchen her begründet. Sie erhalten Dienstanweisungen, wie sie auch jeder andere Angestellte besitzt, der sich in einem nichtkirchlichen Beschäftigungsverhältnis befindet. Damit haben sie Anspruch auf geregelte Dienstzeiten, geregelte Freizeit, Überstundenvergütung und ein selbstverständliches Recht auf ihre Privatund Intimsphäre. Sie werden nach dem Bundesangestelltentarif (Kirchliche Fassung) besoldet. Sie haben besondere Mitbestimmungsrechte. s j e haben Zugang zur staatlichen Arbeitsgerichtsbarkeit. Bei den hauptamtlichen Mitarbeiter/innen entfällt eine der wichtigsten Quellen, die zur Ausbildung informaler Ordnungen im Pfarrdienst führen. Allerdings kann auch auf ihnen ein starker Anspruchsdruck des Arbeitgebers lasten. In Not- und Übergangszeiten haben auch die nicht pastoralen Gemeindemitarbeiter/innen bis weit über die Grenzen des Üblichen hinaus gearbeitet, wo immer es erforderlich war. Wie selbstverständlich haben sie in solchen Zeiten auch pastorale Tätigkeiten verrichtet. Die Erinnerung an die Einsatzbereitschaft und die Leistungsfähigkeit der hauptamtlichen Mitarbeiter/innen ist in vielen Presbyterien noch nicht erloschen. Auch fällt es vielen Pfarrer/innen schwer, einzusehen, daß hauptamtliche Mitarbeiter/innen dienstvertraglich zugesicherte Rechte und Pflichten haben und heute nicht mehr verpflichtet sind, "Mädchen für alles" zu spielen, ihr gesamtes Leben "für die Gemeinde" zu opfern oder bis an die Grenzen der Erschöpfung zu arbeiten. An dieser Spannung entzündet sich auch heute noch viel Streit in den Kirchengemeinden. Während die Mitarbeiterschaft aufgrund ihrer Dienstverträge durchaus zurecht der Meinung sein kann, sie gehe einer mehr oder weniger "normalen Tätigkeit" nach, meinen die 118 G.Grethlein: Entstehungsgeschichte des Dritten Weges, in: ZEvKR 37/1992, S. 1 -27

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unmittelbaren Dienstvorgesetzen (Pfarrer/innen und Presbyterien) häufig noch, nach Belieben über die Arbeitskraft der Angestellten verfügen zu können. Wo sie der Meinung sind, ein kirchlicher Mitarbeiter habe eben keinen ganz normalen Beruf und könne jederzeit auf sachfremde Tätigkeiten, beliebige Mehrarbeit oder Überstunden verpflichtet werden, müssen sie sich im Konfliktfall vom Arbeitsgericht erklären lassen, daß das Gegenteil richtig ist. Wer die Diskussion über die Ausgestaltung von Dienstanweisungen in den vergangenen Jahren verfolgt hat, weiß, daß der Trend dahin geht, die Mitarbeiterrechte zu stärken. Das bedeutet etwa die Einführung von Nachtarbeitszuschlägen und Überstundenausgleich für Jugendmitarbeiter/innen, großzügig bemessene Vorbereitungs- und Probenzeiten für Kirchenmusiker/innen oder klare Freizeitregelungen für Küster/innen, um nur einige der neuralgischen Punkte zu nennen, an denen früher viel Mißbrauch getrieben worden ist.

3.4 Kirchenmitglieder: "Kirche bei Gelegenheit" Die Mitgliederreligiosität weicht deutlich von den Normvorgaben der Kirchenordnungen ab und folgt einer eigenen Rationalität. Auch sie läßt sich theoretisch als "informales" Mitgliedschaftsverhalten auffassen. Aber man kann sich fragen, ob der Begriff der "informalen Ordnung" angesichts der historischen Stabilität dieser Orientierungen überhaupt noch angemessen ist. "Informal" ist die Einstellung der Mitglieder lediglich aus der Sicht der Kirchenordnung. Die Mitglieder selbst sehen ihre Einstellung längst schon als "normal" und "richtig" an. Es handelt sich um ein stabiles, weithin konsensfähiges Muster. Von daher erfaßt der Begriff "informale Ordnung" die Eigenart der Mitgliederreligiosität gerade nicht. Die Mitglieder sollten an dieser Stelle aber nicht einfach übergangen werden, weil sich aus ihrem Kreis diejenigen rekrutieren, die das "Gemeindehausleben" als ehrenamtliche Mitarbeiter/innen maßgeblich beeinflussen.

3.5 Die ehrenamtlichen Mitarbeiter/innen: "Von der Nützlichkeit des Engagements"

a) Die Krise des Ehrenamtes und die Verstärkung individueller Nutzenkalküle Wer sich ehrenamtlich engagiert, setzt sich - wie immer er es selbst formulieren mag - für mehr Nächstenliebe, für humanere Beziehungen zwischen den Menschen, für eine vertiefte Qualität der zwischenmenschlichen Begegnung ein. Er nimmt sich Zeit für andere Menschen. Ehrenamtlichem Engagement liegt eine

3.5 Die ehrenamtlichen Mitarbeiter/innen

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vertieft zwischenmenschliche Motivation zugrunde. Von daher ist auffallig, daß heute offensichtlich weniger Menschen bereit sind, in Organisationen tätig zu werden, die sich als Organisationszweck darauf verpflichtet haben, "Zeit für andere" zu haben. Es sieht so aus, als seien die Menschen selbstbezogener geworden und insgesamt weniger hilfsbereit. In der Fachdiskussion wird immer wieder von der "Krise des Ehrenamtes" gesprochen. Nicht nur die Kirchen, auch andere soziale Institutionen wie Gewerkschaften, Parteien und karitative Organisationen sind Opfer dieser gesellschaftlichen Entwicklung. Aber das eigentliche Problem liegt doch noch tiefer. Die Situationsdiagnose der betroffenen Träger, denen es schwer fällt, ehrenamtliche Mitarbeiter/innen zu finden, ist selbst bereits ein Teil dieses Problems. Statt von einer Krise des Ehrenamtes zu sprechen, sollte man vielleicht besser von einer Krise der institutionellen Erwartungen und des institutionellen Umgangs mit Ehrenamtlichen sprechen. Das läßt sich begründen. Wie bei der Religionsausübung und der Kirchlichkeit, so gibt es auch beim Ehrenamt typische Lebenslagen und typische Lebensphasen, in denen die Aktivitäten bevorzugt s t a t t f i n d e n . ! ^ Gisela Notz hat sechs derartige Lebenssituationen und Lebensphasen benannt: "1.Ehrenamt als außerhäusliches Betätigungsfeld, als Kontakt zur Öffentlichkeit (z.B. Frauen mit kleinen Kindern oder zu versorgenden Familienangehörigen, die Schwierigkeiten haben, die Versorgungsaufgaben mit Erwerbsarbeit zu vereinbaren); 2. Ehrenamt als nützliche Aufgabe (z.B. Frauen in der Lebensmitte nach der Reduzierung familiärer Verpflichtungen); 3. Ehrenamt als soziale Relevanzerfahrung im Alter (Männer und Frauen nach der Beendigung des Erwerbslebens); 4. Ehrenamt als Kompensation (z.B. Männer und Frauen, die im Ehrenamt einen Ausgleich für in irgendeiner Weise nicht befriedigende Erwerbsarbeit suchen); 5. Ehrenamt als berufsbezogenes Übungs- und Orientierungsfeld (z.B. jüngere Männer und Frauen, die in der Ausbildung oder nach deren Abschluß berufsrelevante Erfahrungen sammeln wollen); 6. Ehrenamt als berufliche Einstiegshilfe (Männer und Frauen ohne Arbeitsplatz, die durch das Ehrenamt eine Stelle zu finden hoffen)".120 Es gibt also nach wie vor Anlässe und Lebenslagen, in denen es nicht allein naheliegt, sich ehrenamtlich zu engagieren, sondern in denen das tatsächlich auch geschieht. Von daher ist der Frage nachzugehen, warum die Kirchengemeinden dennoch (und zumindest teilweise wohl auch berechtigt) der Meinung sind, dieses Potential nicht erschließen zu können. Hier sind erneut die Folgewirkungen der gesellschaftlichen Ausdifferenzierung, insbesondere der verstärkten kultu119 G.Notz: Arbeit ohne Geld und Ehre. Zur Gestaltung ehrenamtlicher sozialer Arbeit, Opladen 1987 120 D.Knopf: Zeit für andere - Zukunftsperspektiven ehrenamtlichen Engagements, in: ThPr 28/1993, S.160 faßt in dieser Auflistung die Forschungsergebnisse von G.Notz zusammen.

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ΥΠ. Die Kirchengemeinde

relien Binnendifferenzierung und Milieubildung zu berücksichtigen. Die Wertegemeinschaften der traditionellen Großmilieus, sei es das Arbeitermilieu, sei es das religiös-kirchliche Bürgermilieu, sind über dem Prozeß der gesellschaftlichen Ausdifferenzierung zerfallen. Das hat auch zur Auflösung der herkömmlichen Arbeitsgrundlage des Ehrenamtes geführt. Ursprünglich diente das Ehrenamt der "Reproduktion der sozialen Gemeinschaft". "Ehrenamtliches Engagement als Äußerungsform von Klassensolidarität oder christlicher Nächstenliebe etabliert über den in der Tätigkeit selbst erfahrenen Nutzen für Dritte hinaus eine Reziprozität der Perspektiven, die Anerkennung durch relevante andere, Erwartbarkeit von Hilfe in Notsituationen und die Einbettung des eigenen Tuns in einen übergreifenden, gemeinschaftlich geteilten Sinnhorizont verspricht". 121 Kurz, Engagement sicherte ehedem einen angesehenen Stammplatz im Sozialgefiige der Gemeinschaft. Das ist heute anders. Weil das Sozialgefuge zerfallen ist, hat es auch keine derartigen Positionen mehr zu vergeben. Der soziale Nutzwert des ehrenamtlichen Engagements ist heute vielfach auf eine Szene oder auf die brüchig gewordene Nachbarschaft begrenzt. Von daher hat die Erwartung eines individuellen Nutzwertes als Motivationsbasis ehrenamtlichen Engagements zugenommen. Die Frage "Was bringt mir mein Engagement?" schiebt sich zunehmend in den Vordergrund. "Individuell attraktive Rückerstattungserwartungen" fördern oder verhindern das Zustandekommen von ehrenamtlicher Mitarbeit. 122 Der gesamtgesellschaftliche Wertewandel greift ebenfalls. Traditionelle Werte wie Disziplin, Gehorsam, Pflichterfüllung sind im Zuge der gesellschaftlichen Entwicklung zunehmend von neuen Werten wie Selbstverwirklichung, Autonomie und Kreativität zurückgedrängt worden. "Die Bereitschaft der ehrenamtlich Tätigen, sich gewissermaßen unter Anleitung Professioneller aufopferungsvoll und unter Hintanstellung eigener Bedürfnisse und Interessen mit langfristigen und beschwerlichen Aufgaben zu befassen, nimmt im Zuge dieser Entwicklung ab zugunsten des Interesses an Formen freiwilliger sozialer Mitarbeit, die mehr Partizipationsmöglichkeiten und Eigeninitiative e r l a u b e n " . 123 b) Rahmenbedingungen des ehrenamtlichen Engagements in der Kirchengemeinde Für ehrenamtliche Mitarbeiter/innen gibt es keine eigene landeskirchliche Dienstordnung. Es gelten die Voraussetzungen und Erwartungen, unter denen die Kirchenordnung den Dienst aller Gemeindemitglieder sieht. In der Rheinischen Kirche sind dies die bereits zitierten Artikel 13 und 14 KO. Danach tragen alle Gemeindemitglieder "Mitverantwortung für das Leben und den Dienst der Kirchengemeinde", sollen "Dienste, die ihnen die Kirchengemeinde über121 D.Knopf: Zeit,S. 159 122 T.Rauschenbach u.a.: Vom öffentlichen und privaten Nutzen des sozialen Engagements, in: S.Müller / T.Rauschenbach (Hg.): Das soziale Ehrenamt, Weinheim u.ö. 1988, S.226 123 D.Knopf: Zeit,S. 160

3.5 Die ehrenamtlichen Mitarbeiter/innen

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trägt, willig übernehmen und sorgfältig ausüben" und haben "die Pflicht, durch ihre Aufgaben und Opfer den Dienst der gesamten Kirche mitzutragen und zu fördern". Die Kirchenordnung sieht die ehrenamtliche Mitarbeit im Grunde als eine Selbstverständlichkeit an, eine Pflicht, der sämtliche Gemeindemitglieder zu genügen haben. Willige Bereitschaft, Pflichterfüllung und Dienst aber sind Stichworte eines nicht mehr zeitgemäßen Mitgliederverständnisses. Ein weiterer Aspekt kommt hinzu. Die Kirchenordnung versteht das Presbyterium als "Arbeitgeber" der Ehrenamtlichen. In der Praxis der Gemeindearbeit sind es sehr viel häufiger die Pfarrerin oder der Pfarrer, die - durchaus mit Billigung oder Unterstützung der Presbyterien - als "Arbeitgeber", "Kontrollinstanz" oder "Gängelband" der Ehrenamtlichen fungieren. An ihnen kommt niemand vorbei, der sich engagieren möchte. Wer nicht mit ihnen zurecht kommt, wer ihren Erwartungen nicht entspricht, wer nicht in das jeweils pastoral favorisierte Verständnis von evangelischer Gemeindearbeit hineinpaßt, sollte besser gar nicht erst anfangen oder gleich wieder seinen Hut nehmen. Ehrenamtliches Engagement in der Ortskirchengemeinde ist immer Engagement unter der Obhut eines Hauptamtlichen. Die theologische Grundeinstellung des Amtsinhabers, sein persönliches Konzept für die Gemeindearbeit, der Mitarbeiternotstand in der Gemeinde und / oder die Führungsqualitäten dieses Amtsinhabers entscheiden darüber, ob die Ehrenamtlichen an einer kurzen oder einer sehr langen Leine geführt werden. Die Leine aber ist in der parochialen Gemeindearbeit üblicherweise vorhanden. Damit stellt das Arbeitsfeld Ortskirchengemeinde ein typisches Beispiel für das "alte Ehrenamt" dar. 124 Das "alte" Ehrenamt unterscheidet sich vom "neuen" durch sein hohes Maß an externer Gängelei. Es ist "an Milieus gebunden, in denen die Ehrenamtlichen Einsatz- und Anpassungsbereitschaft an vorgefundene Strukturen mit geringen Partizipations- und Selbstgestaltungsmöglichkeiten verbinden m ü s s e n " . 1 2 5 Die Kirchengemeinden haben genau die Tätigkeiten zu vergeben, die in den Augen vieler Menschen nicht mehr zeitgemäß sind. Bei Jakob Schoell kann man nachlesen, daß das zu Beginn unseres Jahrhunderts bereits ähnlich empfunden werden konnte. Über die Motivation zum ehrenamtlichen Engagement unter evangelischen Gemeindemitgliedern schreibt er: "Sie sind doch jahrhundertelang geistlicher- und weltlicherseits nur bevormundet und dadurch förmlich zu Tode regiert worden. Kein Wunder, daß nun die Scheu vor dem Ungewohnten und das Bewußtsein der Untauglichkeit zu einer Arbeit, für die es keinen Vorgang gibt, gerade die Besten zurückhält ... So könnte es geschehen, daß sich gerade die selbständigsten, innerlichsten und zartesten Persönlichkeiten fernhalten, während sich zum Schaden der Sache diejenigen herzudrängen, die 'einen nicht gewöhnlichen Drang zur Öffentlichkeit b e s i t z e n ' . " 1 2 6

124 T.Olk: Vom 'alten' zum 'neuen' Ehrenamt, in: Blätter der Wohlfahrtspflege 1/1989, S.7-10 125 D.Knopf: Zeit,S.161 126 J.Schoell: Gemeindepflege, S.44

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VII. Die Kirchengemeinde

Um die eingangs geäußerte Sicht der Krisenursachen des Ehrenamtes noch einmal aufzunehmen: Es geht nicht allein darum, ob die Menschen heute egoistischer geworden sind. Das mag sein oder auch nicht (s.o. soziale Bewegungen). Es geht auch darum, ob eine soziale Institution ihren ehrenamtlichen Mitarbeiter/innen - im Sinne der gegenwärtig verstärkt auftretenden Wertorientierungen - "attraktive" Angebote unterbreitet. In diesem Sinne sind die Angebote der Ortskirchengemeinden für viele Mitglieder offensichtlich nicht attraktiv. Unter veränderten Umständen aber könnten sie es sehr wohl sein. Die Dritte EKDUmfrage hat dazu klare Ergebnisse hervorgebracht. Auf die Frage "Würden Sie in der Kirche auch^7 mehr Aufgaben übernehmen, wenn es überschaubare oder zeitlich begrenzte Aufgaben wären oder wenn Sie da ihre persönlichen Fähigkeiten oder Neigungen verwirklichen könnten?" antworteten 76% (West) der Befragten "Nein". 1 2 8 15% (West und 13% Ost) aber wären bereit bei "überschaubaren und zeitlich begrenzten Aufgaben" mitzuarbeiten. Acht Prozent (West und 9% Ost) wären bereit, "wenn persönliche Fähigkeiten und Neigungen zu verwirklichen s i n d " . 1 2 9 Geht man davon aus, daß es z.Zt. etwa 27 Millionen Evangelische im Bereich der EKD gibt, dann wären überschlagsweise vier bis sechs Millionen Kirchenmitglieder bereit, sich unter adäquaten Umständen ehrenamtlich zu engagieren. Für eine "Krise des Ehrenamtes" sprechen derartige Zahlen nicht. Wohl aber sprechen sie dafür, daß die Umstände zur Zeit nicht so sind, daß aus Bereitschaftsbekundungen auch eigenes Engagement werden könnte. Dieses Umfrageergebnis wird im Schlußteil noch einmal aufgegriffen werden und in eine Forderung für die Neukonzeption der evangelischen Gemeindearbeit umgesetzt werden. Hier ist jedoch zunächst festzuhalten, daß ja auch unter den gegebenen Umständen, also unter den Verhältnissen des "alten" Ehrenamtes, ehrenamtliches Engagement in den Kirchengemeinden stattfindet. Es findet statt, obwohl eine Spannung entlang der Linie "Selbstbestimmung und Selbstverwirklichung" kontra "Glaubensüberzeugung, Fremdbestimmung, Pflicht und Dienst" verläuft. An dieser Spannungslinie entzünden sich die unterschiedlichen informalen Spielregeln, die den Umgang zwischen Pfarrer/innen und Ehrenamtlichen bestimmen. c) Informale Gesetzmäßigkeiten im Umgang zwischen Pfarrer/innen und Ehrenamtlichen Die informalen Gesetzmäßigkeiten, die den alltäglichen zwischenmenschlichen Umgang zwischen Pfarrer/innen und Mitarbeiter/innen steuern, lassen sich nur 127 Eine suggestives "auch"? 128 77% (Ost) - Fremde Heimat, S.31. Bei den 18 bis 29-Jährigen waren es 80% (West) und 64% (Ost). - Fremde Heimat, S.38. Auch an dieser Stelle hätte man gerne eine milieuspezifische Aufschlüsselung der Daten. 129 18 bis 29-jährige: 13% und 14% bzw. 6% und 19%. Doppelnennungen senken die Prozentzahlen ab!

3.5 Die ehrenamtlichen Mitarbeiter/innen

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schwer pauschalieren. Lokale (religiöse) Traditionen und Gegebenheiten, verfestigte Vorerwartungen oder die Persönlichkeitsprofile der beteiligten Personen spielen dabei eine so herausragende Rolle, daß lediglich einige Hauptregeln genannt werden können. Aber schon hier wird zu differenzieren sein, ohne daß darüber der Reichtum der vor Ort vorhandenen Varianten auch nur annähernd erschlossen werden könnte. Es handelt sich um einen der schwierigsten Bereiche des pastoralen Arbeitsfeldes. Ohne Intuition und Fingerspitzengefühl kann man in dem diffizilen Geflecht unterschiedlichster Interessen, versteckter Motivationen und aufgedeckter Halb Wahrheiten kaum bestehen. 1. Die Einstellung zu "geistlichen" Fragen: Schon an der Einstellung zum Religiösen scheiden sich die Geister der Ehrenamtlichen. Es gibt Ehrenamtliche, die nach altprotestantischer Art oder auch nach neupietistischer Sitte gewohnt sind, ganz selbstverständlich auch in geistlichen Fragen ihren eigenen Kompetenzanspruch anzumelden und unter Beweis zu stellen. Wenn beide Seiten vom Vorhandensein gemeinsamer religiöser Überzeugungen ausgehen, schärft sich das Konfliktpotential.Tatsächlich ist das vermeintliche Glaubensfundament ja im Zuge der Entwicklungsgeschichte des protestantischen Christentums in zahllose Facetten zersplittert. Zwischen unterschiedlich orientierten "religiösen Virtuosen" kann es da schnell zu einem Ringen um den "rechten Weg" kommen. Die informale Ordnung, an der sich das Miteinander von Haupt- und Ehrenamtlichen orientiert, lautet dann: "Oberhand behalten", "sich das Heft nicht aus der Hand nehmen lassen". Ein unterschwelliger Schwelbrand findet statt. Die Gefahr einer explosiven Verpuffung ist nie völlig auszuschließen. Das Miteinander kann sich aber auch an ganz anderen informalen Ordnungen orientieren. Nicht wenige Ehrenamtliche sind der Meinung, Glaube und Religion seien "Chefsache" (Komplexitätsreduktion). Wo den Geistlichen in religiösen Fragen alle Kompetenz zugesprochen wird, wird um die weltliche Herrschaft nicht selten um so energischer gestritten. Statt zu der angestrebten friedlichen Einigung kommt es dann in der Praxis immer wieder zu einem Gerangel um Mitspracherechte und Kompetenzen, weil eine derartige Trennung weder in der Kirchenordnung vorgesehen noch überhaupt im Alltag sauber durchzuhalten ist. 2. Verfehlte Leitbilder: Das "alte" Ehrenamt orientiert sich an Vorstellungen von Konformität, Anpassung und Einpassung. Häufig ist es im Leitbild von der "Familie" gebündelt, in der "liebevoll sorgende Eltern von braven Kindern in einem harmonischen Familienleben unterstützt w e r d e n " . 130 Vor dem Hintergrund des innerreligiösen, des innerkirchlichen und des gesellschaftlichen Pluralismus ist dieses Leitbild ein Trugbild. Es produziert irrationale pastorale Erwartungen an die Leistungsfähigkeit und die Dienstbereitschaft der Ehrenamtlichen und zwingt die Ehrenamtlichen andererseits in ungesunde Dienstrollen. Hauptamtliche wie Ehrenamtliche leiden gleichermaßen unter dem unrealistischen Leitbild. Sie überlasten ihre Beziehungen, verschleißen ihre Kraft und ihren guten Willen und verlieren die Freude am gemeinsamen Tun. Die über130 H.Lindner: Kirche, S.295

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VII. Die Kirchengemeinde

zogene Harmonieerwartung verhindert, daß Ehrenamtliche ihre tatsächlichen Prioritäten, ihre persönlichen handlungs- und entscheidungsleitenden Motivationen ungeschminkt eingestehen können. Wo die Mitarbeiter/innen den religiösen Sektor als Zuständigkeitsbereich des Hauptamtlichen sehen, wird ihnen durch das offizielle Leitbild der frommen, glaubensstarken und glaubenshomogenen Mitarbeitergemeinschaft konzeptionell verwehrt, über ihre säkularen Motivationen zu sprechen. Wenn die Geistlichen das, aus welchen Gründen auch immer, nicht offiziell zur Kenntnis nehmen wollen, sondern wider besseren Wissens an diesem Leitbild festhalten, entwickelt sich ein halbseidenes Spiel wechselseitiger Vorspiegelei. "Ich weiß, was den anderen wirklich bewegt, aber ich will es nicht wissen und tue folglich so, als wüßte ich es nicht. " Diese informale Regel, dieses wechselseitige "Spiel", bestimmt vielfach das Miteinander von Haupt- und Ehrenamtlichen in den Ortskirchengemeinden. 3. Mitarbeitertypen im Wechselspiel gegenseitiger Verhehlung: In der Auseinandersetzung mit dieser Problematik hat Herbert Lindner fünf Mitarbeitertypen unterschieden, die je für sich einer eigenständigen informalen Orientierung folgen und auf je unterschiedliche Weise in das "Spiel" der Beziehungen eingebunden sind: * Hilfsdienste: Die Ehrenamtlichen folgen dem erklärten Motto "Wenn Sie mich brauchen, bin ich da. Ich opfere mich gern auf." Ihre eigentliche Motivation bleibt im Dunkeln oder wird absichtsvoll verschleiert. Sie opfern viel Zeit für die Kirchengemeinde, sind "immer im Dienst" und haben eine hohe Bindung an die Funktion(en), die sie erfüllen, aber auch eine enge Pfarrerbindung. Ihr Spielgewinn: "Herrschen durch Dienen". Die Versuchung für den Amtsinhaber: "Ausnützen" der Dienstbereitschaft. * Selbsthilfe: Die Ehrenamtlichen nehmen ihr Geschick selbst in die Hand und erwarten von der Kirchengemeinde, ihnen dabei zu helfen. Die Motivation ist problembezogen. Sie bringen viel Zeit ein, solange sie "betroffen" sind. Schwindet ihre Notlage, kann sich das u.U. erheblich ändern und die Mitarbeit wird eingestellt. Das Verhältnis zum Geistlichen kann sehr gespannt sein, wenn er theologische, konzeptionelle oder andere "Bedenken" hat. "Nützt du uns nur aus?" Der Spielgewinn: "Mir wird geholfen". Die Versuchung für den Amtsinhaber: "Tauschgeschäfte und Kuhhandel". * Selbstentfaltung: Die Ehrenamtlichen haben "Lust" mitzuarbeiten, sie wollen zeigen, daß "mehr" in ihnen steckt. Sie wollen sich "sinnvoll" betätigen oder sich verwirklichen. Zeitaufwand und Motivation können hoch sein, solange sie Bestätigung finden. Wird das anders, sinkt die Motivation auf Null und die Tätigkeit wird beendet. Wechselseitige Sympathie und Antipathien sind maßgeblich am Zustandekommen der ehrenamtlichen Aktivität, aber auch am Erfolg oder Mißerfolg des Vorhabens beteiligt. Der Spielgewinn: "Beide gewinnen", das Gemeindehausleben blüht auf, und der Selbstentfaltung ist Raum gegeben. 131 Das Folgende nach der Tabelle von H.Lindner: Kirche, S.294

3.5 Die ehrenamtlichen Mitarbeiter/innen

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Die Versuchung für den Amtsinhaber: Wenn das Presbyterium die Leitung des Gemeindehauses als Pfarreraufgabe ansieht und dieser in der Beurteilung der Aktivitäten mehr dem Gesetz der persönlichen Sympathiebeziehungen und der informalen Regel "Hauptsache erledigt" folgt, kann er stark entlastet werden. Allerdings birgt beides die Gefahr, kaum noch gegensteuern zu können, wenn sich erst einmal ins Gemeindehaus eine Atmosphäre von Ehrgeiz, Neid und Mißgunst zwischen konkurrierenden "Selbstentfaltern" eingeschlichen und dort hartnäckig festgesetzt hat. Dann steht man u.U. vor einem gruppendynamischen Scherbenhaufen. * Diese Gemeinde verändern / die Kirche verändern: Die Ehrenamtlichen engagieren sich aus einer programmatischen Überzeugung heraus. Sie möchten etwas verändern. Zeiteinsatz und Motivation sind hoch, solange der Glaube an die Veränderbarkeit der jeweiligen Verhältnisse stark ist. Verschwindet er, ist das Engagement beendet. Das Verhältnis zu den Hauptamtlichen ist in jedem Fall stark, aber ambivalent. Die Qualität entscheidet sich daran, "auf welcher Seite" der Hauptamtliche steht. Spielgewinn ist das Hochgefühl, das sich aus dem gemeinsamen Engagement selbst ergibt (vgl. die Rolle des Menschen im Systementwicklungsstatus eines Quasi-Systems). Die Versuchung für den Geistlichen besteht in Überidentifikation oder überzogener Antipathie: "mein bester Freund oder mein erbitterter Feind" * Besondere Fähigkeiten in den Dienst stellen: Die Ehrenamtlichen engagieren sich, "wenn Sie mich unbedingt brauchen". Die Motivation wird als gering dargestellt oder ist gering. Die Zeit ist knapp bemessen. Das Arbeitsverhältnis ist ständig von Beendigung bedroht. Die Beziehung zum Hauptamtlichen ist einseitig. Es besteht ein Abhängigkeitsverhältnis. Der Hauptamtliche ist der Werbende, der Ehrenamtliche ist der Umworbene. Der Spielgewinn ist "Anerkennung" durch den Hauptamtlichen. Überblickt man die Tabelle, die Herbert Lindner zusammengestellt hat, dann zeigt sich, wie sich im Gemeindeleben auf der Basis (kirchen-)ordnungsgemäßer Ignoranz und eines unrealistischen Leitbildes ein schillerndes Spiel wechselseitiger Halbwahrheiten, verdeckter Loyalitäten und persönlicher Nutzenerwartungen entwickelt. Auf vielfaltige Weise ist ehrenamtliches Engagement in der Kirchengemeinde "nützlich". Aber über die primären Quellen dieses Nutzens wird höchst selten einmal offen gesprochen, obwohl jeder der beteiligten Spielteilnehmer sie kennt. Vielmehr bleibt alles unter einem Schleier, und dieser Schleier trägt die Aufschrift: "geschwisterliches Glaubenshandeln" . So ist es offiziell vorgesehen, und so soll es auch sein. Unter diesem Gesichtspunkt wäre Lindners Auflistung dann noch ein sechster Mitarbeitertyp hinzuzufügen, der Mitarbeiter, der gar nicht erst mitmacht, weil er sich sagt: "Dieses Spiel ist nicht mein Spiel." Daß dieser Typ gar nicht so selten ist, hat die dritte EKD-Umfrage eindeutig belegt. Seltener ist bewußt, daß es schon zur Zeit der Jahrhundertwende ein äußerst schwieriges Unterfangen war, "Spielteilnehmer" zu gewinnen, die die kirchlichen Rahmenbedingungen akzeptierten:

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ΥΠ. Die Kirchengemeinde

"Unsere sozialdemokratischen Arbeiter haben sich durch keine noch so treue und vorurteilslose Gemeindearbeit der Kirche zuführen lassen. Unser Bürgertum ist durch nichts aus seiner sündhaften Indifferenz herauszubringen. Unsere gebildete Männerwelt unterstellt sich nicht der geistigen Führung der Pastoren zum Zweck der Gemeindeorganisation und hat, wo sie sich überhaupt für Volkserziehung interessiert, andere Wege und andere Weisen der Betätigung, als die Mitarbeit am kirchlichen Gemeindeleben. Die kirchlich konservativen Kreise entziehen sich in nicht wenigen Fällen dem Gemeindepfarrer, der nicht ganz und gar ihr Mann ist. Die Heranziehung von Mitarbeitern macht den Pfarrern unsägliche Mühe; es ist wie das Anstoßen einer Uhr, die nicht mehr gehen w i l l " . 1 3 2 Verwunderlich ist es nicht, daß derartige Erfahrungen mittlerweile 100 Jahre alt sind, denn die dogmatische und konfessionelle Eigenständigkeit der Protestanten und das anlaßorientierte Profil ihres volkskirchlichen Normalchristentums waren schon im 19.Jahrhundert voll entwickelt. Wer sich ins kirchliche Ehrenamt begibt, begibt sich auf ein schwieriges Parkett. Große Vorsicht ist angebracht, wenn man nicht ausrutschen und hinfallen möchte. Ein solches Parkett ist nicht jedermanns Ding. Die Bedeutung der Pfarrerpersönlichkeit sollte in diesem Zusammenhang nicht übersehen werden. Es ist kein Zufall, daß sich gerade in Übergangsphasen, kurz vor oder kurz nach einem Pfarrerwechsel, häufig auch die Zusammensetzung der ehrenamtlich tätigen Mitarbeiterschaft verändert. Kirchengemeinden haben ein kurzes Gedächtnis und ein schnell erschöpfbares Maß an fortdauernder Dankbarkeit. d) Schlußfolgerung: Keine Chance, eine Gemeinde am Pfarramt orientiert zu aktivieren "Hat es denn überhaupt Chancen, eine Gemeinde am Pfarramt orientiert aktivieren zu wollen?" Mit dieser Frage hat Wolfgang Lück eine der konzeptionellen Schlüsselfiragen der evangelischen Gemeindearbeit g e s t e l l t . 133 Spätestens nach der Übersicht über die Entstehungsbedingungen der informalen Regeln im Ehrenamt muß auf diese Frage eine unumgängliche Antwort gegeben werden, die Antwort: Nein, es hat keinen Sinn, eine Gemeinde am Pfarramt orientiert aktivieren zu wollen. 134 Unter den Fittichen oder den Argusaugen der Parochialpfarrerschaft (bei dienstvertraglich geregelter Globalzuständigkeit und Letztverantwortlichkeit) kann sich das Maß an Laienselbständigkeit nicht entwickeln, das erforderlich ist, um tatsächlich ein zeitgerechtes Gemeindeleben hervorzubringen. Schon Jakob Schoell wußte: "Eine Gemeinde kann auch da132 Stock: Gemeindegedanke, Sp. 1067 133 W.Lück: Pastorenkirche, S.291 134 Lück hat seine Antwort etwas zurückhaltender formuliert: "Es ist offenbar selten gelungen, Strukturen zu schaffen, die dem Kriterium der Selbständigkeit genügt hätten." - W.Lück: Pastorenkirche, S.291

3.5 Die ehrenamtlichen Mitarbeiter/innen

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durch geistlich tot gemacht werden, daß ein einzelner in ihr alles tut". 135 d¡ c Vormundschaft des Pfarrers ist, wie direktiv oder nichtdirektiv sie auch immer im einzelnen wahrgenommen und gehandhabt werden mag, ein Nadelöhr, durch das viele Evangelische gar nicht erst hindurchzuschlüpfen bereit sind. Sie ist ein typisches Kennzeichen des "alten", des "veralteten" Ehrenamtes. Das Projekt der Verkirchlichung der Christen über den Umweg ihrer Einbindung in das Gemeindehausleben ist konzeptionell über 100 Jahre alt. Seit den 20er Jahren läuft es verstärkt unter pastoraler Einmischung, Leitung und Kontrolle. Der Zeitraum ist lang genug, um definitiv feststellen zu können, daß das Projekt gescheitert ist. Es hat seinen Zweck nicht erfüllt. Es überfordert die Aktiven. Es wird massenhaft unterlaufen, und es produziert schwerwiegende und bisweilen sogar unlösbare leitungsinterne Schwierigkeiten. Von daher ist es an der Zeit, sich von diesem Konzept evangelischer Gemeindearbeit zu verabschieden und ein besseres zu suchen, zu diskutieren und zu erproben. Unter der Ägide eines hauptamtlichen Berufschristen läßt sich weder massenhaftes ehrenamtliches Engagement noch eine "lebendige" volkskirchlich ausgerichtete Gemeinde hervorbringen. Wer den starken Gemeindepfarrer qua Dienstanweisung im Zentrum der Gemeindeaktivitäten verankert, beseitigt die Voraussetzungen, unter denen einzig ein vielfältig blühendes christliches Gemeindeleben wachsen kann. Und andersherum: Wer tatsächlich ein blühendes christliches Gemeindeleben möchte, muß die Laien aus dem Schatten des Pfarrers herausholen und ihnen kirchenrechtlich abgesicherte Freiheiten geben, damit sie wirklich unbehindert von pastoraler Bevormundung oder Letztverantwortlichkeit tätig werden können. Diese Forderung ist für die konzeptionelle Neuordnung der evangelischen Gemeindearbeit unverzichtbar.

3.6 Gemeindehausbesucher: Von der Nützlichkeit des Gemeindehausbesuchs Es könnte nun noch eingehend dargestellt werden, daß es nicht unbedingt nur Glaubensüberzeugungen sind, die die Gemeindemitglieder in besonderen Lebenslagen und Lebensphasen verstärkt ins Gemeindehaus gehen lassen. Selbstverständlich weiß jeder, der ins Gemeindehaus kommt, wer das Gemeindehaus trägt und unterhält. Ohne eine prinzipielle Offenheit gegenüber den Anliegen der Kirchengemeinde wird man wohl schwerlich den Weg dorthin finden. Insofern gibt es auch keinen Gemeindehausbesuch ohne eine "geistliche" Komponente. Aber auch unter den Gemeindehausbesuchern beherrschen eindeutig informale Erwägungen und persönliche Nutzenorientierungen das Feld. Es ist kein Zufall, wenn gerade Jugendliche, Alleinstehende oder Menschen in besonderen Lebenslagen den Weg ins Gemeindehaus finden. Es ist kein Zufall, daß 135 J.Schoell: Gemeindepflege, S.44

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VII. Die Kirchengemeinde

gerade die Gruppen und Kreise mit ausgeprägtem Freizeit- und Erholungswert (z.B. Chöre) Menschen im berufstätigen Alter anzusprechen und zu binden vermögen. Die Grundzüge der Argumentation über informale Orientierungen von Ehrenamtlichen lassen sich ohne Schwierigkeiten auf die Teilnehmer von Gemeindehausveranstaltungen übertragen. Aber die Perspektive verändert sich dabei nicht mehr, die Argumente sind lediglich noch einmal zu wiederholen. Persönliche Nutzenorientierung läßt sich in den vielfältigsten Varianten nachweisen. Nicht selten kommt die informale Orientierung hier sogar unverhohlener zu Vorschein, weil die räumliche Distanz zu den Pfarrern und die Freiheit, wegzubleiben, wenn es keinen Spaß mehr macht, größer sind. Auf eine eingehendere Darstellung der informalen Ordnungen von Gemeindehausbesuchern soll hier verzichtet werden. Inhaltlich würde sie keine neuen Erkenntnisse mehr erbringen.

3.7 Ergebnisse 1. Informale Ordnungen in der Gemeindearbeit: Eingangs wurde die Behauptung aufgestellt, daß die Ortskirchengemeinden "Sozialsysteme im Wandel" sind. Sie sind einerseits externen Wandlungsimpulsen, andererseits auch internen Wandlungsimpulsen ausgesetzt. Unter dem Druck dieser vielfältigen, einander partiell widerstreitenden Wandlungsimpulse entwickeln sich in den Kirchengemeinden "informale Ordnungen", an denen sich die tägliche Gemeindearbeit orientiert. Informale Ordnungen sind "menschliche" Ordnungen. Sie berücksichtigen ebenso die menschlichen Bedürfnisse wie die unmittelbaren Anforderungen der jeweils wechselnden Situationen. Sie erfüllen positive Funktionen, indem sie strukturelle Schwächen des Systems kompensieren, die Handlungsfähigkeit des Systems in Krisensituationen aufrecht erhalten und damit auch die Anpassung des Systems an veränderte Gegebenheiten beschleunigen. Informale Ordnungen besitzen aber auch ein Negativpotential. Sie können das ordnungsgemäße Funktionieren der innersystemischen Abläufe untergraben und sogar verhindern. 136 Bei der Darstellung der informalen Ordnungen in der Gemeindearbeit ließen sich diese beiden Seiten der informalen Ordnungen deutlich erkennen. Einerseits zeigte sich, daß sie mithelfen, die Funktionsfähigkeit des Sozialsystems Kirchengemeinde auch unter widrigen Umständen aufrecht zu erhalten. Die Gemeindeleitung funktioniert, obwohl dem Gremium selbst fundamentale Lei136 Im Wissen um die Existenz solcher informaler Systeme stellt sich die Frage, was eigentlich ein System ist, noch einmal in erweiterter Form. Als System ist dann letztlich die Gesamtstruktur anzusehen, die aus dem Ineinander und Miteinander der formalen und informalen Strukturen besteht. Indem die beteiligten Menschen täglich aufs neue die beiden Systeme miteinander verzahnen, behaupten sie sich (partiell) gegenüber der Dominanz der Präferenzordnung und schaffen sich selbst ein System mit einem weniger zweckrationalen, einem "menschlicheren" Gesicht.

3.7 Ergebnisse

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tungsvoraussetzungen fehlen. Die Pfarrerschaft bewältigt eine Situation dauerhafter Aufgabenüberlastung und Rollenkonfusion. Ehrenamtliche finden sich, obwohl es in einer gewandelten Gesellschaft keineswegs mehr einfach ist, unter dem Druck des "alten" Ehrenamtes zu arbeiten. Das Gemeindehaus wird besucht und hat einen festen Platz im Bewußtsein der Bevölkerung erobert. Andererseits aber war auch unübersehbar, daß die Verfestigung der informalen Ordnungen zur Verfestigung struktureller Schwächen und Defizite geführt hat. Das Presbyterium kultiviert eine unrealistische "Kerngemeinde"-Vorstellung. Es übersieht die Masse der volkskirchlich orientierten und sozialisierten Gemeindemitglieder, so daß hier von einem "blinden Fleck" in der Wahrnehmungsperspektive gesprochen werden mußte. Die Pfarrerschaft ist unter dem Druck der Umstände gezwungen, "Familienpflege" zu betreiben und einem relativ kleinen Teil der Gemeindemitglieder den Löwenanteil der Arbeitszeit zukommen zu lassen. Das ehrenamtliche Engagement in der Kirchengemeinde bleibt weit hinter den Möglichkeiten zurück, die es nach aktuellen Umfrageergebnissen besitzt. 2. Die Kirchengemeinde als Sozialsystem im Wandel: Die Einsicht in die Tatsache, daß die evangelische Gemeindearbeit tief von informalen Ordnungen durchdrungen ist, bestätigt die Eingangsthese, daß sie als "Sozialsystem im Wandel" anzusehen ist. Der Wandel der Kirchengemeinden hat das gesamte System mit allen seinen Komponenten ergriffen, so vollständig, daß es in diesem System außerhalb der Präferenzordnung keine unberührte Oase der Seligen mehr gibt. Da die maßgeblichen Spielregeln unter situationsspezifischen Gegebenheiten entstehen, differenziert sich auch das Profil der evangelischen Gemeindearbeit je und je lokal unterschiedlich aus. Will man das Bild aus der Sicht der Kirchenordnung (Präferenzordnung) heraus beurteilen, dann bleibt nichts anderes übrig, als festzustellen, daß die Landeskirchen sich in einem Stadium des inneren Zerfalls befinden. Kaum noch etwas ist so, wie die Kirchenordnung es vorsieht, beschreibt oder erwartet. Die Kirchengemeinden sind längst schon "anders" geworden. 3. Die Qualität der Gemeindearbeit läßt sich z.Zt. nicht mehr steigern: Was die Kirchengemeinden heute zusammenhält, sind in einem sehr hohen Ausmaß geheime Spielregeln, sind kreative und konstruktive Problemlösungsleistungen der haupt- und ehrenamtlichen Mitarbeiter/innen. Für die Kirchenleitungsinstanzen bedeutet das, daß es nicht mehr ausreicht, auf eine Präferenzordnung zu pochen, die aller Orten längst durchlöchert ist wie ein Schweizer Käse. Es reicht nicht mehr aus, sich auf "die Ordnung der Kirche" zurückzuziehen und zu glauben, damit sei alles Notwendige und alles Mögliche bereits getan. Die Wirklichkeit der Gemeindearbeit ist ebenso immun gegenüber unrealistischen Anforderungen des Muttersystems, wie sie gegenüber praxisfernen Vorschlägen, Konzeptionen und Ideen immun ist. Von daher ist auch jeder Versuch zum Scheitern verurteilt, die kirchlichen Mitarbeiter liebevoll oder unter verschärftem Druck zu verstärkter Anstrengung, zu mehr und zu besserer Leistung aufzufordern. Es wird nicht bestritten, daß sich die Qualität der Gemeindearbeit

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VII. Die Kirchengemeinde

erheblich verbessern läßt. Wohl aber wird behauptet, daß sich die Qualität der Gemeindearbeit unter den gegebenen Verhältnissen nicht mehr steigern läßt. Die vorhandene Situation hat ja unter anderem die Ausbildung informaler Ordnungen erzwungen, weil sie zu viele Überforderungen birgt. Deshalb wird jeder Versuch, den Kohärenzzerfall der Landeskirche über verschärfte Anforderungen an die kirchlichen Mitarbeiter/innen zu stoppen (s.o.Dörner), ins Leere laufen. Solange die Rahmenbedingungen unverändert bleiben, geht es in den einzelnen Ortskirchengemeinden nicht mehr um die Frage, was "die Gemeinde" eigentlich oder sinnvollerweise noch alles tun müßte. Es geht auch nicht darum, was alles intensiver oder p r o f e s s i o n e l l e r ^ getan werden könnte. Es geht einzig darum, den alltäglichen Belastungen irgendwie und einigermaßen standzuhalten. Informale Ordnungen sind auch Hilferufe und Alarmsignale. Sie signalieren einen erhöhten Anpassungsbedarf an die existierenden Verhältnisse. 4. Die Landeskirche als "ecclesia semper reformanda": Die Landeskirche ist, ob sie es will oder nicht, ständig in Bewegung. Allerdings ist sie nicht deshalb schon eine "semper reformanda", weil irgendwo in ihrem theologischen Selbstverständnis fixiert ist, sie sei eine "semper reformanda". Sie ist in Bewegung, weil sie als Sozialsystem unablösbar in ihre gesellschaftliche Umwelt eingebunden ist. Weil sich die gesellschaftliche Umwelt im Wandel befindet, kann sich auch die Landeskirche dem Wandel nicht entziehen. Wo sie es dennoch versuchte, würde sie allenfalls zum Spielball, zum passiven Objekt des Wandels werden. Die Enkulturation des Christentums findet so oder so statt. Die Interpretation der Umfragedaten über die Mitgliederreligiosität hat eindrucksvoll gezeigt, daß sie auch in der ausdifferenzierten Gesellschaft und auch unter den Gesetzmäßigkeiten stattfindet, in die die Gesellschaft ihre Mitglieder einbindet. Wenn sich die Landeskirche in Treue zu ihrer Präferenzordnung sträubt, dem Wandlungsdruck stattzugeben, hält er doch spätestens über den Umweg der Mitgliederreligiosität Einzug ins kirchliche Sozialsystem. Leitungsinstanzen, die sich weigern, den Wandlungsdruck zur Kenntnis zu nehmen, sind das Problem nicht los. Sie denzentralisieren lediglich die notwendigen und unumgänglichen Problemlösungsanstrengungen. Sie zwingen die einzelnen Kirchengemeinden die (informalen) Ordnungen selbst auszubilden, die es ihnen gestatten, Systemerhalt und Systemwandel gleichzeitig zu realisieren. Kurz, die Landeskirche, die nicht nur auf dem Papier eine "semper reformanda" sein will, kommt nicht umhin, die informalen Ordnungen zu enttabuisieren, ihre Entstehungsgründe zu studieren und eine sinnvolle Neuordnung der evangelischen Gemeindearbeit vorzunehmen. 5. Die Auflösung der strukturellen Krise, in die die evangelische Gemeindearbeit geraten ist, erfordert die Hinwendung zur Praxis der Gemeindearbeit: 137 Die EKHN-Studie "Person und Institution" fordert verstärkt "professionelles Handeln" und beklagt "gut gemeinten Universaldilettantismus" und "unverständliches, irrationales Engagement" (S.68). Eine solche Schuldzuweisung ist nicht hilfreich. Erforderlich wären kirchenleitende Maßnahmen, die professionelles Handeln möglich machen, indem sie die Bedingungen beseitigen, die Universaldilettantismus erzwingen.

3.7 Ergebnisse

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Eine Landeskirche, die die geheimen Spielregeln der Gemeindearbeit nicht länger tabuisierte, sondern ihre Entstehungsursachen ernstnähme, hätte bereits einen wesentlichen Schritt in die richtige Richtung getan. Es kann nicht sinnvoll sein, sich mit Selbstbeschwichtigungsformeln ("Selbstdurchsetzungskraft des Wortes") über die Krankheiten der sozialen Organisation hinwegzutäuschen, solange die Kräfte der autodynamischen Systementwicklung den Betriebsschaden fortwährend vergrößern. Der Referenzcharakter der Landeskirchen erlaubt es zwar jederzeit, durch den Verweis auf das Referenzsystem, die ecclesia invisibilis, von der Sozialgestalt der semper reformanda abzulenken. Die ecclesia invisibilis aber ist nach systemtheoretischer Einsicht (s.o. "Systemnetzwerk") eine andere Systemebene. Wenn es um die Zukunftsfähigkeit der volkskirchlichen Landeskirchen geht, ist ein derartiger Hinweis kontraproduktiv. Er beendet das Nachdenken über die Organisationsstrukturen der sichtbaren Kirche, ehe es noch richtig begonnen hat. Im Verlauf der Darstellung konnte gezeigt werden, welche vielfältigen, weitreichenden und hartnäckigen Konsequenzen die irdischen Organisationsstrukturen mit sich gebracht haben und immer noch fortwährend mit sich bringen. Wenn es um handfeste Konzepte für die Gemeindearbeit morgen geht, kann man mehr tun, als auf die Zukunftsfähigkeit der ecclesia invisibilis zu vertrauen. Man kann über die offenen Wunden der Organisation, über eigene Nachlässigkeiten und eigene Unzulänglichkeiten, über liegengebliebene Hausaufgaben, über verfestigte Vorurteile und liebgewordene Nischen nachdenken. Man kann sich der Frage zuwenden, wie denn eine evangelische Gemeindearbeit konzeptionell strukturiert sein müßte, die sich bewußt in der volkskirchlichen Tradition der evangelischen Landeskirchen ansiedelt. Gebraucht wird eine Konzeption, die die Sachzwänge berücksichtigt, in die die ausdifferenzierte Gesellschaft die Menschen hineinverwickelt. Gebraucht wird eine Konzeption, die von einem inneren Verständnis für die Entstehungsursachen der Religiosität und Kirchlichkeit der Kirchenmitglieder getragen ist. Es wird darüber nachzudenken sein, wie man die Strukturen der evangelischen Gemeindearbeit entlastend und konstruktiv neu zu ordnen hat. Vor allem aber wird man sich den Menschen zuzuwenden haben: Den Angestellten, für die die Landeskirchen Personalverantwortung übernommen haben, denjenigen, die immer schon im Licht der Aufmerksamkeit standen und auch den vielen Kirchenmitgliedern, die viel zu lange schon im Dunkel der Geringschätzung stehen. Methodisch ist eine großflächige, umfassende und offene Diskussion über die Konzeption der evangelischen Gemeindearbeit erforderlich. In dieser Diskussion sollte es keine Fingerzeigerei, keine Vorwürfe und keine billigen Schuldzuweisungen mehr geben. Abschließend wird deshalb eine kleine Skizze vorgelegt werden, die sich als Beitrag zu dieser überfälligen Diskussion versteht. 138 Eine schlichte Grundstruktur für die evangelische Gemeindearbeit wird vorgeschlagen werden. Dabei war das Interesse leitend, die Fehlbewertun138 Als einen bedeutenden Beitrag sehe ich in diesem Zusammenhang auch die Arbeit von A. Jäger: Konzepte der Kirchenleitung fìlr die Zukunft, Gütersloh 1993 an.

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ΥΠ. Die Kirchengemeinde

gen und die Fehlentwicklungen des informal ausgestalteten Gemeindepflegekonzeptes zu korrigieren und die Belastungen für die Mitarbeiterschaft insgesamt zu reduzieren.

4. Christsein entfalten - Diskussionsvorschlag für die konzeptionelle Neuordnung der parochialen Gemeindearbeit Die parochiale Gemeindearbeit befindet sich mitten im Prozeß des Systemwandels. Wenn, um ein alltägliches Beispiel zu geben, in den Traugottesdiensten der Gemeinden dauerhaft niemand mehr mitsingt (eine Erfahrung, die an vielen Orten längst Realität ist), wird sich der Pfarrer irgendwann entscheiden müssen, ob er eine Gesangsausbildung macht oder ob er in der Regel auf den "Gemeinde"-gesang verzichtet. Wandel wird immer situativ angestoßen und lokal vollzogen. Die Kirchengemeinden besitzen durchaus die Fähigkeit, auch in Zukunft ein zeitgemäßes Christentum zu entwickeln. Offen ist allerdings die Frage, ob die Kirchengemeinden auch weiterhin gezwungen sein werden, den Wandel mit Hilfe informaler Lösungen zu begleiten und zu vollziehen, oder ob es den Landeskirchen gelingen wird, ihre Ordnungen und ihre Organisationsstrukturen so zu erneuern, daß der Wandel innersystemisch koordiniert, konstruktiv begleitet und reflektiert vollzogen werden kann? Entscheidend wird also die Fähigkeit und der Wille der Landeskirchen sein, ihre nicht mehr zeitgemäßen Organisationsstrukturen zu erneuern. Zukunftsfähigkeit im Wandel läßt sich nur gewinnen, wenn die Landeskirchen nicht nur in ihrem theologischen Selbstverständnis, sondern auch von ihrer Organisationsstruktur her "ecclesiae semper reformandae" werden. Mit den Vorschlägen, die im folgenden unterbreitet werden, sollen die Untersuchungsergebnisse, die in den vorhergehenden Analysekapiteln gewonnen worden sind, für die Organisation der parochialen Gemeindearbeit fruchtbar gemacht werden. In die Auswahl der Optionen sind die Ergebnisse Untersuchungen eingegangen. Von daher erklärt sich u.U. manch eine Entscheidung, die auf den ersten Blick als unüblich und ungewohnt erscheinen mag. Auf Detailerwägungen oder gar Projektvorschläge für die Gemeindearbeit von morgen wird verzichtet. Die haupt- und ehrenamtlichen Mitarbeiter/innen können den Innovations- und Handlungsbedarf, der jeweils am Ort besteht, allemal zuverlässiger und kompetenter erkennen als jeder Theoretiker es vom grünen Tisch her könnte. Wer die konkreten Gegebenheiten kennt, weiß am besten, was nötig, was möglich, und was realisierbar ist. Absichtsvoll wird lediglich einer Skizze zur Neuordnung der parochialen Grundstrukturen, der globalen Zuständigkeiten und Verantwortlichkeiten, vorgelegt. Sie mit Leben zu erfüllen, kann nicht die Aufgabe eines einzelnen sein. Dazu gibt es in den Landeskirchen berufenere Instanzen, von den Betroffenen selbst bis hin zu Gremien, Ausschüssen und Synoden.

4. Christsein entfalten

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Drei Grundsatzentscheidungen könnten dazu verhelfen, das weite Feld der parochialen Gemeindearbeit eindeutiger zu strukturieren: 1. Die Hybridstruktur der parochialen Gemeindearbeit (Kirchturm und Gemeindehaus) wird entflochten. 2. Der Arbeits- und Zuständigkeitsbereich der Pfarrer/innen wird beschnitten. 3. Mit der Festlegung geeigneter Leitungstrukturen und Leitungsprinzipien ("neues" Ehrenamt) wird ein zeitnahes, flexibles und wandlungsoffenes Gemeindehauschristentum und Gemeindeleben angestrebt. Vier Leitsätze für eine mögliche Neustrukturierung der evangelischen Gemeindearbeit werden vorangestellt und im Anschluß daran erläutert:

1. Parochialpfarrer/innen sind für die christlich-religiöse Begleitung aller Gemeindemitglieder zuständig. Ihrer Berufsausbildung entsprechend arbeiten sie als Theologen. Damit sie ihren Aufgaben intensiv nachkommen können, sind sie von Pflichtaufgaben in der Gemeindeverwaltung, in der Gemeindeleitung und im Gemeindehaus freigestellt. Die Landeskirchen bieten ihnen ein praxisnahes und problemgerechtes Unterstützungs- und Fortbildungsangebot an. Die Dienstaufsicht für diesen Teil der parochialen Arbeit wird durch besonders qualifizierte Dienstvorgesetzte wahrgenommen. 2. Zielgruppen werden im Rahmen von Personalkirchengemeinden angesprochen und betreut werden. 3. Ehrenamtliche leiten die Ortskirchengemeinde. Zu ihren Aufgaben gehört die Leitung der Gremien, die Gemeindeverwaltung mit Mittelverwendung, Immobilien- und Personaleinsatz, die Mitarbeiterführung, die Gemeindediakonie, Strukturentscheidungen und Profilentwicklung der Gemeindehausarbeit. Die Landeskirchen unterstützen die Presbyterien durch gezielte (aufgabengerechte, praxisnahe, effizienzorientierte) Hilfs- und Fortbildungsangebote. Pfarrer/innen nehmen an den Sitzungen der Presbyterien mit beratender Stimme (ohne Stimmrecht) teil. 4. Ehrenamtlich tätige Mitarbeiter/innen entwickeln die Gemeindehausarbeit und das Gemeindehausleben selbständig. Sie unterliegen der konzeptionellen Rahmenverantwortung des Presbyteriums. Einem zukunfts- und wandlungsoffenen Gemeindeleben wird damit ein Kristallisationskern im Gemeindehaus angeboten.

b) Die Arbeit der Gemeindepfarrer/innen Es gab schon einmal in den 70er Jahren eine Diskussion über Möglichkeiten der Neustrukturierung des parochialen Arbeitsfeldes. Sie war von der Einsicht angeregt, daß das diffus zerfledderte Berufsfeld der Pfarrer/innen die Qualität und die Effizienz ihrer der Arbeit stark negativ beeinträchtigt. Yorick Spiegel

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ΥΠ. Die Kirchengemeinde

schrieb damals, ein Pfarrer hätte unter den gegebenen Umständen in der Ortsgemeinde eine dreifache Wahl zu treffen: "Er muß wählen zwischen der Pflege volkskirchlicher Verhältnisse oder dem Aufbau eines aktiven Gemeindekerns; 2. er muß sich darüber klar werden, ob er sich mehr als Amtsträger der Kirche oder als Beauftragter der Gemeinde versteht; 3. er muß seine Stellung in der Gemeinde selbst deutlich machen, ob er seine Aufgabe nämlich monokratisch oder in gleichberechtigter Zusammenarbeit mit angestellten und ehrenamtlichen Kräften durchführen will". 139 Spiegel war der Ansicht, daß "die Überlastung der dort arbeitenden Pfarrer eine Lösung dringend erforderlich macht" und suchte die Lösung im Teampfarramt: Es "muß zu einer übersichtlichen Aufgabenteilung in der lokalen Gemeinde kommen, z.B. zum Teampfarramt mit Verantwortlichen in Unterricht und Jugendarbeit, in Seelsorge und in Diakonie, wozu jeweils Mitglieder der Gemeinde zur Mitarbeit herangezogen werden". 140 Beide Forderungen Spiegels wurden im Verlauf der Diskussion zurückgewiesen. Peter Krusche antwortete, daß eine individuelle Wahl zwischen den drei genannten Optionen unter den gegebenen Verhältnissen faktisch "nur in sehr geringem Maße besteht" 141 ; w e il die gewachsene Organisationsund Leitungsstruktur längst schon feststeht. Er stellte hellsichtig und zugleich doch auch resignierend fest: "Ungespaltene Rollenidentität ist für den Pfarrer nicht erwartbar. Man wird auch zu berücksichtigen haben, daß die Kirche als Organisation aufgrund ihrer inneren Verfassung nicht in der Lage ist, klare Prioritäten für den Pfarrer zu setzen, weil sie keinen Konsens über ihr Mandat, ihre Grundfunktionen in der Gesellschaft herbeiführen kann". 142 Auch der Vorschlag, Teampfarrämter einzurichten, wurde damals (häufig verkürzend und sinnentstellend unter dem Stichwort "ROSTA-Papier") intensiv diskutiert. Aber Teamprojekte sind in der Gemeindepraxis gescheitert. Die Überzeugung, daß die Pfarrer/innen auch weiterhin "Generalisten" bleiben sollten, setzte sich letztlich durch: "Die archaische Situation des Pfarrers, dessen Beruf keine institutionelle Trennung von Arbeit und Freizeit kennt, die dotierte Freistellung zu diffuser Präsenz ist eine Chance, die nicht unbesehen dem bürokratischen Zugang zu vermeintlich effektiven Teams geopfert werden sollte ".143 Es blieb zwar nicht alles beim Alten, aber doch viel zu Vieles. Obwohl ihre Problematik erkannt und unverhüllt angesprochen worden war, waren "die Verhältnisse" letztlich doch wieder einmal Sieger geblieben. An diesem Punkt setzt der Vorschlag an, der nun im folgenden ausgeführt werden wird: Es darf nicht allein eine Sache der betroffenen Pfarrer/innen sein und bleiben, den erforderlichen Strukturschnitt durchzuführen. Es ist begründet worden, warum die Pfarrer/innen im Parochialpfarrdienst eben nicht frei sind, 139 140 141 142 143

Y.Spiegel: Pfarrer, S.467 Y.Spiegel: Pfarrer, S.473 P.Krusche: Schlüsselrolle, S.182 P.Krusche: Schlüsselrolle, S.182 G.Kehrer: Gemeinde, S.262; vgl. E.Lange: Schwierigkeit, S.30-33

4. Christsein entfalten

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die Schwerpunkte ihrer Arbeit sinnvoll und konstruktiv im Sinne ihrer Verpflichtung gegenüber tausenden von Gemeindemitgliedern zu wählen. Damit das geschieht, müssen sich die Synoden und die Kirchenleitungen einschalten. Sie allein haben die Möglichkeit, die Verhältnisse so zu ändern, daß den Parochialpfarrer/innen die verlorengegangene Handlungs- und Entscheidungsfahigkeit zurückgegeben wird. Die Aufgabe, für die in den 70er Jahren trotz aller Bemühungen keine Lösung gefunden wurde, ist nach wie vor auf der Tagesordnung: die Arbeitsüberlastung der Parochialpfarrerschaft so zu reduzieren, daß sich die Qualität der evangelischen Gemeindearbeit nachhaltig verbessert. Strukturveränderungen der parochialen Gemeindearbeit können nur dann erfolgreich sein, wenn sie die "informalen Ordnungen" und ihre Entstehungsbedingungen berücksichtigen und in die Konstruktion mit einbeziehen. Wenn also die pastorale Arbeit unter einer strukturell bedingten und informal ständig aufs neue reproduzierten Blickverengung auf "die Kerngemeinde" (und was jeweils darunter verstanden wird) leidet, dann ist von diesem Befund auszugehen und die Frage zu stellen: Wie findet die Landeskirche als Organisation wieder uneingeschränkten Anschluß an ihre volkskirchlich sozialisierte Mitgliederbasis?144 Ein BeziehungsVerhältnis, das von Defizitunterstellungen, Vereinnahmungsverhalten, Schuldgefühlen und vielem anderen wechselseitig belastet ist, braucht eine neue Vertrauensgrundlage. Die Landeskirchen haben nur einen begrenzten, allenfalls indirekten Einfluß auf die Einstellungen ihrer Mitglieder. Ihren eigenen Part aber können sie durch sinnvolle Organisationsvorgaben sehr wohl beeinflussen. Sie können daran arbeiten, die mentale Einstellung ihrer Mitarbeiter/innen gegenüber den Mitgliedern zu verbessern. Sie können durch eine strukturelle Neuordnung der Zuständigkeiten und Kompetenzen dafür sorgen, daß die hauptamtlichen Angestellten in den Ortskirchengemeinden den "normalen" Gemeindemitgliedern deutlich mehr Zeit zuwenden können als bisher. Und sie können sich darum bemühen, die Mitgliederzufriedenheit kontinuierlich zu erhöhen. Seit einigen Jahren erscheint ein jährlich aktualisiertes "Kundenbarometer" der Deutschen Marketing-Vereinigung e.V., das u.a. auch die Zufriedenheit der "Kunden" mit Hilfs-, Spenden- und Umweltorganisationen e r f a ß t . 1 4 5 Abgefragt wird u.a. die Erreichbarkeit eines Unternehmens, die Zuverlässigkeit, die Pünktlichkeit, die Freundlichkeit der Mitarbeiter. Verglichen mit anderen Nonprofit-Organisationen erzielte die evangelische Kirche 1993 das schlechteste Ergebnis und bildete das Schlußlicht der Zufriedenheitsskala. Um das zu ändern, ist noch sehr viel zu tun. "Der Pastor hat eine bereits vorhandene Gemeinde zu pflegen. Das unterscheidet ihn von einem Missionar". 146 Volkskirchlich orientierte Gemeindearbeit ist so lange erforderlich, wie die Nachfrage nach pastoraler Begleitung und pastoralem Dienst in der Bevölkerung vorhanden ist. Die Landeskirchen haben diese Verpflichtung, die sie gegenüber ihren Mitgliedern eingegangen sind, 144 So auch A.Feige: Schicksal, S. 104 145 Bezug bei Deutsche Marketing Vereinigung e.V., Haroldstr. 14 40213 Düsseldorf 146 E.Friedel zit. nach F.Schwarz / C.Schwarz: Theologie, S.251

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ΥΠ. Die Kirchengemeinde

ernstzunehmen. Sie haben nach Wegen zu suchen, die es den Parochialpfarrer/innen ermöglichen, den Mitgliedererwartungen besser als bisher zu entsprechen. Es wird deshalb vorgeschlagen, die Strukturen der Gemeindearbeit so zu verändern, daß die Parochialpfarrer/innen deutlich mehr Zeit im persönlichen Kontakt mit den Kirchenmitgliedern verbringen können. Die Forderung ist weder originell noch ist sie neu. Aber sie ist nach wie vor erforderlich, weil sie unter den gegebenen Arbeitsverhältnissen nicht im wünschenswerten Umfang zu realisieren ist. Die Ausgangsvoraussetzungen für die Neustrukturierung der Arbeitsschwerpunkte pastoraler Gemeindearbeit sind keineswegs schlecht, wenn eine solche Neustrukturierung gezielt an die Erwartungshaltungen anknüpft, die unter den Kirchenmitgliedern ohnehin seit langem bestehen. Die Mitgliederbefragungen sprechen in dieser Hinsicht ja schon seit Jahrzehnten eine durchaus ermutigende Sprache. 147 Allerdings wird es erforderlich sein, ihnen endlich einmal konzeptionsbildendes Gewicht beizumessen. Daran hat es bisher gefehlt. Für viele Mitglieder verkörpern sie Gemeindepfarrer/innen "die Kirche". Der persönliche Pfarrerkontakt stärkt erwiesenermaßen die emotionale Nähe zur Kirche. Die Mitglieder erwarten von "ihren" Pfarrern persönliche Gottesdienste und christliche Verkündigung in einer klaren, zeitgerechten Sprache. Sie erwarten die "hilfreiche Präsenz" im Pfarrbezirk: Begleitung, Trost, Hilfestellung, soziale Diakonie für den Nächsten und für sich selbst. Sie wünschen, daß ihre Pfarrerin oder ihr Pfarrer für sie Zeit haben, wenn sie nach ihnen rufen. Sie sind in dieser Hinsicht weder verwöhnt noch anspruchsvoll. Sie melden sich selten. Wenn sie sich aber melden, möchten sie ernstgenommen werden. Alle diese Wünsche, Forderungen und Ansichten sind alles andere als unbillig. Ihnen sollte konzeptionell, d.h. in diesem Falle vorsätzlich entsprochen werden. 148 "Die Probleme der Pfarrerrolle sind Schlüsselprobleme der Kirche". 149 Es ist keinem kirchlichen Angestellten dauerhaft zuzumuten, seine Hausbesuche nach der 60. Wochenarbeitsstunde zu machen. Wer den Erwartungen der Gemeindemitglieder entsprechen möchte, wird folglich nicht umhin kommen, die gesamte Gemeindearbeit zu durchforsten und tiefe Einschnitte vorzunehmen. Mehr Zeit für die Begegnung mit den Gemeindemitgliedern ist nur zu erreichen, wenn die Pfarrerschaft mit Hilfe eindeutiger, rechtlich verankerter Regelungen aus den Krakenarmen der Allzuständigkeit und der Letztverantwortlichkeit für das "Gemeindeleben" befreit wird. In einer Erprobungszeit wäre sogar schriftlich zu fixieren, was Pfarrer/innen nicht mehr tun dürfen. Mit diffusen 147 In der Diskussion über Formen und Strukturen der Gemeindearbeit haben sie nicht zuletzt deshalb zu wenig Aufmerksamkeit gefunden, weil die Landeskirchen mit ihrer Fixierung auf sichtbare Kirchlichkeit als Ziel der evangelischen Gemeindearbeit eine verfehlte Zielvorstellung verfolgt haben. 148 P.Krusche hat sich schon 1974 dafür ausgesprochen, den "sakralen Kundendienst" positiv zu sehen (Pfarrer, S.285f). "Dem pastoralen Handeln wird dort ein Höchstmaß an Wirkung zugeschrieben, wo es das einzelne Kirchenmitglied ... als Adressaten akzeptiert." P.Krusche: Pfarrer, S.166 149 W.Marhold: Pfarrer, S.169

4. Christsein entfalten

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Schwerpunktregelungen auf der Basis persönlicher Absprachen, die aber nach Kirchenordnung, Pfarrdienstrecht und Presbyteriumswillen jeder Zeit widerrufen oder ergänzt werden können, ist kaum jemandem geholfen. Derartige Regelungen stabilisieren lediglich die Dominanz der informalen Lösungsstrategien. Von diesen Erwägungen her wird vorgeschlagen, 1. den Arbeitsumfang der Parochialpfarrer/innen radikal zurückzuschneiden, 2. die Professionalisierung des Pfarrberufs durch praxisnahe und problemgerechte Unterstützungen und Fortbildungen voranzutreiben, 3. die Freizeit der Parochialpfarrer/innen verbindlich zu regeln. 1. Arbeitsumfang begrenzen und schwerpunktmäßig neu gewichten: Der Zuständigkeitsbereich der Parochialpfarrer/innen sollten zurückgeschnitten werden, um sie für die Präsenz in der Gemeinde und die geistliche Begleitung der Gemeindemitglieder, freizustellen. 150 j n Übereinstimmung mit ihrer Berufsausbildung sollten sie nur noch in den Bereichen Gottesdienst, Unterricht, Seelsorge und Betreuung, evtl. auch Öffentlichkeitsarbeit tätig sein. Damit sie diesen Aufgaben intensiv nachkommen können, wären sie von sämtlichen anderen Aufgaben und Verpflichtungen, insbes. im Zusammenhang mit Gemeindehaus und Gemeindeleitung, zu entbinden. Um konkretere Zahlen in die Diskussion zu bringen und ein Modell vorzuschlagen, das von den vorhandenen Arbeitszeiterfassungen!52 signifikant abweicht, könnte das etwa bedeuten: * Mindestens 40 Prozent einer normalen Wochenarbeitszeit von 40 Stunden wären für Kontakte mit den Gemeindemitgliedern zu reservieren (Arbeitsfelder wie Hausbesuche, Kindergartenarbeit, Konfirmandenunterricht, Öffentlichkeitsarbeit u.a.). * 15 Prozent für die Durchführung von Gottesdiensten (Schulgottesdienste; Kasualgottesdienste; Familiengottesdienste; Gottesdienste aus besonderen Anlässen, zu bes. Zeiten, an bes. Orten; Andachten; Sonntagsgottesdienste) * 10 Prozent der Arbeitszeit für gesamtkirchliche Aufgaben oder für qualifizierte Nebenerwerbstätigkeiten auf dem freien "religiösen Markt" (Seminare, Kurse, Workshops u.v.a.) Es ist höchste Zeit, der Konkurrenz Konkurrenz zu machen. * Vorbereitungszeiten, Dienstbesprechungen u.a. füllen den Rest. 153 150 Auch die EKHN-Studie "Person und Institution" fordert eine "Konzentration auf vorrangig wichtige Arbeitsfelder" (S. 173 vgl. S.157), ohne dies allerdings zu präzisieren. 151 Auch die EKHN-Studie "Person und Institution" hat sich dafür ausgesprochen, die Pfarrer/innen von der Gemeindeleitung zu entbinden. (S.157) 152 s.o. Anm.65 153 Inwieweit derartige Zeitvorstellungen realisierbar sind, würde sich in der Praxis zeigen müssen. Man sollte aber nicht auf Zeitvorgaben verzichten, denn Zeitvorgaben sind überprüfbar. In mehreren Landeskirchen liegen bereits empirische Studien über die Arbeitszeitverteilung im Pfarramt vor. Wenn solche Messungen regelmäßig vorgenommen werden, lassen sich die Verbesserungen der Arbeitsbedingungen im Parochialpfarramt quantifizieren. Über Toleranzen und Meßungenauigkeiten sollte man erst streiten, wenn die Daten erhoben sind. Bisher konnte noch nicht überzeugend nachgewiesen werden, daß es der Pfarrerschaft dienlich ist, wenn sie dem ungehemmten Spiel der gruppendynamischen Kräfte in den Kirchengemeinden ausgesetzt sind. Fortsetzung der Anm. »>

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Durch die Konzentration der Pfarreraktivitäten auf das Mitgliedersegment würde die Landeskirche ihre Rolle als Marktteilnehmer im Marktsegment des Systembereichs Religion aktiver wahrnehmen. Der kommunikativen und interaktiven Dimension des Pfarrdienstes wird deutlich mehr Beachtung geschenkt als dies bisher üblich ist. Schon bei Emil Sülze konnte man lesen: "Alles kommt darauf an, daß für die energische Arbeit in der Seelsorge kein Hindernis entsteht". 154 Seine Einsicht wird hier wieder aufgegriffen. Dabei ist allerdings zu berücksichtigen, daß sich diese Forderung heute nicht mehr von selbst versteht. Die Pfarrer/innen sehen sich oft mehr als Prediger an und verstehen sich demgegenüber nicht im gleichen Maße auch als Seelsorger/innen. "Es ist die unterschiedliche Betonung verschiedener Komponenten der einen Pfarrerrolle, die hier zu Divergenzen führt. Die Pfarrer sehen aufgrund ihrer beruflichen Sozialisation und den Eingangsmotivationen, die sie diesen Berufsweg haben einschlagen lassen, die kognitiven und handlungsorientierten Aspekte als das Wesentliche ihrer Tätigkeit an. Sie sind obendrein durch die jeweiligen Theologien noch wertrational überformt. Die meisten Kirchenmitglieder dagegen bewerten infolge gesellschaftlicher Defiziterfahrungen die interaktiven und gefühlsbetonten Aspekte der Berufsrolle am höchsten". 155 sie suchen und erwarten kompetente Seelsorger/innen. Der Umbau der Strukturen macht also auch ein Umdenken in den Köpfen, eine vorsätzliche Verstärkung der Mitgliederorientierung erforderlich. Das bedeutet aber nicht, daß der Stellenwert der Verkündigungsaufgabe herabgesetzt werden soll. Im Gegenteil: In der Patchworkgesellschaft sind die Aufgaben der theologischen Hermeneutik und der Sicherung der religiösen Enkulturation deutlich schwieriger geworden. Die Folgewirkungen der Parasiten und der jüngeren europäischen Geschichte sind definitiv nicht mehr aus der Welt zu schaffen. Man wird sie folglich als Ausgangslage zu betrachten haben und sich darum bemühen müssen, ihr ungezügeltes Wuchern durch eine geKurz vor Fertigstellung des Manuskripts ist mir ein Papier der Hessischen Kirche zugänglich geworden: "Die Pfarrerin, der Pfarrer in der Gemeinde. Bedingungen für eine gelingende Berufstätigkeit", in dem (S.9) ebenfalls eine Arbeitszeitverteilung auf der Basis einer 40Stunden-Woche vorgeschlagen wird: Gottesdienst, Kasualien, Bildung/Katechese, Seelsorge und Betreuung (bis 60%); eigener Schwerpunkt (bis 20%); gemeindliche Reoperations- und Koordinationszeiten (bis 10%); Zeiten der eigenen und gemeindlichen Selbststeuerung (510%, incl. Mitarbeit im Kirchenvorstand; bei Vorsitztätigkeit im Kirchenvorstand bis 20%). Die Liste ist sehr erfreulich, denn sie zeigt, daß die Diskussion um die Arbeitszeitaufteilung im Parochialpfarramt eingesetzt hat. Wenn mein eigener Vorschlag anders ausfällt, dann bestätigt das, daß die Arbeitszeitaufteilung letztlich an der Frage nach der übergreifenden Konzeption fur die evangelische Gemeindearbeit hängt. Wenn man die informalen Ordnungen und ihre für alle Beteiligten unguten Auswirkungen beseitigen möchte, dann geht nicht mehr alles so weiter wie gehabt. Einschnitte sind erforderlich. Fortschritte werden nur auf der Grundlage einer konzeptionell reflektierten Neustrukturierung der gesamten Gemeindearbeit zu erreichen sein. Auch erscheint es wichtig, angesichts der besonderen Anforderungen des Pfarrdienstes, über definitiv arbeitsfreie Zeiten nachzudenken, und das bedeutet auch, überbezirkliche und überparochiale Vertretungs- und Bereitschaftsdienstregelungen einzurichten. 154 E.Sulze: Gemeinde, S. 156 155 W.Marhold: Pfarrer, S.180

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schickte Auswahl der systemintern verfolgten Prioritäten und eine zeitgerechte Hermeneutik zu begrenzen. In die Auseinandersetzung um systembereichsspezifische Autonomieansprüche wäre der eigenständige Anspruch der Religion einzubringen. Als Mentor einer volkskirchlichen Christlichkeit hätte die Pfarrerschaft die Aufgabe, die religiöse Erfahrung zu vertiefen, das Sachwissen zu mehren, das protestantische Frömmigkeitsprofil zu schärfen und die Plausibilitätsstruktur der volkskirchlichen Überzeugungen bewußt zu machen. Die Christusorientierung der Predigt wäre wiederzugewinnen, und schließlich ließe sich durch ein breites liturgisches, meditatives und kontemplatives Bemühen die Bindung der sichtbaren Kirche an das Heilige gewiß noch deutlicher in den Vordergrund rücken. Nichts spricht also dafür, daß durch die Neugewichtung der Beziehungsdimension die Verkündigungsdimension entwertet würde. 2. Die Professionalisierungstendenzen im Pfarrberuf verstärken: In den informalen Ordnungen der Pfarramtsfuhrung zeichneten sich bereits erste Konturen eines professionellen Berufsverständnisses ab. Diesen Trend gilt es gezielt zu verstärken. Das erfordert zunächst einmal, umzudenken und einen liebgewordenen und tief verwurzelten Pfarramtsmythos zu verabschieden, den Mythos, der Pfarrerberuf sei kein Beruf. Das Gegenteil ist der Fall. Wer es wissen will, weiß es schon längst, und wer es nicht wissen will, wird es auch morgen noch bestreiten: "Vieles im pastoralen Beruf ist Routine, ebenso vieles nicht innere, sondern ganz äußerliche A r b e i t " . g w j r d nicht bestritten, daß der Pfarrberuf Eignungsmerkmale voraussetzt. Aber den Pfarrberuf kann und muß man, wie jeden anderen auch, erlernen. Man kann Professionalität erwerben und sich darum bemühen, sie kontinuierlich zu verbessern. s

"Auch wenn sich der Pfarrberuf nicht ohne zureichende reflexive wie kommunikative Kompetenzen verantwortungsbewußt und effektiv ausüben läßt, es ist nicht die subjektive Gesinnung des Berufsträgers, die beides gewährleistet. Es ist vielmehr die im Leben gewonnene und am Leben erprobte praktische Vernunft, die den Arbeitszusammenhang erkennt, in dem professionell gehandelt wird". Die Leitvorstellung von der Einheit von Person und Beruf hat sich überlebt. Pfarrer/innen sind "nicht in erster Linie an der Reinheit ihrer Gesinnung zu messen, sondern vor allem an der Kunstfertigkeit ihrer professionellen methodischen Arbeit und letztlich durchaus am Effekt, am Erfolg ihres Handelns ... Ihr Maßstab ist das berufliche Können. Und berufliche Kunstfertigkeit verdankt sich nicht vorwiegend der Harmonie von Gesinnung und Lebenspraxis, sondern eher der Fähigkeit, zwischen sich selbst und seinem Beruf, vor allem aber zwischen der eigenen Lebenspraxis und der anderer unterscheiden zu können. Dazu leitet die akademische Ausbildung ebenso an wie die B e r u f s p r a x i s " .

156 Zum Pfarrberuf als Profession vgl. auch N.Luhmann: Funktion, S. 190-200 157 W.Steck: Privatisierung, S.317 158 W.Steck: Privatisierung, S.321 und S.322

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Die Forderung nach einer "Professionalisierung" der pastoralen Berufsausübung ist in jüngster Zeit häufiger zu vernehmen. Es ist aber wenig sinnvoll, von Pfarrern professionelleres Verhalten zu fordern, solange ihnen durch Organisationsvorgaben zugemutet wird, "Manager, Bürovorsteher, Finanzexperte, Bauherr, Pädagoge, Psychologe, Tagungsleiter, Freizeitgestalter und womöglich noch Sportfunktionär und Diskjockey oben d r e i n " 159 m s e ¡ n 160 D¡ e p ro _ fessionalisierung der Berufsausübung wird sich kaum vorantreiben lassen, wenn nicht gleichzeitig die Last der Rollendiffusion beseitigt w i r d . ist das pastorale Zuständigkeitsspektrum zurückgestutzt, lassen sich berechtigterweise die Ansprüche an die Qualität der Berufsausübung erhöhen. Gemeindepfarrer/innen bereiten sich auf die Übernahme ihrer Berufsrolle vor, indem sie Theologie studieren. Nur auf diesem Gebiet sind sie fachlich qualifiziert. Von daher liegt es nahe, den Schwerpunkt ihrer Tätigkeiten auch auf dieses Gebiet zu legen. Zentrale Aktivitäten des Pfarrberufs wie nichtdirektive Gesprächsführung, freies Reden, liturgische Haltung oder Methoden der Pädagogik, aber auch andere Anforderungen wie Terminkalendermanagement, Öffentlichkeitsarbeit oder gesundheitsschonendes Arbeitsverhalten lassen sich erlernen und im Berufsalltag nach und nach weiter verbessern. Um noch einmal auf den Mythos vom Pfarrberuf zurückzukommen: Auch als "Religionsprofi" im beschriebenen Sinn kann ein Pfarrer durchaus "Bürge" sein. Beides schließt sich nicht aus, sondern ein. Und als "professioneller Nachbar" (Ernst Lange) muß auch ein Religionsprofi nicht schlechter sein als jeder andere Nachbar auch. Praxisorientierte Fortbildungsangebote und eine besonders qualifizierte D i e n s t a u f s i c h t l 6 2 sind als flankierende Maßnahmen erforderlich. Ein Laiengremium wie das Presbyterium ist mit der Pflicht zur Beurteilung der handwerklichen Qualität der pastoralen Arbeit in der Regel überfordert. Es reagiert notgedrungen mit dem informalen Hilfsmittel der schiedlich friedlichen Kompetenzzuweisung und erklärt sich für "nicht zuständig". Wo der Konrolleur es dem zu Kontrollierenden überläßt, Umfang und Niveau seiner Arbeit selbst festzulegen, kann es nicht verwundern, wenn zuweilen selbst Kernaktivitäten der volkskirchlichen Gemeindearbeit auf der Strecke bleiben. Zur Professionalisierung sollte sinnvollerweise ein komplementärer Aspekt der pastoralen Praxis hinzutreten, die Gelassenheit. Gelassenheit ist auch im Hinblick auf die Neuorganisation der pfarramtlichen Tätigkeiten geradezu als 159 C.Hepp: Erinnerung, S.260 160 H.D.Wendland bezeichnet die Vorstellung vom Pfarrer als "all-round-man" als "total wirklichkeitsfremd" und hat von dem "unfrommen Wahn" gesprochen, "daß der Pastor als der Amtsträger der Kirche alles könne" (im Original kursiv). - Die Parochie als lokale Repräsentation der Volkskirche, in: ThPr 9/1974, S.275 161 So fordert die EKHN-Studie "Person und Institution" verstärkt "professionelles Handeln" und beklagt "gut gemeinten Universaldilettantismus" und "unverständliches, irrationales Engagement" (S.68), übersieht darüber aber, daß der "Universaldilettantismus" systeminduziert ist. 162 Erfolgreiche pastorale Gemeindearbeit qualifiziert nicht in jedem Fall schon zur Wahrnehmung von Leitungsaufgaben.

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Primärtugend zu empfehlen. Bei der Darstellung der Mitgliederfrömmigkeit hat sich eindeutig gezeigt, daß es im Leben der Gemeindemitglieder so viele Punkte gibt, an denen Religiosität und Kirchlichkeit aufbrechen können, daß man als Pfarrer/in getrost warten kann, bis dies tatsächlich auch geschieht. Hier muß nichts in täppischer oder aufdringlicher Weise forciert werden. Daueraktionismus und fortgesetzer Druck auf die Gewissen der volkskirchlich orientierten Mitglieder kann mehr Schaden anrichten als Nutzen stiften. Gelassenheit, die Fähigkeit, geduldig zu warten, ist vertretbar und angebracht. Ist der religiöse Kairos aber eingetreten und wird die Kirche in einer ihrer zahlreichen Facetten bei den Mitgliedern tatsächlich zu einem existentiell vordringlichen Thema, gilt es, diese Situation auch qualifiziert wahrzunehmen. Darauf sollten die Gemeindepfarrer/innen vorbereitet sein (können). 3. Freizeit regeln und Privatsphäre zusichern: Die Erfordernisse des Pfarrberufes bringen es mit sich, daß ein Pfarrer nicht nur von morgens 7.30 Uhr bis nachmittags 16.30 Uhr "im Dienst" sein kann. Die Arbeitszeiten im Pfarrdienst werden sich auch in Zukunft aus Sachgründen heraus bis in den späten Abend hinein erstrecken müssen. Aber die Landeskirchen könnten klare Freizeitregelungen schaffen und sie könnten bei ihrer organisatorischen Umsetzung helfen. Freizeit steht so lange lediglich auf dem Papier, wie die erforderlichen Vertretungs- und Bereitschaftsdienstregelungen fehlen. Es darf nicht länger die Privatangelegenheit des jeweils Betroffenen sein, seine Freizeitansprüche auch zu realisieren. In dieser Hinsicht ließe sich bei gutem Willen und organisatorischer Anstrengung der Institution vieles verbessern. Sind die Freizeitansprüche klar geregelt und allseits akzeptiert, dann ist auch das Recht auf Privatsphäre und Privatheit garantiert. Es wäre auch darüber nachzudenken, wie die Vertretungen in Fällen von langandauernder Erkrankung oder Vakanz besser geregelt werden könnten. Es geht nicht an, wie selbstverständlich den Nächstgreifbaren zu verpflichten, um längerfristige Versorgungslücken zu schließen und darüber dessen Gesundheit, Berufszufriedenheit und Leistungsfähigkeit aufs Spiel zu setzen. Hier haben die Landeskirchen zu zeigen, daß sie Verantwortung für das Wohlergehen ihrer Mitarbeiter/innen übernommen haben (Ordinationsgelübde). Ein Beruf, der eine so hohe Burnout-Gefahr in sich birgt wie der Pfarrberuf, verpflichtet den Arbeitgeber zu intensiven Fürsorgeanstrengungen. c) Personalkirchengemeinden Die Geschichte der evangelischen Landeskirchen belegt unzweifelhaft, daß volkskirchliche Parochien eine volkskirchliche Religiosität und ein volkskirchliches Mitgliedschaftsverhalten hervorbringen. Das "Normalchristentum" der Kirchenmitglieder ist sicherlich ein Produkt der gesellschaftlichen Entwicklung, aber es ist eben auch ein Produkt der Kirchengeschichte und der landeskirchlichen Organisationsstrukturen. Wer ein gänzlich anderes Christentum will, tut gut daran, zu überlegen, ob dieses Christentum nicht in anderen Organisations-

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strukturen besser gedeihen könnte. Das gilt insbesondere für die Organisation der pietistischen und evangelikalen Frömmigkeit, die als mehr oder weniger breite Minderheitenströmung in allen Landeskirchen anzutreffen ist. Wenn die Beobachtung zutrifft, daß sich Angehörige dieser Strömung durch eine starke Gruppenorientierung und eine traditionelle, pfarramtsspezifische Frömmigkeitskultur auszeichnen, dann kann es einem Parochialpfarrer kaum gelingen, beide Strömungen in einer Parochie beieinander zu halten, weil er unter "Bekenntniszwang" gesetzt wird und sich dann entscheiden muß, wo seine stärkeren Sympathien liegen. 163 Gerade engagierte und glaubensfeste Pfarrer/innen, die sich als Teil dieser Strömung sehen und deshalb konzeptionell volksmissionarisch arbeiten, fragen sich nach Jahren harter Arbeit nicht selten, ob sie im volkskirchlichen Rahmen nicht doch nur die Funktion eines Durchlauferhitzers und Zubringers für die freien evangelischen Gemeinden übernehmen. Aber auch stärker volkskirchlich orientierte Pfarrer/innen werden durch den Konflikt manchmal über Jahre hinweg belastet. Nicht selten geht er letztlich zu Lasten der volkskirchlich orientierten Gemeindemitglieder. Möglicherweise bietet das Prinzip der Personalkirchengemeinde hier einen konstruktiven Lösungsansatz. 164 D¡ e Personalkirchengemeinde war im 19.Jahrhundert insbesondere in größeren Städten die Normalform der Kirchengemeinde. Die Gemeinde versammelte sich um einen Prediger. Sie war noch nicht nach streng geographischen Gesichtspunkten zergliedert. Im Zeitalter der Mobilität, wo es vielen Menschen selbstverständlich ist, selbst große Wege in Kauf zu nehmen, um besonders interessante Veranstaltungen zu besuchen, bietet es sich an, das Personalgemeindenprinzip zu nutzen, um innerhalb des volkskirchlichen Rahmens der Landeskirchen besondere Zielgruppen zu erreichen und zu betreuen. Derartige Zielgruppen könnten etwa die pietistischen, evangelikalen oder charismatischen Strömungen in den Landeskirchen sein. Aber auch andere Bevölkerungsgruppen (etwa das Niveaumilieu) lassen sich durch paßgenaue Konzepte im Rahmen von Personalkirchengemeinden gezielter ansprechen als durch Parochialkirchengemeinden. Mit motiviertem Personal, vorab festgelegtem Konzept, Erprobungszeitraum, Anschubfinanzierung, Erfolgskontrolle und dem Mut, Fehlschläge auch wieder zu beenden, könnte im Rahmen der landeskirchlichen Gesamtorganisation fruchtbares Neuland erschlossen werden. d) Das Presbyterium als ehrenamtliches Leitungsgremium der Kirchengemeinde Der Vorschlag zielt in zwei Richtungen. Zum einen werden die hinderlichen Strukturen des "alten" Ehrenamtes abgeschafft. Die Pfarrerdominanz wird beseitigt, und die Ehrenamtlichen erhalten die uneingeschränkte Zuständigkeit in 163 Vgl. die Darstellung von W.Lück: Pastorenkirche, S.280-283 164 Im Zusammenhang anderer Überlegungen auch vorgeschlagen von H.C.Stoodt: Formen kirchlicher Arbeit an der Schwelle von der Industrie- zur Risikogesellschaft, in: PTh 80/1991, S.130f

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fast allen Bereichen der Gemeindeleitung (außer Fachaufsicht über Pfarrstelleninhaber/innen). Die parochiale Gemeindeleitung entspricht damit den Anforderungen eines "neuen" Ehrenamtes. Zum anderen werden die gemeindeinternen Kompetenzen, Zuständigkeiten und Verantwortlichkeiten überschneidungsfrei neu geregelt. Damit wird gleichzeitig die Arbeitszeit freigemacht, die erforderlich ist, damit die Pfarrer/innen in der gesamten Gemeinde, d.h. bei allen Gemeindemitgliedern, spürbar stärker präsent sein können. Im einzelnen bedeutet das: Die ehrenamtlich tätigen Mitglieder des Presbyteriums sind zuständig für die Leitung der Ortskirchengemeinde. Dazu gehört die Leitung des Gremiums, die Gemeindeverwaltung mit Mittelverwendung, Immobilien- und Personaleinsatz, die Mitarbeiterfiihrung, die Gemeindediakonie, Strukturentscheidungen und die Profilentwicklung der Gemeindehausarbeit. Die Landeskirchen unterstützen die Presbyterien durch gezielte (aufgabengerechte, praxisnahe, effizienzorientierte) Hilfs- und Fortbildungsangebote. Die Leitungsstruktur knüpft an das protestantische Prinzip des Priestertums aller Gläubigen an und versucht, die nie überwundene Spannung zwischen dem Priesterum aller Gläubigen und dem kirchlichen Amt 165 organisatorisch aufzulösen. Das Presbyterium wird damit wieder zu einem echten Selbstverwaltungsorgan der Gemeindemitglieder. Die Bedeutung der Laienmitglieder und der Einfluß der Pfarrstelleninhaber im Presbyterium werden nicht mehr nach Maßgabe der jeweils gültigen informalen Ordnungen geregelt. Das Stimmrecht der Pfarrer/innen im Ortspresbyterium wird abgeschafft. An allen Sitzungen nehmen sie nur noch mit beratender Stimme teil. e) Gemeindehausarbeit und Gemeindeleben ehrenamtlich Der konzeptionelle Stellenwert der Gemeindehausarbeit wird neu festgelegt. Unrealistische Ziele wie die religiöse Volksbildung oder die Verkirchlichung der Gemeindemitglieder werden aufgegeben. Wo die Umfrageergebnisse zur Mitgliederreligiosität ernstgenommen und nicht sofort nach der Lektüre mit normativen Leitbildern von einer "richtigen" Gemeinde konfrontiert, relativiert und zugeschüttet wurden, da war die Theoriebildung immer schon in der Lage, klar zu sagen, warum das Gemeindehauskonzept nicht greifen konnte: Der Erziehungsintention der Theologen steht die Mitgliederüberzeugung entgegen, ihre religiösen Überzeugungen und ihr Christsein seien zunächst und vor allem Privatsache, Familienangelegenheit und eine Frage des alltäglichen Verhaltens. Die Attraktivität des Gemeindehauses wird durch den verbreiteten Wunsch nach Selbstbestimmung deutlich beeinträchtigt. Dem kirchlichen Anspruch auf Weisungs- und Richtlinienkompetenz für das "ganze" Leben steht das Wissen gegenüber, daß es im Leben noch anderes gibt als die Kirche und die Kirchenge165 Vgl. G.Grethlein: Das Pfarrer-Dienst-Recht in Bayern (1809 - 1989), in: K.Kreßler / K.Weber (Hg.): 100 Jahre Pfarrerinnen und Pfarrerverein in Bayern, Selbstverlag Nürnberg 1991, S.59

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meinde. Dem Ideal eines pfarramtsspezifischen Frömmigkeitskontinuums stellen die Kirchenmitglieder die Evidenz selektiver Auswahl und Teilnahme am Angebot der Kirchengemeinde entgegen. Die Aufzählung ließe sich ohne Schwierigkeiten weiter fortsetzen. Unter all diesen Bedingungen hat das Gemeindehausleben in einer volkskirchlich orientierten Gemeindearbeit nur dann eine Zukunft, wenn seine Grenzen akzeptiert werden und wenn es konzeptionell von den Gemeindemitgliedern selbst gestaltet und verantwortet wird. 1 Wer das sichtbare Gemeindeleben in Laienhand zurücklegt, dorthin also, wo es zu Beginn des 20.Jahrhunderts schon einmal war, gibt das Ziel auf, sämtliche Gemeindemitglieder in einem Haus zu versammeln. Das Gemeindehaus ist immer schon ein Ort für die gewesen, die freiwillig kommen und freiwillig mitmachen. Aber das Gemeindehaus ist als "Ort der Geselligkeit" und als Anlaufstelle in besonderen Lebenslagen mittlerweile so tief im Bewußtsein der Gemeindemitglieder verankert, daß es unbedingt erhalten werden sollte. Es ist längst bekannt, daß eine "Abhängigkeit zwischen der Existenz selbständiger Gruppierungen und der Bereitschaft zur Identifizierung mit der Kirche" besteht. 167 Gemeindegruppen sind vielfach Quasi-Systeme. Sie leben von und mit der intrinsischen Motivation ihrer Mitglieder. An diese Einsicht wird mit der Forderung angeknüpft, daß für das Gemeindehaus und für die Organisation des Gemeindelebens die Prinzipien des "neuen Ehrenamtes" gelten sollten. Die ehrenamtlich tätigen Gemeindemitglieder gestalten und entwickeln die Gemeindehausarbeit und das Gemeindeleben selbständig. 168 s ¡ e unterliegen dabei der konzeptionellen Rahmenverantwortung des Presbyteriums, nicht aber der Leitungs- oder Weisungskompetenz der P a r o c h i a l p f a r r e r / i n n e n . 169 Aktivitäten, die von Gemeindemitgliedern angeregt und getragen werden, sollen nicht an irgendwelchen "Pfarrerbedenken" scheitern. 1. Was sich nicht trägt, wird nicht gemacht: Für die Entwicklung der Gemeindehausaktivitäten und des Gemeindeleben könnte sich das Presbyterium an einer einfachen Faustformel orientieren: Was sich nicht (mehr) von selbst trägt, wird nicht (mehr) gemacht. Gemeindehausaktivitäten werden grundsätzlich nicht mehr unter Inkaufnahme von Finanzsubventionen (Mitarbeitergehälter) "bis zum bitteren Ende" aufrecht erhalten. Sie werden auch nicht mit Hilfe von Honorarkräften oder Teilzeitkräften gestützt. Geldzahlungen dämpfen die Motivation derer, die nicht bezahlt werden und ziehen Diensthierarchien und Weisungsgefälle nach sich. Auch ist längst bekannt, "daß ehrenamtliche Helferinnen und Helfer, von den Professionellen 'begleitet', in der Praxis nahezu in einen Klientenstatus gebracht werden". 1^0 Jegliche Erwerbsbeziehungen sind Gift für die Entfaltung eines lebendigen, ehrenamtlich organisierten und 166 R.K.Sprenger: Das Prinzip Selbstverantwortung, Frankfürt u.ö. 41996 167 W.Lück: Pastorenkirche, S.293 168 Erwägungen zur "mitverantwortlichen Gemeinde" finden sich auch bei K.-F.Daiber: Grundriß, S.237-242 169 Wie sich ein/e Pfarrer/in im Rahmen ihrer Freizeit an Gemeindehausveranstaltungen beteiligt, wäre der privaten Disposition zu überlassen. 170 D.Knopf: Zeit, S. 156

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geleiteten Gemeindelebens. Auch sollten die Ehefrauen der Gemeindepfarrer nicht länger zur ehrenamtlichen Mitarbeit zwangsverpflichtet werden. Wenn eine Gemeindeaktivität wirklich wichtig ist, werden sich (über kurz oder lang) immer auch Menschen finden, die bereit sind, sie zu tragen. Wenn sich niemand mehr bereit findet, ist das ein sicheres Zeichen dafür, daß sie (zumindest zur Zeit) nicht mehr "an der Zeit" ist. Möglicherweise weckt der Vorschlag Ängste vor dem Totalzusammenbruch des Altbewährten. Sie sind verständlich, aber doch zu besänftigen. Das eben vorgestellte Prinzip wird in vielen Kirchengemeinden längst schon erfolgreich, wenn auch in der Regel nicht konsequent praktiziert. Gerade Gruppen und Kreise, die sich über Jahrzehnte hinweg erhalten haben, leben oft nahezu ausschließlich von und mit dem persönlichen Engagement ihrer Mitglieder und sind weitgehend autonom von pastoraler Einflußnahme.l^l Wo diese Erfahrung bereits gemacht ist, würde es also nur noch darum gehen, das Prinzip konsequent und lückenlos einzuführen. Ein Seniorenkreis, der wirklich unverzichtbar ist, wird gewiß auch morgen noch bestehen, selbst wenn er nicht mehr von der Pfarrerin oder dem Pfarrer persönlich geleitet wird. Kontinuität gehört nicht nur systemtheoretisch betrachtet zum Wandel ebenso hinzu wie Abbruch und Erneuerung. Kontinuität ist in der Gemeindearbeit eine soziale Realität. Aber auch Abbruch und Erneuerung gilt es, programmatisch vorzusehen. Überlebte und verkrustete Traditionen, die ja häufig nur noch um ihrer selbst willen gepflegt werden, werden erfahrungsgemäß bald zur Disposition gestellt, wenn das Prinzip der Selbsttätigkeit konsequent eingehalten wird. Das Prinzip ist auch geeignet, von dem Hochleistungsstreß zu entlasten, unter dem nicht wenige haupt- wie nebenamtliche Mitarbeiter/innen der Kirchengemeinden leiden. An die Stelle von Aktionismus und Planungshektik könnte die Gelassenheit treten. Gelassenheit vertraut auf die Selbstentwicklungskräfte eines komplexen Sozialsystems und sieht sich nicht fortwährend unter dem Druck, alles Wünschenswerte auch auf der Stelle und unverzüglich selbst zu machen. Was wichtig ist, wird irgendwann kommen, wenn man es nicht aus dem Blick verliert, sondern beharrlich nach Realisierungsmöglichkeiten Ausschau hält. 2. Priestertum aller Gläubigen: Auch diese Struktur knüpft an den Gedanken des Priestertums aller Gläubigen an (s.o. Kap.II 7.2b). Wer das Gemeindehaus und das organisierte Gemeindeleben der Pfarrerschaft entzieht, bricht die Vertragsgrundlage der informalen Zuständigkeitsregelungen auf und befreit die Gemeindemitglieder zur Entfaltung der geistlichen Kompetenz, die ihnen von den evangelischen Kirchen aus theologischen Gründen immer schon zugesprochen, aus organisatorischen Notwendigkeiten heraus (landesherrliches Kirchenregiment) aber vorenthalten worden ist. 172 £>¡e evangelischen Kirchen kennen 171 W.Lück: Pastorenkirche, S.286-294 172 Die berufliche Identität der Pfarrer/innen wäre dann nicht mehr durch die globale Kompetenzuweisung in geistlichen Fragen gestützt, sondern durch die Zuweisung eines deutlich begrenzten Arbeitsfeldes.

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ΥΠ. Die Kirchengemeinde

kein geistliches Monopol der Theologen. Die Mitgliederbefragungen der EKD haben deutlich gezeigt, daß die Gemeindemitglieder selbst unter den schwierigen Bedingungen der ausdifferenzierten Gesellschaft ihre detaillierten Vorstellungen von Aufgaben und Überzeugungen der Kirche Jesu Christi nicht verloren haben. In der Pfarramtspraxis kann man immer wieder erleben, daß Laien unter gegebenen Umständen unverstellter als hauptamtliche Theologen in der Lage sind, Glaubensüberzeugungen zu formulieren und christliche Existenz zeitgemäß zu leben. Daß die Gemeindemitglieder weder dogmatische Strenge noch konfessionelle Enge an den Tag legen, kann man ihnen in einer Kirche, die sich seit Jahrhunderten darum bemüht, die Personalisierung der Glaubensüberzeugungen voranzutreiben, nicht zum Vorwurf machen. Vom Konzept der "missio Dei" her läßt sich auch ein theologischer Zugang zur geistlichen Kompetenz der Laien eröffnen. Das vertrauen in die missio Dei beruht auf der Überzeugung einer immer schon vorgängigen Präsenz des Wirkens Gottes in dieser Welt. Aber selbstverständlich ist Gott nicht nur in dieser Welt immer schon am Werk, er ist auch in jeder einzelnen Kirchengemeinde immer schon am Werk. Das heißt, der Reichtum an lebendiger Christlichkeit ist auch in jeder einzelnen Kirchengemeinde sehr viel größer als es sich vom Kirchturm aus wahrnehmen läßt. Damit enthält der gedanke von der missio Dei eine implizite Warnung an die organisierten Kirchen, sich selbst und ihre Aktivitäten nicht zu überschätzen. 173 Theologisch wie gemeindepraktisch läßt sich von daher der Vorschlag begründen, die Zuständigkeit für die Gestaltung des Gemeindelebens und des Gemeindehauses auf die Gemeindemitglieder zu übertragen. Ein weiterer Aspekt kommt hinzu. Christlicher Glauben und christliches Leben sind nicht auf die engen Grenzen des einen oder anderen Milieus beschränkt. Sie sind auch nichts Statisches. Schon inhaltlich wandeln sie sich im Laufe eines Lebens, aber sie wandeln sich auch quantitativ. Sie schwellen an und nehmen wieder ab. Sie brauchen Entwicklungsräume und Ruhezonen. Manches, was in der Patchworkgesellschaft aufgebrochen wird und sich zunächst vielleicht nur als Selbsthilfeprojekt im Gemeindehaus ansiedelt, kann im Laufe der Zeit (und unter dem Eindruck dieses H a u s e s 174) durchaus Anschluß an vorsätzliche christliche Ambitionen finden. Warum soll nicht, wer über die Zweitcodierung zu seinem Christentum zurückfindet, auch weiterführendes Interesse an der Erstcodierung entwickeln? Und was spricht eigentlich dagegen, daß jemand in einer veränderten Lebenslage oder einer neuen Lebensphase dem Gemeindehaus wieder den Rücken zukehrt? Was er erlebt hat, wird er mitnehmen. 175 Christsein spielt sich nicht nur in einem speziell dafür errichteten Gebäude ab. 176 In der Verkäuferausbildung gibt es einen bemerkenswerten Lehr173 Vgl. C.Möller: Lehre II, S.255-262 mit Belegstellen in Konzeptionen für die Gemeindearbeit 174 Zur Semiotik des Gebäudes vgl. die Publikationen von Rainer Volp in der Zeitschrift "Kunst und Kirche" u.a. die Themenhefte "Zeichenprozesse" (H.4/1976) und "Orte der Liturgie" (H. 1/1994) 175 Fremde Heimat, S.44f 176 "Die Kirchengemeinde als soziales System ist eben nur ein Kristallisationspunkt von Religiosität und gesellschaftlich wirksamer Religion, und ihre Eigenart als institutioneller

4. Christsein entfalten

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satz. Er lautet: "Jeder Kunde hat Geld". Was hier darauf abzielt, den angehenden Verkäufern einen angemessenen Umgang mit den zukünftigen Kunden nahezulegen, kann sich auch in der Praxis der Gemeindearbeit umfassend bewähren, wenn man den Satz nur ein klein wenig verändert: "Jeder ist Gottes Kind und jeder ist religiös". Wer mit dieser Überzeugung in der Gemeinde arbeitet, wird gewiß erstaunliche Überraschungen erleben. 177 Jesus von Nazareth selbst könnte Vorbild einer solchen Einstellung sein. Er hat es in seinem Wirken nicht anders gehalten. Er brachte denen Vertrauen entgegen, die im Dunkel der religiösen Mißachtung standen. Nur wer seine Kräfte erproben darf, kann sie auch vertiefen. Gemessen an der Komplexität des volkskirchlichen Mitgliederspektrums kann es immer nur ein kleiner Schritt sein, das Gemeindehaus den Laien zu übertragen. Seine Reichweite ist deutlich begrenzt. Vielleicht wird es möglich sein, einige der Milieugrenzen abzubauen, die die Ausstrahlungskraft des Gemeindehauses zur Zeit noch schmälern. Aber ein Gemeindehaus, in dem sich sämtliche Mitglieder wohlfuhlen, hat es noch nie gegeben und wird es auch morgen nicht geben. Zum Konfessionsprofil des Evangelisch-Seins gehört auch die Freiheit hinzu, nicht mitzumachen. Gleichwohl könnte ein selbstverwaltetes Gemeindehaus ein Signal mit hohem Ausstrahlungswert sein. Hier könnten sich Dinge ereignen, die auch jenseits der Mauern wahrgenommen werden und für das Bild der Gemeinde in der Öffentlichkeit maßgeblich sind. Ein solches Gemeindehaus könnte zu einem weiten Dach werden, unter dem Vieles seinen Platz findet. Es könnte zum Sinnbild eines offenen Gemeindeverständnisses werden. Die Gemeinde als ganze wäre dann ein Dach, unter dem sich die Verschiedenartigen und die Andersglaubenden versammeln. Ein solches Modell könnte die Erinnerung an die frühchristlichen Verhältnisse lebendig erhalten, als in Kirchengemeinden wie Korinth oder Rom viele beieinander waren, für die sehr verschiedene Facetten des Christusereignisses glaubensbildend geworden waren. Hier lebten Menschen beieinander, die nicht nur in unterschiedlicher Weise Christen waren, sondern auch ihr Christsein selbst auf unterschiedliche Weise mit den Erfordernissen ihres Lebens in Einklang brachten. 178 Absenker des gesamtgesellschaftlich organisierten Kirchentums wirkt nicht nur insofern selektiv, als sie jeweils nur bestimmte Formen von Religion manifest werden läßt, sondern sie kann sogar als Erzeuger einer bestimmten Art von Religion angesehen werden." J.Matthes: Religionssoziologie II, S.100 177 Auch bei empirisch arbeitenden Soziologen kann man zuweilen bemerkenswerte Sätze finden, wie etwa den folgenden: "Bei all diesen Möglichkeiten und Optionen wird es zunehmend unwahrscheinlicher, daß wir mit einigen soziologischen Standardvariablen wie Geschlecht, Schulbildung und soziale Schicht die Verhaltensweisen schon hinreichend vorhersagen und verstehen können." - K.U.Mayer / W.Müller: Lebensläufe, S.42 178 Um nicht mißverstanden zu werden: Es wird nicht behauptet, man könne die Verhältnisse des beginnenden 2Jahrhunderts mit denen des 20. gleichsetzen oder gar dem 20Jahrhundert das 1. normativ zugrundelegen. Auch ist die christlich-religiöse Vielstimmigkeit der frohen Christenheit etwas anderes als der Pluralismus in einer ausdifferenzierten Gesellschaft. Wohl aber lassen sich wertvolle Anregungen gewinnen, wenn man der Frage nachgeht, unter welchen Bedingungen das Miteinander der verschiedenen Christengruppen mit ihren so unterschiedlichen Theologien, Leitaposteln und Führungspersönlichkeiten damals überhaupt

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VII. Die Kirchengemeinde

f) Ergebnisse Die Kirchengemeinde wurde als "Sozialsystem im Wandel" dargestellt. Sie ist zahlreichen Brüchen, Spannungen und Konfliktzonen ausgesetzt, die als interne oder externe Wandlungsimpulse auf sie einwirken. Die Wandlungsimpulse werden mit Hilfe von informalen Ordnungen aufgefangen und bearbeitet. Die Landeskirchen werden im wesentlichen durch die generalisierten Motivationen und Nutzenkalküle ihrer Mitglieder und durch die informalen Ordnungen der Gemeindearbeit zusammengehalten. Informale Ordnungen sind bekannt, aber sie werden tabuisiert. Die Landeskirchen halten ihre Arbeitsfähigkeit um den Preis der Dauerüberlastung ihrer Mitarbeiter/innen und der Vernachlässigung ihrer volkskirchlichen Mitgliederbasis aufrecht. Um hier zu einer Verbesserung der Verhältnisse zu gelangen, wurde für die organisatorische Trennung der pastoralen Arbeitsfelder von der Gemeindeleitung und dem sichtbaren Gemeindeleben plädiert. Der parochialen Gemeindearbeit soll eine neue tragfähige Grundstruktur gegeben werden. Nicht mehr eine volksmissionarische Verdichtung ist das Ziel aller Bemühungen, sondern eine zuverlässige und mitgliederorientierte Gemeindearbeit: * Die hauptamtlichen Pfarrer/innen benötigen mehr Zeit für den persönlichen Kontakt zu den Gemeindemitgliedern. Sie sollten zukünftig in größerer Übereinstimmung mit den sinnvollen und sachgerechten Erwartungshaltungen der Gemeindemitglieder arbeiten können. * Ein von Laien selbstverwaltetes und selbstorganisiertes Gemeindeleben könnte sicherstellen, daß Bevormundungen und Verkrustungen überwunden werden. Die Erfordernisse eines "neuen" Ehrenamtes sollten konsequent verwirklicht und die Kirchenmitglieder zur Leistungsfähigkeit befreit werden. * Im Gemeindehaus könnte ein wandlungsoffenes Konzept verfolgt werden. Vorgegeben werden lediglich Leitungsprinzipien. Im Rahmen dieser Prinzipien sollen sich zeitgemäße Äußerungsformen eines volkskirchlichen Christentums entwickeln und entfalten können. Ein solches wandlungsoffenes Gemeindehauskonzept wäre Ausdruck eines strukturierten Pluralismusverständnisses. Eine Volkskirche, die sich selbst als "pluralistische Kirche" ansieht, würde nicht länger nur von Pluralismus reden, sondern ihr Pluralismusverständnis auch konzeptionell unterlegen (vgl. auch Personalkirchengemeinden). Der vorgelegte Entwurf für eine Neustrukturierung der evangelischen Gemeindearbeit bemüht sich um transparente Grundstrukturen, eindeutige Kompetenzabgrenzungen und die Berücksichtigung von Mitglieder- und Mitarbeiterbedürfnissen. Hauptamtlichkeit müßte sich nicht länger "in der Pflege eines kleinen möglich war. An diesem Punkt lassen sich theologische Einsichten, aber auch systemtheoretische Gesetzmäßigkeiten und organisatorische Regeln zurückgewinnen, die nach wie vor gültig sind bzw. von der Zielvorstellung einer "offenen Gemeinde(arbeit)" her dringend wieder in Gültigkeit zu setzen wären, weil sie den Kirchengemeinden zu Unrecht verlorengegangen sind.

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Familiensystems verbrauchen".!^ Selbstüberforderung, Streß und kurzatmiger Aktionismus könnten überwunden werden. Eine entflochtene Gemeindearbeit wird angestrebt, die die ohnehin vorhandenen Anknüpfungspunkte bei den Mitgliedern nutzt und ohne Erfolgdruck das Mitarbeiterpotential zu erschließen versucht, das unter besser geordneten Bedingungen durchaus zur Verfügung steht. Die Mitgliedemähe der Kirche könnte gestärkt, die Eigeninitiative der Mitglieder gefördert und dem Wandel des Christentums auch gemeindeintern vorsätzlich Raum gegeben werden.

179 H.Lindner: Kirche, S.288

VIII. Methodenkritischer Rückblick

Die praktisch-theologische Forschung hat wohl ein eigenes Arbeitsfeld, eine eigene Methode hat sie nicht. Sie kann nicht anders, als die Methoden, die sie verwendet, anderenorts zu entleihen. Das macht sie abhängig, nicht nur von den Möglichkeiten und Grenzen der jeweils gewählten Methoden, sondern auch von den Umständen der Methodenwahl. Aber es führt auch dazu, daß die Ergebnisse, die sie zu Tage fördert, methodisch zu reflektieren und zu verbessern sind. Vor diesem Hintergrund soll abschließend ein methodenkritischer Rückblick vorgenommen werden. Die Behauptung, eine Kirchengemeinde sei ein soziales System, ist in der Fachliteratur relativ häufig belegt. Aber das hermeneutische Potential, das die Systemtheorie birgt, wurde gleichwohl nur selten einmal vertiefend erschlossen. 1 Die vorliegende Arbeit hatte sich zum Ziel gesetzt, diese Lücke zu schließen. Sie war damit von vornherein als methodisch strenge Arbeit konzipiert. Es ging nicht darum, die ganze Weite des Themenfeldes Kirchengemeinde zu erfassen, sondern herauszuarbeiten, wie sich das Themenfeld unter der Wahrnehmungsperspektive der Systemtheorie darstellt. Die Systemtheorie wurde modelltheoretisch interpretiert. Es zeigte sich schon im ersten Zugriff auf Luhmanns Systemtheorie, daß das Modell selbst in einem spiralförmigen hermeneutischen Verfahren mit Blick auf den Gegenstand der Untersuchung zu schärfen war. Unterbelichtete Passagen der Systemtheorie waren auszuleuchten, um die verfolgte Fragestellung mit Hilfe der Systemtheorie sinnvoll bearbeiten zu können. Vor allem die Frage nach der Bedeutung des Menschen in einem Sozialsystem war eingehender (aber durchaus in Übereinstimmung mit Luhmanns Sicht) zu bearbeiten, da die Frage der Mitgliederbindung beim Thema Kirchengemeinde (anders als in Luhmanns Überlegungen) von zentralem Interesse ist. Aber auch Systementwicklungsstufen waren deutlicher herauszuarbeiten. Der Versuch, die Kirchengemeinden mit Hilfe der Systemtheorie zu beschreiben, hat sich dann als sehr fruchtbar erwiesen. Die Grundannahme, daß eine Ortskirchengemeinde ein Sozialsystem ist, dürfte nicht mehr zu bezweifeln sein. Darüber hinaus bringen neue Methoden immer auch veränderte Sichtweisen, neue Fragestellungen und folglich auch neue Ergebnisse mit sich. Einiges davon soll hier noch einmal kurz angesprochen werden:

1

Luhmann mag mit seiner Form der Theoriebildung selbst einiges dazu beigetragen haben. Es spricht nicht für die Klarheit einer Theorie, wenn die Rezensenten sich schon über Grundzüge des Theoriegebäudes nicht einigen können. Vgl. etwa die Frage, ob Luhmanns Systemtheorie ontologisch oder erkenntnistheoretisch zu verstehen ist oder die Frage, ob die Theorie nun den Menschen übergeht, oder ob sie ihn einbezieht.

VIH. Methodenkritischer Rückblick

617

1. Die Systemtheorie liefert einen Beschreibungsrahmen, der es möglich macht, Aspekte des komplexen Themenfeldes Kirchengemeinde, die auf den ersten Blick sehr weit auseinander zu liegen scheinen, in ihrem Zusammenhang zu erfassen. Theologie und Mitgliederfrömmigkeit, Organisationsentwicklung und Kirchenrecht, offengelegte und heimlich wirkende Präferenzen, Umweltbezug und Mitgliederbindung, all das fällt nicht auseinander. Es ist in einem Systemganzen stets miteinander verklammert und aufeinander bezogen. So weitet die Systemtheorie nicht nur den forschenden Blick, sie gibt auch einen integrierenden Rahmen vor, in dem Relationen erkennbar werden. Mehr noch als für den isolierten Sachverhalt interessiert sich die Systemtheorie für Zusammenhänge und Wechselwirkungen. Sie läßt Themenaspekte bedeutsam werden, wie etwa das Kirchenrecht, die unter anderer Wahrnehmungsperspektive eher ein Mauerblümchendasein fristen. Dafür aber reduziert und relativiert sie andererseits auch Bereiche, denen bei anderer Gewichtung u.U. eine sehr viel größere Bedeutung beigemessen wird. Am Beispiel der Frömmigkeitsgeschichte des Protestantismus (religion as practised) und der Theologiegeschichte (religion as prescribed) hat sich das deutlich gezeigt. 2. Die Anwendung neuer Methoden fiihrt zur Gewinnung neuer Einsichten. Das Bewußtsein für die Systemkomplexität und die daraus resultierenden Erfordernisse für die Arbeit bzw. für die Leitungsorgane sind in den Landeskirchen bisher noch nicht mit der erforderlichen Selbstverständlichkeit verankert. Mit Hilfe von inadäquaten Leitmetaphern (etwa "Kirche als Familie") versucht man, die Systemkomplexität ideologisch zu reduzieren, prallt aber gleichwohl ständig auf die Härte des Tatbestandes, mit der Folge, daß sich auf den verschiedenen Leitungsebenen der Landeskirchen genau die Steuerungsfehler einstellen, die der Systemtheoretiker für einen solchen Fall prognostiziert (Dörner). Auch die Einsicht in das Wechselspiel von Systeminteressen und Umweltimpulsen ist hier zu erwähnen. Die Landeskirchen neigen als wandlungsgehemmte Systeme dazu, Umweltimpulse lange und weitgehend außer acht zu lassen. Das führt dann dazu, daß sich unumgängliche Anpassungsmaßnahmen auf dezentralen und informalen Wegen vollziehen und die Relevanz der zentralen Präferenzordnung fortgesetzt schwindet. Wandlungsträgheit ist in komplexen sozialen Systemen keine sinnvolle Problemlösungstrategie. 3. Die Anwendung neuer Methoden fördert die Entwicklung neuer Beschreibungs- und Verständnismuster. In der Regel wird es als lästig empfunden, daß mit jeder neuen Theorie auch eine neue Terminologie zu erlernen ist. Bei der Systemtheorie war das gewiß nicht anders, selbst wenn versucht worden ist, so spärlich wie irgend möglich, mit den neuen Begriffen zu hantieren. Wo sie nicht zum Selbstzweck werden, können neue Beschreibungen aber durchaus sinnvoll sein. So wird aufgefallen sein, daß es immer wieder möglich war, theologisch überhöhte Sachverhalte sprachlich gewissermaßen "auf den Erdboden" zurückzuholen und sie damit möglicherweise sogar angemessener zu erfassen. In dem Kapitel über die Landeskirche als Sozialsystem im Wandel war das häufig der Fall. Beispielsweise ließ sich das Verhältnis von ecclesia in-

618

Vm. Methodenkritischer Rückblick

visibilis und ecclesia visibilis in einer für Theologen sicherlich ungewohnten Weise mit Hilfe des Gedankens vom "Systemnetzwerk" bestimmen. Einige der Aporien, in denen theologische Bemühungen sich immer wieder verfangen (vgl. das Selbstverstädnis der Rheinischen Kirche als Teil der ecclesia invisibilis), konnten damit vermieden werden. 4. Die Systemtheorie interessiert sich für die Frage, wie soziale Systeme in der Praxis funktionieren. Sie interessiert sich für die Auswirkungen von Grundstrukturen und für die Bedingungen des Wandels von Strukturen. Es ist also kein Zufall, wenn eine Arbeit über die Kirchengemeinde als Sozialsystem im Wandel schon mit ihrer Wahrnehmungsoptik dicht an die Praxis der Gemeindearbeit heranrückt, wenn sie hinter die Kulissen schaut und dort das tabuisierte, aber hochwirksame Feld der informalen Ordnungen entdeckt. Die Forderung, daß die Praktische Theologie sich zukünftig verstärkt um die Entwicklung einer praktisch-theologischen Kybernetik bemühen sollte, ist aus systemtheoretischer Sicht heraus unmittelbar evident. Die vorgelegte Publikation versteht sich als Beitrag zu ihrer Entwicklung. Aber die Modelltheorie hat auch eindeutige Grenzen. Auf diese Grenzen soll abschließend noch kurz eingegangen werden. Es liegt in der Logik der modelltheoretischen Arbeit, daß der Beobachter nur das am untersuchten Gegenstand erkennen kann, was als Identität oder Differenz bereits in seinem Modell vorhanden oder angelegt ist. Modelle sind gerade deshalb oft so einleuchtend, weil sie die komplexe Wirklichkeit radikal reduzieren. Deutlich wurde das etwa bei Luhmanns Gesellschaftsverständnis, einem bestechend einfachen Modell, das mit wenigen Sätzen zu erklären ist und gleichwohl eine erstaunliche Reichweite besitzt. Aber dieses Modell hat, wie alle Modelle, einen begrenzten Erklärungswert. Die Wirklichkeit ist stets komplexer als das Modell. So war es auch hier. Die Frage der Gesamtkohärenz, also die Frage, was denn die Gesellschaft noch zusammenhält, wenn alle ihre Teilbereiche ununterbrochen eigenen Antrieben und Orientierungen folgen, konnte dieses Modell nicht beantworten. Hier hat sich dann ein anderes Modell als deutlich überlegen erwiesen, die Nutzentheorie, die davon ausgeht, daß jeder Mensch wählen muß und mit hoher Wahrscheinlichkeit die Verstetigung des größtmöglichen persönlichen Nutzens anstreben wird. Im Verlauf der Darstellung zeigte sich, daß die klassische Systemtheorie zwar einen unbestreitbar hohen Erklärungswert zur Beschreibung der kirchlichen Sozialsysteme besitzt, daß sie aber dennoch sukzessive zu erweitern und zu ergänzen war. Zunächst mußte dem Verhältnis von Mensch und System ein sehr viel höherer Stellenwert beigemessen werden als in Luhmanns Theoriegebäude. Dann zeigte sich, daß die Kohärenzsicherung mit Hilfe der Präferenzsteuerung, die in vielen Sozialsystemen funktionieren mag, in der Landeskirche überhaupt nicht mehr funktioniert. Die Kirchenmitglieder werden in einer evangelischen Landeskirche schon konzeptionell nicht durch einheitliche, verbindliche und verbindende Glaubensüberzeugungen oder Kirchenordnungsartikel beieinander gehalten. Je mehr das Profil der Landeskirche als ausdifferen-

VIH. Methodenkritischer Rückblick

619

ziertes, gealtertes und im Wandel befindliches Sozialsystem herausgearbeitet wurde, desto deutlicher zeigte sich, daß es allenfalls in begrenztem Maße noch den Kohärenzkriterien der allgemeinen Systemtheorie folgt. Neue Erklärungsmodelle mußten hinzugezogen werden. So etwa das Modell der informalen Systemordnungen, in dem die involvierten Menschen (Mitglieder oder Mitarbeiter) bereits einen deutlich höheren Stellenwert haben als in der klassischen Systemtheorie. Damit aber veränderte sich auch das Verständnis dessen, was denn ein Sozialsystem eigentlich ist. Mit den Begriffen Präferenzordnung und Rollenträger allein ließ sich das System nicht mehr hinreichend beschreiben. Es stellte sich vielmehr als Summe der formalen und der informalen Interaktionsprozesse dar. Konnte in diesem Punkt noch Anschluß an Luhmanns ältere Arbeiten zur Organisationstheorie gefunden werden, so war der Beschreibungs- und Erklärungsrahmen der Systemtheorie endgültig aufzusprengen, als die Suche nach der verlorenen Systemkohärenz in die Frage nach der Mitglieder- und Mitarbeitermotivation einmündete. In einer liberal-demokratischen Umwelt, so stellte sich heraus, können hochkomplexe Sozialsysteme mit stark angewachsener Mitgliederkontingenz ihre Stabilität nicht mehr mit Hilfe ihrer Präferenzordnung sichern. Die Vorstellungen der Präferenzordnung bilden allenfalls noch Anhaltspunkte. Sie werden so massenhaft unterlaufen, daß der Schluß unvermeidlich wird, die unterschiedlichen persönlichen Nutzenkalküle (generalisierte Mitgliedschaftsmotivationen; Verstetigung des mittelfristigen Nutzens) seien letztlich für die Systemkohärenz und die Zukunftsfähigkeit der Landeskirchen verantwortlich. Mit der spieltheoretischen (nutzentheoretischen) Erklärung aber war das Feld der systemtheoretischen Beschreibungsmöglichkeiten definitiv verlassen. Eine neue Theorie war ergänzend hinzugezogen worden. Damit ist auch das Kernproblem aller modelltheoretischen Beschreibungen benannt. Sie sind grundsätzlich in ihrer Reichweite begrenzt, und deshalb sind sie nur dann und nur so lange wertvoll, wie sie "brauchbare" Ergebnisse erbringen. 2 Der unscharfe Begriff "brauchbar" wird hier absichtsvoll verwendet, denn wer andere Modelle benutzt, wird andere Ergebnisse erhalten, die ihrerseits überholbar sind. Modelltheoretisch reflektiertes Arbeiten wird sich dieser Tatsache bewußt bleiben. Die Ergebnisse, die vorgelegt worden sind, gelten nur im Rahmen der verfolgten Fragestellung und nur so lange, bis andere Fragestellungen und andere Modelle andere Ergebnisse in den Vordergrund rükken.

2

Das gilt natürlich auch fDr die Spieltheorie, die ihrerseits in ihrem Erklärungswert begrenzt und von den ethischen Leitwerten des Religionssystem (Nächstenliebe und Dienst an der Gemeinschaft) her kritikwOrdig ist. Der größtmögliche Nutzen ist schon von der Theorieanlage her nur dann realisierbar, wenn der Schaden, den die abweichende Wahl des Einzelnen hervorruft, von einer liberalen Gemeinschaft kompensiert wird. Es ist also durchaus sinnvoll, die absolute Wahlfreiheit des einzelnen sowohl ethisch als auch juristisch und politisch zu begrenzen.

Anhang - Aktivitäten einer Kirchengemeinde

"Was tut ein Pfarrer denn schon groß? - Sonntags ein bischen predigen, ab und zu eine Beerdigung und im Rest der Woche Gartenpflege." Das Vorurteil von der unausgelasteten Pfarrerschaft sitzt m.E. auch deswegen so unausrottbar tief, weil heute selbst diejenigen, die hauptamtlich in der Gemeindearbeit tätig sind, kaum noch in der Lage sind, die Komplexität ihres Arbeitsfeldes annähernd vollständig zu überblicken. In der Regel bedarf es dazu längeren Nachdenkens. Von Außenstehenden kann man eine detailliertere Kenntnis ohnehin nicht erwarten. Von daher erschien es sinnvoll, im Anhang eine Liste möglicher Aufgaben und Aktivitäten im Parochialpfarramt vorzulegen. Selbstverständlich wird nicht alles, was hier aufgezählt wird, auch überall gemacht. Die Liste basiert auf der von der EKHN herausgegebenen Studie "Ortsgemeinde im Nachbarschaftsbezirk", vorgelegt von R.Roessler und K.Dienst, München 1971, S.24f und ist durch einige weitere Punkte ergänzt. I. Gottesdienst und Amtshandlungen Predigtgottesdienst Abendmahlsgottesdienst Kindergottesdienst Jugendgottesdienst Schul- / Schülergottesdienst Familiengottesdienst Gottesdienst in neuer Gestalt Ökumenischer Gottesdienst Kurzgottesdienst Gebetsgottesdienst Gottesdienste an bes. Orten bzw. zu bes. Zeiten Adventsandacht Passionsandacht Taufe Trauung Beerdigung Konfirmation Goldkonfirmation Predigtvorbereitungskreis Gottesdienstvorbereitungskreis Kindergottesdiensthelferkreis

II. Theologische Information Gemeindeseminar Vortragsabend Bibelstunde Bibeltage / Bibelwoche Theologie für Nichttheologen Podiumsgespräch Hauskreis Evangelische Woche III. Öffentlichkeitsarbeit Gemeindeblatt / -zeitung / -brief Pressearbeit Kirchliche Werbung Schaukasten Schriftendienst Gemeindebibliothek Ökumenische Zusammenarbeit Volksmissionarische Arbeit Kontakte zu Behörden, Verbänden, Vereinen, Schulen, Parteien

Anhang

IV. Gemeindegruppen Kirchenchor Instrumentalgruppen Frauenkreis Männerkreis Seniorenclub V. Bildungsarbeit Eheseminar Elternschule Geschlechtserziehung Mütterschule Berufsbezogene Arbeit VI. Kinder-, Jugendarbeit Kindergarten Krabbelgruppe Spielgruppe Jungschargruppe Kinderchor Jugendkreis Offene Tür / Offene Jugendarbeit Jugendseminare Jugendfreizeiten Clubarbeit Laienspiel / Theater / Bibliodrama VII. Konfirmanden Konfirmandenunterricht Konfirmandenelternarbeit Konfirmandenfreizeiten Schülerfireizeiten

621

VIII. Religionsunterricht Religionsstunden Religionspädagogische Arbeitsgemeinschaft Schülerseelsorge Schülerarbeit IX. Seelsorge Hausbesuch Einzelgespräch Einzelfallhilfe Kasualgespräch Erziehungsberatung Eheberatung Besuchsdienstkreis X. Sozialhilfe Nichtseßhaftenbetreuung Krankenpflege Schwesternstation Sozialberatung /Sozialamt Sozialstation Jugendhilfe Erholungsfürsorge XI. Gesellschafisdiakonie Gruppendiakonie (Ausländer, Übersiedler, Strafentlassene, Asylanten) Suchtgefährdetenhilfe Sektengeschädigte Umweltfragen Kommunale Gemeinschaftsaufgaben Soziale Aktionen

622

XII. Gemeindeaufbau Kirchenvorstehertagung Gemeindefreizeit Gemeindetag Mitarbeiterschulung Besuchsgruppenschulung Strukturplanung Gemeindeversammlung XIII. Verwaltung und Organisation Vorbereitung der Presbyteriumssitzung Leitung des Presbyteriums Protokoll der Presbyteriumssitzung Ausführung, Koordination, Überwachung der Beschlüsse Gemeindeamt Haushaltsführung Mitarbeiterbesoldung Gemeindekartei Kirchenbuch

Anhang

Bauplanung Veranstaltungsplanung Technische Einrichtungen Terminkoordination; Gemeindekalender XIV. Partnerschaften Partnergemeinden Patenschaften Ökumenische Kontakte XV. Interne Vernetzung Dienstbesprechungen Mitarbeiterbesprechungen Mitarbeiterseelsorge Terminkoordination Interne Abstimmungen / Absprachen Pfarrkonvent XVI. Gesamtkirchliche Aufgaben

Stichwortverzeichnis

Antirassismus-Streit 163 Augsburger Religionsfrieden 28, 41 Barmer Bekenntnissynode 367 Barth, Karl 79 32 Beichte 500 Berufstätigkeit Bevölkerungsexplosion 48 Binärcodierung 321, 357 Burnout 570 Bürokratie 398 Codierung, binäre corpus permixtum

321, 357 82, 304

Dekonfessionalisierung 49 Dienstgemeinschaft 155, 286, 294 Dienstleistungsunternehmen 143, 487 Dissonanz, kognitive 483 Ecclesia invisibilis 259, 302, 339, 419, 560 Ecclesia visibilis 286, 349 Ecclesiola 71 Ehrenamt, altes / - neues 587 Einflußfiührer 142 Elternschaft 499 Emergenz 216 Erlebnisgesellschaft 462 Ernst Cassirer 260 Ethik 425, 471, 487 Evangelisation 157 Fachbereiche Fernstehende

142 138, 309

Festtag Filterwahlsystem Finanzsteuerung Frauen

29, 43, 446 413 386, 406 504

Gemeindearbeit, konziliare 152, 169 Gemeindearbeit, missionarische 93, 113, 169 Gemeindehaus 84 Gemeindehausarbeit 609 Gemeindehausleben 517 Gemeindeleben 609 Gemeindepflege 84, 528 Gemeinschaftsbewegung 74 Gewissen 369,493 Gewissensfreiheit 46 Glaubensbekenntnis 368, 371, 426, 433 Gottesdienst 31 Gottesdienstteilnahme 42,447 Gottesvorstellungen 426 Grundgesetz 90 Grundordnung der EKD 91 Grundrechte 563 Harmoniemilieu Hausgemeinde Heiligung Hexenverfolgung Hilbert, Gerhard

512 23 76 35 68

Identitätsformel Indifferenz, religiöse Individualisierungsschub Inhaltswandel des Christentums Institutionenkritik

205 440 476 172 479

624

Stichwortverzeichnis

Integrationsmilieu Interaktion

511 212

Kasualhandlungen 55,447 Kirchenlieder 32, 376 Kirchenmitglied, distanziertes 458 Kirchenordnung 418, 544, 546 Kirchensteuer 89 Kirchentreu, die Kirchentreuen 101 Kirchenzucht 44 Kirchlichkeit, distanzierte 440 Kohärenz 194, 230 Kohärenzaufweichung 386 Kohärenzsicherung 393 Kommunikation, liturgische 375 Kommunikationsmedium 203, 320, 349 Kommunikationsprobleme 374 194 Komplexität Konsistorien 28 Kontingenz 194 Kontingenzspielraum 230, 388 227 Krise Laienaktivität Lebensraum Lebenszyklus Leib Christi Leitdifferenz

Netzwerk Niveaumilieu Normendiffusion Notepiskopat Nutzen Nutzenwahl

476 209, 616 425 228 125 260, 284 345 510 466 28 472 473

Olson-Theorem 472 Organisation 81, 145, 184ff Organisation, hybride 345 Organisationsentwicklung 82

403 404 507 51 184 506 109 99

Parasit (321, 362) 365, 370 Parochialsystem 22, 27 Patchwork-Identität 470 607 Personalkirchengemeinde Pfarrer/innen 559, 599 Pfarrerarbeitszeit 603 Pfarrhaus 140 Postweg 175 Präferenzordnung 202, 208 Präferenzsteuerung 386 Presbytergelübde 546 Presbyterial- und Synodalsystem 50 Presbyterium 545, 608 Priestertum aller Gläubigen 23, 141, 178, 611 Privatsphäre 565, 577, 607 Professionalisierung 46, 76, 579, 605 Prozeß, konziliarer 147

460

Quasi-System

97, 128, 608, 609 121 448 284 203, 320, 349, 380

Macht Machttabuisierung Makromilieus Massenkirchengemeinden Methodenrezeption Mikromilieus missio Dei Missionsbegriff Mitgliedschaftsmotivation, generalisierte

Mobilitätsdruck Modelltheorie Moralprotestantismus Motivation Musterdienstanweisung mythischer Raum

213

Stichwortverzeichnis

Re-entry 346 Rechtsdenken 549 Reich Gottes 235, 259, 262, 284 Religion: Magische Vorstellungen 43, 433 Patchwork-Religion 373 37 religion-as-practiced religion-as-prescribed 37 436 religiöse Erfahrung religiöses Erlebnis 31 religiöses Sachwissen 31, 434 Volksfrömmigkeit 30, 42 462 Risikogesellschaft 327 Ritual 485 Ritualisierung 567 Rollenüberlastung Säkularisierung 334, Schnell, Hugo Schoell, Jakob Selbstbezüglichkeit 388, Selbstverwirklichungsmilieu Singles Spieltheorie Sprungbiographie Stadtplanung Sternzeichen Strategiefähigkeit Sülze, Emil

459 119 80 404 513 501 470 495 121 433 470 61

625

Synergiegewinne System, dynamisches System, funktionales System, geschlossenes System, marktorientiertes System, offenes Systementwicklung Systemkonkurrenz Systemumwelt Systemwandel

177 201 332 201 332 201 218 322 197 531

Telepathie Toleranz

433 44

Überleitungssemantik Unterhaltungsmilieu

203, 360 514

Verbundenheitsgrade 136, Vernetzung, überparochiale Vernunftreligion Verwaltung, bürokratische Visitation Volksmission 93, 113,

443 174 46 549 33 169

Weltanschauung

423

Zeichentheorie 202 A 49, 375 Zweitcodierung, ethische 366 397 Zweitcodierung, juristische

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JÜRGEN BECKER

Jesus von Nazaret 20,5 χ 13,5 cm. XI, 460 Seiten. 1996. Gebunden DM 74,-/ öS 577,-/ sFr 73,- ISBN 3-11-014881-1 Kartoniert DM 38,- / öS 297,- / sFr 39,ISBN 3-11-014882-X (de Gruyter Lehrbuch) Die Darstellung bietet eine neue Erklärung für die »Gottesherrschaft« als dem Zentralwort der Verkündigung Jesu. Das hat Folgen für das Verständnis des Wirkens Jesu und für die Deutung seines Ethos. Durchweg wird Jesu Besonderheit innerhalb des Frühjudentums beschrieben. Dabei bleibt immer im Blick, daß durch Jesu Wirken die Geschichte des Urchristentums eröffnet wurde. Das Buch hat seinen Ursprung in der akademischen Lehre. Gleichwohl will es Brücken zu allen Leserinnen und Lesern schlagen, die einem Jesusbild begegnen wollen, das sich historischem Wahrheitsbewußtsein verdankt. Mit dieser Auffassung will es nicht nur dem Hochschulbetrieb dienen, sondern ebenso dem Pfarramt, dem schulischen Unterricht und der allgemeinen christlichen Bildung. Es hofft, mit seinem Konzept auch dem christlich-jüdischen Gespräch zu dienen. Der Autor ist Professor für Neues Testament und Judaistik an der Universität zu Kiel. Preisändemng vorbehalten

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KLAAS HUIZING

Homo legens Vom Ursprung der Theologie im Lesen 23,0x 15,5 cm. XU, 243 Seiten. 1996. Ganzleinen DM 168,-/öS 1.311,-/sFr 161,ISBN 3-11-014969-9 CTheologische Bibliothek Töpelmann, Band 75) Eine lesetheoretische Grundlegung der Systematischen Theologie. Die Arbeit macht das Angebot einer Neubeschreibung der Schriftlehre des Protestantismus aus der Perspektive des Bibellesers: Schrifttheologie als Lesetheologie. Sie geht phänomenologisch-hermeneutisch vor, um einen neuen Deutungsvorschlag für das »Sola scriptura« glaubwürdig zu machen. Überarbeitete Fassung der Habilitationsschrift. Der Autor ist Oberassistent am Institut für Systematische Theologie in München und seit kurzem Lehrstuhlvertreter an der Universität Würzburg.

JOHANN FRIEDRICH LOHMANN

Karl Barth und der Neukantianismus

Die Rezeption des Neukantianismus im »Römerbrief« und ihre Bedeutung für die weitere Ausarbeitung der Theologie Karl Barths 23,0 χ 15,5 cm. X, 421 Seiten. 1995. Ganzleinen DM 218,- / öS 1.701,- / sFr 208,ISBN 3-11-014883-8 (Theologische Bibliothek Töpelmann, Band 72) Aufbauend auf der Darstellung der für Karl Barth relevanten philosophischen Positionen Hermann Cohens, Paul Natorps und Heinrich Barths wird deren Rezeption im ersten und zweiten »Römerbrief« untersucht. Anschließend wird nach dem Motiv dieser Rezeption und ihrer Nachgeschichte gefragt und somit der Bogen zur Theologie Barths insgesamt geschlagen. Ev.-theol. Diss. 1995 bei Professor Dr. Ellert Heims, Mainz. Preisminderungen vorbehalten

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