Die Vertreibung im deutschen Erinnern : Legenden, Mythos, Geschichte

Table of contents :
9 Einführung
19 TEIL 1: D I E VERTREIBUNG 60 JAHRE DANACH -
EINE GALERIE DER ERINNERUNGSBILDER
21 Im Labyrinth von Informationen und Deutungen
21 Vom Pathos des Urteils und der Negligence im Umgang mit Tatsachen
27 Vor einem Großgemälde des Spiegels
35 Die Vertreibung als Zahlenlabyrinth
52 Nemmersdorf: Hat der Völkische Beobachter sowjetische Gräueltaten
verharmlost?
65 Aussig: Von der Verschriftlichung mündlicher Überlieferungen
78 Auf der Suche nach Erklärungen
79 Eine Geschichte betroffener Sprachlosigkeit
83 Die Sage von Hass und Rache
91 Edvard Benes: >das schwarze Biest< als Ursache
98 Von der mühsamen Ursachensuche eines Historikers
103 Die >europäisierte< Erklärung
113 TEIL 2: VERDRÄNGTE E R I N N E R U N G EN
115 Das NS-Projekt für die deutschen Minderheiten im östlichen Europa
115 Das deutsche Problem mit den Ausländsdeutschen
126 Exkurs 1: Die Reform der europäischen Staatenordnung nach dem
Ersten Weltkrieg
129 Exkurs 2: Das Labyrinth der alldeutsch-völkischen Rhetorik
136 Exkurs 3: Ein Kurzbesuch im mentalen Labyrinth der Deutschen in
der Tschechoslowakei
143 Adolf Hitlers Projekt für die deutschen Minderheiten
151 Exkurs 4: Nachdenkenswertes zu Paul de Lagarde, dem Inspirator Hitlers
und Rosenbergs
153 Hitlers estländischer Mitstreiter Alfred Rosenberg
158 Der kurze folgenreiche Weg der Minderheiten in die deutsche Volksgemeinschaft
168 Sie >verloren die Heimat, um das Vaterland zu gewinnenHeimkehrHcimkehrdie fünfjährige AufbaulcistungHeimkehr< und >Räumungunter dem Schutz der deutschen Wehrmacht^
225 Neue Richtlinien des Propagandaministers
229 Der beginnende Rückmarsch der Wehrmacht
232 Die Sowjetdeutschen zwischen der NS-Räumungspolitik und der
>Heimkehr< danach
238 Über die Rückführung Südost

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Eva Hahn, Hans Henning Hahn

Die Vertreibung im deutschen Erinnern Legenden, Mythos, Geschichte

Ferdinand Schöningh Paderborn • München • Wien • Zürich

Die Autoren: EVA HAHN, gebürtige Pragerin, lebt seit 1968 in der Bundesrepublik, wirkte als wissenschaftliche Mitarbeiterin im Collcgium Carolinum in München und ist heute als unabhängige Historikerin in Oldenburg tätig. HANS HENNING HAHN, * 1947 in Zwickau, ist Professor für moderne Osteuropäische Geschichte an der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg; im Mittelpunkt seiner Forschungsarbeit liegen die moderne polnische Geschichte sowie Fragen der Gedächtniskultur und der Historischen Stereotypenforschung.

Umschlagabbildung: Handatlas für das deutsche Haus. Eine Zusammenstellung hervorragender Kartenbilder der ganzen Welt unter besonderer Berücksichtigung des Deutschen Reiches und seiner Nachbarländer, Drei Kegel Verlag Dr. Peter Ostergaard K.-G. Berlin-Lichterfelde 1943, Karte 11-12 »Mitteleuropa, Staaten- und Verkehrskarte«; Briefmarke der Deutschen Bundespost aus dem Jahre 1965

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http: //dnb.d-nb.de abrufbar.

Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der fotomcchanischcn Wiedergabe und der Übersetzung, vorbehalten. Dies betrifft auch die Vervielfältigung und Übertragung einzelner Textabschnitte, Zeichnungen oder Bilder durch alle Verfahren wie Speicherung und Übertragung auf Papier, Transparente, Filme, Bänder, Platten und andere Medien, soweit es nicht §§5 3 und 54 UrhG ausdrücklich gestatten. © 2010 Ferdinand Schöningh, Paderborn (Verlag Ferdinand Schöningh GmbH & Co. KG, jühenplatz 1, D-33098 Paderborn) Internet: www.schoeningh.de Einbandgestaltung: Evelyn Ziegler, München Printed in Germany. Herstellung: Ferdinand Schöningh GmbH & Co. KG, Paderborn ISBN 978-3-506-77044-,

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Bayerische A Staatsbibliothek f München )

Inhalt 9

Einführung

19

T E I L 1: D I E V E R T R E I B U N G 60 J A H R E D A N A C H EINE GALERIE DER E R I N N E R U N G S B I L D E R

21

Im Labyrinth von Informationen und Deutungen 21 27 35 52

Vom Pathos des Urteils und der Negligence im Umgang mit Tatsachen Vor einem Großgemälde des Spiegels Die Vertreibung als Zahlenlabyrinth Nemmersdorf: Hat der Völkische Beobachter sowjetische Gräueltaten verharmlost? 65 Aussig: Von der Verschriftlichung mündlicher Überlieferungen 78

Auf der Suche nach Erklärungen 79 83 91 98 103

Eine Geschichte betroffener Sprachlosigkeit Die Sage von Hass und Rache Edvard Benes: >das schwarze Biest< als Ursache Von der mühsamen Ursachensuche eines Historikers Die >europäisierte< Erklärung

113

T E I L 2: V E R D R Ä N G T E

ERINNERUNGEN

115

Das NS-Projekt für die deutschen Minderheiten im östlichen Europa 115 Das deutsche Problem mit den Ausländsdeutschen 126 Exkurs 1: Die Reform der europäischen Staatenordnung nach dem Ersten Weltkrieg 129 Exkurs 2: Das Labyrinth der alldeutsch-völkischen Rhetorik 136 Exkurs 3: Ein Kurzbesuch im mentalen Labyrinth der Deutschen in der Tschechoslowakei 143 Adolf Hitlers Projekt für die deutschen Minderheiten 151 Exkurs 4: Nachdenkenswertes zu Paul de Lagarde, dem Inspirator Hitlers und Rosenbergs 153 Hitlers estländischer Mitstreiter Alfred Rosenberg 158 Der kurze folgenreiche Weg der Minderheiten in die deutsche Volksgemeinschaft

168

Sie >verloren die Heimat, um das Vaterland zu gewinnen< 173 Der so genannte Menscheneinsatz als verkannter Menschenmissbrauch 182 Wie der Zeitzeuge Alfred Rosenberg über >HeimkehrHcimkehr< Über >die fünfjährige Aufbaulcistung
Heimkehr< und >Räumung< 214 219 225 229 232

Wie Deutsche in der UdSSR zwangsumgesiedelt wurden Sowjetdeutsche >unter dem Schutz der deutschen Wehrmacht^ Neue Richtlinien des Propagandaministers Der beginnende Rückmarsch der Wehrmacht Die Sowjetdeutschen zwischen der NS-Räumungspolitik und der >Heimkehr< danach

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Über die Rückführung Südost
Flucht und Vertreibung« und die häufige Verknüpfung der beiden Jahre 1944/45 führen nicht nur zu zeitlichen und statistischen Unklarheiten, sondern auch zu der Vorstellung, dass der Heimatverlust der Vertriebenen die Folge der Niederlage des Großdeutschen Reiches gewesen sei. Selten fragt man, wann und warum die Betroffenen ihre Heimat verlassen haben, und es wird selten verstanden, warum die alliierten Regierungen ihre Entscheidung, Deutsche umzusiedeln, mit Hinweisen auf den Kriegsbeginn begründeten. Die gängigen Erinnerungsbilder bieten apokalyptische Visionen der Vertreibung als eines Bestandteils der deutschen Niederlage, einer deutschen oder gar einer europäischen Katastrophe. In der Einschätzung der historischen Bedeutung der Vertreibung kommen sich die Urteile deutscher Autoren näher als hinsichtlich der Grundinformationen über jene historischen Ereignisse, die der Begriff Vertreibung« repräsentiert. Theodor Schieder, einer der bekanntesten deutschen Nachkriegshistoriker und führender Herausgeber der umfangreichen Dokumentation der Vertreibung der Deutschen aus Ost-Mitteleuropa11 - abgekürzt auch als Schiedersche Dokumentation bekannt - , begründete eine Tradition nachhaltig wirkender Urteile über die Vertreibung. »Die Austreibung nach 1945« sei »ein Stück der deutschen Katastrophe, sie ist aber noch viel mehr: sie ist eine europäische Katastrophe, ein Eingeständnis dafür, daß die europäischen Völker, die sich in jahrhundertelangen Auseinandersetzungen als eine Einheit im Gegensatz, eine eoineidentia oppositorum erwiesen hatten, nicht mehr miteinander leben zu können glaubten, ohne sich gegenseitig zu vernichten«." Dieses Bild prägt das Erinnern so nachhaltig, dass Bundespräsident Johannes Rau im Jahr 2003 die Vertreibung ähnlich als eine »gesamteuropäische Katastrophe« bezeichnete, in der »furchtbares Unrecht mit furchtbarem Unrecht beantwortet« w o r d e n sei. 14 Dementsprechend vertritt der Historiker Bernd Faulenbach die Ansicht, die Vertreibung solle nicht nur in Deutschland, sondern europäisch« bewältigt werden: »Es handelt sich [...] u m ein europäisches G e schehen, das als europäisches Problem nachwirkt und das auch europäisch aufzuarbeiten ist.« 15 Auch Superlative gehören zu den beliebten rhetorischen Figuren. So wird etwa die Vertreibung der Deutschen als eine von vielen Vertreibungen, aber dennoch als

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Teil l: Die Vertreibung 6o Jahre danach

die »schreckenvollste und am besten dokumentierte Vertreibung« angesehen.' 6 Der Verfasser des populären Schwarzbuchs der Vertreibung, Heinz Nawratil, glaubt, dass die Vertreibung »der Deutschen aus Ostdeutschland und Osteuropa 19451947 [...] die größte Völkervertreibung der Weltgeschichte« gewesen sei.17 Ähnlich wurde auch vielen deutschen Schulkindern beigebracht, dass es sich um die »größte Völkerwanderung der Geschichte« handle. 18 Der Historiker Karl Schlögel betont die Einmaligkeit der Vertreibung, ohne direkt bei Superlativen Zuflucht zu suchen, aber mit ähnlicher Aussage: »Die Umsiedlung und Austreibung der zwölf bis 15 Millionen Deutschen aus dem mittleren und östlichen Europa ist ein geschichtlicher Vorgang von beispielloser Größe«, meint er, der »wie ein Verhängnis über die Deutschen gekommen« sei.19 Friedhelm Boll und Anja Kruke beziehen ihren Superlativ auf die heute moderne Bezeichnung der Vertreibung als Zwangsmigration und meinen, »dass Zwangsmigration eines der bedeutendsten und dramatischsten Mittel der Politik im Europa des letzten Jahrhunderts« gewesen sei. 20 Manchmal wird anstelle der Superlative auf die Bezeichnung des historisch einmaligen Verbrechens zurückgegriffen und an die Vertreibung als »Vertreibungs-Holocaust« und »Jahrtausendverbrechen« erinnert. 21 Den Begriffen Völkermord, Genozid oder Holocaust begegnen wir im Erinnern an die Vertreibung so häufig, dass Andreas F. Kelletat von einer »Holocaustisierung des Flucht-und-Vertreibungs-Diskurses« spricht. 22 So sieht sich der Bund der Vertriebenen (BdV) nicht nur als Hüter des Erinnerns an die Vertreibung der Deutschen: »Wir stehen als BdV in Solidarität zu allen Opfern von Genozid und Vertreibung.« 23 In dem zur Zeit vom BdV geforderten nationalen Vertreibungsmuseum (vorläufig unter den Bezeichnungen >Zentrum gegen Vertreibungen«, >Sichtbares Zeichen der Erinnerung an Flucht und Vertreibung« oder »Flucht, Vertreibung, Versöhnung« bekannt 24 ) sollen »auch Vertreibung und Genozid an anderen Völkern, insbesondere in Europa« erinnert werden: »Von den Albanern, Armeniern über die Esten, Georgier, Inguschen, Krim-Tataren, Polen, Tschetschenen, Ukrainern bis zu den Weißrussen und griechischen Zyprioten und die singulare Verfolgung und Massenvernichtung der Juden Europas durch den Nationalsozialismus. All das fällt mit in dieses Gesamtpaket hinein.«(sie)13 Der langjährige Vizepräsident des Bundes der Vertriebenen und Sprecher der Landsmannschaft Ostpreußen, Wilhelm von Gottberg, erklärte 1995: »Die Vertreibung ist eine spezifische Form des Völkermords«. Er meinte zugleich, auch die Nicht-Vertriebenen hätten ein ähnliches Schicksal erlitten: »Was >... für hunderttausende der Landsleute in eine 45-jährige gewaltsame menschenmordende Zwangsassimilierung in Ostpreußen, Pommern, Ostbrandenburg, Schlesien und im Sudetenland einmündete, war Völkermord«««.26 Die Sudetendeutsche Landsmannschaft forderte zehn Jahre später die »Anerkennung der Vertreibung der Sudetendeutschen aus ihrer seit Jahrhunderten angestammten Heimat als G e n o zid« 27 und machte den Slogan »Vertreibung ist Völkermord« zum Schlagwort des Jahres 2006. Manche ihrer führenden Politiker - wie etwa der 2005 verstorbene >Altsprecher der sudetendeutschen Volksgruppe« und ehemalige (1965-1980) Bundestagsabgeordnete Walter Becher - sind allerdings der Meinung, in der

Im Labyrinth von Informationen und Deutungen Nachkriegstschechoslowakei sei es noch schlimmer als in NS-Deutschland zugegangen: »Zweifellos ist das an den Juden begangene Verbrechen einmalig und in der Geschichte ohne Beispiel. Während indes seine Urheber den Beschluß zu seiner Durchführung eifrig tarnten sowie diese selbst in abgeschlossenen Lagern vollzogen, fand der an den Deutschen in Böhmen und Mähren-Schlesien verübte Holocaust auf offener Straße statt. Die Methoden seines Terrors waren von Beginn an eingeplant, von oben gewollt und in haßerfüllten Aufrufen angepriesen worden.« 28 Walter Bechers gegenwärtiger Nachfolger im Amt des Sprechers der Sudetendeutschen Landsmannschaft, Bernd Posselt ( : f i95 6), präsentiert sich toleranter in seiner Wortwahl, aber die von ihm geweckten Assoziationen ähneln denen Bechers: Es »war eine nach dem Zweiten Weltkrieg, nach Ende des Krieges, nach Sturz des Nationalsozialismus kaltblütig ins Werk gesetzte und schon zwischen den Kriegen geplante Vertreibung, ethnische Säuberung, Genozid - was Sie wollen. Es war der Versuch, die Existenz unserer Volksgruppe im Herzen Europas auszulöschen.«29 Die Unterschiede zwischen den Motiven, Zielen, Entscheidungen und Handlungen der Nationalsozialisten und denen der alliierten Regierungen, die in zahlreichen historischen Studien beschrieben worden sind, fanden kaum Eingang in die Vertreibungsliteratur. O b w o h l an den Nationalsozialismus rhetorisch häufig erinnert wird, wird der offenkundige Zusammenhang »Zweiter Weltkrieg - Vertreibung« meist nicht als eine ursächliche, sondern bloß als eine konsekutive Beziehung präsentiert. Daher wird die Vertreibung oft nicht als ein Teil der Geschichte des Zweiten Weltkriegs, sondern als ein mit den NS-Verbrechen verwandtes historisches Phänomen erinnert, dessen sich die Alliierten schuldig gemacht haben sollen, nachdem sie das nationalsozialistische Regime besiegt hatten. Die im Sommer 1945 durch die Potsdamer Vereinbarung der Alliierten völkerrechtlich legitimierten Zwangsumsiedlungen der Deutschen aus Polen, der Tschechoslowakei und Ungarn werden den mörderischen nationalsozialistischen Verschleppungen häufig gleichgestellt: »Das Gespenstische an der Potsdamer Konferenz lag darin, daß hier ein Kriegsverbrechergericht von Siegern beschlossen wurde, die nach den Maßstäben des späteren Nürnberger Prozesses allesamt hätten hängen müssen.« 30 Oft wird die NS-Mentalität in das Denken der ehemaligen NS-Opfer und NS-Gegner, ja sogar in die Köpfe unbeteiligter Europäer und Amerikaner projiziert: »Vertreibungen, geförderte Fluchtbewegungen und Aussiedlungen sind im Kern nichts anderes als ein ebenso drastisches wie primitives Mittel der Biopolitik« 3 ', meint etwa der Kulturwissenschaftler Micha Brumlik verallgemeinernd, als ob es den Alliierten bei ihrer Entscheidung, die deutsche Bevölkerung aus den drei genannten Staaten auszusiedeln, nicht um spezifische deutschlandpolitische Entscheidungen, sondern um die Umsetzung eines universalen biopolitischen Prinzips gegangen wäre. Viele Erinnerungen an die Kriegs- und Nachkriegszeit sind inzwischen in Vergessenheit geraten, und das gilt auch für das Erinnern an jene Ereignisse, die zusammenfassend als »Vertreibung« bezeichnet werden. Viele Deutsche wissen nicht mehr, wie die Vertreibung mit dem Ausbruch des Krieges zusammenhing, welche Folgen die von deutschen Behörden seit 1939 durchgeführten Umsiedlungen deut-

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Teil i: Die Vertreibung 60 Jahre danach

W o h e r kernen die Vertriebenen in die Bundesrepublik ? Stand; Volkszählung vom 13. September 1950

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Abb. i Darüber, wie viele Deutsche woher vertrieben worden seien, herrscht Unklarheit. Dennoch bietet diese Abbildung bemerkenswerte Einsichten. Sie zeigt, dass die meisten Vertriebenen in der Bundesrepublik aus Gebieten kamen, die bis zum Kriegsende zum Croßdeutschen Reich gehörten und dass die Vertriebenen aus Schlesien und der Tschechoslowakei mit Abstand die zahlenmäßig größten Gruppen bildeten. Sie weist aber auch darauf hin, dass - entgegen der gängigen Meinung - nicht alle Vertriebenen aus dem östlichen Europa kamen: Eine relativ große, die sechst größte Gruppe bildeten Vertriebene aus den »übrigen Ländern«, die bisher im Erinnern an die Vertreibung weitgehend vernachlässigt worden sind.

Im Labyrinth von Informationen und Deutungen scher Minderheiten im östlichen Europa hatten oder wie die nationalsozialistische Evakuierungs- und Räumungspolitik organisiert wurde. Über die von den Nazis verübten Verbrechen an deutschen Zivilisten finden sich in der Vertreibungsliteratur kaum Informationen, und über Organisation und Verlauf der von den polnischen, tschechoslowakischen und ungarischen Behörden unter Aufsicht der Großmächte durchgeführten Umsiedlungen wird selten berichtet. Von den unterschiedlichen Lebenserfahrungen der Angehörigen der deutscher Minderheiten in der UdSSR, in Rumänien oder in Jugoslawien ist ebenso selten die Rede wie von den Schicksalen der deutschen Vertriebenen in Österreich und Dänemark. Im Mittelpunkt der gängigen Vertreibungsdarstellungen stehen erschreckende Gewalttaten gegen deutsche Zivilisten seitens der Angehörigen der Roten Armee sowie die Misshandlung deutscher Zivilbevölkerung nach Kriegsende in Polen und in der Tschechoslowakei. Wie aber all die als Vertriebene bezeichneten Menschen ins Gebiet der heutigen Bundesrepublik gekommen sind, scheint nur wenige Autoren zu interessieren. Der Begriff Vertreibung« repräsentiert im deutschen Erinnern nicht nur unterschiedliche historische Ereignisse aus den Jahren 1939-1949, sondern auch eine Neigung zum Pathos des Urteils und zur Negligence im Umgang mit Tatsachen. Ein Blick auf einige der bekanntesten Darstellungen der Vertreibung kann helfen, diese Problematik aus unterschiedlichen Perspektiven zu beleuchten.

Vor einem Großgemälde des Spiegels Im Frühjahr 2005 veröffentlichte der Spiegel unter der Überschrift Die Abrechnung: Schrecklicher Exodus eine Darstellung der Vertreibung und bot ein bemerkenswertes Geschichtsbild. 32 Aus der Sicht eines Historikers wirft der Spiegel-Text viele Fragen auf, über die nachzudenken sich lohnt, wenn man verstehen möchte, warum die Vertreibung« eines der umstrittensten Themen der deutschen Zeitgeschichte darstellt. Ein fiktives Befragen des Spiegel-Autors kann helfen, uns unterschiedliche Perspektiven zu veranschaulichen. SPIEGEL: »Die Abrechnung: Schrecklicher Exodus« HISTORIKER: Warum haben Sie nicht einen historisch sachlichen Titel für Ihr Gemälde gewählt? Wollten Sie nicht Ihre Leser über die Geschichte jener Deutschen informieren, die in Folge des Zweiten Weltkriegs ihre Heimat verloren haben? Ihre Überschrift legt die Interpretation der Vertreibung als einer »Abrechnung« nahe, während der Zusatz »schrecklicher Exodus« biblische Assoziationen hervorruft. Mit dieser Benennung wird das geschilderte Geschehen in einen welthistorischen, aber keinen realgeschichtlichen Kontext eingeordnet. Die emotionale Wirkung der Überschrift wird mit dem Adjektiv »schrecklich« unterstrichen. Meinen Sie wirklich, dass die Übersiedlung von rund elf Millionen Deutschen zwischen 1939 und 1949 angesichts des damaligen Geschehens in Europa von einer universalhistorischen Bedeutung war?

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Teil i: Die Vertreibung 6o Jahre danach

SPIEGEL: »Kein Ereignis hat die Bevölkerung Europas so durcheinander geschüttelt wie der Zweite Weltkrieg. Etwa 30 Millionen Menschen wurden umgesiedelt oder brutal aus ihrer Heimat vertrieben. Am schlimmsten traf es die Deutschen.« HISTORIKER: An welche konkreten Ereignisse denken Sie? Aus welchen Gruppen setzen sich die genannten 30 Millionen Menschen zusammen? Die Reduktion des Zweiten Weltkriegs auf Umsiedlungen und Vertreibungen sowie die Einordnung der Deutschen als der am schlimmsten betroffenen Opfer legt den Fokus des Betrachters in eine Richtung fest, die sich vom gängigen Erinnern der übrigen Europäer an den Zweiten Weltkrieg deutlich unterscheidet. Auch von vielen Deutschen und vor allem außerhalb Deutschlands wird dieser Krieg vornehmlich mit dem Kampf gegen das verbrecherische NS-Regime assoziiert. Der Anteil der Europäer, die von Umsiedlungen betroffen waren, ist wesentlich geringer als der Anteil derjenigen, die durch den Nationalsozialismus inisshandelt und in einen furchtbaren Krieg hineingezogen wurden, und deshalb erinnern sich die meisten Europäer keineswegs an den Zweiten Weltkrieg als eine Geschichte von »Umsiedlungen und Vertreibungen«. Führt Ihr Bild des Krieges Ihre Leser im Erinnern an den Zweiten Weltkrieg nicht in eine geistige Isolation, und ist das nicht der eigentliche Grund für die Vorstellung, dass »es« am schlimmsten die Deutschen »traf«? SPIEGEL: »Das Unheil begann nach dem Ersten Weltkrieg. Traditionelle Siedlungsgebiete der Deutschen fielen an Polen und an die Tschechoslowakische Republik; so lebten nun auf einmal über vier Millionen Deutsche aus Westpreußen, Posen oder Böhmen und Mähren unter neuem Regime - zumeist gegen ihren Willen und mithin im Dauerkonflikt mit der neuen Umgebung.« HISTORIKER: Welches Unheil begann nach dem Ersten Weltkrieg? Warum halten Sie die Unzufriedenheit mancher Angehörigen der deutschen Minderheiten in Polen und der Tschechoslowakei für ein Unheil und nicht für eine selbstverständliche Haltung emanzipierter Bürger? Wenn Sie schon in Ihrem Artikel über die Vertreibung überhaupt über den Ersten Weltkrieg sprechen wollen, welche Gebiete sollen den Deutschen denn auf Grund welcher »Tradition« als »ihre« Siedlungsgebiete gehört haben? Meinen Sie, dass, wo die deutsche Zunge klingt, dort Deutschland sein solle? Warum erklären Sie Ihren Lesern nicht die Gründe, warum die beiden früher einmal eigenständigen Königreiche Polen und Böhmen 1918 als moderne republikanische Nationalstaaten »wiederauferstanden« waren, wie es viele ihre Einwohner damals sahen? Warum erwähnen Sie nicht einmal das Unheil, das die zentrale politische Auseinandersetzung im Europa der Zwischenkriegszeit - zwischen Demokratien und autoritären Regimen - mit sich brachte? Uns kommt es vor, dass Sie sich nicht um die Vermittlung historischen Wissens bemühen, sondern nur assoziativ an die Vorgeschichte der Vertreibung erinnern und sich dabei gerade der Andeutungen bedienen, die den älteren Lesern so vertraut sind wie Werbespots großer Firmen. Jüngere Leser soll Ihr Panorama

Im Labyrinth von Informationen und Deutungen

offenbar mit einem überschaubaren Grundkurs in die in Deutschland seit dem Ersten Weltkrieg gängigen Schlagworte über das den Deutschen zugefügte Unrecht einführen. Meinen Sie wirklich, dass die Deutschen von der international Community sowohl nach dem Ersten wie nach dem Zweiten Weltkrieg unfair behandelt worden seien?

»Drei Streichhölzer, zwei Finger und ein lächelnder Brite: Bei der Teheraner Konferenz der alliierten Staatschefs legte Premierminister Winston Churchill die Streichhölzer nebeneinander auf den Tisch. Er illustrierte damit dem Kreml-Herrscher Josef Stalin seine Idee von der geografischen Nachkriegsordnung im Osten und äußerte sich hinterher zufrieden mit dem kleinen Spielchen: »Das gefiel Stalin.«« HISTORIKER: Ihr Bild eines vermeintlich zynischen Spiels von Winston Churchill unterscheidet sich von den Erinnerungen der meisten Europäer, gilt der britische Premier doch als Symbol jener kulturellen Wertvorstellungen, in deren Namen Großbritannien dem nationalsozialistischen Deutschland zeitweise allein zu trotzen vermochte und die allen Europäern den »Weg aus der Finsternis« verhießen. Als Person wird er als derjenige europäische Staatsmann erinnert, der für das Sein und Nicht-Sein von Millionen von Menschen die Verantwortung trug und der die in ihn gesetzten Hoffnungen nicht enttäuschte. Selbstverständlich wurde Churchill für zahlreiche seiner Entscheidungen kritisiert, aber er wird nicht als Zyniker, sondern als ein herausragender Staatsmann erinnert, der folgenreiche Entscheidungen in schwierigen Situationen zu treffen hatte. Warum informieren Sie ihre Leser nicht über sein mühevolles Suchen nach einer Lösung der deutschen und polnischen Grenzfragen und damit auch sein Bemühen um Existenz und Staatsform der vom Großdeutschen Reich zerstörten Staaten Polen und Tschechoslowakei? Das von Ihnen präsentierte zur Karikatur herabgewürdigte Geschichtsbild hätte die deutsche Öffentlichkeit nicht verdient. SPIEGEL:

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»Die Herren, die im November 1943 in Teheran zusammensaßen, wussten zwar, dass es um Menschenschicksale in beträchtlicher Zahl ging. Aber was es wirklich bedeutete, Polen und seine Menschen 200 Kilometer westwärts zu versetzen, offenbarte sich ab Januar 1945.« HISTORIKER: Jene Herren, die im November 1943 in Teheran zusammensaßen und die Sie offenbar aus Verachtung nicht einmal namentlich zu nennen vermögen, nämlich Winston Churchill, Franklin D. Roosevelt und Josef W. Stalin, standen damals inmitten eines furchtbaren Krieges, für dessen Beginn sie nicht verantwortlich waren und dessen Ende im Jahre 1943 noch nicht absehbar war. Warum erwähnen Sie dies nicht? Ihr Bild erweckt den Eindruck, als ob Sie kein Verständnis für die verantwortlichen Staatsmänner der Alliierten und ihre damalige schwierige Lage aufzubringen vermögen. Wissen Sie nicht, dass es im Jahre 1943 um viel, viel mehr ging als um die Grenzen Polens? Warum informieren SPIEGEL:

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Teil i: Die Vertreibung 60 Jahre danach

Sie Ihre Leser nicht darüber, wer die Frage der polnischen Grenzen denn überhaupt auf die Agenda der international Community gesetzt hatte?

SPIEGEL: »Das Drama bahnte sich seit Juli 1944 an, als die Rote Armee im Westen Russlands den Widerstand der Heeresgruppe Mitte brach.« HISTORIKER: An welches Drama denken Sie? Für manche Deutsche mag sich seit Juli 1944 ein Drama angebahnt haben, aber meinen Sie nicht, dass sich für Europa als Kontinent ein viel größeres Drama schon früher angebahnt habe? Halten Sie die europäische Geschichte spätestens seit 1938/39 nicht für ein wichtigeres Drama als das, das sich seit Juli 1944 für das Großdeutsche Reich angebahnt habe? Warum informieren Sie Ihre Leser nicht auch über Erinnerungen der meisten Europäer?

SPIEGEL: »Von da an rollte das Verhängnis auf die Reichsgrenzen zu, mit manchmal Dutzenden Kilometern pro Tag.« HISTORIKER: Wo genau im Sommer 1944 »die Reichsgrenzen« lagen, bleibt in Ihren nebulösen Wortbildern unklar. Warum informieren Sie Ihre Leser nicht darüber, dass die Grenzen des damaligen Großdeutschen Reiches keineswegs mit den Grenzen des Deutschen Reiches identisch, sondern dass diese mittlerweile gewaltsam weit in den Osten vorgeschoben worden waren? Verteidigte die Wehrmacht damals das deutsche Vaterland oder ein sogar seine eigenen Bürger misshandelndes Kolonialimperium? Haben Sie sich überlegt, wie weit Ihr Bild des »rollenden Verhängnisses« möglicherweise der damaligen NS-Propaganda entnommen worden sein könnte etwa dem Bericht des Völkischen Beobachters vom 26. Januar 1945: »Die rote Pest wälzte sich aus dem Osten weit in deutsches Land«? O d e r haben Sie es aus der Nachkriegsliteratur übernommen? Damals hieß es nämlich ähnlich: »Mit der sowjetischen Winteroffensive, die zwischen dem 12. und 15. Januar 1945 in den verschiedenen Teilen der Ostfront begann, brach das Verhängnis lawinenartig über die deutschen Ostprovinzen herein.« 33 Haben Sie sich überlegt, dass Sie implizit eine ganz bestimmte Betrachtungsperspektive, ja unausgesprochene Parteinahme zum Ausdruck bringen? Warum unterschlagen Sie all diejenigen Europäer, die damals gezwungenermaßen innerhalb der großdeutschen »Reichsgrenzen« auf die Befreiung warteten, sei es in den Konzentrationslagern, als Zwangsarbeiter in zerstörten deutschen Städten oder als Einwohner der gewaltsam annektierten Gebiete in O s t und West? In deren Erfahrungen und Erinnerungen rollte doch seit Juli 1944 kein »Verhängnis« auf Deutschland zu. Warum berichten Sie aus der Sicht nur mancher der damals innerhalb »der Reichsgrenzen« lebenden Menschen?

Im Labyrinth von Informationen und Deutungen

SPIEGEL: »Die Folge der Durchhaltekampagne: Über neun Millionen Menschen in Ostpreußen, Ostpommern und Schlesien harrten aus, bis es zu spät für eine organisierte Flucht war.« HISTORIKER: Wann und wie hätten die deutschen Behörden nach Ihren Vorstellungen die Flucht von über neuen Millionen Menschen organisieren sollen? Wohin hätten neun Millionen Menschen flüchten sollen, w o hätten sie Obdach und Verpflegung finden sollen? Was sollte Ihrer Meinung nach in den von der deutschen Bevölkerung verlassenen Gebieten geschehen? Meinen Sie, dass Russen und Polen die verlassenen Häuser der Deutschen vor Plünderungen hätten schützen, das verbliebene Vieh füttern, die Feldarbeiten im Frühjahr 1945 verrichten und die Industrie weiterbetreiben sollen ? Was wäre mit jenen neun Millionen Menschen Ihrer Vorstellung nach passiert, nachdem der Krieg vorbei war? Warum hätten die Geflüchteten zu den Russen und Polen zurückkehren wollen und sollen, wenn sie vor ihnen geflüchtet waren? Wer hätte dann die Rückkehr von neun Millionen Menschen organisieren sollen, und wären alle gezwungen gewesen, zurückzugehen? *#* SPIEGEL: »Bis Ende Januar 1945 flohen fünf Millionen Ostdeutsche v o r d e r zwischen Königsberg und Krakau vorrückenden Sowjetarmee. Wer in der mörderischen Kälte nicht weiter konnte, erfror am Straßenrand. Trecks hinterließen tote Babys »wie Puppen am Wegrand«, erinnert sich eine Sanitäterin. Viele hatten unbändige Angst vor den Rotarmisten. »Wo man hinhört, überall wird heute von Cyankali gesprochen, das die Apotheken freigiebig in jeder Menge austeilen«, notierte in Königsberg der Arzt und Fluchtchronist Hans Graf Lehndorff.« HISTORIKER: Mit solchen Formulierungen versuchen Sie das H e r z der Leser zu erschüttern und menschliches Mitleid zu erwecken, und in der Tat, die damalige Lage der von Ihnen erwähnten rund fünf Millionen Ostdeutschen war katastrophal. 34 Warum informieren Sie nicht über die Handlungen der damaligen deutschen Behörden, sondern versuchen den Eindruck zu erwecken, als wären all jene Menschen freiwillig geflüchtet? Sie informieren ja nicht einmal über die Räumungsbefehle und Maßnahmen, mit denen Deutsche von Deutschen zum Verlassen ihrer Wohnorte in jener von Ihnen erwähnten mörderischen Kälte gezwungen wurden. Warum verschweigen Sie die Verantwortung der NS-Behörden für die seit dem Sommer 1944 in Gang gesetzten Zwangsevakuierungen von Millionen deutscher Frauen und Kinder sowie kranker und alter Menschen und die dadurch herbeigeführte humanitäre Katastrophe? Haben Sie sich je die Frage gestellt, ob es nicht von der deutschen Zivilbevölkerung klüger gewesen wäre, den Amok laufenden deutschen Kriegsherren wenigstens jetzt den Gehorsam zu verweigern u n d sich denjenigen Deutschen anzuschließen, die zum Aufstand gegen das Regime aufriefen? Warum lasten Sie die Urheberschaft für solches Leid der Roten Armee an?

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Teil i: Die Vertreibung 60 Jahre danach SPIEGEL: »Die Rote Armee war im Furor.« HISTORIKER: In Ihrer Darstellung weisen Sie immer wieder auf die verbrecherische Kriegsführung der Wehrmacht in der Sowjetunion hin, wie wenn das eine Ursache für das Verhalten der Roten Armee gewesen wäre, wie wenn es sich um zwei gleichartige Armeen gehandelt hätte. Warum evozieren Sie Bilder, die den Eindruck erwecken, dass die Rote Armee auf Verbrechen mit Verbrechen antwortete? Kennen Sie den Unterschied zwischen staatlich organisierten verbrecherischen Handlungen und geahndeten kriminellen Übergriffen einzelner Militärangehöriger? Warum berichten Sie nicht sorgfältiger und sachlicher über die damals verübten Verbrechen der Rotarmisten und über die sowjetische Besatzungspolitik? Ihr Bild der Roten Armee ähnelt der NS-Propaganda: Ihrer Darstellung zufolge waltete eine blinde Zerstörungswut seitens der Roten Armee allerorts genau so, als hätten es die NS-Propagandisten korrekt vorausgesagt. Warum klären Sie Ihre Leser nicht darüber auf, was von den Nazis über die Rote Armee erzählt wurde und was inzwischen Historiker herausgefunden haben?

SPIEGEL: »Aber der Armee war jetzt selten nach Gnade, viele Rotarmisten hielten es eher mit dem Staatsdichter Ilja Ehrenburg, der gefordert hatte: »Töte den Deutschen«. Als schließlich Anfang Mai die sowjetischen Truppen an der Elbe zum Stehen kamen, hatten sie am Weg schauerliche Bilder zurückgelassen - zerquetschte Trecks, verbrannte Erde, geschundene Leichen.« HISTORIKER: Warum heben auch Sie - ähnlich wie es im Großdeutschen Reich üblich war - den Namen eines der bemerkenswertesten russischen Intellektuellen des 20. Jahrhunderts, Ilja Ehrenburg (1891-1967), hervor, ohne Ihre Leser über ihn zu informieren? Der schon von den Nazis als »der Stalinsche Hausjude«35 verunglimpfte europaweit berühmte Schriftsteller wird von Ihnen als »Staatsdichter« der antideutschen Agitation bezichtigt. Warum klären Sie Ihre Leser nicht über die bis heute in Deutschland kursierenden Hinweise 36 auf ein Flugblatt auf, in dem Ehrenburg zu Mord, Schändung und Vergewaltigung der Deutschen aufgerufen haben soll? Wissen Sie nicht, dass ein derartiges Flugblatt in Wirklichkeit nie aufgefunden worden ist? Es sei eine Fälschung, wehrte sich Ehrenburg schon vor Jahrzehnten 37 , und auch der ihm persönlich keineswegs wohl gesonnene und in Deutschland beliebte Lew Kopelew war derselben Meinung: »Übrigens hier in der Bundesrepublik sah ich zum erstenmal in einigen Publikationen den Text eines angeblich von Ehrenburg verfaßten Flugblatts mit dem Aufruf zu morden, alle Deutsche zu vergewaltigen, usw. - eine plumpe Fälschung in einem schlechten Russisch, offenbar aus einer anderen Sprache übersetzt, mit einigen eingeschobenen Zitaten aus Ehrenburgs Essays.«38 Warum berichten Sie auch nicht darüber, dass Ehrenburg geradezu im Gegenteil seit einer Reise nach Ostpreußen am 5. März 1945 die Plünderungen und Vergewaltigungen deutscher Frauen durch Rotarmisten kritisierte? 39

Im Labyrinth von Informationen und Deutungen

SPIEGEL: »In den frisch befreiten Ländern wurde wilde Jagd auf die noch greifbaren Deutschen gemacht. [...] Die ganze Welt sah das, und jedem war klar, was der Ursprung von so viel Hass und Rachedurst war - die Vernichtungsaktionen der Hitlerschen »Herrenmenschen«.« HISTORIKER: Eine historische Erläuterung zu Ihren emotional formulierten Sätzen bleiben Sie Ihren Lesern schuldig. Nicht einmal die Länder werden genannt, auf die sich Ihre Aussage beziehen soll, keine Beweise, keine Verantwortlichkeiten, keine konkreten Aussagen. Der sudetendeutsche Historiker Friedrich Prinz bot kein Bild von Hass und Rachedurst, als er über die Situation in der Tschechoslowakei schrieb: »Sieht man von den blutigen Ereignissen ab, die sich aufgrund einer besonders hochexplosiven Situation im Mai 1945 in Prag abspielten und denen ein Teil der deutschen Bevölkerung der Stadt zum Opfer fiel, kann von einer allgemeinen »Volksrache« in den deutschen Gebieten kaum die Rede sein.«40 Ihre Metapher von einer »Jagd auf Deutsche in den befreiten Ländern« erzeugt noch heute Unverständnis und Feindseligkeit gegenüber den damaligen »Feinden« des Großdeutschen Reiches, als sollten die damals befreiten Nationen heute noch als Feinde der Deutschen erinnert werden. Sollten Sie nicht genauer mit Informationen umgehen, wenn Sie solch schwerwiegende Beschuldigungen erheben? Sollten Sie nicht der Vielfalt von Erinnerungen einzelner betroffener Deutscher Rechnung getragen? Sollten Sie nicht über einzelne damals verübte Verbrechen ebenso wie über die diesbezüglichen Haltungen und Handlungen der alliierten Regierungen informieren?

SPIEGEL: »Örtlich schlug die Volkswut geradezu in Pogrom-Stimmung um. Rund ums tschechische Aussig wurden bei einem Massaker ziviler Gewalttäter im Juli 1945 Hunderte Deutsche totgeknüppelt oder in der Elbe ertränkt.« HISTORIKER: Warum haben Sie keine Mühe darauf verwendet zu prüfen, was eigentlich damals in Aussig geschah? 4 '

SPIEGEL: »Am Ende waren es 14 Millionen, die bis 1947 aus ihrer Heimat vertrieben wurden: von Panzern und Tieffliegern gehetzt, von Milizionären und heimischem Mob malträtiert. Viehwaggons voll Elender ratterten monatelang durch Schlesien und Böhmen. Auf dem Weg starben 1,5 Millionen-die meisten erfroren, ertranken oder wurden erschlagen.« HISTORIKER: Warum verbreiten Sie falsche Zahlen und Daten? 42 Warum erklären Sie nicht, wann, woher, wohin und warum Züge mit deutschen Zivilisten durch Schlesien und Böhmen rollten?

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Teil i: Die Vertreibung 6o Jahre danach

SPIEGEL: »Dafür, dass N S - D e u t s c h l a n d jahrelang die östlichen Nachbarländer u n t e r d r ü c k t u n d deren Völker dezimiert hatte, mussten n u n Millionen büßen, egal wer, auch w e n n »sie nur schuldig waren, als Deutsche geboren zu werden« (so der ehemalige Buchenwald-Häftling Ferdinand Peroutka, ein Tscheche).« HISTORIKER: Warum informieren Sie Ihre Leser nicht über Ferdinand Peroutkas Texte und seine Prager Zeitschrift Dnesek, in der bis zu ihrer Einstellung durch das kommunistische Regime 1948 bemerkenswerte Diskussionen über die Behandlung bzw. Misshandlung deutscher Zivilisten in der Tschechoslowakei geführt wurden? 4 3 Warum unterstellen Sie undifferenziert den befreiten Völkern »Hass und Rachedurst« wie eine anthropologische Konstante, als ob die Vertreibung bloß eine Folge verabscheuungswürdiger emotionaler Befindlichkeiten gewesen sei, die durch die nationalsozialistischen Verbrechen hervorgerufen worden wären? Wissen Sie nicht, dass ein großer Teil jener Menschen, die in der Bundesrepublik als Vertriebene bezeichnet werden, ihre Heimat während des Krieges verlassen haben, wofür wohl kaum die »befreiten Völker« verantwortlich gemacht werden können? Kennen Sie nicht die Geschichte der breiten internationalen Diskussionen über den Umgang mit der deutschen Bevölkerung, über die Grenzveränderungen und über die umstrittene Entscheidung, Deutsche aus Polen, der Tschechoslowakei und aus Ungarn umzusiedeln? Kennen Sie die Gründe für die Entscheidung? Wissen Sie, wie die alliierten Regierungen die Umgesiedelten behandelten?

SPIEGEL: »Den Ton geben mittlerweile Dialogpolitiker wie Bartoszewski an: »Der Schrecken des Krieges, die Tränen der Mütter, die Leiden der Vertriebenen sind für alle Seiten gleich.«« HISTORIKER: Sie enden Ihr Großgemälde mit einem Satz des ehemaligen polnischen Außenministers, dem sicherlich jeder zustimmen würde. O b sich aber Wtadysfaw Bartoszewski die von Ihnen vorgelegte Darstellung der Vertreibung zu eigen machen kann, verraten Sie Ihren Lesern nicht. Aus seiner Rede am 28. April 1995 auf einer gemeinsamen Sitzung des deutschen Bundestags und Bundesrats geht klar hervor, dass Bartoszewski zwar das »individuelle Schicksal und die Leiden von unschuldigen Deutschen beklagte, die von den Kriegsfolgen betroffen wurden und ihre Heimat verloren haben«, zugleich aber auch auf die Bedeutung der »rechtlich-politische Regelung der Probleme der Vereinigung Deutschlands und seiner Grenzen« für die Friedensordnung in Europa hingewiesen hat. 44 Die Geschichte des langen Weges der deutschen Politiker, die deutsch-polnische Grenze vorbehaltlos anzuerkennen, wird von Ihnen nicht erwähnt, als ob das Erinnern an die Vertreibung nichts mit deutschen Grenzproblemen zu tun hätte und sich auf Fragen der Empathie mit einzelnen leidenden Menschen reduzieren ließe. O h n e das Verständnis für die historisch-politischen Zusammenhänge und damit auch für den Zusammenhang zwischen der Zerstö-

Im Labyrinth von Informationen und Deutungen rung der eigenen Ostgrenze durch das Deutsche Reich in den Jahren 1938/39, dem Zweiten Weltkrieg und der Vertreibung müssen jedoch die Lebenserfahrungen aller nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs zwangsumgesiedelten Deutschen unbegreiflich erscheinen. Warum bleiben genau diese Zusammenhänge in Ihrem Großgemälde der Vertreibung unerwähnt?

Die Vertreibung als Zahlenlabyrinth »Wenn es eine Aufgabe der Geschichtswissenschaft ist, der Öffentlichkeit - speziell dem Bildungssystem - die Basisinjormationen zur Verfügung zu stellen, die für jedes Schulbuch benötigt werden, dann ist es notwendig, bessere Zahlen zu erarbeiten.«*'* Stalin, Roosevelt und Churchill sollen am 11. Februar 1945 in Jalta »den Grundstein zu den so tragischen Potsdamer Beschlüssen« gelegt haben, »die die gewaltsame Vertreibung und vollkommene Ausbeutung von 18 Millionen Menschen vorsahen«; während der Durchführung dieser Beschlüsse sollen darüber hinaus sehr viele Menschen umgekommen sein: »Fünf Millionen davon haben das ihnen von Potsdam diktierte Ziel nicht erreicht. Wo sind sie? Sie sind den kaum beschreiblichen und unmenschlichen Zwangsmaßnahmen zum Opfer gefallen, sie wurden hingemordet.« 46 Diese Angaben sind dem 1952 in Göttingen erschienen Buch Europa in Trümmern entnommen, dessen Untertitel Das Ergebnis des Kreuzzugs der Alliierten die vermeintliche Ursache der beklagten Ereignisse benennt. Das Buch ist eine feindselig-aggressive Anklageschrift gegen die Siegermächte des Zweiten Weltkriegs. Father Emmanuel J. Reichenberger, wie der 1888 in Bayern geborene und 1966 in Wien verstorbene Autor in seinem Buch bezeichnet wird, gilt in der Bundesrepublik als »Vater der Heimatvertriebenen«. 47 Er war ein katholischer Priester, der um die Jahrhundertwende aus Deutschland nach Böhmen übersiedelt war. D o r t schloss er sich der sudetendeutschen völkischen Bewegung an und unterstützte seit 1918 deren Bemühungen um den Anschluss der überwiegend deutschsprachigen tschechoslowakischen Grenzgebiete an Deutschland. Am Vorabend des Zweiten Weltkriegs emigrierte er, lebte seit 1940 in den USA und wirkte bei Kriegsende als Präses des Kolpinghauses in Chicago. Zugleich war er stellvertretender Vorsitzender des Democratic Sudeten Committee, einer gegen die Umsiedlungscntscheidung der Alliierten gerichteten Initiative. 48 Seinen ersten wichtigen Verbündeten fand Reichenberger in dem Sozialdemokraten Wenzel Jaksch (1896-1966) und dessen von London aus geführten »Kampf für die Heimat und die Gerechtigkeit«. 49 Später wurde Reichenberger in der Bundesrepublik populär, als der »Mann, der drüben in Amerika zuerst seine Stimme für die vertriebenen und beraubten Sudetendeutschen, dann für die von ihrer Scholle verjagten Ostdeutschen, später noch für das ganze mit einer furchtbaren Kollektivschuld beladene deutsche Volk erhob«. s ° Die Sudetendeutsche Landsmannschaft empfiehlt die Werke von Emmanuel Reichenberger als »Standardwerke für die Geschichte der Vertreibung« und bedauert, dass

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Teil i: Die Vertreibung 60 Jahre danach Reichenbergers Bücher »aber leider heute fast vergessen« seien, da »unglückliche Kontakte zu rechtsradikalen Kreisen« das »Bild dieses großen Mannes« verdunkelt hätten. 3 ' Reichenbergers rhetorischer »Kreuzzug« gegen das Potsdamer Abkommen von 1945 war ebenso kraftvoll militant wie schon zuvor sein Kampf gegen die Friedensverträge nach dem Ersten Weltkrieg. Er hatte sie »Friedensdiktat« genannt und behauptete noch in seinem 1952 erschienenen Buch, dass sie »nicht in dem Pariser Vorort geboren« worden seien, »sondern schon zwei Jahre vorher im Rat der Freimaurerlogen«. 32 Die von ihm genannten Zahlen über die vermeintlich 18 Millionen vertriebenen und fünf Millionen hingemordeten Menschen wurden mit einer politisch gezielten und moralisch sowie historisch sorglosen Freizügigkeit in die Welt gesetzt, ähnlich wie seine in furiosem völkischem Vokabular formulierten Anklagen gegen die Siegermächte beider Weltkriege. Reichenberger setzte in seiner Agitation auf den durch die Emigration legitimierten Anschein persönlicher Vertrauenswürdigkeit als Gewähr für die Richtigkeit seiner Angaben. In seinem 1948 erschienen Buch Ostdeutsche Passion stilisierte er sich in die Rolle eines direkt betroffenen sudetendeutschen Zeitzeugen: »Entmenschte Massen haben in meiner engeren Heimat, Mähren und Böhmen, seit dem 5. Mai 1945 Hunderte von Menschen, die ich persönlich gekannt habe, gequält, gemartert und hingemordet. Man schätzt die Gesamtzahl der seither in diesem Raum umgebrachten Deutschen auf rund eine halbe Million.«33 Auf welchen Quellen diese quantitativen Schätzungen beruhten, erfuhr man nicht. Flüchtige Leser mussten den Eindruck gewinnen, die direkte persönliche Betroffenheit einzelner Zeitzeugen legitimiere auch deren Zahlenangaben. Pater Reichenberger will erfahren haben, dass sich zu »einem erschreckend hohen Hundertsatz« die tschechische und polnische Bevölkerung »an den Verbrechen bei der Vertreibung der Deutschen« beteiligt habe, »von dem Verhalten russischer Soldaten im Vergleich zur Haltung deutscher Soldaten ganz zu schweigen«. 34 Solche Angaben begründete er nicht mit Quellenhinweisen, sondern mit historischen Reminiszenzen: »Und so wie das Verhalten der Sudetendeutschen im Herbst 1938 seine Tradition in ihrer jahrhundertelang bewiesenen Humanität hatte, so hatten allerdings auch die unerhörten Ausschreitungen eines großen Teiles der tschechischen Bevölkerung ihre Tradition: in der Hussitenzeit [des 15. Jahrhundert] schon sperrten Tschechinnen, auch tschechische Mütter, deutsche Frauen und Kinder in Kirchen und ließen sie eines qualvollen Feuertodes sterben.«33 Diese vulgäre Agitation entsprach in vieler Hinsicht den rhetorischen Praktiken der Nazis. Dabei war der Autor selbst kein NS-Anhänger, sondern - wie oben erwähnt - Emigrant gewesen. Bedeutsam für die Geschichte der Vertreibungsbilder ist, dass gerade er - zusammen mit Wenzel Jaksch in London - zu den ersten prominenten deutschsprachigen Autoren gehörte, die öffentlich Anklage gegen die alliierten Staaten erhoben und mit unbelegten Zahlen als Beweisen hantierten. Währenddessen boten andere Autoren andere Informationen über die Vertreibung - etwa Erich Püschel (1898-1984) und Das katholische Jahrbuch 1948/49: »Rund 11 der insgesamt 15 Millionen deutscher Bewohner aus den ehemals preu-

Im Labyrinth von Informationen und Deutungen

Abb. 2 Dass Deutsche am Kriegsende schwer zu leiden hatten, war damals weltweit bekannt, aber es mangelte allerorts an präzisen Informationen. Gerüchte und Desinformationen erlebten in den ersten Nachkriegsjahren überall eine Hochkonjunktur, und in Deutschland mischte sich das Mitleid mit den Heimatlosen mit einer aggressiven Propaganda gegen die einstigen Kriegsgegner - wie im Buch 'Ostdeutsche Passion< von Emmanuel Reichenberger aus dem jähre 1948. Dort wurden sogar Vergleiche mit den berüchtigten türkischen Verbrechen an den Armeniern aus dem Ersten Weltkrieg strapaziert: »Es wiederholten sich in jedem Lande fast möchte man sagen planmäßig die Verbrechen der Türken an den Armeniern: Diebstahl, Raub, Massenmord, Schändungen, Arbeitslager, Sklaverei, kurz jedes Verbrechen, das ein perverses Gehirn nur ausdenken kann.«

ßischen Provinzen rechts der Oder und Neiße, aus der Tschechoslowakei und aus Ungarn haben die Heimat verlassen müssen oder konnten in ihre Heimatgebiete nicht mehr zurückkehren.«36 Der im Deutschen Caritasverband wirkende Püschel

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Teil l: Die Vertreibung 6o Jahre danach war um konkrete Hilfeleistungen für die Flüchtlinge und Vertriebenen bemüht. Deshalb richtete er seinen Blick nicht anklagend zurück, sondern auf die gegenwärtige Lage der hilflosen Menschen. Schon 1948 stellte er stolz fest: »Daß es nach dem Totalzusammenbruch der Verwaltung, der Wirtschaft und des Verkehrs in Deutschland gelungen ist, 11 Millionen Menschen, die auf der Gegenseite ohne jeden Organisationsplan und innerhalb eines Zeitraums von nicht einmal 24 Monaten unter oft unglaublichen Umstände abgeschoben worden sind, dem restdeutschen Gebiete einzugliedern, ist trotz allem ein wahres Wunderwerk.« 37 An der Wiege des Erinnerns an die Vertreibung stand beides, vulgäre Anklagen ebenso wie humane Zuwendung und aktive Hilfe für die Vertriebenen. Während Reichenberger die »ostdeutsche Passion« von 18 Millionen Deutschen beklagte und Anklagen gegen die Alliierten verbreitete, lenkte Erich Püschel die Aufmerksamkeit auf die Eingliederung von 11 Millionen Heimatlosen. Aus solch unterschiedlichen Haltungen der Augen- und Zeitzeugen hat sich in diversen Berichten, Zeugenaussagen, historischen Darstellungen und politischen Forderungen ein breites Spektrum unterschiedlicher Zahlen entwickelt, die bis heute im Erinnern der deutschen Öffentlichkeit die Vertreibung repräsentieren. Die folgende kurze Skizze der Irrwege, denen jeder Deutsche begegnet, wenn er Grundinformationen über die Vertreibung sucht, erfordert eine geduldige Lektüre, aber sie bietet bemerkenswerte Einblicke sowohl in das Erinnern an die Vertreibung als auch in die Vielfalt intellektueller Gepflogenheiten deutscher Autoren im Umgang mit historischen Informationen.

Zahlen sind nicht, Zahlen werden gemacht: Diese Paraphrasierung des Titels eines seinerzeit populären Essays von Hans Dietrich Schultz über die mentale Konstruktion »Mitteleuropas« erinnert uns daran, dass Zahlen selbst an und für sich keinerlei Aussagekraft haben und ihre Bedeutung erst durch ihren jeweiligen Kontext entsteht, auf den sie sich beziehen und in dem sie genannt werden. 38 Deshalb können Zahlen bei der Erfassung und Veranschaulichung historischer Situationen helfen, aber sie eignen sich nicht minder zur politischen Agitation als plakative Ikonen. Es kommt darauf an, wie Zahlenangaben verwendet werden. Im Erinnern an den Zweiten Weltkrieg und an die Vertreibung kommen wir nicht umhin, uns mit ungenauen Zahlen zufrieden zu geben. Die Verwendung so ungenauer Zahlen, wie sie in unserem Fall unvermeidbar ist, verführt leicht dazu, verzerrende oder gar realitätsfremde Geschichtsbilder zu produzieren. Mit anderen Worten: Ungenauigkeit wird manchmal missverstanden als Freibrief für Beliebigkeit. Aus dem Kontext herausgerissene und als Beweis eingesetzte Zahlen über die Vertreibung können Anklagen begründen, ohne zum Verständnis der konkreten historischen Situation zu verhelfen; sie können an das subjektive emotionale Vorwissen und damit an die Vor-Urteile der Leser appellieren, ohne historisches Wissen zu vermitteln. Mit falschen Zahlen können falsche Geschichtsbilder konstruiert werden. Doch können uns Zahlen auch helfen, Irrtümer zu korrigieren. Im Umgang mit ungenauen Zahlen, hinter denen sich menschliche Schicksale verbergen, kommt es besonders darauf an, die bekannten Informationen mit Sorgfalt zu sammeln, zu

Im Labyrinth von Informationen und Deutungen prüfen und sich die Lücken im vorhandenen Wissen bewusst zu machen. Wir brauchen die ungenauen Zahlen, müssen sie mit Fingerspitzengefühl suchen und mit abwägendem Scharfsinn lesen, um nicht zu ahnungslosen Opfern intellektueller und politischer Manipulationen zu werden. Mit welchen Problemen dieser Art ein historisch interessierter Leser konfrontiert ist, wenn er herausfinden möchte, wie viele Deutsche woher und wann vertrieben wurden, zeigt die folgende Textcollage aus Zitaten unterschiedlicher Provenienz:

Wie viele Deutsche wurden wann und woher vertrieben? »Zwischen 1945 und 1947 wurden fast 3 Millionen Deutsche aus den Oder-NeißeGebieten meist in die westlichen Besatzungszonen »transferiert«.«39 »Es erwies sich dabei, daß die ca. 4 bis 5 Millionen Ostdeutschen, die im Winter 1944/45 flohen oder evakuiert wurden und denen nach Kriegsende die Rückkehr in ihre Heimat verwehrt wurde, trotz erheblicher Verluste noch immer das bessere Los erwählt hatten.« 60 »Die Potsdamer Konferenz der großen Drei hat am 2. August schließlich die schreckliche Flucht und Vertreibung von fünf Millionen Menschen legitimiert, von denen i'/2 Millionen zu Tode kamen.« 6 ' »Noch bis in die späten siebziger Jahre war es üblich, sich in der Rhetorik der Aufrechnung zu üben und sieben Millionen Vertriebene gegen sechs Millionen umgebrachte Juden zu setzen [.. .].«62 »Nach den Ergebnissen der ersten Volkszählung (29. Oktober 1946) befanden sich in den vier Besatzungszonen über 9,5 Millionen aus ihrer Heimat vertriebene Deutsche, davon in der sowjetischen Zone 3,6 Millionen, in der britischen 3,1 Millionen, in der amerikanischen 2,7 Millionen, in Berlin 100 000 und 60 000 in der französischen.«63 »Da in Danzig sich 1 000 000 Flüchtlinge in Bewegung gesetzt haben, ist die Gesamtsumme der Flüchtlinge nun auf 10 Millionen angestiegen.«64 »Waren auf der Flucht vor der Roten Armee zwei bis drei Millionen Deutsche verhungert, erfroren, ertrunken oder von feindlichen Granaten getötet worden, so wurden noch in den ersten Jahren nach dem Krieg zehn Millionen Deutsche vertrieben, verloren ihre Heimat und mussten in einer der vier Besatzungszonen ganz von vorn anfangen.«65 »Insgesamt mußten elf Millionen Menschen ihre Heimat verlassen.«66 »Innerhalb eines Jahres wurden 12 Millionen Menschen über die Oder-Neiße-Linie getrieben. Es war die größte Völkerwanderung der Geschichte.«67 »All das schlug nun zurück auf Schlesier und Sudetendeutsche, Ostpreußen und Pommern - kostete dreizehn Millionen Menschen die Fleimat und darüber hinaus wohl bis zu zwei Millionen Menschen das Leben.«68 »Es sind aus den östlichen Teilen Deutschlands, aus Polen, der Tschechoslowakei, Ungarn usw. nach den von amerikanischer Seite getroffenen Feststellungen insgesamt

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Teil i: Die Vertreibung 60 Jahre danach 13,3 Millionen Deutsche vertrieben worden. 7,3 Millionen sind in der Ostzone und in der Hauptsache in drei der Westzonen angekommen. 6 Millionen Deutsche sind vom Erdboden verschwunden. Sie sind gestorben, verdorben.««69 »Die Vertreibung - nach Krieg und Flucht die dritte Katastrophe im Leben der Deutschen im Osten. Mehr als 14 Millionen Menschen werden aus der Tschechoslowakei, aus Polen, Jugoslawien, Ungarn und Ostdeutschland hinausgeworfen.« 70 »15 Millionen Deutsche sind so in den Jahren 1945 und 1946 aus Ostmitteleuropa vertrieben worden, etwa 2V2 Millionen sind unterwegs umgekommen oder verschollen, 9 Millionen sind in den westlichen Zonen Deutschlands, der späteren Bundesrepublik, eingetroffen.«7' »Der Strom schien nicht zu versiegen. Flucht und Vertreibung waren das Schicksal von mehr als 16 Millionen Deutschen«.72 »In den folgenden Monaten wurden rund 17 Millionen Deutsche aus den abgetrennten deutschen Ostgebieten und den osteuropäischen Staaten gewaltsam vertrieben. Sie mußten die unmittelbaren Folgen vergangener Untaten, mit denen der deutsche Name belastet war, erleiden.«75 »Wir erbitten die Rückgabe unserer Heimat im Interesse eines wahren und dauerhaften Friedens in Europa, weil dieser nie auf einem so schreienden Unrecht, wie es die Vertreibung von 18 Millionen aus ihrer angestammten Heimat ist, zustande kommen kann.«74 »Wie bereits gesagt, wurden 1945/46 18 Millionen Menschen nur deshalb von Haus und Hof vertrieben und ihrer Habe beraubt, mißhandelt und eingesperrt, weil sie Deutsche waren. 6 Millionen dieser Unglücklichen und Unschuldigen gingen zu Grunde. 12 Millionen landeten in der westdeutschen Bundesrepublik und vermehrten die Zahl der Erwerbslosen und Entrechteten.«75 »Infolge des Potsdamer Abkommens verloren mehr als 20 Millionen Menschen ihre Heimat, wurden zwangsweise umgesiedelt.«76 »Die Vertreibung der Deutschen aus Ostdeutschland und Osteuropa in den Jahren 1945 bis 1948 war die größte und konsequenteste Völkervertreibung der Weltgeschichte; für über 20 Millionen Menschen bedeutete sie Flucht, Vertreibung oder Verschleppung, Mißhandlung oder Diskriminierung.«77

Die Unklarheit darüber, wie viele Deutsche vertrieben worden sein sollen, hängt mit der Unklarheit darüber zusammen, woher sie vertrieben worden sein sollen. Wie die Zitate zeigen, kursieren auch diesbezüglich die unterschiedlichsten geographischen Bezeichnungen wie Ostdeutschland, Osteuropa, die deutschen Ostgebiete, der Osten, Ostmitteleuropa und Südosteuropa; manchmal heißt es Polen, Tschechoslowakei, Ungarn und Jugoslawien, manchmal ist von der Oder-Neiße-Linie die Rede. Die Freie Stadt Danzig und das Memelland werden häufig statistisch so erfasst, als wenn es sich vor dem Zweiten Weltkrieg um Reichsgebiet gehandelt habe. Manchmal werden auch zum Teil wenig bekannte Regionalbezeichnungen wie Olsagebiet, Dobrudscha oder Batschka bemüht, manchmal verwendet man geographisch völlig unpräzise Gebietsbezeichnungen wie »Sudetenland«. Im Gesetz

Im Labyrinth von Informationen und Deutungen

über die Angelegenheiten der Vertriebenen und Flüchtlinge (oft Bundesvertriebenengesetz genannt) von 1953 ist von allerlei Staaten die Rede, ja sogar von Albanien oder China. Als ein »einheitliches Vertreibungsgebiet« galten die Gebiete, »die am 1. Januar 1914 zum Deutschen Reich oder zur Österreichisch-Ungarischen Monarchie oder zu einem späteren Zeitpunkt zu Polen, zu Estland, zu Lettland oder zu Litauen gehört haben«.78 Darüber hinaus ist es kaum bekannt, dass sich am 8. Mai 1945 ungefähr eine Viertelmillion Deutsche in Dänemark aufhielt, von wo aus sie in den ersten Nachkriegsjahren nach Deutschland umgesiedelt wurden,79 oder dass ca. 225 000 im Jahre 1946 als aus Österreich, Frankreich, Belgien, Italien, aus den Niederlanden, aus der Schweiz oder aus Luxemburg stammend registrierte Menschen später statistisch als Vertriebene mitgezählt wurden.80 Das pauschale Bild von einer »Vertreibung der Deutschen aus Ost-Mitteleuropa«, wie etwa der Titel der Schiederschen Dokumentation lautet, trug zur Klärung nicht bei. In vielen Köpfen ist eine Vorstellung der Vertreibungsgebiete entstanden, die man wohl am besten als Ortsnamenlabyrinth bezeichnen kann. Viele Deutsche geben sich mit dem Eindruck zufrieden, nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs wären Deutsche von allerorts zwischen dem Baltikum, der Adria und dem Schwarzen Meer vertrieben worden. Dass über 90 % aller Vertriebenen aus jenen Gebieten stammten, die bis zum 8. Mai 1945 das Großdeutsche Reich zu beherrschen beanspruchte, wissen heute nur Wenige. Ebensowenig bekannt ist, dass aus manchen Staaten des östlichen Europas nach dem Krieg Deutsche weder vertrieben noch zwangsumgesiedelt wurden, oder dass die sowjetischen Behörden geradezu im Gegensatz zu den gängigen Vertreibungsbildern die nach Deutschland verschleppten oder geflüchteten Sowjetdeutschen als ihre Staatsbürger repatriiert haben. Das erwähnte Ortsnamenlabyrinth behindert nicht nur die regionale Verortung der Vertreibung nachhaltig, sondern auch die Klärung der Frage, wie viele Deutsche wann und woher vertrieben worden sind. Vor allem vernebelt es aber den zentralen historischen Zusammenhang zwischen der Vertreibung und dem am 8. Mai 1945 untergegangenen Großdeutschen Reich. Auch mit der zeitlichen Zuordnung der zusammenfassend als Vertreibung bezeichneten historischen Ereignisse hat es ein wissensdurstiger Leser nicht leichter. Dass etwa die Flälfte aller als Vertriebene bezeichneten Menschen keinem Rotarmisten, polnischen Milizionär oder tschechischen Revolutionsgardisten in ihrer Heimat begegnen konnten, weil sie sich dort am Kriegsende nicht mehr aufhielten, wissen heute nur die wenigsten Deutschen. Aufgrund dieser mangelhaften Kenntnisse und schieren Unwissens herrscht Unklarheit in einer Reihe von Fragen: Wie viele Deutsche sind aus eigenem Willen geflüchtet? Wie viele Deutsche wurden nach Kriegsende vertrieben und wie viele wurden von den alliierten Regierungen zwangsumgesiedelt? Wie viele der als Vertriebene bezeichneten Menschen haben während des Krieges und wie viele von ihnen nach Kriegsende ihr Leben verloren? Es ist auch wenig bekannt, dass ein beachtlicher Teil der deutschsprachigen Bevölkerung im östlichen Europa verblieben ist: »Nach Abschluß der systematischen Vertreibung und Umsiedlung Ende der vierziger Jahre hatte sich die Zahl der Angehörigen deutscher Minderheiten im Osten auf ca. 3,5 Millionen Personen reduziert. Diese lebten vor allem in der UdSSR (1,5 Mio.), Polen (1,1 Mio.), Rumänien

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Teil I: Die Vertreibung 60 Jahre danach (400 000), der Tschechoslowakei (200 000) und Ungarn (200 000).« 8 | Auch diejenigen, die nach dem Abschluss der Zwangsumsiedlungen im Laufe der nachfolgenden Jahrzehnte freiwillig in die Bundesrepublik ausgewandert sind, zählen in der bundesdeutschen Statistik als Vertriebene, was die Orientierung im Zahlenlabyrinth zusätzlich erschwert. 82 Durch die historisch ungenaue Verwendung des Begriffs »Vertreibung« lassen sich aus den Zahlen der in der Bundesrepublik registrierten Vertriebenen kaum Informationen darüber ableiten, wie viele der Vertriebenen überhaupt eine Vertreibung erlebt haben. »Nur jeder Zehnte kennt das Ausmaß der Vertreibung«, war im Jahre 2005 in der Zeitung Die Welt zu lesen.83 Angesichts des Zahlenlabyrinths ist dies keine überraschende Feststellung. Dennoch erklärte der Politikwissenschaftler Hans Maier im Jahre 2005, es gehe im Streit um das Erinnern an die Vertreibung nicht u m Sachfragen: »Der heutige Streit um die Vertreibung der Deutschen nach 1944/45 - in Polen, in Tschechien, aber auch in Deutschland selbst - ist nicht ein Streit um die Fakten.« 84 Hans Maier meint nämlich, die historischen Ereignisse seien so gut bekannt, »dass jeder Versuch der Verdrängung oder Beschönigung von vornherein zum Scheitern verurteilt« sei. Gestritten werde in seinen Augen um etwas Anderes als die angeblich bekannten Fakten: »Aber wie geht man mit diesen Fakten um, wie teilt man sie mit, wie dokumentiert man sie. Hier beginnt der eigentliche Streit.« Genau dies trifft jedoch nicht zu. Im Gegenteil. Die divergierenden Informationen, denen jeder Leser der Vertreibungsliteratur begegnet, lassen kaum die Behauptung zu, dass die Fakten zur Vertreibung hierzulande bekannt seien.

Ähnlich großen Schwierigkeiten begegnet jeder Leser, wenn er herausfinden möchte, wie viele Deutsche im östlichen Europa durch die Vertreibung ihr Leben verloren haben. Denn auch darüber kursieren in der Öffentlichkeit unterschiedliche Angaben. Nach der Gründung der Bundesrepublik nahm sich der Staat dieses Themas an, und die so genannten Vertreibungsverluste standen dabei im Mittelpunkt. Wenn heute an die Umgekommenen erinnert wird, jonglieren dennoch viele Autoren mit Zahlen, die mehr über die mentale Verfassung derjenigen aussagen, die sie aussprechen, als über die Wirklichkeit selbst. Die folgende Textcollage zeigt dies:

Wie viele Deutsche verloren durch die Vertreibung ihr Leben? »Die Veranstaltung [Tag der Heimat] erinnert alljährlich daran, dass kurz vor und nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges Millionen Deutsche ihre Heimat in den östlichen Teilen des damaligen Deutschen Reiches verlassen mussten. Zehntausende starben damals bei Flucht und Vertreibung aus Gebieten wie Ostpreußen, Pommern, Schlesien oder dem Sudetenland.«85 »Der für vertraglich geregelte Umsiedlungen beispiellose Prozeß forderte einige Hunderttausend Tote und betraf etwa zwölf Millionen Menschen.«86 »Es ist schwer zu bestimmen, wie viele Deutsche in welcher Phase der Deportationen starben (manche starben auch unter den schweren Bedingungen der Auffanglager in

Im Labyrinth von Informationen und Deutungen Deutschland). Die Schätzungen von 30 000 Deutschen aus dem Sudetenland und 500 000 aus Polen erscheint mir aber nicht übertrieben.«87 »Dabei, so weit besteht in der Forschung Übereinstimmung, sind in den Jahren 1945 1948 etwas mehr als eine Million Menschen ums Leben gekommen.«88 »Bis Ende Oktober 1946 hatten rund 10 Millionen deutsche Flüchtlinge und Vertriebene die vier Besatzungszonen erreicht; 1,7 Millionen Menschen waren der Zwangswanderung zum Opfer gefallen.«89 »Rund zwei Millionen Deutsche verloren bei Flucht und Vertreibung ihr Leben.«5"2 »Ein Fazit läßt sich in aller Deutlichkeit ziehen: Von zwei Millionen Opfern als einhelligem Ergebnis aller Untersuchungen kann nicht die Rede sein.«91 »Aus diesen beiden Tabellen ergibt sich als Vertreibungsverlust im ganzen die ungeheure Zahl von rd. 2,38 Millionen Personen, von denen rd. 1,3 Millionen auf die deutschen Ostgebiete und rd. I Million auf die deutschen Siedlungsgebiete im Ausland entfallen, wobei die rd. 2 Millionen Deutsche in der Sowjet-Union noch nicht gerechnet wurden.« 92 »2,8 bis drei Millionen verloren dabei ihr Leben. Das Geschehen in den Vertreibungsgebieten ist als Völkermord zu bezeichnen.«93 » [...] 1945/46 Vertreibung fast aller Deutschen aus den deutschen Ostgebieten, der Tschechoslowakei (Sudetenland) und Ungarn. Über 3 Mill. kommen dabei um.«94 »Der Genozid an mehr als 3 Millionen unschuldigen sudetendeutschen Vertreibungsopfern (Völkermord) ist nach allem noch immer ungesühnt.«95 »Addiert man alle genannten Zahlen und die Vertreibungsopfer, so ergibt sich, daß 1945 und später 6 bis 10 Millionen unschuldiger Menschen sterben mußten. Damit liegen die Nachkriegsverluste sogar über den deutschen Diktatur- und Kriegsopfern I933-I945-« 96

Es wäre falsch, sich vorzustellen, dass Historiker nach und nach die Geschichte der Vertriebenen besser erforscht und ihre Zahlenangaben präzisiert hätten, und dass dadurch die existierenden Divergenzen nach und nach geringer geworden wären. Staatlich-politische Einflussnahmen behinderten den sachgerechten Argumentationsaustausch, weil sie mit staatlich sanktionierten Stellungnahmen zu Fragen, die nur durch eine freie wissenschaftliche Geschichtsforschung und Debatte geklärt werden können, manchen Aussagen zu einer privilegierten Stellung verhalfen, während sie die Wirkung anderer abschwächten.

In der Nachkriegszeit war es nicht einfach, sich eine Vorstellung darüber zu machen, wie viele Menschen während der Vertreibung ihr Leben verloren hatten. Aber nur die wenigsten Deutschen gaben wie Erich Püschel 1948 zu: »Genaue Feststellungen sind bisher nicht möglich gewesen, da bei dem anfänglichen Chaos in den Ausweisungsgebieten ordnungsgemäße Registrierung und Bei-

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Teil i: Die Vertreibung 6o Jahre danach Setzung der Toten nicht mehr vorgenommen und auch während der Transporte Verstorbene in keiner Weise statistisch oder urkundenmäßig erfaßt werden konnten.«97 Diese Aussage trifft zwar für die letzten Kriegsmonate und das Jahr 1945 zu, nicht aber für die Zeit danach, da ab Anfang 1946 während der durch die alliierten Regierungen organisierten Transporte schon wieder sorgfältig Evidenz geführt werden konnte. Allerdings wies Erich Püschel zu Recht darauf hin, dass die meisten umgekommenen deutschen Zivilisten in solchen Gegenden und zu solchen Zeiten ihr Leben verloren, als infolge des Krieges keine staatliche Verwaltung vorhanden war. Als Konrad Adenauer am 20. September 1949 dem deutschen Bundestag die erste Bundesregierung vorstellte, wies er auch auf das Schicksal der Vertreibungsopfer hin. Er nannte selbst nur »Millionen«, und die stenographischen Berichte hielten einen unwidersprochenen Zwischenruf fest: »Es fällt mir sehr schwer, meine Damen und Herren, wenn ich an das Schicksal der Vertriebenen denke, die zu Millionen umgekommen sind, (Zuruf in der Mitte: 5 Millionen!) in der notwendigen leidenschaftslosen Zurückhaltung zu sprechen.«98 Ganz offensichtlich standen dem Bundeskanzler keine präzisen Angaben zur Verfügung. Die nach der G r ü n d u n g der Bundesrepublik staatlich geförderten Vertriebenenorganisationen haben sich erstaunlich wenig u m die Klärung des Schicksals der U m g e k o m m e n e n bemüht. Während der »Vater der Heimatvertriebenen« Reichenberger von 18 Millionen Vertriebenen und fünf Millionen hingemordeten Opfern gesprochen hatte, wurden im Jahre 19 51 auf dem Ersten Bundeskongress der Vereinigten Ostdeutschen Landsmannschaften ( V O L ) in Frankfurt am Main andere Zahlen genannt: »Wir Deutschen des Ostens, wir neigen das H a u p t vor vier Millionen ermordeten Brüdern und Schwestern, vor den eigenen Eltern und den eigenen Kindern, die sterben mußten.« 9 9 Einer der Festredner, der Hamburger Ordinarius für Öffentliches Recht und Rechtsphilosophie und Präsident der Deutschen Gesellschaft für Völkerrecht, Rudolf Laun, sprach dagegen von »etwa 3 Vi Millionen Toter und Vermißter« IO° und berief sich dabei auf die Angaben einer Studienkommission der katholischen Kirche, w o es hieß: »Die Ausweisung vollzog sich unter brutalen und u n h u m a n e n [sie] U m ständen und in kürzester Frist. Etwa 3,5 Millionen Deutsche sind bei der Flucht um ihr Leben gekommen, wurden verschleppt oder werden noch zu Zwangsarbeiten zurückgehalten.«"" Der Bund der Vertriebenen hat inzwischen seine Zahlen der Vertreibungsopfer auf zwei bis zweieinhalb Millionen reduziert, ohne allerdings Auskunft darüber zu geben, warum seine früheren Zahlen falsch und die gegenwärtigen richtig sein sollen. Es ist zu vermuten, dass die Halbierung der einst vom »Vater der Heimatvertriebenen« angegebenen Zahl der Vertreibungsopfer auf das Buch Die deutschen Vertreibungsverluste zurückzuführen ist, das 1958 vom Statistischen Bundesamt herausgegeben wurde. D o r t wurden zwar keine empirisch belegten Zahlen der bei der Vertreibung umgekommenen Menschen präsentiert, aber die Legende in die Welt gesetzt, dass »ungeklärte Fälle« als »Nachkriegsverluste« zu bezeichnen seien und dass diese für »die z. Z. unter fremder Verwaltung stehenden Ostgebiete des

Im Labyrinth von Informationen und Deutungen

Deutschen Reiches« 1 338 700 und für die »deutschen Siedlungsgebiete im Ausland« 886 300 betragen würden.' 02 Seit der Veröffentlichung des Buches Die deutschen Vertreibungsverluste haben sich auch in der Öffentlichkeit die gängigen Zahlen der Vertreibungsopfer zwischen zwei und zweieinhalb Millionen eingependelt. Mit Verweisen darauf werden auch neue Forschungsergebnisse abgewehrt. »Das Statistische Bundesamt hat 1958 die Gesamtopferzahl mit 2 225 000 ermittelt«, erklärte etwa Erika Steinbach im Jahre 2006 in einer Stellungnahme gegen den Historiker Ingo Haar, der diese Zahl als überhöht kritisiert hatte.'03 Warum die BdV-Chefin selbst noch im Jahre 2002 von 2,5 Millionen Umgekommenen sprach, wenn es diesmal 2,2 Millionen gewesen sein sollen, erklärt sie allerdings nicht; das ergibt sich wahrscheinlich daraus, dass sie sich auch auf eine andere Informationsquelle beruft: »Das Bundesministerium des Innern hat 1982 als Ergebnis festgehalten, dass die Zahl der im Zusammenhang mit Flucht und Vertreibung ums Leben gekommenen Deutschen zwischen 2 und 2,5 Millionen liegen mag.«'04 Dass Ingo Haar diese Zahlen für zu hoch hält, ist allerdings keineswegs überraschend. So wurde beispielsweise im historischen Handbuch Ploetz auf die Unsicherheiten hinsichtlich der statistischen Aufarbeitung deutscher Schicksale während des Zweiten Weltkriegs und unmittelbar danach hingewiesen: »Ist schon die Zahl der Gefallenen und Getöteten nicht mehr mit Sicherheit festzustellen, so besteht erst recht Unklarheit über die Verluste, die auf und nach der Flucht bzw. »Aussiedlung« von etwa 10 Millionen aus den Vertreibungsgebieten, in den Zwangslagern und bei erzwungener Arbeit der Verschleppten eingetreten sind.«'05 Da sich im Herbst 1946 in Deutschland 9,5 Millionen Heimatvertriebene befanden, würde sich anhand dieser /Yoetz-Aussage ergeben, dass von den genannten 10 Millionen Flüchtlingen und Ausgewiesenen rund eine halbe Million umgekommen seien. Zu einer ähnlichen Vermutung kam auch der 1974 fertiggestellte Bericht des Bundesarchivs. Dessen auf 600 000 geschätzte Zahl der Vertreibungsopfer sei »ernüchternd« gewesen, meint der Flistoriker Mathias Beer.106 Die Geschichte dieses vom Bundesarchiv erstellten Berichts weist jedoch auf bemerkenswerte politische Hintergründe des deutschen Zahlenlabyrinths hin. *** Den führenden bundesdeutschen Politikern war offensichtlich klar, dass die vom Statistischen Bundesamt verbreiteten Angaben über die Zahl der Vertreibungsopfer falsch waren. Im Jahre 1969 beauftragte das Bundesinnenministerium das Bundesarchiv, einen Bericht über »Verbrechen und Unmenschlichkeiten, die an Deutschen im Zuge der Vertreibung begangen worden sind«, zu erstellen. Eine Veröffentlichung des Materials sei nicht beabsichtig, hieß es von Anfang an, und der 1974 vorgelegte Bericht war »nur für wissenschaftliche Zwecke und für die Verwendung bei internationalen Verhandlungen« vorgesehen.'07 Die Öffentlichkeit erfuhr allerdings bald, dass eine »geheime Dokumentation« der Vertreibungsverbrechen neue Enthüllungen gebracht habe: 600 000 Deutsche seien ermordet worden.108 Die früheren, viermal so hohen Angaben gerieten plötzlich in Vergessenheit, und es entstand der Eindruck, als sollten der Öffentlichkeit sensationelle »neue Enthüllungen« vorenthalten werden.

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Teil i: Die Vertreibung 60 Jahre danach Auf derartige Berichte reagierte prompt die Sowjetunion. Am 25. Februar 1975 überreichte der sowjetische Botschafter Valentin M. Falin dem Chef des Bundeskanzleramtes, Staatssekretär Manfred Schüler, folgende Note: »Es ist wohl kaum notwendig, Herr Bundeskanzler, Ihnen in Erinnerung zu bringen, mit welchen Gefühlen unsere Soldaten und Offiziere nach Deutschland kamen, nachdem sie durch niedergebrannte und zerstörte Städte und Dörfer, durch verwüstete Gebiete Rußlands, der Ukraine, Weißrußlands und anderer Teile unseres Staates gegangen waren. Wir wollen etwas anderes in Erinnerung rufen - die Befehle, die das sowjetische Oberkommando erlassen hat und die den Schutz der Zivilbevölkerung zum Ziel hatten, über die Artikel in der sowjetischen Presse damals, wo das Gefühl der Rache gegenüber dem deutschen Volke verurteilt wurde, wo die Rede war von der Notwendigkeit, den Nazismus, aber allein den Nazismus, zu zerschlagen und zu vernichten, und wo berichtet wurde über die Hilfe, die unsere Truppen der Bevölkerung bei der Herbeiführung eines normalen Lebens, das von den Faschisten desorganisiert war, leisteten. Wenn Einzelfälle eines nichthumanen Umgangs, über welche die Presse der Bundesrepublik schreibt, vorkamen, so sollte man wissen, daß diese von der sowjetischen Truppenführung verurteilt und die Schuldigen streng bestraft wurden. Es gibt keinerlei Gründe, über »massenweise begangene Grausamkeiten« zu sprechen mit dem Versuch, dies als eine indirekte Rechtfertigung der Greueltaten der Nazis zu benutzen, die sich das Ziel einer Versklavung oder gar physischen Vernichtung ganzer Völker gesetzt hatten.«' 09 Die Sowjetunion wolle »nicht eine öffentliche Polemik über diese Frage aufnehmen und [nicht] Dokumente und Materialien der Außerordentlichen Kommission zur Aufklärung von Nazi-Verbrechen auf dem Territorium der UdSSR, des Nürnberger Tribunals und anderer Gerichte herausholen«. 110 Diese Intervention weist auf den im Kalten Krieg üblichen politisch-diplomatischen Missbrauch historischer Informationen auf beiden Seiten des Eisernen Vorhangs hin. Die Bundesregierung teilte die Meinung des damaligen Bundeskanzlers Helmut Schmidt, »daß man vermeiden sollte, durch derartige Veröffentlichungen weitere Anreize zu bieten, daß der Ostblock seinerseits, insbesondere mit dem 30. Jahrestag [des Kriegsendes], zu Gegendarstellungen veranlaßt wird«. Auch in der westlichen Welt gebe es »eine beträchtliche Aufnahmebereitschaft für die Darstellung der Grausamkeiten aus der Zeit des Dritten Reiches«, soll Helmut Schmidt damals bemerkt haben, und sein Außenminister Hans-Dietrich Genscher sekundierte ihm, »das deutsche Interesse« könne »nicht darin bestehen, Diskussionen über diese Frage in Gang zu bringen«. Was die andere Seite vorbringen könne, sei bedrückend, »und zwar nicht nur von Prag, Moskau und Warschau«. Außerdem scheinen die damals verantwortlichen bundesdeutschen Politiker ohnehin selbst nicht viel Vertrauen in den neu erstellten Bericht des Bundesarchivs gehabt zu haben: Nachdem in einem Koalitionsgespräch festgestellt worden war, dass es »sich nicht um wissenschaftlich gesicherte Ergebnisse« handele, habe sich Helmut Schmidt in Sachen »Vertreibungsverluste« für eine salomonische Lösung ausgesprochen - für eine wissenschaftliche Durchleuchtung z. B. durch Strafrechtler und Historiker, die fünf Jahre in Anspruch nehmen könne."' Der umstrittene Bericht des Bundesarchivs ist in einer nichtautorisierten Fassung 1975 und offiziell im Jahre 1989 veröffentlicht worden. 1 ' 2

Im Labyrinth von Informationen und Deutungen *** Deutsche Historiker haben zur Erforschung der Vertreibungsgeschichte wenig beigetragen, obwohl die Defizite bekannt waren. Gegen die gängigen Zahlen wandte sich im Jahre 1983 das Institut für Zeitgeschichte mit mahnenden Worten an die »ernsthafte zeitgeschichtliche Forschung«: »Nach dem Abstand von beinahe 40 Jahren besteht ihre Aufgabe darin, mit größerer Distanz und innerer Freiheit das nachzuholen, was in den fünfziger Jahren bei der vom Bundesvertriebenenministerium initiierten Dokumentation noch nicht möglich war, jedenfalls unterblieb: eine nüchterne, exakte Zusammenfassung und Gesamtdarstellung des historischen Vorgangs von Evakuierung, Flucht und Vertreibung der Deutschen aus Ost-Mitteleuropa vorzunehmen«." 3 Dieser Aufruf scheint in den darauf folgenden Jahrzehnten wenig bewirkt zu haben. Am Wirrwarr des Zahlenlabyrinths veränderte sich nichts. Auch unter den organisierten Vertriebenen gab es Einzelne, die die gängigen statistischen Angaben als übertrieben kritisierten. So wandte sich etwa der Augustinerpater Paulus Sladek" 4 (1908-2002) im Jahre 1988 in einem Leserbrief in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung an die Öffentlichkeit. Er wolle »nicht nur der historischen Wahrheit dienen«, sondern »auch allgemein Journalisten und Historiker anregen, die vor Jahrzehnten aufgestellten überhohen Zahlen von Todesopfern aus allen Völkern nicht weiterhin unkritisch zu wiederholen und den Wahn zu bekämpfen, daß man mit solchen Zahlen, die nur den Haß auf ein anderes Volk schüren, die Sicherheit des eigenen Volkes stärken kann.«" 5 Das war ein verständliches Anliegen eines sudetendeutschen Autors, kursierten doch in der deutschen Vertreibungsliteratur die erstaunlichsten Zahlen der deutschen Vertreibungsopfer in der Tschechoslowakei wie 600 000, 5 80 000, 300 000 oder 272 o o o . " 6 Pater Sladek begründete seine Haltung mit dem Hinweis auf das Beispiel der »sudetendeutschen Vertreibungsopfer«, die in der BRD üblicherweise mit der Zahl 250 000 beziffert würden, obwohl die detaillierten sudetendeutschen Nachkriegsforschungen zu wesentlich anderen Ergebnissen geführt hätten: »Auf jeden Fall muß es jedem auffallen, daß auf Grund dieser umfangreichen Befragungen der Heimatortskartei" 7 nur die Namen von 5 596 sudetendeutschen Mordopfern der Vertreibung festgestellt werden konnten.« Sladek schloss keineswegs aus, dass mehr Menschen umgekommen seien, warnte aber davor, deren Zahl zu hoch anzusetzen, »da Nachrichten über Ermordete sich bei Zeugen und beim Weitererzählen innerhalb der Verwandtschaft, wie die Erfahrung zeigt, stark dem Gedächtnis einprägen«. Er selbst verwendete die Angaben der Namenslisten aller Bewohner der sudetendeutschen Gebiete im Mai 1945, welche der Deutsche Caritasverband in mühseliger Kleinarbeit bis 195 7 erstellen ließ: »Bei dieser Aktion wurden 3 160 216 Bewohner erfaßt, einschließlich der nach dem Anschluß zugezogenen Altreichsdeutschen«. Darunter wurden 18 889 Personen als »bei uns als (wohl: unmittelbare) Folge der Vertreibung Verstorbenen« genannt, von denen 5 5 9 6 gewaltsam zu Tode gekommen sein sollen, 3 411 durch Selbstmord, 705 in Verschleppung, 6 615

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Teil i: Die Vertreibung 60 Jahre danach in Lagern, 629 auf der Flucht umgekommen und 1 481 an den (wohl: unmittelbaren) Folgen der Vertreibung. Bei 379 war die Todesursache unbekannt, und bei den restlichen 73 wurden keine Angaben gemacht. Darüber hinaus sollen 3 737 der nachgewiesenen Personen in der Kriegsgefangenschaft und 252 151 erst in den neuen Wohnorten verstorben sein." 8 Sladeks Kritik aus dem Jahre 1988 stützte sich auf die Gesamterhebung zur Klärung des Schicksals der deutschen Bevölkerung in den Vertreibungsgebieten. Sie wurde von der Zentralstelle des Kirchlichen Suchdienstes in München bearbeitet und legte die Ergebnisse von detaillierten, schon 1945 begonnenen Forschungen vor, die durch die Entschließung des Deutschen Bundestages seit 1953 in Zusammenarbeit zahlreicher Institutionen und unter Beteiligung von Vertriebenenorganisationen erfolgt waren." 9 Dort wurde festgestellt, dass insgesamt 473 013 Menschen »bei und als Folge der Vertreibung« verstorben seien; davon 58 256 durch gewaltsamen Tod, 14 356 durch Selbstmord, 49 542 in der Verschleppung, 80 522 in Lagern der Vertreibungsgebiete, 93 283 auf der Flucht, 63 876 an den Folgen der Vertreibung und rund 113 000 auf unbekannte Weise.' 20 Dennoch werden sogar in neuen wissenschaftlichen Studien bis heute immer wieder die Ergebnisse alter Erhebungen und statistischer Schätzungen verwendet. So heißt es etwa in der von deutschen und polnischen Historikern neu erarbeiteten Dokumentation - obwohl die darin präsentierten Belege auf wesentlich niedrigere Opferzahlen hindeuten - zusammenfassend: »[...] am zutreffendsten erscheinen uns noch immer die sorgfältigen Schätzungen des deutschen Bundesarchivs aus dem Jahre 1974, die von über 400 000 Todesopfern in den Polen und der UdSSR einverleibten Gebieten (ohne die Opfer während der Evakuierung und Flucht in der Zeit vor der Übernahme dieser Gebiete durch beide Staaten) sprechen, von denen etwa 200 OOO der Deportation in die Sowjetunion zum Opfer fielen, über 60 000 in polnischen Lagern, über 40 000 in sowjetischen Lagern starben und 120 000 Menschen Todesopfer unterschiedlicher, hauptsächlich von Soldaten der Roten Armee verübter Gewalttaten an der Zivilbevölkerung wurden.« 12 ' Dagegen stellte der österreichische Historiker Arnold Suppan im Jahre 2003 fest, dass die in dem oben zitierten Bericht des Bundesarchivs angegebenen Zahlen weiterer Korrekturen bedürfen: »In sämtlichen Gebieten östlich von Oder und Neiße sind nach einem Bericht des deutschen Bundesarchivs aus dem Jahre 1974 mehr als 400 000 Deutsche Opfer der Vertreibung geworden, in der Tschechoslowakei mehr als 130 000, in Jugoslawien mehr als 80 000.* In den 1990er Jahren wurden diese Verlustzahlen neu berechnet, [...] sodass die meisten Opferzahlen (ohne Soldaten) wesentlich nach unten revidiert werden mussten: für die Sudeten- und Karpatendeutschen auf etwa 30 000 Vertreibungsopfer, für die Donauschwaben auf etwa 60 000, für die Sloweniendeutschen auf 2 000-3 OOO.«122 Zu einer ähnlichen Zahlenkorrektur wie der sudetendeutsche Pater Paulus Sladek kam die Gemeinsame Deutsch-Tschechische Historikerkommission. Sie erklärte 1996 ausdrücklich, dass zwar die in Deutschland gängigen Zahlenangaben der Vertreibungsopfer in der Nachkriegstschechoslowakei zwischen 220 000 und

Im Labyrinth von Informationen und Deutungen 270 000 liegen, die historische Forschung jedoch von »15 000 und - maximal 30 000 Todesfällen« ausgehe. 123 Demgegenüber versucht der Historiker Alfred de Zayas der Öffentlichkeit den Eindruck zu vermitteln, als sei es seit der Öffnung der Archive nach dem Fall des Eisernen Vorhangs notwendig, die bisher bekannten Zahlen der Vertreibungsopfer aus der Tschechoslowakei noch nach oben zu korrigieren: »Bisher war man davon ausgegangen, daß die Zahl der Toten bei der Vertreibung aus dem Sudetenland etwa 250 000 Personen betrug. Unter Berücksichtigung bisher verschlossener Akten der untergegangenen DDR wird eine viel höhere Zahl geschätzt: »Man wird künftig davon auszugehen haben, daß die Vertreibung der Sudetendeutschen 1945/46 zu rund 460 OOO »ungeklärten Fällen« (Nachkriegsverlusten) führte.««124 Der Militärhistoriker Rüdiger Overmans kritisiert dagegen die bundesdeutschen Statistiker mit folgendem Hinweis: »Die Opfer der nationalsozialistischen Verfolgung unter der deutschen Bevölkerung, die Verluste der Zivilbevölkerung durch die schweren Kämpfe gerade in einigen dieser Gebiete und die Toten während der Flucht vor der Roten Armee sind nicht separat ausgewiesen und letztlich zu den Vertreibungsverlusten addiert worden, eine Vereinfachung, die gerade von osteuropäischen und von DDR-Autoren massiv kritisiert worden ist.«125 Auch Detlef Brandes stellte fest, dass die Zahlen für die Tschechoslowakei deutlich herabgesetzt werden müssen: »Es wird im Übrigen oft von zweieinhalb Millionen Toten gesprochen. Man sollte aber in der politischen Diskussion die Ergebnisse der Wissenschaft zur Kenntnis nehmen. Für die Tschechoslowakei gibt es die alten Zahlen von 250 000 Toten, gezählt an den nicht Gefundenen im Jahre 1950. Wir wissen jetzt, dass es zwischen 15 000 und 30 000 gewesen sein dürften.«126 Die Angabe »zwischen 15 000 und 30 000« könnte den Eindruck erwecken, als gäbe es für einen Historiker keine Unterlagen, um präziser zu sein. Rüdiger Overmans erklärte allerdings diese merkwürdig vage Angabe: 15 000 deutsche Zivilisten sollen während der letzten Kämpfe vor dem Kriegsende, namentlich während des Prager Aufstands Anfang Mai 1945 ihr Leben verloren haben, so dass in der Tschechoslowakei »ca. 13 000 Deutsche im Verlauf von Flucht und Vertreibung, also unter Ausschluß des Kriegsgeschehens, ums Leben gekommen sind«.' 27

Haben nun 13 000 oder 460 000 deutsche Zivilisten in der Nachkriegstschechoslowakei ihr Leben verloren? Für die an der Vertreibung interessierten Deutschen ist es nicht leicht, sich diesbezüglich ein rational und empirisch begründetes Urteil zu bilden. Dass solche Diskrepanzen in einer gebildeten Öffentlichkeit kein breites Interesse an Klärung erwecken, ist erstaunlich. Die Hoffnung, weitere wissenschaftliche Forschungen würden irgendwann in der Zukunft mehr Klarheit als bisher bringen, ist unbegründet, denn für alle in Deutschland kursierenden Zahlen

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Teil i: Die Vertreibung 60 Jahre danach wird der Anspruch erhoben, sie seien wissenschaftlich legitimiert. Die Ursachen des deutschen Zahlenlabyrinths liegen nicht in sachlich diskutablen Berechnungsschwierigkeiten. Zur Hoffnung auf Abhilfe berechtigt nur die Annahme, dass sich irgendwann einmal die Politik aus dem Erinnern an die Vertreibung zurückziehen wird - so dass eine Versachlichung der Kontroversen für empirisch-analytische Erinnerungsformen und damit für eine größere Transparenz der öffentlichen Diskussionen über die eigentlichen historischen Ereignisse, die das Wort Vertreibung repräsentiert, sorgen kann. Darüber hinaus müssen alle Zahlen über die Vertreibung auch kontextualisiert werden. Die Zahlenangabe von 473 013 nachweislich umgekommenen Flüchtlingen und Vertriebenen 128 kann ohnehin erst dann ausreichend verstanden werden, wenn sie im Zusammenhang mit anderen Zahlen aus jener Zeit gesehen wird. Ein solches Beispiel des Erinnerns bot der sudetendeutsche Historiker Ferdinand Seibt schon im Jahre 1982: »Die Mobilisierung der Menschen für diesen Krieg war unerhört im welthistorischen Verstand [sie]. Die Zahl der Soldaten, die man zum größten Teil für die europäischen Kriegsschauplätze aufbot, soll 60 Millionen betragen haben. Ungeheuer im selben Maß war auch die Zahl der Toten. Dafür nennt man rund 5 5 Millionen Männer, Frauen und Kinder. 21 Millionen Sowjetbürger sind durch den Krieg, in den besetzten Gebieten oder in deutschen Gefangenenlagern ums Leben gekommen. 7 Millionen Deutsche erlitten dasselbe Schicksal, eingerechnet die Menschenverluste bei der Vertreibung aus den deutschen Ostgebieten, aus Polen, der Tschechoslowakei, Jugoslawien, Rumänien und Ungarn. Weit mehr als 5 Millionen polnische Einwohner mußten sterben [...]. Insgesamt ergeben Schätzungen, daß auf diese Weise etwa 40 Millionen Europäer ums Leben kamen.«129 Wenn man Geschichte verstehen und sich mit anderen darüber verständigen möchte, reicht es nicht aus, das Wort »Millionen« plakativ wie eine Ikone auf den Fahnen als Beweisstücke zu schwenken und Anklagen zu erheben, wie es im Erinnern an die Vertreibung üblich ist. Das Zahlenlabyrinth, das die Vertreibung bis heute im deutschen kollektiven Gedächtnis repräsentiert, stiftet Verwirrung, aber kein historisches Wissen, und es belastet unmittelbar auch unsere Gegenwart. Kein Wunder, dass bisher eine Kommunikation zwischen den Vertretern der verschiedenen Geschichtsbilder kaum zustande gekommen ist und die deutschen Vertriebenenverbände in jener geistigen Isolation verharren, in die sie Autoren wie Reichenberger mit ihren aggressiv-feindseligen Pamphleten in der unmittelbaren Nachkriegszeit hineingeführt haben.

Möchte man sich nach der Zahl der heute in der Bundesrepublik lebenden Vertriebenen erkundigen, begegnet man ähnlichen Schwierigkeiten. Einer von denen, die sich darum bemüht haben, ist Kurt Nelhiebel, selbst ein Vertriebener aus der Tschechoslowakei. Er fühlt sich vom Bund der Vertriebenen und dessen Präsidentin Erika Steinbach nicht repräsentiert und versucht deshalb, herauszufinden, wie viele Vertriebene und wie viele Mitglieder welcher Organisationen dieser Verband eigentlich vertritt. Seine Odyssee beschrieb er im Jahre 2004:

Im Labyrinth von Informationen und Deutungen »Bis auf den heutigen Tag sehen staatliche Stellen sich außerstande, die Zahl der Vertriebenen zu beziffern. Das Bundesinnenministerium teilte dem Verfasser zu Beginn des Jahres 2004 auf Anfrage mit, »dass keine Statistik existiert, aus der sich die Zahl der in Deutschland lebenden Vertriebenen herleiten« lasse. Das Statistische Bundesamt seinerseits wusste ebenfalls keinen Rat und verwies an den Bund der Vertriebenen. Der jedoch konnte die Zahl seiner Mitglieder selbst schriftlich nicht benennen, sondern verwies lediglich auf Literatur aus den Jahren 1989 und 1991.« 1 3 0

Kurt Nelhiebel erfuhr auch, dass das Statistische Bundesamt im Jahre 1985 beim Bundesinnenministerium einen Forschungsauftrag angeregt habe, der Klarheit über die Zahl der Vertriebenen und ihren Anteil an der Gesamtbevölkerung bringen sollte; dieser Auftrag sei jedoch nach Darstellung von offizieller Seite »wegen U n durchführbarkeit nicht zur Ausführung« gelangt. Damit blieb Kurt Nelhiebel nichts Anderes übrig, als eigene Wege im deutschen Zahlenlabyrinth zu suchen. Bedenke man, dass bei der letzten statistischen Erhebung im Jahre 1974 in der Bundesrepublik 9,4 Millionen Vertriebene gezählt wurden und dass nach einer Allensbach-Umfrage lediglich ein Prozent der Vertriebenen einer Landsmannschaft angehörten, müsste die Zahl der organisierten Vertriebenen vor 20 Jahren rund 94 000 betragen haben. »Da soll der BdV heute zwei Millionen Mitglieder haben, wie er selbst behauptet und wie es von den Medien unkritisch übernommen wird?«, wundert sich Nelhiebel und zieht seine Schlussfolgerung: »Die Vertriebenen sollten sich nicht damit abfinden, immer wieder als imaginäre Hilfstruppe für politische Zwecke herhalten zu müssen und mit ihren Landsmannschaften in einen Topf geworfen zu werden - etwa als die Tagesschau 1997 nach dem Pfingsttreffen der Sudetendeutschen Landsmannschaft behauptete, »die Sudetendeutschen« lehnten die deutsch-tschechische Versöhnungserklärung ab, obwohl sich in Wirklichkeit nur die Landsmannschaft in diesem Sinne geäußert hatte.« , 3 ' Dass man zwischen den Vertriebenen und den Vertriebenenorganisationen unterscheiden muss, hat sich noch nicht herumgesprochen; auch hier gibt sich die deutsche Öffentlichkeit bisher mit einem undurchschaubaren Zahlenlabyrinth zufrieden. Dementsprechend wird das Erinnern des Bundes der Vertriebenen und der diesen Organisationen verpflichteten Politiker oft mit den vielfältigen Erinnerungen der Vertriebenen verwechselt. Daraus entstehen viele Missverständnisse, die leicht zu klären wären, wenn man sich beim Erinnern an die Vertreibung empirischrationaler Mittel bedienen würde. Aus Pietät den einstigen Vertriebenen gegenüber, aber auch um des künftigen Erinnerns an die Vertreibung willen wäre es wünschenswert, sich - entsprechend der Ermahnung des Instituts für Zeitgeschichte aus dem Jahre 1983 - um bessere Zahlen zur Geschichte der Vertriebenen zu bemühen als bisher üblich; etwa so, wie es der Historiker Rüdiger Overmans tut. Er glaubt nämlich, dass wir sorgfältig recherchierte Zahlen brauchen, auch wenn sie ungenau sind: »Wenn es eine Aufgabe der Geschichtswissenschaft ist, der Öffentlichkeit - speziell dem Bildungssystem - die Basisinformationen zur Verfügung zu stellen, die für jedes Schulbuch benötigt werden, dann ist es notwendig, bessere Zahlen zu erarbeiten.« 132 Erst dann können Fakten über die damaligen Geschehnisse und über das »Ausmaß der Vertreibung« 133 so weit bekannt werden, dass in

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Teil I: Die Vertreibung 6o Jahre danach der deutschen Öffentlichkeit über die verschiedenen Interpretationen der und den richtigen Umgang mit diesen Fakten - »wie teilt man sie mit, wie dokumentiert man sie«134 - sachlich diskutiert werden kann.' 35

Nemmersdorf: Hat der Völkische Beobachter sowjetische Gräueltaten verharmlost? »Nichts ist so übel und gemein wie das Hausieren mit Greuelnachrichten, sei es aus Freude an der Sache oder gar, um den Haß gegen den Feind wach zu halten.«"''' »Die Flucht aus Furcht vor Greueltaten der Roten Armee« soll nach Micha Brumlik »durch ein traumatisch wirkendes Ereignis eingeleitet« worden sein, nämlich durch »die gut verbürgten und bezeugten Greueltaten der Roten Armee im ostpreußischen Dorf Nemmersdorf«.' 3 7 An das Geschehen selbst erinnert er folgendermaßen: »Die am 16. Oktober 1944 begonnene Großoffensive der Roten Armee, die drei Tage später zum Überschreiten der Reichsgrenze nach Ostpreußen führte, bot der Roten Armee nun auch die Wohngebiete deutscher Zivilisten dar - ein Umstand, der in einer Reihe von Fällen zu unerhörten Massakern und Grausamkeiten führte. Bekannt geworden ist vor allem durch die Bestätigung neutraler Korrespondenten das von Angehörigen der Roten Armee begangene Massaker von Nemmersdorf, bei dem deutsche Nonkombattanten erschossen, Frauen vergewaltigt und darüber hinaus besonders grausame Foltern an Zivilisten - etwa das Annageln von Menschen an Scheunentore - verübt wurden.« 138 Als Quelle seiner Informationen gibt Brumlik die Schiedersche Dokumentation an. Auf dieselbe Quelle beruft sich auch der renommierte Zeithistoriker Christoph Kleßmann, wenn er auf Nemmersdorf als »Symbol für die Greuel« verweist, welche die ostdeutsche Bevölkerung zur Flucht bewegt haben sollen: »Zum Auslöser der riesigen Fluchtwelle der reichsdeutschen Bevölkerung wurde Mitte Oktober 1944 ein lokaler Vormarsch der Roten Armee über die Grenze nach Ostpreußen. Nemmersdorf, ein kleiner Ort im Kreis Gumbinncn, wurde zum Symbol für die Greuel, welche die ostdeutsche Bevölkerung zu erwarten hatte, wenn ihnen die Flucht nicht rechtzeitig gelang.«'39 In der angesehenen Zeitung Welt am Sonntag war im Jahre 2005 ähnliches zu lesen; die »schockierte, bedrohte deutsche Bevölkerung« hätten Berichte aus Ostpreußen zur Flucht veranlasst, hieß es dort: »In Nemmersdorf an der Angerapp schlachtete die Soldateska die Einwohnerschaft regelrecht ab. Sie nagelten vergewaltigte Frauen an Scheunentore, schlugen Kleinkindern mit Gewehrkolben die Schädel ein. Die Menschen seien »fast ausschließlich bestialisch ermordet worden, bis auf nur wenige, die Genickschüsse aufwiesen«, berichtete ein Zeuge nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs.«140

Im Labyrinth von Informationen und Deutungen Auch der rechtsradikale Kieler Arndt-Verlag beruft sich auf die Schiedersche Dokumentation und schreibt den Ereignissen in Nemmersdorf große Bedeutung zu: »Durch die Ereignisse von Nemmersdorf wußten die deutsche Zivilbevölkerung und die politische und militärische Führung, was Deutschland bei einem dauerhaften Eindringen der Roten Armee auf deutschem Boden erwarten würde. Dies weckte einerseits noch einmal starke Widerstandskräfte, andererseits verdeutlichte das Geschehen die Notwendigkeit, die deutsche Bevölkerung bei einem Eindringen der Roten Armee zu evakuieren, da die Russen offensichtlich keinen Krieg, sondern einen Vernichtungskrieg führten.« 14 ' In der Schiederschen Dokumentation selbst findet sich zwar keine Auskunft über jene historischen Forschungen, die die außerordentliche Bedeutung der Nemmersdorfer Ereignisse belegen würden, dafür aber ein erschreckender »Erlebnisbericht des Volkssturmmannes K. P.Die große FluchU von Guido Knopp ein Bild mit dem Hinweis: »Die Leichen von ermordeten Sudetendeutschen«. Doch ergab die Recherche anhand der im Buch angegebenen Quelle, dass es sich um tschechische Opfer eines Massakers der SS vom 6. Mai 1945 in Prag handelt. In Tschechien ist dieses Foto wohl bekannt, und zur Erinnerung an dieses Ereignis trägt jene Straße sogar bis heute die Bezeichnung >Straße der Opfer vom 6. Mah.

Auf der Suche nach Erklärungen

Im Erinnern an die Vertreibung wird Hass nicht nur den Tschechen unterstellt. Selbst die Großmächte sollen in ihren Entscheidungen vom Hass geleitet worden sein: »Die leichtfertige Übereinkunft Roosevelts und Edens in Washington, eine Provinz von Deutschland abzutrennen, deren spezifisch deutschen Charakter Präsident Roosevelt in den erwähnten Worten selbst andeutete, ist nur vor dem Hintergrund des jahrelange aufgespeicherten Hasses gegenüber Deutschland zu verstehen.««288 Das erfahren wir in einem Buch über die Entstehung der Oder-Neisse-Linie aus dem Jahre 1953: »Der Haß machte blind« - diese »einfache« Erklärung wurde in einem vom Johann-Gottfried-Herder-Forschungsrat, einer durch das damalige Bundesvertriebenenministerium subventionierten wissenschaftlichen Institution, herausgegebenen Buch verbreitet. Auch Vertriebenenpolitiker, wie hier Rudolf Lodgman von Auen (1877-1962), unterstellen oft den Alliierten Hass, diesmal sogar mit traditionellen antisemitischen Anspielungen angereichert: »Der Kreuzzug der amerikanischen Politik gegen den Nazismus hatte sich in einen Kreuzzug gegen das ganze deutsche Volk gewandelt und das Ergebnis ist nebst der Aufteilung des deutschen Sprachgebietes die verbrecherische Vertreibung von etwa 12 Millionen Deutschen, deren Heimat man auf diese Art dem Einflüsse des Bolschewismus überliefert hat. Die Entwicklung war nur möglich, weil es die Clique um Morgenthau mit ihren unerschöpflichen Geldquellen verstanden hat, das amerikanische Volk mit tiefem Haß gegen alles Deutsche zu erfüllen, ein Verfahren, das bereits im ersten Weltkriege mit Erfolg angewendet worden war. Der Name Roosevelt wird für immer und ewig kennzeichnend für die Entwicklung sein und die Namen Yalta, Teheran und Potsdam werden die Marksteine dieses Weges bleiben.«289 Besonders häufig wird der polnischen Nation Hass unterstellt, wie es schon in der bekannten Schiederschen Dokumentation 1957 nachzulesen ist: »Infolge des durch die nationalsozialistische Herrschaft genährten Deutschenhasses, der durch das leidenschaftliche polnische Temperament noch gesteigert wurde, fielen die Polen mehr als die westlichen Siegernationen, ja selbst mehr als die Russen der Versuchung anheim, vergangenes Unrecht durch gleiches Unrecht zu vergelten.«290 Neben Ffass wird auch das Rachebedürfnis häufig als Ursache der Vertreibung genannt: »Als gerechte und verständliche Rache wurde und wird weitgehend empfunden, was bei Kriegsende vielen Millionen Deutschen angetan wurde, von Russen, Polen, Tschechen und Jugoslawen.« 29 ' Ähnliche Erinnerungsbilder wurden inzwischen mehreren Generationen deutscher Schulkinder beigebracht, etwa in einem Schulbuch aus dem Jahre 1983: »Wer in die Hand der Roten Armee fiel, war hilflos den Übergriffen der Soldaten ausgesetzt. Jetzt erduldeten die Ostdeutschen die Rache der Sieger für alles Leid, welches das nationalsozialistische Deutschland den Polen und Russen zugefügt hatte.« 292 Die Historikerin Frauke Wetzel stellte im Jahre 2005 sogar fest: »Deutsche Schulbücher sehen das Hauptmotiv für die Vertreibung der Deutschen aus dem Osten in dem Wunsch nach Rache.« 293

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Vergleicht man deutsche Texte aus der Kriegszeit über die Gegner des Großdeutschen Reiches mit den Texten nach 1945 über die Vertreibung, dann kann man kaum vermeiden, auffällige Ähnlichkeiten festzustellen. Daraus läßt sich schlussfolgern, dass es sich lohnt, der Frage nachzugehen, wie weit der Wertekanon der einstigen Nazis in die Köpfe und Herzen ihrer Gegner projiziert wurde. Alltagspsychologisch würde man sagen, dass zu untersuchen wäre, ob hier nicht viele deutsche Autoren weitgehend von sich auf andere geschlossen haben. Für die Vermutung, dass die Sage von Hass und Rache als der vermeintlichen Ursache der Vertreibung und der Misshandlungen von deutschen Zivilisten auf die NS-Propaganda zurückgeht, spricht vieles. Zunächst gilt festzustellen, dass der vermeintliche antideutsche Hass der tschechischen Nation schon vor dem »Beginn der Vertreibung« unterstellt wurde und die Verweise darauf also nicht allein als Ausdruck konkreter Erlebnisse gelesen werden dürfen: »Der Deutschenhaß ist einer Natunnacnt gleich, die in diesem Raum über Vernunft und Gefühl herrscht« 294 , war schon vor Kriegsbeginn in Deutschland zu lesen; der »Deutschenhaß ist das Fundament der tschechischen Wiederaufrichtung und der Kern der Geschichtsauffassung dieses ganzen Volkes« 295 , hieß es anderswo. Auch von den deutsch-polnischen Beziehungen behauptete die NS-Propaganda, dass der Hass eine wichtige Rolle gespielt habe: »Wir sollten nicht so schnell vergessen, daß zwischen Polen und Tschechen in ihrem maßlosen Haß gegen alles Deutsche kein Unterschied bestand und vielleicht auch noch besteht.« 296 Dem oben zitierten >leidenschaftliche[n] polnische[n] Temperament« aus der Schiederschen Dokumentation 1957 entsprechen schon vor dem Krieg verbreitete Bilder von einer angeblich besonders ausgeprägten emotionalen Erregbarkeit der Tschechen: »Wie leicht der Tscheche aufzuputschen ist, beweist ja die Gegenwart zur Genüge. Es liegt das in seinem Wesen. Er ist eben der geborene Hussit, sein Volkscharakter durch seine halbawarische Herkunft bedingt. Daran ändert auch der Umstand nichts, daß man sich manchmal bemüht, dem Scheine nach mitteleuropäische Methoden anzuwenden und den »Demokraten« zu spielen. Alle Demokratien sind scheinheilig und riechen mehr oder weniger nach dem Alten Testament. Die Prager stellt aber noch einen ganz bestimmten Typ dar, denn hier vermählt sich westlerisches und halbasiatisches Wesen.«297 Ähnlich wie Hass gehörte auch der Begriff Rache zu den beliebten NS-Vokabeln, und die Nazis verknüpften damit positive Hoffnungen: »Die Vergeltung ist unser bestes Pferd im Stall«, meinte etwa Goebbels am 12. Juli 1944, als ihm die militärische Lage Anlass zur Besorgnis bot. 298 Plakate, die die Redewendung »Hass und Rache« als Überschrift trugen und die herannahende Rote Armee der Grausamkeiten beschuldigten, wurden in Ostpreußen verbreitet, noch bevor die Deutschen dort der Roten Armee begegneten. 299 Es überrascht daher kaum, dass viele Deutsche Hinweise auf Rache für eine naheliegende Erklärung ihrer eigenen Lebensbedingungen nach der Niederlage der Wehrmacht hielten. Meditationen über Rache gehörten zu den beliebtesten Themen der deutschen Publizistik in der Nachkrieg-

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zeit, halfen aber wenig, das Geschehen zu verstehen. So wunderte sich beispielsweise Emil Franzel über die Tschechoslowakei: »Wenn es vielleicht zu verstehen war, daß die Tschechen im Protektorat [...] blutige und grausame Rache nahmen, so hätten sie eigentlich im Sudetenland, auch wenn sie Vergeltung für 1938 üben wollten, weder Ursache noch Anlaß gehabt, den Deutschen die Menschenrechte abzuerkennen.«'00 Der Verfasser dieser Zeilen suchte nicht nach historischen Erklärungen und hinterfragte seine Vermutung, die Tschechen hätten Rache geübt, nicht. Nach jahrelanger NS-Propaganda erschien es ihm und anderen wohl selbstverständlich, dass die Kriegsgegner der Deutschen rachsüchtig gewesen seien. Die Sage von Hass und Rache weist allerdings nicht nur auf mentalgeschichtliche Kontinuitäten hin. In einer naiv durchsichtigen Weise verdeckt sie zugleich den Zusammenhang zwischen dem Krieg und der Vertreibung. Nicht nur die gängigen Erinnerungen an den Prager Aufstand, sondern die gesamte Vertreibungsliteratur durchzieht nämlich ein konstantes Motiv: Bis zum Beginn von Flucht und Vertreibung sollen die Deutschen im Osten in einer vermeintlich friedlichen, ja idyllischen Welt gelebt haben. Im Erinnern an die Vertreibung wird das Kriegsgeschehen meist stillschweigend übergangen und so die Vorstellung konstruiert, als sei die Vertreibung ein von der Geschichte des Krieges unabhängiges Ereignis gewesen. Der Kriegsausbruch, der für die meisten Europäer eine der zentralen Kriegserfahrungen war, wird kaum auch nur erwähnt, und als Beginn der Leidenserfahrungen der Vertriebenen wird - neben dem Prager Aufstand vom Mai 1945 - oft erst der Vormarsch der Roten Armee in das Großdeutsche Reich genannt. Damit sei der Hass quasi importiert worden. Viele Augen- und Zeitzeugenberichte haben so die bis heute populäre Legende von einem schlagartig unterbrochenen friedlichen Leben der Deutschen begründet. Anhand eines viel gelesenen Zeitzeugenberichts über Ostpreußen können wir uns diese Erinnerungsform veranschaulichen. »Noch einmal, ehe die Kriegswalze darüber hinging, entfaltete sich meine ostpreußische Heimat in ihrer ganzen rätselvollen Pracht«, erinnerte sich der Arzt Hans Graf von Lehndorff (1910-1987) an den Sommer 1944 in seinen vielfach aufgelegten Tagebuchaufzeichnungen. In seinen Augen sollen sich die ersten Vorboten einer »nahenden Katastrophe« in den letzten Junitagen 1944 bemerkbar gemacht haben. In seiner Darstellung wird allerdings mit banalen rhetorischen Mitteln der Blick für die historische Wirklichkeit getrübt; statt Informationen begegnen wir Hinweisen auf »leichte, kaum ins Bewußtsein dringende Stöße, die das sonnendurchglühte Land wie von fernem Erdbeben erzittern ließen«. Eines Tages will der Verfasser überrascht worden sein: »Und dann waren die Straßen auf einmal überfüllt mit Flüchtlingen aus Litauen, und herrenloses Vieh streifte quer durch die erntereifen Felder, dem gleichen unwiderstehlichen Drang nach Westen folgend.«301 Diese Formulierung suggeriert zunächst, ein »Drang nach Westen« habe an der Wiege der Vertreibung gestanden, aber Lehndorff lässt keinen Zweifel «daran aufkommen, wo er die Ursachen verortet. In seinen Tagebuchaufzeichnungen figurieren die Russen als die Ursache der »Katastrophe«, die die deutsche Bevölkerung plötzlich heimgesucht habe. Die Erklärung bleibt die gleiche wie in den Prager Legenden: Hass und Rache sollen auch das Verhalten der Rotarmisten be-

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stimmt haben. Auch hier ähnelt die Bildersprache der des Völkischen ters. 3 ° 2

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»Ich hatte erwartet, es würde ein wildes und mit Recht rachsüchtiges Volk über uns hereinbrechen und dabei gleich im ersten Augenblick so viel vernichten, dass der einzelne gar nicht zum Nachdenken kommen würde. Für den, der lebend hindurchkäme, würde die Lage so neu sein, daß sich sein Verhalten darin von selbst ergeben würde. Er könnte dann gewissermaßen ein neues Leben beginnen.«30' So meditierte der inzwischen in Königsberg tätige Arzt Hans Graf von Lehndorff im April 1945. Es sollte anders kommen, der Neuanfang stellte sich nicht so rasch ein, wie er erwartete, da er in den Russen keine ihm verständlichen Eigenschaften zu entdecken vermochte. »Woher kommen diese Typen, Menschen wie wir, im Banne von Trieben, die zu ihrer äußeren Erscheinung in einem grauenvollen Mißverhältnis stehen?« fragte sich er sich, als er die »stumpfe bellende Sprache« der Russen hörte: »das ist der Mensch ohne Gott, die Fratze des Menschen«. 304 Die Russen verglich er mit Tieren: »Nun ging es wie eine Rattenflut über uns, sämtliche ägyptische Plagen übertreffend«, und berichtete vom »Treiben der Schlachtfeldhyänen« 305 ; nur die Mongolen kommen in dieser Darstellung besser weg als im Völkischen Beobachter: Mit ihnen käme er besser zurecht, meinte der Verfasser, sie seien »einheitlicher, besser erzogen und darum in ihrer Substanz dem westlichen Geist wohl weniger ausgeliefert. Ihre Wildheit wirkt nicht beleidigend.« 306 Mit Erzählungen darüber, wie sich Russen, Polen oder Tschechen am Beginn der Vertreibung gefühlt und benommen haben sollen, fängt nahezu jede Darstellung der Vertreibung an; über den Krieg und seine Folgen dagegen erfahren die Leser kaum etwas. N u r kurzen Hinweisen auf die NS-Verbrechen begegnen wir stets, offensichtlich damit die These, dass die Ursache der Vertreibung in Hassgefühlen und Rachebedürfnissen der Osteuropäer zu suchen sei, an Plausibilität gewinne. Die Bilder von der Vertreibung als der vermeintlichen Folge kollektiver, emotional geleiteter Handlungsweisen von Osteuropäern erfreuen sich inzwischen einer weltweiten Popularität. Das liegt wohl daran, dass die deutschsprachige Literatur häufiger als russisch-, polnisch- oder tschechischsprachige Geschichtsbücher gelesen wird. Meistens unterscheiden sich solche Erinnerungsbilder voneinander lediglich in der Wortwahl. Während etwa der amerikanische Historiker Norman Naimark mit seinem weltweit bekannten Bestseller Flammender Haß: Ethnische Säuberung im 20. Jahrhundert^ den Hass in den Vordergrund stellt, lenkt der österreichische Historiker Arnold Suppan die Aufmerksamkeit auf die Rache: »Rache und Vergeltung gehörten 1944/46 zu den »Bedürfnissen« vieler Einwohner Ostmitteleuropas, die deutsche Besatzungs- und Bevölkerungspolitik erlitten haben«. 308 Wie andere hat auch keiner dieser beiden Historiker sich die Mühe gemacht, seine Thesen anhand empirischer Daten zu überprüfen und nachvollziehbare Begründungen dafür vorzulegen, warum mal auf Hass und mal auf das Rachebedürfnis hingewiesen wird. Festzustellen bleibt, dass sowohl in den Zeitzeugenberichten und der damaligen Publizistik als auch in der Fachliteratur ständig die geschilderten tradierten rhetorischen Schablonen auftauchen. Solche Wiederholungen sind indessen weder hilfreich, um das vergangene Geschehen kennenzulernen, noch um es zu erklären.

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Denn wie groß der Anteil jener Rotarmisten war, die gemordet und Frauen vergewaltigt haben, wissen wir ebensowenig wie wir uns eine Vorstellung davon machen können, wie viele Polen oder Tschechen aus Hass und Rachegelüsten zu Mördern geworden sind. Über Stalins Politik gegenüber den Gewalttätigkeiten der Rotarmisten sowie über die öffentliche Kritik und die gerichtliche Verfolgung einzelner Gewalttaten in der Tschechoslowakei und in Polen ist im deutschen Erinnern kaum etwas bekannt. Bisher wurden auch keine Versuche unternommen, empirisch nachzuweisen, dass etwa der US-Präsident Franklin D. Roosevelt oder der britische Premier Winston Churchill von Gefühlen des Hasses und der Rache geleitet wurden, als sie während des Zweiten Weltkrieges über die Umsiedlung der deutschen Bevölkerung nachdachten. Die Autoren, die die Sage von Hass und Rache verbreiten, sind offensichtlich nicht einmal auf die Idee gekommen, nach einer empirischrationalen Erklärung der Vertreibung und ihrer Ursachen zu suchen.

Edvard Benes: >das schwarze Biest< als Ursache Den tschechoslowakischen Präsidenten Edvard Benes (1884-1948) könnte man mit Fug und Recht als den »negativen Star« der deutschen Vertreibungsliteratur bezeichnen. Es sei »mit Sicherheit anzunehmen, daß der entscheidende Initiator des Austreibungsgedankens Dr. Benes selbst gewesen« sei, wurde schon in dem von führenden sudetendeutschen Politikern 1951 herausgegebenen Sudetendeutschen Weißbuch festgestellt.309 Benes soll sich die Vertreibung der deutschen Minderheit aus der Tschechoslowakei ausgedacht und unter Ausnutzung des Krieges die Unterstützung der USA, Großbritanniens und der Sowjetunion für seine Pläne gewonnen haben. »Die britische Öffentlichkeit ist in den entscheidenden Jahren durch eine raffinierte, ja geradezu diabolische Propagandatechnik irregeführt worden«'10, schrieb 1958 Wenzel Jaksch über Beness vermeintliche Fähigkeit, die britische Nation zu verwirren. Stalin dürfte dagegen aus Dankbarkeit gegenüber Benes gehandelt haben, vermutete Jaksch: Stalin habe »das unverhoffte Glück« gehabt, »daß ein Mann sich unterfing, im Ablauf des großen Weltdramas Zünglein an der Waage spielen zu wollen. Das war Eduard Benesch, der durch seine diplomatischen Aktionen des Jahres 1943 Stalin die Fäden der Initiative in die Hände spielte.«3" Edvard Benes gilt weithin als weltpolitischer Intrigant und eigentlicher Verursacher der Vertreibung. Politiker, Publizisten und Wissenschaftler bedienen sich der Benes-These gleichermaßen. »Dem Präsidenten Benes bleibt also die geschichtliche Verantwortung für die Entstehung eines Vertreibungssyndroms, dem dann nicht nur die Sudetendeutschen, sondern alle Deutschen östlich von Oder und Neiße zum Opfer fielen«, schreibt der Historiker Alfred de Zayas in seinem Bestseller Die Nemesis von Potsdam^12, und wiederholt diese Behauptung immer wieder in leicht voneinander abweichenden Formulierungen, aber stets ohne jegliche geschichtswissenschaftliche Belege:

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Teil i: Die Vertreibung 60 Jahre danach »Die Idee, die Ostdeutschen zu verjagen, stammte nicht von Stalin, von Churchill oder Roosevelt, sondern von Dr. Eduard Benesch, dem Präsidenten der tschechoslowakischen Exilregierung in London. Er wollte eine Großtschechoslowakei ohne deutsche Minderheiten und betrachtete das Münchner Abkommen von 1938, durch das das seit Jahrhunderten von Deutschen besiedelte Sudctenland zum Reich geschlagen worden war, als nichtig.«3'3 Das Bild Edvard Beness als des für die Vertreibung verantwortlichen Staatsmanns propagierten zunächst seine sudetendeutschen Widersacher wie Wenzel Jaksch und Rudolf Lodgman von Auen. Wie der Historiker Tobias Weger zeigt, konnten sie dabei auf eine beachtliche Tradition aus der Tschechoslowakei der Vor- und Kriegszeit zurückgreifen. 3 ' 4 In Nachkriegsdeutschland fanden sie viele Nachahmer. Das strukturell gleichbleibende Bild wurde von vielen Autoren nur jeweils mit einem leichten persönlichen Farbenkolorit ergänzt, wie die drei folgenden Beispiele aus den drei letzten Jahrzehnten veranschaulichen:

Edvard Benes und die Vertreibung »Geistiger Vater und unermüdlicher Protagonist einer Totalvertreibung der deutschen Bevölkerung aus Ost-, Südost- und Ostmitteleuropa aber war, wie die alliierten Quellen eindeutig belegen, der tschechische Politiker Edvard Benes, der bereits 1920 der Pariser Friedenskonferenz eine Denkschrift zur Zerschlagung Mitteleuropas vorgelegt hatte. [...] Im Verlauf des Zweiten Weltkrieges - maßgeblich unterstützt durch die im deutschen Namen verübten Völkerrechtsverletzungen und die Bankrottpolitik Hitlers - konnte Benes dann Churchill und später erst Roosevelt und Stalin für seine Pläne gewinnen.«5'5 »Neben Stalin und Hitler ist der Kleinbürger aus Koschlan bei Kralowitz, Präsident in der ersten, im Exil und in der zweiten Tschechoslowakei, hauptschuldig an dem millionenfachen Elend, das Ausrottungen, Umsiedlungen und Vertreibungen in Europa hervorriefen. Mehr noch: Er gilt als der intellektuelle Urheber der Vertreibung in West und Ost.«316 »Edvard Benes ist verantwortlich für die Kollektivstrafe der Vertreibung und Entrechtung von drei Millionen Deutschen aus dem Sudetenland als tschechoslowakische Staatsbürger. Bis heute sind die Benes-Dekrete eine offene Wunde in Europa.«" 7

Auch die Erklärungen für Beness politisches Wirken weisen eine lange Tradition auf. Der schon früher zitierte »Vater der Vertriebenen«, Emmanuel Reichenberger, kritisierte Beness gesamtes Lebenswerk: »Der Lebensweg Beneschs ist gezeichnet mit Verrat, mit dem Blut von Millionen Unschuldiger [...] Er steht in einer Reihe mit den Hitler und Himmler, von denen er sich nur durch größere Verlogenheit und Heuchelei unterscheidet.« 3 ' 8 Reichenberger erklärte Beness angeblich herausragenden weltpolitischen Einfluss nicht nur mit dessen persönlichem Handeln, sondern auch mit dessen Beziehungen zu den Freimaurern: »Seine Mitgliedschaft im Grand Orient Paris ist wohl der Schlüssel zur Erklärung des Einflusses und der Elogen der - von derselben Macht beherrschten - Weltpresse.« ,I9 Heute begegnen wir nicht unähnlichen, wenn auch anders klingenden Erklärungen.

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So meint etwa die Grünen-Politikerin Antje Vollmer: »Genau genommen handelt es sich bei dem Phänomen Benes um eine Spätfolge der Französischen Revolution.«' 20 Benes sei Opfer einer in Europa im 19. und 20. Jahrhundert verbreiteten Wahnidee geworden: »Die Nation einen und für sich erhalten! Edvard Benes war wie fast alle westlichen Politiker von diesem Gebot geprägt«. Sie erklärt das Bild Edvard Beness als des Urhebers der Vertreibung folgendermaßen: »Nur weil diese Wahnidee von den meisten westlichen Politikern geteilt wurde, stieß Benes' Vertreibungspolitik auf so wenig Widerstand, ja geradezu auf Unterstützung in Amerika und Europa.««321 Wo früher einmal der Hinweise auf die Freimauererei als historische Erklärung angegeben wurde, scheint man sich heute der Französischen Revolution zu bedienen. Das Bild Edvard Beness als des geistigen Vaters, des Hauptschuldigen und des für die gesamte Vertreibung verantwortlichen Politikers beruht auf einer Sicht der europäischen Geschichte, die von den gängigen Erinnerungen an den Zweiten Weltkrieg abweicht. Der amerikanische Präsident Roosevelt, der britische Premier Winston Churchill und der sowjetische Diktator Stalin gelten außerhalb Deutschlands nicht als verführte Marionetten des tschechoslowakischen Exilpolitikers, sondern als führende Staatsmänner im Kampf gegen den Expansionismus des nationalsozialistischen Regimes. Benes selbst wird als eine bedeutende Figur auf der Bühne der europäischen Diplomatie seiner Zeit angesehen. Er gilt als einer der Staatsmänner wie Nicolas Politis, Take Ionescu oder Nicolae Titulescu, die die kleineren Staaten repräsentierten und zugleich das europäische politische Geschehen mitzuprägen vermochten, wobei jedoch Benes eine besondere symbolische Rolle zukam, wie es der Historiker Paul E. Zinner formuliert: »Die Schaffung der Tschechoslowakei, an der Benes zusammen mit Thomas G. Masaryk und Milan R. Stefanik maßgeblich mitbeteiligt war, galt als Symbol der neuen, demokratischeren internationalen Ordnung in Europa. Die Zerstörung der Tschechoslowakei 1938 symbolisierte wiederum den Zusammenbruch dieser Ordnung und den diplomatischen Bankrott der Alliierten.«322 Wie der britische Historiker Martin D. Brown zeigt, musste sich Benes dennoch in den Diplomatenstuben während des Zweiten Weltkriegs mit geringer Aufmerksamkeit und noch geringerem Entgegenkommen der kriegführenden Regierungen zufrieden geben, wenn es um die Anliegen seines Staates ging.' 23 N u r da und dort, wo sich das Anliegen Beness und die deutschlandpolitischen Interessen der Großmächte berührten, war er als Gesprächspartner willkommen.

Das Benes-Stereotyp sei »bei genauer historischer Betrachtung mitnichten ein Produkt der Vertreibung«, schreibt Tobias Weger, »sondern die Fortführung einer bereits durch den Nationalsozialismus gezielt initiierten Dämonisierung«. 324 Damit verweist er auf die Geschichte der deutschen Benes-Bilder, und in der Tat gehörte dessen Image schon vor dem Zweiten Weltkrieg zu den populären deutschen Feindbildern. Das bemerkte etwa Carl von Ossietzky im Jahre 1931: »Figuriert nicht der höfliche, immer verständigungsbereite Herr Benesch in der deutschen Presse

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Abb. 5 Der einstige tschechoslowakische Präsident Edvard Benes wird in Deutschland heute ähnlich erinnert, wie er schon vor dem Zweiten Weltkrieg wahrgenommen wurde - allen formal-stilistischen Veränderungen zum Trotz: Das Image Beness 1938 als eines bedrohlichen »enfant terrible« Europas hat sich in der sudetendeutschen Presse 2009 in das Bild eines die EU bedrohenden Virus verwandelt.

ACHTUNG! Die EU ist mit dem Beneä-Virus infiziert!

Auf der Suche nach Erklärungen ewig als das schwarze Biest, kriegt er nicht sogar schlechtere Zensuren ab als der finster umwölkte Pilsudski?«' 25 Damals warnte Ossietzky vor der zunehmenden Isolierung Deutschlands in Europa infolge einer verfehlten Außenpolitik und meinte, die Schwierigkeiten wären geringer, wenn man »in Deutschland die Tschechoslowakei nicht von vornherein als einen neuen, durch ein gütiges Geschick zugefallenen Erbfeind behandelt und in dem verbindlichen Herrn Benesch nicht immer einen Hohenpriester der höllischen Heerscharen gesehen hätte«. 326 Heute erinnert sich kaum noch jemand an Ossietzkys Warnungen, und auch die Ursachen des Feindbilds Benes sind in Vergessenheit geraten. Edvard Benes wurde im damaligen Deutschland, etwa in einem Band über Köpfe der Weltpolitik aus dem Jahre 1935, in der Nähe des geistigen Erbes der Französischen Revolution verortet, und das galt nicht als ein Kompliment. »Der Sieg der französischen Revolution über Europa, ja für einen Augenblick fast über die ganze Welt, erreichte seinen H ö h e p u n k t 1919«, hieß es mit Empörung. Die Gründe dafür sind heute kaum nachvollziehbar: Versailles solle Deutschland vernichten, und deshalb sei dort die »Gründung der neuen Staaten in Zwischeneuropa mit dem Geiste der französischen Demokratie sanktioniert« worden und »das überstaatliche Parlament, die Genfer Liga der Nationen, die das demokratische Deutschland als »Völkerbund« bezeichnet,« entstanden. 327 Benes wurde unter die »Vertreter der Demokratie« eingeordnet. 328 Er habe sich »für den französischen Staatsbegriff« und damit »gegen das deutsche Volk« 329 entschieden, und das nahmen ihm damals viele Deutsche übel. Wenn Benes von einem »guten und korrekten Verhältnis zu unseren deutschen Nachbarn« spreche, handle es sich um ein bloßes Täuschungsmanöver, um den »Terror gegen die Deutschen in der Tschechoslowakei« zu vertuschen: »Er leugnet praktisch, wenn auch nicht in seinen wendigen Reden, die Gesetze der tausendjährigen Symbiose des tschechischen mit dem deutschen Volke«." 0 Bilder »des glatten und zynischen Herren Benesch« waren schon in der Weimarer Republik verbreitet, aber die Nationalsozialisten waren von einer geradezu neurotischen Abneigung gegen Benes besessen, wie etwa Hitlers Rede vom 26. September 1938 im Berliner Sportpalast zeigt: »Herr Benesch war entschlossen, das Deutschtum langsam auszurotten! (Die PfuiRufe dauern minutenlang an.) Er hat unzählige Menschen in tiefstes Unglück gestürzt. Er hat es fertiggebracht, Millionen Menschen scheu und ängstlich zu machen. Unter der fortwährenden Anwendung seines Terrors ist es ihm gelungen, diese Millionen mundtot zu machen. [...] Dort ist Herr Benesch! Und hier stehe ich! Wir sind zwei Menschen verschiedener Art. Als Herr Benesch sich in dem großen Völkerringen in der Welt herumdrückte, da habe ich als anständiger deutscher Soldat meine Pflicht erfüllt. Und heute stehe ich nun diesem Mann gegenüber als der Soldat meines Volkes!«' 3 ' Benes galt damals als »Totengräber Deutschlands in Versailles« 332 , weil sein Vorgänger, der erste tschechoslowakische Präsident Tomas G. Masaryk, sowie er selbst als »Philosophen, Abenteurer, Staatsgründer« im Ersten Weltkrieg angeblich die Regierungschefs von Frankreich und Großbritannien manipuliert und die Tschechoslowakei als »Lohn« für ihre Dienste »geschenkt« bekommen hätten:

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Teil i: Die Vertreibung 60 Jahre danach »Clemenceau und Lloyd George haben diese ihr Schicksal unverdiente [sie] Völker dem größten politischen Hochstapler, der durch die Weltgeschichte gegangen ist, als Lohn für treu geleisteten Kriegsverrat zum Geschenk gemacht. Clemenceau und Lloyd George haben den großen Träumer aus Washington nach Bergung der Kriegsbeute in den geistigen Verfall getrieben, über den Ozean heimgeschickt - als lästigen Ausländer! Clemenceau und Lloyd George segneten mit den Lippen das Selbstbestimmungsrecht der kleinen Völker, setzten die Tyrannis in Prag auf den Thron und schickten Millionen Menschen in die politische Knechtschaft. Die Arme des Polypen griffen von Prag nach Nord und Süd, nach Ost und West, sie erfaßten Deutsche, Slowaken, Ungarn, Ruthenen und Polen und erstickten deren Religion und Kultur.«333 Wohl deshalb schrieb auch fast sechs Jahre später der Völkische Beobachter dem Exilpräsidenten Benes abermals eine irrational überschätzte Wirkung zu. Jetzt hieß es, Benes sei »zu einem politischen Verbrecher europäischen Ausmaßes« geworden. 334 Goebbels notierte am 2. April 1945 in seinen Tagebüchern: »Dieser senile politische Globetrotter glaubt jetzt wieder vor der Erreichung seiner infernalischen Ziele zu stehen.« 335 Dass ehemalige Nationalsozialisten auch später Benes für die Folgen des Zweiten Weltkriegs verantwortlich machten, ist angesichts solcher Traditionen kaum überraschend. Erstaunlich ist allerdings, dass Beness politische Wirkungsmöglichkeiten noch heute ähnlich überschätzt werden. Die Sudetendeutsche Landsmannschaft wehrt sich vehement gegen jede »halbintellektuelle Schaumschlägerei zur Entdämonisierung eines Dämons namens Edvard Benes«." 6 Andere deutsche Stimmen warnen mit ähnlicher Eindringlichkeit: »Der Geist Beneschs spukt weiter durch das tschechische Ffaus«, meint etwa die Tageszeitung Die Weltii7, während die BdV-Präsidentin Erika Steinbach sogar ganz Europa für bedroht hält: »Der Böse Geist Edvard Benes wirft seinen langen Schatten über Europa. Benes lebt! Es betrifft beileibe nicht nur die vertriebenen und die ermordeten Sudetendeutschen. Alle Europäer, denen Menschenrechte und Zukunft Europas am Herzen liegen, müssen zutiefst beunruhigt sein [...] Die EU muss alles daran setzen, solchem Ungeist keinen Raum in ihrer Gemeinschaft zu geben. Der jetzt durch die Europäische Kommission eingeschlagene Weg, darüber hinweg zu sehen, stellt Europas Weichen leichtfertig falsch.«(sie)338 Allen historischen Forschungen zum Trotz wirken gefestigte Redewendungen nach wie vor prägend auf das deutsche Erinnern, wenn es um die Suche nach den Ursachen der Vertreibung geht. So figuriert der einstige tschechoslowakische Präsident Edvard Benes in der deutschen Presse nicht nur immer noch als »das schwarze Biest«339, sondern er spielt offensichtlich sogar auf der Phantasiebühne der deutschen Geschichtsbilder weiterhin eine weltenbewegende Rolle. Mit einer rationalen Geschichtsbetrachtung oder gar Erklärung haben derartige Bilder freilich wenig zu tun.

Dass im kollektiven Speichergedächtnis der deutschen Nation auch andere Erinnerungen an Edvard Benes vorliegen, weiß heute kaum jemand. Er sei keineswegs

Auf der Suche nach Erklärungen ein Deutschenhasser gewesen, ja geradezu im Gegenteil, er habe länger als viele Deutsche an den Sieg der deutschen Demokratie geglaubt, berichtet der Philosoph und Pädagoge Friedrich Wilhelm Foerster (1869-1966) in seinen Memoiren im Zusammenhang mit einer Begegnung vom Frühjahr 1938: »Im gleichen Frühjahr war Benesch bei mir in Paris, tief betrübt und ohne jede Hoffnung. Er sah das Kommende mit voller Klarheit voraus und wußte auch, daß es zu spät war, die Katastrophe zu verhindern. Diese hatte ich Benesch im Sommer 1925 mit größter Sicherheit vorausgesagt. Er rief damals: »Sind Sie aber pessimistisch! Ich bin überzeugt davon, daß ein demokratisches Deutschland allen Schwierigkeiten zum Trotze zum Durchbruch kommen wird.« Als nun 12 Jahre später der tschechische Staatsmann ganz gebrochen vor mir saß, erinnerte ich mich der erschreckenden Sicherheit, mit der in den Honigmonaten des Völkerbundes die Sieger sich nicht genug tun konnten an vertrauensvollen Konzessionen an die besiegte Nation, deren machthabende Kreise hinter der demokratischen Fassade auf den Augenblick warteten, in dem sie die pazifistische Maske abwerfen und das abgebrochene Unternehmen in vergrößertem Maßstabe wieder aufzubauen imstande sein würden.« 340 Während der Weimarer Republik hatten die Feindbilder der Kriegspropaganda des Ersten Weltkriegs (angereichert mit den in den Anti-Versailles-Kampagnen entwickelten Bildern) in den Köpfen vieler Deutscher fortgelebt, und deshalb hatten sich die Nazis der Bilder von Benes als einem »schwarzen Biest« mit Erfolg bedienen können. Dass ihm nach dem Zweiten Weltkrieg in der Vertreibungsliteratur eine ähnliche Rolle zukam, ist erstaunlich, zumal sich Historiker wie Johann Wolfgang Brügel schon vor Jahrzehnten um Aufklärung bemühten: »Die Versuche, allen nachprüfbaren Tatsachen zum Trotz, Benes als einen Deutschenfeind von Anbeginn hinzustellen, sind Legion. Da wird immer wieder behauptet, er habe schon in der ersten Republik einen Zustand angestrebt, in dem sich Staatsgrenzen mit Volksgrenzen decken, d. h. die Deutschen entweder aus dem Lande entfernt oder entnationalisiert werden. Die Schwierigkeit liegt in diesem Fall nur darin, eine solche faktenwidrige Behauptung auch zu beweisen. [...] Was immer Benes im zweiten Weltkrieg und nachher in der deutschen Frage gesagt und getan haben mag, bis 1938 war er der Apostel der nationalen Verständigung und der Gerechtigkeit der Weimarer Republik gegenüber, was in unzähligen Erklärungen der deutschen Diplomatie, der deutschen Demokraten der Tschechoslowakei und in internen Äußerungen selbst der deutschen Nationalsozialisten zum Ausdruck kommt.«' 4 ' Johann Wolfgang Brügel belegt seine Thesen ausführlich, und genauso sorgfältig widerlegt er die oft geäußerte Vermutung, dass die Vertreibung der Deutschen aus der Tschechoslowakei im voraus geplant gewesen sei: »Aus dem reichhaltig erhalten gebliebenen gedruckten und ungedruckten Material kann man nur den Schluß ziehen, daß Benes zwischen 1938 und 1940 überhaupt keine klare oder auch nur eine unklare Vorstellung hatte, was mit den Sudetendeutschen nach einem siegreichen Krieg geschehen solle, außer daß es auch in einer neuen Tschechoslowakei eine ansehnliche deutsche Minderheit geben werde. Er hatte bloß den negativen Wunsch, daß diese Minderheit nicht wieder die numerische Stärke der Vorkriegszeit erreichen solle, und das wollte er durch einen terri-

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Teil i: Die Vertreibung 60 Jahre danach torialen Verzicht, oder, besser gesagt, durch einen Verzicht auf die Wiedergewinnung des ganzen in München verlorengegangenen Gebiets erzielen.«342 Die Rolle Edvard Beness in der Geschichte der europäischen Demokratie wird außerhalb Deutschlands, bei allen Einzelkontroversen, vorbehaltlos anerkannt. Er ist somit eine wichtige Figur für die Geschichte der europäischen Wertegemeinschaft. Das ist in Deutschland nur wenig bekannt und die Gründe dafür werden dementsprechend nicht verstanden. Solange die ihn betreffenden Informationsdefizite in Deutschland nicht überwunden werden, werden aber auch Behauptungen über Beness Urheberschaft für das »Vertreibungssyndrom«' 4 ' die Suche nach den Ursachen der Vertreibung erheblich behindern. Autoren, die sich überlieferter Benes-Stereotypen bedienen anstatt zu deren kritischer Aufarbeitung beizutragen, können weder unser Wissen über Benes noch über die Geschichte der Vertriebenen bereichern.

Von der mühsamen Ursachensuche eines Historikers Einer der wenigen Vertreibungshistoriker, die sich um eine Erklärung der Ursachen bemühen und eine entsprechende wissenschaftliche Forschung betreiben, ist Detlef Brandes: »Mir geht es um eine Antwort auf die Frage, warum und wie es zur Vertreibung der Deutschen aus Mitteleuropa gekommen ist, warum unzweifelhaft demokratische Politiker wie Benes und Sikorski oder Mikotajczyk, warum die tschechoslowakische und polnische Regierung und die tschechischen und polnischen Widerstandsgruppen jeglicher politischer Richtung, warum nicht nur Stalin, sondern eben auch Churchill und Roosevelt, die Führer zweier westlicher Demokratien, und die britischen, amerikanischen und sowjetischen Beamten und wissenschaftlichen Berater, warum sie alle die Vertreibung und Aussiedlung der Deutschen aus der Tschechoslowakei, Polen und Ostdeutschland für unumgänglich hielten.«344 Detlef Brandes glaubt zwei »Hauptmotive der Vertreibung« entdeckt zu haben, und zwar den »Wunsch nach Vergeltung und das Streben nach einem national homogenen Staat«.345 Diese These versucht er am ausführlichsten in seinem Buch über den Weg zur Vertreibung 1938-1945 zu begründen. 346 Brandes' Rekonstruktion des »Weges« zur Vertreibung beginnt mit dem Abschnitt »Erste Pläne der tschechoslowakischen und polnischen Regierung und Widerstandsgruppen zwischen Münchener Abkommen und der Niederlage Frankreichs«. 347 Tschechische und polnische Exilpolitiker erscheinen hier als die bewegende Kraft eines historischen Geschehens von großer Tragweite, die Großmächte dagegen als passive Mittäter. Dieses Bild hat der Autor seit der Veröffentlichung seiner umfangreichen Studie mehrfach wiederholt: »Schon im Krieg forderten Polen und Tschechen die Zwangsaussiedlung der Deutschen aus der Tschechoslowakei, aus Polen und Ostdeutschland - und die alliierten Großmächte stimmten diesem Verlangen zu.« 348 Die einschlägigen Pläne seien als Reaktionen

Auf der Suche nach Erklärungen auf das nationalsozialistische Regime entstanden: Der »Ausgangspunkt der tschechoslowakischen Vertreibungspläne waren die Erfahrungen des Jahres 1938« 349 , der »Ausgangspunkt der polnischen Annexions- und Vertreibungspläne war die überraschend schnelle Niederlage im »Septemberkrieg« 1939«. ,5 ° Manchmal schildert er nahezu als Wettlauf anmutende Planungen: »Die polnische Exilregierung hatte bei Kriegsbeginn in jeder Hinsicht einen Vorsprung vor dem tschechoslowakischen politischen Exil. [...] Dieser zeitliche Vorsprung wirkte sich auch auf die Vorlage der Annexions- und Aussiedlungspläne beider Regierungen aus.« 35 ' Darüber hinaus hätten beide Regierungen im Laufe des Krieges steigende Forderungen entwickelt, insbesondere die polnische: »Das Ausmaß der Annexionen und der deutschen Bevölkerung, die ausgesiedelt werden sollte, stieg im Falle Polens im Laufe der Verhandlungen über den teilweisen oder vollständigen Verlust der polnischen Gebiete hinter der Curzon-Linie.« 352 Brandes bietet seinen Lesern kenntnisreich eine Zusammenstellung von Spuren, die als Schritte auf dem Weg zur Verwirklichung von Annexions- und Vertreibungsplänen tschechischer und polnischer Politiker erscheinen können. Der »Weg zur Vertreibung«, den er beschreibt, verläuft in seiner Schilderung nicht geradlinig, denn er konstruiert ein Bild, in dem sich die Großmächte auf dem »Weg zur Vertreibung« von den vermeintlichen »Planern« nur mühsam hätten überzeugen lassen. Die Frage, warum es zur Vertreibung gekommen sei, verwandelt Brandes in das Bild eines Katz-und-Maus-Spiels zwischen den polnischen und tschechischen Exilpolitikern einerseits und den britischen, amerikanischen und sowjetischen Diplomaten und Politikern andererseits. Die wichtige Frage, wie die vermeintlichen Schreibtisch-Pläne einzelner Exilpolitiker mit dem »Beginn der Vertreibung« zusammenhängen, untersucht Detlef Brandes indessen nicht. Sein Bild des Vertreibungsbeginns ist differenzierter als das der Saga von Hass und Rache, aber auch er lässt zahlreiche Fragen unbeantwortet: »In der Zeit von Oktober 1944 bis März 1945 wurden rund 100 000 der 130140 000 Deutschen aus der Slowakei nach Westen evakuiert, und zwar ins »Protektorat«, ins Sudetenland und nach Österreich. Schlesier flohen nach Westen, d. h. zum Teil ebenfalls ins Sudetenland und »Protektorat«. Eine umfassende Evakuierung der Sudetendeutschen gab es nur im Ostsudetenland. Den meisten Flüchtlingen gelang es nicht, sich vor der Roten Armee in den amerikanisch besetzten Teil Böhmens in Sicherheit zu bringen. Wehrlos waren sie Raubzügen und Gewalttaten von Tschechen ausgesetzt, die die Gelegenheit nutzten, sich zu bereichern und an ihnen ihre Wut über die erlittene Unterdrückung auszulassen. Eine einzige Einheit schickte 400 Waggon-Ladungen mit Beute nach Prag. Der Präsident erließ Dekrete, die den Deutschen und Magyaren die staatsbürgerlichen Rechte entzogen und sie enteigneten, die Regierung heizte den »Volkszorn« an, auch um den Westmächten zu beweisen, daß der Transfer schnell durchgeführt werden müsse, und die Befehlshaber der Armee-Einheiten, die ins Grenzgebiet geschickt wurden, feuerten ihre Untergebenen an, hart gegen die Deutschen, »unsere Feinde«, vorzugehen.«353 Hier werden mehrere Ursachen der Gewaltausbrüche und der Misshandlung deutscher Zivilisten nach Kriegsende angedeutet, und Brandes weist auch auf das Fehlen einer geordneten staatlichen Verwaltung hin:

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Teil i: Die Vertreibung 60 Jahre danach »Hetzreden von Politikern, zentrale Weisungen, die den örtlichen Behörden einen weiten Interprctations- und Handlungsspielraum ließen, selbsternannte Rächer für die NS-Verbrechen und von Bereichcrungssucht getriebene Einzelne und Gruppen wirkten zusammen, so daß die Deutschen der Tschechoslowakei, Polens und Ostdeutschlands in dieser Phase der »wilden« Vertreibung schärfsten Repressalien ausgesetzt waren und zahlreiche Todesopfer zu beklagen hatten.«' 54 Detlef Brandes' Darstellung des Weges zur Vertreibung bietet sehr viele Einzelheiten, die in der sonstigen Vertreibungsliteratur nicht erwähnt werden. Allerdings untersucht er nicht die Zusammenhänge zwischen ihnen, u n d deshalb kann er wenig über die Ursachen der von ihm beobachteten Tatsachen aussagen. Warum und wie wurden Deutsche aus der Slowakei zwischen Oktober 1944 und März 1945 evakuiert? Warum befanden sich Deutsche aus Schlesien in der Tschechoslowakei, so dass sie von Tschechen misshandelt werden konnten? Wo, wann und zu welchen Gewalttaten ist es gekommen? Warum wurden »Raubzüge und Gewalttaten« nur unzulänglich von der staatlichen Ordnungsmacht verhindert? Wie verhielten sich die alliierten Regierungen gegenüber solchen Gewalttaten? Welche Handlungs- und Entschcidungsspielräume standen den damaligen Besatzungsmächten zur Verfügung und warum? Welche Rolle spielten die damaligen revolutionären Umwälzungen der verfassungsrechtlichen, wirtschaftlichen, sozialen und politischen Strukturen gegenüber der Vorkriegszeit in Polen und in der Tschechoslowakei und wie wirkten sich ihre Folgen auf die Erfahrungen der gesamten dortigen Bevölkerung aus? Solche Fragen stellt Detlef Brandes nicht; auch schenkt er dem Umstand, dass Polen und die Tschechoslowakei am 8. Mai 1945 keine Staaten mit einer funktionierenden Verwaltung im gängigen Sinne des Wortes waren, keinerlei Aufmerksamkeit. Dabei stellt gerade dieser Umstand eine sehr schwerwiegende Tatsache dar. Aus den beiden 1938/39 zerstörten Staaten mussten nach dem Zusammenbruch des Großdeutschen Reiches erst allmählich wieder Staaten mit allen üblichen Attributen - namentlich dem staatlichen Gewaltmonopol - errichtet werden. Die zurückgekehrte tschechoslowakische Regierung war in der prekären Lage einer Regierung ohne Regierungsapparat in einem von den USA und der UdSSR besetzten Land, und das territorial verschobene und von einem Bürgerkrieg geplagte Polen sah sich mit noch schwierigeren Problemen konfrontiert. Die Pläne der alliierten Regierungen, die deutschen Minderheiten aus der Tschechoslowakei sowie aus Polen umzusiedeln, waren damals allgemein bekannt, aber es lagen am Kriegsende keine Richtlinien vor, wie solche Umsiedlungen verwirklicht werden sollten. Zugleich waren die Gebiete beider Staaten nicht nur von den letzten schweren Kämpfen des Krieges betroffen, sondern auch von den Folgen der nationalsozialistischen Räumungspolitik in Mitleidenschaft gezogen worden, wie wir sehen werden. Solche Hinweise sind für die Erklärung der damals verübten Verbrechen von großer Bedeutung, wenn man sich nicht mit pauschalisierenden Darstellungen ohne empirischen Gehalt abspeisen lassen will. Sie helfen uns bei der Suche nach den Ursachen der beklagenswerten Situation und erklären uns die Lage der sich um die Wiederherstellung der Ordnung bemühten Regierungen. All dies behandelt Detlef Brandes jedoch nicht, weil er die Geschichte des Zweiten Weltkriegs und

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dessen Folgen außen vor lässt und sich primär für die Äußerungen und Pläne polnischer und tschechischer Exilpolitiker interessiert.

Die Geschichte des Zweiten Weltkriegs bildet nur einen nebulösen Hintergrund für Brandes' Suche nach den Ursachen der Vertreibung: »Den überwiegenden Teil der Informationen für diese Untersuchung habe ich in den Beständen britischer, tschechoslowakischer, polnischer, amerikanischer und jugoslawischer Archive gefunden.«'55 Mit deutschen Archiven beschäftigte er sich offensichtlich weniger, und deshalb fehlen in seiner Darstellung Auskünfte über wichtige Aspekte jenes Krieges. Die Ursachen der Vertreibung sind nämlich keineswegs in den Schreibstuben der alliierten Politiker und Diplomaten zu finden, sondern in deren Interaktion mit dem Nationalsozialismus und dem Großdeutschen Reich. Sie diskutierten damals über eigene Ideen und trafen ihre Entscheidungen nicht im luftleeren Raum, sondern in einer Situation höchster Bedrohung für die von ihnen repräsentierten Staaten. Die Bemühungen um die Rettung Europas vor dem Nationalsozialismus bildeten seit 1939 nicht nur die Grundlage der gemeinsamen Interessen unter den alliierten Politikern und Diplomaten, sondern bestimmten auch alle ihre Entscheidungen.'56 Ohne eine Kontextualisierung in die Geschichte des Krieges ist weder eine adäquate Behandlung des Weges zur Vertreibung (also der Ursachen) noch eine des Vorgangs selbst möglich. Nach Detlef Brandes hatten die polnischen und tschechischen Exilpolitiker die Entscheidungen der Großmächte maßgeblich mitbestimmt. Dieses Szenario ist allerdings einzig und allein das Produkt seines eigenen verengten Blickwinkels. Hätten nämlich die Exilpolitiker diese Rolle wirklich spielen können, dann hätten sie - dafür sprechen vielerlei Hinweise - die Nachkriegsverhältnisse in ihren beiden Ländern Polen und Tschechoslowakei sicherlich anders gestaltet, als es der Fall war. Würde Brandes den Weg zur Vertreibung in der Geschichte des Zweiten Weltkriegs verorten, müsste er ihn primär aus der Sicht der ihn führenden Großmächte untersuchen. Nicht die Wünsche der polnischen oder tschechischen Politiker nämlich entschieden über Aussiedlungen und Grenzveränderungen. Ausschlaggebend bei den Entscheidungen der Großmächte waren die britische, amerikanische und sowjetische Sicht der Ursachen dieses Krieges, sodann ihre Erfahrungen aus dem Verlauf des Krieges sowie letztlich vor allem ihre sich aus diesen Gesichtspunkten ergebenden deutschlandpolitischen Strategien für die Nachkriegszeit. Gelegentlich finden sich bei Detlef Brandes selbst Hinweise in diese Richtung, ohne dass er sie allerdings angemessen beachtet. So berichtet er ausführlich über die tschechische, sudetendeutsche und polnische Exilpolitik, aber der Feststellung beispielsweise, dass wissenschaftliche Berater des britischen Außenministeriums schon im Frühjahr 1940 »die Aussiedlung der Deutschen aus der Tschechoslowakei, Polen und jenem Teil Ostdeutschlands für nötig [hielten], der Polen übergeben werden sollte, zumindest aber aus Ostpreußen, Deutsch-Oberschlesien bis zur Oder und dem Sudetenland«'57, in Betracht zogen, widmet er kaum Aufmerksamkeit. Dabei handelt es sich hier um eine für die Geschichte des Umsiedlungsbeschlusses der Alliierten äußerst wichtige Information,

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Teil i: Die Vertreibung 6o Jahre danach beweist sie doch, dass die Ursachen der späteren Umsiedlungsentscheidung der alliierten Großmächte nicht im Zusammenhang mit dem Kriegsende, sondern mit dem Kriegsbeginn zu suchen sind. Es waren ganz offensichtlich nicht die vom N S Regime zwischen 1940 und 1945 begangenen Massenverbrechen, die Anlass dazu gaben, über die Umsiedlung der deutschen Minderheiten aus Polen und der Tschechoslowakei nachzudenken und zu diskutieren. Eine solche Schlussfolgerung vermag Detlef Brandes jedoch nicht aus seinen eigenen Forschungen zu ziehen und als Erkenntnis entsprechend zu würdigen, weil er zu sehr auf seine These von der ursächlichen Bedeutung der polnischen und tschechoslowakischen Exilpolitiker fixiert ist. Hätte Detlef Brandes untersucht, warum in den führenden Kreisen der britischen Diplomatie über eine solche Umsiedlung der deutschen Bevölkerung schon zu Beginn des Krieges nachgedacht wurde, dann hätte er sicherlich auch die diesbezüglichen Verhandlungen zwischen der britischen Regierung und den polnischen sowie tschechoslowakischen Exilpolitikern besser erklären können als durch das ausführliche Referieren all dessen, was vor ihm ohnehin schon Wenzel Jaksch und andere sudetendeutsche Autoren unablässig beschrieben haben. Die forschungsleitende Fokussierung auf die polnische und tschechische Exilpolitik mag zwar zweifellos deren emotionale Empfindungen und politische Handlungen in interessanter Weise erhellen; sie führt aber zugleich zu einem höchst verzerrten Bild, weil sie die britischen, amerikanischen und sowjetischen Wahrnehmungsperspektiven und Eigeninteressen weitgehend vernachlässigt. Brandes vermag deshalb weder die Ursachen der späteren gemeinsamen Entscheidung über die Umsiedlung der deutschen Minderheiten aus Polen und der Tschechoslowakei zu erklären noch zu beweisen, dass die Hauptmotive der Großmächte deren »Wunsch nach Vergeltung und das Streben nach einem national homogenen Staat«358 gewesen seien.

*.•:--•:Brandes' Weg zur Vertreibung enthält zahlreiche interessante Hinweise auf diverse Aspekte des Wegs der Alliierten zu ihren Umsiedlungsentscheidungen. Ansonsten aber liegt die Darstellung ganz auf der traditionellen Linie der herkömmlichen Themen des Erinnerns an die Vertreibung. Denn dass Annexions- und Aussiedlungspläne tschechischer und polnischer Exilregierungen die eigentliche Ursache der Vertreibung gewesen seien, wurde in der Bundesrepublik schon erzählt, lange bevor Historiker mit ihren Forschungen begannen. Wie oben erwähnt, war schon 1951 im Sudetendeutschen Weißbuch nachzulesen, dass die Austreibung der Sudetendeutschen nicht etwa eine spontane Reaktion des tschechischen Volkes auf die deutsche Besatzung gewesen sei, sondern dass tschechische Exilpolitiker den Plan zur Austreibung »von langer Hand vorbereitet« hätten. 359 Ähnlich hieß es auch beim ersten Bundeskongress der ostdeutschen Landsmannschaften in demselben Jahr: »Im übrigen hätte sich der slawische Haß kaum bis zur Austreibung gesteigert ohne den Eifer bestimmter tschechischer und polnischer Staatsmänner. Sie nützten die doktrinäre Versteifung Amerikas sowie den russischen Drang nach Westen aus und gewannen beide für ihre Pläne. Sie führten Stalin, Truman und Attlee die Hand bei der Unterzeichnung des Pakts von Potsdam.«' 60

Auf der Suche nach Erklärungen Detlef Brandes liefert in seinem ein halbes Jahrhundert später veröffentlichten Buch eine ausführliche Begründung für diese These. Er durchsuchte zahlreiche Archive und fand Vieles, was sie zu belegen scheint. Dennoch zeitigt seine mühsame Suche nach den Ursachen der Vertreibung keine neuen Ergebnisse. Will man nämlich ernsthaft der Frage nachgehen, »warum und wie es zur Vertreibung der Deutschen« gekommen ist, dann muss man weit mehr Fragen beantworten, als sich Detlef Brandes gestellt hat.

Die >europäisierte< Erklärung Manchmal wird die Vertreibung nicht im Kontext der deutschen und osteuropäischen Geschichte betrachtet, sondern »europäisiert«: »Es handelt sich bei Flucht und Vertreibung der Deutschen am Ende des Zweiten Weltkrieges und danach um ein europäisches Geschehen, das als europäisches Problem nachwirkt und das auch europäisch aufzuarbeiten ist.«' 6 ' Das erklärte - etwas gebetsmühlenartig - der Historiker Bernd Faulenbach im Jahre 2005, und diese Idee findet großen Anklang. Viele Deutsche weisen darauf hin, dass die individuellen Lebenserfahrungen all der Europäer, die aus den unterschiedlichsten Gründen im 20. Jahrhundert ihren Wohnsitz, ob freiwillig oder unfreiwillig, aus einem Staat in einen anderen verlegt haben, einander ähneln würden. Darüber hinaus wird angenommen, dass man aus solchen Ähnlichkeiten individueller Erfahrungen auf ähnliche historisch-politische Erklärungen schließen könne. Man solle deshalb die spezifischen deutschen Flucht- und Vertreibungserfahrungen mit zahlreichen anderen Migrationserfahrungen gemeinsam erinnern und für alle derartigen Erfahrungen eine gemeinsame Erklärung suchen. Am Beispiel zweier populärer Ausstellungen können wir diesen Erklärungsansatz kennenlernen: Die erste Ausstellung Erzwungen Wege wurde 2005 in Berlin von der Stiftung Zentrum gegen Vertreibungen präsentiert, einer vom Bund der Vertriebenen initiierten und unterstützten Organisation mit dem Ziel, in Berlin ein mationales Vertreibungsmuseum zu errichten; die zweite Ausstellung veranstaltete 2006 unter dem Titel Flucht, Vertreibung, Integration das Flaus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland in Bonn. In beiden Ausstellungen wurde die Vertreibung in ähnlicher Weise dargestellt tund historisch verortet: Erzwungene Wege »Mehr als 30 Völker Europas haben im 20. Jahrhundert als Ganzes oder in Teilen ihre Heimat verloren. [...] Die Umsetzung der Idee eines ethnisch homogenen Nationalstaates ist eine der Hauptursachen für Vertreibungen ethnischer Gruppen und Minderheiten im 20. Jahrhundert. Rassismus und Antisemitismus waren neben dem Nationalismus weitere Antriebskräfte für Vertreibung und Vernichtung. Die Zahl der Opfer von Flucht und Vertreibung im Europa des 20. Jahrhunderts ist hoch. Historiker sprechen von 80 bis 100 Millionen Menschen.«362

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Teil i: Die Vertreibung 6o Jahre danach Flucht, Vertreibung, Integration »Zwangsmigrationen, Flucht, Vertreibungen, Deportationen und Ähnliches waren im 20. Jahrhundert ein verbreitetes Phänomen, das nach Schätzungen verschiedener Historiker 50 bis 70 Millionen Menschen betraf, von denen etwa 14 Millionen Deutsche waren. Auf jeden Deutschen entfallen mithin mindestens zwei weitere Vertriebenen anderer Nationalität, die ein vergleichbares Schicksal erlitten haben. [...] Aufs Ganze gesehen spielten der Nationalismus und das Ziel, ethnisch »reine« Nationalstaaten zu schaffen, eine zentrale Rolle als Triebkräfte der Vertreibungen, doch waren auch machtpolitische und imperialistische Kalküle bedeutsam.«363 Warum in der ersten Ausstellung an 80-100 Millionen und in der zweiten an 50-70 Millionen »Opfer von Flucht und Vertreibung« erinnert wird, wird nicht erklärt. Die komparative Grundidee beider Ausstellungen, der Vergleich mit zahlreichen »Zwangsmigrationen«, bringt es mit sich, dass das Erinnern an die zwischen 1939 und 1949 heimatlos gewordenen Deutschen vom direkten Zusammenhang sowohl mit der deutschen Geschichte als auch mit der Geschichte des Zweiten Weltkriegs entkoppelt wiid. Beide Ausstellungen stellen als Erklärung des Eleimatverlusts die These auf, dass es sich um die Folge einer gesamteuropäischen Fehlentwicklung im 20. Jahrhundert gehandelt habe - »Die Umsetzung der Idee eines ethnisch homogenen Nationalstaates ist eine der Hauptursachen für Vertreibungen...« bzw. »... spielten der Nationalismus und das Ziel, ethnisch »reine« Nationalstaaten zu schaffen, eine zentrale Rolle als Triebkräfte der Vertreibungen«. Auch wenn in beiden Ausstellungen auf verschiedene als Vertreibungen bezeichnete Umsiedlungen Bezug genommen wird, so stehen die Deutschen doch eindeutig im Mittelpunkt und werden als eine besonders hart betroffene Nation präsentiert: Erzwungene Wege »Flucht und Vertreibung von 12 bis 14 Millionen Deutschen am Ende des Zweiten Weltkriegs aus den deutschen Ostgebieten und aus deutschsprachigen Regionen außerhalb Deutschlands stellten die größte Zwangsmigration in der europäischen Geschichte dar. Eine sehr große Zahl von Menschen, etwa zwei Millionen, kam dabei ums Leben.«' 64 Flucht, Vertreibung, Integration »Keine Frage: Bei den Deutschen handelt es sich um die größte der vertriebenen Gruppen; bei ihrer Vertreibung kam eine beträchtliche Zahl von Menschen ums Leben, Naimark geht von mehr als zwei Millionen aus. Und doch ist die Vertreibung der Deutschen nur ein Teil der europäischen Tragödie.«' 65 Beide Ausstellungen fanden ein bemerkenswert positives Echo in den Medien. Viele Deutsche halten es für einen Ausweis moderner europäischer Gesinnung, wenn nicht nur an die deutschen Vertriebenen, sondern zugleich auch an andere Europäer erinnert wird, die scheinbar ähnliche Erfahrungen machten. Aus dem hervorgehobenen besonderen Status der deutschen Vertriebenen als der größten Opfergruppe wird häufig eine besondere Berufung der deutschen Nation abgeleitet, das herbeigesehnte »europäische« Erinnern an die Vertreibung maßgeblich zu gestalten. Dabei sollen allerdings die Deutschen nicht allein für ganz Europa sprechen. Aus dem Beschluss des Deutschen Bundestags »Für ein europäisch ausgerichtetes Zen-

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trum gegen Vertreibungen« von 2002 geht die Absicht hervor, eine neue geschichtspolitische Entwicklung einzuleiten, die unter Beteiligung mehrerer Nationen erfolgen solle: »Ein solches Projekt ist eine europäische Aufgabe und braucht zu seiner Verwirklichung europäische Partner, die auch in die Trägerschaft einbezogen werden.« Nicht alle europäischen Länder sollen jedoch gleichermaßen beteiligt werden, sondern nur jene, »die in ihrer Geschichte von Vertreibungen betroffen waren oder sind«.'66 Um welche Staaten es sich handelt, die an dem geplanten europäisch ausgerichteten Zentrum gegen Vertreibungen partizipieren sollen, wurde allerdings nicht ausdrücklich erklärt. Manche Befürworter des im Bundestag beschlossenen Projekts, wie beispielweise die soeben zitierte Antje Vollmer, bieten eine erstaunlich einfache Erklärung der Ursachen. »Vertreibungen sind das Ergebnis einer Wahnidee: der Idee vom ethnisch homogenen Nationalstaat«, meinte die Grünen-Abgeordnete und erklärte, warum sich in ihren Augen alle Europäer für die Vertreibung der Deutschen interessieren sollten: »Vertreibungen hat es in mehr als zehn europäischen Staaten gegeben; Vertreibungsfantasien fast überall. Deshalb ist ein solches Zentrum [...] keine nationale, sondern eine eminent europäische Aufgabe.«'67 Die »Wahnidee« hatte sie etwas konkreter schon zuvor erläutert: es seien »Menschen wie Präsident Wilson, Chamberlain, Churchill, später Stalin, die diese Wahnidee vertreten haben«.368 Dem »europäisierten« bzw. genauer »europäisierenden« Erklärungsansatz zufolge seien die Ursachen der Vertreibung nicht in der deutschen, polnischen oder tschechischen Geschichte und auch nicht im Zweiten Weltkrieg oder in der Nachkriegszeit zu suchen. Hier wird nicht etwa Hitler oder Stalin, Benes oder Churchill369 die Verantwortung zugeschrieben und auch nicht auf die Emotionen der osteuropäischen Nationen als Ursache der Vertreibung verwiesen. Im »europäisierten« Erinnern an die Vertreibung wolle man Europa als Ganzes ins Auge fassen, wenn man nach einer historischen Erklärung der Vertreibung suche. Man müsse gesamteuropäische Fehlentwicklungen identifizieren, die entweder zu Vertreibungen führten oder sich in den Köpfen unbeteiligter Europäer ausfindig machen lassen. Deshalb beschränke sich diese Form des Erinnerns nicht auf die Geschichte der deutschen Vertriebenen, sondern verweise stets auch au f andere Gruppen der oben erwähnten angeblich 50-70 bzw. 80-100 Millionen vertriebenen Europäer.

Aus der Sicht der Historiker liegen die Probleme des »europäisierten« Erklärungsansatzes auf der Hand. Dessen Protagonisten reden von ethnischen Säuberungen und verweisen auf vertriebene, geflüchtete und umgesiedelte Armenier, Griechen und Türken am Beginn des 20. Jahrhunderts in gleicher Weise wie auf die nationalsozialistischen Umsiedlungen und Deportationen einschließlich des Holocaust. Häufig ist von Umsiedlungen in der Sowjetunion die Rede, manchmal wird auf die Schicksale der finnischen Bevölkerung Kareliens im Zweiten Weltkrieg und manchmal auf freiwillige Umsiedlungen diverser Menschen infolge von Grenzveränderungen nach dem Ersten oder nach dem Zweiten Weltkrieg verwiesen. Manchmal werden auch die Jugoslawien-Kriege der 1990er Jahre genannt. Demgegenüber ist

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Teil i: Die Vertreibung 60 Jahre danach man gelegentlich versucht, nur einige ganz einfache Fragen zu stellen, wie z. B.: Was haben die zahllosen Zwangsmigrationen, die im Zuge des NS-Eroberungskriegs mit dem Ziel der Schaffung eines deutschen Kolonialimperiums in Osteuropa vonstatten gingen, mit der Schaffung eines »ethnisch reinen« Nationalstaats zu tun? Wieso soll die von Stalin angeordneten Deportationen diverser ethnischer Gruppen aus einem Teil des Landes in einen anderen Teil das Ziel gehabt haben, aus der Sowjetunion einen »ethnisch homogenen« Nationalstaat zu machen? Warum hat die Sowjetunion alle Rußlanddeutschen, derer sie 1945 habhaft werden konnte, zwangsrepatriiert? Insgesamt entsteht der Eindruck, dass das historische Vielerlei dieses Konzepts zwar vorgibt, ihm lägen tiefere Einsichten zugrunde, dass es aber in einer amorphen Beliebigkeit endet - denn in Wirklichkeit haben wir es mit einer erheblichen gedanklichen und begrifflichen Unscharfe zu tun. So weist z. B. der damalige Direktor des Hauses der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland, Hermann Schäfer, in seinem Vorwort zum Katalog der Bonner Ausstellung nicht nur auf historische Tatsachen, sondern auch auf nicht näher spezifizierte Pläne und Träume hin: In einigen mittel- und osteuropäischen Staaten, »vor allem in der Tschechoslowakei«, habe es vor dem Zweiten Weltkrieg »Entflechtungspläne« gegeben, »die geprägt waren vom Traum eines ethnisch homogenen Staatsvolks«. Belege für solche Pläne und Träume nennt der Museumsdirektor nicht, und sie sind auch in der Ausstellung nicht vorgelegt worden. Es bleibt bei Aussagen über deren vermeintliche Auswirkungen: »Dass dieser Traum sich stets als Alptraum auswirkte - vor allem für die jeweiligen Minderheiten - , beschreibt nahezu einen tragischen Regelfall der europäischen Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts.« 370 Die Fiktion, dass Träume, Vertreibungsfantasien und Wahnideen die Köpfe der Europäer beherrscht haben sollen, führt dazu, dass häufig sogar vom 20. Jahrhundert als dem »Jahrhundert der Vertreibungen« gesprochen wird. »Wir brauchen neben dem innerdeutschen natürlich einen internationalen historischen Bezugsrahmen«, meint etwa die Publizistin Helga Hirsch: »Ich schlage vor, das 20. Jahrhundert als Jahrhundert der Vertreibungen zu beschreiben, das durch die Vorstellung ethnisch homogener Nationalstaaten geprägt wurde.«' 7 1 Auch dieser Vorschlag zeigt, wie in der »europäisierten« Form des Erinnerns an die Vertreibung allerlei vermischt wird: der Wunsch, die nationalen Erinnerungsformen durch ein »europäisches« Erinnern zu ersetzen, die Vorstellung, dass die Vertreibung der Deutschen eine »europäische Tragödie« gewesen sei, die Behauptung, dass die Europäer sich einer »Wahnidee« oder einem »Traum« verschrieben hätten, und schließlich die These, dass Vertreibungen ein prägendes Merkmal der europäischen Geschichte des 20. Jahrhunderts gewesen seien. Diesem unklaren Denken entsprechend, vermitteln die beiden Ausstellungen kaum historisches Wissen, nicht einmal zur Geschichte der deutschen Vertriebenen. Der Besucher erfährt nicht, wie viele Deutsche während des Krieges von den N S Behörden zum Verlassen ihrer Heimat gezwungen wurden, wie viele freiwillig ihre Heimat verließen oder wann wie viele Deutsche von den alliierten Regierungen nach Kriegsende zwangsumgesiedelt wurden. Es ist zwar von zwei Millionen Deutschen die Rede, die bei Flucht und Vertreibung umgekommen seien, aber auch hier ist nicht zu erfahren, wie viele deutsche Zivilisten während der nationalsozialisti-

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sehen Umsiedlungen, bei den Evakuierungen, bei der Flucht oder nach dem Krieg bei den von den alliierten Regierungen kontrollierten Umsiedlungen ihr Leben verloren haben. Ebensowenig wird erklärt, was beispielsweise die Umsiedlungen der Balten- oder der Bessarabiendeutschen ins besetzte Polen oder die Verfolgung deutschsprachiger Juden in Deutschland mit einer ethnischen Homogenisierung zu tun haben sollen oder wann, wie und warum zahlreiche Deutsche in Jugoslawien während des Zweiten Weltkriegs das zerschlagene und besetzte Land verließen und wessen »Traum eines ethnisch homogenen Staatsvolkes« dafür die Ursache gewesen sein soll. Erst wenn eine Ausstellung wenigstens solche Grundinformationen über einzelne erwähnte historische Ereignisse bieten würde, könnten sich ihre Besucher ein angemessenes Bild über die dort als Vertreibungen bezeichneten historischen Ereignisse machen. U n d erst danach wären Vergleiche mit anderen ähnlich anmutenden Ereignissen sinnvoll. Die Suche nach den gemeinsamen Ursachen ähnlicher Vorgänge könnte überhaupt erst dann beginnen.

Die soeben erwähnten Unklarheiten machen deutlich, dass das scheinbar neue »europäisierte« Erinnern an die Vertreibung nicht von neuen geschichtswissenschaftlichen Erkenntnissen inspiriert wurde. Es liegen keine Studien vor, die die These, dass eine »Wahnidee« Europa befallen habe und die Ursache für den Heimatverlust von rund elf Millionen Deutschen zwischen I 9 3 9 u n d i 9 4 9 s e i , anhand neu entdeckter Informationen oder neu begründeter Interpretationen nachvollziehbar machen würden. Zahlreiche Hinweise deuten darauf, dass es sich um ein Aufgreifen ähnlicher älterer Interpretationen der Vertreibung handelt. Aus der Sicht der Geschichtswissenschaft handelt es sich allerdings um bedenkliche Vorbilder, die eher ein kritisches Nachdenken als blinde Nachahmung verdienen. Das Anliegen, die Vertreibung zu »europäisieren«, war vor allem in den 1950er Jahren populär, und schon in der Charta der deutschen Heimatvertriebenen von 1950 wurde der Wunsch zum Ausdruck gebracht, dass sich wegen der Vertreibung der Deutschen nicht nur Deutsche, sondern auch andere Nationen betroffen fühlen sollten: »Die Völker der Welt sollen ihre Mitverantwortung am Schicksal der Heimatvertriebenen als der vom Leid dieser Zeit am schwersten Betroffenen empfinden.« 372 Diese Aussage wurde inzwischen vielfach gelobt und kritisiert, wie wir sehen werden. 373 Sie war jedoch von großer politischer Bedeutung für das Erinnern an die Vertreibung in der Bundesrepublik und nährte die Tendenzen, die Erinnerungen an den Nationalsozialismus und den Zweiten Weltkrieg zu verdrängen und zu verharmlosen. In den Fokus des öffentlichen Interesses sollten dagegen die an Deutschen verübte Verbrechen geraten, für die sich die Völker der Welt mitverantwortlich fühlen sollten. Verweise auf vermeintliche Fehlhandlungen verschiedener Völkern der Welt und sogar auf europäische Fehlentwicklungen als die Ursache der Vertreibung finden sich in der Literatur jener Zeit häufig. So trägt etwa eines der bekanntesten Werke der Vertreibungsliteratur den Titel Europas Weg nach Potsdam, und sein Verfasser, Wenzel Jaksch, weist schon darin auf die vermeintlichen Sünden der einstigen Kriegsgegner Deutschlands hin: »In St. Germain und in Trianon haben die alliierten

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und assoziierten Mächte dadurch, daß sie in die Osthälfte Europas rund 13 000 Kilometer neuer Grenzen einzeichneten, gegen den Geist des 20. Jahrhunderts gesündigt.« 374 Die Konferenzen von München 1938 und Potsdam 1945 präsentiert er als zwei »Niederlagen der Wcltdemokratie« und beklagt ein weit verbreitetes Unverständnis für seine Europakritik: »Dem Westen ist vorläufig der Gedanke an eine grundsätzliche Nachprüfung seiner Europakonzeption fremd. Seine maßgebenden Lehrmeinungen in diesen Fragen vermitteln einfach den Eindruck, als wären sie in den Vorstellungen von 1919 steckengeblieben.« 375 Darüber hinaus sei die Vertreibung die Folge zahlreicher Fehlentscheidungen gewesen: Die britische Friedensplanung sei »seit 1942 in das Schlepptau der Exil-Tschechen geraten«, die »von Zweifeln zerrissene tschechische Volksseele endgültig auf die falsche Bahn gelenkt« worden, und im »Lager der westlichen Alliierten regierte nach dem Kriege die Stalinhypnose der Eliten«. 376 Jakschs Rezept für eine bessere Zukunft geht davon aus, dass Deutschland »über keine ostpolitischen Traditionen« verfüge, an die es erfolgreich anknüpfen könnte. Hier solle man von der Habsburgermonarchie lernen: »In dieser Lage ist das Erfahrungsgut der österreichischen Nationalitätenpolitik ein Beitrag zur deutschen und europäischen Selbstbehauptung.« 377 Zugleich plädiert Jaksch auch für ein neues europäisches Erinnern: »Unentrinnbar sind die Wissenden und Suchenden aller Lager dazu gezwungen, erneut um die Einheit des europäischen Geschichtsbildes zu ringen, das im Zeitalter des Nationalismus zertrümmert wurde.« 378 Die Vorstellung, dass es vor dem Zeitalter des Nationalismus ein einheitliches europäisches Geschichtsbild gegeben habe, beruht auf einem Irrtum. Jakschs Buch verdeutlicht indessen, warum der »europäisierte« Erklärungsansatz primär mit Hinweisen auf historische Beispiele aus dem östlichen Europa begründet wird: Dieser Ansatz richtet sich, ähnlich wie Jakschs Thesen, gegen die Protagonisten der nach dem Ersten Weltkrieg erfolgten Umgestaltung der europäischen Staatenordnung. Ihnen werden Nationalismus, verurteilungswürdige machtpolitische und imperialistische Kalküle und Fehlentscheidungen unterstellt, während die Unterschiede zwischen ihnen und den Nationalsozialisten vernebelt werden. Jaksch begründet sein Bild von Europas Weg nach Potsdam als einer vermeintlichen europäischen Fehlentwicklung mit anderen Hinweisen als heute in der »europäisierten« Form des Erinnerns üblich. Aber auch sein Weltbild beruht auf allerlei besser oder schlechter begründeten historischen Reminiszenzen und Gleichsetzung der deutschen und europäischen Geschichte - als ob all das, was Deutschland unliebsam sei, Europa schaden würde. Das unmittelbare Vorbild für den heute populären »europäisierten« Erklärungsansatz finden wir in dem 1952 erschienenen Buch Völker auf dem Wege ... Verschiebungen der Bevölkerung in Ostdeutschland und Osteuropa seit 1917 von Gotthold Rhode. 379 Der 1990 verstorbene Verfasser war einer der bekanntesten deutschen Osteuropahistoriker 380 , und sein Buch wird nach wie vor von Historikern verwendet. Einer der führenden Protagonisten der »europäisierenden« Erklärung der Vertreibung, Götz Aly, berief sich 1993 darauf als Quelle seiner statistischen Angaben über die so genannten Gruppenwanderungen in Europa' 8 ', und auf der Website der Wochenzeitung Die Zeit empfiehlt es Karl Schlögel der Öffentlichkeit' 82 , obwohl es seit 1952 nicht mehr neu aufgelegt wurde.

Auf der Suche nach Erklärungen

Gotthold Rhode behauptet, dass zwischen 1917 und 1952 knapp 55 Millionen Menschen von »Gruppenwanderungen« im östlichen Europa betroffen gewesen seien, und verweist auf 117 Beispiele.'8' Die Deutschen seien darunter die am schwersten involvierte Gruppe gewesen.'84 Zeitlich gegliedert gibt Rhode an, dass zwischen 1917 und 1939 ca. 12,5 Millionen, zwischen 1939 und 1944 ca. 12,3 Millionen und seit dem Herbst 1944 ca. 29,7 Millionen Europäer von »Gruppenwanderungen« betroffen gewesen seien. Seine statistischen Angaben erwecken allerdings einige Zweifel an der wissenschaftlichen Korrektheit seiner Vorgehensweise. Die Werke bekannter Migrationsforscher wie Eugen M. Kulischer oder Joseph B. Schechtman erklärt Rhode für irreführend; vor allem bedürften »fast alle Angaben für die deutschen und polnischen Verhältnisse einer Korrektur«.385 Seine eigenen statistischen Angaben sind nicht überprüfbar, da er sich häufig auf persönliche Mitteilungen oder unveröffentlichtes Material in Privathand beruft. Milde gesagt problematisch ist auch Rhodes Auswahl jener Ereignisse, die er als »Gruppenwanderungen« bezeichnet. So werden in Rhodes Statistik auch die im Holocaust ermordeten Juden mitgezählt, aber nicht alle. Gewandert seien nach Rhode nämlich nur die folgenden beiden jüdischen »Gruppen«: Erstens seien 300 000 Juden aus dem »Reichsgau Wartheland« und aus Südsiebenbürgen 193940 ins »Generalgouvernement« und nach Nordsiebenbürgen zwangsumgesiedelt worden. Zweitens seien ca. 1,5 Millionen Juden aus dem Deutschen Reich sowie aus Holland, Belgien, der Slowakei, Ungarn und Frankreich ins »Generalgouvernement« als ihrem »Ansiedlungsland« gekommen; als »Art der Wanderung« dieser Menschen gibt er »»Zwangsumsiedlung bzw. Überweisung in Vernichtungslager« an.386 Diese Ausdrucksweise ist zweifellos empörend, aber nicht weniger perfide ist Rhodes Vorstellung, dass im Unterschied zu den westeuropäischen Juden die osteuropäischen Juden ermordet wurden, ohne von einer »Gruppenwanderung« betroffen zu sein: »Die Zwangsevakuierung der Juden aus Deutschland und den besetzten Gebieten« führte die meisten von ihnen in »einen furchtbaren Tod in den Vernichtungslagern, denen die Mehrzahl der osteuropäischen Juden ohne vorherige Umsiedlung zum Opfer fiel«.387 Mit derartigen verbalen Manipulationen der Tatsachen macht sich Rhode zweifellos der Verharmlosung des Holocaust schuldig, aber dieses Beispiel zeigt auch, wie hier in einer scheinbar detaillierten Zahlenangabe millionenfache statistische Verfälschungen vorgenommen werden. Welche »Gruppenwanderungen« werden eigentlich in den heute modischen Angaben über 50-70 Millionen oder 80-100 Millionen Opfer von Flucht und Vertreibung in Europa mitgezählt? In Rhodes Buch begegnen wir eindeutigen Hinweisen auf die mentale Verhaftung des Autors in der völkischen Tradition'88 und ihrer Deutung der europäischen Geschichte. Rhode betreibt auch die Verharmlosung des Nationalsozialismus, wenn er sich bemüht, den Eindruck zu erwecken, als habe das Deutsche Reich einen vom Nationalismus motivierten Krieg zur Festigung des deutschen Nationalstaates geführt. Er verharmlost sogar die nationalsozialistischen Umsiedlungen deutscher Minderheiten, sie hätten »Hunderttausende deutscher Menschen vor der Verschickung, Zerstreuung und Vernichtung gerettet«.'89 Seine Distanzierung vom Nationalsozialismus beschränkt sich auf die Idee, dass das NS-Regime »das in ganz Osteuropa so lange propagierte Nationalstaatsprinzip mit einer bisher unbekannten Brutalität

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Teil i: Die Vertreibung fio Jahre danach in dieTat« umgesetzt habe. 390 Rhodes Buch über die »Gruppenwanderungen«« stand zwar an der Wiege der Versuche, das Erinnern an die Vertreibung mit Hilfe von allerlei Vergleichsbeispielen zu »europäisieren«, aber es ist kein gutes Vorbild. Es ist ein im NS-Jargon geschriebenes Pamphlet, das keineswegs unkritisch verwendet werden sollte. XXX

Dass Rhodes Ausführungen über die »Gruppenwanderungen in Europa« und die ihnen zugrunde liegenden Interpretationen der Vertreibung ein halbes Jahrhundert später selbst von bekannten Historikern wie Götz Aly verbreitet werden, ist bedauerlich. 39 ' Möglicherweise liegt es daran, dass Götz Aly, einer der bekanntesten Protagonisten der so genannten Europäisierung des Erinnerns an die Vertreibung, mit Informationen ähnlich unbekümmert umgeht wie seinerzeit Gotthold Rhode. Götz Aly spricht von einem »großen europäischen Irrtum« 392 , glaubt an einen »europäischen Irrweg« 393 und meint, das 20. Jahrhundert sei ein »Jahrhundert der Vertreibung« 394 gewesen. In seinen Augen seien selbst die »ethnischen Säuberungen« der 1990er Jahre in Jugoslawien nicht aus ihren spezifischen historisch-politischen Zusammenhängen zu erklären: »Die ethnischen Säuberungen im ehemaligen Jugoslawien sind in der Tat barbarisch. Aber diese Barbarei ist nicht neu! Sie ist die böse Farce, die dem Drama eines großen europäischen Irrtums folgt.«395 Die Grundlage für solche Massenumsiedlungen hätten in Alys Augen »nicht allein Ideologen und Diktatoren gelegt«, sondern »auch Pragmatiker und Demokraten« wie Winston Churchill; die »alliierte Friedensordnung von 1945« habe dabei das größte Übel des Jahrhunderts verursacht: »25 Millionen Menschen wurden damals ihrer Heimat verwiesen, zwangsweise umgesiedelt. Nicht nur von den Sudeten in die Schwäbische Alb, von Königsberg nach Hamburg, auch aus den Karpaten in die ungarische Tiefebene, aus Lemberg nach Breslau, von Vilna nach Stettin.« 396 Wer genau, wann, wie und warum zwischen den hier genannten Orten seinen Wohnort verlegte oder zu verlegen gezwungen war, erläutert Götz Aly nicht. Schlicht und einfach falsch sind Aussagen wie: »Infolge des Potsdamer Abkommens verloren mehr als 20 Millionen Menschen ihre Heimat, wurden zwangsweise umgesiedelt«. 397 Oder: »Und schließlich wurden in der Folge der Beschlüsse von Teheran, Jalta und Potsdam in Europa mindestens 15 Millionen Menschen zwangsweise umgesiedelt oder vertrieben.«' 98 Und die folgende Vermutung Götz Alys ist nicht nur unpräzise, sondern auch durch nichts belegt: »In der Tat erklärt sich auch das 1945 geschlossene Potsdamer Abkommen als Produkt einer europäischen Denkschule, die - bei aller Unterschiedlichkeit in den Methoden - eine fortschreitende, notfalls gewaltsame ethnische und soziale Homogenisierung der europäischen Staaten einer historisch gewachsenen Heterogenität vorzog. Die Abmachungen der alliierten Siegermächte von 1945 übernahmen die bevölkerungspolitischen Ergebnisse des Hitler-Stalin-Paktes stillschweigend und zielten mit der offenen oder indirekten Förderung des massenhaften Umsiedeins von Deutschen, Polen, Slowaken, Ukrainern, Italienern oder Ungarn auf die ethnographische Nachkorrektur der Pariser Friedensordnung von 1919/20.«' 99

Auf der Suche nach Erklärungen

Es dürfte Götz Aly schwer fallen, seine Sätze nachvollziehbar und überprüfbar zu formulieren, da er erst eine ganze Reihe von Fragen beantworten müsste: Was genau ist in Potsdam beschlossen worden und welche europäischen Staaten betraf es ? Wer gehört der von ihm behaupteten »europäischen Denkschule« an? In welchen Schriften können wir ihre Lehren nachlesen? Welche »alliierten Siegermächte« übernahmen in welcher Form welche »bevölkerungspolitischen Ergebnisse des HitlerStalin-Paktes«? Wer hatte wann und in welcher Form »massenhaftes Umsiedeln« welcher Nationen gefordert? Wer forderte »die ethnographische Nachkorrektur der Pariser Friedensordnung« ? Das »Europäisieren« des Erinnerns an die Vertreibung eignet sich nicht zur Suche nach historischen Ursachen, weil es von den realgeschichtlichen Ereignissen ablenkt und sich hohler Phrasen bedient. Deshalb kann es leicht verschiedentlich instrumentalisiert werden. In der Nachkriegszeit lag es manch einem besiegten Nationalsozialisten nahe, die NS-Verbrechen zu verharmlosen und den einstigen Gegnern die Schuld für allerlei Unglück und Unbehagen der Deutschen zuzuschreiben, um seine persönliche Verbundenheit mit dem NS-Regime zu verdecken. Heute erscheint der Hinweis auf Europa vielen Deutschen als eine Tugend und als Ausweis besonderer politischer Klugheit, da sie glauben, es sei hilfreich für die europäische Integration. Die Versuche aus den 1950er Jahren, die Vertreibung zu »europäisieren«, ebenso wie die Neuauflage dieser Idee etwa in der Version von Götz Aly oder den beiden oben genannten Ausstellungen warnen uns aber nachdrücklich vor allen vorschnellen Versuchen, das Erinnern an die Vertreibung von ihrem spezifischen historischen Kontext zu entkoppeln. Zumal die einfachsten Informationen über die Geschichte der Vertriebenen noch nicht geklärt worden sind. Dazu gehört vor allem die Frage, wie viele Deutsche wann, wo, von wem und warum vertrieben worden sind. Erst wenn wir erfahren, wie die als Vertriebene bezeichneten Menschen ihre Heimat verloren haben, können wir mit der Suche nach den historischen Ursachen ihres Heimatverlustes beginnen. Je weiter die Vertreibung aus ihrem unmittelbaren historischen Kontext entfernt wird, desto inhaltsleerer werden die Aussagen der jeweiligen Autoren, desto nachlässiger ist ihr Umgang mit historischen Informationen und desto tiefgreifender ihre Verhaftung in traditionell überlieferten Erinnerungsbildern. Deshalb haben auch die Vertreter des »europäisierten« Erinnerns bisher zur Suche nach historischen Erklärungen der Vertreibung nicht beizutragen vermocht.

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T E I L 2: Verdrängte Erinnerungen

Das NS-Projekt für die deutschen Minderheiten im östlichen Europa

Das deutsche Problem mit den Auslandsdeutschen »Die Heimat ist verloren, Du heimatloses Kind!«'

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s klingt ein Lied vom Leide / Vom Leide durch den Wind / Die Heimat ist verloren / D u heimatloses Kind!« 2 So beklagte die 1888 in Wien geborene Lehrerin und Dichterin Hilda Hadina-Königsreiter' im Jahre 1923 in ihrem Gedicht Deutsches Leid in Böhmen das Schicksal der in ihren Augen »heimatlos« gewordenen Deutschen. Damit meinte sie jene Deutsche, die bis 1918 Staatsbürger der Donaumonarchie gewesen waren: »Ich geh' als wie im Traume / Im Traume durch die Welt / Sind alle ihre Freuden / Vergiftet und vergällt.« Die Autorin war damals keine Vertriebene: Sie lebte freiwillig in der tschechoslowakischen Stadt Opava/Troppau, aber ihr gefiel es nicht, dass die Habsburgermonarchie zusammengebrochen war und rund drei Millionen Deutsche in den böhmischen Ländern zu Staatsbürgern der Tschechoslowakischen Republik geworden waren. Das empfand sie als »Heimatverlust«, und ihr Gedicht weist auf eine historisch-politische Desorientierung hin: Ihre Heimat im gängigen Sinne des Wortes machte der Autorin niemand streitig, aber die europäische Staatenordnung hatte sich verändert, und das vermochte die Dichterin nicht zu verstehen. Das Gedicht erschien in einem in Leipzig unter dem Titel Großböhmerland veröffentlichten »Heimatbuch für Deutschböhmen, Nordmähren und das südöstliches Schlesien«. In Deutschland und Österreich wurden damals zahlreiche Fördervereine für die in »Not« geratenen Deutschen außerhalb des Deutschen Reiches gegründet. Dazu gehörte auch der 1922 in Berlin entstandene Sudetendeutsche Hilfsverein, der aus den schon vor dem Ersten Weltkrieg im Deutschen Reich existierenden Ortsgruppen des Bundes der Deutschen in Böhmen sowie aus den »während der Umsturzzeit entstandenen landsmannschaftlichen Verbänden« hervorgegangen war. 4 Gemeinsam mit dem in Wien agierenden Hilfsverein für Deutschböhmen und die Sudetenländer bildete der Berliner Hilfsverein einen Sudetendeutschen Heimatbund, um die deutsche Öffentlichkeit über die Tschechoslowakei aufzuklären. Diese »Aufklärungsarbeit« beruhte auf der Vorstellung, dass man die Zahl der in Wien lebenden Sudetendeutschen mit 200 000, im übrigen Deutschösterreich gleichfalls mit 200 000 und im Deutschen Reiche mit 250 000 beziffern könne, »so daß man unter Berücksichtigung der Schweiz und des übrigen europäischen Auslandes zu der hohen Zahl von dreiviertel Millionen fern ihrer Heimat lebenden Sudetendeutschen gelangt«. 5 Der Sudetendeutsche Heimatbund mit seinen zwei Geschäftsstellen in Wien und in Berlin sei dazu legitimiert, als politische Repräsentation für die »heute rechtlosen und stumm gemachten 3 V4 Millionen daheim« aufzutreten, und könne auf Grund der Herkunft seiner Mit-

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Teil 2: Verdrängte Erinnerungen

glieder besonderes Gehör in der deutschen Öffentlichkeit beanspruchen. Zu den Mitarbeitern solcher Organisationen und ihrer Publikationen gehörten auch zahlreiche in der Tschechoslowakei lebende Deutsche wie Hilda Hadina-Königsreiter. Schon im ersten Band des 1925 in Augsburg erschienenen Sudetendeutschen Jahrbuchs waren die Organisatoren mit ihren Erfolgen zufrieden: »Die Propaganda des einheitlichen Bundes im Norden und Süden ist eine äußerst rührige und kommt der tschechischen auf Täuschung des großen deutschen Nachbarvolkes berechneten scharf in die Quere.« Zu den selbst gestellten Aufgaben des »landsmannschaftlich«, das heißt »unter strengem Ausschluß jeder Parteipolitik«, organisierten Berliner Sudetendeutschen Hilfsvereins gehörte die »Aufklärung der deutschen Öffentlichkeit über die nationale Not der 3 Vi Millionen Deutschen im Tschechenstaate und über die Bedeutung des Sudetendeutschtums für die Gesamtnation«, die »moralische Unterstützung des um Sprache, Kultur und Selbstbestimmung ringenden Sudetendeutschtums« sowie die »Zusammenfassung der sudetendeutschen Heimatgenossen und Beratung und Interessenvertretung der sudetendeutschen Mitglieder«. Deshalb wurden schon in den Gründungsjahren der Tschechoslowakei unzählige Bücher und Broschüren veröffentlicht, Flugblätter verteilt und Veranstaltungen organisiert, in denen das Leiden der deutschen Minderheit in der 1918 gegründeten liberal-demokratischen Republik angeprangert wurde. Das prägende Merkmal aller derartigen Aktivitäten war eine scharfe bis vulgäre antitschechoslowakische Agitation ohne sachliche Informationen. Organisatorisch standen dem Berliner Sudetendeutschen Hilfsverein schon 1924 Landesverbände in Bayern, Preußisch-Schlesien, Sachsen, Thüringen, Berlin und Hamburg sowie zahlreiche Ortsgruppen und angeschlossene Körperschaften wie der Bayerische Volksbund Deutsche Wacht oder der Deutsche Volksbund für Gerechtigkeit in Bremen zur Seite. Der Sudetendeutsche Hilfsverein war zugleich dem Deutschen Schutzbund als »ein Glied in der geschlossenen Reihe der Deutschen Grenzlandverbände, die die Forderung des deutschen Selbstbestimmungsrechtes vereint«, angeschlossen. Der Begriff »Heimat« wurde in der deutschen Sprache nach dem Ersten Weltkrieg häufig mit verwirrenden Konnotationen belegt. Kaum jemand fragte, wie zuverlässig die »fern der Heimat lebenden Sudetendeutschen« die deutsche Öffentlichkeit über ihre »heimatlos« gewordenen und »rechtlos und stumm gemachten« 3 14 (oder auch 3 Vi) Millionen »Heimatgenossen« »daheim« informierten. Eine verwirrende Rhetorik begleitete nicht nur das Verhältnis der Deutschen zur Tschechoslowakei, sondern belastete das politische Leben aller deutschen Minderheiten im östlichen Europa. Das sich damit entstehende verbale Labyrinth ging Hand in Hand mit der außenpolitischen Instrumentalisierung dieser Minderheiten durch das Deutsche Reich. So erklärte beispielsweise der damalige Reichsaußenminister Gustav Strcsemann (1878-1929) im Jahre 1925 bei einer »Tagung des Auslandsdeutschtums in der Heimat«, dass »der Gedanke des Auslandsdeutschtums im Mittelpunkt« der deutschen Außenpolitik 6 stehe: »Gerade in dieser Zeit, in der wir nicht im Sonnenglanz der Weltgeltung leben, sondern in Dunkel und Nacht, sehen wir, wie das ganze Deutschtum der Welt heimfindet zur Heimat.« 7 Der Staatssekretär im damaligen Reichsinnenministerium, Erich Zweigert (1879-1947), wandte sich bei dieser Gelegenheit allerdings nicht an alle Auslandsdeutschen gleichermaßen: »Mein

Das NS-Projckt für die deutschen Minderheiten im östlichen Europa G r u ß gilt allen Auslandsdeutschen, die treu zur Heimat stehen - den Reichsdeutschen im Ausland wie den Deutsch-Ausländern, die wissen, was sie dem deutschen Heimatboden, der deutschen Kultur verdanken.« 8 Er erinnerte an die dieser »Schicksalsgemeinschaft« angehörigen Deutschen und hob »die kulturelle Not« der Auslandsdeutschen als besonders schweres Los hervor. Damit meinte er »die Gegnerschaft im Auslande gegenüber deutschem Wesen, gegenüber den Gütern unserer Kultur, die Angriffe auf unser höchstes Gut, unsere Volksehre, wie sie in der Kriegsschuldlüge und in der Koloniallüge zutage traten«. 9 Deshalb richtete er einen besonderen Gruß an alle, »die Sie aus der Fremde zu uns gekommen sind, um wieder einmal im echten Land, im Heimatland zu weilen«. 10 Der Berliner Geologe Friedrich Solger (1877-1965) erläuterte »die Pflicht des Auslandsdeutschtums gegen die Heimat«", nämlich dass das »Weltdeutschtum« ein »bewußter Außenposten der Heimat« sein solle: »Um diese Grundforderung zu erfüllen, ist die erste Voraussetzung, daß der Auslandsdeutsche seine Heimat kennt, ihre Leistungsfähigkeit, ihre räumlichen und geschichtlichen Bindungen und Entwicklungswege und das Wesen des deutschen Menschen.«' 2 Völlig unklar blieb dabei meist, wann mit dem Wort »Heimat« das Deutsche Reich und wann die Heimat der einzelnen Auslandsdeutschen in ihren jeweiligen Staaten gemeint war. Die verbreitete Vorstellung, dass das östliche Europa von deutscher Kultur geprägt sei, erschwerte die historische Verortung der »Heimat« erheblich: »Schon einmal im Mittelalter ist deutsches Kolonialrecht die Grundlage gewesen, auf der unsere östlichen Nachbarn zu Mitgliedern der europäischen Völkergruppe erzogen wurden, und wenn Polen und Tschechen heute mit dem Erbe, das sie von uns übernommen haben, Staaten aufzubauen suchen, in denen sie ihre deutschen Mitbürger entrechten, dann kann man schon heute sagen, daß sie entweder zu gründe [sie] gehen werden oder zurückkehren müssen zu der deutschen Rechtsschule, aus der sie entlaufen sind.«' 3 Wenn Hilda Hadina-Königsreiter 1923 über Heimatverlust klagte, dann meinte sie all das, was Friedrich Solger im obigen Zitat zum Ausdruck gebracht hatte, dass nämlich ihre tschechischen Nachbarn der »deutschen Rechtsschule entlaufen« seien, weil die Gründung der Tschechoslowakei gegen das »deutsche Kolonialrecht« aus dem Mittelalter verstoßen habe. Das Wort »Heimat« wurde so zur Metapher für einen auf vagen Vorstellungen davon, was im Mittelalter geschehen sei, beruhenden deutschen Herrschaftsanspruch in weiten Teilen Europas.

Während der 1920er Jahren hörte der deutsche Begriff »Heimat« auf, in andere Sprachen übersetzbar zu sein. Das Wort »Heimat« verlor rasch die Bedeutung der jeweiligen Heimat einzelner Menschen im gängigen Sinne des Wortes. Im Laufe weniger Jahre war immer seltener von individueller Heimat und immer häufiger von einer »angestammten Heimat« diverser »Volksgruppen« die Rede. Das Wort »Heimat« verwandelte sich zunehmend in einen territorialen Begriff, der als Bezeichnung von allerlei so genannten deutschen Siedlungsgebieten außerhalb des Deutschen Reiches verstanden wurde. Da das Deutsche Reich auch als die »Heimat«

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Teil 1: Verdrängte Erinnerungen

aller Deutschen galt und zugleich die Vorstellung verbreitet war, dass das gesamte östliche Europa von der deutschen Kultur geprägt sei, überlagerten in den 1920er Jahren die Visionen eines über große Teile des östlichen Europa sich erstreckenden »deutschen Heimatbodens« die realen staatsrechtlichen Grenzen des Deutschen Reiches und trübten den Blick für die real existierende völkerrechtlich legitimierte Staatenordnung. In den 1930er Jahren wurde die deutsche Heimatbegrifflichkeit um weitere rhetorische Komplikationen bereichert, als ganze Gebiete »heimzukehren« begannen. So konnte man beispielsweise in Deutschland 1935 anhand einer Briefmarke erfahren »Die Saar kehrt heim!«, und drei Jahre später wurde »die Heimkehr der Ostmark« (= Österreich) bejubelt. Zur gleichen Zeit machte der Wunsch der Sudetendeutschen Partei in der Tschechoslowakei: »Wir wollen heim ins Reich!« in der gesamten Weltpresse Schlagzeilen. Damals, im Jahre 1938, dachte niemand daran, dass die »Heim ins Reich« rufenden sudetendeutschen Massen ihre Sehnsucht nach einer Übersiedlung aus der Tschechoslowakei nach Deutschland meinen könnten. Es war das Schlagwort einer Anschlussbewegung, die die territoriale Vergrößerung des Deutschen Reiches zum Ziel hatte, und so wurde es auch in Deutschland verstanden: »Ein deutscher Stamm, der außerhalb aller Grenzen leben mußte, die Vaterland hießen, schrie in das Reich seine Rufe, die erschütternd und heroisch nachtönten im Binnendeutschland. Alle Bücher und alle Gedichte waren Gebete, die keinen anderen Gott mehr kannten als: deutsche Heimat.«' 4 Aber nicht nur die Unklarheiten in den beiden Fragen, wo wessen »Heimat« lag und wo das »Vaterland« zu verorten sei, waren in der deutschsprachigen Öffentlichkeit der Zwischenkriegszeit groß. Parallel dazu nahm das Interesse am so genannten Auslandsdeutschtum rasch zu, ohne dass dies die mentale Desorientierung im Umgang mit Grenzfragen zu überwinden half. Geradezu im Gegenteil. Zu den traditionellen Schwierigkeiten der deutschen Frage - der Unklarheiten über die territoriale Ausdehnung des modernen deutschen Nationalstaats - , kamen nach dem Ersten Weltkrieg infolge der damals aktuellen Gebietsverluste neue mentale und politische Belastungen hinsichtlich der nationalen Identität hinzu, und damit gerieten die Auslandsdeutschen in den Fokus der einschlägigen Debatten. Fragen darüber, wie sich ein deutscher Staatsbürger von einem Österreicher oder einem Wolgadeutschen unterscheide und in welchem Verhältnis ihre jeweilige Heimat zu Deutschland stehe, wurden allerdings nicht mit klarem Verstand möglichst präzise beschrieben und analysiert. Anstatt die damals anstehenden Konflikte zu beleuchten, versuchte man in der damaligen Publizistik ebenso wie in der sozialwissenschaftlichen und historischen Literatur zum Thema Auslandsdeutsche alle als deutschsprachig und deutschstämmig angesehene Menschen der Erde in eng geflochtenen Bezeichnungsstrukturen einzuordnen. Dazu gehörten Österreicher oder Schweizer ebenso wie Auswanderer in Amerika oder Australien, die deutschen Bewohner ehemaliger deutscher Kolonialgebiete ebenso wie die deutschen Minderheiten im östlichen Europa. Es war die Rede von Auslandsdeutschen in abgetretenen Gebieten, in den Nachfolgestaaten Österreichs und von den »Ausländsdeutschen im engeren Sinne«, wobei die

Das NS-Projekt für die deutschen Minderheiten im östlichen Europa letzten wiederum in zwei verschiedene Gruppen aufgeteilt wurden: diejenigen, die infolge »staatlicher Absplitterung« und diejenigen, die infolge »Loslösung ohne staatliche Form« zu Auslandsdeutschen geworden waren. Es gab »Grenzinnendeutsche« und »Grenzaußendeutsche«, es gab Auslandsdeutsche, die als »in ihrem Volkstum bedroht« galten, andere wurden wiederum als »des Selbstbestimmungsrechts beraubt« betrachtet. Manche Auslandsdeutsche galten als »Binnendeutsche«, wenn sie als nicht bedroht eingestuft worden waren. Derartige Bezeichnungen führten natürlich dazu, dass einzelne Gruppen je nach Autor unterschiedlichen Gruppen zugeordnet wurden, wie Gottfried Fittbogen (1878-1941), Verfasser des weit verbreiteten Werkes Was jeder Deutsche vom Grenz- und Auslands-Deutschtum wissen muß im Jahre 1924 feststellte: »Die Bewohner des deutschösterreichischen Bundeslandes Salzburg, z. B. sind nach dem ersten Sprachgebrauch Auslandsdeutsche, nach dem Zweiten dagegen Grenzdeutsche, nach dem dritten Binnendeutsche.«' 5 Mit derartigen verbalen Labyrinthen trugen die damals öffentlich sich artikulierenden Schichten der deutschsprachigen Öffentlichkeit wenig zur Aufklärung ihrer Leser bei, sondern machten sie zunehmend wehrlos gegen vulgäre Agitation.

;;-;:-* Im Erinnern an die Vertreibung wird selten darüber berichtet, wie viele Deutsche vor dem Zweiten Weltkrieg wo und seit wann östlich der heutigen deutschen Grenzen lebten und wie sich ihr Zusammenleben mit Angehörigen anderer Nationen historisch gestaltete. Auch diesbezüglich macht sich in der Vertreibungsliteratur eine beträchtliche Nachlässigkeit im Umgang mit geographischen Bezeichnungen, Zeitangaben und Zahlen bemerkbar. Viele Deutsche meinen beispielsweise, dass Ostpreußen ein deutsches Land gewesen sei, ohne zur Kenntnis zu nehmen dass es nie zum Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation und auch im 19. Jahrhundert nicht zum Deutschen Bund gehörte, sondern erst 1871 eine Provinz des Deutschen Reiches wurde. Ebensowenig nimmt man in Deutschland zur Kenntnis, dass Ostpreußen keineswegs ein ethnisch deutsches Gebiet war; noch in der Mitte des 19. Jahrhunderts machte die deutschsprachige Bevölkerung dort nur knapp zwei Drittel aus.' 6 So erscheint Ostpreußen als ein Teil des »verlorenen deutschen Ostens«, wobei praktisch geleugnet wird, dass es seit dem Mittelalter ein multikultureller und staatsrechtlich umstrittener Landstrich gewesen ist. Ähnlich gilt Posen/Poznan als eine deutsche Stadt, obwohl doch in jedem ernsthaften Lexikon steht, dass dort im 10. Jahrhundert der polnische Staat gegründet wurde und die ununterbrochen polnische Stadt erst 1793 von preußischen Truppen besetzt und erst 1815 zur Hauptstadt der preußischen Provinz Großherzogtum Posen gemacht wurde; die polnische Amtssprache wurde erst danach durch die deutsche ersetzt. Viele Deutsche meinen auch, dass Schlesien historisch ein deutsches Land gewesen sei. Sie haben vergessen, dass es früher einmal keineswegs so gesehen wurde, wie aus einem Lexikonartikel aus dem Jahre 1836 abzulesen ist: »Schlesien ward zwar, seit seiner Vereinigung mit Böhmen, zu Deutschland gerechnet, hat aber nie in unmittelbarer Verbindung mit dem Deutschen Reiche gestanden und ist nie, wie die übrigen deutschen Staaten, ein Reichslehen gewesen.

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Teil 2: Verdrängte Erinnerungen Besonders haben die Könige von Preußen dieses Land als ein völlig unabhängiges Besitzthum angesehen und sich daher als souveraine und oberste Herzöge von S.[chlesien] genannt.«' 7 In Vergessenheit geraten ist auch das Erstaunen des Autors der deutschen Nationalhymne, August Heinrich Hoff mann von Fallersleben, als er zum erstenmal nach Breslau kam: »Breslau hatte etwas Fremdes für mich, es machte auf mich gar nicht den Eindruck einer deutschen Stadt.«' 8 Viele Deutsche glauben auch seit Generationen, dass große Teile des östlichen Europas außerhalb von Deutschland von deutscher Kultur geprägt gewesen seien, zum Beispiel die Stadt Prag. Deshalb protestierten nur wenige, als Hitler Prag besetzte und die NS-Propaganda trommelte: »Am 16. März 1939 konnte der Führer aus den Fenstern der alten deutschen Kaiserburg zu Prag, die im Wandel der Zeiten so viele Fürsten, Könige und Kaiser beherbergt hatte, auf die hunderttürmige alte Stadt zu seinen Füßen blicken, deren Bewohner zwar nun in der Mehrzahl tschechisch, deren Steine, Türme und Baudenkmale aber wie immer deutsch redeten.«' 9 In Wirklichkeit war Prag nie eine deutsche Stadt. N u r einige ihre Bewohner sprachen deutsch, und nur zeitweise wurde dort die deutsche Sprache privilegiert. Im Jahre 1910 gaben nur sieben Prozent aller Prager Deutsch als ihre Umgangssprache an, und im Jahre 1930 bekannten sich von insgesamt 848 948 Pragern nur 45 819 (= 5,4 %) zur deutschen Nationalität, davon 8 088 Juden. 20 Am Vorabend des Zweiten Weltkrieges hielten sich dort nur noch 23 330 von den deutschen Behörden als Deutsche anerkannte Menschen auf2', und der sudetendeutsche Publizist Emil Franzel schätzte, dass es zu Kriegsbeginn vielleicht nur »noch 12 000 Deutsche, ein Prozent der Prager Gesamtbevölkerung« 22 gewesen seien. Wollte sich ein Deutscher am Vorabend des Zweiten Weltkriegs über die zahlenmäßige Größe der deutschen Minderheiten im östlichen Europa informieren, dann bot sich ihm etwa anhand des Volks-Brockhaus aus dem Jahre 1935 folgendes Bild 2 ': Tabelle 7: Größe deutscher Minderheiten nach NS-Angaben Staat Polen Tschechoslowakei Ungarn Jugoslawien Rumänien Bulgarien Litauen Lettland Estland UdSSR

Gesamtbevölketung 30,5 Mill. 15 Mill. 8 12

Mill. Mill.

17,5 Mill. 5,5 Mill. 2,1 Mill. 2 Mill. 1,12 Mill. 158,5 Mill.

Deutsche Minderheit 3 , 8 % [1,59 Mill.] 25 % [3,75 Mill.] 7 % [0,56 Mill.] 550 000 [4,58 %] 725 000 [ 4 , 1 4 % ] nicht erwähnt 1,2% [12 000] 4 % [80 000] nicht erwähnt nicht erwähnt

Dieses Bild gibt im Vergleich mit der zeitgenössischen Fachliteratur überhöhte Zahlen der deutschen Minderheiten wieder, vermittelt aber eine ungefähre Vorstel-

Das NS-Projekt für die deutschen Minderheiten im östlichen Europa

lung von dem Verhältnis zwischen der jeweiligen Gesamtbevölkerung und der deutschen Minderheit. 24 Genau sind solche Angaben nie, weil jede statistische Übersicht dieser Art nur annähernde Werte vermitteln kann. Es gibt keine festen, objektiven Entscheidungskriterien darüber, wer als Deutscher gezählt werden sollte. Weder Angaben über die Umgangssprache noch über das persönliche Bekenntnis bieten stabile und von wandelbaren, subjektiven Entscheidungen unabhängige Daten über die nationale Zugehörigkeit einzelner Menschen. Bei national gemischten Familien wird es noch schwieriger. Es ist auch nicht feststellbar, wie viele Angehörige der deutschen Minderheiten Juden waren oder nach den nationalsozialistischen Rassenkriterien als Juden und deshalb nicht als Deutsche galten. Doch zeigen diese wenn auch ungenauen Zahlen deutlich, wie wirklichkeitsfremd die oben erwähnte Rhetorik hinsichtlich der Auslandsdeutschen war. Annähernd lässt sich vermuten, dass im östlichen Europa vor dem Zweiten Weltkrieg insgesamt etwa sieben Millionen Menschen lebten, die deutschsprachig waren oder sich zur deutschen Nationalität bekannten. 25 Ohne die Sowjetunion handelte es sich um neun Staaten mit einer Gesamtbevölkerung von rund 87 Millionen, in denen ca. sechs Millionen Deutsche lebten. Hier bildeten die deutschen Minderheiten ca. 6,9 % der Gesamtbevölkerung, und wenn man bedenkt, dass im Jahre 2003 in der BRD rund 7,3 Millionen Ausländer (gleich 8,9 % der Gesamtbevölkerung) lebten 26 , kann man die zahlenmäßige Bedeutung der deutschen Minderheiten im östlichen Europa in der Zwischenkriegszeit realistischer einschätzen, als wenn man sich vorstellt, dass es irgendwo zwischen Ostsee, Adria und Schwarzem Meer einen »deutschen Osten« und viele »deutsche Heimat- oder Siedlungsgebiete« gegeben habe. Mit Ausnahme der Tschechoslowakei war der Anteil der deutschsprachigen Bevölkerung überall kleiner als der Ausländeranteil in der heutigen Bundesrepublik. Deutsche lebten im östlichen Europa seit unterschiedlich langer Zeit in unterschiedlichen gesellschaftlichen und kulturhistorischen Umgebungen - zum Teil seit mehreren Jahrhunderten und zum Teil erst seit zwei, drei Generationen. Knapp die Hälfte aller Deutschen Osteuropas außerhalb der UdSSR lebten in der Tschechoslowakei; die andere Hälfte verstreut in anderen Staaten. Mit Ausnahme von Polen und der Tschechoslowakei bereitete das Zusammenleben der deutschen Minderheiten mit ihren Nachbarn über die in multikulturellen Gesellschaften üblichen Alltagskonflikte hinaus keine Schwierigkeiten. Es spricht nichts dafür, dass die deutschen Minderheiten die nach dem Ersten Weltkrieg entstandene Staatenordnung destabilisiert hätten, wenn sich das Deutsche Reich nicht in die inneren Angelegenheiten anderer Staaten eingemischt hätte.

Im Erinnern an die Vertreibung ist diese Vorgeschichte wenig bekannt, obwohl oft eine Antwort auf die Frage gesucht wird, die Horst Möller und Manfred Kittel im Jahre 2006 zu beantworten versuchten: »Weshalb sind deutschsprachige Volksgruppen am Ende des Zweiten Weltkriegs nur im östlichen Teil Europas kollektiv aus ihrer angestammten Heimat vertrieben worden?« 27 Begriffe wie »Volksgruppen« oder »angestammte Heimat« weisen darauf hin, wie die sprachlichen Verirrungen der Vor-

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Teil 2: Verdrängte Erinnerungen

kriegszeit bis heute fortwirken. Die Frage aber, warum es im östlichen - im Unterschied zum westlichen Europa - zu Massenumsiedlungen deutscher Bevölkerung kam, ist eine wichtige Frage. Um sie zu beantworten, müssen wir uns die Geschichte der später als Vertriebene bezeichneten Menschen am Vorabend des Zweiten Weltkriegs sorgfältig vergegenwärtigen und das NS-Projckt für die deutschen Minderheiten im östlichen Europa in Augenschein nehmen. Der östlich des Deutschen Reiches liegende Teil des Kontinents spielte nämlich eine ganz andere Rolle in der NS-Ideologie und Politik als der Westen Europas. Daraus ergab sich ein anderer Kriegsverlauf im östlichen Europa und damit auch unterschiedliche Kriegsfolgen. Im thematischen Kanon der Vertreibungsliteratur stehen an erster Stelle die Veränderungen der europäischen Staatenordnung nach dem Ersten Weltkrieg, oft durch den Namen des amerikanischen Präsidenten Woodrow Wilson repräsentiert. Danach pflegen Berichte über die Klagen vieler Deutscher aus der Zwischenkriegszeit und Informationen über die Auswirkungen der Weltwirtschaftskrise seit 1929 zu folgen. Die damals europaweit geführten Diskussionen über Minderheitenfragen sind weit weniger bekannt, und das spezifische Problem der deutschen Minderheiten - die erstaunlich starke Popularität des Nationalsozialismus unter den Auslandsdeutschen - wird kaum erwähnt. Aussagen über den direkten Zusammenhang zwischen der nationalsozialistischen Politik gegenüber den deutschen Minderheiten und der Vertreibung finden wir äußerst selten. Eine derartige thematische Gewichtung der Vorgeschichte der Vertreibung konstruiert ein Geschichtsbild, als wären die Friedensverträge nach dem Ersten Weltkrieg von größerer Bedeutung für die Schicksale der Vertriebenen als der Nationalsozialismus und der Zweite Weltkrieg gewesen. Hier sei in Vorwegnahme späterer Ausführungen dieses Buches kurz auf die außerordentlich große Bedeutung hingewiesen, die dem Verhältnis zwischen den Nationalsozialisten und den deutschen Minderheiten im östlichen Europa in der Geschichte des Zweiten Weltkriegs und der Vertreibung zukommt. Dabei ist vor allem an drei Aspekte zu erinnern: Erstens wurde spätestens in den 1930er Jahren im gesamten Europa mit großer Besorgnis beobachtet, wie Deutschland verstärkt das Thema der deutschen Minderheiten im östlichen Europa zum Objekt politischer Instrumentalisierung machte. Zweitens gerieten auf dem Weg in den Zweiten Weltkrieg die deutschen Minderheiten zunächst in der Tschechoslowakei und danach in Polen ins Rampenlicht der internationalen Öffentlichkeit, was symbolisch in drei Städtenamen und drei Daten zum Ausdruck kommt: München 29. September 1938 - Prag 15. März 1939 - Danzig 1. September 1939, als jedesmal aus Deutschland zu hören war, deutsche Minderheiten müssten geschützt werden.28 Drittens begann im Herbst 1939 das nationalsozialistische Regime selbst, die Lebenswelten der deutschen Minderheiten zu zerstören, als es sein Projekt für die deutsche Bevölkerung in Osteuropa in Angriff nahm und die ersten Umsiedlungen deutscher Bevölkerung in Gang setzte. Die Geschichte der Vertriebenen kann ohne Berücksichtigung des besonderen Verhältnisses zwischen dem Nationalsozialismus und den deutschen Minderheiten nicht erklärt und verstanden werden, und dabei handelt es sich um ein komplexes Thema. Das Verhältnis der Auslandsdeutschen zum Nationalsozialismus war vielfältig, und am Vorabend des Zweiten Weltkriegs spielte es eine bemerkenswerte Rolle.

Das NS-Projekt für die deutschen Minderheiten im östlichen Europa Der niederländische Historiker Louis de Jong hat in seiner Studie Die deutsche Fünfte Kolonne im Zweiten Weltkrieg festgestellt, dass sehr viele Angehörige der deutschen Minderheiten das nationalsozialistische Regime schon vor dem Krieg unterstützten: »Zur peinlichen Überraschung vieler Leute außerhalb Deutschlands errang 1935 im Saargebiet eine Einheitsfront unter nationalsozialistischer Führung eine überwältigende Mehrheit zugunsten der Heimkehr ins Reich. Aber schon vorher hatten die Franzosen im Elsaß, die Belgier in Eupen-Malmedy, die Dänen in Nordschleswig, die Polen im Freistaat Danzig und die Litauer in Memel mißtrauisch das Anwachsen nationalsozialistischer Organisationen verfolgt. Die Tschechen hatten im Oktober 1933 die Deutsche Nationalsozialistische Arbeiterpartei (DNSAP) verboten, die sich von der Partei in Deutschland nur durch die Buchstabenfolge unterschied. Bald darauf aber sahen sie, wie ihre dreieinhalb Millionen Sudetendeutsche Konrad Henlein als Führer anheimfielen, der es zwar ablehnte, ein Nationalsozialist genannt zu werden, aber eine Bewegung gegründet hatte, die der NSDAP geistig und organisatorisch haargenau glich. Die Regierungen von Ungarn, Rumänien und Jugoslawien konnten nicht übersehen, daß der nationalsozialistische Einfluß auf die deutschen Minderheiten in ihren Ländern zunahm. Schon 1933 hatte eine solche Bewegung innerhalb der Volksdeutschen in Rumänien deren alte Parteien überflügelt.«29 Wie ist es zu erklären, dass so viele Angehörige der deutschen Minderheiten zu Anhängern Hitlers wurden und ihre Lebenswege enger mit der Geschichte des Deutschen Reichs als mit ihren jeweiligen N a c h b a r n verknüpften? Diese Frage wird im Erinnern an die Vertreibung - wenn überhaupt gestellt - meist leichtfertig mit Hinweisen auf vielerlei Leidenserfahrungen der deutschen Minderheiten beantwortet. Dabei wird übersehen, dass Hinweise auf die spezifischen politischen Erfahrungen der Auslandsdeutschen zwar deren damalige Befindlichkeiten und Lebensbedingungen erhellen, dass sie aber nicht erklären können, warum viele von ihnen das nationalsozialistische Projekt für die deutschen Minderheiten dem liberal-demokratischen und völkerrechtlich verankerten Minderheitenschutz vorgezogen haben. Im Kontext der Geschichte der Vertriebenen müssen wir deshalb unsere Aufmerksamkeit zwei Themenbereichen zuwenden: Erstens geht es um die Popularität des Nationalsozialismus unter Angehörigen deutschen Minderheiten im allgemeinen, und zweitens um das spezifische Verhältnis zwischen den Nationalsozialisten und den deutschen Minderheiten im östlichen Europa. Die Frage, warum der Nationalsozialismus in Deutschland viele Anhänger fand, wird in der Regel mit Hinweisen auf den Friedensvertrag von Versailles, auf zu hohe Reparationszahlungen, auf Wirtschaftskrise u n d h o h e Arbeitslosigkeit oder auf die antidemokratischen Traditionen der deutschen Politik erklärt. All dies hilft nicht, die ähnlich verbreiteten Sympathien für die Nazis unter der deutschen Bevölkerung anderer Staaten wie Polen, Tschechoslowakei, Ungarn oder Rumänien zu verstehen. Die politischen, wirtschaftlichen u n d sozialen Entwicklungen ebenso wie die kulturhistorischen Traditionen dieser Staaten unterschieden sich von denen in Deutschland, und sie waren auch untereinander

vielfältig.

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Warum der Nationalsozialismus dennoch auch unter den Auslandsdeutschen ähnlich populär wurde wie in Deutschland, können wir allein mit dem Rückgriff auf die Geschichte der weiter unten vorgestellten alldeutschen völkischen Tradition erklären. Letztere führte nicht nur ein rhetorisches Labyrinth herbei, sondern stellte in den 1920er Jahren das Verhältnis zwischen dem Deutschen Reich und den Auslandsdeutschen auf eine neue Grundlage und rückte so das östliche Europa in den Fokus deutscher nationaler Identität. Nicht jeder Völkische ist zum Nationalsozialisten geworden, aber der Nationalsozialismus ist aus dieser Tradition hervorgegangen, und die alldeutsch völkischen rhetorischen Labyrinthe halfen der N S Bewegung, ihre eigenen außenpolitischen Ziele plausible erscheinen zu lassen. Die Kenntnis dieser kulturhistorischen Tradition hilft uns, nicht nur die Popularität des Nationalsozialismus inner- und außerhalb des Deutschen Reiches, sondern auch die besondere Rolle zu verstehen, die das östliche Europa u n d die dortigen Minderheiten in der Geschichte des Nationalsozialismus und folglich in der Geschichte des Zweiten Weltkriegs spielten. U m diese wenig bekannten Zusammenhänge zu erläutern, wird in diesem Kapitel zunächst der historische Hintergrund veranschaulicht werden, in dem das NS-Projekt für die deutschen Minderheiten entwickelt und populär wurde. Drei als Exkurse bezeichnete Abschnitte stellen die häufig verdrängten Erinnerungen an drei wichtige Aspekte jener Entwicklungen separat vor: Im ersten Exkurs werden die Veränderungen der Staatenordnung nach dem Ersten Weltkrieg sowie die viel zitierten und meist missverstandenen programmatischen 14 Punkte des US-Präsidenten W o o d r o w Wilson von 1918 skizziert. Zweitens werden jene Aspekte der völkischen Rhetorik und Denkweise erläutert, die die Wahrnehmung der deutschen Minderheiten im östlichen Europa in der Weimarer Republik geprägt haben. Drittens schließlich werden am Beispiel der Deutschen in der Tschechoslowakei die damaligen Diskussionen zu Minderheitenfragen vergegenwärtigt. Danach wird es anhand der Pläne u n d Zukunftsvisionen Adolf Hitlers und Alfred Rosenbergs für das östliche E u r o p a u m das NS-Projekt für die deutschen Minderheiten gehen. In einem kurzen vierten Exkurs soll an die Ideenwelt eines deutschen Universitätsprofessors aus dem 19. Jahrhundert erinnert werden, die uns exemplarisch ältere Vorwegnahmen der - uns heute kaum verständlichen mentalen Welt und Rhetorik der Nationalsozialisten betreffend das östliche Europa veranschaulicht. Die Kenntnis des hier skizierten historischen Hintergrunds führt uns nicht nur in die Vorgeschichte der Vertreibung ein. Sie ist auch unabdingbar, wenn wir den Nationalsozialismus und die als Vertreibung bezeichneten Ereignisse nicht exotisieren, sondern historisieren wollen - im Sinne ihrer Einbindung in die Geschichte jener Zeit. N u r so können wir den betroffenen Menschen jener Zeit Verständnis entgegenbringen sowie ihr Handeln nachvollziehbar und erklärbar machen.

Das NS-Projekt für die deutschen Minderheiten im östlichen Europa

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WILSON

Abb. 6 Während der amerikanische Präsident Woodrow Wilson von vielen Europäern als Symbol der Freiheit verehrt wurde, gilt er in Deutschland als Pate eines Irrwegs. Diese Vorstellung geht auf die NS-Propaganda zurück, die auch Winston Churchill, Franklin D. Roosevelt und josef W. Stalin verunglimpfte, indem sie sie als angebliche Kriegsanstifter mit Woodrow Wilson als vorgeblichem Friedensengel in Verbindung brachte.

Wilson-Schwindel in neuer Auflage

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EXKURS i: Die Reform der europäischen Staatenordnung nach dem Ersten Weltkrieg Im Erinnern an die Vertreibung wird die nach dem Ersten Weltkrieg entstandene Staatenordnung häufig kritisiert, aber selten erläutert. Deshalb können viele Deutsche bis heute nicht verstehen, warum sie entstanden ist, und sie vermuten, dass dies auf Grund von Fehlentscheidungen geschehen sei. Der ehemalige Bundesinnenminister Otto Schily beruft sich dabei auf einen bekannten Wissenschaftler: »Der Historiker Hagen Schulze hat mit Recht darauf hingewiesen, daß das abstrakte Modell des Selbstbestimmungsrechts der Völker, wie es in den vierzehn Punkten von Woodrow Wilson formuliert war, in die Irre geführt hat. Daß mit diesem Modell erst recht Krieg und Bürgerkrieg heraufbeschworen wurde, war den westlichen Politikern an ihren grünen Tischen in Versailles, St. Germain und Trianon nicht klar.«'0 Die Tatsache, dass es sich bei den damaligen Friedensverhandlungen um die Suche nach Lösungen von Problemen handelte, die sich zum Teil aus der deutschen Kriegsführung ergeben und zum Teil das Zusammenleben der europäischen Nationen schon vor dem Ersten Weltkrieg belastet hatten, ist in Deutschland kaum begriffen worden. Zu den großen Problemen der europäischen Staatenordnung im 19. Jahrhundert gehörte etwa die polnische Frage, da die Zerschlagung Polens im späten 18. Jahrhundert von vielen Europäern nie als gerecht angesehen wurde; es habe sich um eine rücksichtslose Usurpation der Macht über die alte Republik Polen bis hin zu deren vollständiger Auflösung und um die Vergewaltigung der nationalen Rechte der Polen auf eigene staatliche Existenz seitens der Dynastien der Hohenzollern, der Romanovs und der Habsburger gehandelt. Spätestens seit dem Revolutionsjahr 1848 war darüber hinaus erkennbar, dass nationale Zugehörigkeit einen politisch signifikanten Faktor auf dem sich demokratisierenden europäischen Kontinent darstellte. Wie neben der bürgerlichen Gleichberechtigung auch die der Nationen erreicht werden könne, war aber keine einfache Frage. Gemeinsames historisches Bewusstsein und gemeinsame Sprache gehörten zu den wichtigsten Merkmalen der einzelnen nationalen Gemeinschaften, aber in vielen Fällen lagen keine eindeutig erkennbaren Kriterien vor, die auf die nationale Zugehörigkeit der Menschen schließen ließen. Die Schweiz, Belgien oder Luxemburg waren als Nationalstaaten konstituiert, ohne auf sprachlich homogenen Gemeinschaften zu beruhen; die irische Nationalbewegung gehörte zu denjenigen, die auf Separation von den weitgehend gleichsprachigen Staatsbürgern Großbritanniens zielte, und die in Sachsen und Preußen bzw. ab 1871 im Deutschen Reich lebenden Sorben artikulierten kaum Bestrebungen nach eigener Nationalstaatlichkeit. Die auf dynastisch-imperialer Herrschaftsordnung beruhenden Staaten im östlichen Europa - Preußen, Österreich, Russland und das Osmanische Reich - versuchten mit unterschiedlichen Mitteln, ihre multinationale Reiche aufrecht zu erhalten. Die deutsch-österreichische Allianz im Ersten Weltkrieg zeigte aber, dass weder die Hohenzollern noch die Habsburger, ebensowenig wie schon zuvor die Osmanen, in der Lage waren, die slawischen Nationen in ihren jeweiligen Staatsverband zu integrieren. Der Verlauf des Krieges machte der siegreichen Allianz der europäischen Großmächte deutlich, dass in Europa die überlieferte staatsrechtliche Dominanz einiger Nationen über andere im Zeitalter der Demokratisierung unhaltbar geworden war. Selbst das bolschewistische Russland bekannte sich in der Deklaration der Rechte der Völker Russlands vom 15. November 1917 zum Recht auf nationale Selbstbestimmung. Ein klares und überzeugendes Rezept, wie genau

Das NS-Projekt für die deutschen Minderheiten im östlichen Europa eine neue Staatenordnung aussehen solle, die den nationalen Bestrebungen der bis dahin im staatsrechtlichen Sinne nicht gleichgestellten Nationen entgegenkäme, lag allerdings am Ende des Ersten Weltkriegs nicht vor. Dass die Vorstellungen der Mittelmächte von einem Friedensschluss und einer Nachkriegsstaatenordnung sich von den Vorstellungen der Ententemächte diametral unterschieden, davon zeugt nicht zuletzt der Frieden von Brest-Litowsk, der am 3. März 1918 mit Sowjetrussland abschlössen wurde. Das Deutsche Reich erzwang damals einen Friedensvertrag, den der Historiker Heinrich August Winkler als »Eroberungsund Gewaltfriede, wie es ihn in der neueren Geschichte noch nicht gegeben hatte« bezeichnet. 3 ' Es zeigte sich hier, dass Deutschland lediglich in der Kategorie eines Diktatfriedens zu denken und zu handeln bereit war. Bei den Verhandlungen über die komplizierten Sachverhalte des europäischen Ostens mussten sich die in Versailles versammelten Staatsmänner auch mit dieser Hinterlassenschaft auseinandersetzen. In das deutsche Gedächtnis aber ist Brest-Litowsk nicht als Diktatfrieden eingegangen, sondern als die durch die acht Monate später erfolgte Kapitulation im Westen Iverpasste Chance einer deutschen hegemonialen Stellung in Osteuropa. Im deutschen kollektiven Gedächtnis begegnen wir ebenfalls dem Irrtum, der amerikanische Präsident Woodrow Wilson (1856-1924) habe das nationale Selbstbestimmungsrecht als universal geltendes Prinzip zur Reorganisation der europäischen Staatenordnung proklamiert. Der Kölner Historiker Jost Dülffer kommt dagegen in einer eingehenden Analyse zu dem Schluss, das Selbstbestimmungsrecht habe für Wilson »etwas anderes als das Recht auf einen eigenen Nationalstaat« bedeutet; das eigentliche Anliegen Wilsons sei gewesen, dass das »Strukturmerkmal Demokratie als Voraussetzung für dauerhaften Frieden (und dazu ein Völkerbund zu dessen Sicherung)« zu gelten habe.' 2 Die beiden Schlagworte »Frieden und Recht« und »nationale Selbstbestimmung« seien eine populäre, aber unzutreffende Vorstellung der Deutschen davon gewesen, was Wilson verbindlich zugesagt habe: »Es war ein Tunnelblick, mit dem man bei eingeschränktem Blickwinkel nur die eine Lichtquelle wahrnahm: Man suchte zu retten, was nicht mehr zu retten war.«" In Wilsons berühmten 14 Punkten vom 8. Januar 1918 kommt der Begriff »nationale Selbstbestimmung« entgegen einem gängigen Irrtum in Deutschland nicht vor. Es ging Wilson gar nicht um die Reorganisierung Europas nach einem allgemein anzuwendenden Rezept, sondern um die Bewältigung der Kriegsfolgen und um die Lehren, die aus den schrecklichen Kriegserfahrungen zu ziehen waren. Daneben standen die Regeln der internationalen Diplomatie, die Freiheit der Seeschiffahrt außerhalb territorialer Gewässer, die Aufhebung wirtschaftlicher Schranken und die Festsetzung gleicher Elandelsbedingungen zwischen den Nationen, internationale Rüstungskontrolle und die Ordnung kolonialer Ansprüche auf der Agenda. Darüber hinaus sah Wilson in seinem 14-Punkte-Programm die Räumung des gesamten russischen Gebietes, die Wiederherstellung Belgiens, die Befreiung und Rekonstruktion Frankreichs, eine Berichtigung der Grenzen Italiens »gemäß den klar erkennbaren Nationalitätenlinien« sowie die Räumung Rumäniens, Serbiens und Montenegros vor. Serbien sollte freier und gesicherter Zugang zum Meer gewährt und die Beziehungen der verschiedenen Balkanstaaten zueinander sollten auf Grund freundschaftlicher Verabredung gemäß geschichtlich herausgebildeter Loyalitätslinien und der Nationalität festgelegt werden. Vorgesehen wurden auch internationale Garantien für die politische und wirtschaftliche Unabhängigkeit sowie die territoriale Integrität der Balkanstaaten. Außerdem sollte den Völkern Österreich-Ungarns »die freieste Möglichkeit autonomer Entwicklung« gewährt, dem türkischen Teil des Osmanischen

Teil 2: Verdrängte Erinnerungen Reiches eine gesicherte Souveränität garantiert und ein unabhängiger polnischer Staat errichtet werden. Polen sollte nicht in den früheren Grenzen wiederhergestellt, sondern als ein Staat errichtet werden, »der die von unbestreitbar polnischer Bevölkerung bewohnten Gebiete umfassen soll, dem ein freier und sicherer Zugang zum Meere gewährleistet und dessen politische und ökonomische Unabhängigkeit sowie dessen territoriale Integrität durch einen internationalen Vertrag garantiert werden sollen«. Weit davon entfernt, einem Nationalismus zu huldigen, sollte für Wilson damals der spätere Völkerbund (die Vorgängerorganisation der U N O ) eine »allgemeine Gesellschaft der Nationen« werden, die »auf Grund eines besonderen Bundesvertrages gebildet werden« sollte »zum Zweck der Gewährung gegenseitiger Garantien für politische Unabhängigkeit und territoriale Integrität in gleicher Weise für die großen und kleinen Staaten«.'4 Wilsons 14-Punkte-Programm war ein komplexer programmatischer Entwurf dafür, wie die schon vorher vorhandenen und zum Teil infolge des Ersten Weltkriegs entstandenen Probleme gelöst und der internationalen Gemeinschaft künftig ähnliche Erfahrungen erspart bleiben könnten. Es stellte kein Plädoyer für »das abstrakte Modell des Selbstbestimmungsrechts der Völker« dar, wie etwa Hagen Schulze und Otto Schily meinen, oder gar für eine »Wahnidee«, wie Antje Vollmer glaubt, wenn sie von »Menschen wie Präsident Wilson, Chamberlain, Churchill, später Stalin« spricht, »die diese Wahnidee vertreten« hätten.' 5 Vielmehr legten die Wilsonschen Ideen die Grundlage für unsere gegenwärtigen internationalen Gepflogenheiten, ja in gewisser Weise für die politische Kultur in den internationalen Beziehungen, und selbst die damals geschaffene europäische Staatenordnung hat sich bis heute trotz einiger Grenzverschiebungen in Ostmitteleuropa nach dem Zweiten Weltkrieg sowie der Teilung der Tschechoslowakei und Jugoslawiens keineswegs grundlegend verändert. Die Siegermächte von 1918 boten eine andere Antwort auf die Frage, wie das Zusammenleben der europäischen Nationen zu regeln sei, als die deutschen, österreichischen, ungarischen, osmanischen und russischen Regierungen, die bis dahin in Ostmitteleuropa das Sagen hatten. Während der Friedensverhandlungen in den Pariser Vororten bemühten sich die Staatsmänner und Diplomaten um Grenzziehungen, von denen man glaubte, dass sie einerseits den Bestrebungen der zuvor von fremden Dynastien bevormundeten Nationen entgegenkämen und andererseits den damals als tragbare Voraussetzungen für eigenständige Staatlichkeit erachteten Anforderungen entsprächen. Manchmal spielten bei diesen Entscheidungen staatsrechtliche Kontinuitäten eine ausschlaggebende Rolle, wie im Falle des heutigen Tschechien, dessen Grenzen Jahrhunderte lang stabil gewesen waren. Manchmal war man bemüht, ethnischen Kriterien Rechnung zu tragen, wie im Falle der Slowaken, die Jahrhunderte lang im Verband der ungarischen Krone gelebt hatten, aber als eine mit den Tschechen verwandte Nation galten und damals von Befürwortern eines gemeinsamen Staates Tschechoslowakei repräsentiert wurden. Am schwierigsten gestaltete sich die Suche nach neuen Grenzen im Falle der polnischen Nation, deren 1772-1795 zerstörter Staat weite Gebiete umfasst hatte, die im demokratischen Zeitalter kaum als polnisches Territorium beansprucht werden konnten. Im südöstlichen Europa wurde ein multinationales Königreich der Serben, Kroaten und Slowenen gegründet, das viele Befürworter fand, obwohl seine Gründung und Geschichte von zahlreichen Konflikten um die Machtverteilung zwischen den einzelnen Nationen begleitet wurde. In allen Staaten im östlichen Europa lebten neben den Staatsnationen auch kleinere Gruppen von Angehörigen anderer Nationen, darunter auch Deutsche. Wie wir gesehen haben, bildeten die deutschen Minderheiten überall - mit Ausnahme der Tschechoslowakei - einen in Relation zu den Staatsnationen nur geringen Teil

Das NS-Projekt für die deutschen Minderheiten im östlichen Europa der Gesamtbevölkerung. Dennoch und im vollen Bewusstsein dieser Tatsache sorgten die verantwortlichen Siegermächte nach dem Ersten Weltkrieg von Anfang an für einen in liberal-demokratischen Staaten bis heute üblichen völkerrechtlich garantierten Schutz dieser Minderheiten. Die neuen Mechanismen vermochten erwartungsgemäß nicht alle Alltagskonflikte zu lösen, aber sie boten eine Grundlage, die bis heute vergleichbare Probleme mit ähnlichen Mitteln zu überwinden hilft. Mit der neuen Staatenordnung taten sich vor allem Angehörige der zuvor dominanten Nationen schwer. Bis heute beklagen viele Deutsche (und viele Ungarn) die damaligen Entscheidungen als einen ungerechten Gebietsverlust, ohne zu begreifen, dass das friedliche Zusammenleben auf dem europäischen Kontinent damals ebenso wie heute nur auf der Grundlage einer allseitigen Kompromissbereitschaft gestaltet werden kann, die nicht nur die eigene nationale Perspektive, sondern auch die Sicht der Nachbarn in Betracht zieht.

E X K U R S 2: Das Labyrinth der alldeutsch-völkischen

Rhetorik

In der Zwischenkriegszeit wurden die Lebensbedingungen der deutschen Minderheiten von vielen Deutschen falsch beurteilt. Sie glaubten, dass es im östlichen Europa große deutsche Siedlungsgebiete gebe, deren Bewohner unterdrückt würden. Der Grund für diese irrige Sicht ist in der Art und Weise zu suchen, wie darüber in Deutschland gesprochen und geschrieben wurde, hatte doch die oben erwähnte völkische Tradition ein eigenes und in andere Sprachen unübersetzbares Vokabular entwickelt.' 6 Das betraf nicht nur den Begriff »Heimat«. Man redete viel über das »Volkstum«, nannte die deutschen Minderheiten »Volksgruppen« und trug auf Landkarten allerlei Farbflecken auf, um ihre »angestammten Heimatgebiete« zu markieren. Das schwere Schicksal des »Deutschtums unter Fremdherrschaft« und insbesondere des »Grenzlanddeutschtums« wurde beklagt. Viele Deutsche glaubten daher, dass ein »Volkstumskampf« zwischen den deutschen Minderheiten und den jeweiligen Staatsnationen stattfinde. Die völkische Rhetorik begründete darüber hinaus die Fiktion, dass ein Teil des östlichen Europas als »deutscher Osten« zu bezeichnen sei und nahezu das gesamte östliche Europa von deutscher Sprache, deutscher Kultur und deutschen Siedlungen geprägt sei. Kaum jemandem in Deutschland war damals bewusst, dass die vermeintlichen deutschen Siedlungsgebiete keineswegs »deutsch« waren und die deutschsprachige Bevölkerung dort meist nicht einmal regional bzw. lokal die Mehrheit bildete. Diese eigenartige Entwicklung des deutschen Sprechens über Osteuropa und einen »deutschen Osten« - die völkische Tradition - fand Eingang sogar in das deutsche wissenschaftliche Leben und übte besonders in den Sozial- und Kulturwissenschaften einen nachhaltigen Einfluss aus, namentlich unter dem Signum »Ostforschung«.37 Dass völkisches Denken eine so große Bedeutung gewinnen konnte, war die Folge der besonderen Schwierigkeiten, die den modernen deutschen Nationsbildungsprozess begleiteten. Im 19. Jahrhundert hatte man sie als die »deutsche Frage« bezeichnet und damit die Unklarheiten darüber gemeint, wo genau der herbeigesehnte deutsche Nationalstaat zu verorten sei. Die nationale Bewegung mit ihren Farben schwarzrot-gold hatte seit dem frühen 19. Jahrhundert zunächst nur die vage Vorstellung

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Teil 2: Verdrängte Erinnerungen gehabt, dass sich alle deutschen Staaten vereinigen sollten, aber es war nicht klar gewesen, welche Staaten als deutsch zu bezeichnen seien, in welchen Grenzen das künftige Deutschland entstehen und wer dazu gehören sollte. Umstrittene Grenzen stellten für viele Nationen in Europa ein Problem dar; im deutschen Falle aber hatten sie besonders gravierende Auswirkung, weil sich im Zuge der modernen deutschen Nationsbildung viele offene Fragen ergaben, die zu beantworten äußerst schwierig war: Sollten etwa alle Gebiete des ehemaligen Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation bzw. des Deutschen Bundes dazu gehören? Dann hätten große Teile des Königreichs Preußen wie das Großherzogtum Posen oder West- und Ostpreußen außerhalb eines solchen Nationalstaates bleiben müssen. Auch die Habsburger hätten auf große Teile ihrer Monarchie verzichten müssen, die nie zum Heiligen Römischen Reich bzw. zum Deutschen Bund gehört hatten. Zugleich hätte aber nach einem solchen Grenzkriterium die tschechische Nation als Ganzes in den erstrebten deutschen Nationalstaat einbezogen werden müssen, und das wurde von deren politischen Eliten spätestens seit 1848 klar und deutlich abgelehnt; es gab keine tschechischen Stimmen, die sich für eine solche Option ausgesprochen hätten. Nach ethnischen Kriterien konnte man die Grenzziehung des herbeigesehnten neuen Deutschen Reiches auch nicht ziehen, weil deutschsprachige Bevölkerungsgruppen in weiten Teilen Europas in multikulturellen Gebieten mit Angehörigen zahlreicher anderer Nationen zusammenlebten. Angesichts solcher Schwierigkeiten konnte im Revolutionsjahr 1848 die Frankfurter Nationalversammlung die deutsche Frage weder theoretisch noch konkret klären. Auch die Gründung des Deutschen Reiches 1871 vermochte das Problem nicht zu lösen, weil die so genannte kleindeutsche Lösung die Erwartungen vieler Deutscher in und außerhalb dieses Staates nicht befriedigte. Darüber hinaus war es ein Staat, zu dem ein wichtiger Teil der knapp hundert Jahre zuvor zerschlagenen Republik Polen gehörte und in dem die polnische Bevölkerung schwerwiegenden Diskriminierungen ausgesetzt war, von weiteren Minderheiten wie Litauern, Sorben, Dänen, Wallonen und Franzosen ganz zu schweigen.' 8 Ob auf demokratischem Wege ein kleineres Deutschland entstanden wäre und ob eine dahingehende Befürchtung vielleicht der Grund dafür war, dass die Demokratie im damals entstandenen Deutschen Reich keinen großen Anklang fand, muss dahingestellt bleiben. Die deutschsprachigen Bürger anderer Staaten waren stets unterschiedlicher Meinung, was ihre Beziehungen zur deutschen Nation und zu Deutschland betraf; auch regionale Unterschiede machten sich stark bemerkbar. So wünschten beispielsweise unterschiedlich große Teile der Österreicher zu unterschiedlichen Zeiten einen Anschluss an Deutschland, während andere der Meinung waren, dass Österreich sich durch eine erhaltenswertc kulturhistorische und politische Eigenständigkeit auszeichne. In anderen, früher einmal zum Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation und danach zum Deutschen Bund gehörenden und zum Teil von deutschsprachiger Bevölkerung mit bewohnten Gebieten wie dem heutigen Tschechien und Slowenien hätte die Mehrheit der Bevölkerung nie einen Anschluss an einen deutschen Nationalstaat befürwortet. Andere deutsche Minderheiten lebten wiederum weit entfernt von Deutschland in Gegenden, die kaum an einen deutschen Staat je hätten angeschlossen werden können, so dass die deutschsprachige Bevölkerung - etwa im heute rumänischen Siebenbürgen - eine solche I Alternative nicht einmal in Betracht zog. In vielen Gegenden lebten Deutsche integriert in multikulturellen großstädtischen Gesellschaften oder in bäuerlichen Milieus, ohne sich um die deutsche Frage zu kümmern.

Das NS-Projekt für die deutschen Minderheiten im östlichen Europa Manche Deutsche richteten bei der Suche nach ihrer nationalen Identität im 19. Jahrhundert, als die europäischen Kolonialmächte untereinander die Welt aufzuteilen versuchten, ihren Blick nach dem Osten Europas. Dabei träumten sie, ähnlich wie der berühmte Wirtschaftstheoretiker Friedrich List (1789-1846) im Jahre 1842, von einer deutschen Kolonialexpansion z. B. im südöstlichen Europa: »Die Uferländer der Donau links und rechts von Preßburg bis zu ihrer Mündung, die nördlichen Provinzen der Türkei und die westlichen Ufer des Schwarzen Meeres, bieten sie nicht dem deutschen Auswanderer eine Masse unbenutzter, aber natürlich fruchtbarer Ländereien, die ihm nicht schwerer erreichbar wären, als es den Nordamerikanern von New-York oder Pennsylvanien die Länderein am Mississippi und Missouri sind?« Für die damals zahlreichen deutschen Auswanderer nach Amerika hat sich List das südöstliche Europa als alternatives Ziel einfallen lassen: »Welch gewaltigen Strom von Macht läßt das südöstliche Deutschland nach dem Ozean fließen! In den Kanal der Donau geleitet, was könnte er bewirken?« In seinen Augen hätte die Auswanderung im Südosten Europas Großartiges bewirken können: »Geringeres wahrhaft nicht als die Begründung eines mächtigen germanisch-magyarischen östlichen Reichs, einerseits vom Schwarzen, andererseits vom Adriatischen Meer bespült und von deutschem und ungarischem Geist beseelt.«' 9 Ungarn erschien Friedrich List aus allerlei Gründen wie ein auserwähltes Land: »Hier liegt ein Land, strotzend von allen Arten natürlicher Reichtümer wie kein anderes; unter dem günstigen Himmel; aufs glücklichste arrondiert und mit natürlichen Grenzen versehen wie kein anderes Kontinentalland von Europa; mit gleich reichlich von der Natur bedachten Ländern unmittelbar an seiner Seite und zumal Ländern, die, sämtlich in den Händen von Barbaren oder Halbbarbaren, von der europäischen Industrie und Zivilisation erst noch in Besitz zu nehmen sind; in der Mitte durchflössen von einem der größten europäischen Ströme, welchem eine Menge von Strömen zweiten Rangs und von schiffbaren Flüssen tributär sind; zwischen zwei Meeren [...] Welche Aussicht in die Zukunft!« 40 Die geopolitischen Träumereien jener Zeit richteten sich nicht nur in Richtung Südosteuropa. Selbst in der Frankfurter Paulskirche 1848 konnte man Stimmen lauschen, die die deutschen Eroberungen in Polen durch »das Recht des Stärkeren« zu rechtfertigen suchten und behaupteten, dass die so genannte deutsche Ostkolonisation die »Übermacht des deutschen Stammes gegen die meisten slavischen Stämme« beweise. Deutschland wollte man mit einem Schlag auch so mächtig, ja mächtiger als die anderen Kolonialmächte machen, und deshalb wurde mit der »Kraft des deutschen Schwertes« bramarbasiert und vom Kampf zwischen Germanen und Slawen als einem welthistorischen Tatbestand phantasiert. 4 ' Dabei war ständig von Deutschlands Ehre und Deutschlands Schmach die Rede, als wäre es den Deutschen nicht um Expansion, sondern um ein gerechtes Streben nach nationaler Gleichwertigkeit gegangen. Eroberungen und Expansion wurden zugleich als die höchsten Tugenden in die deutsche Vergangenheit projiziert. In der »Festrede zur Feier des Geburtsfestes Maximilian IL, Königs von Bayern gehalten in der öffentlichen Sitzung der königl. Akademie der Wissenschaften von k. Univ.-Professor Dr. Heinrich Karl Ludolf v. Sybel« hieß es beispielsweise im Jahre 1859: »Dem gebietenden Willen, dem kühn vordringenden Ehrgeize, der wuchtigen Herrscherkraft [...] Otto des Großen dünkten die Grenzen der Heimat ein zu

Teil 2: Verdrängte Erinnerungen enger Schauplatz. Es genügte ihm nicht, daß im Osten der Elbe seit langer Zeit die wendischen Lande dem Reiche ein unübersehbares Gebiet für erobernde und bekehrende Kolonisation darboten, ein Gebiet, wo die unzweifelhafte Überlegenheit des deutschen Wesens eine vollständige Aneignung des einmal Gewonnenen in sichere Aussicht stellte. Sein Auge umfaßte weitere Kreise.«42 Als sich nach 1871 im Deutschen Reich die neue staatsrechtlich fundierte nationale Identität zu festigen schien, sammelten sich manche Unzufriedene in den so genannten alldeutschen Vereinen. Ihnen schwebte ein größeres Deutschland vor, weil sie glaubten, was im Jahre 1813 Ernst Moritz Arndt besungen hatte: »So weit die deutsche Zunge klingt / Und Gott im Himmel Lieder singt, / Das soll es sein! / Das, wackerer Deutscher, nenne dein!«4' Die alldeutschen Vereine hatten nicht viele Mitglieder44, aber eine große Phantasie, und sie träumten von einem Deutschland, in dem alle deutschsprachigen Europäer vereinigt würden. Aus praktischen Gründen war es unumgänglich, dass in einem so großen Deutschland auch Angehörige anderer Nationen leben mussten, und das nährte den berüchtigten alldeutschen Expansionismus, außerhalb Deutschlands auch oft Pangermanismus genannt. In den 1890er Jahren wurden die Alldeutschen zum politischen Faktor sowohl im wilhelminischen Reich wie auch in den angrenzenden Gebieten der Habsburgermonarchie (d. h. im heutigen Österreich und Tschechien), obgleich sie keineswegs eine erfolgreiche politische Partei herauszubilden vermochten. Doch lieferten sie Ideen, die allmählich an Popularität gewinnen sollten. Schon damals sind Bücher über Alldeutschland und Großdeutschland, aber auch über eine deutsche Expansion bis nach Russland erschienen, und schon damals begründeten viele ihre expansionistischen Gelüste mit dem Gedanken, dass die Deutschen bessere Menschen seien als andere Europäer: »Denn man kann doch nicht behaupten, dass alle Völker gleich sind. Es gibt I Völker, welche der menschlichen Entwicklung immer fern bleiben und hinterher I marschieren. Es gibt Kulturvölker ersten Grades, in der neueren Zeit das deutsche Volk, dann Kulturvölker zweiten Grades, Franzosen, Italiener und Skandinavier, dann Kulturvölker dritten Grades - Tschechen und Magyaren, dann Völker vierten Grades, welche es noch nicht zur Schriftsprache gebracht haben, und mit diesen sollten wir uns gleichberechtigt halten? Dieses wird nie geschehen.«45 Die Unklarheiten der deutschen Frage im 19. Jahrhundert und die machtpolitischen Ambitionen des wirtschaftlich starken Deutschen Reiches wirkten wie Wasser in zwei verbundenen Gefäßen und beflügelten die hegcmonial-cxpansionistischcn Bestrebungen vieler Deutscher, selbst auf die Gefahr kriegerischer Konflikte hin: »Großdeutschland ist nur möglich durch einen Kampf mit Europa. Rußland, Frankreich und England werden sich der Begründung Großdeutschlands widersetzen. [...] Wir müssen mit dem alldeutschen Gedanken arbeiten.«46 Die alldeutsche Bewegung entwickelte im ausgehenden 19. Jahrhundert jene oben erwähnte eigenartige Rhetorik: die völkische Tradition. Das Wort »national« wurde »verdeutscht« und durch den Begriff »völkisch« ersetzt, zugleich aber auch mit neuen Inhalten belegt. In dieser völkischen Tradition ist jene eigenartige und in andere Sprachen unübersetzbare rhetorische Struktur entstanden, die die Lehren vom Volkstum anstelle von Nation, von Volksgruppen anstelle von nationalen Minderheiten oder von angestammten Heimat- oder Siedlungsgebieten anstelle von der realen Heimat konkreter Menschen verbreitete. Völkerrechtliche und rechtsstaatliche Zusammenhänge wurden zugunsten völkischer Weltbilder verdrängt. Die »Purifizierung« der Sprache (»Reinigung« von wirklichen und vermeintlichen Fremdwörtern) ging einher mit mentaler

Das NS-Projekt für die deutschen Minderheiten im östlichen Europa Abgrenzung von anderen Europäern und mit aggressiven Haltungen gegenüber andersdenkenden Deutschen, die als Kosmopoliten oder Vaterlandsverräter verunglimpft wurden. Zum besonderen Hassobjekt der Völkischen wurden die Juden, wobei man sich zunächst überlieferter antisemitischer Bilder bediente. In den multikulturellen Gesellschaften im östlichen Europa wurden die neuen, aggressiv-feindseligen Haltungen besonders virulent, weil die benachbarten Nationen, vor allem die slawisch sprechenden, im völkischen Denken nicht als ebenbürtig galten. Nach dem Ersten Weltkrieg, als die emanzipatorischen Bestrebungen der osteuropäischen Nationen ihren Ausdruck in der neuen Staatenordnung fanden, spitzte sich die mentale Selbstisolation der alldeutschen völkischen Bewegung zu und gewann nochmals an Aggressivität. An dieser Entwicklung waren die Nationalsozialisten maßgeblich beteiligt. Im Jahre 1908 galt das Wort »völkisch« als ein »neuerdings neben volklich in Aufnahme gekommenes Beiwort, als Verdeutschung des Fremdwortes »national««.47 Die Nationalsozialisten benutzten dieses Wort und entwickelten die völkischen Ideen fort - im Jahre 1938 hieß es im Brockhaus, dass völkisch »die etwa seit 1875 aufgekommene Verdeutschung des Wortes »national«, im Sinne eines auf dem Rassegedanken begründeten Nationalismus« sei.48 »Völkisch« wurde mit dem offenen Bekenntnis zu einer spezifischen Form des Rassismus verknüpft. Auch das Wort »Nationalismus« erhielt eine neue Bedeutung: Im 19. Jahrhundert sei es eine bestimmte politische Richtung gewesen, »die den Vorrang des Nationalen vor allen anderen Belangen vertritt«, aber im 20. Jahrhundert sei für die nationalistischen Bewegungen »das Streben nach autoritärer Staatsführung und sozialer Neuordnung kennzeichnend«.49 Als die beiden bedeutendsten dieser neuen Bewegungen wurden der Nationalsozialismus und der italienische Faschismus genannt, aber hingewiesen wurde auch auf faschistische Gruppen in Frankreich, England, Belgien, in den Niederlanden, Finnland und Rumänien sowie auf die Falangisten in Spanien. Mit einem derart klaren und offenen Bekenntnis zu Rassismus und Faschismus setzte die nationalsozialistische Staatsdoktrin das Deutsche Reich von der internationalen Staatengemeinschaft ab. Kein anderer Staat - auch keiner derjenigen Staaten, die zeitweise zu Verbündeten des Deutschen Reiches wurden - bekannte sich zu einer vergleichbar vulgären rassistischen Ideologie: »Das Dritte Reich verstand sich nicht nur als nationale Bewegung, vielmehr als eine globale, blutsgebundene, dem Jus sanguinis verpflichtete und von den allgemein anerkannten Staatsgrenzen abgekoppelte Volksgemeinschaft.«50 Dieses auf Rassismus und Faschismus begründete Credo ersetzte zunehmend ältere Formen des deutschen nationalen Bewusstseins. Es verließ alle Traditionen sowohl des staatsrechtlich-patriotischen als auch ethnisch begründeten Nationalismus, da aus der völkisch-nationalsozialistisch konzipierten Volksgemeinschaft Deutsche mit vermeintlich fremdem Blut sowie alle Gegner der »autoritären Staatsführung und sozialen Neuordnung« ausgeschlossen wurden. Die deutsche Nation im Sinne der Staatsbürger des Deutschen Reiches hörte 1933 auf, die staatstragende Rolle zu spielen, und wurde von der so genannten deutschen Volksgemeinschaft ersetzt, die im Volks-Brockhaus als »die auf blutmäßiger Verbundenheit, auf gemeinsamem Schicksal und auf gemeinsamem politischem Glauben beruhende Lebensgemeinschaft eines Volkes« definiert wurde. 5 '

Für Angehörige der deutschen Minderheiten brachte die völkische und vor allem die nationalsozialistische Agitation schwerwiegende Probleme mit sich: Sie regte dazu

Teil 2: Verdrängte Erinnerungen an, ihre jeweiligen Staaten mit a priori feindseligen Augen zu sehen. Die rhetorischen Schablonen der völkischen Agitation erlebten schon während des Ersten Weltkriegs eine Hochkonjunktur, nämlich als die »Waffenbrüderschaft« des Deutschen Reiches mit der Habsburger Monarchie propagiert wurde, wie wenn es sich um eine alldeutsche Allianz im Kampf gegen Europa gehandelt hätte. Auch nachdem die Waffen schwiegen, wirkte die Kriegspropaganda fort. Das trübte den Blick für die realen Lebensverhältnisse. Schon lange bevor Hitler zum bejubelten Führer der deutschen Volksgemeinschaft wurde, waren im östlichen Europa allerorts völkische Klagen über die Niederlage der deutsch-österreichischen Allianz und der Träume von einer Vergrößerung des Deutschen Reiches zu hören. Die neue Staatenordnung wurde als ein Diktat der Sieger stilisiert und nicht als Versuch einer Lösung schwerwiegender, schon zuvor vorhandener Probleme begriffen. Kaum ein deutscher Historiker oder Politiker erklärte etwa den Deutschen in der Tschechoslowakei, warum die Jahrhunderte alten Grenzen des altehrwürdigen Königreichs Böhmen erhalten wurden, obwohl auf beiden Seiten ethnisch deutsche Bevölkerung lebte. Die meisten Deutschen in Polen verstanden nicht, warum der polnische Staat wieder errichtet wurde. Jeder Alltagskonflikt, jede Unannehmlichkeit der deutschen Bevölkerung wurde als Ausdruck polnischer Unterdrückung des so genannten deutschen Volkstums interpretiert, wobei Probleme des Deutschen Reiches mit denen der deutschen Minderheit in Polen vermischt wurden: »In der Republik Polen zeigen sich die Folgen, welche die Niederlage unseres Staates für das deutsche Volkstum hat, am handgreiflichsten. Mit großer Leidenschaft und Energie wird hier der Kampf gegen das deutsche Volk mit den Waffen des Friedens fortgesetzt. Die Tendenz ist klar, das letzte Ziel ist: alle Deutschen von dem jetzt an Polen gefallenen Boden hinwegzufegen.«52 Die im Deutschen Reich populären Klagen über die vermeintliche »Schmach von Versailles« und die Klagen deutscher Minderheiten im östlichen Europa über die so genannte Fremdherrschaft wurden in einem Atem ausgesprochen, und die konkreten, im politischen Leben in verschiedenen Staaten und Zeiten jeweils unterschiedlichen Probleme verschwanden unter einem nebulösen Schleier verwirrter völkischer Rhetorik. Der Mangel an historisch-politischen Informationen erschwerte es den Angehörigen der deutschen Minderheiten, sich nach dem Ersten Weltkrieg in der neuen Staatenordnung zu orientieren, und bestärkte die Anfälligkeit für völkische Agitation. Alltagsprobleme wurden zu Überlebensfragen des deutschen Volkstums aufgebauscht, dem völkischen Jargon entsprechend sollten sich die deutschen Minderheiten in so genannten Volksgruppen zusammenschließen, sich als Angehörige der deutschen Volksgemeinschaft fühlen und in ihren Nachbarn Gegner im so genannten Volkstumskampf sehen. Zu diesem Zweck sind in der Zwischenkriegszeit zahlreiche neue Organisationen gegründet und schon existierende Vereine programmatisch neu ausgerichtet worden, wie wir oben am Beispiel der von Wien und Berlin aus organisierten sudetendeutschen Vereine gesehen haben. Das größte Netzwerk völkischer Verbände entwickelte die sudetendeutsche »Volksgruppe« in der Tschechoslowakei, die ab 1933 von der Sudetendeutschen Heimatbewegung bzw. ab 1935 Sudetendeutschen Partei repräsentiert wurde und nach ihrem Führer Konrad Henlein (18981945) international als Henlein-Bewegung bekannt ist.5' Diese Entwicklungen innerhalb der deutschen Minderheiten waren kein Ausdruck autochthoner politischer Willensbildung; sie wurden von Deutschland aus mit großem Aufwand nicht nur propagandistisch, sondern auch finanziell, vor allem aber organisatorisch gefördert,

Das NS-Projekt für die deutschen Minderheiten im östlichen Europa wie z. B. der Historiker Michael Fahlbusch in einer detailliert dokumentierten Studie über die »Volksdeutschen Forschungsgemeinschaften« zeigt.54 Nach der Errichtung der nationalsozialistischen Diktatur in Deutschland bedeutete das völkische Postulat, dass Angehörige deutscher Minderheiten sich nicht nur der deutschen Volksgemeinschaft zugehörig fühlen, sondern auch ihre Treue zum Führer Adolf Hitler bekunden sollten. Auf diesem Weg sind viele Auslandsdeutsche zu Anhängern Hitlers geworden. Im so genannten deutschen Grenzland - in der Tschechoslowakei und Polen - wurde dieses Problem virulenter als etwa in Ungarn, Rumänien oder Jugoslawien, wo die deutschen Minderheiten kaum von einem Anschluss an das Deutsche Reich träumen konnten und zahlenmäßig kaum in der Lage waren, politischen Einfluss in ihren jeweiligen Staaten auszuüben. Strukturelle Ähnlichkeiten dieser Entwicklung sind überall zu beobachten, aber im Falle der Tschechoslowakei und Polens wurde von dem NS-Regime gemeinsam mit den jeweiligen völkischen Bewegungen im Landesinnern die europäische Staatenordnung aus den Angeln gehoben. Die aggressiv-feindselige Politik der Völkischen war keine ethnisch begründete Politik. Sie richtete sich nicht nur gegen die so genannte Fremdherrschaft, sondern auch gegen anders denkende Deutsche. Nicht ethnische Unterschiede, sondern politische Bemühungen um eine auf dem freien politischen Willen aller Staatsbürger begründete demokratische Selbstbestimmung riefen die Aversionen der Völkischen hervor und führten auch zu Konflikten innerhalb der deutschen Minderheiten, wie der sudetendeutsche Sozialdemokrat Volkmar Gabert (1923-2003) berichtet: »Nach 1935/36 hatten wir in unseren Gebieten eine bürgerkriegsähnliche Situation. Bekanntlich erfuhr die Henlein-Bewegung starke Unterstützung aus dem Deutschen Reich: finanziell, ideell und organisatorisch. Ihre Anhänger wurden auch zu direktem Widerstand gegen die tschechoslowakischen Behörden ausgebildet. Wir, die deutschen Sozialdemokraten im Sudetenland, vertraten den Standpunkt, daß zwar dem tschechoslowakischen Staat eine Menge fehle, trotzdem sei er eine Demokratie und keine Diktatur. Wir müßten alles tun, um diese Republik zu erhalten, weil sie uns ein Stück Freiheit garantierte, die es im Nazi-Deutschland und in Österreich mit seinem Austrofaschismus nicht mehr gab.«55 Weit davon entfernt, das Bild eines ethnischen deutsch-tschechischen Konflikts zu zeichnen, erinnert Gabert vielmehr daran, wie die tschechische Polizei gezwungen war, in jene von ihm geschilderte »bürgerkriegsähnliche Situation« einzugreifen, um immer wieder ein »innerdeutsches« Blutbad zu verhindern. Detlef Brandes bestätigt dieses Bild; er schildert anhand einer detaillierten Dokumentation den Terror der Sudetendeutschen Partei in der Tschechoslowakei des Jahres 1938, der sich nicht nur gegen Tschechen und Juden, sondern auch gegen deutsche Sozialdemokraten und Kommunisten gleichermaßen richtete.56 Die deutschen Minderheiten waren weder ethnisch begründete Volksgruppen noch politisch einheitliche Gemeinschaften. Geradezu im Gegenteil: Die Forcierung der ethnisch begründeten Separatidentität bestärkte die intra-ethnischen Gegensätze. 57 Dennoch wiederholen im Erinnern an die Vertreibung manche Autoren bis heute die Klagen der damaligen völkischen Politiker über die vermeintliche tschechische »Fremdherrschaft« und tun so, als wären die Deutschen in der Tschechoslowakei eine einheitliche, ethnisch begründete »Volksgruppe« und ein Teil der gesamtdeutschen »Volksgemeinschaft« gewesen. Dabei erwähnen sie nicht einmal, dass die Nationalsozialisten ohnehin an keiner liberal-demokratischen Konfliktregelung von Minderheitenfragen interessiert waren:

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Teil 2: Verdrängte Erinnerungen »Während im Mittelpunkt des Minderheitenrechtes das Individuum und der Schutz seiner geheiligten und unveräußerlichen Rechte steht, dreht sich das nationalsozialistische Denken ausschließlich um die Volksgemeinschaft und begreift das Individuum nur als Glied einer solchen.«58 Die völkische Propaganda verwirrte viele Deutsche nicht nur in Deutschland, sondern auch im Ausland, aber nicht alle. Ihre Gegner gehörten unterschiedlichen Bevölkerungsgruppen an, meist waren es liberale Demokraten, Sozialdemokraten, Kommunisten, Pazifisten und Humanisten aller Art, oft auch Angehörige kirchlichreligiöser Gemeinschaften oder konservativ-bürgerlicher Kreise. Charakteristisch für Angehörige dieser Gruppierungen waren national tolerante Haltungen bis zu ausgeprägtem Internationalismus. Sie hatten zu ihren jeweiligen Mitbürgern anderer Nationalitäten ein aufgeschlossenes bis positives Verhältnis und durchschauten die Lügen der völkischen Propaganda. In einem 1944 in London erschienen Sammelband emigrierter deutschböhmischer Schriftsteller Stimmen aus Böhmen begegnen wir zahlreichen Beispielen solcher Haltungen und zugleich vielerlei Kritik an die Adresse der sudetendeutschen völkischen Bewegung: »Es ist nicht wahr, dass dieses nationalsozialistische Lumpenpack in der neuen [tschechoslowakischen] Republik unterdrückt wurde. Die deutschen Grossindustriellen erfreuten sich der Rückendeckung durch reichsdeutsche Trusts und Banken. Die deutschen nationalistischen Politiker hatten ihre Ratgeber in Berlin. Die deutschen Fabrikanten handelten mit der ganzen Welt, und verdienten reichlich. Es gab noch 1938 verhältnismässig mehr Schulen für die Deutschen als für die Tschechen: Es gab keine Minderheit in den Nachfolgestaaten Oesterreichs, die solche Freiheiten genossen hätte, nur um sie sträflich zu missbrauchen, bis schliesslich von der Mehrheit der Deutschen durch Hochverrat und blutige Gewalt auch der letzte Rest von Freiheit beseitigt war.«59 Die Erinnerung an die Milieus, die sich in dieser Richtung äußerten, verbietet es, die so genannten Nationalitätenkonflikte für das prägende Merkmal der Zwischenkriegszeit zu halten, wie es die Völkischen tun. Vielmehr gilt es zu fragen, in welcher Weise verschiedene Teile der deutschen Minderheiten mit den Alltagskonflikten multikultureller Gesellschaften umgingen. Die Legende, dass die nach dem Ersten Weltkrieg errichtete europäische Staatenordnung eine Fehlkonstruktion gewesen und durch Nationalitätenkonflikte zerstört worden sei, setzten diejenigen Menschen in die Welt, die der völkischen Ideologie huldigten und aus deren Reihen sich Hitlers Anhänger rekrutierten. In Wirklichkeit stellten die deutschen Minderheiten weder kulturhistorisch und politisch homogene Gemeinschaften noch völkische so genannte Vorposten des Deutschtums im Osten dar, obwohl es angesichts der massiven alldeutsch-völkischen Agitation für niemanden leicht war, sich eigenständig politisch zu orientieren und den Bezug zur Wirklichkeit nicht zu verlieren.

E X K U R S 3: Ein Kurzbesuch im mentalen Labyrinth der Deutschen in der Tschechoslowakei Da die Demokratie nach dem Ersten Weltkrieg weit weniger beliebt war als heute, vermochten nur wenige auch am liberal-demokratischen Konzept der Minderheitenrechte Gefallen zu finden. Über Fragen des Zusammenlebens zwischen den deut-

Das NS-Projekt für die deutschen Minderheiten im östlichen Europa sehen Minderheiten und ihren Mitbürgern im östlichen Europa zerbrachen sich dennoch damals viele Menschen die Köpfe. Sie verfolgten dabei unterschiedliche Ziele, waren unterschiedlichen kulturhistorischen Traditionen verpflichtet, nahmen ihre Umwelt unterschiedlich wahr und wählten unterschiedliche Lösungsstrategien. Besonders intensiv wurde damals über die deutsche Minderheit in der Tschechoslowakei nachgedacht, dem einzigen Staat, wo die Deutschen eine zahlenmäßig große und schon seit dem Mittelalter beheimatete Minderheit bildeten. Manche Deutsche empfanden Sympathien für diesen Staat, wie etwa aus einem Brief Thomas Manns vom 8. Dezember 1936 an seinen Freund Stefan Zweig hervorgeht: »Im Übrigen hat die C.S.R. mir das Bürgerrecht gegeben, so daß ich wieder ein Staatswesen im Rücken habe, das ich achte.«60 Die völkischen Politiker und Publizisten hielten und halten diesen Staat dagegen für eine »Fehlkonstruktion«. 6 ' In der damaligen europäischen Auseinandersetzung zwischen den westlich-liberalen Demokratien einerseits und den autoritär-faschistischen Diktaturen anderereits verkörperte die Tschechoslowakei jene Ideale, zu denen sich heute das gesamte Europa bekennt. Dass dort im Namen dieser Ideen die Siegermächte des Ersten Weltkriegs und die tschechoslowakischen Regierungen versuchten, das multikulturelle Leben dieses Staates zu gestalten, verleiht den damaligen Debatten über die deutsche Minderheit eine besondere Bedeutung sowohl für die Geschichte der Vertriebenen als auch für das Nachdenken über Minderheitenprobleme im allgemeinen.

Nach der Gründung des Staates blieben die vorhandenen Strukturen des politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Lebens der deutschsprachigen Bevölkerung erhalten, und die deutsche Minderheit partizipierte am gesamten politischen, Rechts- und Regierungssystem des Staates. Viele Deutsche jedoch verstanden die mentale Welt der liberal-demokratischen Politik damals nicht und waren infolge der Kriegspropaganda der deutsch-österreichischen Allianz gegen die - wie man es damals nannte - »westlichen« Ideen und somit auch gegen die Tschechoslowakei a priori voreingenommen. Dazu trugen auch die schon vor der Gründung der Tschechoslowakei populären alldeutsch-völkische Sehnsüchte nach einem Anschluss der böhmischen Länder an das Deutsche Reich bei, woraus sich eine verbreitete Abneigung gegen die Suche nach politischen Problemlösungen von Alltagskonflikten ergab. Das sehen wir beispielsweise an dem folgenden Kommentar des deutschböhmische Politiker Karl Iro (1861 1934) zu den sprachenpolitischen Konflikten aus dem Jahre 1901: »Wir wollen keine Sprachenverordnungen, keinen einseitigen »Ausgleich«, keine Zweiteilung Böhmens - sondern die volle Anerkennung der Vorherrschaft der Deutschen in Österreich, oder nach vollzogener Sonderstellung Galiziens eine friedliche Änderung der Verfassung im Sinne der Angliederung der einstmals deutschen Bundesländer an das Deutsche Reich.«62 Nach der Gründung der Tschechoslowakei schwebte dem aus der alldeutschen Bewegung hervorgegangenem Nationalsozialisten Rudolf Jung (1882-1945) Ähnliches vor.6' In seinem 1919 in Opava/Troppau erschienenen Buch Der nationale Sozialismus. Eine Erläuterung seiner Grundlagen und Ziele formulierte Jung sein Ziel unmissverständlich: »Wir fordern den Zusammenschluß aller Deutschen auf Grund des Selbstbestimmungsrechtes der Völker zu einem Groß-Deutschland.« 64 Jung vertrat die Deutsche Nationalsozialistische Arbeiterpartei in den Jahren 1920-1933 im

Teil 2: Verdrängte Erinnerungen tschechoslowakischen Parlament und galt im Deutschen Reich der frühen 1920er Jahre als der »Führer der größten nationalsozialistischen Organisation, nämlich der in der Tschechoslowakei«.65 Die Frage, wie das deutsch-tschechische Zusammenleben in der Tschechoslowakei gestaltet werden könne, stellte sich für die Nationalsozialisten nicht einmal, da sie von Anfang an die Zerschlagung dieses Staates anstrebten und den Anschluss an das Deutsche Reich als ihr Ziel ansahen. Für viele Deutsche in der Tschechoslowakei war die militante Vulgarität der Nationalsozialisten nicht attraktiv, aber selbst bei den Gebildeten unter ihnen führte das verbale Labyrinth der völkischen Rhetorik zu Verwirrungen. »Das einzige geschlossene Siedlungsgebiet der Deutschen im slawischen Osten ist das sudetendeutschc Gebiet«, schrieb beispielsweise im Jahre 1930 der Slawist Franz Katholnigg (1906- ?) in einer von der Deutschen Universität in Prag herausgegebenen Abhandlung und klagte in dem damals gängigen Jargon: »In innerem und äußerem Verfall steht das Deutschtum des Ostens heute dem Vernichtungswillen seiner Herrenvölker gegenüber. In zahllosen Sprachinseln zersplittert, die oft selbst von jeder deutschen Kultur abgeschnitten sind, hat es keine Kraft zur Selbstbesinnung.«66 Katholnigg war wie viele andere damals davon überzeugt, dass die deutschen Bauern, Handwerker und Kaufleute, die sich seit dem Mittelalter immer wieder im östlichen Europa niedergelassen hatten, für ihre anderssprachigen Nachbarn »Kulturbringer« gewesen seien. Er bedauerte ebenfalls, dass ihre Nachkommen diese Rolle eingebüßt hätten, zog daraus allerdings andere Schlussfolgerungen als die Nationalsozialisten. Er war nicht der Ansicht, dass sich aus der vermeintlichen früheren »kulturbringenden Rolle« eine Kulturüberlegenheit in der Gegenwart ableiten lasse. Die slawischen Nationen hätten inzwischen ihre eigenen nationalen Kulturen herausgebildet, die die Deutschen nun kennenlernen sollten. Daraus ergebe sich für die Sudetendeutschen eine andere wichtige Rolle für die Zukunft Europas als die eines »Kulturträgers« - sie sollten sich »als Bindeglied zwischen dem deutschen Staat und dem slawischen Osten« fühlen.67 Bisher seien die Sudetendeutschen dieser Aufgabe nicht gewachsen, meinte Katholnigg, »innere Zerfahrenheit und schwere Kämpfe mit dem tschechischen Nachbar« hätten sie daran gehindert: »So hat eine Gruppe, die außerhalb des sudetendeutschen Volkes steht, fast allein die Arbeit auf sich genommen, dem deutschen Volk den tschechischen Geist zu vermitteln: Die Prager Juden.«68 Katholnigg verwies auf die Tradition deutscher und tschechischer Publizisten und Schriftsteller, die sich schon früher um das gegenseitige Kennenlernen und Befruchten bemüht hätten, und brachte seine Hoffnung zum Ausdruck, selbst mit einer Studie über »die tschechische Lyrik der Gegenwart und die Deutschen« zur Pflege dieser Tradition beizutragen. All dies klang versöhnlich, aber die Ziele, die Katholnigg verfolgte, waren mit der politischen Kultur der Tschechoslowakischen Republik nicht vereinbar. Katholnigg missbilligte nämlich, dass »Prager Juden« tschechische Literatur ins Deutsche übersetzten. Er war Antisemit und hielt es für »gefährlich«, die Vermittlerrolle jüdischen Autoren zu überlassen: »Diese Gefahr kann hier nur behoben werden, wenn sich das Sudetendeutschtum selbst um die literarischen Beziehungen zu den Tschechen kümmert und diese Aufgabe nicht volksfremden Ästheten überläßt, die das tiefste Ringen der Völker um die eigene Seele nicht verstehen.«69 Der Vorschlag Franz Katholniggs, die Sudetendeutschen sollten sich mehr um ihre Be-

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Ziehungen zu ihren tschechischen Nachbarn kümmern, gab sich den Anschein eines friedfertigen Programms zur Regelung der deutsch-tschechischen Beziehungen. Aber

Das NS-Projekt für die deutschen Minderheiten im östlichen Europa seine Vorstellung, man könne die »Prager Juden« und jüdische Übersetzer als »volksfremde Ästheten« aus dem so genannten Sudetendeutschtum oder gar aus den deutsch-tschechischen Beziehungen ausgrenzen, war kein praktikables Rezept. Antisemitismus war mit den das öffentliche Leben der Ersten Tschechoslowakischen Republik bestimmenden liberal-demokratischen Wertvorstellung nicht vereinbar. Mit der Meinung, dass der deutschen Minderheit in der Tschechoslowakei eine große Bedeutung nicht nur für das friedliche Zusammenleben in diesem Staat, sondern für den Frieden auf dem gesamten europäischen Kontinent zukomme, stand Franz Katholnigg jedoch keineswegs allein. So meinte auch der tschechische Historiker Kamil Krofta (1876-1945), seit 1927 stellvertretender Außenminister und von 1936 bis 1938 Außenminister seines Landes, dass die Deutschen der Tschechoslowakei eine wichtige Rolle im europäischen Leben spielten könnten: »Die Bedeutung der deutschen Bevölkerung des tschechoslowakischen Staates geht schon aus der Tatsache hervor, daß sie die bei weitem größte deutsche Minorität in Europa sind. Während die deutschen Minoritäten in Rumänien, Ungarn, Jugoslawien nur je etwas mehr als eine halbe Million betragen und in Polen wohl etwas weniger als eine Million (etwa 800 000), leben in der Tschechoslowakei mehr als 3 Millionen Deutsche. Das ist mehr als ein Drittel aller deutschen Minoritäten in Europa [...] Faßt man noch das kulturelle und wirtschaftliche Niveau dieser deutschen Minorität ins Auge, so wird man sich klar über ihre Bedeutung einerseits für den tschechoslowakischen Staat, andererseits für das deutsche Volkstum, gleichzeitig aber auch für die europäische Minderheitenpolitik im allgemeinen, der sich immer mehr die Aufmerksamkeit der europäischen Staatsmänner zuwendet und von der nicht zuletzt der wahre Frieden Europas abhängt.«70 Kamil Krofta wies auf die lange deutsch-tschechische Nachbarschaft sowie die vielfältigen Beziehungen der Deutschen zu ihren tschechischen Mitbürgern hin, »mit denen sie Jahrhunderte lang zusammengelebt hatten und mit denen sie durch die Tradition der Vergangenheit, die geographische Einheit und tausendfache Interessen des gemeinsamen Vaterlandes verknüpft sind«.71 Er ging auf die gesetzlich verankerten Sonderrechte und die Lebensbedingungen der deutschen Minderheit in der liberal-demokratischen und damals - im Jahre 1928 - wirtschaftlich prosperierenden Republik ein. Dabei kam er zu der Schlussfolgerung, dass die deutsche Minderheit keineswegs »einen Kampf um ihre Existenz« führe, wie damals immer wieder in zahlreichen Reden sudetendeutscher Politiker geklagt wurde, »sondern nurum ihren Anteil an der öffentlichen Gewalt im Staate, an seiner Leitung und Verwaltung«.72 Dass sie ein Recht darauf beanspruchen könne, werde von niemandem, nicht einmal von den radikalsten tschechischen Nationalisten, bestritten. Misstrauen riefen nur einzelne Äußerungen mancher deutscher Politiker hervor, »die eine nationale Pflicht darin erblicken, nicht nur gegen das gegenwärtige Regierungssystem anzukämpfen, sondern geradezu gegen den Bestand des Staates. Ich bin fest überzeugt, daß solche staatsfeindlichen Äußerungen, so kategorisch und pathetisch sie auch vorgetragen werden, nicht der wahren Gesinnung der überwiegenden und entschiedenen Mehrheit unserer deutschen Landsleute entsprechen. Denn diese wissen sehr gut, daß ihre Zugehörigkeit zu der Tschechoslowakei keineswegs zufällig oder künstlich ist, sondern durch Natur und Geschichte gegeben, sie sehen auch ein, daß sie nicht auf die Dauer einem Staatswesen feindlich oder zu gleichgültig gegenüber stehen können, mit dem sie durch so viele und mannigfaltige Interessen verknüpft sind.«73

Teil 2: Verdrängte Erinnerungen Es liege im beiderseitigen Interesse, meinte Krofta, eine kluge und maßvolle Nationalitätenpolitik zu fördern. Er bedauerte Fehler, die in dieser Hinsicht tschcchischerseits begangen wurden oder werden, und war bemüht, Zuversicht zu erwecken: »Unsere deutschen Landsleute brauchen um ihr Schicksal nicht bangen, und auch ihre Stammesgenossen jenseits der Grenze, denen niemand wehren kann, mit ihnen brüderlich zu fühlen, brauchen sich um sie keinerlei Sorge zu machen.«74 Am Ende bot Krofta eine ähnliche Zukunftsvision wie Katholnigg: »Wer ist denn berufener zum Vermittler zwischen dem Deutschtum und allen seinen östlichen slawischen Nachbarn, als eben die Deutschen in der Tschechoslowakei, die in täglicher Berührung mit der slawischen Nation leben und so wertvolle Gelegenheit haben, sich die Kenntnis der slawischen Sprache und Kultur zu erwerben und so das Tor zur ganzen slawischen Welt zu öffnen?«75 Unter den Kritikern der tschechischen Haltungen gegenüber der deutschen Minderheit verdient vor allem der bekannte tschechische Biologe und Philosoph Emanuel Rädl (1873-1942) Erwähnung. Sein 1928 in deutscher und tschechischer Sprache gleichzeitig erschienenes Buch über die deutsch-tschechischen Beziehungen wird bis heute in Tschechien gelesen und diskutiert.76 In Deutschland wird Rädl als »ein einsamer Fels in der Brandung« gewürdigt.77 In seiner 1935 veröffentlichten Schrift Zur politischen Ideologie der Sudetendeutschen setzte er sich dann ausführlich mit dem damals populären völkischen Verständnis des Begriffs »Nation« auseinander.78 In Rädls Augen beruhte die damalige sudetendeutsche Politik auf dem Glauben, »daß das Deutschtum schlechthin gegeben, dem Deutschen angeboren sei, von ihm instinktiv gefühlt werde«, und dass es »ein einziges, unwandelbares, ewiges, überall gleiches, allen Deutschen gemeinsames urdeutsches Gefühl« gebe, »das bereits bei den vorhistorischen Wikingern, den Germanen des Tacitus, bei Karl dem Großen, und in derselben Weise auch bei den heutigen Deutschen wirksam ist, mögen sie in Deutschland, in der Tschechoslowakei oder in Argentinien leben«.79 Rädl widerlegte solche Thesen mit historischen Argumenten und appellierte an die Sudetendeutschen, »weniger an nationale Instinkte als an die kritische Vernunft, weniger an die Machtphilosophie der Nationalisten als an ihr eigenes besseres Wissen« zu glauben.80 Rädl kritisierte die völkische Lehre von Rassen und Volksstämmen und wies auf die verfassungs- und staatsrechtlichen Nationsbegriffe der USA, Großbritanniens oder Frankreichs hin; diese seien »sicherlich nicht aus der Entwicklung der Erbanlagen eines Volksstammes, sondern aus den Verfügungen der Könige und aus dem Kampf der Bürger um eine gerechte Verfassung entstanden«. 8 ' Auch die Tschechen hätten ihre Selbständigkeit nicht im Namen der tschechischen Rasse, »sondern im Namen der Freiheit der historischen Länder, also im Namen einer politischen Idee verlangt«. Die biologistische so genannte organische Staatsauffassung entwerte die geistig-zivilisatorischen Aspekte des menschlichen Zusammenlebens, hob Rädl hervor und wies auf Missverständnisse im gängigen deutschen Verständnis von Staatlichkeit hin. Hitler werde als ein Staatsmann, als Begründer des heutigen deutschen Staates und anerkannter Führer des deutschen politischen Denkens angesehen, obwohl er immer wieder die sekundäre Rolle des Staates gegenüber dem Volksstamm betone, beobachtete Rädl, und auch die damals populären deutschen Rufe nach »Selbstbestimmung« seien einem missverstandenen Staatsbegriff entsprungen: »Die sogenannte »Selbstbestimmung der Völker« im deutschen Sinne, der zufolge als Völker die Volksstämme verstanden und als die wahre, organische Grundlage des Staates den »Regierungen« gegenüber gestellt werden, blieb eine deutsche Phantasie, die zum Scheitern verurteilt war, weil sie an dem wahren Wesen des Staates vorübergegangen ist.«82

Das NS-Projekt für die deutschen Minderheiten im östlichen Europa Rädls Analyse der völkischen Traditionen wurde damals in der deutschen Öffentlichkeit, trotz seiner Popularität als Kritiker des tschechischen Nationalismus, nicht rezipiert, und so auch nicht seine Analyse der intellektuell komplizierten Situation, in der sich die deutsche Minderheit in der Tschechoslowakei während der Zwischenkriegszeit befand. Das lag daran, dass er in einem Punkt irrte. Trotz seiner guten Kenntnisse der »deutschen Revolution« im Dritten Reich - so der Titel seines 1933 veröffentlichten Buches8' -, trotz seiner bemerkenswerten Einsichten in die antizivilisatorische Denkweise der Nationalsozialisten und trotz seiner Kritik der »politischen Ideologie der Sudetendeutschen« unterschätzte Rädl noch 1935 die Sprengkraft dieser Entwicklung: »Die Sudetendeutschen sollten nicht ihre Augen vor der Tatsache verschließen, daß der rassenmäßige Nationalismus bereits im Abblühen begriffen ist«, schrieb er 1935, denn er meinte: »Die echten Völker werden durch ihre politisch formulierten Bedürfnisse, Forderungen und Ziele bestimmt; im Geiste der romantischen Philosophie ausgedrückt: es ist nicht das Sein der Menschen, sondern ihr Wollen, das ein Volk charakterisiert. [...] Infolgedessen stellt auch der politisch interessierte Staatsbürger eine höhere Kulturstufe dar als der Stammesgenosse, da der Staatsbürger seine Entstehung der schaffenden Kraft der Intelligenz, der Stammesgenosse nur derjenigen der Natur verdankt. Man fürchte sich nicht vor konsequentem Denken, und man wird diese Schlußfolgerungen verstehen.«84 Rädl war ein dem rationalen Humanismus verpflichteter Intellektueller und täuschte sich in seinem Optimismus, weil kein Appell an die Intelligenz, sondern ein furchtbarer Krieg die damaligen deutsch-tschechischen Konflikte lösen sollte.85 Auch aus der Weimarer Repu blik bekamen die Deutschen in der Tschechoslowakei zu jener Zeit Ratschläge. Die regen Beziehungen zwischen den beiden 1918 gegründeten Republiken gestalteten sich in ähnlich wie heute in allen Bereichen des Alltags - vom Reiseverkehr über Wirtschaft und Handel, Kultur und Wissenschaft, ja selbst Tagungen für »junge Nachwuchskräfte« aus beiden Staaten waren schon damals populär. Dennoch schien man in Berlin die von Franz Katholnigg, Kamil Krofta oder Emanuel Rädl beschworene Jahrhunderte alte deutsch-tschechische Nachbarschaft in den böhmischen Ländern nicht zu kennen. Dort wurden die Angehörigen der deutschen Minderheit nur als Deutsche gesehen, die gezwungen waren, in einem fremden Staat zu leben, wie es etwa der oben zitierte Außenminister Gustav Stresemann formulierte: »Unter den Deutschen, die außerhalb der Grenzen des Reiches in einem fremden Staat wohnen müssen, stehen unzweifelhaft an erster Stelle die Sudetendcutschen. Nicht nur ihre numerische Stärke, sondern vor allem auch ihre schöpferische Kraft, die sich auf allen Gebieten menschlicher Betätigung in überragender Weise entfaltet hat, verleiht den Sudetendeutschen eine besondere Bedeutung in der großen deutschen Volksgemeinschaft. Ihre heiße Sehnsucht, mit den anderen Deutschen zusammen in einem gemeinsamen Staatswesen zu leben, hat sich leider nicht erfüllt. Aber ihre Liebe und Treue zur deutschen Nation, zur deutschen Kultur und deutscher Sitte hat sich bewährt und im harten Kampfe gestählt. Sie legen täglich Zeugnis dafür ab, indem sie für die Ehre und das Ansehen des deutschen Volkes täglich Mann für Mann eintreten.«86 Solche Töne weisen darauf hin, dass die Agitation der oben erwähnten landsmannschaftlich organisierten sudetendeutschen Vereine eine große Akzeptanz bei deutschen Spitzenpolitikern fand, die die »Aufklärung der deutschen Öffentlichkeit über

Teil 2: Verdrängte Erinnerungen die nationale Not der 3 Vi Millionen Deutschen im Tschechenstaate und über die Bedeutung des Sudetendeutschtums für die Gesamtnation« betrieben.87 Die alldeutsch-völkische Agitation entfaltete sich ungehindert auf beiden Seiten der deutschtschechoslowakischen Grenzen - nur ihr Antisemitismus wurde in der Tschechoslowakei nicht toleriert -, und auch der Nationalsozialismus gewann in beiden Staaten gleichzeitig an Popularität. »Von 1931 bis 1933 wirkten die Vorgänge in Deutschland, Österreich und der Tschechoslowakei aufeinander wie kommunizierende Gefäße«, beobachtete der sudetendeutsche Sozialdemokrat Wenzel Jaksch.88 Die deutschen Sozialdemokraten und die Kommunisten erkannten früh und deutlich, welche Gefahren vom Nationalsozialismus und dessen sudetendeutscher Variante ausgingen. Sie bildeten eine entschlossene Opposition gegen alle politischen Kräfte, die mit den Nazis zusammenzuarbeiten bereit waren. Für die Lösung der deutschtschechischen Konflikte aber boten auch sie keine praktikablen Vorschläge an. In beiden Milieus kritisierte man den nationalen Chauvinismus und schrieb ihn der Bourgeoisie zu. Man bekannte sich zur Gleichberechtigung aller Bürger und betonte den Wunsch, dass der Staat für den nationalen Ausgleich in sozio-ökonomischen Fragen sorgen möge. Die Kommunisten bildeten eine übernationale Partei und beschränkten sich weitgehend auf allgemein gehaltene Forderungen, den Minderheiten das Selbstbestimmungsrecht »einschließlich des Rechtes, sich voneinander zu trennen« zuzugestehen.89 Die deutschen Sozialdemokraten engagierten sich in Fragen der Minderheitenpolitik viel intensiver. Sie partizipierten lebhaft am tschechoslowakischen politischen Leben, zeigten aber wenig Verständnis für die Gründe, warum dieser Staat entstanden war: »Die tschechischen Machthaber beanspruchten von der ersten Stunde an für den neuen Staat nicht bloß das Wohngebiet der Tschechen, sondern das Gebiet des alten böhmischen Königreiches, das seine Unabhängigkeit im Jahre 1 5 2 6 - also etwa zur Zeit der Entdeckung Amerikas - verloren hatte, und forderten dazu noch das Gebiet der Slowakei, das seit 896 unter Ungarn gestanden hatte. Sie machten das sogenannte historische Staatsrecht geltend und behandelten die Deutschen, die in ihrem Wohngebiet schon länger seßhaft sind als die Angelsachsen auf dem Boden der Vereinigten Staaten - als fremde Eindringlinge.«90 Auf Grund dieser Haltung waren die sozialdemokratischen Bekenntnisse zur Tschechoslowakei ambivalent. Auf der einen Seite verteidigten sie diesen Staat gegen die Nazis, viele von ihnen wünschten aber dessen grundlegende Umgestaltung. Wie es Wenzel Jaksch 1936 zum Ausdruck brachte, wollten er und seine Anhänger keine Minderheit sein, denn in ihren Augen unterschieden sich die Deutschen in der Tschechoslowakei grundlegend von den deutschen Minderheiten in anderen Staaten: »Wir betrachten uns nicht als bloße Minderheit und wollen nicht als solche angesehen werden. Wer uns Minderheit nennt, verweist uns gewissermassen jenseits der Grenzen, sagt uns, daß wir Teile eines anderen Volkes sind, das in diesem Staate nicht zu Hause ist. Soziologisch gesehen sind wir nicht eine bloße Minderheit wie etwa die Deutschen im Banat oder in Siebenbürgen, das heißt, ein bloßer Bruchteil einer landwirtschaftlichen oder industriellen Bevölkerung. Wir sind eine organisierte, sozial vollständig gegliederte Einheit: Wir haben Bauern, Arbeiter, eine Intelligenz, eine Bourgeoisie, eine Universität, - kurz alles, was zu einer organisierten Gesellschaft gehört. Wir sind keine Minderheit im ethnographischen Sinne, sondern eine historische Gesamtheit, wir sind Träger eines besonderen historischen Schicksals und einer historischen Mission.« 9 '

Das NS-Projekt für die deutschen Minderheiten im östlichen Europa Aus dieser Haltung ergab sich die plausible Forderung an die Tschechen: »Wir wollen auch eine Staatsnation sein, genauso wie ihr«, schrieb Wenzel Jaksch 1936 und brachte damit die weitverbreitete Haltung der Deutschen in der Tschechoslowakei zum Ausdruck, ob sie nun Demokraten waren oder im Namen der alldeutsch völkischen Ideale die Demokratie bekämpften. Warum jedoch die deutsche Minderheit in der Tschechoslowakei andere Rechte als andere Minderheiten in Europa beanspruchte, vermochte damals niemand zu erklären. Dass es sich um eine zahlenmäßig außerordentlich große Minderheit handelte, war - wie oben ersichtlich - wohl bekannt, und man war sich auch allgemein darüber einig, dass den Deutschen der damals völkerrechtlich verankerte Minderheitenschutz ohne wenn und aber zustehe. Im breiten Spektrum unterschiedlicher politischer Haltungen standen sich zwei Verfassungsvorstellungen gegenüber: Auf der einen Seite wurde die Tschechoslowakei als ein Nationalstaat der Tschechen und Slowaken-die bis ins späte 19. Jahrhundert in der Regel als zwei Äste einer Nation gegolten hatten - begriffen, der den Angehörigen nationaler Minderheiten vollen Schutz ihrer ethnischen und kulturellen Eigenständigkeit schuldete; auf der anderen Seite forderten viele Deutsche die Umgestaltung des Staates in eine Art von Deutsch-Tschecho-Slowakei, also einen Staat dreier Nationen, ohne dass sie allerdings erklärt hätten, wie darin mit den übrigen nationalen Minderheiten wie Polen, Ungarn oder Juden umgegangen werden sollte. Ob ein Kompromiss zwischen diesen zunächst schwer zu vereinbarenden Staatsvorstellungen zu finden gewesen wäre, wenn die Demokraten beider Seiten miteinander verhandelt hätten, muss offen bleiben. Darüber zu spekulieren ist müßig, denn der Umstand, dass die liberal-demokratische Republik seit 1933 so massiv von außen bedroht war, schloss derartige Verhandlungen aus. Was sich in Deutschland und damit für ganz Europa schlagartig veränderte, als Adolf Hitler 19 3 3 Reichskanzler wurde, verstanden viele Menschen sofort, andere brauchten länger. Um zu begreifen, welche Problemlösung für die deutschen Minderheiten im östlichen Europa dem NS-Regime vorschwebte, genügt allerdings die Lektüre der Werke zweier führender Nationalsozialisten, die beide aus dem Ausland kamen: Adolf Hitler und Alfred Rosenberg. Gegenüber den Menschen von damals haben wir heute den Vorteil, dass wir die praktischen Auswirkungen ihrer Werke kennen. Für die Zeitgenossen war es schwieriger, sich im rhetorischen Labyrinth der Nazis zu orientieren, und nur wenige Deutsche durchschauten, was ihrer neuen politischen Elite vorschwebte.

Adolf Hitlers Projekt für die deutschen Minderheiten »Was für England Indien war, wird für uns der Ostraum sein!«92 In den 1920er Jahren, also zur gleichen Zeit, als Hilda Hadina-Königsreiter die »Heimatlosigkeit« der Deutschen in der Tschechoslowakei beklagte und in Deutschland sowie Österreich völkische Rhetorik in die Mode kam, erschien das bekannteste Opus Adolf Hitlers, Mein Kampf. Damit konnte jeder Leser das nationalsozialistische Projekt für die deutschen Minderheiten kennenlernen. 9 ' Viele Europäer warnten zwar, dass die Nationalsozialisten weder am Wohlergehen des

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Teil 2: Verdrängte Erinnerungen Deutschen Reiches noch der Auslandsdeutschen interessiert und geradezu im Gegenteil gefährlich seien. Trotzdem fand die Rhetorik der Nationalsozialisten auch außerhalb Deutschlands viele Nachahmer. Hitler galt bei vielen Auslandsdeutschen als Schutzherr der Minderheiten, und Fotos des Führers inmitten der ihn umjubelnden sudetendeutschen Massen nach der Münchener Konferenz 1938 gehören zu dessen bekanntesten Bildern. Mein Kampf war kein Programm zur »Korrektur« der nach dem Ersten Weltkrieg getroffenen Entscheidungen der Siegermächte, sondern ein Programm zur Verwirklichung älterer deutscher, auf den Osten Europas gerichteter expansionistischer Kolonialträume. Folgerichtig zerstörte Deutschland 1939 mit dem Angriffskrieg gegen Polen seine - zuvor ohnehin schon mit propagandistisch-diplomatischen Mitteln hinausgeschobene - Ostgrenze, um mit der »Neugestaltung« des östlichen Europas zu beginnen, die Hitler schon in Mein Kampf entworfen hatte. Zu den Opfern dieser Ostpolitik gehörten auch die deutschen Minderheiten im östlichen Europa. In Kenntnis dessen, was zwischen 1939 und 1945 geschah, kann man das in Hitlers Mein Kampf vorgelegte Koloniaiprogramm als die eigentliche Wiege der Vertreibung bezeichnen. 94 xxx Hitlers expansionistische Pläne beruhten weder auf einem Überlegenheitsgefühl noch auf der Vorstellung, dass die deutsche Nation - entsprechend der Kolonialrhetorik anderer Nationen - die Früchte ihrer kulturellen Errungenschaften in der Welt verbreiten solle. In dieser Richtung sind die warnenden Worte Heinrich Manns zu verstehen: »Ein Minderwertigkeitsgefühl, das in Größenwahn umschlägt, ist trauriger als wenn es geblieben wäre wie es war. Es ist moralisch das Übelste und verspricht militärisch nichts Gutes.« 95 Heinrich Mann, einer der hellsichtigeren Beobachter Hitlers, trifft in seiner Notiz aus dem Jahre 1939 den prägenden Zug von Mein Kampf besser als zahlreiche gelehrte Abhandlungen. Spuren des von Mann entlarvten Inferioritätskomplexes Hitlers lassen sich wie ein roter Faden durch das ganze - in der hier zitierten Auflage über 700 Seiten umfassende - Buch verfolgen. »Deutschland ist heute keine Weltmacht mehr, gleichgültig, ob es militärisch stark oder schwach dasteht« 96 , klagte Hitler. Unter den zahlreichen Rezepten, die er für eine bessere Zukunft anbot, legte er besonderen Wert auf Folgendes: »Nicht West- und nicht Ostorientierung darf das künftige Ziel unserer Außenpolitik sein, sondern Ostpolitik im Sinne der Erwerbung der notwendigen Scholle für unser deutsches Volk.«97 Der damals in Deutschland populären Sehnsucht nach den Grenzen aus der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg erteilte Hitler eine klare Absage: »Die Forderung nach Wiederherstellung der Grenzen des Jahres 1914 ist ein politischer Unsinn von Ausmaßen u nd Folgen, die ihn als Verbrechen erscheinen lassen.««98 Das Deutsche Reich solle größer werden, als es 1914 war, aber nicht durch koloniale Erwerbungen in Übersee, sondern durch den

Das NS-Projekt für die deutschen Minderheiten im östlichen Europa »Gewinn eines Siedlungsgebietes, das die Grundfläche des Mutterlandes selbst erhöht und dadurch nicht nur die neuen Siedler in innigster Gemeinschaft mit dem Stammland erhält, sondern der gesamten Raummenge jene Vorteile sichert, die in ihrer vereinten Größe liegen«.99 Ein dafür geeignetes Gebiet glaubte Hitler im östlichen Europa gefunden zu haben. Hitler widmete ein ganzes Kapitel der Frage, ob die deutsche Außenpolitik einer »Ostorientierung« oder einer »Ostpolitik« bedürfe. Er plädierte für das letztere und erläuterte seinen Plan, im östlichen Europa ein großes deutsches Kolonialimperium aufzubauen.' 00 Zwischen dem nationalsozialistischen Kolonialprojekt und den sonstigen Formen europäischer Kolonialexpansion in Übersee bestanden zahlreiche Ähnlichkeiten und Unterschiede. Einer der grundlegenden Unterschiede ist für das Erinnern an die Vertreibung besonders wichtig: Hitlers Projekt liegt die bewusste historische Bezugnahme auf die mittelalterliche Geschichte zugrunde. Er verortete die Nationalsozialisten historisch als die Nachfolger der einstigen Vorfahren der deutscher Minderheiten im östlichen Europa: »Damit ziehen wir Nationalsozialisten bewußt einen Strich unter die außenpolitische Richtung unserer Vorkriegszeit. Wir setzen dort an, wo man vor sechs Jahrhunderten endete. Wir stoppen den ewigen Germanenzug nach dem Süden und Westen Europas und weisen den Blick nach dem Land im Osten. Wir schließen endlich ab die Kolonial- und Handelspolitik der Vorkriegszeit und gehen über zur Bodenpolitik der Zukunft. Wenn wir aber heute in Europa von neuem Grund und Boden reden, können wir in erster Linie nur an Rußland und die ihm Untertanen Randstaaten denken.«' 01 Dieser Gedanke mag in vielen deutschen Augen zur Legitimation nationalsozialistischer Ansprüche im östlichen Europa beigetragen haben, da das Thema »Ostkolonisation« damals in den meisten historischen Büchern zur Leistungsschau der deutschen Geschichte gehörte. Gleichzeitig trug Hitlers Geschichtskonstruktion jedoch zur Delegitimierung der traditionellen Stellung der deutschen Minderheiten in ihrer jeweiligen Heimat bei. Aus Hitlers Perspektive waren sie in ihrem Verhältnis zu ihren Mitbürgern nicht mehr Gleiche unter Gleichen, sondern ihnen wurde so die Rolle der Vorboten deutscher Kolonialpolitik zugesprochen. Im Zusammenhang mit dem damals ohnehin weit verbreiteten Missbrauch der Heimat-Rhetorik ist nicht zu verkennen, dass Hitlers historische Bezugsnahme auf die mittelalterliche Ostkolonisation einen weiteren gewichtigen Schritt auf dem Weg zur mentalen Ausgrenzung der deutschen Minderheiten aus dem traditionellen Kontext ihrer jeweiligen Umgebung darstellte. Um seine Kolonialvision zu rechtfertigen und plausibel erscheinen zu lassen, erklärte Hitler, dass der deutschen Nation kein ausreichend großer »Lebensraum«, ja nicht einmal ein »gebührend« großer Raum zur Verfügung stünde. Die Ursache sei in der bis dahin verfehlten deutschen Politik zu suchen: »Demgegenüber müssen wir Nationalsozialisten unverrückbar an unserem außenpolitischen Ziele festhalten, nämlich dem deutschen Volk den ihm gebührenden Grund und Boden auf dieser Erde zu sichern. Und diese Aktion ist die einzige, die vor Gott und unserer deutschen Nachwelt einen Bluteinsatz gerechtfertigt erschei-

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Teil 2: Verdrängte Erinnerungen nen läßt [...] Der Grund und Boden, auf dem dereinst deutsche Bauerngeschlechtcr kraftvolle Söhne zeugen können, wird die Billigung des Einsatzes der Söhne von heute zulassen, die verantwortlichen Staatsmänner aber, wenn auch von der Gegenwart verfolgt, dereinst freisprechen von Blutschuld und Volksopferung.«' 02 Inspirieren ließ sich Hitler von seinem Neid auf England, seinem missverstandenen Vorbild. Er träumte von einer gemeinsamen deutsch-britischen Weltherrschaft: »Die größte Weltmacht der Erde und ein jugendlicher Nationalstaat würden für einen Kampf in Europa andere Voraussetzungen bieten als die fauligen staatlichen Leichname, mit denen sich Deutschland im letzten Krieg verbunden hatte.« 103 Dafür schien es ihm nötig, Deutschland zu vergrößern, denn er glaubte: »In einem Zeitalter, in dem allmählich die Erde in den Besitz von Staaten aufgeteilt wird, von denen manche selbst nahezu Kontinente umspannen, kann man nicht von Weltmacht bei einem Gebilde reden, dessen politisches Mutterland auf die lächerliche Grundfläche von kaum fünfhunderttausend Quadratkilometer beschränkt ist. Rein territorial angesehen, verschwindet der Flächeninhalt des Deutschen Reiches vollständig gegenüber dem der sogenannten Weltmächte. Man führe ja nicht England als Gegenbeweis an, denn das englische Mutterland ist wirklich nur die große Hauptstadt des britischen Weltreiches, das fast ein Viertel der ganzen Erdoberfläche sein eigen nennt.«' 04 In Mein Kampf ist England als Inspirationsquelle für Hitlers koloniale Ambitionen deutlich erkennbar; das brachte er später, als er schon mit Großbritannien im Krieg stand, einprägsam auf den Punkt: »Was für England Indien war, wird für uns der Ostraum sein!«' 05 Seine Vision des herbeigesehnten deutschen Kolonialreiches wurde später im Zweiten Weltkrieg immer konkreter; privat drückte er sie noch offener aus als in der Öffentlichkeit: »Verglichen mit der Häufung von Schönheit im mitteldeutschen Raum, kommt uns der neue Ostraum heute wüst und leer vor. Aber: auch das flandrische Land ist eine einzige Ebene und doch schön! Die Menschen? Die werden wir hineinbringen [...] Das Gebiet muß den Charakter der asiatischen Steppe verlieren, europäisiert werden! Dazu bauen wir jetzt die großen Verkehrsstränge an der Südspitze der Krim, zum Kaukasus; an diese Verkehrsstränge reihen sich, wie an eine Perlenschnur, die deutschen Städte, und um diese herum liegt die deutsche Siedlung [...] Die Eingeborenen? Wir werden dazu übergehen, sie zu sieben. Den destruktiven Juden setzen wir ganz hinaus. Der Eindruck, den ich im weißrussischen Gebiet hatte, ist besser als der in der Ukraine. In die russischen Städte gehen wir nicht hinein, sie müssen vollständig ersterben. Wir brauchen uns da gar keine Gewissensbisse zu machen.«' 06 Für Hitler erschien Osteuropa in mehrfacher Hinsicht als der Schlüssel zum Glück. Dabei ist das erschreckend primitive Weltbild dieses kolonialen PseudoStrategen am bemerkenswertesten. Die Aufzeichnungen seiner privaten Gespräche aus den Jahren 1941/42 bieten besonders aufschlußreiche Einblicke in seine Ideenwelt. »Der Kampf um die Hegemonie in der Welt wird für Europa durch den Besitz des russischen Raumes entschieden« 107 , meinte er; auch aus rein pragmatischen Gründen erschienen ihm seine Eroberungsvisionen attraktiv: »Aus dem Osten

Das NS-Projekt für die deutschen Minderheiten im östlichen Europa bringt uns kein Mensch mehr heraus! Wir hatten ein Kali-Monopol. Wir kriegen jetzt dazu ein Brot-Monopol, Kohle, Eisen, Holz.«' 0 8 Ein anderes Mal hieß es wiederum: »Das einzige, was wir nicht haben werden, wird der Kaffee sein, aber Kaffeekolonien werden wir schon irgendwo zusammenkratzen! Holz haben wir genügend, Eisen unbegrenzt, die größten Manganerz-Vorkommen der Welt, Öl, da schwimmt alles!«""' Manchmal träumte er von der »Auswertung des europäischen Indiens, der Ukraine«." 0 Manchmal könnte die Lektüre seiner kleinbürgerlichen Vorstellungen von Weltpolitik zum Schmunzeln verführen, wenn man ihre schrecklichen Folgen vergessen könnte: »Aus dem Osten werden wir jährlich zehn bis zwölf Millionen Tonnen Getreide herausholen. An Ort und Stelle, glaube ich, müssen wir Spaghetti-Fabriken errichten; man hat alles, was man dazu braucht; damit kann man dann den industriereichen, nahrungsarmen westeuropäischen Gebieten einen Zuschuß geben.«'" Gefürchtet hat Hitler anscheinend zu Beginn seines Eroberungskrieges nur den Westen: Er brauche »nur Frieden im Westen, nicht auch Frieden im Osten: Die Grenzpolizei dort sorgt dafür, daß wir das Land bebauen können«, meinte er. Und: »Auf eine Kriegsbeendigung juristischer Art lege ich für den Osten gar keinen Wert.«" 2 Hitler vermochte Millionen seiner Anhänger für seine erpresserische Außenpolitik und seine kriegerischen Eroberungen zu begeistern. Nachdem er Reichskanzler geworden war, leiteten seine Visionen die praktischen politischen Entscheidungen ebenso wie im Krieg die Besatzungspolitik des Deutschen Reiches im östlichen Europa. Die vorbereitenden Schritte auf dem Wege zur Verwirklichung seiner Träume erläuterte Hitler allerdings auch schon in Mein Kampf ausführlich: »Das deutsche Volk besitzt so lange kein moralisches Recht zu kolonialpolitischer Tätigkeit, solange es nicht einmal seine eigenen Söhne in einem gemeinsamen Staat zu fassen vermag. Erst wenn des Reiches Grenze auch den letzten Deutschen umschließt, ohne mehr die Sicherheit seiner Ernährung bieten zu können, entsteht aus der Not des eigenen Volkes das moralische Recht zur Erwerbung fremden Grund und Bodens.«" 3 Hitler entwarf einen Zwei-Stufen-Plan, um das Deutsche Reich zu vergrößern: Zunächst sollten alle »Söhne des deutschen Volkes« befreit und zusammengeführt und danach neue »Siedlungsgebiete« gewonnen und gestaltet werden. Hitler hatte also schon in Mein Kampf die Instrumentalisierung der deutschsprachigen Minderheiten als Mittel zur territorialen Expansion als ersten Schritt und danach die kriegerische »Gewinnung« geeigneter Gebiete für die »Gestaltung neuer deutscher Siedlungsgebiete« als den zweiten Schritt zur Verwirklichung seiner Kolonialträume vorgesehen. Beides sollte mit dem zielorientierten Einsatz der dem Deutschen Reich zur Verfügung stehenden Machtmittel erreicht werden: »Denn die Befreiung unterdrückter, von Provinzen eines Reiches findet Unterdrückten oder eines Protestes Machtmittel der mehr oder weniger gemeinsamen Vaterlandes.«" 4

abgetrennter Splitter eines Volkstums oder nicht statt auf Grund eines Wunsches der der Zurückgebliebenen, sondern durch die souverän gebliebenen Reste des ehemaligen

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Teil 2: Verdrängte Erinnerungen Wer wo genau »befreit« werden sollte, war zwar nicht klar, aber die deutsche Gesellschaft sollte auf die künftige Gewaltanwendung vorbereitet werden: »Denn unterdrückte Länder werden nicht durch flammende Proteste in den Schoß eines gemeinsamen Reiches zurückgeführt, sondern durch ein schlagkräftiges Schwert.«'' 5 Zu diesem Zweck sollten die traditionelle Vielfalt sowie die »Erhaltung von Stammeseigentümlichkeiten« in der deutschen Gesellschaft geopfert werden und eine einheitliche Volksgemeinschaft entstehen. Deshalb machte Hitler eine entsprechende militärische Erziehung zum Gebot der Stunde: »Was sonst immer im Leben der Nation trennend sein mag, soll durch das Heer zu einender Wirkung gebracht werden. Es soll weiter den einzelnen jungen Mann aus dem engen Horizont seines Ländchens herausheben und ihn hineinstellen in die deutsche Nation. Nicht die Grenzen seiner Heimat, sondern die seines Vaterlandes muß er sehen lernen.«" 6 Nicht die real existierende deutsche Nation, sondern eine erst künftig nach Hitlers Vorstellungen »geheilte« und »zusammengeschweißte« neue deutsche Volksgemeinschaft schien ihm in der Lage zu sein, die wünschenswerte »kolonialpolitische Tätigkeit« aufzunehmen.

Hitler war kein Nationalist, der auf die deutsche Nation stolz gewesen wäre. Deutschlands »Zusammenbruch« 1918 sei keineswegs ungerecht gewesen, meinte er: »Leider ist die militärische Niederlage des deutschen Volkes nicht eine unverdiente Katastrophe, sondern eine verdiente Züchtigung der ewigen Vergeltung. Wir haben diese Niederlage mehr als verdient.««"7 In seinen Texten über die deutsche Nation kam eine Wut zum Ausdruck, die sich gegen ein amorphes kollektives Selbst richtete: »So wie man zur Heilung einer Krankheit nur zu kommen vermag, wenn der Erreger derselben bekannt ist, so gilt das gleiche auch vom Heilen politischer Schäden.«" 8 Man könnte Mein Kampf als Befund bezeichnen, der die deutsche Nation als pathologisch diagnostiziert - obwohl viele seiner Anhänger das Buch irrtümlicherweise für einen Ausdruck der Liebe Hitlers zu Deutschland und für einen Protest gegen die als unfair empfundenen Friedensverträge nach dem Ersten Weltkrieg hielten. Die einzelnen »Ursachen des Zusammenbruchs« 1918 verortete Hitler in allerlei Bereichen des gesellschaftlichen Lebens sowie in der »allenthalben immer mehr um sich greifende[n] Halbheit in allem und jedem« 119 , in der »Devotheit der deutschen Erziehung«' 20 , im »Sumpfe einer allgemein um sich greifenden Verweichlichung und Verweibung«' 21 , im »Humanitätsdusel«' 22 oder in der »parlamentarischen Institution, in der die Verantwortungslosigkeit geradezu in Reinkultur gezüchtet wird«' 2 '. Die deutsche Presse der Vorkriegszeit hielt er für »das ärgste Gift«: »War es nicht die deutsche Presse, die den Unsinn der »westlichen Demokratie« unserem Volke schmackhaft zu machen verstand, bis dieses endlich, von all den begeisterten Tiraden gefangen, glaubte, seine Zukunft einem Völkerbunde anvertrauen zu können?« 124 Vor allem gab sich Hitler seinen eigenen krankhaften Sexualphantasien hin: »Diese Verjudung unseres Seelenlebens und Mammonisierung unseres Paa-

Das NS-Projekt für die deutschen Minderheiten im östlichen Europa rungstriebes werden früher oder später unseren gesamten Nachwuchs verderben, denn an Stelle kraftvoller Kinder eines natürlichen Gefühls werden nur mehr die Jammererscheinungen finanzieller Zweckmäßigkeit treten. Denn diese wird immer mehr die Grundlage und einzige Voraussetzung unserer Ehen. Die Liebe aber tobt sich woanders aus.« 125 Hitlers Diagnose vermeintlicher deutscher Krankheiten war ähnlich abstrus wie die Kolonialvisionen seiner Ostpolitik: »Parallel der politischen, sittlichen und moralischen Verseuchung des Volkes lief schon seit vielen Jahren eine nicht minder entsetzliche gesundheitliche Vergiftung des Volkskörpers. Die Syphilis begann besonders in den Großstädten immer mehr zu grassieren, während die Tuberkulose gleichmäßig fast im ganzen Lande ihre Todesernte hielt.«' 26 Der Syphilis wurden die längsten Passagen in Hitlers »Ursachenanalyse« gewidmet. O b man solche Texte überhaupt im Kontext historisch-politischen Schrifttums verorten oder aber darin nur einen Ausdruck psychopathologischer Bedrohungsängste sehen sollte, ist schwer zu entscheiden. Mein Kampfzeigt mit aller Deutlichkeit, dass Hitlers brutal gewaltsame Sprache keineswegs nur für seinen Antisemitismus und für seine Xenophobie charakteristisch war, wie heute oft vermutet wird - für die Deutschen hatte er keine besseren Gefühle und Worte übrig als für die Anderen: »So entarten die Kulturvölker und gehen allmählich unter.« 127 Zu Hitlers seltenen Lobesworte an die Adresse der deutschen Nation gehörte das abgeschliffenste kleinbürgerliche Autostereotyp: »Deutschland war das bestorganisierte und bestverwaltete Land der Welt.«128 Besser schnitt in Mein Kampf auch die deutsche Geschichte nicht ab. Hitler beklagte »die unselige Kirchenspaltung in Deutschland« und hielt das Habsburgische Kaiserhaus für ein »Unglück der deutschen Nation«. Auch insgesamt erhielt die deutsche Geschichte keine guten Noten: »Wenn wir in diesem Zusammenhang die politischen Erlebnisse unseres Volkes seit über tausend Jahren überprüfen, alle die zahllosen Kriege und Kämpfe vor unseren Augen vorüberziehen lassen und das durch sie geschaffene, heute vor uns liegende Endresultat untersuchen, so werden wir gestehen müssen, daß aus diesem Blutmeer eigentlich nur drei Erscheinungen hervorgegangen sind, die wir als bleibende Früchte klar bestimmter außenpolitischer und überhaupt politischer Vorgänge ansprechen dürfen: 1. die hauptsächlich von Bajuwaren betätigte Kolonisation der Ostmark, 2. die Erwerbung und Durchdringung des Gebietes östlich der Elbe und 3. die von den Hohenzollern betätigte Organisation des brandenburgisch-preußischen Staates als Vorbild und Kristallisationskern eines neuen Reiches.«" 9 Einer derartige Reduktion des deutschen historischen Erbes bringt die Primitivität des intellektuellen Horizonts Hitlers deutlich zum Ausdruck. Sie zeigt aber auch, warum in Hitlers Zukunftsvisionen - neben der hier nicht behandelten und im Mein Kampf stets präsenten so genannten Judenfrage - dem östlichen Europa die zentrale Stelle zukam. Hitlers Variante im Umgang mit der Geschichte begegnen wir auch in seinen Ausführungen über den kriegerischen Expansionismus, dem Hauptanliegen seines politischen Lebens. »Hätten unsere Vorfahren einst ihre Entscheidungen von dem gleichen pazifistischen Unsinn abhängig gemacht wie die heutige Gegenwart, dann würden wir überhaupt nur ein Drittel unseres jetzigen Bodens zu eigen besitzen«,

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Teil 2: Verdrängte Erinnerungen erklärte er und machte aus seiner Überzeugung, dass er im Expansionskrieg ein legitimes Mittel nationalstaatlicher Politik sah, keinen Hehl: »Nein - der natürlichen Entschlossenheit zum Kampfe für das eigene Dasein verdanken wir die beiden Ostmarken des Reiches und damit jene innere Stärke der Größe unseres Staats- und Volksgebietes, die überhaupt allein uns bis heute bestehen ließ.«' 30 In deutlicher Absage an die damaligen Bemühungen u m ein friedliches Zusammenleben in Europa sprach sich Hitler für den Kampf und das Prinzip der Durchsetzung des Stärkeren aus: »Ein stärkeres Geschlecht wird die Schwachen verjagen, da der Drang zum Leben in seiner letzten Form alle lächerlichen Fesseln einer sogenannten Humanität der einzelnen immer wieder zerbrechen wird, um an deren Stelle die Humanität der Natur treten zu lassen, die die Schwäche vernichtet, um der Stärke den Platz zu schenken. [...] Im ewigen Kampfe ist die Menschheit groß geworden - im ewigen Frieden geht sie zugrunde.«' 3I Hitler positionierte sich nicht nur abseits der Traditionen des europäischen H u m a nismus, sondern forderte seine Anhänger auch zu deren Bekämpfung auf. Mein Kampf ist ein miserabel geschriebener Text über alles Mögliche, in dem zwei Themenbereiche und politisch programmatischen Zielvorstellungen des Verfassers deutlich hervortreten. Schon auf den ersten Blick fällt Hitlers Irrationalität und Besessenheit bei der so genannten Judenfrage auf; das Wort Juden wird in jedem Zusammenhang hin und her dekliniert, und die dabei auffallenden Variationen auf die Wortverbindung »Juden« und »Parasiten« wirken wie eine erschreckende Ankündigung des Holocaust. Seine außenpolitischen Zielsetzungen handelte Hitler kürzer ab, doch seine Zukunftsvision eines deutschen Kolonialreiches im östlichen Europa, ausdrücklich formuliert unter Bezugnahme auf das vermeintliche historische Erbe der mittelalterlichen deutschen Ostkolonisation, lässt sich kaum anders lesen als ein Entwurf der späteren Kriegsführung.' 32 Das Wort »deutsche Minderheit« kommt in Mein Kampf nicht vor, auch nicht das völkische Wort »Volksgruppe«. Über die Auslands-, Grenzland- oder Volksdeutschen findet sich nichts; auch das allerorts beklagte Leiden der deutschen Minderheiten unter »Fremdherrschaft« scheint Hitler damals nicht am Herzen gelegen zu haben. N u r von »Söhnen des deutschen Volkes« und »abgetrennten Splittern eines Volkstums« ist die Rede, und das ist im Kontext von Hitlers Rhetorik eine warnende Redewendung, galt doch die Beseitigung vermeintlicher Zersplitterung aller Art, ob politisch, kulturhistorisch, territorial oder »blutmäßig« als eines der zentralen Anliegen der Nationalsozialisten. Die laut nationalsozialistischem Denken »abgesplitterten« Söhne im östlichen Europa hätten schon bei der Lektüre von Mein Kampf um ihre Zukunft fürchten müssen, zumal Hitler solchen »Splittern« klar und deutlich das Recht auf Selbstbestimmung absprach: Nicht der Wunsch der Minderheiten, sondern »die Machtmittel« der »Reste des ehemaligen Vaterlandes« sollten über ihr Schicksal entscheiden. Genauso instrumentalisierte er auch tatsächlich die deutschen Minderheiten im östlichen Europa, ob im Sommer 1938 in der Tschechoslowakei, ein Jahr später in Polen oder nach dem Kriegsausbruch im gesamten östlichen Europa.

Das NS-Projekt für die deutschen Minderheiten im östlichen Europa

E X K U R S 4: Nachdenkenswertes

zu Paul de Lagarde, dem Inspirator Hitlers und Rosenbergs

Hitler bescherte der deutschen Nation keine neuen, originellen Ideen. Vielmehr handelt es sich um ein Sammelsurium damals altbekannter rhetorischer Floskeln und verworrener politischer Zielvorstellungen zu Fragen der deutschen nationalen Identität. Darüber, wer die Deutschen seien, was sie wollen, wo und wie Deutschlands Grenzen zu ziehen seien, zerbrachen sich im 19. Jahrhundert sehr viele Autoren den Kopf. Zu ihnen gehörte auch der viel gelesene Professor der altehrwürdigen Universität in Göttingen Paul de Lagarde (1827-1891). In seinen Schriften begegnen wir sowohl überraschenden Ähnlichkeiten wie auch subtilen Unterschieden zu Hitlers Ideenwelt. Am erstaunlichsten ist wohl, dass sich in den Texten eines Universitätsprofessors wie eines halbgebildeten Gefreiten die gleiche rhetorische Verwahrlosung findet. Die Kenntnis solcher Werke aus dem 19. und frühen 20. Jahrhundert hilft uns zu verstehen, warum das nationalsozialistische politische Denken vielen Deutschen nicht befremdlich vorkam. Paul de Lagardes Äußerungen zwischen 1853 und 1886' 33 »Den Frieden in Europa ohne dauernde Belästigung seiner Angehörigen zu erzwingen, ist nur ein Deutschland imstande, das von der Ems- zur Donaumündung, von Memel bis Triest, von Metz bis etwa zum Bug reicht, weil nur ein solches Deutschland sich ernähren, nur ein solches mit seinem stehenden Heere sowohl Frankreich als Rußland und mit seinem Heere und dessen erstem Ersätze das mit Frankreich verbündete Rußland niederschlagen kann.«' 34 »Die Germanen sind Kolonisatoren, weil sie königliche Gesinnung hegen, weil die Besten unter ihnen ohne weiteres fähig sind, ein Fürstenamt zu verwalten: die keltische Gleichheitsliebe der Franzosen, der iberische und semitische mit sich befriedigte Rassen- und Familiendünkel der Spanier hat nie kolonisiert und wird nie kolonisieren: Italien steckt in seinen herrschenden Provinzen voller Langobarden (Amerigo und Garibaldi tragen deutsche Namen), und darum wird Italien kolonisieren können.«' 35 »Wir meinen also, ganz systematisch müsse die deutsche Auswanderung in die Länder der Krone Österreich-Ungarn geleitet werden, deren Germanisierung stehengeblieben oder zurückgegangen ist, und wir sind überzeugt, daß infolge dieser Kolonisationsarbeit die besten Seiten des deutschen Charakters zutage treten und dem großen Germanien zugute kommen werden, welches von der Emsmündung zum Roten-Turm-Passe [in den Südkarpaten] reicht.«136 »Die Juden bloß durch Zulassung zu unserm weltlichen Leben zu entjudaisieren, ist untunlich, weil dies sie nur abschleifen, aber ihr fremdartiges Naturell erhalten, sie also nur zu Trägern der Verwesung machen würde: ein fremder Körper im Leibe erzeugt Eiterung. Jeder Jude ist ein Beweis für die Unkräftigkeit unseres nationalen Lebens und die Wertlosigkeit dessen, was wir christliche Religion nennen.«' 37 »An Juden sind in den Weichsel- und Donauländern, soweit diese uns angehen, etwa zwei Millionen Seelen vorhanden, die allerdings bereit sein werden, sich noch etwas mehr zu germanisieren als sie schon germanisiert sind, die wir aber gleichwohl dort nicht dulden können. Es ist unmöglich, eine Nation in der Nation zu dulden.«' 38

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Teil 2: Verdrängte Erinnerungen »Die Arbeit, welche ich uns Deutschen zumute, ist gemeinsame Kolonisation. Erschrecken Sie nicht: den Schauplatz dieser Kolonisation denke ich mir nicht in fremden Weltteilen, sondern in unserer nächsten Nähe.«' 39 »Magyaren, Tschechen, und was an ähnlichen Nationalitäten unter dem Zepter Österreichs lebt, sind eine Last für die Geschichte: sie können aber als Legierung eines edleren, nur zu weichen Metalls die ersprießlichsten Dienste leisten. Ihr Gebiet ist dünn bevölkert: hier haben die deutschen Fürsten einzusetzen. Die deutsche Auswanderung muß systematisch und nach einem sorgfältig, auch nach strategischen Gesichtspunkten überlegten Plane nach Istrien, nach den slowakischen und magyarischen Teilen Ungarns, nach Böhmen und Galizien, nach den polnischen Strichen Schlesiens und nach Posen gerichtet werden. In dieser Kolonisation werden die verkommenen Untertanen deutscher Kleinstaaten freie Männer werden.«' 40 »Es gibt keine andere Aufgabe für Österreich als die, der Kolonialstaat Deutschlands zu werden. Die Völker in dem weiten Reiche sind mit Ausnahme der Deutschen und der Südslawen alle miteinander politisch wertlos: sie sind nur Material für germanische Neubildungen. Die Südslawen möge man ja mit allen Germanisierungsversuchen verschonen. Es ist bereits viel an ihnen verderbt worden, indem man westeuropäische Staatsformen und Anschauungen ihnen aufgebürdet, indem man mit russischem Golde russische Interessen unter sie gesät hat, während doch nur serbisch-kroatische Interessen ein Recht haben, unter ihnen zu existieren. Alle übrigen nichtdeutschen Stämme des Donaureichs, die Madjaren gar sehr mit eingeschlossen, sind lediglich eine Last für Europa: je schneller sie untergehen, desto besser für uns und für sie.«' 4 ' »Wir werden den Polen die Grenzen ziehen, welche uns die passenden sind: wir werden ihnen die Palästinenser [d.h. Juden], dieses für jedes nicht fertige Volk tödliche Gift, abschieben: wir werden auch im Osten Polens eine deutsche Provinz einrichten und sehen voraus, daß Polen schließlich doch germanisiert werden wird«.' 42 »Wir haben mit den Tschechen und ähnlichen Leuten nicht schön zu tun: sie sind unsere Feinde und müssen entsprechend behandelt werden. Sie dienen den Russen dazu, Österreich zu zerpflücken, das danach wie eine Artischocke, blattweise, aufI gegessen werden soll. Wir können Österreich nicht anders erhalten, als indem wir es I rücksichtslos germanisieren.«' 4 ' In seiner 2007 erschienenen Biographie de Lagardes befaßt sich Ulrich Sieg in dem Kapitel »Der Vordenker des Nationalsozialismus« mit dessen Popularität in der Weimarer Republik. Er sei »zum Musterbeispiel für eine ebenso aufrichtige wie allgemein verständliche nationale Haltung« geworden: »Den Höhepunkt erreichte diese Entwicklung mit Alfred Rosenberg, der den Namen »Lagarde« geradezu als Chiffre für völkische Erneuerung einsetzte.«' 44 Sieg macht eines deutlich: Die Popularität de Lagardes bedeutete nicht, dass er von allen seinen Lesern immer gleich wahrgenommen und interpretiert worden sei, und die Vorliebe der Nazis für ihn bedeutete I nicht, dass sie sich mit seinen Schriften vorbehaltlos identifiziert hätten. Es gibt keinen geraden Weg von de Lagarde zum NS-Regime, aber de Lagardes Werke helfen uns, die uns fremde mentale Welt des Nationalsozialismus zu verstehen.

Das NS-Projekt für die deutschen Minderheiten im östlichen Europa

Hitlers estländischer Mitstreiter Alfred Rosenberg »Der Nationalsozialismus

ist überwiegend

ein Werk von

Ausländsdeutschen.«"1'

An Aufstieg und Fall des Nationalsozialismus waren zahlreiche Angehörige der deutschen Minderheiten im östlichen Europa unmittelbar beteiligt. Manche Zeitzeugen waren sogar der Meinung, dass es sich dabei um einen entscheidenden Beitrag handle: »Der Nationalsozialismus ist überwiegend ein Werk von Auslandsdeutschen«, meinte Wenzel Jaksch.'46 Diese Beobachtung wurde von Historikern bisher nicht überprüft, aber die Rolle von Auslandsdeutschen ist mit Sicherheit zu bedeutend, als dass man sie vernachlässigen sollte. Dass Hitler selbst aus Österreich stammte, ist bekannt; weniger bekannt ist heute dagegen, dass auch Alfred Rosenberg, der zweite führende Ideologe der NSDAP, kein gebürtiger Reichsdeutscher war. Er hatte seine estländische Geburtsstadt Tallinn/Reval früh verlassen, in Riga und Moskau studiert und Rußland nach der Oktoberrevolution verlassen; danach lebte er vorübergehend in Paris und ließ sich in München nieder. Als er 1923 die deutsche Staatsangehörigkeit erhielt, freute er sich: »Zwar eine formale Sache, und doch gab sie mir das Bewußtsein einer allseitigen Zugehörigkeit, das ich vorher noch immer nicht hatte.«'47 Aus dem heutigen Tschechien stammte der oben erwähnte Verfasser des ersten »theoretischen Werkes« zum Nationalsozialismus, Rudolfjung. Zu den »in den höheren Parteirängen vergleichsweise zahlreichen Volksund Auslandsdeutschen«'48 gehörte auch der Reichsstatthalter der Ostmark und spätere Reichskommissar für die besetzten Niederlande, Arthur Seyß-Inquart, der ebenfalls im heutigen Tschechien geboren und aufgewachsen war und den Hitler später in seinem Testament zum künftigen Außenminister des Großdeutschen Reiches erkor. Bereits 1943 machte ein Biograph Alfred Rosenbergs im NS-Jargon auf folgenden bemerkenswerten Zusammenhang aufmerksam: »Man kann es unmöglich für einen Zufall halten, daß die beiden Bücher, durch welche die politische und geistige Haltung des Kernlandes revolutioniert wurde, Adolf Hitlers »Mein Kampf« und Rosenbergs »Mythus des 20. Jahrhunderts«, von Deutschen geschrieben sind, die aus der nordöstlichen und südöstlichen Grenzmark stammen.«'49 In der 1932 in Berlin veröffentlichten Geschichte des Nationalsozialismus von Konrad Heiden wurde Rosenberg als »Deutschrusse« bezeichnet: »Ein Deutscher von Abstammung, der in russischen Begriffen denkt.« Weiter heißt es: »Was er jetzt dem Nationalsozialismus bringt, ist nicht deutsche, sondern weißrussische Außenpolitik.«'50 Dabei wird auf die Beziehungen der frühen Münchner Nationalsozialisten zu Emigranten aus der Sowjetunion sowie auf eine Reihe von NS-Ideen, namentlich im Bereich des Antisemitismus, hingewiesen, die angeblich »ihre geistigen Quellen im Rußland der Zaren« vermuten ließen. Auch solche Beobachtungen zeigen, dass Rosenberg das Image eines Zugewanderten hatte. Seine »baltische Mundart« hinderte Rosenberg, »der noch nicht einmal die deutsche Staatsangehörigkeit besaß«, jedoch nicht daran, in Deutschland rasche Karriere zu machen.'5' Er gehörte von Anfang an zum Kreis der engsten Vertrauten Hitlers. Seit 1921 leitete er die Redaktion der Parteizeitung Völkischer Beobachter'*2 und wurde 1933 Leiter des Außenpolitischen Amtes in der Reichsleitung der NSDAP. »Hitlers Chefideologe«'5' Rosenberg war

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Teil 2: Verdrängte Erinnerungen ein engagierter und erfolgreicher Agitator. Sein 1930 veröffentlichter Bestseller Der Mythus des 20. Jahrhunderts wurde neben Mein Kampf zum zweiten international bekannten NS-Buch.' 54 Er galt als der Philosoph der nationalsozialistischen Bewegung schlechthin' 55 und zugleich auch als »Ostexperte«. In den Jahren 1941-1945 amtierte er als Reichsministcr für die besetzten Ostgebiete. Heute wird er als jemand dargestellt, der nicht ganz in die NS-Elite integriert war: »Wirkliche politische Macht vermochte der Balte freilich trotz all seiner Ämter und Aktivitäten nie zu erlangen. [...] Den wendigen Machttaktikern in der nationalsozialistischen Führungsriege war er hoffnungslos unterlegen. Er wurde dominiert und zurückgedrängt, zuletzt meist nur noch belächelt.«' 56 Die Erinnerung an Alfred Rosenberg weist uns auf das immer wiederkehrende Image von Angehörigen der deutschen Minderheiten in Deutschland hin, die es selten geschafft haben, vorbehaltlos als Deutsche angesehen zu werden.

Rosenberg veröffentlichte unzählige pseudo-phiiosophisch-historische Texte sowie aktuelle tagespolitische Kommentare, und seine mystisch anmutenden Weltbetrachtungen waren noch realitätsfremder als die seines großen Meisters Hitler: »Heute erwacht ein neuer Glaube: der Mythus des Blutes, der Glaube, mit dem Blute auch das göttliche Wesen des Menschen überhaupt zu verteidigen. Der mit hellstem Wissen verkörperte Glaube, daß das nordische Blut jenes Mysterium darstellt, welches die alten Sakramente ersetzt und überwunden hat.«' 57 Zum Osten Europas hatten Hitler und Rosenberg eine unterschiedliche und doch verwandte Einstellung. Während sich bei Hitler Spuren seiner österreichischen Herkunft und eines historisch geprägten Interesses an Deutschland finden, begegnen wir bei Rosenberg stärkeren Bezügen zu Russland; Hitlers Interesse an Russland soll erst von Rosenberg geweckt worden sein.' 58 Hitlers »Analysen« und seine Eroberungspläne waren weniger um pseudoliterarische Qualität bemüht als die von Rosenberg, der eine Art verbaler rassistischer l'art-pour-1'art-Bilder produzierte: »Der Bolschewismus bedeutet die Empörung des Mongoliden gegen nordische Kulturformen, ist der Wunsch nach der Steppe, ist der Haß des Nomaden gegen Persönlichkeitswurzel, bedeutet den Versuch, Europa überhaupt abzuwerfen.«'" Rosenbergs Kombination mystisch anmutender Neigungen mit rassistisch gefärbten Wahnvorstellungen ließ zwar nur hohle rhetorische Labyrinthe entstehen, aber ihre politische Botschaft war dennoch unmissverständlich und ähnelte der Hitlers. Ähnlich wie bei Hitler sind auch Rosenbergs Zukunftsvisionen von einer extremen Judophobie einerseits und der Sehnsucht nach einer territorialen Vergrößerung des Deutschen Reiches andererseits geprägt. Bemerkenswert ist dabei, dass Rosenberg schon früher als Hitler in Mein Kampf eine Variation des gemeinsamen, aber erst durch Hitler weltbekannt gewordenen Expansionsprogramms formulierte, nämlich in seiner 1923 veröffentlichten Schrift Wesen, Grundsätze und Ziele der N.S.D.A.P'6° Diese Broschüre Rosenbergs wurde Hitler gewidmet, von Hitler »durchgeprüft« und als das »Programm der Bewegung« präsentiert; die darin geäußerten Formulierungen Rosenbergs unterschieden sich gelegentlich von denen seines Meisters, aber der Gedankengang war der gleiche wie später in Mein Kampf.

Das NS-Projekt für die deutschen Minderheiten im östlichen Europa

Am Anfang steht wiederum der Neid: »Es widerspricht jeglicher natürlichen Ordnung, daß 36 Millionen Franzosen über ein größeres Land verfügen als 63 Millionen Deutsche; daß auf einen Russen 20mal mehr Grund und Boden kommt als auf einen Deutschen.«' 6 ' Das Deutsche Reich solle größer werden: »Wir fordern Land und Boden (Kolonien) zur Ernährung unseres Volkes und Ansiedlung unseres Bevölkerungsüberschusses.«' 62 Auch Rosenberg kritisierte die deutsche Öffentlichkeit für ihren in seinen Augen mangelhaft entwickelten Sinn für die räumliche Expansion im östlichen Europa: Jeder »Versuch einer großzügigen Ostsiedlung stieß auf die schärfste Ablehnung seitens des »humanitären« Freisinns, des »arbeiterfreundlichen« Marxismus und des sogenannten »christlichen« Zentrums«.' 6 ' Die endgültigen territorialen Zielvorstellungen wollte Rosenberg zu jenem Zeitpunkt nicht konkret benennen (»Dabei ist es unter gegenwärtigen Umständen nicht möglich, die betreffenden europäischen oder außereuropäischen Gebiete, die für Kolonisation in Betracht kommen müßten, näher zu bezeichnen« 164 ), aber als ersten Schritt zur Vergrößerung des Deutschen Reiches sah auch er vor, »daß deutsche Außenpolitik zunächst auf Vereinigung aller geschlossen lebenden Deutschen in Europa zu einem Staat und Raumsicherung im heute polnisch-tschechischen Osten als wichtigstes Ziel setzen muß«.' 65 Hier kommt deutlich zum Ausdruck, welche Sonderrolle der »Raumsicherung im heute polnisch-tschechischen Osten« im nationalsozialistischen Projekt für die deutschen Minderheiten spielte. Das wurde auch auf dem Weg Europas in den Zweiten Weltkrieg offenbar, wie die Erinnerung an München 1938 oder Danzig 1939 bestätigt. Gerechtfertigt wurde diese Strategie für die deutsche Außenpolitik durch die Forderung, »daß gleiches Blut und gleiche Sprache und gleiche Kulturüberlieferung auch einen Staat bilden müssen«.' 66 Dabei sollten aber nicht alle Deutschen künftig in Deutschland leben dürfen: »Staatsbürger kann nur sein, wer Volksgenosse ist. Volksgenosse kann nur sein, wer deutschen Blutes ist, ohne Rücksichtnahme auf Konfession. Kein Jude kann daher Volksgenosse sein.«' 67 Damit erläuterte Rosenberg schon 1923 das programmatische Ziel der NS-Bewegung, dem wir auch in dem kurz darauf geschriebenen Mein Kampf begegnen: ein größeres Deutschland allein für den nach NS-Maßstäben ausgesuchten und für die Zugehörigkeit zur »deutschen Volksgemeinschaft« als geeignet angesehenen Teil der deutschen Bevölkerung. Diesem Programm lag kein ethnischer Nationalismus zugrunde, wie heute oft irrtümlicherweise vermutet wird; die Nationalsozialisten bemühten sich nicht, den deutschen Nationalstaat ethnisch zu homogenisieren, sondern forderten schon 1923, so wie Hitler später in Mein Kampf, ein Kolonialreich für einen Teil der deutschen Bevölkerung. Nach der Veröffentlichung von Mein Kampfwurde auch Rosenberg konkreter. In seinem Bestseller Der Mythus des 20. Jahrhunderts machte er unmissverständlich klar, wo die neuen deutschen Kolonialräume zu suchen seien. Er sah ein neues Staatensystem vor, das »allein den Interessen der nordischen Kulturen und staatsformenden Mächte entspricht«. Dazu solle ein deutsch-skandinavischer Block »mit dem Ziel, Boden für hundert Millionen Deutsche zu schaffen und zur Verhinderung einer russisch-mongolischen Militärmacht im Osten« entstehen und eine Allianz

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Teil 2: Verdrängte Erinnerungen mit England bilden, um eine weiße Rassenpolitik in Nordamerika zu stützen; im Süden Europas solle ein Mittelmeerbündnis unter Führung Italiens entstehen und »im europäischen Osten die Einbeziehung der Ukraine in das europäische Wirtschaftsleben und Stützung eines antitatarisch eingestellten ukrainischen Staates« erfolgen: »Deutschland selbst wird dann endlich die Möglichkeit erlangen, in Europa seinen kommenden 100 Millionen genug Lebensraum zu verschaffen [...] Deshalb ist der Ruf nach eigenem Raum, nach eigenem Brot auch die Voraussetzung für die Durchsetzung seelischer Werte, die Formung des deutschen Charakters. In diesem großen Daseinskampf um Ehre, Freiheit und Brot einer solchen schöpferischen Nation wie Deutschland können Rücksichten auf die ebenso impotenten wie werte-losen und anmaßenden Polen, Tschechen usw. nicht genommen werden. Sie müssen nach Osten abgedrängt werden, damit der Boden frei wird zur Beackerung durch germanische Bauernfäuste.«' 68 Solchen Kolonialplänen standen die beiden Nationen, die polnische und die tschechische, im wahren Sinne des Wortes im Wege. Sie stellten die erste territoriale »Hürde« auf dem deutschen Weg gen Osten dar. Die NS-Aversionen gegen diese beiden Nationen waren ohnehin von feindseligen und überheblichen Stereotypen inspiriert, die die Wahrnehmung der Polen und Tschechen in der deutschen Öffentlichkeit seit Generationen belasteten. Rosenberg aktivierte bei seinen Lesern noch aus einem weiteren Grund antipolnische und antitschechische Stimmungen: Die von den Nazis bekämpften liberal-demokratischen Wertvorstellungen sowie die auf den Idealen von Solidarität und kollektiver Sicherheit beruhende Vision der europäischen Staatengemeinschaft wurden in Rosenbergs Augen konkret von vier Nationen repräsentiert, die sich angeblich von der »germanischen Art« grundlegend unterschieden: »Ein ganz anderes Wesen aber zeigt sich im sogenannten heutigen von Franzosen, Polen, Tschechen und Juden geförderten Pan-Europäertum. Das, was sich hier abspielt, ist nicht das Angleichen germanisch bedingter Elemente in Europa, sondern ein Vereinigen rassenchaotischer Abfalle der Weltstädte, ein pazifistisches Geschäftsabkommen großer und kleiner Händler, letzten Endes eine von der jüdischen Finanz mit Hilfe der heutigen französischen bewaffneten Kulis geförderte Unterdrückung der darniederliegenden germanischen Kräfte in Deutschland und überall in der Welt.«' 69 Rosenbergs Bestseller Der Mythus des 20. Jahrhunderts, das neben Mein Kampf populärste »grundlegende Werk völkisch-rassistischer Weltbetrachtung«' 7 0 , ergänzte die geistige Nahrung, die die Anhänger des deutschen Feldzugs gen Osten aus der Feder ihres Führers empfingen. Zur Orientierung im Kriegsalltag werden solche Äußerungen wohl kaum beigetragen haben. Das Ziel, den »Boden im Osten frei zur Beackerung durch germanische Bauernfäuste« 17 ' zu machen, bedeutete nicht, dass man der Heimat der dortigen deutschen Minderheiten eine besondere Fürsorge angedeihen lassen und deren Lebensbedingungen verbessern sollte. Rosenberg galt auf Grund seiner Herkunft als »Ostexperte« und profilierte sich durch seine »Kenntnisse« der so genannten Ostvölker. Aber er kümmerte sich wenig um das Wohlergehen seiner eigenen Landsleute, wie wir

Das NS-Projekt für die deutschen Minderheiten im östlichen Europa

bei den Umsiedlungen der Deutschen aus den baltischen Staaten sehen werden. Den Heimatverlust der später als Vertriebene bezeichneten Deutschen zugunsten des künftigen Kolonialreiches nahm Rosenberg zwar mit besonderer Anteilnahme, aber bedenkenlos zur Kenntnis.'72 XXX

Der Nationalsozialismus war ein alldeutsches Phänomen, wie die Erinnerungen an Hitler oder Rosenberg andeuten. Die Geschichte der sudetendeutschen Nationalsozialisten beweist es: Sie rühmten sich zu Recht, die »Wiege« des Nationalsozialismus gewesen zu sein. In der Tat verfügten sie schon über einen umfassenden Parteiapparat, ein Verlagswesen und stabile Mitgliederzahlen, als sich die NSDAP im Reich erst als ein »Neuankömmling« zu der »Nationalsozialistischen Partei des deutschen Volkes« gesellte, die zu Beginn der 1920er Jahre über eine »Zwischenstaatliche Kanzlei« in Wien und »Parteigruppen« außer in Deutschland auch in Österreich, Polen und in der Tschechoslowakei verfügte.17' Der Nationalsozialismus ist ohne die Berücksichtigung der deutschen Minderheiten im östlichen Europa historisch nicht adäquat zu erfassen. Trotzdem können die deutschen Minderheiten nicht mit dem Kollektivvorwurf belegt werden, die gleiche Verantwortung für die verbrecherische Politik des NS-Regimes wie die »Reichsdeutschen« getragen zu haben. Ohne den »Erfolg« der NS-Bewegung im Deutschen Reich hätten es die völkisch-nationalsozialistischen Gruppierungen in den deutschen Minderheiten nicht vermocht, die nach dem Ersten Weltkrieg errichtete Staatenordnung zu destabilisieren oder gar zu zerstören. Die außerhalb des Deutschen Reiches lebenden Deutschen waren keine durch bloße Abstammung zu definierende »Volksgruppen«, sondern bildeten kulturhistorisch und politisch vielfältige Gesellschaften. Erst auf der Basis umfassender Forschungen wird man den »Eigenbeitrag« der Betroffenen zum nationalsozialistischen Projekt für die deutschen Minderheiten und damit zur Geschichte der Vertriebenen sachlich beurteilen können. Das Beispiel Alfred Rosenberg mag schon vorab als Warnung vor einer naiven Gutgläubigkeit den Autoren gegenüber dienen, die aus ihrer Abstammung den besonderen Anspruch ableiten, als kenntnisreiche Experten für Ostpolitik gehört zu werden. Rosenberg galt unter den Nationalsozialisten auf Grund seiner estländischen Abstammung als »Ostexperte«, und selbst in der Bundesrepublik war noch die Vorstellung verbreitet, dass die »Ostdeutschen« über besonders gute Kenntnisse des östlichen Europa verfügten und deshalb besonders gut geeignet seien, die Beziehungen zwischen der Bundesrepublik und ihren östlichen Nachbarn zu gestalten: »Uns Ostdeutschen liegt die jahrhundertelange Erfahrung der Auseinandersetzung mit dem Osten im Blute«'74, schrieb beispielsweise 1953 der aus Schlesien stammende Historiker Ernst Birke (1908-1980), und die Vertriebenenorganisationen beanspruchen bis heute, als besonders berufene Experten in allen das östliche Europa betreffenden Fragen gehört zu werden. Dass die individuelle Abstammung niemanden in besonderem Maße befähigt, die Geschichte der Vertriebenen zu erläutern, werden die weiter unten vorgestellten Beiträge Alfred Rosenbergs zum Erinnern an die Vertreibung ebenso illustrieren wie die unter-

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Teil 2: Verdrängte Erinnerungen

schiedlichen und häufig geradezu widersprüchlichen Berichte von Betroffenen. Die deutschen Minderheiten waren eben keine kollektiven, durch Blut und Boden verbundenen Volksgruppen, wie es im völkischen Jargon heißt, sondern genauso vielfältig, wie jede Gesellschaft. Darüber hinaus gehörten nicht alle ihre Angehörigen der so genannten deutschen Volksgemeinschaft an, und nicht alle wurden vertrieben.

Der kurze folgenreiche Weg der Minderheiten in die deutsche Volksgemeinschaft Zwischen den desorientierten Deutschen, die wie Hilda Hadina-Königsreiter schon 1923 über den »Heimatverlust« in der Tschechoslowakei klagten, und dem aus dem Deutschen Reich gesteuerten u n d von der sudetendeutschen Massen bewegung Konrad Henleins getragenen Ruf »Heim ins Reich« aus dem Jahre 1938 lagen nur 15 Jahre. In diesen wenigen Jahren haben große Teile der Angehörigen der deutschen Minderheiten im gesamten östlichen E u r o p a mental ihre traditionellen Nachbarschaften verlassen, u m sich zur so genannten deutschen Volksgemeinschaft im Sinne der völkischen Rhetorik als ihrer geistigen Heimat zu bekennen. Diese mentale Veränderung zeitigte schwerwiegende praktische Folgen, u n d in der Geschichte der Vertriebenen war dies eine bedeutende Entwicklung. Angehörige der deutschen Minderheiten, die zu Mitgliedern der nationalsozialistischen deutschen Volksgemeinschaft geworden waren, lebten während des Krieges unter anderen Bedingungen als ihre Nachbarn. Infolgedessen wurden sie auch nach dem Kriegsende anders als ihre Mitbürger behandelt. Der kurze Weg der deutschen Minderheiten zur deutschen Volksgemeinschaft kann nicht nur und nicht einmal in erster Linie im Kontext der Geschichte der einzelnen Minderheiten in ihren jeweiligen Staaten erklärt werden. Denn bei diesem Prozeß kam dem Deutschen Reich die Schlüsselrolle zu. O h n e die Einmischung Deutschlands in die innenpolitischen Entwicklungen anderer Staaten hätten weder die Alltagskonflikte des multikulturellen Lebens im östlichen Europa die Staatenordnung erschüttert, noch wären die deutschen Minderheiten zum Bestandteil der alldeutschen Volksgemeinschaft geworden. Warum Hitlers Vision eines Kolonialimperiums im östlichen Europa von vielen Deutschen unterstützt wurde, läßt sich vor dem Hintergrund eines nationalen Identitätswandels erklären, wie er etwa in Meyers Lexikon 1925 deutlich zum Ausdruck gebracht wurde. Die »staatspolitische Auffassung«, dass der Begriff »deutsches Volk« gleichbedeutend sei mit der Bevölkerung des Deutschen Reichs, sei »geschichtlich und volkspolitisch nicht haltbar«, hieß es in dem angesehen Nachschlagewerk. Das deutsche Volk sei vielmehr »die Gesamtheit der Bewohner Europas und der übrigen Erdteile, die deutsch als ihre Muttersprache sprechen, die zugleich deutsch fühlen und denken«:

Das NS-Projekt für die deutschen Minderheiten im östlichen Europa »Diese Auffassung ist neu, sie ringt sich heute erst allmählich durch, und sie hat noch gegen manche zu eng und zu sehr staatspolitisch eingestellte Anschauungen der reichsdeutschen Wissenschaft und Allgemeinheit anzukämpfen. Dieser neuen Auffassung wird auch die deutsche Geschichtswissenschaft ganz anders Rechnung tragen müssen als bisher, wo vielfach deutsche Geschichte sich nur mit dem deutschen Staat und viel zu wenig mit dem deutschen Volk beschäftigte. Die geographische Wissenschaft sucht ihr teilweise schon gerecht zu werden, indem sie (z. B. A. Penck) nicht nur den deutschen Volksboden {= deutsches Sprachgebiet), sondern auch den deutschen Kulturboden, der überall da ist, soweit die Durchdringung mit Deutschen reicht, in den Kreis ihrer Untersuchungen zieht.«' 75 Damit wurde der deutschen Öffentlichkeit die völkische Form der nationalen Identität nahegelegt, die zuvor inner- und außerhalb des Deutschen Reiches nur von den alldeutschen Randgruppen propagiert worden war. Aber nicht nur Meyers Lexikon, sondern auch zahlreiche Wissenschaftler verschrieben sich nun dieser »neuen« Form der nationalen Identität. Der in obigem Zitat empfohlene Autor Albrecht Penck (1858-1945) vermochte allerdings zur Klärung der Frage, wo Deutschland liegt oder nach deutschen Vorstellungen liegen sollte, wenig beizutragen, wie schon einige wenige Sätze aus seinem 1925 erschienenen und viel zitierten Aufsatz über den deutschen »Volks- und Kulturboden« illustrieren:

Über den grenzenlosen deutschen Boden »Wo deutsches Volk siedelt, ist deutscher Volksboden, da hört man deutsche Sprache und sieht man deutsche Arbeit.« »Fünf Staaten erstrecken sich heute im Bereiche des deutschen Volksbodens: Das Deutsche Reich, das nur Dreiviertel desselben umfasst, Österreich, Danzig, Luxemburg und Liechtenstein. Zehn Staaten greifen in den Bereich des deutschen Volksbodens über: Dänemark, Litauen, Polen, Tschechoslowakei, Ungarn, Jugoslawien, Italien, Schweiz, Frankreich und Belgien.« »Der deutsche Volksboden ist von einem eigenartigen deutschen Kulturboden begleitet, der sich von dem der benachbarten Kulturgebiete unterscheidet.« »Der deutsche Kulturboden ist die größte Leistung des deutschen Volkes. Wo immer auch Deutsche gesellig wohnen und die Erdoberfläche nutzen, tritt er in Erscheinung [...] Wo in Kaukasien, in der Krim, in Bessarabien oder in Wolhynien deutsche Dörfer liegen, da ist die Flur eines jeden ein Stück deutschen Kulturbodens.« »Eine kleine Zahl von Deutschen kann genügen, um ein großes Land in deutschen Kulturboden zu verwandeln.«' 76

Das Konzept des »deutschen Volks- und Kulturbodens« fand vielfach eine unkritische Akzeptanz. In seinem Licht konnte die Idee, dass man den deutschen Lebensraum um den im östlichen Europa vermeintlich vorhandenen »deutschen Boden« erweitern könne, durchaus plausibel erscheinen. Wenn eine kleine Zahl von Deutschen genügen sollte, »um ein großes Land in deutschen Kulturboden zu verwandeln«, dann kam den deutschen Minderheiten im östlichen Europa eine Schlüsselstellung zu, und zwar sowohl für die deutsche nationale Identität wie im nationalsozialistischen Kolonialprojekt. Hatten sie nicht

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Teil 2: Verdrängte Erinnerungen

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/lob. 7 M/'tte der 7 920er /o/ire nahmen zahlreiche deutsche Wissenschaftler Ideen eines alldeutschen Ethnonationalismus auf, wie sie von völkischen Gruppen propagiert wurden. Das Konzept des so genannten Volks- und Kulturbodens diente dazu, expansionistische Forderungen nach einem größeren >Lebensraum< für das Deutsche Reich zu legitimieren. Dazu wurde die Vorstellung verbreitet, dass überall dort, wo Deutsche leben, auch deutscher Boden< zu finden sei. Auf dieser Karte aus dem jähre 1925 grenzen an den so genannten deutschen Volksboden Gebiete Polens, der Tschechoslowakei, Ungarns und Jugoslawiens. In all diesen Gebieten kam es infolge des Zweiten Weltkriegs zu Vertreibungen und/oder Umsiedlungen deutscher Bevölkerung.

Das NS-Projekt für die deutschen Minderheiten im östlichen Europa

- so ihr von jahrelanger völkischer Agitation genährtes Sclbstverständnis - das gesamte Osteuropa zwischen dem Baltikum, der Adria und dem Schwarzen Meer in »deutschen Kulturboden« verwandelt? In den Augen der Völkischen repräsentierten die Minderheiten von Anfang an die Legitimität deutscher Ansprüche unterschiedlicher Art gegenüber dem östlichen Europa. Die nationalsozialistische Ostpolitik zog daraus die praktische Schlussfolgerung und konkretisierte sie in ihren Kolonialplänen. Bemühten sich die völkischen Agitatoren darum, unter den Angehörigen der Minderheiten das Zugehörigkeitsgefühl zur deutschen Volksgemeinschaft zu erwecken, so fokussierten die Nationalsozialisten auf die andere Seite derselben Medaille. Die deutschen Minderheiten in Osteuropa wurden als Repräsentanten des »Deutschtums« im östlichen Europa und damit zur Repräsentation der Zugehörigkeit des osteuropäischen »Bodens« zu Deutschland bzw. zum deutschen »Lebensraum« stilisiert. Sie wurden ein Mittel zum Zweck. Die Nationalsozialisten waren nicht am Wohlergehen der deutschen Minderheiten interessiert, sondern am »Boden« im östlichen Europa. Sie klagten zwar über die Leiden der Deutschen in Polen oder in der Tschechoslowakei, aber annektierten Gebiete dieser Staaten unabhängig davon, ob dort Deutsche lebten oder nicht. Wie wir gesehen haben, erschien vielen Deutschen das gesamte östliche Europa attraktiv schon lange bevor sie begonnen hatten, das Schicksal der dort lebenden Deutschen zu beklagen. Das gilt vor allem für Russland. Wie der Historiker Gerd Koenen zeigt, waren im frühen 20. Jahrhundert viele Deutsche von einem glühenden missionarischen Eifer naiver Besserwisserei erfüllt: Sie glaubten, dass sie die Verhältnisse in Russland besser zu gestalten wüssten als die Russen selbst. Die Vision des eigenen Profits, den man aus den vermeintlichen Wohltaten an Russland ziehen zu können glaubte, trug in vielen deutschen Augen zur Attraktivität Osteuropas zusätzlich bei.' 77 In den nationalsozialistischen Schriften begegnen wir unentwegt Hinweisen auf den osteuropäischen »Boden«, aber auch auf die großen Vorräte an Rohstoffen. Vor diesem Hintergrund erscheint die nationalsozialistische Fiktion des gemeinsamen »Blutes« zwischen den deutschen Staatsbürgern und den Auslandsdeutschen wie eine mentale Brücke auf dem Weg zu dem als neuen »deutschen Lebensraum« ersehnten »Boden«. »So ist der Osten wieder in die geweihten Träume deutscher Menschen eingegangen«, schrieb der später auch in der Bundesrepublik prominente »Ostforscher« Max Hildebert Boehm (1891-1968) im Jahre 1936: »Nur die rauhe Wirklichkeit, die uns heute umgibt, scheint sie in das Reich der Phantasien zu verdammen. Aber die »Realpolitiker« irren, die uns dazu verleiten wollen, die Niederlage als endgültige Schickung hinzunehmen. Die Stimme unseres Blutes weiß es besser. Sie weist uns auf den Boden, der durch gesegnete deutsche Arbeit deutscher Volksboden geworden ist.«'78 Solche Ideen verdunkelten in den Köpfen einer kontinuierlich wachsenden Zahl von Deutschen zwischen dem Rhein und dem Schwarzen Meer den Sinn für Wirklichkeit. Der erste Schritt auf dem Weg zur Verwirklichung der von Hitler entworfenen Kolonialvision war die mentale Verwandlung der vielfältigen deutschen Minderheiten in so genannte Volksdeutsche. In einem Runderlaß des Reichsinnenministers vom 29. März 1939 wurde der von nun an geltende offizielle Sprachgebrauch geregelt:

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Teil 2: Verdrängte Erinnerungen »Zum deutschen Volkstum gehören auch die Deutschen, die außerhalb des Reiches wohnen. Der Besitz einer fremden Staatsangehörigkeit ändert an der Zugehörigkeit zum deutschen Volkstum nichts. Die deutschen Volkszugchörigcn fremder Staatsangehörigkeit werden als »Volksdeutsche« bezeichnet.«' 79 Dadurch wurden die meisten - aber keineswegs alle - Angehörigen der deutschen Minderheiten als ein unmittelbarer Bestandteil der neuen deutschen Volksgemeinschaft vereinnahmt: »Die Volksdeutschen sind als Gruppe in Wirklichkeit erst durch die nationalsozialistische Politik ins Leben gerufen worden.«' 8 0 Die so genannte Volksdeutsche Bewegung ging aus der alldeutsch-völkischen Tradition hervor, aber in der nationalsozialistischen Staatsdoktrin verlor das Adjektiv »deutsch« seine ethnische Bedeutung. Nicht alle so genannten Deutschstämmigen galten als Volksdeutsche' 8 ', und die Deutschsprachigkeit oder das subjektive Bekenntnis zur deutschen Nationalität waren nicht ausreichend, um ein deutscher Volkszugehöriger zu werden. So wie im Deutschen Reich nicht alle bisherigen Staatsbürger in die neue Volksgemeinschaft aufgenommen wurden, so sind auch nicht alle Angehörigen der deutschen Minderheiten Volksdeutsche geworden: »Die Anerkennung als »deutscher Volkszugehöriger« setzt in jedem Falle die deutschblütige Abstammung voraus, und es kann nicht entschieden genug der leider noch verbreiteten Meinung entgegengetreten werden, daß allein schon das Bekenntnis zum Deutschtum, die positive Einstellung zum Deutschtum zur Kennzeichnung des deutschen Volkszugehörigen ausreicht.«' 82 Die Nationalsozialisten fühlten sich berechtigt, nach eigenem Ermessen darüber zu entscheiden, wer als Volksdeutscher anzusehen sei: »Deutscher Volkszugehöriger ist, wer sich selbst als Angehöriger des deutschen Volkes bekennt, sofern dieses Bekenntnis durch bestimmte Tatsachen, wie Sprache, Erziehung, Kultur usw. bestätigt wird. Personen artfremden Blutes, insbesondere Juden, sind niemals deutsche Volkszugehörige, auch wenn sie sich bisher als solche bezeichnet haben.« 18 ' Mit Hitlers Machtergreifung konnte die Bezeichnung eines Menschen als »Volksdeutscher« nicht nur über Leben und Tod entscheiden. Ihre Einführung zerschlug im staatsrechtlichen und verwaltungstechnischen Sinne sowie im praktischen Leben die multikulturellen Nachbarschaften im östlichen Europa. Ein großer Teil der einstigen Angehörigen der deutschen Minderheiten erwarb zwischen 1938/39 und 1945 die deutsche Staatsangehörigkeit oder den Status »deutscher Volkszugehöriger« bzw. die Bezeichnung »Volksdeutsche«. Sie wurden von den deutschen Besatzern ihrer zerschlagenen Staaten ebenso wie in den zu Verbündeten des NS-Reichs gewordenen Staaten anders behandelt als Angehörige anderer Nationen. Dass sich etwa Deutsche und Polen während des Krieges in unterschiedlichen Rechtslagen befanden, ist hinlänglich bekannt; aber auch für Tschechen als so genannte Protektoratsangehörige galten andere Rechtsnormen als für ihre deutschen Nachbarn. Auch in den mit Deutschland verbündeten Staaten wie der Slowakei, Ungarn, Kroatien oder Rumänien wurden die Regierungen genötigt, den so genannten deutschen Volksgruppen Privilegien und weitreichende Autonomie einzuräumen. All das schützte die Angehörigen der deutschen Min-

Das NS-Projekt für die deutschen Minderheiten im östlichen Europa derheiten zwar nicht vor dem Missbrauch durch das nationalsozialistische Regime oder vor den schweren Folgen des Krieges, aber sie lebten mit ihren Nachbarn anderer Nationalität während des Krieges nicht mehr so zusammen wie früher. Darüber hinaus machte die Zugehörigkeit zur deutschen Volksgemeinschaft aus den einstigen Angehörigen der deutschen Minderheiten aktive Teilnehmer der nationalsozialistischen Kriegs- und Besatzungspolitik. Das war der Grund, warum Deutsche nach dem Krieg in ihren jeweiligen Staaten auch weiterhin anders als Angehörige anderer Nationen behandelt wurden oder warum den Vertriebenen nach dem Kriegsende von der internationalen Gemeinschaft nie der Flüchtlingsstatus gewährt wurde - den erhielten nur diejenigen Deutschen, die abseits der NS-Volksgemeinschaft lebten und Opfer der nationalsozialistischen Repression geworden waren. Den Betroffenen war häufig nicht bewusst, dass sie schon mit ihrem Beitritt zur deutschen Volksgemeinschaft zu Komplizen des nationalsozialistischen Regimes und seiner Verbrechen geworden waren. Wer in den völkischen Traditionen verhaftet war, begriff kaum, dass das Gerede vom »deutschen Volks- und Kulturboden« vom Nationalsozialismus benutzt wurde, um einen Kolonialkrieg zu führen. Die im völkischen Jargon verhafteten Deutschen hatten nicht bemerkt, dass die ethnische Vorstellung darüber, wer als Deutscher zu bezeichnen sei, ihre Bedeutung verlor, da nicht alle ethnisch Deutschen gleich behandelt wurden. Ein völkisch denkender Mensch wunderte sich nicht, als seine Mitbürger, seien es Juden, O p p o sitionelle oder Angehörige anderer Nationen, keine bürgerliche Gleichheit mehr genießen konnten. Die rätselhafte Verblendung vieler Angehöriger der deutschen Minderheiten im östlichen Europa - und namentlich die weit verbreitete Partizipation an der nationalsozialistischen Ostpolitik - kann nur aus der gewohnten Rhetorik und Denkweise der völkischen Tradition erklärt werden: Erst die Kenntnis der völkischen Literatur und ihrer verbalen Labyrinthe hilft uns zu verstehen, warum die nationalsozialistische Agitation vielen Deutschen plausibel erscheinen konnte. Dennoch - die geistige Verwirrung vieler Menschen hätte nicht ausgereicht, um die deutschen Minderheiten tatsächlich so zu missbrauchen, wie es den Nationalsozialisten gelang. Zahlreiche Deutsche warnten von Anfang an vor den Gefahren der nationalsozialistischen Ostpolitik, denn sie durchschauten nicht nur die Ziele, sondern auch die Mittel und Methoden, derer sich das NS-Regime bediente: »Die Propaganda des Dritten Reiches ist so eng mit den alldeutschen Kriegszielen verflochten, dass wir aus ihren Schlagworten und Losungen, aus ihrer Stossrichtung die jeweiligen außenpolitischen Absichten des Dritten Reiches zu erkennen vermögen«, hieß es in dem 1935 in Paris von deutschen Emigranten veröffentlichten Buch Das braune Netz.'84 Zugleich wurde detailliert dokumentiert, »wie Hitlers Agenten im Auslande arbeiten und den Krieg vorbereiten«, so der Untertitel. »Angeblich ein Kind des Krieges, soll dieser »Volksdeutsche Gedanke«, wie ihn der Nationalsozialismus versteht, durch den Krieg zur Wirklichkeit werden.«' 8 5 , hieß es. Das Buch ist deshalb eine unentbehrliche Informationsquelle zur unmittelbaren Vorgeschichte der Vertreibung geworden, weil es die Verflechtungen zwischen dem Deutschen Reich und dem im Ausland für Hitlers Ziele tätigen Organisationsnetz dokumentiert, mit dessen Hilfe das NS-Regime die deutschen Minderheiten schon vor dem Zweiten

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Teil 2: Verdrängte Erinnerungen Weltkrieg instrumentalisierte und die benachbarten Staaten auf dem Weg zu dem von Hitler schon in Mein Kampf vorgesehenen »Bluteinsatz« destabilisierte. Es waren nicht nur die mentalen Verwirrungen der völkischen Agitation, die viele Angehörige deutscher Minderheiten im östlichen Europa zu Anhängern Hitlers machten, sondern auch die systematisch organisierten geheimen Intrigen und Machenschaften des nationalsozialistischen Apparats, der vor allem nach 1933 zur weitgehenden Nazifizierung der deutschsprachigen Bevölkerung außerhalb des Deutschen Reiches beigetragen hat. »Den furchtbaren Kampf dieser Lügenarmee vor aller Welt aufzuzeigen, mitzuhelfen bei der Zurückwerfung und Zerschlagung dieser Armee ist die erste Pflicht aller, die den Krieg wirklich verhindern wollen«, schrieb der britische Politiker Lord Listowel (1906-1997) in seinem Vorwort zu der beeindruckenden und heute nahezu vergessenen Dokumentation einstiger deutscher Emigranten. In Deutschland waren solche Bücher damals nicht mehr frei erhältlich, und bei den Deutschen anderer Staaten wurden solche Stimmen längst von völkischer Agitation übertönt. So ist es passiert, dass viele der später als Vertriebene bezeichneten Menschen das NS-Projekt für die deutschen Minderheiten im östlichen Europa unterstützten, ohne zu erkennen, dass sie selbst dabei missbraucht wurden und an der Zerstörung ihrer Heimat mitwirkten.

Das NS-Projekt für die deutschen Minderheiten im östlichen Europa beruhte auf einer Kombination territorialer Annexionspläne und Umsiedlungsvorhaben. Beides diente der nationalsozialistischen Ostpolitik und nahm keinerlei Rücksicht auf die unterworfene Nationen, zerstörte aber auch die Lebenswelten der deutschen Minderheiten. Weder ersteres noch letzteres scheinen die NS-Anhänger begriffen zu haben; selbst in ihren Veröffentlichungen aus der Nachkriegszeit finden sich nur in seltenen Ausnahmen entsprechende Einsichten. Was die breite deutsche Öffentlichkeit inmitten des Krieges erfuhr, können wir uns beispielsweise anhand des Taschen-Brockhaus zum Zeitgeschehen von 1942 vergegenwärtigen: »Erst der Nationalsozialismus begann von neuem mit einer planvollen Ostpolitik. Österreich wie Böhmen wurden 1938/39 wieder mit dem Reich vereinigt, die bisher der polnischen Herrschaft ausgelieferten deutschen Ostgebiete durch den siegreichen Polenfeldzug vom Sept. 1939 befreit. Zugleich entschloß sich Adolf Hitler zur Rücksiedlung der weit vorgeschobenen deutschen Vorposten im Osten.«' 86 Für die Geschichte der einst völkerrechtlich geschützten deutsche Minderheiten wurde unter der NS-Herrschaft das Wort »Umsiedlung« zum Schlüsselbegriff: »Unter U[msiedlung] wird die geschlossene Rücksiedlung von Volksgenossen aus einem andersvölkischen Staat in den des Muttervolkes verstanden. Sie dient dem Schutz der um die Behauptung ihres Volkstums ringenden Volksgruppen und zugleich der Geschlossenheit und damit zur Stärkung der eigenen Volkskraft.«'87 Die weitreichenden Folgen des NS-Projekts für die deutschen Minderheiten im östlichen Europa machten sich innerhalb kurzer Zeit bemerkbar. Im soeben erwähnten Taschen-Brockhaus wurden deutsche Minderheiten als »Deutsche Volks-

Das NS-Projekt für die deutschen Minderheiten im östlichen Europa

gruppen« bezeichnet und ihre neue Lebenslage folgenderweise umschrieben: »In Europa ist ihre Zahl durch die Schaffung des Großdeutschen Reiches seit 1938 stark zurückgegangen, indem [... mehrere Volksgruppen] wieder ins Reich zurückgekehrt sind«.'88 Infolge territorialer Annexionen und NS-Umsiedlungen sei von den rund sieben Millionen Angehöriger deutscher Minderheiten im östlichen Europa, über die der oben zitierte Volks-Brockhaus aus dem Jahre 1935 berichtet hatte, die Zahl der Angehörigen der »verbliebenen Volksgruppen« bis 1942 beträchtlich geschrumpft. Knapp 5,5 Millionen Deutsche seien »ins Reich zurückgekehrt«; die »wichtigsten« deutschen Volksgruppen »der Gegenwart befinden sich im Donauraum«, hieß es: »So sind nunmehr nach jahrzehntelangem Kampf um ihre völkische Selbsterhaltung die Dfeutschen] Volksgruppen] in den mit dem Reich befreundeten Donauländern gesichert und mit dem Muttervolk wieder fest verbunden.« Nach den NS-Angaben von 1942 ergab sich das folgende Bild: Tabelle 2: >lns Reich zurückgekehrte Volksgruppen des östlichen Europas' Ins Reich »zurückgekehrte« Deutsche der sudetendeutschen Gebiete

Anzahl 3,3 Mill.

des Protektorats Danzigs

200 000

des Memellandes des Weichsel- und Warthegebietes von Südsteiermark und Oberkrain »durch Umsiedlung« zurückgekehrte Deutsche Volksgruppen Estlands

400 000 120 000 über 1 Mill. keine Angabe

Lettlands Litauens Wolhyniens und Ostgaliziens Bessarabiens des Buchenlandes der Dobrudscha

21 400 57 200 47 500 128 000 93 500 94 500 14 000 5 476 100

Insgesamt

Tabelle 3: Die 1942 im östlichen Europa 'verbliebenen deutschen Volksgruppen'' Staat Ungarn

Anzahl über 1 Mill.

Slowakei

rund 160 000

Erläuterung der neuen Lage »Ihre völkisch-politische Organisation ist der Volksbund der Deutschen in Ungarn (seit 1940 staatlich anerkannt) unter Führung von Franz Basch.« »Die D[eutsche]V[olksgruppe] ist seit Schaffung der selbständigen Slowakei in der Deutschen Partei nach dem Vorbild der N.S.D.A.P. unter Führung von Staatssekretär Franz Karmasin straff organisiert und genießt umfassende Selbstverwaltungsrechte.«

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Teil 2: Verdrängte Erinnerungen Staat Rumänien

Kroatien

Insgesamt

Anzahl 550 000

150 000

1 Erläuterung der neuen Lage Die Deutsche Volksgruppe »ist seit 1940 auf nationalsozialistischen Grundlage unter Führung von Andreas Schmidt organisiert und staatlich anerkannt.« »Die Deutschen in Syrmien, Slawonien und Bosnien (150 000) erhielten im neuen Königreich Kroatien als Dfeutsche] Volksgruppe] unter Führung von Altgeyer alle Rechte der völkischen Selbstverwaltung.«

1 860 000

Somit hatte sich die Lebenslage der einstigen Angehörigen der deutschen Minderheiten bis 1942 grundlegend verändert. Ein beachtlicher Teil von ihnen hatte infolge der NS-Herrschaft ihre Heimat verlassen, die einstigen zahlenmäßig stärksten deutschen Minderheiten Polens, der Tschechoslowakei, Jugoslawiens und der Sowjetunion hatten als nationale Minderheiten aufgehört zu existieren. Die Deutschen aus den ersten beiden Staaten wurden deutsche Staatsangehörige, und das »Deutschtum im ehemaligen Jugoslawien (700 000) kam durch den Zerfall dieses Staates 1941 teils ans Reich zurück (Südsteiermark-Krain), teils an Ungarn (Batschka-Südbaranya)«, während die Deutschen aus Syrmien, Slawonien und Bosnien nun in der Deutschen Volksgruppe im neu errichteten Staat Kroatien zusammengefasst wurden. Über die deutsche Minderheit in der UdSSR hieß es im Jahre 1942 nur: »Das Schicksal der rund 1,5 Millionen Volksdeutschen der Sowjetunion (Wolgagebiet, südliche Ukraine, Kaukasus, Sibirien), die unter bolschewistischer Herrschaft von jeder Verbindung mit der Heimat abgeschnitten wurden, ist durch den Feldzug im Osten zur Entscheidung gestellt.« Vieles erfuhr die deutsche Öffentlichkeit nicht. In dem 1942 in Berlin erarbeiteten »Generalplan Ost« betreffend »rechtliche, wirtschaftliche und räumliche Grundlagen des Ostaufbaues« wurden weitere Umsiedlungen von Angehörigen der einstigen deutschen Minderheiten vorgesehen, u. a. dass 500 000 Menschen als »Streudeutschtum aus Transnistrien und Südosten sowie Bevölkerungsüberschuß aus Banat, Batschka und Siebenbürgen« sowie »eine derzeit nicht zu überblickende Anzahl von Rußlanddeutschen« für die »Deckung des Bedarfs an deutschen Menschen« für die Ostsiedlung zur Verfügung stehen sollten. 19 ' Hinter derartigen rhetorischen Labyrinthen verbarg sich als Ziel »die Errichtung einer hierarchisch gegliederten Rassenordnung im kontinentalen und möglicherweise sogar globalen Rahmen«, und dies schloss »die Ausrottung und Versklavung der jüdischen wie der slawischen »Rasse« mit ein«, wie es der Berliner Historiker Wolf gang Wippermann formuliert.' 92 Das dabei unvermeidlicherweise Millionen von Menschen zugefügte Leid nahmen die Nationalsozialisten ebenso in Kauf wie die Zerstörung der Lebenswelten der deutschen Minderheiten im östlichen Europa. Die Erinnerungen an den vom NS-Regime organisierten Heimatverlust eines Teils der später in der Bundesrepublik als Vertriebene bezeichneten Menschen wurden weitgehend verdrängt - und das betraf auch die Zerstörung ihrer aller Lebenswelten. Wenn es erwähnt wurde, dann geschah dies häufig in einer befremdlichen Weise, wie wir weiter unten sehen werden.

Das NS-Projekt für die deutsehen Minderheiten im östlichen Europa

Abb. 8 Wie diese grobkonturierte Karte verdeutlicht, erstreckte sich im Jahre 1942 das Deutsche Reich weit über seine Grenzen von 1933 hinaus und wurde deshalb als das Großdeutsche Reich bezeichnet: Aus einem Staat von 468 770 qkm mit einer Bevölkerung von etwa 65 Millionen wurde innerhalb eines Jahrzehnts ein Kolonialreich von 904 425 qkm mit einer Bevölkerung von etwa 1 i 8 Millionen. Diese Vergrößerung fand weitgehend im östlichen Europa statt, so dass uneingeweihte Ausländer oft meinen, mit der Bezeichnung 'Vertreibung der Deutschen aus dem Osten< sei die Vertreibung der deutschen Wehrmacht aus dem östlichen Europa gemeint.

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Sie >verloren die Heimat, um das Vaterland zu gewinnen< »Diese Heimkehr im großen Treck, in Schnee und Eis, bei 400 Kälte wird noch nach Generationen lebendig sein.«'93

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er die Vertreibung als eine Vertreibung der deutschen Nation aus dem östlichen Europa sieht, setzt ihren Anfang beim Vormarsch der Roten Armee in der zweiten Jahreshälfte 1944 an. Wenn man aber an der Geschichte der als Vertriebene bezeichneten Menschen interessiert ist und deren beschwerliche Wege in ihre neue Heimat im heutigen Deutschland kennenlernen will, sollte man dem Rat von Theodor Schieder folgen und mit dem Jahr 1939 beginnen: »Jede Darstellung der Austreibung der Deutschen aus dem Osten wird, wenn sie den richtigen Ausgangspunkt gewinnen will, von den Bevölkerungsbewegungen auszugehen haben, die sich während des zweiten Weltkriegs seit 1939 in allen Teilen des Deutschen Reiches vollzogen haben.«194 Die ersten Deutschen, die ihre Heimat im östlichen Europa verloren, wurden nicht vertrieben, sondern von der deutschen Regierung umgesiedelt. Nicht nur die in Osteuropa beheimateten Deutschen waren von der NS-Umsiedlungspolitik betroffen; auch Angehörige anderer deutscher Minderheiten etwa in Südtirol oder im Elsaß sollten umgesiedelt werden und wurden es zum Teil auch tatsächlich. Primär aber betrafen die nationalsozialistischen Umsiedlungen das östliche Europa, weil dort »der neue Osten« lag und der »Ostaufgabe« als einer »Festigung und Mehrung deutschen Volkstums« eine größere Rolle als »anderen großen Bau- und Gestaltungsaufgaben« zugeschrieben wurde. Das ist u. a. einem Buch über den »ländlichen Aufbau in den neuen Ostgebieten« zu entnehmen, wo es in einem heute kaum verständlich Jargon heißt: »Landvolkerneuerung und Siedlung als die größten Aufgaben der biologischen und bodenbefestigenden Sicherung des Reiches erscheinen uns in diesem Sinne als die höchste Erfüllung der nationalsozialistischen Mission.«195 Als die von diesen Umsiedlungen betroffenen Deutschen sich auf ihren Leidensweg machen mussten, wurde ihr Schicksal von der NS-Propaganda bejubelt: Sie »verloren die Heimat, um das Vaterland zu gewinnen«, hieß es beispielsweise in einem populären Slogan.'96 Schon im Winter 1939/40 wurde allgemein bekannt, dass die Umgesiedelten Schweres durchmachen mussten: »Diese Heimkehr im großen Treck, in Schnee und Eis, bei 40 0 Kälte wird noch nach Generationen lebendig sein.«'97 Trotzdem begriffen viele Deutsche damals nicht, dass die »Volkswanderung der Deutschen«, wie »die Umsiedlungen des Führers« auch genannt wurden, ein inhumanes Projekt war. Manche Deutsche prangerten diese »Hitlersche Völkerwanderung« an, so z.B. Heinrich Mann. Schon am 21. Oktober 1939 bemerkte er in seinem Tagebuch, dass es keineswegs darum gehe, die Deutschen aus dem Ausland »heim ins Reich« zu holen, wie die Propaganda vorgebe:

Sie »verloren die Heimat, um das Vaterland zu gewinnen« »Den erstaunlichsten Einfall, um möglichst viele Menschen elend zu machen, hat doch Hitler gehabt. Er versetzt ganze Völker auf einen fremden Boden, die Polen in das überbevölkerte Deutschland; für Zwangsarbeiter jeder Rasse hat es Raum. Die baltischen Deutschen und die Deutschen vom Balkan kommen nach Polen. Echte Rasse, macht zwei Millionen. Es verbleiben die zweihunderttausend Südtiroler. Wenn schon fortgetrieben, könnte die arme Herde einige Meilen weiter nördlich Halt machen und lagern. Die Leute wären noch immer im Land Tirol, sie mischten sich unter eine bekannte Menschenart, alte Österreicher wie sie. Gerade das ist verboten. Die Hitlersche Völkerwanderung soll nicht verbinden, sondern trennen.«' 98 Anna Siemsen (1882-1951), Pädagogin und sozialdemokratische Politikerin, schätzte die verbrecherische Konzeption des NS-Umsiedlungsprojekts ähnlich ein. Schon im November 1939 berichtete sie in der Schweizer Zeitschrift Die Frau im Leben und Arbeit: »Große Umsiedlungspläne im Osten Europas, die mit den Esten und Juden begonnen haben, sind bestimmt, ein geschlossenes Großdeutschland zu schaffen.« 199 Sie wies bald ähnlich wie Heinrich Mann auf die praktischen Folgen der abstrusen Umsiedlungspolitik hin: »In Deutschland werden einerseits große Mengen Arbeiter aus den besetzten Gebieten wie im letzten Krieg zur Arbeit in den Rüstungsbetrieben gezwungen, andererseits siedelt man Hunderttausende um: »Volksdeutsche« in an das alte Deutschland angrenzende, die »Fremdstämmigen« in entferntere Gebiete. Besonders die Juden werden in Reservationen ihrem meist sehr harten Schicksal ausgeliefert. Nächst diesen trifft der Druck der Aechtung die Polen, die durch besondere Abzeichen gekennzeichnet werden.« 200 Kritiker wie Heinrich Mann und Anna Siemsen erkannten schon in den ersten Monaten, dass die umgesiedelten Angehörigen der deutschen Minderheiten nicht nach Deutschland gebracht wurden, um als Deutsche unter Deutschen zu leben. Es war für sie klar, dass es bei den Umsiedlungen um die zuvor eroberten Gebiete ging und dass die NS-Siedlungspolitik darüber hinaus sowohl eine schlimme Misshandlung der einheimische Bevölkerung im »neuen Osten« bedeutete als auch mit Deutschen völlig rücksichtslos verfuhr. Welche Haltung man auch immer einnahm, im Herbst 1939 war jedem Beobachter klar, dass mit den ersten Umsiedlungen deutscher Minderheiten im östlichen Europa eine schwerwiegende Entwicklung in Gang gesetzt worden war. Bald wurde auch ersichtlich, dass nicht nur die Volksdeutschen, sondern auch die Reichsdeutschen bzw. Binnendeutschen, wie es damals hieß, zum »Aufbau der neuen Ostgebiete zu einem deutschen Kulturraum« 20 ' würden beitragen müssen: »Auch wir werden einen »heiligen Frühling« nach dem anderen in das neue Land senden müssen, wie es einst unsere germanischen Vorfahren um die Zeitenwende zu tun pflegten, die Besten der Jahrgänge deutscher Jungen, aber auch deutsche Mädel, die im Osten einmal deutsche Gattinnen und deutsche Mütter werden sollen. [...] »Menschen in den Osten!« wird der Ruf sein, der von Warthe und Weichsel in jedes binnendeutsche Haus dringen muß.«202

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Teil 2: Verdrängte Erinnerungen Den Grundstein in der Geschichte der Massenumsiedlungen deutscher Bevölkerung legte Hitler fünf Wochen nach dem Überfall auf Polen, am 6. Oktober 1939, in einer weltweit beachteten Rede vor dem Großdeutschen Reichstag. Darin erklärte er unter anderem, »eine neue Ordnung der ethnographischen Verhältnisse, das heißt, eine Umsiedlung der Nationalitäten« stehe nun als die »wichtigste Aufgabe« bevor. Das betreffe nicht nur den inzwischen eroberten »Raum«; vielmehr handele es sich »um eine Aufgabe, die viel weiter hinausgreift«, kündigte Hitler an: »Denn der ganze Osten und Südosten Europas ist zum Teil mit nichthaltbarcn Splittern des deutschen Volkstums gefüllt. Gerade in ihnen liegt ein Grund und eine Ursache fortgesetzter zwischenstaatlicher Störungen.«203 Wie wir gesehen haben, unterschieden sich die liberal-demokratischen und die nationalsozialistischen Vorstellungen darüber, wie aus Minderheitenfragen sich entzündende Konflikte gelöst werden könnten, erheblich voneinander: Während die einen auf einen völkerrechtlich verankerten Minderheitenschutz setzten, bevorzugte das NS-Regime Massenumsiedlungen. Es gehöre »zu den Aufgaben einer weitschauenden Ordnung des europäischen Lebens, hier Umsiedlungen vorzunehmen, um auf diese Weise wenigstens einen Teil der europäischen Konfliktstoffe zu beseitigen«, erklärte Hitler. 204 In der internationalen Öffentlichkeit wurde diese Rede als eine Art rappel general aufgefasst, Angehörige deutscher Minderheiten umzusiedeln. 205 Adolf Hitler konkretisierte seine Pläne im »Erlaß des Führers und Reichskanzlers zur Festigung deutschen Volkstums« vom 7. Oktober 1939: »Die Folgen von Versailles in Europa sind beseitigt. Damit hat das Großdeutsche Reich die Möglichkeit, deutsche Menschen, die bisher in der Fremde leben mußten, in seinen Raum aufzunehmen und anzusiedeln und innerhalb seiner Interessengrenzen die Siedlung der Volksgruppen so zu gestalten, daß bessere Trennungslinien zwischen ihnen erreicht werden. Die Durchführung dieser Aufgabe übertrage ich dem Reichsführer SS nach folgenden Bestimmungen: Dem Reichsführer-SS obliegt nach meinen Richtlinien: 1. die Zurückführung der für die endgültige Heimkehr in das Reich in Betracht kommenden Reichs- und Volksdeutschen im Ausland, 2. die Ausschaltung des schädigenden Einflusses von solchen volksfremden Bevölkerungsteilen, die eine Gefahr für das Reich und die deutsche Volksgemeinschaft bedeuten, 3. die Gestaltung neuer deutscher Siedlungsgebiete durch Umsiedlung, im besonderen durch Seßhaftmachung der aus dem Ausland heimkehrenden Reichs- und Volksdeutschen.«206 In der Öffentlichkeit assoziierte man das Umsiedlungsprojekt häufig mit Begriffen wie »Heimholung« oder »die große Heimkehr« 207 aus der oben erwähnten völkischen Heimat-Rhetorik, und so hieß es etwa, »deutsche Volksgruppen aus dem Osten kehren heim ins Vaterland«.208 Allgemein glaubte man in Deutschland, dass die Umsiedlung den Wünschen der einzelnen Betroffenen entspreche. Dabei übersah man, dass Hitler weniger das Wohlbefinden einzelner Deutscher am Herzen lag, sondern dass er vielmehr die »Seßhaftmachung« der »in Betracht kommenden Reichs- und Volksdeutschen im Ausland« im Auge hatte, die damit zur »Gestaltung

Sie »verloren die Heimat, um das Vaterland zu gewinnen« neuer deutscher Siedlungsgebiete« beitragen sollten. Viele Deutsche teilten Hitlers Ideen und unterstützen sie mit Rat und Tat, und dazu gehörten sogar angesehene Wissenschaftler. Als Hitler seine Rede hielt, waren die Vorarbeiten für die NS-Umsiedlungspolitik längst im Gange. Bereits eine Woche zuvor, am 28. September 1939, hatte Deutschland mit der Sowjetunion Umsiedlungen vereinbart, und schon damals arbeiteten NS-Experten an weitreichenden Planungen, so z. B. der Historiker Theodor Schieder (1908-1984), der am 7. Oktober den ersten Entwurf einer Denkschrift zu den NS-Umsiedlungsplänen vorlegte. 209 Schieders als Polendenkschrift bekannter Text von 1939 ist von besonderem Interesse für das Erinnern an die Vertreibung. Er bietet uns Einblicke in die mentale Welt eines später einflussreichen Vertreibungshistorikers, denn unter seiner Leitung ist nach dem Krieg die Schiedersche Dokumentation entstanden, die das Erinnern an die Vertreibung nachhaltig geprägt hat. Am Beispiel von Theodor Schieder werden wir noch beobachten können, wie an die Stelle der einstigen Begeisterung für die Massenumsiedlungen der deutschen Minderheiten nach dem Zweiten Weltkrieg die Kritik an der Umsiedlungsentscheidung der Alliierten getreten ist, und wie sich dieser Wandel auf das Erinnern an die Vertreibung auswirkte. 210 Theodor Schieder begrüßte Hitlers Reichstagsrede vom 6. Oktober 1939 u. a. mit den Worten, sie habe die deutschen Pläne für die »Umsiedlung der deutschen Volksgruppen im gesamten osteuropäischen Raum« 2 " zu einem zentralen Programmpunkt in der nationalsozialistischen Ostpolitik erhoben. »Bevölkerungsverschiebungen allergrössten Ausmasses« seien notwendig, und man müsse schon jetzt überlegen, ob nicht z. B. über die damals mit der UdSSR vereinbarten Umsiedlungen hinaus »auch Gruppen des eigentlichen Russlanddeutschtums für eine Rücksiedlung in Frage kommen«, und was mit der nicht-deutschen Bevölkerung geschehen solle. »Die Entjudung Restpolens und der Aufbau einer gesunden Volksordnung erfordern den Einsatz deutscher Mittel und Kräfte«, schrieb Schieder. Deshalb seien sorgfältige Planungen vonnöten: »Überläßt man diese Dinge sich selbst, so ist zu befürchten, dass die Zersetzung des polnischen Volkskörpers zum Herd neuer gefährlicher Unruhe werden kann.« 1 ' 2 Auch die »Ansetzung deutscher Menschen« solle unter keinen Umständen einer »ungeregelten Entwicklung« überlasssen werden. 2 ' 3 Im östlichen Europa wurde Hitlers Rede als Ankündigung eines Umsiedlungsplans für alle deutschen Minderheiten verstanden und unterschiedlich aufgenommen. Dem Schreiben des ungarischen Staatsoberhaupts Miklös Horthy vom 3. November 1939 an Hitler ist beispielsweise eine uneingeschränkte Zustimmung zu dessen Projekt zu entnehmen: Horthy »begrüßte und unterstützte die Möglichkeit der freiwilligen Umsiedlung der Deutschen aus Ungarn« 214 , es sei eine ausgezeichnete Idee, für Deutschland wäre es ein Gewinn, wenn es »unsere braven Schwaben« bekäme, die sehr tüchtige Landwirte seien.215 Unter den Betroffenen selbst weckten Hitlers Umsiedlungspläne dagegen eher Besorgnis, wie der Historiker Johann Wolfgang Brügel am Beispiel der Deutschen in der Slowakei gezeigt hat. 216 In der Slowakei erkannten viele Menschen umgehend, dass die Lage der deutschen Minderheit bedroht war. »Heute sagte mir Staatssekretär Karmasin, die

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Volksdeutschen in der Slowakei seien durch die in der Führerrede [...] gemachten Äußerungen über Aussiedlungen von Minderheiten äußerst beunruhigt«, berichtete der deutsche Botschafter in Bratislava nach Berlin über die ihm von dem »Volksgruppenführer« Franz Karmasin (1901-1970) übermittelten Informationen. Die Slowaken rechneten bereits damit, dass die Deutschen früher oder später die Slowakei verlassen mussten und »seien infolgedessen bereits im Geschäftsverkehr mit den Volksdeutschen äußerst zurückhaltend. So wollten sie ungern größere Verkäufe beschließen, da sie befürchten, dieselben später rückgängig machen zu müssen.« Zunächst schien sich die Stimmung zu beruhigen, nachdem man aus Berlin erfahren hatte, dass eine »Entscheidung des Führers über die Frage, ob in den Umsiedlungsplan auch die deutsche Volksgruppe im Slowakischen Staat einbezogen werden wird«, noch nicht vorliege und man deshalb »die Diskussion über das Problem möglichst klein halten« solle: »Erörterungen in der Presse sollten daher, soweit unser Einfluß reicht, möglichst unterbleiben«2'7, lauteten die Instruktionen aus Berlin.2'8 In Wirklichkeit wurde mit der Umsiedlungen der Slowakeideutschen gerechnet, wie u. a. aus dem Protokoll einer vertraulichen Besprechung vom 27. März 1942 hervorgeht, wo es hieß, dass auch »einmal die Zipserdeutschen aus der Slowakei ins Generalgouvernement herüber wechseln sollten«.2'9 Johann Wolfgang Brügel erinnert uns ebenso daran, dass das Thema Umsiedlungen nie ad acta gelegt wurde. Zum Beispiel wurden 1942 aus der Slowakei 700 Deutsche als »Asoziale« verschleppt, darunter ganze Familien mit einem so genannten asozialen Elternteil, so genannte schwererziehbare Jugendliche oder »arbeitsunfähige und kranke, alleinstehende Personen«.220 Diesmal bedankte sich der »Volksgruppenführer« Franz Karmasin. Am 28. Juli 1942 berichtete er Himmler über den Verlauf der »Aktion«, in der die »geistig Minderwertigen, die Säufer, die asozialen Elemente, zum geringen Teil auch unverschuldet in Not« geratene Menschen gewaltsam und mit Hilfe der Freiwilligen Schutzstaffel und der Gendarmerie verschleppt worden waren: »Abermals sehe ich mich veranlaßt, Ihnen, Reichsführer, für die neuerliche großzügige Hilfeleistung, die Sie uns durch die Ermöglichung der Aussiedlung asozialer Elemente gewährt haben, den herzlichen Dank auszusprechen.« In der »ganzen Volksgruppe« sei »diese Aktion als eine soziale Hilfeleistung begrüßt« worden.221 Später, als er Vertriebenenpolitiker geworden war, bedauerte der einstige »Volksgruppenführcr« Franz Karmasin den Heimatverlust dieser 700 Menschen mit keinem Wort, und es ist nicht bekannt, dass die sudetendeutsche Organisation Witikobund, deren Geschäftsführer er ab 1959 war, sich je um die Klärung des Schicksals dieser Vertriebenen bemüht hätte. Unter der Herrschaft der Nationalsozialisten gehörten Zwangsumsiedlungen zum Alltag, und das betraf auch die deutsche Bevölkerung. Daher ist es kaum überraschend, dass nach dem Slowakischen Aufstand vom Sommer 1944 die deutsche Gesandtschaft in Bratislava das Thema abermals ins Gespräch brachte. »Reibungsloses Zusammenleben zwischen Deutschen und Slowaken in diesen Siedlungsgebieten« sei bei den »erheblichen deutschen Blutopfern« während des Aufstandes künftig nicht mehr gewährleistet, hieß es diesmal. Die Gesandtschaft schlug »im Einvernehmen mit der Volksgruppenführung« vor, an die slowakische Regierung heranzutreten, um die Zustimmung zu »einer Umsiedlung sämtlicher

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Deutscher aus Unterzips, Oberzips und Kremnitz-Deutsch-Probauer-Sprachgebiet in die Schutzzone westlich der kleinen Karpathen und Aussiedlung der dort lebenden Slowaken in die Mittelslowakei« zu erwirken.222 In Berlin hielt man diese Pläne allerdings für ungeeignet: »Hier wird nicht angenommen, daß alle Zipser Deutschen einem Evakuierungsbefehl Folge leisten werden«, hieß es.223 Anscheinend wusste man, dass sich die Umsiedlungsprojekte in der Bevölkerung keineswegs allgemeiner Beliebtheit erfreuten. Dennoch wurden Deutsche im östlichen Europa während des gesamten Zweiten Weltkrieges aus allerlei Gründen umgesiedelt, wann und wo es die nationalsozialistischen Behörden für opportun hielten. In der Bundesrepublik galten später alle damals heimatlos gewordenen Deutschen als Vertriebene, ohne dass je die Frage erörtert worden wäre, von wem sie vertrieben worden seien.

Der so genannte Menscheneinsatz als verkannter Menschenmissbrauch »Die Herstellung eines geschlossenen deutschen Volksbodens in diesen Gebieten macht die Bevölkerungsverschiebungen allergrößten Ausmaße notwendig.«224

Das Umsiedlungsprojekt für deutsche Bevölkerung war ähnlich abstrus wie andere nationalsozialistische Ideen, und bei der Durchführung nahm man keine Rücksichten auf die humanitären Belange der betroffenen deutschen Bevölkerung, ganz zu schweigen die der Nichtdeutschen. Organisatorische Einzelheiten regelte das neu geschaffene Amt des Reichskommissars für die Festigung deutschen Volkstums (RKFDV), das von einem im Laufe der Zeit entstandenen komplizierten bürokratischen Umsiedlungsapparat unterstützt wurde. Das Reichssicherheitshauptamt, das Rasse- und Siedlungshauptamt sowie die Volksdeutsche Mittelstelle spielten darin die wichtigste Rolle.225 »Es ist traurige Ironie«, schrieb der Historiker Markus Leniger im Jahre 2006, »daß die Sonderbehörde, die zur Abwicklung der Umsiedlungsmaßnahmen kurzfristig ins Leben gerufen wurde, ausgerechnet unter der Überschrift »Festigung deutschen Volkstums« agierte. Denn ihre erfolgreichste Aktion war die Auflösung der seit Jahrhunderten bestehenden deutschen Minderheiten Ostmitteleuropas.«226 Faktisch standen die Umsiedlungen unter der Leitung von Heinrich Himmler, der sich selbst zum Reichskommissar für die Festigung deutschen Volkstums ernannt hatte.227 Damit war er für die Schicksale eines Teils der Vertriebenen auf ihrem mühsamen Weg ins heutige Deutschland verantwortlich. Himmlers Umsiedlungstätigkeit begann schon mit Plänen vom Frühjahr 1939, rund 200 000 Südtiroler umzusiedeln, sowie mit dem Auftrag Hitlers vom 28. September 1939, »die Umsiedlung der aus dem Ausland in das Reich zurückkehrenden Reichs- und Volksdeutschen (zunächst der Tiroler) sowie die Ansetzung von landwirtschaftlichen Siedlern in den bisher polnischen Gebieten durchzuführen«.228 Aber erst ab Okto-

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Teil 2: Verdrängte Erinnerungen ber 1939 wurden Umsiedlungen auch von Deutschen zu Himmlers Alltagsgeschäft. Die Aktivitäten von »Umsiedlungskommissar Himmler« 2 2 9 erweckten selbst unter seinen engsten Kollegen keineswegs nur Zufriedenheit. Das hatte allerdings nichts mit den humanitären Aspekten seiner Tätigkeit zu tun, wie aus mehreren Tagebuchnotizen von Joseph Goebbels hervorgeht. A m 20. Januar 1940 habe sich etwa der Reichsstatthalter und Gauleiter des so genannten Warthelands, Arthur Greiser (1897-1946), über Schwierigkeiten mit Himmler bei ihm beklagt, weil dieser »vor allem in der Evakuierungsfrage sehr selbstherrlich regiert« 230 ; zwei Tage später notierte Goebbels über eine Besprechung bei Hitler vom 2 3 . Januar 1940, die soeben umgesiedelten Wolhyniendeutschen seien »sehr brauchbar«, aber gleichzeitig sei beklagt worden, dass Himmler, der »augenblicklich die Völker« verschiebe, es nicht »immer mit Erfolg« tue. 23 ' Zwei jahre später jedoch, am 17. März 1943, war Goebbels voll des Lobes: »Der Reichskommissar für die Festigung des deutschen Volkstums hat einen Bericht über die bisherigen Umsiedlungsaktionen eingereicht. Danach handelt es sich dabei um die größte Völkerwanderung, die die Geschichte je gesehen hat. Bei allen Unzuträglichkeiten, die sich dabei ergeben haben, kann man hier doch von einer großartigen Leistung sprechen. Jedenfalls kann Himmler auf das, was er getan hat, sehr stolz sein.«232 Die vorgesehene Gestaltung neuer deutscher Siedlungsgebiete war ein inhumanes und zugleich verwaltungstechnisch hochkompliziertes Unternehmen, wie sich bald herausstellen sollte. Man brauchte für die »heimgekehrten« Deutschen »Raum«, der durch die Verschleppung der bisherigen Bewohner in den besetzten Gebieten geschaffen werden sollte, aber gleichzeitig brauchte man auch neue Siedler zur »Seßhaftmachung«, damit die »geräumten« Gebiete nicht verwahrlosten. Der Überfall auf die Sowjetunion erweiterte diese »Aufgabe« ins schier Unermessliche. Kurz davor, am 11. Juni 1941, wurde im Rahmen des schon existierenden Umsiedlungsapparats das Stabshauptamt des RKFDV errichtet, dem Himmler am 28. November 1941 die »gesamte Siedlungs- und Aufbauplanung und deren Verwirklichung im Bereich und in den unter der Oberhoheit des Reiches stehenden Gebieten« übertrug. 233 Jedoch - für die NS-Bürokraten erwies es sich als einfacher, »Raum« durch die Deportation einheimischer Bevölkerung zu schaffen und Menschen zu ermorden, als den »Osten« neu zu besiedeln. Das am Beginn des Krieges propagandistisch als »Heimkehr« besungene Umsiedlungsprojekt verwandelte sich allmählich in die mühevolle »Beschaffung« von Neusiedlern. Deshalb gehörte zu den Aufgaben der Mitarbeiter im Stabshauptamt u. a. die »Durchkämmung« 254 des Ostens auf der Suche nach geeigneten Arbeitskräften für den »Aufbau der neuen Ostgebiete«.

Organisatorisch waren die Umsiedlungen der Deutschen nicht zu bewältigen. Die Schwierigkeiten begannen schon mit der Frage, wer ein Deutscher sei und wer nicht. Nach einem »Merkblatt über die Auswahl der Umsiedler« sollten etwa in Bessarabien und der N o r d b u k o w i n a Menschen ausgesucht werden, deren Vorfah-

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ren allenfalls »zur Hälfte einer anderen, aber arischen Volksgruppe angehören (nicht Armenier, Zigeuner, Gagausen)«, aber die Umsiedlungs willigen sollten auch »in das Erscheinungsbild der deutschen Volksgruppe einzufügen sein«. Ergab die Prüfung bei einem Deutschen »mehr als ein Viertel nichtarischer Abstammung«, durfte dieser nicht zur Umsiedlung aufgenommen werden. Wollten die Nachbarn einen »Unpassenden« mitnehmen, wurde es ihnen verwehrt, wie aus der folgenden N o t i z eines so genannten Gebietsbevollmächtigten hervorgeht: »Eine Siedlung Volksdeutscher hat scheinbar geschlossen den Antrag eines Juden unterschrieben. — Auch ein solcher Antrag kann mich nicht bewegen, die einmal gegebenen Richtlinien zu verlassen.« 235 In der Öffentlichkeit sprach man von »Heimkehr« und tat so, als handele es sich um eine freiwillige Heimkehr von Deutschen aus dem Ausland in ihr Vaterland. F ü r den offiziellen Sprachgebrauch führte Himmler 1940 die Bezeichnung »Umsiedler« ein.236 In dem 1940 erschienenen Buch Der Menscheneinsatz finden sich »Grundsätze, Anordnungen und Richtlinien«, nach denen die potentiellen U m siedler in einem komplizierten Verfahren »begutachtet« und »kategorisiert« wurden. Dabei waren nicht das nationale Bekenntnis oder die ethnische Zugehörigkeit, sondern die Ergebnisse so genannter Rassenuntersuchungen ausschlaggebend für die Zukunft der betroffenen Menschen. Die Historikerin Isabel Heinemann beschreibt detailliert die Absurdität jener pseudobürokratischen Versuche, Menschen nach vermeintlichen Rassenkriterien zu klassifizieren. 237 Sie stellt fest, dass beispielsweise nur 60 bis 70 % der Umsiedler aus Estland und Lettland als »geeignet« für eine »Ansiedlung im Osten« und nur ein Fünftel aller Männer zwischen 15 und 60 Jahren als SS-tauglich galten, wogegen 14,4 % der Estlanddeutschen und 12,5 % der Lettlanddeutschen als »fremdvölkisch« bzw. »gemischtvölkisch« bezeichnet worden sind. 238 Die Umsiedler aus der Nordbukowina sollen nicht einmal zur Hälfte für eine »Ansiedlung im Osten« geeignet gewesen sein 239 ; für »den Osten völkisch unbrauchbare Elemente« sollten mitunter nach Rumänien zurückgeschickt werden, wo sie inzwischen ihr gesamtes Vermögen und die Staatsbürgerschaft verloren hatten. 240 Nicht wenige Umsiedler wurden nach ihrer Ankunft in den »aufzubauenden« neuen deutschen Siedlungsgebieten im besetzten Polen ermordet: Zwischen dem Herbst 1939 und Frühjahr 1940 sollen beispielsweise mindestens 10 000 Deutsche aus Pommern, Deutsche und Polen aus Westpreußen sowie Polen, Juden und Deutsche aus dem Warthegau in den Gaswagen umgebracht worden sein: »In der ersten Phase der Umsiedlung der ethnischen Deutschen kam es zum ersten systematischen Massenmord.« 241 Als das wichtigste »Ansiedlungsgebiet« für die »heim ins Reich« umgesiedelten Deutschen war nicht Deutschland vorgesehen, sondern ein im besetzten Polen neu geschaffener »Reichsgau Wartheland«. Das war eine Art Sperrgebiet, das zwar formal zum Großdeutschen Reich gehörte, faktisch aber durch eine Polizei grenze vom freien Verkehr mit dem so genannten Altreich abgetrennt war. Von den insgesamt 4,2 Millionen Einwohnern dieses »Gaues« waren 85 % Polen, 8 % Juden und 7 % Deutsche. 242 Er bestand zum großen Teil aus Gebieten, die weder deutschsprachig noch je in irgendeiner Hinsicht Teil der deutschen Geschichte gewesen waren: »Um 150-200 km war hier die Reichsgrenze von 1914 nach Osten vorverlegt worden.« 243 Koloniales »Neuland« wurde auch anderswo gewonnen, besonders »ge-

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Teil 2: Verdrängte Erinnerungen waltsam und weder ethnisch noch historisch oder wirtschaftlich motivierbar war die Vergrößerung Ostpreußens«. 2 4 4 Wichtigstes »Ansiedlungsgebiet« aber war der Warthegau; hier wurden die zentralen Verwaltungsbüros für die so genannte Entpolonisierung und Eindeutschung des Warthelandes errichtet, und hierher wurden bis 1944 die meisten der rund eine Million deutschen Umsiedler »angesetzt« oder jahrelang in »Durchgangslagern« festgehalten. Das abstruse Umsiedlungsprojekt, das die Lebenswelten der deutschen Minderheiten und die der polnischen Landeseinwohner zerstörte, führte aus Sicht seiner Organisatoren bestenfalls zur Entstehung neuer deutscher Minderheiten in polnischer Umgebung. 2 4 5 Im Rahmen des »Menscheneinsatzes« wurden die Umsiedler gelegentlich auch für »räumliche Reparaturen« im so genannten Altreich missbraucht, zu dem auch das besetzte heutige Tschechien gehörte. Die Germanisierung des Protektorats Böhmen und Mähren, in dem im März 1940 rund 7,25 Millionen Tschechen und 189 000 Deutsche lebten, war den Planungen entsprechend ein langfristiges Ziel, sollte jedoch durch »Sofortmaßnahmen« vorbereitet werden, wie Isabel Heinemann ausführlich zeigt. 246 Dazu gehörten auch die im Tätigkeitsbericht des Slabshauptamtes des Reichskommissars für die Festigung deutschen Volkstums für das Jahr 1942 erwähnten Ansiedlungen deutscher Umsiedler: »Im Protektorat werden zurzeit 6 000 Umsiedler aus dem Südosten und 600 Luserner und Fersentaler angesiedelt. Durch diese und weitere Ansiedlungen wird eine Deutschtumsbrücke von Norden nach Süden über Prag und eine weitere von Nordosten nach Südwesten durch Mähren gelegt. Das Siedlungsland wird durch Ankauf oder durch Enteignung gegen billige Entschädigung beschafft.«247 Sudetendeutsche Politiker beteiligten sich eifrig an solchen Projekten zur »Neuordnung« der Lebensverhältnisse in ihrer Heimat, bevor sie selbst die Heimat verloren und als Vertriebenenpolitiker gegen Umsiedlungen zu protestieren begannen. So zerbrach sich etwa der künftige erste Sprecher der Sudetendeutschen Landsmannschaft, Rudolf Lodgman von Auen, schon 1938 seinen Kopf über die »Judenfrage« und schlug vor, »daß eine Umsiedlung dieses zur Unruhe gewordenen Elements unter Mitwirkung ganz Europas, besonders aber der vier Großstaaten, in die Wege geleitet« werden solle. 248 Auch der Sozialdemokrat Wenzel Jaksch befürwortete Umsiedlungen, als er 1939 im Londoner Exil einen Entwurf für die Nachkriegszeit vorlegte. Darin sollte die »definitive Bereinigung der offenen Grenzfragen« mit Hilfe von Umsiedlungen geklärt werden. Jakschs damaliger Vorschlag lautete: »ein organisierter Bevölkerungsaustausch«. 249 Aber nicht nur sudetendeutsche Spitzenpolitiker sprachen sich bedenkenlos für Umsiedlungen aus. Der damalige Vizepräsident der Landesbehörde Böhmen in Prag, Horst Naude (1895-1983), berichtet in seinen Memoiren über derartige Projekte vieler sudetendeutscher Parteifunktionäre. Die Idee von durch Ansiedlung deutscher Bevölkerung zu schaffenden so genannten völkischen Brücken in Böhmen und Mähren soll sich besonderer Beliebtheit erfreut haben: »Deutsche »Brücken« sollten von Norden nach Prag geschlagen werden, von Wien längs der geplanten Autobahn WienBreslau unter Einbeziehung der deutschen Sprachinseln Brunn, Wischau, Olmütz. Auch die Deutschen in Iglau wollten eine Brücke nach Brunn.« 250 Praktische Erfahrungen mit Umsiedlungen machten viele Sudetendeutsche, bevor sie selbst umgesiedelt wurden, und sie scheinen diese zunächst positiv aufge-

Sie »verloren die Heimat, um das Vaterland zu gewinnen« nommen zu haben. Am 30. Juli 1941 meldete die Gauleitung der N S D A P an den Oberlandrat im südböhmischen Städtchen Klatovy/Klattau, dass die »Ansiedlung deutscher Volksgenossen im Protektorat [ ...] in weiten Kreisen des deutschen Wirtschaftslebens im Sudetengau und im Protektorat größtes Interesse« gefunden habe: »Im steigenden Maße werden sowohl Ansiedlungsmöglichkeiten als auch ansiedlungswillige Volksgenossen zur Aufnahme in den Ansiedlungsdienst gemeldet.« 25 ' Man siedelte »in den Gebieten besonders des Ostsudetenlandes, die ausgesprochen fremdvölkischen Charakter haben«, Sudetendeutsche, Altreichsdeutsche und Südtiroler an 252 , organisierte eine »Ansiedlung von ungefähr 150 Herdstellen Brandenburger Bauern im Sudetengau, die durch die Anlegung des Truppenübungsplatzes Kurmark ihre Heimat verlieren« 253 , oder half, wo N o t ausbrach: Am 10. Januar 1944 rief der Standartenführer Franz Müller aus Fulnek bei Henleins Gauleitung an und kündigte »die Ankunft von 10 000 Rußlanddeutschen im Sudetengau« an: »Es sei erstklassiges Menschenmaterial, das zwei Jahre lang mit den deutschen Truppen zusammengearbeitet hat und wegen Rückverlegung der Front mit den Familien evakuiert werden mußte.« 254

Die zur »Ansiedlung« vorgesehenen Umsiedler wurden absurden bürokratischen Verwaltungsmaßnahmen unterzogen und mussten sich manchmal nach einiger Zeit sogar wieder auf den Rückweg machen: »Nach Litauen wird die Mehrzahl der einwandfreien Litauendeutschen (28 000) wieder zurückgeführt«, hieß es etwa 1942. 255 Manche »Heimkehrer« waren für »Aufbauarbeiten« in Gebieten vorgesehen, die weiter von Deutschland entfernt waren als ihre Herkunftsgebiete: »Die Umsiedlung der Transnistriendeutschen nach der Krim ist in Vorbereitung«, wurde etwa im Jahresbericht der Umsiedlungsbehörde von 1942 gemeldet. 256 Wer den Anforderungen für den »Osteinsatz« nicht genügte, wurde manchmal nach Deutschland zur Besserung verschickt: »Im Altreich und in den Alpen- und Donaugauen wurden - außer Südtirolern - auch 70 000 Umsiedler eingesetzt, die aus volkspolitischen oder gesundheitlichen Gründen zum Ansatz im Osten nicht geeignet sind.« 257 Sie sollten sich »in den völkisch gesicherten Gebieten des Altreiches zunächst bewähren«; bis heute ist nicht bekannt, wie viele von ihnen diese »Bewährungsproben« überlebten. Die SS war auf ihren Einsatz bei der »Aussiedlung der Volksdeutschen aus den baltischen Ländern und aus den ehemals polnischen Gebieten der Westukraine und Weißrußlands« besonders stolz, wie im Nationalsozialistischen Jahrbuch 1941 nachzulesen ist. »Die Siedlung, Ansetzung und Betreuung des neu gewonnenen Bauerntums im befreiten Osten« sei »eines der vornehmsten Aufgabengebiete der Schutzstaffel«, hieß es, und dabei durchaus keine einfache Aufgabe: »Der im Normalfall 3 bis 4 Stunden währende Arbeitsgang, der »Durchschleusung« genannt wird, führte die Umsiedler durch 8-9 Dienststellen, die sich organisch aneinanderreihten: die Meldestelle, die Karteistelle, die Ausweis- und Lichtbildstelle, die Vermögensstelle, die erbbiologische und gesundheitliche Begutachtung, die in Händen vo[n] Ärzten und Sanitätsdienstgraden der SS und auch der Wehrmacht lag.«258

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All dies sei harte Arbeit, aber man habe die Aufgabe ganz im Sinne von Hitlers Vision aus Mein Kampf begriffen: »Zahlreiche SS-Führer und SS-Männer wirkten in unermüdlicher Arbeit mit an der planvollen Völkerwanderung, die in der Geschichte kein Vorbild kennt.« 259 Am Ende des Jahres 1942 zog das Stabshauptamt des Reichskommissars für die Festigung deutschen Volkstums eine »stolze« Bilanz: In Ausführung des Führererlasses vom 7. Oktober 1939 seien 629 000 Menschen umgesiedelt worden, von denen die weitaus meisten »aus den von den Bolschewisten okkupierten Gebieten« stammten (429 000), andere aus dem heutigen Rumänien, Jugoslawien und Italien.260 Schon »eingeleitet« worden sei die Umsiedlung von weiteren ca. 400 000 Menschen. Abschließend wurde auf die noch bevorstehenden Aufgaben hingewiesen, da »außerhalb des deutschen Hoheitsbereichs in Europa« noch folgende zwei Gruppen »verbleiben«: rund 2 400 000 Volksdeutsche vor allem in Südosteuropa (Siebenbürgen, Banat) und 3 000 000 so genannte im Fremdvolk aufgegangene Menschen deutscher Abstammung (Frankreich, Ungarn, Rumänien u. a.).261 Nach einer Aufstellung der »Durchschleusungsergebnisse der Einwandererzentralstelle« in der besetzten polnischen Stadt Lodz (damals in Litzmannstadt umbenannt) vom 30. November 1944 sollen sich dort 1,03 Millionen Menschen »einer Registrierung und rassischer Überprüfung unterzogen« haben. 262 All diese Menschen gewannen allerdings selbst nach einer erfolgreichen »Durchschleusung« keineswegs auch nur die im NS-Staat üblichen Freiheiten. Schon an der Wiege der individuellen Umsiedlungsentscheidungen waren die »Heimkehrer« starker Propaganda und Einschüchterung ausgesetzt: »Wer heute nicht gehorchen lernt und gegen die Disziplin verstößt, stört das Umsiedlungswerk und muß mit hartem Durchgreifen rechnen«, war etwa am 8. November I 9 3 9 in der Rigaschen Rundschau zu lesen 263 ; auch in Rumänien soll der »Einfluß Berlins auf die gesamte deutsche Volksgruppe« rapide angewachsen sein, »so daß diese zur Zeit der Umsiedlung praktisch gleichgeschaltet war«. 264 Widerstände habe es nur vereinzelt gegeben, und kaum einer konnte sich eine Vorstellung davon machen, was ihn am Ende seines Umsiedlungsweges erwartete. Im Endeffekt haben sich damals viele Deutsche freiwillig in eine Art von Gefangenschaft in diversen Arten von Lagern eines extra zu diesem Zweck errichteten Lagersystems begeben. 265 Manchen Schätzungen zufolge konnte bis an die Hälfte 266 der Umsiedler die so genannten Übergangslager bis Kriegsende nicht verlassen: »Forderungen seitens der Umsiedler nach Einlösung von Versprechungen einer baldigen Ansiedlung und die Verweigerung der Arbeitsaufnahme wurden mit Repressionen bis hin zur Einweisung in ein AEL [Arbeitserziehungslager] oder ein Konzentrationslager beantwortet.« 267 Über das Schicksal dieser Gefangenen ist im deutschen Erinnern bis heute wenig bekannt, und es mangelt sogar an Augenzeugenberichten. Gut ging es ihnen wohl nicht. Selbst Himmler beanstandete die Lebensbedingungen dieser bis heute vergessenen Gruppe von NS-Gefangenen, wie aus seinem Brief an den SSObergruppenführer Werner Lorenz vom 4. Dezember 1942 hervorgeht: »Ich habe den Eindruck, daß in den Lagern wieder die größte Unordnung herrscht.« Nicht einmal Himmler wusste damals, wieviele Umsiedler von dieser Art Lagerhaft betroffen waren:

Sie »verloren die Heimat, um das Vaterland zu gewinnen« »Ich darf die Erwartung aussprechen, daß Sie sich sofort mit SS-Gruppenführer Greifelt in Verbindung setzen, sodaß ich noch in diesem Jahr keine Weihnachtsmärchenzahlen, sondern tatsächlich genaue Unterlagen bekomme, wer noch in den Lagern ist, wieviele endgültig in das Altreich vermittelt wurden, wobei es für mich sehr interessant ist zu erfahren, wieviele Bauernfamilien durch die Pflichtvergessenheit mancher Dienststellen der SS für die Ansiedlung verloren gegangen und verstädtert sind, und außerdem noch die Feststellung, wieviele tatsächlich jetzt in den Lagern für die Ansiedlung im Osten noch zur Verfügung stehen.«268 Obwohl Umsiedler in Lagern zu verharren gezwungen waren, herrschte zugleich Mangel an geeigneten Arbeitskräften für den »Aufbau der neuen Ostgebiete«. Die Deutsche Allgemeine Zeitung stellte im Sommer 1942 fest, das von den Nationalsozialisten beklagte Problem, zu viele Menschen auf einem vermeintlich zu kleinen »Lebensraum« ernähren zu müssen, habe sich in die Frage verwandelt, wie der eroberte riesengroße Raum mit einer begrenzten Zahl von Menschen zu nutzen sei.269 Das Schlagwort »Osteinsatz und Landdienst« wurde zur »»Jahresparole 1942 der deutschen Jugend« erklärt, und Heinrich Himmler versuchte, neue Siedler zu locken: »Die weiten Äcker des Ostens, die der deutsche Soldat mit seinem Blut erkämpft, m u ß die deutsche Jugend bis in die fernste Zukunft als Wehrbauer in ihren Besitz nehmen und bebauen.« 270 Die Ansiedlung der »Heimgekehrten« im Osten sei »der Beginn eines gewaltigen Siedlungswerkes, das sich nach dem Kriege planvoll ausweiten wird. Die dann folgende Besiedlung mit Reichsdeutschen wird mit einer grundlegenden Neugestaltung der Siedlungsräume verbunden sein«. 271 Der Osten sei das »Land der Zukunft«, agitierten die Umsiedlungsfanatiker, während sie rücksichtslos Menschen ermordeten. Nach den »Heimholungen« wurde nun auch der Missbrauch der reichsdeutschen Jugend ins Visier genommen: »Jeder junge deutsche Mann wird es für seine Ehre halten müssen, wenigstens ein paar Jahre seines Lebens dem Osten zu weihen.« 272 Der Sieg der Alliierten von 1945 hat offensichtlich auch junge reichsdeutsche Männer davon bewahrt, den »Osteinsatz« für ihre Ehre halten zu müssen.

In den im Exil gesammelten sozialdemokratischen Berichten aus Deutschland wurde schon im Januar 1940 das Versagen der Nazis bei den ersten »Evakuierungen« deutscher Bevölkerung in den westlichen Grenzgebieten angeprangert. 273 Das »entsetzlichste Problem, das es heute in Polen gibt, die Umsiedlung«, wurde ausführlich behandelt: »Tatsächlich sind Pommerellen und Posen heute zum großen Teil schon von der polnischen Bevölkerung geräumt.« Hier wurde die Brutalität der Vertreibungen einschließlich der Massenhinrichtungen geschildert und schon damals auf regionale Unterschiede hingewiesen: »Am schlimmsten geht es also Polen sowohl als auch Juden in den Gebieten, die offiziell zum Reich geschlagen werden, das ist ganz Posen, Pommerellen, Oberschlesien und bald auch das gesamte Bezirk von Lodz.« 274 Nach den Angaben dieser Berichte reagierte die deutsche Bevölkerung unterschiedlich; in den Städten gebe es mehr verblendete Menschen als auf dem Lande. Auch

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Teil 2: Verdrängte Erinnerungen viele der Umsiedler selbst seien sich der prekären Lage bewußt, in die sie geraten seien, wie aus einem Bericht vom Februar 1940 hervorgeht: »Die Baltendeutschen, die zum Teil noch in oder in der Nähe von Königsberg einquartiert sind, sind sehr geteilter Meinung über ihre Ansiedlung im ehemals polnischen Gebiet. Viele von ihnen möchten lieber als Tagelöhner in Ostpreußen bleiben, als sich als Pächter in den neueroberten Gebieten ansiedeln zu lassen. Die deutsche Presse bringt jeden Tag Greuelbilder in dem ehemaligen Polen und teilt mit, daß die Polen dafür exemplarisch bestraft, d. h. erschossen werden. Diese deutsche Pressekampagne wirkt sich aber auf die Baltendeutschen anders aus, als die deutsche Propaganda erwartet hatte. Je mehr Meldungen über Hinrichtungen von Polen erfolgen, umso größer wird die Angst der Baltendeutschen, daß sie dafür einmal büßen müssen, wenn sie sich jetzt im ehemals polnischen Gebiet ansiedeln lassen, und zum Schluß, wenn Deutschland den Krieg verliert, den Polen ausgeliefert sein werden. Die Stimmung unter den Rückwanderern aus den baltischen Staaten ist so schlecht, daß die Nazis mit Drohungen dagegen arbeiten müssen. Sie geben bekannt, daß jeder, der den ihm jetzt zugewiesenen Platz nicht übernimmt, das Recht verliert, seinem bisherigen ausländischen Besitz entsprechend neu angesiedelt zu werden.«275 Im Erinnern an die Vertreibung haben die Schicksale jener Deutschen, die damals in die Mühlen der nationalsozialistischen Umsiedlungsmaschinerie geraten waren, bisher nicht den gebührenden Platz gefunden. Es ist nicht einmal bekannt, wie viele derer, die für diese Form des inhumanen Umgangs mit den Angehörigen deutscher Minderheiten im östlichen Europa verantwortlich waren, je zur Rechenschaft gezogen wurden. Einer der maßgeblichen Organisatoren, Werner Lorenz (1891-1974), wurde in einem Nürnberger Nachfolgeprozeß von 1947/48, dem so genannten Rasse- und Siedlungshauptamt-Prozeß, angeklagt. Während Heinrich Himmler an der Spitze des Umsiedlungsunternehmens agierte, erscheint in allen Dokumenten und Erinnerungen der SS-Obergruppenführer Werner Lorenz als der eigentliche Drahtzieher des Geschehens. Der 1891 geborene Sohn eines Gutsbesitzers in Pommern ließ sich nach dem Ersten Weltkrieg auf Gut Mariensee im Gebiet der Freien Stadt Danzig nieder, trat 1929 der N S D A P und kurz danach der SS bei. Von 1937 bis 1945 leitete er als SS-Obergruppenführer die im Erinnern an die Vertreibung vernachlässigte Volksdeutsche Mittelstelle. 276 Diese Institution koordinierte die Beziehungen zwischen der NS-Führung und den deutschen Minderheiten außerhalb des Reiches, gestaltete mit Hilfe des oben erwähnten »braunen Netzes« ihr kulturelles und politisches Leben mit und setzte sie je nach Bedarf zur Destabilisierung anderer Staaten ein. Als enger Vertrauter Himmlers war Werner Lorenz der wichtigste Verbindungsmann zwischen der SS, den diplomatischen Vertretungen des Deutschen Reiches und den Volksgruppen im Ausland, wie die Nazis die deutschen Minderheiten nannten. Da die Volksdeutsche Mittelstelle und damit Werner Lorenz zwischen 1939 und 1945 für die Organisation der Massenumsiedlungen der deutschsprachigen Bevölkerung im östlichen Europa maßgeblich mitverantwortlich war, wurde er am 10. März 1948 in Nürnberg zu 20 Jahren Haft verurteilt. Die Strafe wurde 1951 auf 15 Jahre reduziert; 1955 wurde Lorenz vorzeitig entlassen. 1974 starb er in Hamburg; möglicherweise hat er sich in Erinnerung an sein verlorenes Gut bei Danzig als ein aus Polen Vertriebener betrachtet.

Sie »verloren die Heimat, um das Vaterland zu gewinnen«

Abb. 9 Umsiedlungen deutscher Bevölkerung galten unter der nationalsozialistischen Herrschaft als eine positive Errungenschaft und wurden nicht selten sogar von späteren Vertriebenenpolitikern bejubelt.

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Teil 2: Verdrängte Erinnerungen Seine frühe Entlassung soll Lorenz Gerüchten zufolge u. a. seinem damaligen Schwiegersohn, dem späteren Medienmogul Axel Springer (1912-1985), zu verdanken gehabt haben; beide hatten ihre berufliche Karriere 1934 in Altona begonnen, wo Lorenz 1934-1937 den SS-Obcrabschnitt Nord geleitet und Axel Springer 1934-1941 als stellvertretender Chefredakteur der Zeitung Altonauer Nachrichten seine ersten beruflichen Erfahrungen gesammelt hatte. Mit Sicherheit läßt sich nur feststellen, dass sich die Springer-Presse für das Erinnern an die Schicksale jener ersten heimatlos gewordenen Deutschen, die zunächst in der deutschen Presse als Umsiedler bejubelt und später als Vertriebene präsentiert worden sind, nicht verdient gemacht hat. Aber es war nicht nur Werner Lorenz, der frühzeitig entlassen worden ist. Isabel Heinemann stellt fest, dass die Urteile im gesamten Rasse- und Siedlungshauptamt-Prozeß erstaunlich milde gewesen seien. Das erklärt sie als Folge von Fehlurteilen (die Rolle der Angeklagten sei komplett verkannt worden) und als »das Ergebnis einer offensiven und sehr geschickten Verteidigungsstrategie der Angeklagten und ihrer Rechtsbeistände«. 277 Der infolge des Kalten Krieges sich anbahnende Wandel des amerikanischen und britischen Erinnerns an den Zweiten Weltkrieg im östlichen Europa spielte allerdings sicherlich ebenfalls eine wichtige Rolle, da die Erfahrungen der ersten deutschen Umsiedler insgesamt von den schon 1947 ansetzenden Entwicklungen im Erinnern an die Vertreibung überdeckt wurden, wie wir sehen werden.

Wie der Zeitzeuge Alfred Rosenberg über >Heimkehrdie fünfjährige Aufbauleistung< Manchen politische Verantwortung tragenden Personen in Großbritannien waren die deutschen Kolonialpläne im östlichen Europa schon vor dem Beginn des Krieges bekannt, wie aus einem Bericht Winston Churchills über seine Unterredung im Jahr 1937 mit Joachim von Ribbentrop hervorgeht, in der der damalige deutsche Botschafter und spätere (1938-1945) Außenminister, ausgeführt hatte:

Sie »verloren die Heimat, um das Vaterland zu gewinnen« »Es sei aber unerläßlich, daß England Deutschland in Osteuropa freie Hand einräume. Deutschland müsse für seine wachsende Bevölkerung Lebensraum haben. Deshalb müsse Danzig und Polen Deutschland einverleibt werden. Weißrußland und die Ukraine seien für die künftige Existenz Großdeutschlands mit seinen siebzig Millionen Einwohnern unentbehrlich. Mit weniger könne man sich nicht abfinden. Von der britischen Völkergemeinschaft und dem Empire verlange man nur, daß sie sich nicht einmischten. An einer Wand hing eine große Landkarte, und der Botschafter führte mich mehrere Male davor, um mir seine Pläne zu erläutern. Ich erklärte sofort, daß nach meiner Überzeugung die britische Regierung nicht einwilligen werde, Deutschland im Osten Europas freie Hand einzuräumen. Allerdings stünden wir auf gespannten Fuß mit Rußland, und gegen den Kommunismus seien wir ebenso eingenommen wie Hitler, aber dessen könne er versichert sein, daß selbst wenn Frankreichs Sicherheit gewährleistet würde, Großbritannien sich niemals am Schicksal des Kontinents so weit desinteressieren würde, daß Deutschland die Herrschaft in Mittel- und Osteuropa an sich reißen könnte. Wir standen gerade vor der Landkarte, als ich dies sagte. Ribbentropp wandte sich schroff von mir ab. Dann sagte er: »In diesem Fall ist der Krieg unvermeidlich. Es gibt keinen Ausweg. Der Führer ist entschlossen. Nichts wird ihn aufhalten und nichts wird uns aufhalten.««377 Winston Churchill verstand diesen Kernpunkt der nationalsozialistischen O s t p o litik besser als viele andere Beobachter, und seine Haltung gegenüber der deutschen Ostpolitik war deshalb schon vor Kriegsausbruch klarer als die vieler anderer britischer Politiker. Bald nach Kriegsbeginn, als im östlichen Europa die ersten Deutschen umgesiedelt und die ersten Juden, Polen und Andere von Deutschen aus ihrer Heimat vertrieben und ermordet wurden, begriffen allerdings alle Europäer, dass nach diesem Krieg eine Rückkehr zum Status quo ante kaum denkbar war. Schon in den ersten Monaten zeichnete sich klar ab, dass dieser Krieg anders als alle bisher bekannten Kriege war, den mörderischen Ersten Weltkrieg mit eingeschlossen. Die rasch einsetzenden britischen Debatten über die Aussiedlung der deutschen Bevölkerung aus den östlichen Teilen des Großdeutschen Reiches - die wir weiter unten kennenlernen werden - sind dementsprechend auch als ein Versuch zu verstehen, einen künftigen Ausweg aus der durch das NS-Regime herbeigeführten Situation zu finden. Die als »Heimkehr« bekannten Umsiedlungen standen daher in zweifacher Hinsicht am Anfang der im deutschen Erinnern zusammenfassend als »Vertreibung« bezeichneten Ereignisse: Einerseits waren sie ein Bestandteil des expansionistischen Kolonialkriegs im östlichen Europa, andererseits schufen sie Tatsachen, die - etwa in der Form einer Rückkehr der umgesiedelten deutschen Bevölkerung - nicht mehr rückgängig zu machen waren. Im Großdeutschen Reich verlor währenddessen der »Aufbau der neuen Ostgebiete« bis zum Kriegsende nichts an seiner Popularität. »Mit den Schwarzmeerdeutschen ist nun der millionste Deutsche ins Wartheland eingezogen«, meldete am 16. März 1944 der Völkische Beobachter: »Von überall her strömte deutsches Blut in den jungen Reichsgau, das seit Jahrzehnten, vielfach seit Jahrhunderten in der Fremde gelebt und seinem Deutschtum treu geblieben war.

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Teil 2: Verdrängte Erinnerungen Im Zuge der Zurückverlegung der deutschen Fronten im Osten hat nun die Umsiedlung deutscher Menschen nochmals einen Höhepunkt erreicht mit der Heimführung von rund 160 ooo Deutschen aus dem Schwarzmeergebiet, von denen bis zur Stunde rund 80 OOO im Gau eingetroffen sind, während der Rest sich noch auf dem Marsche befindet. Gerade mit diesen Schwarzmeerdeutschen kommt noch einmal gute deutsche Substanz in unseren östlichen Gau.« 378 Kurz vor dem Kriegsende, am 7. November 1944, berichtete der Völkische Beobachter über Feierlichkeiten in der stets mehrheitlich von Polen bewohnten und mit Ausnahme der Jahre 1793-1918 zu Polen gehörenden Stadt Poznan/Posen. Mit dem »Tag der Freiheit« gedenke »das Wartheland alljährlich seiner Wiedereingliederung ins Reich«. Diesmal seien selbst der Reichsführer SS Heinrich Himmler ebenso wie der Chef des Generalstabes des Heeres, Generaloberst Heinz Wilhelm Guderian, anwesend gewesen. Der Gauleiter und Reichsstatthalter Arthur Greiser habe »einen kurzen Rechenschaftsbericht über die fünfjährige Aufbauleistung seines Gaues« vorgetragen, und daraufhin habe dann der Reichsführer die Grundlinien deutscher Ostpolitik entwickelt. Diese hätten auch unter den damals »kriegsbedingten Umständen« keine Änderung erfahren: »In derselben Zeit«, habe Himmler erläutert, »in der an den Fronten tiefgreifende Entscheidungen fielen, wanderten, nachdem uns die Rückführung der Rußland- und Schwarzmeerdeutschen geglückt war, in den Reichsgau Wartheland weitere 286 000 deutsche Menschen ein«. Das sei ein wichtiger Beitrag zu der Aufbauarbeit: »Jahrhunderte hindurch hat sich wertvollstes deutsches Blut sinnlos und oft zum Schaden Deutschlands in der Welt verströmt.« Damit solle jetzt Schluss sein. Das deutsche Blut sei zum Aufbau einzusetzen: »Dadurch, daß wir die Bedingungen zur Siedlung im östlichen Grenzraum großzügig gestalten, werden wir erreichen, daß wirklich die wagemutigsten und tüchtigsten Bauernsöhne und landwillige Deutsche in die Grenzmark kommen. Das Wartheland hat eine solche Probe schon bestanden. In ihm wächst aus dem alteingesessenen Deutschtum und den Angehörigen der auf seinem Land seßhaft werdenden Volksgruppen aus allen Siedlungsgruppen ein neuer Stamm. Die Sippen haben erste Wurzeln geschlagen. Liebe Tote wurden hier in den Boden gesenkt und neues Leben geboren. Eine solche Grenzmark wird die Kraft haben, in Zeiten der Not auch schon vor ihren Grenzen zu kämpfen und den Feind bereits im Vorfeld des Reiches abzuwehren.« 379 Als Gebot der Stunde komme es nur noch darauf an, den Feind im Osten und im Westen zu schlagen, soll Himmler abschließend, wohlgemerkt Anfang November 1944, erklärt haben. Da dies nicht gelang, mußte die 1939 begonnene »fünfjährige Aufbauleistung« am ersehnten neuen Kolonialreich im Osten unverrichteter Dinge eingestellt werden. Wie besessen die NS-Führer von ihrem Projekt »Aufbau der neuen Ostgebiete« waren, zeigt selbst noch Hitlers politisches Testament. Darin rekapitulierte er am 4. Februar 1945 seine eigenen Kriegspläne: O h n e den »Zweifrontenkrieg« hätte sich das Reich »in seine eigentliche Lebensaufgabe stürzen und die Sendung des Nationalsozialismus und meines Lebens erfüllen« können: »die Vernichtung des Bolschewismus und damit gleichzeitig die Sicherung des für die Zukunft unseres

Sie »verloren die Heimat, um das Vaterland zu gewinnen« Volkes unentbehrlichen Lebensraumes im Osten«. 3 8 0 Auch drei Tage später, am 7. Februar 1945, stellte Hitler in seinem letzten Zukunftsprojekt für die deutsche Nation den »Osten« in den Mittelpunkt: »Nach dem Osten, und immer nur nach dem Osten haben wir unseren Geburtenüberschuß zu lenken. Das ist die von der Natur gewiesene Richtung der germanischen Expansion.« 381 Die Vorstellung, dass das Deutsche Reich in östlicher Richtung erweitert werden sollte, teilten viele Deutsche. Zahlreiche Wissenschaftler erforschten den »deutschen Osten« und verfassten umfangreiche Bücher über das so genannte ostdeutsche Volk, sein Schicksal und seine Leistungen, über die so genannte ostdeutsche Geschichte und Wirtschaft, über Mundarten und die rassische Zusammensetzung oder über die so genannten ostdeutschen Volksstämme. Diese Tradition wirkte nach 1945 fort, auch in der Bundesrepublik erschienen ähnliche Bücher über den »deutschen Osten«. Viele Deutsche glauben bis heute, dass die vertriebenen »Ostdeutschen« über besonders gute Kenntnisse des östlichen Europa verfügen würden, obwohl bei der Frage, wie weit sich der »deutsche Osten« in östlicher Richtung erstrecke, die »Ostforscher« und die Vertriebenenpolitiker gleichermaßen immer nur vage Aussagen machten. Der »Warthegau« wird jedoch dazu gezählt, obwohl er vor dem Zweiten Weltkrieg weder zum Deutschen Reich gehörte noch von Deutschen besiedelt war, und sogar allen Anstrengungen zum Trotz nicht einmal während des Krieges »germanisiert« werden konnte. Am Kriegsende - wie wir sehen werden - wurde die hier angesiedelte deutsche Bevölkerung im Zuge der NS-Räumung evakuiert. Dennoch existiert in der Bundesrepublik eine »ostdeutsche« Landsmannschaft Weichsel-Warthe. Als sie gegründet wurde, erinnerte ihr erster Sprecher, der ehemalige SS-Hauptsturmführer Waldemar Kraft (18 9 8-19 7 7), an die Geschichte des Warthelandes: »Von Beginn der polnischen Geschichte an sind in dem Weichsel- und Warthelande Deutsche am Werk gewesen, um es in friedlichem Nebeneinanderleben mit den Angehörigen polnischen Volkstums zu bebauen und in eine Kulturlandschaft umzuwandeln.« Im Zweiten Weltkrieg soll es allerdings den Deutschen im Wartheland nicht so gut gegangen sein: »Der zweite Weltkrieg traf besonders die deutsche Volksgruppe in Polen außerordentlich hart. Bereits in den ersten Tagen des Krieges fielen Zehntausende den Verfolgungen und organisierten Überfällen zum Opfer. Und es war wiederum die Volksgruppe der deutschen Weichsel- und Wartheländer, die von der Rache und Vergeltung der Polen beim Ende des zweiten Weltkrieges mit geradezu unvorstellbarer Elärte getroffen wurde.«' 82 Über »das Deutschmachen und die blutliche Germanisierung« 383 im so genannten Wartheland berichtete Kraft nicht. So sind auch seine Worte der oben schon behandelten Tradition rhetorischer Verschleierung der Wirklichkeit zuzuordnen. In der Bundesrepublik gehörte er zu den führenden Vertriebenenpolitikern und hatte gehörigen Anteil an den Irrwegen des Erinnerns an die Vertreibung ebenso wie am Fortwirken des Mythos vom »deutschen Osten«. Wo der »deutsche Osten« zu verorten sei, ist weder im NS-Projekt für die deutschen Minderheiten noch in der Bundesrepublik geklärt worden. N o c h seltener ist verstanden worden, wie das 1939/40 in der deutschen Öffentlichkeit bejubelte Bild der »Heimkehr im großen Treck, in Schnee und Eis, bei 40 0 Kälte« 384 mit den Erinnerungen an die Trecks vom Winter 1944/45 zusammenhängt.

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In der Sowjetunion zwischen >Heimkehr< und >Räumung< »Schon unter Wilhelm II. war in der Nachfolge von Treitschke eine ganze historische Schule mit Delbrück, Rohrbach und anderen [entstanden], die bereits das halbe Hitler-Programm vorwegnahmen. Für sie war Rußland die Tabula rasa, die Steppe, das rückständige öde Land mit reichen Bodenschätzen.«:^^

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eder das Wort »Vertreibung« noch der heute modische Begriff »ethnische Säuberung« vermögen die schweren Schicksale der deutschsprachigen Bürger der Sowjetunion im Zweiten Weltkrieg zum Ausdruck zu bringen. Die hier als Sowjetdeutsche 386 bezeichneten Menschen gehörten zweifellos zu jenen Opfern der nationalsozialistischen Ostpolitik, die gleich zu Beginn in die schlimme Mühle des Krieges gerieten. Angesichts der über zwanzig Millionen anderer Bürger der UdSSR, die in diesem Krieg ihr Leben verloren, bildet die Erinnerung an die Schicksale der deutschen Minderheit einen nahezu mikroskopisch wahrnehmbaren Ausschnitt. Doch gebührt auch den über eine Million Sowjetdeutschen so viel Respekt, dass die Erinnerung an ihre Erfahrungen mit möglichst präzisen Informationen untermauert werden sollte; zumal es sich um eine im Kontext des Erinnerns an die Vertreibung historisch bemerkenswerte Geschichte handelt. Die Geschichte der Deutschen aus der Sowjetunion ist kaum bekannt; so auch, dass ihre dramatischen Erfahrungen im Zweiten Weltkrieg den wichtigen Übergangsbereich markieren, in dem sich die »Heimkehr« einiger der später als Vertriebene bezeichneten Menschen und die im Rahmen der nationalsozialistischer Räumungspolitik erfolgte Flucht und Evakuierung überschneiden. Im deutschen Erinnern wird in der Regel nur auf die sowjetischen Deportationen deutscher Bevölkerung in den Osten des Landes hingewiesen, wobei man kaum erwähnt, dass diese Deutschen nur eine relativ kleine Gruppe unter vielen bildeten: »Während des ganzen deutsch-sowjetischen Krieges wurden permanent große Gruppen von Einwohnern zwangsweise evakuiert, oder sie entschlossen sich auf eigene Faust zu einer Flucht ins Ungewisse. Es lässt sich grob schätzen, dass so etwa 20 Millionen Menschen ihre Heimat verlassen mussten, von denen viele nicht mehr zurückgekehrt sind. Unter deutscher Herrschaft waren Zwangsevakuierungen gang und gäbe.«387 Die Schicksale der Deutschen unter dem deutschen Besatzungsregime werden meist verschwiegen, so auch, dass sie von der Räumungspolitik der »verbrannten Erde« 388 ähnlich wie die gesamte sowjetische Bevölkerung betroffen waren. Diese Informationslücken sind leicht erklärbar. Die gängige Verharmlosung der Folgen des Nationalsozialismus und dessen Kriegsführung für die deutsche Minderheit in der Sowjetunion geht auf die N S Propaganda zurück, die z. T auch in der Nachkriegsliteratur fortgeführt wurde. Das ist beispielsweise aus den Erinnerungen des einstigen Generalfeldmarschalls Erich von Manstein (1887-1973) aus dem Jahre 1955 ersichtlich, in denen er ein

In der Sowjetunion zwischen »Heimkehr« und »Räumung« völlig unzutreffendes Bild des Rückzugs der Wehrmacht sowie der nationalsozialistischen Räumungspolitik bot. »Die außerordentlich schwierigen Bedingungen, unter denen diese Bewegungen ablaufen mußten,« seien der Grund gewesen, warum deutscherseits zum Mittel der »verbrannten Erde« gegriffen werden musste: »Es bildeten sich große Trecks, wie wir sie später in Ostdeutschland erleben sollten. Ihnen wurde von den Armeen jede mögliche Hilfe zuteil. Sie wurden nicht »verschleppt«, sondern in Gebiete westlich des Dnjcpr geleitet, in denen für ihre Unterbringung und Versorgung von Seiten der deutschen Kommandobehörden Vorsorge getroffen wurde. Die fliehende Bevölkerung konnte alles, auch an Pferden und Vieh, mitnehmen, was nur irgend zu transportieren war. Auch Transportmittel haben wir der Bevölkerung von uns aus nach Möglichkeit zur Verfügung gestellt. Daß das Kriegsgeschehen ihr viel Leid und unvermeidliche Härten gebracht hat, ist nicht zu bestreiten. Aber diese waren doch nicht zu vergleichen mit dem, was der Bombenterror für die Zivilbevölkerung in Deutschland bedeutet hat, oder gar mit dem, was später im deutschen Osten geschehen ist. In jedem Fall waren alle deutscherseits getroffenen Maßnahmen durch die Kriegsnotwendigkeit bedingt.«3"9 Über den Kriegsverlauf in der Sowjetunion kursierten nach dem Krieg viele derartige Legenden, und an Informationen mangelt es bis heute. So wissen nur wenige Deutschen, welch ein wichtiges Kapitel in der Geschichte der als Vertriebene bezeichneten Menschen die in der UdSSR begonnene Räumungspolitik des NS-Regimes bildete - ein großer Teil der dortigen deutschen Bevölkerung, die weder vertrieben noch ausgewiesen wurde, gehörte zu ihren ersten Opfern.

Die statistischen Angaben über die deutsche Bevölkerung in der Sowjetunion schwanken. Im Jahre 1926 soll sie 1,2 Millionen Deutsche 3 9 0 und am Vorabend des Zweiten Weltkriegs etwa 1,4 Millionen Deutsche umfasst haben, davon rund eine Million im europäischen Teil des Landes. 3 9 ' Sie waren nicht in homogen deutschsprachigen Gebieten angesiedelt, sondern im gesamten Staat verstreut: 806 253 sollen in der Russischen Sowjetrepublik und ca. 400 000 in der Ukraine gelebt haben. Zu den größeren Gruppen gehörten rund 390 000 Deutsche in der Autonomen Wolgarepublik (knapp über die Elälfte der dortigen Bevölkerung), 78 798 in Sibirien, 43 631 auf der Krim, 41 214 um Saratow und 51 102 in Kasachstan; die in der Ukraine lebenden knapp 400 000 Deutschen waren zerstreut in den Gebieten von Odessa, Melitopol, Nikolajew und Mariupol, und kleinere deutschsprachige Bevölkerungsgruppen lebten in den größeren Städten Russlands, in Weißrussland, Aserbeidschan und Georgien. 392 Die sowjetische Nationalitätenpolitik war zunächst vergleichsweise liberal. 393 Im Jahre 1924 wurde die erwähnte Autonome Sowjetrepublik der Wolgadeutschen errichtet, in 16 Landkreisen und 3 000 Gemeinden in der Ukraine, auf der Krim, im Kaukasus und im Südural sowie in Westsibirien, Kasachstan und Kirgisien war Deutsch die Amtssprache; deutschsprachige Schulen und ein deutschsprachiges Kulturleben gehörten zum Alltag der Sowjetunion. 394 Die Autonomie aller Bevölkerungsgruppen wurde jedoch von der sich intensivierenden stalinschen Terrorherrschaft ausgehöhlt und alle Sphären des

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Teil 2: Verdrängte Erinnerungen öffentlichen Lebens der Parteikontrolle untergeordnet. Davon waren infolge der Spannungen, die 1933 nach der nationalsozialistischen Machtergreifung zwischen der UdSSR und dem Deutschen Reich eingesetzt hatten, besonders stark die nationalen Minderheiten in den westlichen Grenzregionen der Sowjetunion betroffen, namentlich die Deutschen: »Bereits mit der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten hatte sich das Mißtrauen der Sowjets gegenüber den Deutschen in ihrem Lande verstärkt. [...] Man verdächtigte die Rußlanddeutschen von Anfang an der Verbindung mit den Nazis, und schon 1935 begannen die Repressalien und Verfolgungen. Nach Zunahme der politischen Spannungen in Europa, nach dem Anschluß Österreichs und der Krise um das Sudetenland, wurden 1938/39 die 16 deutschen Rayons außerhalb der Wolgarepublik aufgelöst.«395 Historiker wie Ingeborg Fleischhauer und Benjamin Pinkus kamen zu der eindeutigen Schlussfolgerung, dass die gegen die Deutschen gerichteten Repressionen, die in den Deportationen während des Zweiten Weltkriegs gipfelten, nicht erst durch die unmittelbaren Kriegsereignisse ausgelöst wurden und »daß die Deutschen der Sowjetunion weniger - als in der bisherigen Literatur vorausgesetzt - zum direkten Opfer der unberechenbaren Nationalitätenpolitik Stalins, als vielmehr zum indirekten Opfer der Ostexpansion des Dritten Reiches wurden«. 3 9 6 Die Sowjetdeutschen waren nach 1933/34 vom Ausland nahezu völlig abgeschnitten, und schon 1934 sollen »alle Rußlanddeutschen vom sowjetischen Geheimdienst (GPU) für eine Deportation im Falle eines Konfliktes mit Deutschland listenmäßig erfasst« worden sein. 397 Bald wurden erste Gruppen von Deutschen gezwungen, ihre Heimat zu verlassen: »So wurden Anfang 1935 aus den westlichen Gebieten der Ukrainischen SSR mehr als 40 000 Personen in östliche Rayons deportiert. Die Mehrheit der Deportierten waren Polen und Deutsche, obgleich beide nur einen Bruchteil der Bevölkerung stellten.« 398 1938/39 erreichte die Zerstörung des deutschen Eigenlebens in der UdSSR einen - vorläufigen - Höhepunkt, und die ersten systematischen Deportationen von Deutschen aus den westlichen Grenzgebieten setzten ein.399 Die Erklärung für diese Entwicklung liegt auf der Hand. Deutsche Bücher und Zeitungen wurden traditionell in Russland viel gelesen, und so waren auch deutsche Einstellungen gegenüber dem Russischen Reich bekannt gewesen. Hitlers Ideen wurden deshalb in dem historischen Kontext gelesen, an den uns Lew Kopelew erinnert: »Schon unter Wilhelm IL war in der Nachfolge von Treitschke eine ganze historische Schule mit Delbrück, Rohrbach und anderen [entstanden], die bereits das halbe Hitler-Programm vorwegnahmen. Für sie war Rußland die Tabula rasa, die Steppe, das rückständige öde Land mit reichen Bodenschätzen.« 400 Die sowjetischen Behörden kannten die nationalsozialistischen Ziele gegenüber der Sowjetunion. In Hitlers 1933 in russischer Übersetzung vorliegendem Mein Kampfstand es klar und deutlich. 401 Von Moskau aus konnte man auch die Volkstumspropaganda ebenso wie die übliche Mobilisierung der Auslandsdeutschen zugunsten der nationalsozialistischen Ziele beobachten. Das »braune Netz« für das NS-Regime tätiger Agenten war allgemein bekannt. Deutsche Emigranten in Paris berichteten schon 1935 ausführlich auch darüber, wie und warum sich etwa Alfred Rosenberg

In der Sowjetunion zwischen »Heimkehr« und »Räumung« bemühte, die emigrierten Gegner der Bolschewiken aus der Ukraine für das N S Regime einzunehmen »weil er die Sowjetukraine im Krieg zum Einflussgebiet, zur Kolonie Hitler-Deutschlands machen will. Die reiche Ukraine [...] hofft der Nationalsozialismus zu einem unerschöpflichen Menschen- und Rohstoffreservoir für seinen Kampf zur Unterwerfung Europas zu machen. Dies ist der Sinn des geplanten Krieges gegen die Sowjetunion: Bodenerwerb im Osten und Niederwerfung des Bolschewismus.«402 Die politische Entwicklung in Deutschland nährte am Vorabend des Zweiten Weltkrieges überall das Misstrauen gegen deutsche Minderheiten, und deshalb wurde für die Sowjetdeutschen das Leben noch schwerer als für andere Sowjetbürger unter der stalinistischen Terrorherrschaft. Als im Sommer 1939 die sowjetischen Verhandlungen mit den Westmächten scheiterten, um dem NS-Expansionismus eine entsprechende Anti-Hitler-Koalition entgegenzustellen (»Die Große Allianz, die sich 1939 für einen Moment abzeichnete und aus der dann doch nichts wurde, wäre die letzte Chance gewesen, den barbarischen Griff des »Dritten Reiches« nach der europäischen Hegemonie und die darin eingebaute antijüdische Raserei zu verhüten.« 403 ), schloß Stalin einen Pakt mit Hitler. Die diplomatische Annäherung zwischen dem Deutschen Reich und der Sowjetunion zwischen 1939 und 1941 führte aber nicht zu mehr als kosmetischen Erleichterungen für die deutsche Minderheit und zerstreute keineswegs das Misstrauen der Behörden. Die deutsche Kriegsführung im Westen veranlaßte die Moskauer Regierung zu dramatischen Schritten: Nachdem die Sowjetunion Ende September 1939 das östliche Polen besetzt hatte, »weitete sie auch weiter nördlich ihren militärischen Aktionsradius aus. Sie zwang Estland und Lettland, ihr auf ihrem Territorium vorgeschobene Stützpunkte einzuräumen, und suchte durch einen Krieg gegen Finnland ihre strategische Position nordöstlich von Leningrad zu verbessern. Die blitzartige Geschwindigkeit, mit der die Wehrmacht die Schlacht um Frankreich gewann, sorgte im Kreml für erhebliche Unruhe. Noch vor der französischen Kapitulation am 17. Juni 1940 ordnete Stalin die Besetzung Estlands, Lettlands und auch Litauens an, das in der geheimen Zusatzklausel zum Hitler-Stalin-Pakt zur deutschen Einflußsphäre gerechnet worden war. Im August 1940 wurden die drei baltischen Republiken (wieder) in die Sowjetunion eingegliedert. Damit erweiterte Moskau seinen Zugang zur Ostsee und sicherte ihn ab. [...] Am 28. Juni 1940 überschritt, nachdem Molotow zuvor zwei Ultimaten an Bukarest gerichtet hatte, die Rote Armee die sowjet-rumänische Grenze und besetzte Bessarabien und die nördliche Bukowina; beide wurden ebenfalls in die Sowjetunion eingegliedert. [...] Mit ihren vorbeugenden Besetzungen hatten sie ihren strategischen Sicherheitsgürtel, der von der Ostsee im Norden bis zum Schwarzen Meer im Süden reichte, zugleich geschlossen und verbreitet«.404 Diese tiefgreifenden Veränderungen wurden von Massenumsiedlungen u. a. deutscher Bevölkerung begleitet, die zum Teil von deutschen Behörden und zum Teil von sowjetischen Behörden durchgeführt wurden. Innerhalb der Sowjetunion wurden zwischen 1939 und Mitte 1941 in großem Maßstab Deportationen durchgeführt, »mit denen aus allen nach dem Hitler-Stalin-Pakt neu in Besitz genommenen Gebieten wirkliche oder vermeintliche politische Gegner entfernt werden sollten.

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Teil 2: Verdrängte Erinnerungen

Wie viele Menschen im Zuge dieser Aktionen zur Zwangsarbeit oder ins politische Exil deportiert wurden, ist ungewiß, doch nach Schätzungen waren es mehr als eine Million. Ungewiß ist bis heute auch die Zahl derer, die dabei zugrunde gingen.« 405 Deshalb war es keine überraschende Entscheidung, dass nach dem deutschen Überfall auf die Sowjetunion 1941 ein großer Teil der deutschen Minderheit u m gehend in die östlichen Teile des Landes deportiert wurde: »Dies war zweifellos eine vorbeugende Maßnahme und keine Strafe für bereits begangene Taten (und damit unterschied sie sich wesentlich von der Verschickung anderer Völker gegen Ende des Krieges)« 406 , stellt der Historiker Meir Buchsweiler in einer umfassenden Studie über Volksdeutsche in der Ukraine am Vorabend und Beginn des Zweiten Weltkriegs fest. Im Nachhinein erwies sich, so Buchsweiler, durch das Verhalten der im besetzten Teil der Sowjetunion lebenden Teile der deutschen Minderheit, dass die Einschätzung der sowjetischen Behörden richtig war, da »die Sowjetdeutschen in den besetzten Gebieten mit am weitgehendsten, wenn nicht am weitgehendsten überhaupt [mit den Besatzern] kooperierten«. 407 O b w o h l die Sowjetdeutschen immer wieder als Vertreibungsopfer erwähnt werden, wird an ihre Schicksale in der Vertreibungsliteratur kaum erinnert. Erst fünfzig Jahre nach Kriegsende könne eine Dokumentation über die Ereignisse vorgelegt werden, die das Schicksal der deutschen Bevölkerung der Sowjetunion maßgeblich geprägt hätten, schreiben Alfred Eisfeld und Victor H e r d t im Vorwort ihrer 1996 herausgegebenen Dokumentation über Deutsche in der Sowjetunion 1941-1956. 4 0 8 Damit werde der Öffentlichkeit ein erstes informatives Erinnerungsbild an die schweren Lebenswege der innerhalb der Sowjetunion zwangsumgesiedelten ca. 400 000 Wolgadeutschen, zusammen mit weiteren Dokumenten über die Russlanddeutschen 1936-1991 vorgelegt. Es ist ein bemerkenswertes Bild, das anhand der in russischen Archiven erhalten gebliebenen Verordnungen und Berichte unterschiedlicher gesamtstaatlicher, regionaler und örtlicher Behörden, Parteiorganisationen und vor allem des N K W D konstruiert wurde. Eine ähnliche Dokumentation über die Schicksale jener Deutschen, die westlich des Dnjepr lebten und beim Vormarsch der Wehrmacht in die Umsiedlungsmaschinerie der deutschen Besatzungsbehörden hineingerieten, liegt noch nicht vor, obwohl diese Maschinerie gleich zu Beginn des Feldzugs mit großer Wucht ins Rollen kam. 409 Die anhand sowjetischer Archivalien entstandene Dokumentation bietet kein umfassendes Bild über das menschliche Leiden, das die sowjetischen Umsiedlungen den Betroffenen bereiteten, aber sie gibt uns einen Einblick in die Mentalität und Sicht der sowjetischen Behörden und öffnet damit die Möglichkeit zu einer vergleichenden Betrachtung der kommunistischen und der nationalsozialistischen Umsiedlungspolitik.

Wie Deutsche in der UdSSR zwangsumgesiedelt wurden Als die Nationalsozialisten 1939 die deutschsprachige Bevölkerung im östlichen Europa umzusiedeln begannen, wurde auch unter den Deutschen in der Sowjetunion die Frage virulent, welche Folgen sich für sie ergeben würden. Alfred Eisfeld

In der Sowjetunion zwischen »Heimkehr« und »Räumung« und Victor H e r d t stellen fest: »Die vertraglich geregelte Umsiedlung der Volksdeutschen [von 1939/40] wurde der deutschen Bevölkerung der Sowjetunion bekannt und weckte mancherorts die Hoffnung auf baldige Aussiedlung nach Deutschland. Die Stimmung blieb den sowjetischen Sicherheitsorganen nicht verborgen«. 410 Dass die Deutschen in der Sowjetunion schon 1939 mit Umsiedlungen rechneten, bestätigt auch ein deutscher Bericht vom September 1941 aus der ukrainischen Stadt Kryvyi Rih über die dort angetroffenen Deutschen: »Von Deutschland haben die meisten keine klare Vorstellung. Dennoch rechneten alle im Jahr 1939 mit ihrer Umsiedlung und hatten teilweise sogar schon ihre fahrende Habe gepackt. Auch heute besteht noch der Drang zur Umsiedlung, wobei allerdings nicht übersehen werden darf, daß diese Deutschen für eine zukünftige Verwaltung der Ukraine ein unentbehrliches Element darstellen.«411 Dementsprechend lagen den sowjetischen Behörden schon vor dem deutschen Überfall auf die Sowjetunion Berichte vor - wie etwa am 2. Dezember 1940 dem Volkskommissar des Innern in der Republik der Wolgadeutschen der Bericht der örtlichen NKWD-Stelle - , wonach das »faschistische, sektiererische und andere Element aus der einheimischen Bevölkerung der UdSSR im Zusammenhang mit der Umsiedlung der Deutschen aus Bessarabien, der Nord-Bukowina und dem Baltikum unter antisowjetischen und nationalistischen Losungen die Arbeit zur Organisation der Umsiedlungsbewegung nach Deutschland entfaltet, wobei es ihnen mancherorts gelungen ist, zahlreiche Deutsche zur Niederlegung der Arbeit in den Kolchozen und zum Vermögensverkauf in provokatorischer Weise zu bewegen.«412 Als sechs Monate später der deutsche Angriff erfolgte, wurden - ähnlich wie in anderen Staaten - alle Deutschen zum Objekt administrativer Sondermaßnahmen. (Zum Vergleich sei etwa an die Internierung der Deutschen in Großbritannien auf der Isle of Man oder an die der 18 000-20 000 deutschsprachigen Emigranten und NS-Gegner in rund 100 französischen Internierungslagern zwischen 1939 und 1941 erinnert. 413 ) Die kriegsbedingten Sicherheitsmaßnahmen trafen unter den Bedingungen des sowjetischen Systems die Deutschen härter als anderswo. Am 22. Juni 1941 wurde u. a. die Internierung deutscher Staatsangehöriger in der Stadt und im Gebiet Moskau eingeleitet und den Militärbehörden auf allen Territorien, über die der Kriegszustand verhängt worden war, das Recht zugebilligt, Entscheidungen über die Ausweisung von Personen zu treffen, die als »sozial-gefährlich« befunden wurden. 4 1 4 Das Misstrauen gegenüber den Deutschen war groß, und Berichte wie etwa derjenige vom 25. Juli 1941 aus der Region Altaj bestätigten es: Dort wurde auf die vielfach in der deutschen Bevölkerung geäußerten Hoffnungen hingewiesen, die deutsche militärische Überlegenheit würde den ersehnten Untergang der Sowjetunion herbeiführen. 4 ' 5 In einzelnen Städten und Regionen begann man die deutsche Bevölkerung umzusiedeln, und am 27. August 1941 erließ der Volkskommissar für Innere Angelegenheiten der UdSSR, Lawrentij Berija, einen Befehl über die Umsiedlung der Deutschen aus der Republik der Wolgadeutschen sowie aus den Gebieten Saratow und Stalingrad. 416 In dem am 28. August 1941 vom Präsidium des Obersten Sowjets der UdSSR erlassenen Dekret hieß es u. a.:

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Teil 2: Verdrängte Erinnerungen »Entsprechend glaubwürdigen Nachrichten, die die Militärbehörden erhalten haben, befinden sich unter der in den Volga-Rayons lebenden deutschen Bevölkerung Tausende und Zehntausende von Diversanten und Spionen, die nach einem aus Deutschland gegebenen Signal in den von den Wolgadeutschen besiedelten Rayons Sprenganschläge verüben sollen«.417 Da keine Meldungen über solche Personen und Vorkommnisse von der deutschen Bevölkerung selbst eingegangen seien, sei zu befürchten, dass im Falle von Blutvergießen die Sowjetregierung gezwungen sein würde, »Strafmaßnahmen zu ergreifen. Um aber unerwünschte Ereignisse dieser Art zu vermeiden und ernsthaftes Blutvergießen zu verhindern, hat das Präsidium des Obersten Sowjets der UdSSR es für notwendig befunden, die gesamte deutsche Bevölkerung, die in den Volga-Rayons ansässig ist, in andere Rayons umzusiedeln, und zwar derart, daß den Umzusiedelnden Land zugeteilt und bei der Einrichtung in den neuen Rayons staatliche Unterstützung gewährt werden soll. Für die Ansiedlung sind die an Ackerland reichen Rayons der Gebiete Novosibirsk und Omsk, der Region Altaj, Kazachstan und weitere benachbarte Gegenden zugewiesen worden.« 418 Umgehend wurden detaillierte Pläne über die Umsiedlung sowie Ansiedlung von rund 400 000 Deutschen in Sibirien und Kasachstan erarbeitet 419 , die der Migrationsforscher Eugen Kulischer im Jahre 1948 so bezeichnete, wie sie seinerzeit allgemein verstanden wurden: »Das war eine kriegsbedingte Sicherheitsmaßnahme.« 420 Demgegenüber wird im Erinnern an die Vertreibung häufig die Behauptung aufgestellt, dass von einer kriegsbedingten Präventivmaßnahme keine Rede gewesen sein könne, »denn der Kriegsfall bot nur den Anlaß dazu, ein bereits bestehendes ideologisches Konzept mit aller Brutalität und terroristischen Maßnahmen in die Tat umsetzen zu können. Der sowjetischen Führung ging es darum, durch Zwangsmaßnahmen ethnische Minderheiten entweder physisch zu vernichten oder die nationale Identität zumindest so nachhaltig zu erschüttern, daß einer Zwangsrussifizierung kein entscheidender Widerstand mehr entgegengesetzt werden konnte.« 421 Diese These begründet der Historiker Dittmar Dahlmann nur mit Verweisen auf das Wesen der so genannten Stalinschen Nationalitätenpolitik, ohne allerdings auf diesbezügliche konkrete Äußerungen und Entscheidungen Stalins und seines Apparats Bezug zu nehmen. Vor allem beantwortet er die beiden für seine Vermutungen zentralen Fragen nicht, warum sich Stalin ausgerechnet in der dramatischen Zeit nach dem deutschen Überfall entschlossen haben sollte, die deutsche Bevölkerung umzusiedeln, und warum vom Westen in den Osten des Landes. Den Umzusiedelnden wurde die Mitnahme von Hausrat, kleinen Gerätschaften und Geld (die Summe wurde nicht begrenzt, bei Wertgegenständen gab es ebenfalls keine Beschränkungen) genehmigt, die »Gesamtmasse aller Gegenstände, der Kleidungsstücke und der Gerätschaften« durfte jedoch nicht höher sein als eine Tonne je Familie. Die Stadtbevölkerung durfte »zurückgebliebenes Privatvermögen über bevollmächtige Personen« binnen zehn Tagen veräußern und den Erlös an den neuen Wohnort transferieren, das zurückgebliebene landwirtschaftliche Vermögen

In der Sowjetunion zwischen »Heimkehr« und »Räumung« wurde aufgelistet, um später nach dem Ermessen der Behörden ersetzt zu werden. 422 Dittmar Dahlmann schildert den Transport der ca. 400 000 Wolgadeutschen wie folgt: »Auf den zentralen Bahnhöfen wurde die deutsche Bevölkerung des Wolgagebietes zu jeweils 40 bis 60 Personen in Güterwaggons verladen. Zum Teil, da die Transportkapazität nicht ausreichte, schickte man die Deutschen auch in Schiffen die Wolga hinunter ins Kaspische Meer und von dort aus nach Zentralasien oder Sibirien. Die des öfteren in der Literatur beschriebene Trennung der Familien an der Verladestation aufgrund eines Erlasses des N K V D läßt sich anhand der Augenzeugenberichte nicht bestätigen. Pro Zug waren zwei Waggons für das Begleitpersonal, Kranke und werdende Mütter bestimmt. [...] Während der Deportation sollen nur 192 Verhaftungen erfolgt sein. Zu Widerstandshandlungen von seiten der Deutschen gegen die Deportation ist es augenscheinlich nicht gekommen. Diese Maßnahme war am 20. September 1941 abgeschlossen.« 423 In der Sowjetunion, in der man bereits Erfahrungen mit der Deportation größerer Menschengruppen besaß, lagen bald die ersten Berichte aus den neuen Wohnorten der Deutschen vor - wie etwa aus Nowosibirsk: »Die politische Stimmung unter den eingetroffenen Deutschen ist insgesamt gut, eine Ausnahme bilden gewisse Leute, die wegen der neuen Lage unverhohlene Unzufriedenheit zeigen. In der Sovchoze »Mel'kovskij« hat es folgende Äußerung gegeben: »Uns hat man ausgesiedelt, und unser Land hat man den Juden gegeben«. Bezeichnend ist, daß, sobald sie mit Polen (die früher in unseren Rayon aus den westlichen Gebieten ausgesiedelt worden waren) zusammentreffen, tiefer Haß zum Vorschein kommt. Die Polen nennen die Deutschen Faschisten, die Deutschen bezeichnen sie ihrerseits als Juden. Seitens der örtlichen Bevölkerung hat es keinerlei Ausfälle gegen die Deutschen gegeben.«424 Im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit der von Alfred Eisfeld und Victor H e r d t vorgelegten Berichte standen Fragen der Unterkunft, und aus ihnen geht hervor, dass die deutschen Umsiedler teilweise in eigenen Häusern und Wohnungen, teilweise in Kolchosen »im Rahmen der Maßnahmen zur dichteren Wohnraumbelegung« untergebracht wurden. Vieles hing von der Effizienz der jeweiligen regionalen und örtlichen Behörden ebenso wie von den gegebenen Möglichkeiten ab, aber die Wünsche der Betroffenen fanden auch Gehör: »Die überwiegende Mehrheit der Kolchozbauern und insbesondere die deutschen Umsiedler aus Krasnodar haben den Wunsch geäußert«, meldete der Leiter einer kasachischen Behörde dem N K W D am 2. N o v e m b e r 1941, »sich in russischen oder aber in von Ukrainern bewohnten Kolchozen niederzulassen, als Motiv dafür geben sie an, daß es mit Kazachen schwierig sei, eine gemeinsame Sprache zu finden (verschiedene Sprachen) und daß sie ihre Kinder in russischer Sprache unterrichten lassen wollen.« 425 Aus den Berichten über die berufliche Eingliederung geht hervor, dass besonders bei den »hochqualifizierten Spezialisten« Schwierigkeiten entstanden - wie etwa aus dem Nowosibirsker Gebiet berichtet wurde - , weil »in den wichtigsten Städten des Gebiets, in denen es Industrie gibt und solche Kader gefragt sind, eine Zuzugssperre für die Deutschen besteht. Auf dem Lande jedoch finden sie für sich keine geeignete Beschäftigung.« 426 Am schnellsten, hieß es, »sind zur Arbeit in

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Teil 2: Verdrängte Erinnerungen ihrem Beruf Buchhalter und Rechnungsführer gekommen, die gerade auf dem Lande, wo die Umsiedler ohne jegliche Einschränkungen leben können, sehr gefragt sind«. 427 Am einfachsten schien die Eingliederung der Agrarbevölkerung zu sein, aber es wurde auch bemängelt, dass »in den meisten Rayons der Region [Altaj] keinerlei Arbeit zur Einbeziehung der Deutschen in die Kolchozen durchgeführt wird«. 428 Über die politische Stimmung der deutschen Neuankömmlinge wurde häufig geklagt: »So versammelte der Deutsche, Varkitan, deutsche Männer und Frauen, mehr als zehn Personen, um sich herum und erklärte: »Bald werden wir uns erholen, Hitler wird uns sowieso befreien und in Deutschland ansiedeln, obwohl die Sowjetregierung uns nicht freilassen, sondern in die Taiga umsiedeln und vernichten will, aber das macht nichts, wir werden es trotzdem erleben, Hitler wird uns befreien.««429 Oft wurden verallgemeinernde Stimmungsbilder geschildert: »Die Aktivität der antisowjetischen Elemente unter den Deutschen ist im Zusammenhang mit der Umsiedlung beträchtlich gestiegen. Neben der Verbreitung von verschiedenartigen provokativen Gerüchten, der Lobpreisungen von Deutschlands Macht und des Vertrauens auf Hitlers baldigen Sieg beginnt das konterrevolutionäre Element, die Deutschen zu aktiven Handlungen gegen die Sowjetunion, zur Sabotage aufzurufen, und drohte der örtlichen Bevölkerung mit Erschießungen. In allen Gebieten sind zahlreiche Fakten von derartigen Aussagen der umgesiedelten Deutschen registriert worden.«(sie)430 Die sowjetischen Behörden waren bemüht, Missstände zu erkennen, darauf einzugehen, auf die Stimmung unter den Deutschen beruhigend zu reagieren und Misshandlungen zu unterbinden. So heißt es in einem Bericht: »In der Kolchoze >i. Mai« des Maralichinskij Dorfrats im Rayon Carysskij ist eine alte deutsche Frau verstorben, der Kolchozvorsitzende, Eremin, S.E ehemaliger Kulak, wies an, kein Schnittholz zur Sargherstellung zu geben, und die Deutsche wurde ohne Sarg bestattet, wodurch unter den deutschen Umsiedlern unerwünschte Stimmungen aufgekommen sind.«431 Wiederholt finden wir hier Anweisungen an einzelne Behörden, sich für die Beseitigung der Missstände einzusetzen, und Verurteilung einer »pauschalen Mißschätzung der evakuierten Bevölkerung, die im Rahmen der planmäßigen Umsiedlung gekommen ist« (sie); das sei eine »politisch schädliche und gegen den Staat gerichtete Tendenz«. 432 Die hier vorliegenden Berichte sind im Sowjetjargon geschrieben, aber sie bieten Einblicke in den Verlauf der Umsiedlungen ebenso wie Informationen über die Unterkunft und Lebensbedingungen in den neuen Wohnorten. Transportschwierigkeiten und »unhygienische Zustände in den Kantinen« werden erwähnt, manchmal die Unstimmigkeiten in der statistischen Erfassung oder die unzureichende »Planerfüllung« 433 beklagt. Die Berichte zeigen auch, dass sich die Lebensbedingungen der umgesiedelten Deutschen im Laufe des Krieges verschlechterten, dass viele zu schlecht organisierten Arbeitseinsätzen einberufen wurden und unter extrem schwierigen Bedingungen lebten - wie etwa aus dem Bericht vom 8. August 1943 aus den Erdölbetrieben in Tschkalow/Orenburg hervorgeht:

In der Sowjetunion zwischen »Heimkehr« und »Räumung« »Die Leiter dieser Betriebe hatten sich auf ihre Aufnahme nicht vorbereitet. Diese Menschen hausten in unbeheizten Baracken und Erdhütten, schliefen bei JanuarFrost auf nackter Erde, erhielten oft fünf Tage lang kein Brot. Da sie unter unhygienischen Verhältnissen lebten und zusammengepfercht waren, brachen Krankheiten aus. Rund 100 Menschen erkrankten an Typhus.« 434 Da der N K W D das Alltagsleben überwachte, bieten die Berichte sowohl Einblicke in die schweren Erfahrungen der Betroffenen, wie in ihre Klagen: »Mit uns Deutschen macht heute jeder, was er gerade für richtig hält«, soll etwa am 24. April 1943 Lida Schneider erklärt haben: »Wenn man so darüber nachdenkt, ist es nicht weiter auszuhalten. Ich würde einen Knüppel nehmen und gegen die Russen losziehen, aber da ist, Teufel nochmal, alles still geworden an der Front. Ich habe immer auf Hitler und seine Hilfe gewartet, auch jetzt gebe ich die Hoffnung nicht auf, man sagt, er sei schon am Ob und wird bald bei uns sein. Von lauter Freude gehe ich ihm entgegen und werde zusammen mit ihm den russischen Teufel schlagen, das ist mein einziger Gedanke.« Die sowjetischen Reaktionen waren häufig vom naiven Glauben in die Wirkungskraft der Propaganda geprägt: »Ähnlich äußert sich auch eine Reihe anderer Personen«, hieß es in diesem Bericht: »Dies ist eine Information zur Kenntnisnahme und zur Einleitung von erforderlichen Maßnahmen zur Verstärkung der Öffentlichkeitsarbeit an der Basis.« 435

Sowjetdeutsche >unter dem Schutz der deutschen Wehrmacht Die deutsche Behördensprache war anders als die sowjetische, wie wir uns an drei Beispielen führender NS-Politiker vergegenwärtigen können. Am Vorabend des Überfalls auf die Sowjetunion, am 20. Juni 1941, erläuterte Alfred Rosenberg in einer Rede »vor den engsten Beteiligten am Ostproblem« Sinn und Ziel der neuen Kriegsfront: »Wir führen nun aber heute nicht einen »Kreuzzug« gegen den Bolschewismus, allein um die »armen Russen« vor diesem Bolschewismus für alle Zeiten zu erretten, sondern um deutsche Weltpolitik zu treiben und das deutsche Reich zu sichern.« 436 Ein ungeteiltes Russland scheide deshalb als Kriegsziel aus, man müsse begreifen, dass Russland kein Nationalstaat, sondern ein Nationalitätenstaat sei, und dementsprechend müsse man gegen die Sowjetunion vorgehen: »Die Aufgabe unserer Politik scheint mir deshalb in der Richtung zu liegen, die Freiheitsbestrebungen aller dieser Völker in einer klugen und zielsicheren Form wieder aufzugreifen und sie in ganz bestimmte staatliche Form zu bringen, d. h. aus dem Riesenterritorium der Sowjetunion Staatsgebilde organisch herauszuschneiden und gegen Moskau aufzubauen, um das Deutsche Reich für kommende Jahrhunderte von dem östlichen Albdruck zu befreien.«437 Manche Teile der Sowjetunion erklärte Rosenberg direkt zu »deutschem Besitz«: das »Baltenland« sei »die älteste Kolonie des Deutschen Reiches« 438 und das »Schwarzmeergebiet« sei »deutsches Nationaleigentum ohne Bezug auf frühere

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Teil 2: Verdrängte Erinnerungen individuelle Besitzer«. 439 In der Ukraine ergebe »sich für Deutschland als Ziel die Freiheit des ukrainischen Volkes«, die »durchaus als politischer Programmpunkt aufzunehmen« sei, während Kaukasien »grosse Umsicht« erfordere und man sich »auf die vielleicht uns sonderbar anmutenden Eigenschaften einstellen« müsse: »Es beherbergt dutzende von Völkerschaften und Volkssplitter, und das Entscheidende ist, dass kein einziges Staatsvolk vorherrscht.« 440 Wie damals üblich, verknüpfte auch Rosenberg seine Pläne mit Reminiszenzen an die mittelalterliche Ostkolonisation: »Es erscheint jedenfalls als politische Möglichkeit, in moderner Form einen alten Zug nach dem Osten wieder aufzunehmen und diese alte Verbindung zwischen Zentraleuropa und dem voreuropäischen Gebiet wieder herzustellen.« 441 Am Ende der »Neuaufnahme« früherer historischer Entwicklungen solle diesmal ein großes »Germanisches Reich« entstehen: »Das deutsche Volkstum hat in diesem Riesenraum jahrhundertelang gearbeitet«, meinte Rosenberg, allein im »Schwarzmeergebiet wurde mehr Land beackert als England unter dem Pflug hat«; die Deutschen hätten dort »nicht gewuchert und das Volk ausgeplündert«, sondern »schöpferische Arbeit« geleistet. Für die Russen solle dieses Projekt aber auch attraktiv gemacht werden, meinte Rosenberg, als ein »Kommissariat kommt schließlich das eigentliche Russland dazu, d. h. der Raum zwischen Petersburg, Moskau und dem Ural. Hier müssen wir erklären, dass wir heute keine Feinde des russischen Volkes sind.« Zunächst gelte es jedoch, die zu erwartenden Schwierigkeiten bei diesem »Aufbau der neuen Ostgebiete« zu überwinden: »Es ist ein primitives Land, und unsere Soldaten werden gänzlich andere Zustände vorfinden, als sie aus Europa gewohnt sind. Sie werden weder Banken noch gute Hotels, sie werden keine Bettstellen vorfinden, aber zum Teil gesprengte Wohnhäuser und eine verwüstete Wohnwirtschaft. [...] Für alle Menschen, die in diese Gebiete gehen, bedeutet das, dass sie einer Riesenaufgabe dienen und dass sie Jahre härtester Kolonialarbeit auf sich nehmen.«442 Rosenberg galt als Protagonist einer vermeintlich umsichtigeren Ostpolitik, als sie Heinrich Himmler betrieb, aber in ihren historisch begründeten, wirklichkeitsfremden und moralisch verkommenen Zielvorstellungen waren sich beide einig. »Das Bürgerrecht des Reiches wird - dessen seien Sie gewiß - schon in wenigen Jahren eines der erstrebenswerten Dinge in Europa sein« 443 , erklärte etwa Himmler am 14. Oktober 1943, als die Wehrmacht selbst schon unterwegs auf der »Heimkehr« war. Alles, »was wir jetzt während des kommenden Winters werden erleiden müssen, während dessen wir sicherlich weitere 2 bis 3 Millionen Russen werden abschlagen und abschlachten müssen - alle diese Dinge sind nur vorübergehende Phasen, wie schwierig sie auch sein mögen« 444 , tröstete Himmler seine Zuhörer, und am Ende sei der Sieg gewiss: »Der Alte Fritz hat bis zur Bestätigung Deutschlands als europäische Macht zehn Jahre gebraucht. Für uns bedeutet das Ende dieses Krieges den freien Weg nach dem Osten, die Schaffung des Germanischen Reiches und auf diese oder jene Art - wie im einzelnen, können wir noch nicht sagen - das Hereinholen von 30 Millionen Menschen unseres Blutes, so daß wir noch zu unseren Lebzeiten ein Volk von 120 Millionen Germanen werden.«445

In der Sowjetunion zwischen »Heimkehr« und »Räumung« Ein anderer der führenden Strategen des NS-Regimes, Reinhard Heydrich, erläuterte seine Visionen über den »Aufbau der neuen Ostgebiete« drei Monate nach d e m Überfall auf die Sowjetunion auf seine Art, aber ähnlich wie seine Kollegen: »Das sind die Räume, die man eigentlich behandelt wie die Eindeichung neuen Landes an der Küste, indem man ganz im Osten einen Wehrwall zieht von Wehrbauern, um dieses Land einmal abzuriegeln gegen die Sturmflut Asiens, und das man dann durch Querwälle unterteilt, um allmählich diesen Boden für uns zu gewinnen [...] Im großen und ganzen gilt also hier in diesen Osträumen der alte Kolonisationsgedanke, der aber im Gegensatz zur früheren Kolonisation der Ordensritter und baltischer Barone den Gedanken hat, daß die Kolonisation von uns getragen wird, vom Blut, und daß der alte Gedanke im Osten, der Ordensgedanke der Ordensritter wach wird, als die Etappe für die Beherrschung des Raumes, den wir nicht voll besiedeln können.«446 Schon diese drei Beispiele aus den Politschulungen der höchsten NS-Elite weisen auf jene Mentalität hin, von der die deutsche Besatzungspolitik in der Sowjetunion geprägt war: Diese Mischung aus wirklichkeitsfremden Visionen, rücksichtslosem Expansionismus, historischen Reminiszenzen und Menschenverachtung war selbst unter den brutalen Diktatoren des 20. Jahrhunderts einzigartig. Die Frage, wo Deutschlands Ostgrenze liegen könnte, erhielt hier so absurde Antworten, dass man keineswegs allein von einer menschenverachtenden Herrschsucht oder allein von einem kolonialen Expansionskrieg des Deutschen Reiches sprechen kann. Vielmehr stellt der Hakenkreuz-Feldzug gen Osten eine singulare Erscheinung historisch-politischer Verwirrung dar, deren spezifische Ursachen bisher wenig erforscht sind. Sowohl die innerhalb der Sowjetunion in den Osten deportierten Sowjetdeutschen als auch diejenigen, die unter den »Schutz der deutschen Wehrmacht« gerieten, wurden Opfer eines solchen eigenartigen Kolonialprojekts, auch wenn sie möglicherweise in derselben Mentalität verhaftet waren; viele der letzteren, von der Wehrmacht »beschützten« Sowjetdeutschen, verloren allerdings nicht nur ihre Heimat, sondern wurden auch für das verbrecherische Projekt zu kriminellen Handlungen eingesetzt.

Im Erinnern an die Vertreibung ist über die Rolle, die die deutsche Bevölkerung in den besetzten Gebieten spielte, bisher wenig bekannt. 447 In der 2003 erschienenen Studie von Andrej Angrick über Besatzungspolitik und Massenmord wird unter der Überschrift »Die Volksdeutschen der besetzten Gebiete stehen unter dem Schutz der deutschen Wehrmacht« daran erinnert. 448 Dass bei dem deutschen Kolonialunternehmen einzelnen Bevölkerungsgruppen eine jeweils unterschiedliche und eigenständige Rolle zukam, ergibt sich schon aus dem von Rosenberg hervorgehobenen Ziel, die Angehörigen verschiedener Nationen gegeneinander auszuspielen und ihre Konflikte für die deutschen Pläne zu instrumentalisieren. »Zwar mochte das Land besetzt gewesen sein, handlungsunfähig waren die Volksgruppen deshalb noch lange nicht: weder die ukrainischen Nationalisten noch die Krimtataren, die kaukasischen Völker oder selbst die jüdische Bevölkerung«, erinnert uns Andrej

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Angrick: »Sie alle hatten Erwartungen an die Deutschen, sie alle entwickelten Zielvorstellungen, die mehr oder minder der veränderten politischen Geographie der Besatzungspolitik Tribut zollten.« 449 Auf die Volksdeutschen richteten die Besatzungsherren ihren Blick mit besonders großen Erwartungen. Die sowjetische Evakuierungspolitik kam den deutschen Planern in die Quere. Für die Krim erinnert uns daran der Historiker N o r b e r t Kunz: »Auf die rund 50 000 Deutschen, die noch bei Kriegsausbruch auf der Krim gelebt hatten und als Träger des »Germanentums« begehrt waren, konnte man als künftigen Siedlerkern nicht bauen. Sie waren im großen und ganzen vor dem Einmarsch von den Sowjets deportiert worden.« 4 5 0 Für die betroffenen Menschen bedeutete es viel Leid, viele von ihnen starben an den Strapazen und »im Hagel deutscher Bomben auf die Evakuierungstransporte«. 45 ' Für die Pläne, einen so genannten Goten-Reichsgau aufzubauen, war dies jedoch ein Rückschlag, schon bevor mit dem Aufbau begonnen werden konnte: »Nach ersten Erkenntnissen waren nur noch »wenige hundert« Krimdeutsche zurückgeblieben. So befand sich nunmehr zwar das anvisierte Gebiet, nicht aber die Bevölkerungsgrundlage zu einer Kolonisierung im deutschen Machtbereich. Es handelte sich - in Umkehrung eines gängigen zeitgenössischen Schlagwortes - um Raum ohne (deutsches) Volk.« 452 Für die verbliebenen Deutschen brachte die Besatzungspolitik zunächst scheinbare Vorteile: »Im Besatzungsalltag zahlte sich die Zugehörigkeit zur »deutschen Volksgemeinschaft« in mannigfaltiger Form aus. [...] In der Praxis umfasste die Sonderstellung der Deutschen gesonderten Schutz für Leib und Habe, materielle, soziale, vor allem aber versorgungsmäßige und arbeitsrechtliche Vorteile. Der deutsche Volkstumsausweis war eine Art Freibrief.«453 In der Ukraine und dem nach der deutschen Besetzung unter die Verwaltung Rumäniens gestellten Transnistrien lebten etwa 350 000 Deutsche - eine ähnlich große Zahl, wie in der Autonomen Republik der Wolgadeutschen gelebt hatten, bevor sie 1941 in den Osten der UdSSR evakuiert worden waren. Diese beiden Gebiete schienen für den »Aufbau der neuen Ostgebiete« besonders gut geeignet, weil dort deutschsprachige Siedlungen existierten. Dennoch haben die verbliebenen Sowjetdeutschen ihre Kolonialherren zunächst enttäuscht: Sie erschienen ihnen zu armselig und politisch desorientiert, und die Besatzer stellten rasch fest, dass die aus Deutschland mitgebrachten Informationen über sie nicht zutreffend waren. Die neuen Herren misstrauten bald auch der deutschsprachigen Bevölkerung und hielten eine Umerziehung für erforderlich. Darüber hinaus kam es bald zwischen den deutschen und den rumänischen Verwaltern ebenso zu Konflikten wie zwischen den reichsdeutschen Neuankömmlingen und den Führern der alteingesessenen so genannten deutschen Volksgruppen. Der Großteil der unter den »Schutz der Wehrmacht« gekommenen Deutschen lebte in Dörfern, und es war für sie nicht einfach, sich in ihrer neuen Lage zu orientieren. Es galten keineswegs für alle ethnisch Deutschen die gleichen Rechte. Zunächst hetzten die neuen Herren die Menschen aufeinander los, um Kommunisten zu denunzieren: »Hinrichtungen Volksdeutscher waren nicht die Ausnahme, fast jedes Dorf hatte in den Augen der Kommandos seine Kommunisten, die, ein-

In der Sowjetunion zwischen »Heimkehr« und »Räumung« mal aufgespürt, alleine oder zusammen mit den Juden der Ortschaft getötet wurden.« 454 Durch Terror und komplizierte bürokratische Verfahren wurden allmählich aus den verstreuten einstigen Sowjetdeutschen Volksdeutsche und damit Angehörige der »deutschen Volksgemeinschaft«. Die schon aus der Verwaltung früherer »Heimkehrer« erfahrenen Umsiedlungskommissare machten sich bald auch daran, die verstreut lebenden Volksdeutschen in dem rumänisch verwalteten Transnistrien in das ukrainische Schwarzmeergebiet umzusiedeln und die in ihrer Heimat verbleibenden Bevölkerungsteile zu »betreuen«. Zugleich wurden Männer im wehrfähigen Alter in den so genannten Selbstschutz eingezogen, der der SS unterstellt wurde. Dies wiederum führte im Falle von Transnistrien gleich zu weiteren Schwierigkeiten, da wenig Rücksicht auf die hoheitlichen Ansprüche Rumäniens genommen wurde. Das verwaltungstechnische Chaos hatte zwar vielerlei Spannungen zwischen verschiedenen Behörden zur Folge, aber viele Volksdeutsche wurden rasch zu willfährigen Instrumenten der deutschen Besatzungspolitik und beteiligten sich selbst an der Ermordung ihrer Nachbarn. Bald sollte es noch schlimmer kommen. Die Zivilbevölkerung war von Anfang an einer grausamen Besatzungspolitik ausgesetzt, wie ein Befehl der Sicherheitspolizei vom 18. September 1941 veranschaulicht. Darin w u r d e n »Richtlinien für die D u r c h k ä m m u n g und D u r c h streifung von Sumpfgebieten durch Reitereinheiten« formuliert, in denen es u. a. hieß: »Ist die Bevölkerung, national gesehen, feindlich, rassisch und menschlich minderwertig oder gar, wie es in Sumpfgebieten sehr oft der Fall sein wird, aus angesiedelten Verbrechern zusammengesetzt, so sind alle, die der Unterstützung der Partisanen verdächtigt sind, zu erschießen; Weiber und Kinder sind abzutransportieren, Vieh und Lebensmittel zu beschlagnahmen und in Sicherheit zu bringen. Die Dörfer sind bis zum Boden niederzubrennen.« 455 Zu den prägenden Merkmalen des Nationalsozialismus gehörte auch dessen einzigartige Judophobie, die nicht zum Themenbereich dieser Studie gehört und daher nur am Rande erwähnt werden kann. Sie führte zur systematischen Ermordung der j üdischen Bevölkerung in allen besetzten Gebieten der Sowjetunion, wie u. a. in dem erschütternden Schwarzbuch der Vernichtung der sowjetischen Juden von Ilja Ehrenburg und Wassili Grossman dokumentiert wurde. 4 5 6 Diese Besatzungspolitik machte aus denjenigen Sowjetdeutschen, die unter den »Schutz der deutschen Wehrmacht« geraten waren, nicht nur Objekte eines wirklichkeitsfremden Kolonialprojekts, sondern vielfach auch direkte Mittäter an furchtbaren Verbrechen. Erinnerungen an die Beteiligung von Volksdeutschen aus Transnistrien an Massenermordungen von Juden 1941/42 untersuchte Andrej Angrick: »Mehrere Wochen lang erschoß der Selbstschutz in Mostovoi vertriebene Juden in einer Erdsenke, ließ die mit Benzin übergossenen Leichen verbrennen, um einige Zeit später wieder Menschen hinzurichten. Die Anzahl der jüdischen Menschen, die während des Winters 1941/1942 vom Selbstschutz in den Volksdeutschen Gebieten ermordet wurden, ist nicht ermittelbar. Nach Angaben des Aus-

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Teil 2: Verdrängte Erinnerungen wärtigen Amtes dürfte es sich dabei aber mindestens um 28 000 Opfer gehandelt haben.« 457 Die Volksschutzangehörigen mordeten nicht nur unter Anleitung und auf Befehl ihrer neuen Kolonialherren, sondern auch aus eigener Initiative. So wies etwa ein sowjetisches Gericht nach, dass an dem großen Massaker von Bognadowka in der Weihnachtszeit 1941/42 der Volksdeutsche Selbstschutz maßgeblichen Anteil hatte: »So ermordeten allein die neun dort angeklagten ehemaligen Selbstschutzangehörigen eigenhändig mindestens 1 130 Menschen, kehrten wiederholt zum O r t des Verbrechens zurück und fahndeten nach Versteckten.« 458 U n d es war nicht nur der Volksdeutsche Selbstschutz, der an der Verfolgung und Ermordung von Juden partizipierte; viele Volksdeutsche, die nicht zum Selbstschutz gehörten, leisteten Hilfsdienste oder haben »nur« zugeschaut. Die Kleidungsstücke der Getöteten wurden in den Volksdeutschen Dörfern verteilt. 459 Überall leisteten Volksdeutsche bei der Menschenjagd der deutschen Besatzer Dienste als Dolmetscher u n d ortskundige Spürhunde, da die Opfer in den Dörfern und Kolchosen sowie in den besetzten Städten erst ausfindig gemacht werden mussten. Manche Volksdeutsche wurden einzelnen K o m m a n d o s direkt als O r t s k u n d i g e u n d Dolmetscher zugeteilt 460 , wie etwa der in der Bundesrepublik bekannte Historiker Fritz Valjavec ( 1 9 0 9 - 1 9 6 0 ) , der beim Sonderkomm a n d o 10b tätig war; auch er steuerte nach dem Krieg unbestraft seine »Kenntnisse« als Leiter des M ü n c h n e r Südost-Instituts u n d als M i t a u t o r der Schiederschen Dokumentation z u m Erinnern an die Vertreibung bei 461 , ohne sich je über die Schuld u n d Unschuld der einstigen deutschen Minderheiten geäußert zu haben. Doch es wurde rasch klar, dass die Hilfsleistungen Volksdeutscher nicht ausreichten, u m den sowjetischen »Riesenraum« zu kolonisieren: »Je weiter die deutschen Armeen nach Osten vorstießen, desto seltener fanden sie Menschen vor, die sie als »Volksdeutsche« bezeichnet hätten. Erst recht konnte von keinen geschlossenen Volksdeutschen Siedlungen mehr die Rede sein«. 462 Deshalb rückten nun die Angehörigen anderer Nationalitäten als potentielle Helfer ebenso intensiv ins Auge der Besatzer wie vorher die deutschsprachige Bevölkerung. Selbst in den führenden NS-Eliten diskutierte man bald über »das so hochwichtige Problem der politisch richtigen Behandlung der Ostvölker«, wie es Joseph Goebbels am 11. Februar 1943 formulierte. 463 Offensichtlich war ihm schon im Winter 1942/43 klar geworden, dass das NS-Kolonialprojekt kein praktisch durchführbares Programm, ja dass sogar die militärische Eroberung der sowjetischen Gebiete mit den bis dahin praktizierten Methoden zum Scheitern verurteilt war. U n d das veränderte die Lage der Sowjetdeutschen in den besetzten Teilen der UdSSR grundlegend.

In der Sowjetunion zwischen »Heimkehr« und »Räumung«

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Frauenleichen, grausig verstümmelt . . . lagen in den Zelten des behelfsmäfiigt'n Gefängnisses, dus die Bülschewisten im Hinterhaus» Ihrer Dienststelle eingerichtet hatten.

Nur weil er e i n e d e u t s c h e Mutter h a t t e . . . mußte dieser zehnjährige Junge unter Messerstichen und Pistolenschüssen sein Leben lassen, nachdem ihn die jüdischen Kommissare geschändet hatten. PK. Gronefcldt (3)

Abb. 7 / Die antisowjetische Gräuelpropaganda in den deutschen Medien begleitete den Ostfeldzug der Wehrmacht von Anfang an, wie hier aus der Berliner Illustrierten Zeitung vom 17. Juli 7 94 7 ersichtlich wird. Die während des Rückzugs verbreiteten Bilder angeblich von Rotarmisten vergewaltigter deutscher Frauen boten daher bekannte Images, die von vielen Deutschen gutgläubig aufgenommen wurden, ohne dass sie nach konkreten Informationen gefragt hätten.

Neue Richtlinien des Propagandaministers Den Vorboten der deutschen Zukunft im erweiterten Osten des Reiches< stand von Anfang an nicht nur die Rote Armee gegenüber, sondern auch ein breiter Wider-

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Teil 2: Verdrängte Erinnerungen stand der Zivilbevölkerung. »Das Bandenunwesen im Osten hat in den letzten Monaten einen nicht mehr erträglichen Umfang angenommen und droht zu einer ernsten Gefahr für die Versorgung der Front und die wirtschaftliche Ausnützung des Landes zu werden«, erfahren wir aus einer Weisung des Führers an das Oberkommando der Wehrmacht vom 18. August 1942. Die Aufgabe schien einfach: »»Bis zum Beginn des Winters müssen diese Banden im wesentlichen ausgerottet und damit der Osten hinter der Front befriedet werden««.4''4 Hitlers Befehle halfen jedoch wenig. Das geht etwa aus dem Erlass des Chefs des Oberkommandos der Wehrmacht, Generalfeldmarschall Wilhelm Keitel, vom 16. Dezember 1942 über neue Grundsätze für den Umgang mit sowjetischen Widerstandskämpfern - im NS-Jargon als »Banditen« bezeichnet - hervor: »Wenn dieser Kampf gegen die Banden sowohl im Osten wie auf dem Balkan nicht mit den allerbrutalsten Mitteln geführt wird, so reichen in absehbarer Zeit die verfügbaren Kräfte nicht mehr aus, um dieser Pest Herr zu werden. Die Truppe ist daher berechtigt und verpflichtet, in diesem Kampf ohne Einschränkung auch gegen Frauen und Kinder jedes Mittel anzuwenden, wenn es nur zum Erfolg führt. Rücksichten, gleich welcher Art, sind ein Verbrechen gegen das deutsche Volk und den Soldaten an der Front, der die Folgen der Bandenschläge zu tragen hat und keinerlei Verständnis für irgendwelche Schonung der Banden und ihrer Mitläufer haben kann.«465 Trotz der brutalen Kriegsführung wurde ein halbes Jahr später, am 13. Juli 1943, in einem »Bericht über die Bandenlage April-Juni 1943« festgestellt, »daß eine Befriedung des Ostraumes von unseren weiteren Maßnahmen nicht zu erwarten ist«. 466 Den Propagandaminister Goebbels beschäftigten die entmutigenden Erfahrungen der Besatzer schon vor der ersten großen militärischen Niederlage bei Stalingrad. Am 17. November 1942 stellte er in der Wuppertaler Stadthalle die N S Kriegsführung noch unumwunden als einen Raubzug dar: »Das, was wir besitzen, wollen wir nicht mehr 'rausgeben. Koste es, was es wolle, das muß jetzt gelöst werden! Jetzt wollen wir die Weizenfelder am Don und Kuban besitzen und wollen damit die Hand auf dem Brotbeutel Europas haben! Wir wollen jetzt die Ölquellen und die Eisen- und Kohlen- und Manganlager besitzen. Wir wollen uns einen kolonialen Besitz auf eigenem europäischem Raum beschaffen, und das ist unser begrenztes Ziel und für dieses Ziel opfern wir unsere Soldaten und dafür Soldatenblu-, -blut [sie] zu opfern, kann man überhaupt nur verantworten. Wir kämpfen nicht um Prestige-Rücksichten, sondern wir kämpfen um Grund und Boden.«467 Bald darauf erkannte jedoch selbst Goebbels, dass der Vormarsch der Wehrmacht nur das Trugbild eines Sieges war, weil ihm nirgendwo eine Stabilisierung der deutschen Herrschaft folgte. Wie seine Tagebücher zeigen, sah er ein, dass der Widerstandswille der Roten Armee ebenso wie der landesweite Widerstandskampf ungebrochen waren und dass sich selbst unter deutschen Soldaten über die brutale Kriegsführung Unbehagen verbreitete. Seine Suche nach Ursachen führte ihn in die richtige Richtung. »Deutsche Geheimparolen von der Minderwertigkeit des slawischen Volkstums und der Notwendigkeit seiner Ausrottung sind in die weite russische Öffentlichkeit

In der Sowjetunion zwischen »Heimkehr« und »Räumung« gelangt«, notierte Goebbels am 10. Januar 1943 in seinem Tagebuch, und das stärke den Widerstandswillen, meinte er: »Verstärkte Bandentätigkeit und schwerwiegende Fehler in der Behandlung der Bevölkerung beeinträchtigen das deutsche Ansehen fühlbar.« 468 Dass es sich um keine Geheimparolcn handelte, muss gerade er gewusst haben, schließlich redete er selbst in der Öffentlichkeit über die »Beschaffung des kolonialen Besitzes«, und nicht zuletzt war auch das zwei Jahrzehnte zuvor in Mein Kampfverkündete Credo seines Meisters bekannt, fm Winter 1942/43 beschloss Goebbels, dass er den Kurs der deutschen Propaganda ändern und bei der sowjetischen Bevölkerung um Sympathien werben werde. Am 10. Januar 1943 dachte er über Maßnahmen wie »Verbot der Menschenjagden« oder »grundlegende Besserung der Behandlung russischer Arbeiter im Reich« nach; ja sogar eine »Umwandlung der bisher grundlegenden Grundeinstellung des deutschen Volkes gegenüber den Russen« schwebte ihm vor.469 Am 15. Februar 1943 gab Goebbels eine neue Anweisung an die Reichsleiter, Gauleiter und Gaupropagandaleiter heraus. Künftig sollten in allen »Reden, Aufsätzen und sonstigen Veröffentlichungen« über die Behandlung »der außerhalb Deutschlands lebenden europäischen Völker einschließlich der Ostvölker sowie für die Behandlung von Plänen des Reiches im Osten« neue Regeln gelten: »Äußerungen, daß Deutschland im Osten Kolonien errichten und Kolonialpolitik treiben werde, das Land und seine Bewohner als Ausbeutungsobjekt betrachte, sind völlig verfehlt. [...] Ebenso abwegig ist es, von neuen deutschen Siedlungen oder gar Großsiedlungen und Landenteignungen zu sprechen oder theoretische Aufsätze über die Frage zu verfassen, ob man die Völker oder den Boden germanisieren müsse. [...] Demgegenüber ist bei allen sich bietenden Gelegenheiten der Freiheitswille, der Kampfwille gegen das bolschewistische Terrorregiment, wie er die von den Sowjets unterdrückten Völker beseelt, ihr Soldatentum sowie ihre Arbeitswilligkeit hervorzuheben.« 470 Von jetzt an wurde in der deutschen Öffentlichkeit über das Kolonialprojekt nicht mehr gesprochen. Die zweite Phase des deutschen Krieges im östlichen Europa wurde propagandistisch zu einer antibolschewistischen Rettungsmaßnahme umgedeutet. »Die besetzten Ostgebiete werden nach ihrer planmäßigen Zerstörung durch den Bolschewismus (entsprechend Stalins Befehl der verbrannten Erde) unter deutscher Führung wieder aufgebaut«, sollte nun die deutsche Propaganda den »europäischen Völkern« versprechen. Der deutsche Rückzug aus dem Osten sollte propagandistisch als Abwehr eines angeblich ganz Europa bedrohenden Angriffskrieges der Sowjetunion dargestellt werden. Kurz nach der Goebbelschen Propagandawende gründete Außenminister Ribbentrop einen »Europa-Ausschuss« und gab Richtlinien »für die bei Kriegsende zu treffenden Regelungen der europäischen Neuordnung« heraus; diesmal sollte die Ausarbeitung konkreter Pläne vorerst unterbleiben: »Feststehend ist jedoch schon heute, daß das künftige Europa nur bei einer voll durchgesetzten Vormachtstellung des Großdeutschen Reiches Bestand haben kann. Die Sicherung dieser Vormachtstellung ist demnach als der Kern der künftigen Neuordnung anzusehen.« 47 '

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Teil 2: Verdrängte Erinnerungen N a c h Ribbentrops neuen Vorstellungen werde ein »Europäischer Staatenbund« entstehen, in den auch die deutsch besetzten Gebiete einbezogen werden sollten: »Es würde, wenn der Führer sich dazu verstehen will, aus bestimmten besetzten Gebieten noch eine Anzahl mehr oder weniger selbständiger Staaten zu machen, die dann trotzdem restlos in unserem Machtbereich sein würden, den Erfolg haben, daß eine starke Beruhigung und Anspannung der Kräfte für unseren Krieg in diesen Ländern eintreten würde. [...] Es ist meine felsenfeste Überzeugung, daß, wenn wir taktisch vorgehen, viel deutsches Blut gespart werden kann.« 472 Hitlers in Mein Kampf entworfenes Projekt der »Neuordnung Europas« wurde zu Beginn des Jahres 1943 in der NS-Propaganda durch einen neuen Entwurf ersetzt: Die nun herbeigesehnte »Neuordnung« sollte mit weniger konkret formulierten Zielen operieren, und die Vormachtstellung Großdeutschlands sollte nun flexibler und mit größerer politischer Rücksichtnahme auf die Befindlichkeiten anderer Völker gesichert werden. Goebbels' Vasallen machten sich umgehend an die Arbeit, so z. B. der seit 1940 an der deutschen Universität in Prag wirkende Ordinarius für Staatswissenschaften und spätere Bundesvertriebenenminister Theodor Oberländer (1905-1998). Seine anlässlich des Jahrestags »des deutscheuropäischen Kampfes gegen die Sowjets« verfasste Denkschrift v o m 22. Juni 1943 entsprach schon voll und ganz den neuen Richtlinien des Propagandaministers: »Der Krieg im Osten kann durch rein militärische Erfolge nicht gewonnen werden, sie müssen durch politische Maßnahmen ergänzt und unterstützt werden. [...] Hierzu gehören [...] Restlose Aufgabe der (in der Tat durch nichts begründeten) Auffassung, daß die Ostgebiete nur von »unterwertigen Menschen« bewohnt seien und daher im Kolonialstil des 19. Jahrhunderts regiert werden können. [...] Unsere Siedlungspläne sind von unserer Volkskraft abhängig, die begrenzt ist. Daher darf die Erreichung kriegswichtiger Nahziele nicht durch Propagierung uferloser Siedlungsziele unmöglich gemacht werden. [...] Die heute vertretene Auffassung von dem angeblichen geschichtslosen Menschenmaterial Osteuropa gleicht verhängnisvoll der Vorstellung Josephs II von der kulturellen Primitivität der Nationalitäten seines Reiches, deren bis heute nachwirkenden Folgen uns eindringlich warnen sollten. [...] Die augenblickliche innere Lage der Sowjetunion verspricht für eine politische Offensive im Sinne der vorgeschlagenen Maßnahmen einen besonderen Erfolg.«473 Die deutsche Propaganda suchte nun die Kooperation aller so genannten Ostvölker für den vermeintlichen deutschen Verteidigungskrieg gegen den Bolschewismus zu mobilisieren. Sowohl der deutschsprachigen Bevölkerung sowie allen anderen N a tionen im östlichen Europa stand nach wie vor noch Schreckliches bevor, aber propagandistisch fand ein Wandel statt: Das NS-Regime ersetzte die bis dahin populären Kolonialvisionen als Rechtfertigung seines Eroberungskrieges seit dem Winter 1942/43 durch antibolschewistische Gräuelpropaganda als Hauptmotiv bei der Rechtfertigung seiner Kriegsführung während des Rückzugs aus den besetzten Gebieten.

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Der beginnende Rückmarsch der Wehrmacht »When the Germans were retreating in January, they setfire to the villages. In Februray they started to round up thepeople and drive them away.«474 Zur selben Zeit gab Hitler jenen Rückzugsbefehl, der das letzte folgenschwere Kapitel in der deutschen Kriegsführung einleitete und einen weiteren Teil der später als Vertriebene bezeichneten Menschen aus dem östlichen Europa nach Deutschland brachte. »Unter deutscher Herrschaft waren Zwangsevakuierungen gang und gäbe« 475 , schreibt wie erwähnt der Historiker Dieter Pohl, und das sollte während der nationalsozialistischen Räumung des östlichen Europa dramatische Folgen für die gesamte Zivilbevölkerung haben, einschließlich der Deutschen. Auf den am 1. September 1939 begonnenen und 3 !4 Jahre dauernden Vormarsch der deutschen Wehrmacht in alle Himmelsrichtungen folgte der am 28. Dezember 1942 eingeleitete Rückmarsch aus dem östlichen Europa, der 2 !4 Jahre dauern und nicht weniger mörderisch verlaufen sollte. Zunächst sollte sich nur die Heeresgruppe A »schrittweise Zug um Zug in mehreren Abschnitten« 4 7 6 am Kaukasus zurückziehen, und viele Deutsche ahnten noch nicht, dass damit die endgültige Räumung der eroberten Gebiete begonnen hatte. Das weltweit bekannte Symbol für den Beginn des Rückzugs der Wehrmacht, der Sieg der Roten Armee vom 2. Februar 1943 bei Stalingrad, stand unmittelbar bevor. Die ersten Anweisungen für die »Rückzugsbewegung« wurden nicht erst im Winter 1942/43 erlassen. Dafür lagen schon Erfahrungen aus den so genannten Ausweichbewegungen vor; schon ein Jahr zuvor, am 29. Dezember 1941, hatte etwa die 7. Panzerdivision für die »Vorbereitung und Durchführung von Ausweichbewegungen« Befehle erhalten; beim Eingang eines Rückmarschbefehls war die Mitnahme des Viehs und sämtlicher Lebensmittel vorgesehen, alles Zurückgelassene sollte zerstört, das Vieh erschossen und verbrannt und Lebensmittel unbrauchbar gemacht werden. Angeordnet wurde auch die »Zerstörung (Abbrennen) sämtlicher Ortschaften« sowie der »Einsatz von besonderen Kommandos zum Abbrennen von abseits des Rückmarschweges gelegenen Dörfern«. 477 Dementsprechend berichtete der international bekannte Chronist der deutschen Kriegsführung in der Sowjetunion, Ilja Ehrenburg, schon am I I . März 1942: »Als sich die Deutschen im Januar [1942] zurückzogen, setzten sie Dörfer in Brand. Im Februar begannen sie, Menschen zu sammeln und wegzutreiben.« 478 In seinem 1943 in London erschienen Buch Russia at War wurde auch die internationale Öffentlichkeit über die Räumungspolitik der Nationalsozialisten informiert. 479 Ab dem Winter 1942/43 wurden die Räumungsmaßnahmen zu einem wichtigen Betätigungsfeld der Wehrmacht; sie begleiteten ihren Alltag während des gesamten Rückmarsches bis zum 8. Mai 1945. Dazu gehörten u. a. die Aufgaben, »sämtliche Waffen, Gerät, Material und Vorräte rechtzeitig zu bergen bzw. mitzuführen«, »sämtliche Bahnstrecken gründlich zu zerstören und das auf ihnen noch befindliche Breitspurenmaterial zu vernichten« oder »die in den geräumten Gebieten vorhandenen Unterkunftsmöglichkeiten für den Gegner im weitesten Umfange unbenutzbar zu machen, insbesondere die Heizmöglichkeiten zu zerstören«. 480 Die so genannte Eva-

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Teil 2: Verdrängte Erinnerungen kuierung der als einen Teil des Räumungsguts behandelten Zivilbevölkerung gehörte auf dem Rückmarsch der Wehrmacht ebenfalls zum Alltag. Im Führerbefehl Nr. 4 vom 16. Februar 1943 finden wir eine allgemein formulierte Vorwegnahme jener Evakuierungsmaßnahmen, die zu einer neuen Form nationalsozialistischer Massenverbrechen führten: »4.) Bei planmäßigen größeren Räumungen ist, wenn irgend möglich, die Masse der Zivilbevölkerung mitzunehmen und später als Arbeitskraft zu verwenden. Die Dörfer sind dann zu vernichten. 5.) Bei Räumungen sind alle deutsche Soldaten noch mehr als bisher als Verstärkung der Kampftruppe oder als Vernichtungstrupps oder als Verkehrsregelungsund Aufsichtsorgane zu erfassen und einzusetzen. Es darf nicht vorkommen, dass bei Rückwärtsbewegungen ein großer Schwärm sich mehr oder weniger ungeordnet nach hinten wälzt, viel Privatsachen mitführt und üble Gerüchte ausstreut.« 48 ' Solche Befehle weisen auf die offensichtlich schon damals bekannten praktischen Schwierigkeiten eines solchen Vorhabens hin. Das monströse Unternehmen, Millionen von Menschen wie Räumungsgut zu evakuieren, war nämlich nicht organisierbar. Das hätte zumindest der erfahrene Umsiedlungskommissar Himmler wissen müssen, der dennoch schon am 13. Februar 1943 in seinem Befehl an die Höheren SS- und Polizeiführer Ukraine und Russland-Mitte angeordnet hatte, dass beim Rückzug »die gesamte wehr- und arbeitsfähige, in erster Linie männliche, in zweiter Linie weibliche Bevölkerung zu evakuieren und zurückzunehmen« sei.482 Praktisch konnte ein solcher Befehl schon allein deshalb nicht ausgeführt werden, weil manche der in die Trecks getriebenen Menschen gar nicht in der Lage waren, die Strapazen zu überleben. Das schreckte die Räumungsorganisatoren gemäß den nationalsozialistischen Gepflogenheiten nicht ab, und sie bedienten sich auch in diesem Falle der ihnen eigenen Problemlösungen: So geht aus einem Bericht von Begleitsoldaten hervor, »daß man während des Marsches Zusammengebrochene umgelegt hätte« und einige Kinder gestorben seien, so dass von einem Treck von 1 000 Menschen bald nur noch 850 gelebt hätten. 483 Am 2 1 , September 1943 wurden in einem Befehl im Heeresgebiet N o r d die »Grundsätze für die Evakuierung« folgenderweise erläutert: »1.) Dem Feind sollen keine verwendbaren Leute überlassen werden. 2.) Die Evakuierung erfolgt in der Hauptsache in Trecks zu etwa I 000 Personen im Landmarsch bei durchschnittlichen Tagesleistungen von 12 bis 15 km. 3.) Notwendiges Hausgerät, Handwerkzeug, Lebensmittel und Vieh, soweit noch vorhanden, sind mitzunehmen [...]. 5.) Die Familien haben sich während des Marsches selbst zu verpflegen. Nur Brot ist unterwegs zu liefern [...]. 10.) Die Räumung beginnt gleichzeitig in allen Räumen. Es sind insgesamt etwa 900 000 Menschen zu evakuieren [...]. Man schätzt 50 % jedes Trecks als arbeitsfähig. Kinder gelten vom 10. Lebensjahr ab als Arbeiter. [...] 13.) Die Evakuierung muß durch Propaganda vorbereitet werden. [...] Propagandatendenz hat zu sein: Verständlichmachung der deutschen Maßnahmen, begründet mit vermehrter Luftgefahr und durch Berichte über Behandlung der Bevölkerung bei Rückkehr der Bolschewisten bei Mitte und Süd (Greuel an der Zivilbevölkerung).«484

In der Sowjetunion zwischen »Heimkehr« und »Räumung« Die »Räumung« der Bevölkerung begleitete den Rückzug der Wehrmacht bis zum Kriegsende: »Seit dem Herbst 1943 wurden die deutschen ARLZ-Maßnahmen (Auflockerung, Räumung, Lähmung, Zerstörung) planmäßig und systematisch so durchgeführt, daß die Bevölkerung großer Gebiete hinter der Front abtransportiert wurde, lange bevor der Beginn eines weiteren Rückzugs absehbar war.« 485 Als Rechtfertigung diente ebenfalls bis zum Kriegsende eine und dieselbe »Propagandatendenz«: Berichte über sowjetische Gräuel an der Zivilbevölkerung oder, wie es Goebbels verkürzt nannte, die »Greuelpropaganda«. 486 Da solche Zwangsevakuierungen praktisch nicht durchführbar waren, wurden sie von Massenverbrechen schier unvorstellbarer Ausmaße begleitet, wie sie etwa in den Todeslagern bei Osaritschi in Weißrussland stattfanden. Daran erinnert die Staatliche Gedenkstätte Chatyn mit folgender Erklärung: Hier seien von der Wehrmacht im März 1944 drei von Stacheldraht umgebene Lager errichtet worden, in denen über 50 000 nicht arbeitsfähige Frauen, Kinder und alte Menschen zusammen mit den an Fleckfieber und anderen Infektionskrankheiten Erkrankten ohne Unterkunft, weitgehend ohne Lebensmittel und oft selbst ohne Wasser festgehalten worden seien. Tausende von ihnen hätten ihr Leben verloren. Am 18.-19. März 1944 befreiten die Truppen der 65. Armee der 1. Belorussischen Front aus den Lagern in Osaritschi 33 480 Menschen, darunter 15 960 Kinder im Alter unter 13 Jahren, und fanden 8 000 bis 9 000 Tote.487 Der Historiker Christian Gerlach hat dieses Erinnerungsbild präzisiert: »Die drei Sammellager befanden sich in einem Sumpfgebiet in Frontnähe. Dort wurden Insassen schutzlos bei Schnee-, Frost- und Matschwetter in mit Stacheldraht umzäunten Arealen festgehalten, ohne jegliche sanitäre Einrichtungen, ohne medizinische Versorgung, umgeben von vielen, niemals entfernten Leichen, binnen acht bis zehn Tagen nur zwei- bis dreimal versorgt mit Broten, die in völlig unzureichender Menge von Lastwagen aus einfach über den Zaun geworfen wurden. Die Wachmannschaften der 35. Infanteriedivision schössen oft beim geringsten Anlaß oder ganz ohne Grund, auch auf Kinder, wie schon auf dem Marsch; manche Posten sogar auf Versuche der Internierten hin, vom Sumpfwasser zu trinken, Feuer zu machen oder zuweilen nur den Kopf zu heben. Täglich wurden Menschen abtransportiert - zur Erschießung. Obendrein wurden, wie Aussagen zweifelsfrei belegen, gezielt Typhuskranke unter die Lagerinsassen gemischt, die Lager mit Mörsern beschossen und schließlich vermint, um den Vormarsch der gegnerischen Truppen in jeder denkbaren Weise aufzuhalten.«488 Anderswo, wie in Chatyn, wurde die Bevölkerung einfach in einer Scheune zusammengetrieben und verbrannt. Im Zuge dieser Evakuierungen wurden ganze Städte wie Witebsk, Mogilew und Orscha bis zur Jahreswende 1943/44 weitgehend menschenleer. Zum Gedenken an 2 230 000 umgekommene Einwohner von Belarus - an jeden vierten — wurde an der Stelle des samt Einwohnern verbrannten Dorfes Chatyn im Jahre 1969 die erwähnte Gedenkstätte errichtet. Der zuvor für die Vision vom Aufbau der neuen Ostgebiete kämpfenden Wehrmacht wurden so im Zuge der Räumung »neue« Aufgaben auferlegt, wobei ein bald zunehmender Verlust an Disziplin nicht verhindert werden konnte. Die nationalsozialistische Räumung wurde nämlich von dramatischen Missständen in der Wehrmacht begleitet. Schon am 25. Februar 1943 fühlte sich selbst Hitler zu einem ermahnenden Führerbefehl veranlasst:

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Teil 2: Verdrängte Erinnerungen »Ich habe erfahren, daß es bei den in den letzten Wochen befohlenen Rückzugsund Räumungsbewegungen teilweise zu unerfreulichen, undisziplinierten und für den tapferen Frontsoldaten niederziehenden Bildern, besonders in den Großstädten und auf Hauptrückmarschstraßen gekommen ist. [...] Ich verlange deshalb, daß jeder Vorgesetzte - Offizier wie Unteroffizier oder in besonderen Lagen jeder beherzte Mann - die Durchführung seiner Befehle und die Aufrechterhaltung von Disziplin und Ordnung nötigenfalls mit Waffengewalt zu erzwingen und Ungehorsame auf der Stelle zu erschießen hat. Das ist nicht nur sein Recht, sondern sein[e] Pflicht. Tut der Vorgesetzte das nicht, setzt er sich derselben Lage aus. Es ist falsch, auf eine spätere gerichtliche Bestrafung zu warten.« 489 Die offensichtlich demoralisierten und chaotisch flüchtenden Wehrmachtsangehörigen behandelten die Evakuierten oft als Hindernis auf ihren Fluchtwegen. Da nach den neuen Richtlinien des Propagandaministers die sinnlose Kriegsführung nicht mehr als ein Eroberungskrieg präsentiert, sondern zum Abwehrkampf gegen den Bolschewismus umgedeutet wurde, sollten die zwangsevakuierten Menschen aller Nationalitäten, deren Heimatgebiete man systematisch zerstörte, nun propagandistisch als »Flüchtlinge« erscheinen. Die »Trecks«, die 1939 das Symbol der »Heimkehr« deutscher Minderheiten aus dem östlichen Europa gewesen waren, wurden in das Symbol der »Flucht vor der bolschewistischen Gefahr« verwandelt, und das Image der kurz zuvor als Befreier deutscher Minderheiten im östlichen Europa bejubelten Wehrmacht wurde durch das Bild der Wehrmacht als Beschützer der Flüchtlinge ersetzt. Zu den Opfern dieser Räumungspolitik gehörten auch die Deutschen aus den besetzten sowjetischen Gebieten.

Die Sowjetdeutschen zwischen der NS-Räumungspolitik und der >Heimkehr< danach »Die Evakuierung der Zivilbevölkerung setzte den Schlusspunkt unter die verbrecherische Besatzungspolitik«, schreibt Dieter Pohl. Mindestens zwischen 2,3 und 2,7 Millionen Menschen sollen allein in der Sowjetunion gezwungen worden sein, ihre Heimat zu verlassen: »Selbst nach Schätzungen der [deutschen] Militärs wollten sich 10, höchstens 15 % der Bewohner den Trecks anschließen. So blieb das Ziel einer Totalräumung meist illusorisch und die Truppen konzentrierten sich auf Verschleppung der Männer und Frauen im arbeitsfähigen Alter. Dabei spielten sich oft schreckliche Szenen ab; Mütter wurden von ihren Kindern getrennt, Familien auseinandergerissen. Männer, die sich weigerten mitzukommen, wurden zumeist als Gefangene behandelt, nicht selten an Ort und Stelle erschossen. Möglicherweise wurde generell Weisung gegeben, solche Personen, die sich der Evakuierung widersetzten, einfach umzubringen.«490 Es liegen Hinweise auf Anordnungen vor, »wonach Menschen, die dem Befehl zum Rückmarsch nicht Folge leisteten und Vieh, das nicht mitgenommen werden könne, zu erschießen sei«. 49 ' Auch für die deutsche Bevölkerung waren die Folgen dieser Räumungsmaßnahmen verheerend.

In der Sowjetunion zwischen »Heimkehr« und »Räumung«

So wurde beispielsweise der Volksdeutsche Selbstschutz von Transnistrien, auf den bei der Räumung neue Aufgaben zukamen, reorganisiert. Am 4. Februar 1943 befahl Himmler 3 000 - rund ein Drittel - der Selbstschutzangehörigen für die SS-Kavallerie-Division »Florian Geyer« ohne Wissen der rumänischen Behörden zu rekrutieren. Sie sollten durch gezielte Bekämpfung der Partisanen für die Wehrmacht Freiräume schaffen und für die Räumung der mitzunehmenden verwendbaren Güter sorgen; Anfang April wurden 2 263 Männer rekrutiert, und bis Anfang Juni 1943 waren insgesamt 7 700 Transnistrien-Deutsche der Waffen-SS beigetreten.492 Zu welchen Ergebnissen eine »erfolgreiche« Räumungsaktion führte, ist etwa dem Bericht vom 10. Juni 1943 zu entnehmen: 1 114 »Banditen und Banditenverdächtige« seien während einer Operation ermordet worden, man habe 61 Dörfer niedergebrannt, 10 422 Zivilisten evakuiert und 5 676 Rinder, 1 073 Kälber, 3 153 Schafe, 1 223 Pferde, 40 Fohlen, 1 398 Schweine und Ferkel, 633 Gänse und Enten sowie 1588 Hühner »erfasst«.493 Hätte sich diese Räumungsaktion nicht unter so grauenhaften Umständen abgespielt, könnte man dieses Bild für eine Karikatur des deutschen Rückmarsches halten. Aber die Folgen solcher Aktionen waren tragisch. Mord und Vernichtung ebenso wie absurde bürokratische Fürsorge für das mitzuschleppende Raubgut waren prägende Merkmale der gesamten Räumung bis zum Kriegsende: So sind etwa beim Rückzug vom Kaukasus allein im Gebiet Stawropol 30 000 Menschen ermordet worden, bei Sytschewka wurden von 248 Ortschaften 137 niedergebrannt, während aus dem Gebiet Rostov 300 000 t Getreide, 154 800 Stück Rindvieh und 93 800 Pferde abtransportiert wurden.494 Im März 1944 wurde die 17. Armee der Wehrmacht auf der Krim eingeschlossen, kurz danach Odessa geräumt: »Die Vernichtung der Heeresgruppe Mitte Anfang Juli 1944 bedeutete faktisch den Zusammenbruch der Ostfront.«495 Zwischen dem Herbst 1943 und Sommer 1944 wurden etwa 350 000 Menschen deutscher Bevölkerung auf behördliche Anordnung evakuiert; nach anderen Angaben »kamen rund 250 000 Volksdeutsche aus Transnistrien, Wolhynien und dem Gebiet zwischen Dnjepr und Donez in den Warthegau«.496 Unmittelbar danach, am 13. Juli 1944, erließ Hitler seine Verfügung über die in einem Operationsgebiet innerhalb des Reiches zu treffenden Maßnahmen und leitete damit jene chaotische Räumung der großdeutschen Ostgebiete ein, mit der wir uns weiter unten befassen werden. Zwischen dem Beginn des Rückzugs aus dem Kaukasus im Dezember 1942 und dem Räumungsbefehl vom 4. August 1944 im Memelgebiet, an den der erste in der Schiederschen Dokumentation der Vertreibung abgedruckte Zeugenbericht erinnert497, lagen jene Monate, in denen Deutsche aus den besetzten sowjetischen Gebieten - vor allem aus der Ukraine und Transnistrien - einen langen sinnlosen Weg nach Deutschland erlebten. Als »sämtliche deutschen Altsiedelgebiete im Schwarzmeergebiet« aufgegeben werden »mußten«498, wurden auch ihre deutschen Bewohner evakuiert, wie z. B. der Historiker Rolf-Dieter Müller zeigt. Er weist darauf hin, dass der größte Teil von ihnen in Trecks, der kleinere Teil auf der Bahn transportiert wurde, dass von der »fahrenden Habe« nur wenig gerettet werden konnte, dass aber »der ganze Viehbestand« mitgeschleppt werden musste, obwohl keineswegs klar war, wohin die Reise ging:

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Teil 2: Verdrängte Erinnerungen »Bis Ende September 1943 waren bereits 67 000 östlich des Dnjcpr evakuiert worden. Nur ein kleiner Teil wurde direkt in den Warthegau überführt. Die Mehrzahl wurde provisorisch in alten Volksdeutschen Siedlungen der Westukraine untergebracht - für den Fall, daß sich das Kriegsglück wieder wenden sollte. Da ihre Unterbringung - es handelte sich bald um mehrere hunderttausend Menschen größte Probleme bereitete und immer wieder der Kriegslage angepaßt werden mußte, zogen die Trecks am Ende doch in den Warthegau. Dort warteten sie in Zwangslagern der SS auf ihre »Durchschleusung« und spätere »Ansetzung«. Viele von ihnen hatten den Eindruck, »Arbeitssklaven« zu sein.«499 Selbst der Völkische Beobachter machte am 2 1 . Juli 1944 darauf aufmerksam, dass die Räumung unter äußerst schwierigen Bedingungen erfolge, und der Migrationsforscher Joseph B. Schechtman berichtete schon im Jahre 1948 über das entsprechend schwere Schicksal der Betroffenen. 500 Der heute bekannteste Historiker dieser »vertriebenen« Deutschen, Alfred Eisfeld, beschreibt ihr Schicksal wie folgt: Der in der Ukraine auf den Weg ins Unbekannte geschickte Treck sei ein Zug von rund 90 000 Personen mit Fuhrwerken und Vieh gewesen; in einem nächsten Treck seien bald weitere 125 000 Menschen aus Transnistrien gefolgt, die zwischen Januar und Juli 1944 rund 2 000 km zu F u ß zurücklegen mussten. Rund 70 000 von ihnen seien durch Ungarn und über 38 000 durch Bulgarien nach Deutschland »geleitet« worden. Man kenne keine annähernd präzisen Zahlenangaben darüber, wie viele die Evakuierung überlebt hätten; nur »das Fehlen von 20-25 ° 0 ° Personen aus Transnistrien in diesen Trecks« werde erwähnt. 501 Insgesamt sollen - wie gesagt - zwischen dem Herbst 1943 und Sommer 1944 etwa 350 000 Volksdeutsche auf behördliche Anordnung evakuiert worden sein, während »rund 250 000 Volksdeutsche aus Transnistrien, Wolhynien und dem Gebiet zwischen Dnjepr und Donez in den Warthegau« gekommen sein.»02 Die evakuierten Sowjetdeutschen wurden in Deutschland nicht als »Landsleute« willkommen geheißen und als Menschen in N o t behandelt. Das lag am mangelhaften humanen Empfinden der Nationalsozialisten, aber auch an den in der deutschen Öffentlichkeit verbreiteten Vorurteilen gegenüber dem »Osten«. Goebbels brachte seine zynische Haltung diesen »heimgekehrten« Menschen gegenüber etwa am 8. März 1945 in seinen Tagebüchern so zum Ausdruck: »Unterwegs treffen wir Trecks über Trecks, vor allem von Schwarzmeer-Deutschen. Was da unter der Marke deutsch in das Reich hineinströmt, ist nicht gerade erheiternd. Ich glaube, daß im Westen mehr Germanen mit Gewalt in das Reich eindringen, als im Osten Germanen friedlich in das Reich kommen.« 503 In Goebbels' Augen entsprachen die Sowjetdeutschen nicht den nationalsozialistischen Germanenbildern, und zu einer ähnlichen Schlussfolgerung kamen auch die Rasseexperten: Sie beklagten die »mehr oder minder starke Vermischung mit fremdem Volkstum«. 504 Von den nachrückenden sowjetischen Behörden wurden die so genannten Schwarzmeerdeutschen, als sie in Polen eingeholt wurden, nicht wie andere Deutsche behandelt, da die »Rote Armee strenge Anweisungen hatte, zwischen den ehemaligen Sowjetbürgern [...] und den Deutschen polnischer Staatsangehörigkeit große Unterschiede zu machen«. Wie ein aus Wolhynien 1939 umgesiedelter Deut-

In der Sowjetunion zwischen »Heimkehr« und »Räumung« scher berichtet, achteten die sowjetischen Behörden auch auf den Unterschied zwischen den so genannten Vertragsumsiedlern, also denjenigen Deutschen, die auf Grund völkerrechtlicher Vereinbarungen zwischen den Dritten Reich und der Sowjetunion umgesiedelt worden waren auf der einen Seite, und auf der anderen den im Zuge der Räumung evakuierten Deutschen. 505 Wie man jedoch in der Sowjetunion auch sonst keinen Wert auf die individuellen Wünsche einzelner Bürger zu legen pflegte, so wurden auch die evakuierten Sowjetdeutschen repatriiert, wo immer man sie fand, unabhängig davon, ob sie dies wünschten oder nicht. Solche Deportationen sollen zwischen Februar und Oktober 1945 ca. 224 000 und danach weitere Zehntausende Menschen betroffen haben, die aber nicht in ihre Vorkriegsheimat zurückkehren durften. 506 Viele von ihnen wurden Verfolgungen ausgesetzt, die Glücklicheren durften sich in den östlichen Teilen der UdSSR eine neue Heimat suchen. Darüber hinaus übergaben 1945 die USA 27 956 s ° 7 Sowjetbürger in deutscher Uniform den sowjetischen Behörden. Im Jahre 1948 wurden in der Sowjetunion 1 012 754 Deutsche in den so genannten Sondersiedlungen registriert. 508 Rund 70 000-80 000 5 0 9 der während des Krieges evakuierten Sowjetdeutschen sollen nach dem Krieg in Westeuropa und Übersee gelebt haben. 510

Nach dem Desaster der Räumung bemühte sich die Bundesrepublik nach dem Krieg erneut um die »Heimholung« der Sowjetdeutschen. Die durch die NS-Behörden durchgeführte Einbürgerung wurde durch das Gesetz zur Regelung von Fragen der Staatsangehörigkeit vom 22. Februar 1955 von der Bundesrepublik anerkannt, und zwischen 1950 und 2006 siedelten 2 341 128 Menschen aus der Sowjetunion und ihren Nachfolgestaaten als Deutsche in die Bundesrepublik um. 5 " Der Bund der Vertriebenen gebärdet sich als Anwalt dieser Neuankömmlinge: »Die aus Russland heimkehrenden Deutschen verdienen unsere Solidarität.« 512 Die Geschichte dieser »Heimkehrer«, meist Spätaussiedler genannt, soll auch in dem vom BdV geforderten Vertreibungsmuseum behandelt werden, wie etwa 2005 in der BdVZeitung Deutsche Umschau zu lesen war: »Mit der Rückkehr von fast 2,7 Millionen Deutschen aus den GUS-Staaten ist unser Land nicht allein um die Anzahl Einwohner reicher geworden, sondern wir müssen für diese neuen Mitbürger ein grundsätzliches Maß an Verständnis und Sensibilität entwickeln«, wird gemahnt, und deshalb könne »das hoffentlich schon bald entstehende Zentrum nicht ohne eine Sektion »Verfolgung und Vertreibung der deutsch-stämmigen Menschen in den GUS-Staaten« konzipiert werden«. Die Erklärung dieses Vorschlags weist allerdings keineswegs auf die oben geschilderten Lebenserfahrungen zwischen 1933 und 1945 hin. Da bisher niemand die Frage geklärt hat, wer von den als Vertriebene bezeichneten Menschen wann und von wem eigentlich vertrieben wurde, werden die einstigen Sowjetdeutschen manchmal als Opfer der Vertreibung erwähnt und manchmal nicht. Die Erinnerung an sie ist voller Lücken: Ihre unterschiedlichen Lebenswege unter der deutschen Besatzung werden kaum erwähnt, noch viel weniger ihre Rolle in dem verbrecherischen Kolonialprojekt; auch über ihre Evakuierung durch deutsche und anschließende Repatriierung durch sowjetische Behörden wird selten

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Teil 2: Verdrängte Erinnerungen berichtet. Meistens werden die Sowjetdeutschen einfach als Opfer der Alliierten präsentiert, denen die deutsche Wehrmacht nicht zu helfen vermochte: »Der Beginn des deutsch-sowjetischen Krieges im Juni 1941 löste für den Großteil der Rußlanddeutschen endgültig die Katastrophe aus: Am 28. 8. 1941 verfügte das »Präsidium des Obersten Sowjets der UdSSR« die Deportation der Wolgadeutschen nach Sibirien und Mittelasien [...] 280 000 Rußlanddeutsche, denen 1941 in den westlichen Randregionen der Ukraine wegen des raschen Vormarsches der Wehrmacht die Deportation erspart geblieben war und die sich 1943/44 mit der Deutschen Wehrmacht nach Westen bewegten, wurden 1945/46 von den westlichen Alliierten den Sowjets ausgeliefert und in die asiatischen Teile der UdSSR deportiert.« 5 ' 3 Dies ist, milde gesagt, ein verzerrtes Bild, aber gerade diese Verzerrung hat im Erinnern eine eigentümliche Tradition herausgebildet. In der ersten statistischen Übersicht der »Verschiebungen der Bevölkerung in Ostdeutschland und Osteuropa seit 1917« von Gotthold Rhode wurde 1952 über 561 000 Deutsche berichtet, die nach Sibirien und in die zentralasiatischen Republiken der Sowjetunion zwangsumgesiedelt wurden, ohne die Schicksale der anderen zu erwähnen. 5 ' 4 Auf den Internetseiten des Bundes der Vertriebenen konnten wir dagegen im Jahre 2008 erfahren, dass 900 000 Russlanddeutsche zwischen August 1941 und Juni 1942 durch die Sowjetunion nach »Sibirien, Mittelasien etc.« vertrieben worden und dabei 210 000 Menschen umgekommen seien. 5 ' 5 Im Schwarzbuch der Vertreibung ist Folgendes zu lesen: »Insgesamt wurden mindestens 900 000 Rußlanddeutsche verschleppt. Dazu kamen nach dem Krieg noch ca. 300 000 zwangsrepatriierte Flüchtlinge. Die Verschleppung der Rußlanddeutschen stellt die einzige Vertreibung von Westen nach Osten dar. Ziele waren der Ural, Sibirien und andere asiatische Landesteile, vor allem Kasachstan. Sehr hohe Verluste ergaben sich durch die katastrophale Unterbringung an den Zielorten (vor allem im Winter), durch ebensolche Zustände während des Transports und teilweise durch Massaker beim Abtransport wie im Fall der Wolgadeutschen.«516 In den beiden oben vorgestellten Vertreibungsausstellungen 2005/2006 5 ' 7 wurde an die schweren Lebenserfahrungen der Sowjetdeutschen nahezu überhaupt nicht erinnert. In der vom Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland im Jahre 2005 organisierten Ausstellung über Flucht und Vertreibung wurden sie nicht behandelt, und in der darauf folgenden Berliner Ausstellung Erzwungene Wege wurde nur die »Deportation der Deutschen innerhalb der Sowjetunion« kurz erwähnt. 5 ' 8 Der Bund der Vertriebenen tritt als Schirmherr und die Landsmannschaft der Deutschen aus Russland als politische Repräsentation der heutigen Einwanderer aus den GUS-Staaten auf: »Deutsche aus der ehemaligen Sowjetunion stellen inzwischen rund 3,5 Prozent der bundesdeutschen Gesamtbevölkerung«, war etwa 2008 in den Beschlüssen der Bundesversammlung des BdV zu lesen; bemängelt wurde u. a., dass es weder im Deutschen Bundestag noch in einem Landtag oder auf Stadt- und Bezirksebene eine angemessene Repräsentation dieser Volksgruppe gebe. 5 ' 9 Der BdV macht sich auch Sorgen angesichts der sinkenden Zahl der »heim-

In der Sowjetunion zwischen »Heimkehr« und »Räumung«

kehrenden« Deutschen aus den GUS-Staaten: »Laut offiziellen Angaben gingen die Spätaussiedlerzahlen im vergangenen Jahr ganz erheblich zurück. Nachdem die Zahlen bereits 2005 von 59 093 im Jahr 2004 auf 35 522 gesunken waren, wurde 2006 mit nur mehr 7 747 ein Besorgnis erregender Wert erreicht.«520 Als Hauptgrund für den rapiden Rückgang wird »die Überbetonung deutscher Sprachkenntnisse im Aufnahmeverfahren« angeprangert.52' Um die Geschichte der Sowjetdeutschen während des Zweiten Weltkriegs kümmert sich der Bund der Vertriebenen zwar erstaunlich wenig, dafür wirbt er um Sympathien für die »Heimkehrer« mit den traditionellen Hinweisen auf ihre »Nützlichkeit« für Deutschland: »Bei Spätaussiedlern aus den Staaten der ehemaligen Sowjetunion handelt es sich um eine ausgesprochen junge Volksgruppe, die dazu beiträgt, die demographische Struktur eines vergreisenden Landes zu verbessern.«522 In solchen Formulierungen scheint die 60 Jahre zurückliegende Geschichte eher fortzuleben als dem Erinnern an ein Kapitel der deutschen Geschichte anzugehören. Vor allem ist es aber nicht rational nachvollziehbar, was unter dem Begriff Vertreibung zu verstehen ist, wenn wir wissen, dass im Jahre 1926 in der Sowjetunion 1,2 Millionen Deutsche lebten, wenn wir ihre Geschichte kennen und heute hören, dass fast drei Millionen Angehörige dieser Volksgruppe in Deutschland leben und der Bund der Vertriebenen als ihre politische Repräsentation gilt. Aus der Sowjetunion wurden Deutsche weder vertrieben noch ausgewiesen. Vertrieben wurden von dort nur die Wehrmacht und das deutsche Besatzungsregime. Solange man die Erinnerungen daran verdrängt, wie das NS-Regime die deutschen Minderheiten im östlichen Europa einschließlich der Sowjetdeutschen entsprechend den von ihm praktizierten Nützlichkeitskriterien missbrauchte, und wie die NS-Behörden reagierten, als sie selbst aus den besetzten Gebieten vertrieben wurden, kann man die Geschichte der deutschen Bevölkerung aus der Sowjetunion weder kennenlernen, noch sie verstehen und erklären.

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Über die Rückführung Südost< »Den Begriff'^. Kolonne< gab es damals noch nicht, er kam erst im Spanischen Bürgerkrieg auf. Aber alles, was man seither unter diesem Bilde versteht, verlangte Hitler von den Volksdeutschen« J2}

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ie wir im vorigen Kapitel gesehen haben, stellt die 1943/44 erfolgte Räumung der Sowjetunion einen wichtigen Zeitabschnitt in der Geschichte der Umsiedlungen deutscher Bevölkerung dar: den Übergang zwischen denjeningen Umsiedlungen, die propagandistisch als beglückende »Rückführung« in das deutsche Vaterland angepriesen wurden, und den Evakuierungen, die, ebenfalls von den NS-Behörden organisiert, als eine vermeintlich rettende »Flucht« vor sowjetischen Gräueln präsentiert wurden. Manchmal bediente man sich des Begriffs »Rückführung« in beiden Fällen. Wie fließend der Übergang war, können auch die Erinnerungen an die Evakuierungen der Deutschen aus dem südöstlichen Europa von 1944/45 veranschaulichen. Damals wurden die Lebensbedingungen der deutschen Minderheiten im östlichen Europa um ein weiteres Stück zerstört, wie beispielsweise aus den Memoiren des österreichischen Militärhistorikers und Generals Edmund Glaise von Horstenau (1882-1946) hervorgeht. Er schrieb sie in Nürnberg nieder, wo er als ehemaliger deutscher Bevollmächtigter General in Kroatien inhaftiert war und Selbstmord verübte. Anders als Alfred Rosenberg bemühte er sich nicht, die nationalsozialistische Nationalitätenpolitik als einen »edlen Gedanken« darzustellen. Die deutschen Minderheiten seien vom NS-Regime von Anfang an missbraucht worden, meinte er: »Den Begriff »5. Kolonne« gab es damals noch nicht, er kam erst im Spanischen Bürgerkrieg auf. Aber alles, was man seither unter diesem Bilde versteht, verlangte Hitler von den Volksdeutschen: Aufgabe jeder Treueverpflichtung gegenüber dem Wirtsstaate, bedingungslosen Gehorsam gegenüber seinen (Hitlers) Befehlen, vollste Opferbereitschaft in diesem Sinne. Was Hitler unter solchen »Aufträgen« verstand, hat man in diesem Kriege vor allem in Polen und Jugoslawien erleben können.« 524 Glaise von Horstenau verwies auf Erinnerungen, die heute weitgehend verdrängt sind, nämlich daran, wie die Regierungen der mit Deutschland verbündeten Staaten Slowakei, Ungarn, Rumänien und Kroatien genötigt wurden, »den deutschen Volksgruppen eine Autonomie einzuräumen, die sie zu einem Staat im Staat machte«, und wie die Deutschen damit ihren ehemaligen Status als Mitbürger ihrer Nachbarn schon während des Krieges verloren: »Natürlich trug Himmler als »Reichskommissar für die Festigung des deutschen Volkstums« Sorge dafür, daß an Stelle gemäßigter Volksgruppenführer radikale Leute gesetzt wurden, verläßliche Parteigenossen, die als SS-Führer noch besondere Bindungen an ihn hatten. Bodenständigkeit im Wirtslande war weniger wichtig. Geradezu grotesk war es, daß im Bereiche der Volksgruppen Doppelvereidigung auf das Staatsoberhaupt des Wirtsstaates und zugleich auf Adolf Hitler als den

Über die »Rückführung Südost«

Abb. 12 Das Großdeutsche Reich zerstörte auch die Staatenordnung im südöstlichen Europa, wie aus dem 1942 erschienenen Buch 'Der Krieg 1939/41 in Karten< hervorgeht: »Die mit dem Beginn dieses Krieges eingeleitete Revolutionierung der europäischen Landkarte tritt im Südosten besonders sinnfällig zutage«. Die Folgen für das heutige Slowenien wurden so umschrieben: »Der Rückgliederung der Untersteiermark an das Reich ging der Anschluß der Oberkrain an den Gau Kärnten parallel. Das restliche Slowenien einschließlich der Stadt Laibach kam an Italien.« Propagandistisch begründeten die Nationalsozialisten die Zerschlagung der bestehenden Staatsgrenzen so: »Die Grenzen, die aufgrund der Verzahnung der Volkstümer in dieser Zone nie eine vollgültige Lösung aller territorialen Fragen bringen können, werden damit nicht verschwinden. Aber sie werden - zugunsten eines höheren Ordnungsgedankens - aufhören, die Grundlage allen Denkens, sozusagen den 'höchsten Wert' darzustellen.«

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Teil 2: Verdrängte Erinnerungen obersten Führer des deutschen Volkes Mode wurde. »Freiwillige« SS-Kämpfer aus den Reihen der Volksdeutschen sahen sich auf dem Schlachtfelde an beide Eide gebunden, eine ethisch unmögliche Angelegenheit. Daß Heinrich Himmler in seinem Traum von einem den Krieg überdauernden stehenden SS-Hecr sehr bald auf die gesamte Männlichkeit der Volksgruppen zu greifen [sie] begonnen hat, versteht sich von selbst.«525 Im deutschen Erinnern weiß man wenig von der Rolle der deutschen Minderheiten in der nationalsozialistischen Kriegsführung im südöstlichen Europa. Ähnliche Unklarheit herrscht auch in der Frage, wie die als Vertriebene bezeichneten Menschen aus diesem Teil Europas nach Deutschland gelangt sind. Es liegen Hinweise vor, dass die »Vertriebenen« aus Südosteuropa nicht einfach »vertrieben« wurden, und erst recht nicht nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs. Klar ist dagegen, dass alle Angehörigen dieser deutschen Minderheiten durch das nationalsozialistische Regime in eine Situation gebracht worden waren, die ihnen viel Leid und einem Teil von ihnen auch den Heimatverlust brachte. Sehr viele haben darüber hinaus zwischen 1939 und 1945 ihr Leben verloren. Wie Glaise von Horstenau in seinen Memoiren schildert, gerieten die Deutschen im südöstlichen Europa schon gleich mit Kriegsbeginn in eine äußerst schwierige Lage. Im südöstlichen Europa lebten zahlenmäßig nur sehr kleine deutsche Minderheiten, dennoch schätzte die NS-Obrigkeit die »Bedeutung des Südostens« hoch ein: »Beherrschung des Balkans als Bestandteil der Festung Europa« sei »aus operativen, militärpolitischen und wirtschaftlichen Gründen kriegsentscheidend«, stellte etwa der Chef des Oberkommandos der Wehrmacht, Generalfeldmarschall Wilhelm Keitel, in einem Vortrag am 7. November 1943 fest. Dabei wies er auf die Rohstoff schätze hin: Im Balkan liege 50 % der europäischen Gesamterzeugung an Mineralöl, 100 % der Erzeugung von Chromerz, 60 % von Bauxit, 29 % von Antimon und 21 % von Kupfer. Die Lage der dort lebenden Deutschen schätzte er weniger positiv ein: »In dem von uns besetzten Teil des Balkans herrscht der Kleinkrieg gegen zum Teil gut bewaffnete, von den Angelsachsen unterstützte Banden in einer Gesamtstärke von rund 140-150 000 Mann.««526 Starker Widerstand behinderte das NS-Regime bei der Verwirklichung seiner Pläne zur »Neuordnung Europas« im südöstlichen Teil des Kontinents, und auch nicht alle U m siedlungspläne konnten verwirklicht werden. So scheiterte beispielsweise die 1943 von Hitler verkündete Absicht, »die Volksdeutschen aus Rumänien und Ungarn zurückzusiedeln, gleichgültig, ob die Gastländer dies wünschen oder nicht«, an der ablehnenden Haltung sowohl des Auswärtigen Amtes als auch der betroffenen Menschen bzw. »an der Überzeugungskraft der von ihnen vorgebrachten politischen und technischen Gegengründe«, wie der Historiker Hans-Ulrich Wehler feststellte. 527 Zum südöstlichen Europa hatte das nationalsozialistische Regime zwar ein anderes Verhältnis als zum »Osten«, aber auch der »Südosten« erschien den Nationalsozialisten nützlich. Deshalb wollten sie auch diesen Teil des Kontinents beherrschen. Neben dem »operativen, militärpolitischen und wirtschaftlichen« Nutzen glaubten sie auch hier über eine besondere historische Eignung zur Herrschaft zu verfügen: »Die Geschichte des Südostraumes ist zu allen Zeiten auch Geschichte unseres Volkes, Geschichte germanischer und dann deutscher politischer Führung

Über die »Rückführung Südost«

gewesen.«528 Einem Lehrbuch über Südosteuropa für Soldaten ist zu entnehmen, dass die deutsche Politik zusammen mit dem faschistischen Italien 1940 den »Grundstein für eine neue staatliche und völkische Ordnung des Südostraumes, in der auch den deutschen Volksgruppen ihr Recht wird«, gelegt habe.529 Durch die Schaffung neuer und mit Deutschland verbündeter Staaten werde jene vermeintliche Störung beseitigt, die »der Staatsgedanke westlicher Prägung« schon im 19. Jahrhundert auch im südöstlichen Europa bewirkt habe: »Parlamente und Verfassungen erschienen als höchstes politisches Ziel«. Parlamentarismus gefiel den NSAutoren ebenso wenig wie demokratische Emanzipation, und auch die »Einmischungspolitik«530 der westeuropäischen Staaten sowie die »Bildung der nationalen Balkanstaaten«53' mochten sie nicht. Die »Einordnung des Südostens in das Paktsystem der Achsenmächte« zwischen 1939 und 1941 wurde dagegen als historischer Erfolg begrüßt: »So steht der Südosten im Kampf gegen Bolschewismus und Plutokratie fest an der Seite der Achsenmächte und hilft an seiner Stelle mit, die Freiheit des jungen Europa zu sichern.«532 Die so genannten deutschen Volksgruppen bildeten oft nicht einmal in den angeblichen deutschen Siedlungsgebieten die Mehrheit der Bevölkerung, und deshalb fielen viele ihrer Angehörigen für Hitler unter die »nichthaltbaren Splitter des deutschen Volkstums«.533 Ein Teil wurde dementsprechend schon 1939/40 umgesiedelt. Anders als im so genannten deutschen Osten betrieb das nationalsozialistische Regime hier keine großräumig konzipierte »Ansiedlung« zur »Eindeutschung« von Gebieten, sondern umgekehrt: Im südöstlichen Europa wurde die deutsche Bevölkerung »abgesiedelt«, und ihren Nutzen sahen die Nazis hauptsächlich im militärischen Einsatz an der Kriegsfront. Die auch als der »Außenposten des Großdeutschen Reiches«534 bezeichnete deutschsprachige Bevölkerung wurde hier ähnlich wie andere Deutsche missbraucht, aber sie war dem NS-Regime weniger ausgeliefert als im Großdeutschen Reich oder in den so genannten eingegliederten Gebieten. Die Volksdeutschen galten zwar als Angehörige der deutschen Volksgemeinschaft, konnten aber vom NS-Regime nicht immer gleichermaßen rücksichtslos wie deutsche Staatsbürger behandelt werden. Diplomatische Erwägungen und Widerspruch seitens der deutschen Bevölkerung waren manchmal nicht ohne weiteres von der Hand zu weisen. Die Umsiedlungskommissare konnten in jenen Ländern auch nicht so frei wie im Reich oder den besetzten Staaten walten. Deshalb wurde auf die Verwirklichung großer Teile der Umsiedlungsplanungen verzichtet. Manchmal wurden nur bestimmte Gruppen der deutschen Bevölkerung umgesiedelt, wie etwa die Familien der zur Waffen-SS eingezogenen Männer. Auch die im Zuge der Räumung erfolgten Evakuierungen konnten nicht in einem vergleichbar hohen Maße durchgesetzt werden wie im Osten des Großdeutschen Reichs.

Als im Frühjahr 1944 die Trecks der »Schwarzmeerdeutschen« aus der Sowjetunion und Rumänien durch Ungarn »geleitet« wurden535 und das nördliche Siebenbürgen passierten, nahm sich die dortige »Gebietsführung der Deutschen Volksgruppe« der Umsiedlungsidee an. Gerade die leitenden Volksgruppenfunktionäre hatten gute Gründe, sich angesichts der absehbaren Niederlage vor Repressalien zu fürchten,

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Let My People Goweit über 100 000 Männer« in Nachkriegspolen finden sich in der Vertreibungsliteratur kaum Informationen, obwohl sie es damals besonders schwer hatten. Es ist nicht einmal bekannt, wie viele von ihnen flüchteten, wie viele nach Kriegsende ihr Leben verloren bzw. wie viele inhaftiert und zu welchen Strafen verurteilt wurden. Im Polen galt ähnlich wie in anderen Staaten für die Bestrafung von NS-Verbrechen eine Sondergesetzgebung, »die im Prinzip von den Alliierten für alle Länder spätestens seit Jalta und Teheran vorgesehen war und die nach den unmenschlichen Exzessen der nationalsozialistischen Besatzungspolitik auf polnischem Gebiet ein weites Feld zur Ahndung krimineller Delikte vorfand«. 2 Die entsprechenden Sondergerichte wurden erst im »Zusammenhang mit der sich seit Herbst 1946 allmählich normalisierenden Strafjustiz« aufgelöst. Angesichts der Tatsache, dass ca. 100 000 Deutsche allein dem Volksdeutschen Selbstschutz angehört hatten, weisen die Zahlen der in Nachkriegspolen inhaftierten Deutschen darauf hin, dass viele von ihnen schon vor Kriegsende geflüchtet sein müssen. Infolge der besonderen Rechtsverhältnisse jener Zeit befanden sich Anfang Mai 1945 nämlich »50 611 Personen in Haft, darunter 2 121 Deutsche und 35 428 Volksdeutsche«. 5 Im Herbst 1945 sollen ca. 60 000 Menschen - davon ca. die Hälfte Volksdeutsche - in polnischen Gefängnissen und Lagern gefangen gehalten worden sein, und im Dezember 1945 sollen sich in den Lagern ca. 25 000 Menschen aufgehalten haben, die entsprechend den damaligen Kriterien »Deutsche, Volksdeutsche, Kriegsgefangene und der Kollaboration Beschuldigte« waren. In den Gefängnissen sollen zu derselben Zeit über 35 000 Personen gewesen sein, darunter I 469 »Personen, denen die Zugehörigkeit zu einer nationalsozialistischen Organisation zur Last gelegt wurde« und 2 860 Kriegsgefangene. Ab 1946 saßen in den Gefängnissen »hauptsächlich wegen Verbrechen Angeklagte oder Verurteilte« ein, darunter auch solche, denen die Zugehörigkeit zu einer nationalsozialistischen Organisation angelastet wurde: »Im Frühjahr gab es in der Mehrzahl der Gefängnisse mit Ausnahme von Verurteilten und Verdächtigten bereits keine Deutschen mehr, in den restlichen wurden einige hundert Personen aufgefunden und in die zentralen Arbeitslager gebracht oder nach Breslau geschickt, wo man sie in die >Repatriierungs«-Transporte eingliederte.«

Wie unterschiedlich erinnert wird

Die Selbstschutzangehörigen mussten allerdings auch in der Bundesrepublik strafrechtliche Verfolgung fürchten, und einige wenige standen tatsächlich vor Gericht, wie etwa Heinz Mocek aus Chojnice/Konitz, der wegen siebzehnfachen Mordes zu lebenslanger Haft, oder Wilhelm Richardt und Werner Sorgatz, die »zu zweimal lebenslänglich wegen 45fachen Mordes bzw. zu vier Jahren Haft wegen Beihilfe zu öofachem Mord« verurteilt wurden.4 Insgesamt scheinen nur wenige Mitglieder des Volksdeutschen Selbstschutzes für ihre Taten zur Rechenschaft gezogen worden zu sein, aber auch diejenigen, die straflos davonkamen, hatten an das Kriegsende und die Vertreibung mit Sicherheit keine guten Erinnerungen. Möglicherweise hätten es manche von ihnen ohnehin vorgezogen, nach dem Krieg nach Deutschland umzusiedeln, als in Polen zu bleiben, aber da wir kaum über Informationen über ihre spezifischen Gruppenerfahrungen verfügen, können wir über solche Fragen nur spekulieren. Die Angehörigen des Volksdeutschen Selbstschutzes bilden keineswegs die einzige im deutschen Erinnern vernachlässigte Gruppe derjenigen Vertriebenen, die nach Kriegsende die Strafjustiz zu fürchten hatten. Über die Schicksale der insgesamt rund 300 000 Volksdeutschen, die in der Waffen-SS5 oder der über 760 000 Soldaten, die aus den annektierten Gebieten stammten und 1944 in der Wehrmacht dienten6, finden sich in der Vertreibungsliteratur kaum Informationen, auch an die Lebensgeschichten der in der Tschechoslowakei, in Ungarn, Jugoslawien oder Rumänien gerichtlich verurteilten, in Gefängnissen misshandelten oder oft einfach ermordeten Träger des NS-Regimes - in den meisten Fällen handelte es sich um Männer - wird kaum erinnert. Ähnlich mangelhaft sind auch die gängigen Informationen über spezifische Erfahrungen der NS-Gegner unter den Vertriebenen, obwohl auch sie bemerkenswerte Einblicke in die Geschichte der Vertreibung bieten - zum Beispiel die deutschen Sozialdemokraten in der Tschechoslowakei.

Die Deutsche Sozialdemokratische Arbeiterpartei in der Tschechoslowakischen Republik (DSAP) wurde infolge der NS-Zerschlagung des Staates verboten. Nach dem Zusammenbruch des Dritten Reiches suchten ihre befreiten Mitglieder die Verbindungen untereinander wieder aufzunehmen, wie etwa der aus dem KZ Dachau zurückgekehrte Parteisekretär aus der nordböhmischen Stadt Tetschen/ Decin, Roman Wirkner (1907-1987), berichtete.7 Dort fasste ein »Kreis jüngerer Sozialdemokraten« am 6. Juni 1945 »den Beschluß, als Präventivmaßnahme eine geschlossene Ansiedlung in Deutschland vorzubereiten«, und schon »anderntags gingen Beauftragte illegal über die Grenze, um in Sachsen mit Parteifreunden und Behörden über die Aufnahme zu verhandeln«.8 Nach ihrer Rückkehr nahmen sie Verhandlungen mit den tschechoslowakischen Behörden auf, »um Voraussetzungen zum Schutze der sogenannten Antifaschisten im Sinne des Erlasses des Ministeriums des Inneren der Tschechoslowakischen Republik vom 16. Mai 1945 zu sichern« und die geplante Aussiedlung von rund 100 000 Personen vorzubereiten.9 Es folgten komplizierte Verhandlungen unter chaotischen Bedingungen auf beiden Seiten der deutsch-tschechoslowakischen Grenzen, erschwert durch die Notwendigkeit, in den einzelnen Besatzungszonen jeweils separat verhandeln zu müssen;

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Teil 4: Von der Vielfalt des Erinnerns so reiste etwa im Herbst 1945 ein weiterer Beteiligter, Alois Ullmann (1888-1957), »mit einem tschechischen Ministerialvertreter zur US-Militärregierung nach München, wo erwirkt wurde, einen weiteren Vortrupp von 200 Vertrauensleuten in legalem Transport zu entsenden, dem dann im ganzen Aufnahmebereiche der USZone Deutschlands die Transportlenkung oblag«. 10 Roman Wirkner und seine Kollegen konnten ihr Vorhaben nicht ganz nach ihren eigenen Vorstellungen verwirklichen, da sich ihre Idee, 100 000 Menschen in Deutschland geschlossen anzusiedeln, als praktisch undurchführbar erwies. Sie erreichten aber, dass rund 82 600 Personen ausgesiedelt werden konnten. 11 Wie mühsam die Organisierung dieser Umsiedlungen war, können wir der Schiederschen Dokumentation entnehmen, beispielsweise einer Erklärung des thüringischen Landesamts des Innern vom 11. September 1946 zu Verbreitungen eines ersten Transports von 5 000 Personen zur Ansiedlung in thüringischen Landkreisen, oder einer Anweisung der Sowjetischen Militär-Administration in Berlin an die Umsiedler-Abteilung des Landes Sachsen, »mit den Verwaltern der deutschen und tschechischen Partei in Verbindung« zu treten, um die Aufnahme von 30 000 Umsiedlern vorzubereiten.' 2 Roman Wirkner berichtete auch über Probleme in der Tschechoslowakei infolge der Tatsache, dass die »Prager Regierungsautorität« in den Bezirken noch nicht gefestigt gewesen sei und die tschechischen Bezirkbehörden willkürlich entscheiden konnten. Er machte auch auf politische Konflikte zwischen den deutschen Sozialdemokraten und Kommunisten aufmerksam, als erstere schon im Frühsommer 1946 von letzteren als »Trabanten von Jaksch und Schumacher« denunziert wurden. 13 Aber selbst nachdem die mühsamen Verbreitungen bewältigt worden waren, erwies sich die praktische Durchführung des Umsiedlungsvorhaben als weitaus komplizierter als erwartet, wie Wirkner berichtete: »In Transportzüge eingereihte deutsche Arbeiter und Sozialisten, denen in der Westzonc schon das Aufnahmegebiet sichergestellt war, wurden anderweitig verschoben, ihre Fahrnisse beschlagnahmt, obwohl zollbehördliche Ausfuhrgenehmigungen vorlagen. Familien wurden auseinandergerissen. Die geringe Waggonzuteilung verhinderte eine raschere Folge der Abfertigung von Transporten, um die Menschen in Sicherheit bringen zu können. Bangen und Unzufriedenheit steigerten sich. Unkenntnis der Hintergründe und Schwierigkeiten erzeugten Panikstimmung. >In Notzeiten erst, da zeigt sich der Charakter«, diese geflügelten Worte sind folgerichtig nicht immer der Gradmesser für menschliche Tugenden und Schwächen. Es waren zu turbulente Zeiten, als daß über Recht und Unrecht, Unverständnis oder Böswilligkeit diskutiert werden konnte.«14 Beide der soeben vorgestellten Gruppen, die NS-Verbrecher ebenso wie die Organisatoren der freiwilligen Umsiedlungen, repräsentieren nur einen kleinen Teil der Vertriebenen. Dennoch bieten ihre Erinnerungen wichtige Spuren auf der Suche nach Informationen über die unterschiedlichen Erfahrungen der Vertriebenen sowie die damaligen Lebensbedingungen der Deutschen in Polen und die Tschechoslowakei: Schon allein diese beiden Beispiele widerlegen die bis heute verbreitete Vermutung, dass in jenen Staaten alle Deutsche gleich behandelt worden seien. Aus diesem Grunde erweisen sich bisher vernachlässigte Erinnerungen als wertvoll für die Erforschung der Geschichte der Vertriebenen. Sie helfen uns, Irrtümer zu korrigieren, weisen auf

Wie unterschiedlich erinnert wird

Lücken in unserem historischen Wissen hin und verfeinern unser Vermögen, die Komplexität des vergangenen Geschehens möglichst differenziert zu erfassen. Sie werfen aber auch ein neues Licht auf die Frage, wessen Erinnerungen im kollektiven Gedächtnis vertreten bzw. nicht vertreten sind und welche Gruppen der Betroffenen an der Gestaltung des öffentlichen Erinnerns maßgeblich beteiligt waren bzw. wessen Erinnerungen mehr Gehör verdienen als ihnen bislang zuteil wurde.

Vernachlässigte Erfahrungen von 4,8 Millionen Deutschen Die größte Gruppe der Vertriebenen, deren Erfahrungen vernachlässigt werden, bilden diejenigen, die unter der Kontrolle der alliierten Regierungen umgesiedelt wurden. Es waren ca. 4,8 Millionen Deutsche aus Polen, der Tschechoslowakei und Ungarn. Der größte Teil von ihnen - ca. 4,1 Millionen Menschen - wurde im Jahre 1946 ins heutige Deutschland gebracht. 15 Ihre Umsiedlung entsprach der Potsdamer Ankündigung der Großmächte vom Sommer 1945 sowie dem im November 1945 erstellten Plan des Alliierten Kontrollrates. In der Bundesrepublik wurde den spezifischen Erfahrungen dieser Menschen erstaunlich wenig Aufmerksamkeit gewidmet, wenn man bedenkt, dass für ihre Ausweisung und Umsiedlung jene Regierungen verantwortlich waren, gegen die bis heute allerorts Anklagen erhoben werden. Die Schiedersche Dokumentation ist ein Beispiel dafür.' 6 Dieser Dokumentation zufolge seien aus Polen im Jahre 1946 zwei Millionen Deutsche in international organisierten und überwachten Transporten (und kleine Gruppen aus dem sowjetischen Teil Ostpreußens) umgesiedelt worden, denen zwischen 1947 und 1949 noch weitere 6 5 0 0 0 0 gefolgt seien.17 In den drei Bänden, die der Vertreibung der Deutschen aus Polen bzw. aus den Gebieten östlich der Oder-Neiße gewidmet sind, finden wir vielerlei Angaben, aber nur ein kleiner Teil davon betrifft die Erfahrungen der soeben genannten Gruppe. Der erste Band enthält auf 160 Seiten eine historische Einleitung und auf 494 Seiten Augen- und Zeitzeugenberichte über die Zeit vom August 1944 bis unmittelbar vor der deutschen Kapitulation. Der zweite Band umfasst 896 Seiten, deren größter Teil regional geordnete Berichte über die Lage der Deutschen unter russischer Besatzung und polnischer Verwaltung bietet. Erst im dritten Abschnitt wird über die Umsiedlungen berichtet. Davon werden die nach dem Potsdamer Abkommen durchgeführten Umsiedlungen auf den Seiten 707-874 behandelt, doch nur auf den Seiten 759-834 liegen Berichte über die Ausweisungserfahrungen des Jahres 1946 vor, die ca. zwei Millionen Menschen betrafen.' 8 Im dritten Band können wir uns auf 505 Seiten über polnische Gesetze und Verordnungen der Jahre 19441955 informieren. Insgesamt befassen sich also nur 8,13 % des gesamten Umfangs mit den Umsiedlungserfahrungen derjenigen Deutschen, die von den alliierten Regierungen aus Polen nach Deutschland gebracht wurden; das ist unbegreiflich wenig. Demgegenüber wurde den Erfahrungen der während des Krieges geflüchteten und von den NS-Behörden zwangsevakuierten Menschen proportional unangemessen mehr Raum gewidmet.

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Teil 4: Von der Vielfalt des Erinnerns Aus den vernachlässigten Erfahrungen geht hervor, dass Deutsche in Polen in der ersten Nachkriegszeit häufig Opfer von Misshandlungen und Gewalttaten wurden, aber nicht überall: »In einigen Orten gelang es noch im Lande befindlichen deutschen Stellen, Pastoren und Verwaltungsangestellten in polnischen Diensten, die Organisation der Aussiedlung in die Hand zu nehmen. Die Bevölkerung blieb dadurch zumindest in ihren Heimatorten vor den Willkürtaten und Plünderungen bewahrt, von denen sonst die Ausweisungen in der Regel begleitet wurden.«' 9 Bei den Massenumsiedlungen des Jahres 1946 seien am Anfang nicht immer die Verordnungen eingehalten worden: »Erst mit dem Sommer 1946 trat insofern eine Besserung ein, als sich die inzwischen festgelegten Richtlinien über die Durchführung der Ausweisung auszuwirken begannen.« 20 Insgesamt seien die Transporte nach und nach besser organisiert worden, wenngleich nach dem Urteil der Schiederschen Dokumentation dennoch unzureichend. Die polnischen Behörden hätten »keine sonderliche Anstrengung gemacht«, »um eine wirklich ordnungsgemäße und humane Überführung der deutschen Bevölkerung nach Westen zu gewährleisten«. 21 Bemerkenswert ist auch die folgende Erkenntnis über die emotionale Befindlichkeit der Betroffenen: »Nach jahrelangen [sie] schweren Leiden erschien fast allen Deutschen aus Polen die Ausweisung als eine Erlösung. Die Empfindung des Dankes und die Freude darüber, die zurückliegenden Bedrängnisse und menschenunwürdigen Lebensverhältnisse überlebt zu haben und endlich von ihnen befreit zu sein, überdeckten für einen Moment die Erkenntnis des schweren Loses, das die zwangsweise Ausweisung aus der seit Generationen bewohnten Heimat bedeutete.«22 Alle derartigen Hinweise der Schiederschen Dokumentation wurden bei der Auswahl der veröffentlichten Augen- und Zeitzeugenberichte nicht angemessen berücksichtigt und fanden bisher auch ein geringes Echo in den gängigen Erinnerungsbildern. Auch die Erfahrungen der Deutschen aus der Tschechoslowakei sind nur unzureichend bekannt, obwohl zwei Bände der Schiederschen Dokumentation die Überschrift Die Vertreibung der deutschen Bevölkerung aus der Tschechoslowakei tragen. Im ersten Band finden wir auf 357 Seiten eine historische Einleitung (S. 3 -178) und 38 Dokumente (S. 181-357) wie politische Erklärungen, Gesetzestexte und Verordnungen, daneben auch das »Protokoll der Besprechung zwischen Vertretern der amerikanischen Militärregierung in Deutschland und der CSR« etc. Unter der Überschrift »Die Ausweisung nach der Potsdamer Konferenz« finden wir auf nur 16 Seiten (S. 115-131) Informationen über die unter der Kontrolle der alliierten Regierungen durchgeführten Transporte von ca. 1,2 Millionen Ausgewiesenen in die US-Zone und ca. 0,75 Millionen in die SBZ. 23 Der zweite Band bietet auf 818 Seiten Augen- und Zeitzeugenberichte. Davon betreffen 98 Berichte (S. 3-458) die Zeit vor der Potsdamer Konferenz, und nur 22 Berichte (S. 459-518) »Allgemeine Transporte« nach der Potsdamer Konferenz. Weitere Berichte befassen sich mit den »Sondertransporte[n]Überführung< der Bevölkerung in ordnungsgemäßer und humaner Weise« zu geschehen habe, auf die Realität der Vertreibungen hatte dies jedoch keinen Einfluss.«30 Solch irrtümliche Aussagen hätten die Verfasser schon allein anhand der Schiederschen Dokumentation korrigieren können - wenn sie sie sorgfältig und gelesen und die darin gebotenen Informationen und Interpretationen kritisch reflektiert hätten. Die unausgewogene Auswahl der in der Schiederschen Dokumentation publizierten Berichte sowie die Widersprüche zwischen den darin vorliegenden Informationen und Interpretationen hindern viele Benutzer und Autoren der Vertreibungsliteratur bis heute daran, die Unterschiede zwischen dem nationalsozialistischen Umgang mit der deutschen Zivilbevölkerung, den Kriegsfolgen und dem Verhalten der alliierten Regierungen zu erkennen. Die Vernachlässigung solcher Unterschiede nährt den Eindruck, als wären die einstigen Kriegsgegner Deutschlands für das schwere Los aller heimatlos gewordenen Umsiedler, Evakuierten, Flüchtlinge, Vertriebenen und Ausgewiesenen zwischen 1939 und 1949 unterschiedslos verantwortlich gewesen. Diesen Eindruck zu erwecken war erklärtermaßen die Intention der Herausgeber, wie wir gesehen haben. 3 ' Die Schiedersche Dokumentation ist aber ein umfangreiches Werk, und ihre Herausgeber waren um die Einhaltung der üblichen Maßstäbe geschichtswissenschaftlichen Arbeitens bemüht. Die ausgewählten Augenzeugenberichte sollten zwar eine bestimmte Gesamtinterpretation des Geschehens bekräftigen, doch genau in dieser Hinsicht scheiterten sie. Ein naiver Leser wird es nicht bemerken und davon ausgehen, dass in dem umfangreichen Werk die grundlegenden interpretativen Botschaften der Herausgeber und Autoren nachgewiesen worden seien. Einen aufmerksamen Leser regen die in der Dokumentation enthaltenen Dokumente und Widersprüche dazu an, weitere Informationen zu suchen, um sich selbst sein Urteil darüber zu bilden, in welchem Ausmaß die alliierten Regierungen sich darum bemühten, in den kriegszerstörten Regionen die Ordnung wiederherzustellen und auf die Umgesiedelten Rücksicht zu nehmen.

Wie unterschiedlich erinnert wird

Abb. 24 Man muss nicht Gräueltaten unredlich verallgemeinern, um die Leidenserfahrungen der Umgesiedelten zu vermitteln und emotional nachvollziehbar zu machen, jeder sensibler Leser vermag sich vorzustellen, was auch die geordneten Umsiedlungen für die Menschen bedeuteten, die - wie hier auf einer tschechoslowakischen Postkarte festgehalten wurde - von der Mehrheit der Deutschen aus der Tschechoslowakei erlebt wurden.

Vier sudetendeutsche Frauen und Männer erinnern sich Den Kern des Erinnerns an die Vertreibung bilden Augenzeugenberichte. Zu selten wird beachtet, dass die Vertriebenen ihre Erinnerungen in recht unterschiedlicher Art und Weise erzählten. Dieser Umstand, nämlich wie disparat die Informationen von Augenzeugen häufig sind, lässt sich anhand der Erzählungen zweier Frauen über den berüchtigten »Brünner Todesmarsch« demonstrieren.32 Beide Augenzeuginnen ließen keinen Zweifel daran, dass sie persönlich Erschütterndes erlebt und viele Frauen, Kinder und alte Menschen Schlimmes erlitten hatten. Frau M. v. W. wurde nicht namentlich identifiziert, und wir erfahren nichts über ihren familiären Hintergrund. Aus ihrem Bericht geht hervor, dass sie im April 1945 Krankenschwester in Brunn war, »die tschechische Sprache perfekt« beherrschte, zwischen

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Teil 4: Von der Vielfalt des Erinnerns dem Kriegsende und Dezember 1945 in verschiedenen Lagern festgehalten wurde und danach nach Österreich flüchtete. Ihr Bericht ist nicht chronologisch erzählt und stellt nicht ihre persönlichen Erfahrungen dar. Sie sucht durch einzelne Detailangaben den Eindruck von Genauigkeit zu erwecken, wobei es ihr aber weniger um die Darstellung konkreter Situationen als um die Erfassung des ihrer Meinung nach Allgemeinen geht. Am Beginn ihres Berichts will Frau M. v. W im April 1945 die anderswo nicht nachgewiesenen Worte des tschechoslowakischen Präsidenten Edvard Benes im Rundfunk gehört haben: »Wehe, wehe, wehe, dreimal wehe den Deutschen, wir werden sie liquidieren!« 33 Auch soll sie beim Einzug der Russen am 25. April 1945 aus dem Fenster ihrer Wohnung beobachtet haben, »wie direkt öffentlich Vergewaltigungen von Frauen, Prügeleien und Mißhandlungen und Beschimpfungen die gesamte deutsche Bevölkerung in höchste Erregung und Gefahren brachte« (sie). Danach erzählt Frau M. v. W. nicht über ihre persönlichen Erfahrungen, sondern über Gräuel, die von Tschechen an Deutschen verübt worden seien und deren Zeugin sie gewesen sein will. Somit unterscheidet sich ihre Schilderung der Lebensverhältnisse in Brunn am Kriegsende grundlegend von denen der anderen Augenzeugin, Frau Zatschek, deren Erinnerungen an jene Zeit wir bereits oben kennengelernt haben. Dementsprechend unterschiedlich sind auch die Berichte der beiden Frauen über den »Brünner Todesmarsch«. Frau M. v. W. konzentriert sich auf die Schilderung dramatischer Szenen: »Unbeschreibliche Szenen haben sich auf der Straße nach Pohrlitz [Pohofelice] abgespielt, um so mehr als am Nachmittag ein fürchterliches Gewitter niederging und die Straßengräben überflutete. Die müden und erschöpften Menschen rutschten auf dem aufgeweichten Boden aus, wurden wohl mit Prügeln und Peitschenhieben traktiert, waren aber im allgemeinen nicht mehr auf die Füße zu bringen. Die Straßengräben waren gefüllt mit Kleidungsstücken, Koffern, Lebensmitteln, die die Erschöpften abwarfen, und dazwischen saßen die Erschöpften, die auch an Erschöpfung gestorben sind.«34 Die schon oben zitierte Frau Maria Zatschek hinterließ uns andere Erinnerungen an dieselbe Begebenheit. Sie berichtet über sehr viel Leid, aber erzählt auch über Alltagssorgen oder zwischenmenschliche Beziehungen, wie wir gesehen haben. Während Frau M. v. W Gräuel hervorhebt, begegnen wir im Bericht von Frau Zatschek konkreteren und damit emotional bewegenderen Schilderungen. Frau Zatschek musste Brunn zusammen mit ihrem 85 jährigen Vater und ihrer knapp zehnjährigen Tochter Annemarie verlassen und verlor damals ihren Vater. Am 15. Juni 1945 notierte sie im Lager Pohrlitz: »Zum Pfarrer ging ich heute und bat ihn um seinen Besuch bei meinem Vater. Der Geistliche war sehr entgegenkommend, doch ersuchte er mich, nicht darüber zu sprechen, da er keine Bewilligung hätte. Auch käme er in Zivil und ohne Ministranten. Zur festgesetzten Stunde am Nachmittag trafen wir uns in der Baracke. Heiße Sonne ließ den schlechten Geruch noch quälender sein. Die Türen waren weit geöffnet, ein Mohnfeld, groß und rotblühend, leuchtete im Hintergrund. Die Kranken lagen auf übelriechendem Stroh. Papa konnte nicht mehr sprechen, doch war er bei Bewußtsein. Er empfing die Sterbesakramente. Fromm, wie er gelebt hat, bereitete er sich zur letzten Stunde

Wie unterschiedlich erinnert wird vor. Annemarie ersetzte den Ministranten. Die meisten der Kranken fanden Trost und dankten dem Priester, der freudig seine Pflicht erfüllte. Knieend beteten wir mit ihnen. Diese erhabene Stunde in all dem Elend wird uns immer in Erinnerung bleiben.« Über den nächsten Tag erfahren wir: »In der folgenden Nacht starben wieder 20 Personen, darunter mein Vater. Seine letzten, nur geflüsterten Worte waren: >Gerhard blutet die Hand.« Bei seinem Verscheiden war ich nicht, er ist ohne Todeskampf eingeschlafen. Erst heute konnten wir den Verstorbenen sehen: Niemand hat ihm die Augen zugedrückt. Irgendwo wurden alle verscharrt. Nie habe ich erfahren, wo die Grabstätte sich befindet. Keinen Schmerz fühlen wir, wir gönnen dem fast 86jährigen die Ruhe. In den nächsten Tagen las der Geistliche in der Pfarrkirche die Seelenmesse, der wir beiwohnen konnten.«35 In jenem Lager Pohrlitz sind beide unsere Augenzeuginnen einer und derselben Person begegnet - der Krankenschwester Schubert. Frau M. v. W. hinterließ uns das folgende Porträt: »In diesem Revier schaltete und waltete eine Schwester namens Schubert. Sie selbst rühmte sich vor Zeugen, daß sie bereits über 2000 Deutschen ins bessere Jenseits verholfen hat und wohl dafür die tschechische Staatsbürgerschaft verdient hätte. Allem Anscheine nach war sie wohl Tschechin von Geburt, aber mit einem Deutschen verehelicht gewesen. Sie hatte viele tschechische Verwandte, denen sie immer wieder Schmuck und Wertsachen, die sie den unglücklichen deutschen Kranken und Sterbenden geraubt hatte, zukommen ließ. Die minderwertigen Schmuckstücke schenkte sie den Partisanen.«56 Aus dem Bericht von Frau Zatschek spricht hingegen eine andere Erinnerung an jene Schwester Schubert. Sie war damals wegen der lebensgefährlichen Erkrankung ihrer Tochter Annemarie in besondere Bedrängnis geraten: »Eine einzige Lagerschwester gibt es, Frau Schubert. Wenig Mittel, um helfen zu können, stehen ihr zur Verfügung, und zu viel Arbeit lastet auf ihr. Sie gibt mir etwas Tierkohle, doch hält sie Annemaries Zustand für hoffnungslos. Mein Entsetzen war unbeschreiblich. Dringend bitte ich sie um irgendeine Hilfe, doch nichts kann sie mir geben, was mein Kind retten könnte.« 37 Frau Zatschek bestach schließlich den Lagerleiter mit Zigaretten und konnte abends heimlich in der Apotheke des Ortes für ihre Tochter die rettende Medizin bekommen. Bald danach bekamen Frauen mit kranken Kindern die »Erlaubnis, das Lager zu verlassen und im Ort zu wohnen«, und damit verlor Frau Zatschek auch die Krankenschwester Schubert aus den Augen. Anhand solcher Erinnerungen können wir uns kein Urteil darüber bilden, wer die Krankenschwester Schubert war und wie sie sich wann verhielt, aber wir werden vor naiver Gutgläubigkeit gewarnt, zumal die beiden Augenzeuginnen häufig unterschiedliche Erinnerungsbilder bieten. Beide lassen uns beispielsweise wissen, dass in diesem Lager schlimme Vergewaltigungen vorkamen, beide weisen darauf hin, dass die verbrecherischen Handlungen von russischen Soldaten zu verantworten gewesen seien, und dennoch gewin-

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Teil 4: Von der Vielfalt des Erinnerns nen wir zwei voneinander abweichende Bilder jener Situation. Frau M. v. W. gab Folgendes zu Protokoll: »Nacht für Nacht wurden alle Frauen, die kranken, die alten und auch 70-jährigcn Frauen vergewaltigt. Und zwar wurden von den Partisanen die Soldaten hereingelassen und die Frauen kamen jede Nacht zwei- oder mehrmals an die Reihe. Ich konnte beobachten, wie ein Soldat ein zartes 11-jähriges Mädchen mißbrauchen wollte, wobei sich die entsetzte Mutter mit übermenschlichen Kräften dagegen wehrte und sich dem Soldaten selbst anbot, um das Kind zu retten. Die Mutter wurde von dem Soldaten blutig geschlagen, trotzdem aber ließ sie das Kind nicht frei. Mein eigenes Dazwischentreten erfolgte in dem Momente, als der Soldat mit der Pistole die Frau bedrohte. Da ich gebrochen russisch sprach, konnte ich dem Soldaten Vorwürfe machen, so daß er schließlich von dem Kinde ließ.«38 Frau Zatscheks Aussagen bieten ein Bild, das nicht weniger erschütternd ist, aber doch grundlegend anders: »Nach einigen Tagen begannen die Russen, uns Frauen aufzulauern. Nachts stürzten sie ins Lager. Wir hörten Schreie und Schießen und Angstgeschrei aus einer anderen Baracke. Mir zog sich das Herz zusammen. Die Russen überrannten die tschechischen Lagerwachen. Viel Böses geschah in dieser Nacht. Die alten Männer, die den Frauen helfen wollten, wurden niedergeschlagen. Annemarie legte unsere Polster über mich. Wiewohl ich glaubte, ersticken zu müssen, war ich dadurch geschützt. Eine junge Frau bekam einen Blutsturz und starb am Morgen. In der nächsten Nacht waren die Wachen verstärkt worden. Die Russen mußten sich zurückziehen.«39 Die beiden Augenzeuginnen haben uns unterschiedliche Berichte von ein und demselben historischen Ereignis hinterlassen, weil sie sich an die Erfahrungen, die sie teilten, unterschiedlich erinnerten. Ein verantwortungsvoller Umgang mit Zeugenaussagen erfordert, dass wir solche Unterschiede beachten, ehe wir, wie etwa Peter Glotz im Jahre 2003, Augenzeugenberichte als wahre historische Aussagen präsentieren. Warum Glotz die Aussagen von Frau M. v. W. ausführlich zitierte und die von Frau Zatschek unberücksichtigt ließ, hat er nicht erklärt. 40 Wir können nur darüber spekulieren, ob es sich in diesem Fall um Oberflächigkeit und Unkenntnis oder um gezielte Manipulation gehandelt haben mag. Die meisten Augenzeugenberichte bieten unterschiedliche Erinnerungsbilder von der Situation der Deutschen in der Tschechoslowakei des Jahres 1945. Am Beispiel der Erinnerungen zweier Männer, die im Unterschied zu den beiden Frauen das Erinnern an die Vertreibung in der deutschen Öffentlichkeit maßgeblich mitgeprägt haben, können wir uns vor Augen führen, wie breit gefächert die sudetendeutschen Vertreibungserfahrungen waren. Auch diese beiden Männer haben ihre Heimat verloren, aber ihre Erfahrungen ähneln denen der beiden Brünner Frauen in keiner Weise.

Ernst Lehmann (1906-1990), Sohn des bekannten nationalsozialistischen Volkskundlers Emil Lehmann (1880-1964) und selbst Publizist, verließ mit seiner Familie die Tschechoslowakei zum ersten Mal schon vor dem Münchner Abkommen

Wie unterschiedlich erinnert wird im Jahre 1938. Damals sollen 230 000 Sudetendeutsche ins Dritte Reich geflüchtet sein, nachdem ihr Führer Konrad Henlein am 17. September 1938 entsprechend Hitlers Anweisungen das Sudetendeutsche Freikorps gegründet und von Deutschland aus zum bewaffneten Kampf gegen die demokratische Tschechoslowakei aufgerufen hatte. 41 »Jene Septembertage 1938 zehrten mit ihrer Ungewißheit über den Ausgang an den Nerven. Wer konnte - so auch ich - brachte die Seinen über die Grenze in Sicherheit« 42 , erzählte Lehmann nach dem Krieg. Mit der deutschen Besatzungsarmee kehrte er zurück, aber er erlebte auch das Kriegsende nicht in seiner Heimat: »Auf einem Fahrrad schlug ich mich mit den letzten acht Kameraden meiner Einheit zu unserer Kommandantur in Padua durch. Mit dieser gelangte ich nach verlustreichen Kämpfen mit Partisanen über die Alpen und in USA-Gefangenschaft in Bayern.« 43 Über die Situation in der Tschechoslowakei am Ende des Krieges wurde Ernst Lehmann nur vom Hörensagen unterrichtet: »Meine Frau berichtete u. a., daß sie beim Herannahen der Russen mit den Kindern Reichenberg [Liberec] verließ und zu ihrer Mutter nach Teplitz-Schönau [Teplice] fuhr. Aber auch dorthin kamen die Russen sehr bald. Als bekanntgegeben wurde, daß derjenige, der an einem Stichtag seine Wohnung nicht bewohnt, ihrer verlustig erklärt würde, kehrte sie mit der zwölfjährigen Tochter nach endloser und menschenunwürdiger Fahrt in einem überfüllten Viehwagen nach Reichenberg zurück. Dort fand sie die Wohnung mit russischen Soldaten belegt. Es gelang ihr aber, sie freizubekommen. Dafür mußte sie die nächtlichen Besuche dieser Soldaten in Kauf nehmen, die sich aber tadellos aufführten und nur kleine Wünsche äußerten in Bezug auf Kleidungsinstandhaltung oder Verpflegung. Recht oft fiel von den kinderlieben Soldaten sogar etwas von ihren Lebensmitteln für die Tochter ab. Eines Tages verlangte bewaffnete Soldateska Einlaß. Nach einer gründlichen Hausdurchsuchung, vor allem der Bücher, (es war bereits die 2. Hausdurchsuchung durch Tschechen) wollte man meine Frau ohne weitere Erklärung als Geisel für mich festnehmen. Aus tschechisch geführten Gesprächen entnahm sie schließlich, daß eine Partei im Hause mich als SS-Angehörigen denunziert hatte. Nun war es ihr leicht möglich, mit Hilfe von Lichtbildern, der Feldpost-Nr. und von Feldpostbriefen diese Anschuldigungen als haltlos zurückzuweisen. Wegen des in Teplitz krank zurückgelassenen zweijährigen Sohnes kehrte sie kurz darauf wieder nach dort zurück. In Teplitz nicht als wohnhaft gemeldet, wurde sie bald mit den Kindern, dem Kinderwagen und einem Handwagen mit zwei großen Koffern gemeinsam mit vielen anderen Leidensgenossen nach Zinnwald transportiert und dort den Russen >übergeben«, d. h. sie wurde ohne Geld, Lebensmittelkarten oder Aufenthaltsgenehmigung und ohne einen Rat für die Zukunft in das >Nichts< entlassen.«44 Ernst Lehmann traf bald nach seiner Entlassung aus der Kriegsgefangenschaft seine Familie, fand zunächst in Mittelfranken Unterkunft bei einer Bauernfamilie und erhielt eine Anstellung als Lehrer. Dort suchte er den Anschluss an seine neue Umwelt. Wie er berichtet, fand er bald eine Zukunftsvision: »Auch erste Kontakte zu Schicksalsgefährten ergaben sich und die Kenntnisnahme von Botschaften von Pater Reichenberger aus den USA und von Wenzel Jaksch aus London, die eine baldige Rückkehr in die Heimat verhießen.« 45 Bald konnte er »durch Aufklärung über sudetendeutsche Verhältnisse« sogar »manchen Landsleuten zur Anstellung

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Teil 4: Von der Vielfalt des Erinnerns im Schuldienst verhelfen« und im »Kreis namhafter sudetendeutscher und ostdeutscher Kulturpolitiker« um »die Bewältigung des Unfaßbaren« ringen. 46 Die Bibliographie seiner in der Bundesrepublik veröffentlichten Schriften und der von ihm redigierten Zeitschriften ist lang, und auch um Neuauflagen alter Bücher völkischer Autoren hat er sich verdient gemacht, weil er deren Tradition besonders schätzte. Von einer Suche nach Informationen zur Geschichte der Vertreibung finden sich darin keine Spuren. Zu seinem wichtigsten Betätigungsfeld wurde die so genannte Ostkunde, die Informationen über die Vertreibung sowie über den >deutschen Osten« im Schulunterricht verbreiten sollte. 47 Ernst Lehmann konnte zwar über die Vertreibung nicht aus eigener Erfahrung berichten, fand aber dennoch als Zeitzeuge großes Gehör. Sein 1964 formuliertes Bild der Vertreibung gewann bei nachkommenden Generationen so sehr an Popularität, dass sich seine Zeilen wie ein Spiegelbild der heute gängigen Vorstellungen von der Vertreibung lesen: »Der Einbruch der Sowjetarmee nach Ostmitteleuropa und Ostdeutschland und die Neubildung der von den Deutschen besetzten Staaten löste einen Erdrutsch aus, der mehr als 17 Millionen Menschen deutscher Zunge um die angestammte Heimat, den ererbten oder erworbenen Besitz, um Beruf, Ansehen, Ehre und Menschenwürde brachte und in Freiwild jeglicher Haßorgien verwandelte, sofern sie sich nicht durch die Flucht nach Restdeutschland dem Zugriff der neuen Machthaber entzogen. Mindestens 2,5 Millionen fielen den Unmenschlichkeiten der Vertreibung zum Opfer, 2 Millionen wurden als Facharbeiter in den Vertreibungsgebieten zurückbehalten, etwa 800 000 Deutsche wurden in die Sowjetunion als Zwangsarbeiter verschleppt.« 48 Die Ostkunde, das neue Fach in bundesdeutschen Schulen, habe alte Wurzeln, hob Lehmann immer wieder hervor. Sie »reichen zurück in die vielseitigen Bemühungen noch vor dem ersten Weltkrieg, dem Deutschtum in aller Welt im Unterricht Geltung zu verschaffen, sodann in die Volksschutzarbeit, die u. a. vom VDA [Verein für das Deutschtum im Ausland] und der bündischen Jugend getragen wurde und den Blick insbesondere für die Volksinseln im Osten schärfte.«49 Diesen Traditionen entsprechend engagierte sich Lehmann auf dem rechten Rand der Vertriebenenpolitik: »Neben der Landsmannschaft gehöre ich wohl seit Gründung dem >Witikobund« an, einer der drei sudetendeutschen Gesinnungsgemeinschaften, die vor allem den völkischen Kreis der Jugendbewegung umfaßt und durch die >Witiko-Briefe« und den Politischen Zeitspiegel« gut über die Zeitlage orientiert.«50 Ernst Lehmann repräsentiert eine Drehscheibe der Zeiten, die am Erinnern an die Vertreibung als ihrem Mittelpunkt fixiert ist: Sein Status als >Vertriebener< verhalf ihm dank der besonderen Kulturförderung für Vertriebene jene Traditionen zu pflegen, die nach dem Zweiten Weltkrieg eher einer tiefgreifenden kritischen Aufarbeitung als der weiteren unkritischen Pflege bedurft hätten. Lehmann konnte mit staatlicher Unterstützung zum Fortleben der völkischen Traditionen der Vorkriegszeit als »ostdeutsches Kulturerbe« beitragen und bemühte sich, sie in die

Wie unterschiedlich erinnert wird Lehrerausbildung und in die Schulklassen der sich rasch modernisierenden Bundesrepublik einzubringen. Als Rechtfertigung galt der Hinweis, dass »die westdeutschen Unkenntnisse und falschen Vorstellungen über die deutschen Ostgebiete« überwunden und der Weg »zu einer Bildung eines neuen Volkes aus West- und Ostdeutschen als Folge der Eingliederung der Vertriebenen« frei gemacht werden sollten. 51 Politisch engagierte sich Ernst Lehmann in den Vertriebenenorganisationen, in denen der Witikobund ebenso beliebt war wie im rechtsextremen Segment des bundesdeutschen politischen Spektrums. 52 In der Öffentlichkeit wurden solche Verbindungen zwischen dem Fortleben unrühmlicher völkischer Traditionen, der Vertriebenenpolitik und dem Rechtsextremismus immer wieder kritisiert, und die Ostkunde setzte sich bundesweit als neues Schulfach nicht durch. 53 Dennoch machen sich im Erinnern an die Vertreibung die Veröffentlichungen einstiger Ostkundler wie Ernst Lehmann nachhaltiger bemerkbar als die persönlichen Erinnerungen jener Menschen, die von den Kriegs- und Umsiedlungsfolgen unmittelbar weit schwerer betroffen waren als er.

Ein anderer bekannter Vertriebenenfunktionär, Walter Becher (1912-2005), wurde zu einem erfolgreichen Politiker. Auch er nahm schon 1938 als Angehöriger des Sudetendeutschen Freikorps von München aus am bewaffneten Kampf gegen die Tschechoslowakei teil, wurde 1939 mehrere Monate im Zusammenhang mit dem damals geltenden Homosexualitäts-Strafparagraphen von der Gestapo in Dresden inhaftiert 54 , diente 1940-45 in der Wehrmacht und wirkte von 1968 bis 1982 als Sprecher der Sudetendeutschen Landsmannschaft. 55 Auch er stilisierte sich gern als Augen- und Zeitzeuge, seine veröffentlichten Memoiren tragen sogar den Titel Zeitzeuge.,56 Darin berichtete er über seine Erfahrungen während des Kriegs, während der Vertreibung sowie danach in der Bundesrepublik. Seine Erinnerungen eröffnen erstaunliche Einblicke in die Art und Weise, wie ein namhafter Vertriebenenpolitiker mit Informationen umgeht. So berichtet Becher über seinen >Verteidigungskampf< gegen den Warschauer Aufstand, als er dort als Wehrmachtssoldat eingesetzt war, Folgendes: » A m i . August 1944 brach in Warschau der Aufstand der polnischen Untergrundarmee aus. Wir wehrten uns, dorthin verlegt, so gut es ging am Erlöserplatz gegen die aus allen Winkeln losballernden Gewehrsalven. Eine nahegelegene Kirche nahm Gefallene und Verwundete von beiden Seiten auf. Sie wurde unser Schutzwall, bis wir nach dem Abflauen der Kämpfe anderntags die hinter uns brennende Hauptstadt in Richtung Süden verließen.«57 Walter Bechers Bericht aus dem Jahre 1990 vermittelt einen falschen Eindruck über jenen Aufstand, in dem innerhalb von 63 Tagen über 150 000 Menschen getötet und die Reste der polnischen Hauptstadt durch jene Besetzungsmacht, in deren Diensten Becher stand, systematisch dem Erdboden gleichgemacht wurden. 5 8 Bechers Aussagen werfen nicht nur ein Licht auf die mangelnde Präzision im Umgang mit Tatsachen, sondern auch auf seinen Umgang mit persönlichen Erinnerungen. Darüber hinaus scheint er auch nichts davon zur Kenntnis genommen zu haben, was die historische Forschung seit Ende des Krieges aufgearbeitet hat.

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Teil 4: Von der Vielfalt des Erinnerns Als Walter Becher auf seiner Flucht aus Warschau im westböhmischen Egerland eintraf, will er »Hunderte fliehender Menschen« gesehen haben, darunter »abrüstende Soldaten, Mütter mit Kindern an der Hand und im Rucksack, Gestalten, an deren Leibern letzte erhaltene Habe hing, Figuren, die sich in den Schutz der Nacht begaben und nur einem Ziele zustrebten: der rettenden Grenze im Westen«. 59 Er kehrte in seine Heimat in Karlsbad zurück, obwohl er Gerüchte über schwere Misshandlungen von Deutschen in jener Stadt gehört haben will. Von dort aus unternahm er mehrere Reisen zwischen der Tschechoslowakei und Bayern: »Wahrscheinlich war es das Bestreben, die Kunde von diesem Geschehen nach dem Westen zu bringen, das mich veranlaßte, dreimal die Fahrt nach Bayern anzutreten, dreimal wieder zurückzukehren und dann erst die Heimat endgültig zu verlassen.« 60 Ü b e r eine dieser Reisen berichtet er in seinen Memoiren Folgendes: »Am Rückweg fuhr ich, statt den Steig durch die Waldungen zu benützen, auf der offenen Straße von Ober- nach Untersandau [Horni bzw. Dolnf Zandov] direkt in die Arme eines tschechischen Feldwebels. Er kam auf einem Motorrad dahergebraust, verlangte meinen Ausweis und sah mich prüfend an. Ich zeigte ihm den Entlassungsschein [...] und fragte ihn geradeheraus, was er meine: ob ich mit dem Fahrrad oder besser mit der Eisenbahn nach Karlovy Vary (Karlsbad) fahren solle. Ich zappelte an dem seidenen Faden zweier Schrecksekunden - in solchen Augenblicken steht die Weltenuhr still -, bis er schließlich sagte: »No, jedete s kolem!« (Fahren Sie mit dem Rad!) Er entließ mich mit einer lässigen Handbewegung, gab Gas und fuhr bergwärts zu den Posten.« 6 ' Im Herbst 1945 beschloss Walter Becher, sich in Bayern niederzulassen: »Auf der Suche nach einer neuen Heimat war ich dann, ein Vierteljahr voller Kreuzfahrten und Irrungen durcheilend, Mitte Oktober 1945 endgültig in München angekommen.« 62 Seine eigenen Erfahrungen in der Tschechoslowakei entsprachen nicht jenen Berichten, die er als Vertriebenenpolitiker in der Bundesrepublik lebenslang für die Rechtfertigung seines politischen Tuns hielt. Von Gräueln will Walter Becher, eigenen Aussagen zufolge, erst in München erfahren haben: »Als wir in München die Kunde von den strangulierten Soldaten vernahmen, die man an den Kandelabern des Wenzelsplatzes mit den Füßen nach oben wie Fackeln verbrannte, schenkten wir dieser und ähnlichen Meldungen keinen Glauben. Erst als uns am 27. 12. 1945 ein Erlebniszeuge schilderte, wie er selbst mit anderen Internierten gezwungen wurde, die verkohlten Leichen abzunehmen und obendrein noch auf den Mund zu küssen, ahnten wir, daß sich Schreckliches vollzog. Der Hussitensturm setzte sich von Prag in die böhmische Provinz, von dort in das mährische und schlesische Sudetenland, aber auch nach dem Westen in die amerikanisch besetzte Zone fort.« 6 ' Walter Becher prüfte den Bericht seines Gewährmannes nicht nach, zumal er schon vor diesem Offenbarungserlebnis, nämlich im November 1945, »gegen die Mauer des Schweigens« 64 zu kämpfen begann. Damals legte er die erste Sammlung von Berichten an: »Da wir weder private noch staatliche Mittel zur Verfügung hatten, regte ich die Durchführung einer Volksgruppenabgabe an, die wir unter dem Leitwort >Gegen

Wie unterschiedlich erinnert wird die Mauer des Schweigens« in die Wege leiteten. Ihr Verlauf wurde ein erstes großes Gemeinschaftserlcbnis. Tausende angesprochene Frauen und Männer verkauften Bausteine und 20-Pfennig-Klebemarken, die uns am Ende den damals stattlichen Betrag von 201 000 DM einbrachten. Bereits 1951 ermöglichte dies den Druck der >Dokumente zur Austreibung der Sudetendeutschen« sowie mit ihrem ebenso großen Erlös die effektive Arbeit sudetendeutscher Zentralstellen.«65 Auf diese Weise wurde Walter Becher zum erfolgreichen Vertriebenenpolitiker. Die Vertreibung der Sudetendeutschen präsentierte er als »Hussitensturm« oder » H o locaust auf offener Straße« 66 und behauptete, der tschechoslowakische Präsident Edvard Benes sei »Hauptschuldiger neben Stalin und Hitler«. 67 In der Bundesrepublik hat, soweit bekannt, bis heute niemand danach gefragt, ob Bechers Berichte über die Vertreibung nicht ähnlich irreführend sind wie sein Augenzeugenbericht über den Warschauer Aufstand 1944. Seine politischen Erfolge brachten Becher bis an die Spitze einer denkbaren Karriereleiter für Angehörige seiner Zunft, aber er war dennoch am Lebensende unzufrieden. Die vertriebenen Frauen, Kinder und Greise »wurden nach dem heulenden Elend der Vertreibung nicht von einem gesicherten Sozialsystem, sondern von dem Chaos eines zerfallenen Staates empfangen und der gezielten Entwurzelung preisgegeben. [...] Die hohe Politik der Bundesrepublik Deutschland, insbesondere jene, die von Willy Brandt, Walter Scheel, Egon Bahr und Hans-Dietrich Genscher zu verantworten ist, beruht auf einer ebenso brutalen wie kaltherzig durchgeführten Opferung der Heimatrechte der deutschen Vertriebenen.«68

*** Wenn wir danach fragen, was die vier soeben vorgestellten Augen- und Zeitzeugenberichte über die Vertreibung aus der Tschechoslowakei aussagen, dann begreifen wir rasch, welche Vorsicht im Umgang mit Erinnerungen als Informationsquelle geboten ist. Hier begegnen wir einem unsachlich emotionalen Bericht einer namentlich nicht bekannten Frau, dort einem unterzeichneten und informativen Bericht einer zweiten Augenzeugin, und keine der beiden Frauen konnte uns vermitteln, dass es sich um ein außerordentliches Ereignis gehandelt hat. Zugleich haben wir die Beispiele zweier Männer kennengelernt, die das Erinnern an die Vertreibung weit mehr als die beiden Frauen prägten, ohne dass sie über persönliche Erfahrungen von Misshandlung und Vertreibung berichten konnten. Anhand der Zeugnisse dieser vier Personen können wir überhaupt nicht beurteilen, wie viele Vertriebene welche Erfahrungen gemacht haben, und erst recht können wir uns kein Bild über die Lebensverhältnisse der Deutschen in der Tschechoslowakei am Kriegsende oder gar über die Ursachen und Verantwortlichkeiten für damalige etwaige kriminelle Handlungen machen. Die Frage, wie repräsentativ wessen Erinnerungen sind, kann jedoch von seriösen Historikern nicht leichtfertig übergangen werden, wenn wir die Lebenserfahrungen der Vertriebenen kennenlernen und die Folgen der bisher gängigen Manipulationen mit Zeugenberichten überwinden möchten. Schon heute liegen diesbezüglich wertvolle Hinweise vor.

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Wie repräsentativ sind wessen Erinnerungen? Frauen, Kinder und alte Menschen gehörten zweifellos zu denjenigen, die an den Folgen des Krieges schwer zu leiden hatten, während es vor allem Männer waren, die die Entscheidungen trafen und deshalb die politische Verantwortung für jene Entwicklungen mittrugen, die zur Vertreibung führten. Die Biographien der Männer können daher oft mehr zum Erinnern an die Vertreibung und zur Klärung ihrer Ursachen beitragen als die der Frauen, und auch Männer machten 1945 in der Tschechoslowakei unterschiedliche Erfahrungen. Zwischen Mai 1945 und Ende 1948 wurden von den tschechoslowakischen Sondergerichten 33 463 Personen - vorwiegend Männer - verurteilt, von denen rund 50 % Deutsche waren.69 Von den 713 Todesurteilen wurden 47 5 gegen Deutsche ausgesprochen; das war mehr als die Hälfte, aber eine beachtliche Zahl der zum Tode Verurteilten waren Tschechen.70 Auch diese Zahlen weisen darauf hin, dass die Tätigkeit der neuen Justiz- und Verwaltungsbehörden in der Nachkriegstschechoslowakei keineswegs auf die Aufzählung antideutscher Maßnahmen reduziert werden kann, wie es in der Vertreibungsliteratur üblicherweise geschieht. Die Auseinandersetzung der tschechischen Politik mit der Vorgeschichte und der Geschichte des Krieges beruhte damals nicht auf einer ethnisch oder rassisch begründeten Vorstellung, wonach sich alle Deutschen gleichermaßen schuldig gemacht hätten und die Schuldigen allein unter den Deutschen zu suchen gewesen seien oder alle Deutschen gleich behandelt werden sollten. Die nach Kriegsende erhobenen Vorwürfe richteten sich gleichermaßen gegen alle Staatsbürger der 1938 zerschlagenen Tschechoslowakei, die sich diesem Staat gegenüber illoyal verhalten hatten, unabhängig von ihrer ethnischen, politischen oder religiösen Zugehörigkeit. Obwohl das entscheidende Merkmal nicht die Nationalität, sondern die Staatsloyalität war, waren von den damaligen Formen der tschechoslowakischen Vergangenheitsbewältigung zwar nicht nur Deutsche und Ungarn, aber vor allem Deutsche und Ungarn und zugleich die meisten von ihnen betroffen. Große Bedeutung kam aus der Sicht der Staatsräson der Tatsache zu, dass die meisten Deutschen und die meisten Ungarn 1935-1938 solche politischen Parteien unterstützt hatten, die an der Zerschlagung des Staates beteiligt gewesen waren. Darüber hinaus hatten sie ihre tschechoslowakische Staatsangehörigkeit freiwillig oder unfreiwillig aufgegeben und die deutsche bzw. ungarische erworben. Deshalb stellten sie zwei mit dem Kriterium der Nationalität umschriebene Gruppen dar, gegen die sich die Verfolgung wegen staatsverräterischer Handlungen richtete. Hatten sich Menschen deutscher bzw. ungarischer Nationalität während des Krieges offen oder durch ihr politisches Handeln zur tschechoslowakischen Staatsangehörigkeit bekannt, wurden sie anders behandelt. Auch einige Gegner des NS-Regimes, dessen Opfer und Widerstandskämpfer deutscher oder ungarischer Nationalität erlitten nach dem Krieg in der Tschechoslowakei Misshandlungen, aber ihre Erfahrungen unterscheiden sich dennoch beträchtlich von denen ehemaliger NS-Anhänger. Um die vielfältigen Erfahrungen politisch verantwortlicher Männer unter den Deutschen in der Tschechoslowakei zu erforschen, liegt in Gestalt eines 1991 in Kopenhagen erschienenen biographischen Nachschlagewerks eine bemerkenswer-

Wie unterschiedlich erinnert wird te Quelle vor. O b w o h l es in deutscher Sprache geschrieben ist und die Geschichte der deutschen Minderheiten im östlichen Europa behandelt, fand das Werk bisher kaum Eingang in das Erinnern an die Vertreibung. Es trägt den Titel Von Reval bis Bukarest. Statistisch-biographisches Handbuch der Parlamentarier der deutschen Minderheiten in Ostmittel- und Südosteuropa 1919-1945.71 Der dänische Historiker Mads Ole Balling unternahm gründliche Archivrecherchen, weshalb sein Werk eine wahre Fundgrube für jeden ist, der sich mit der Geschichte der Vertriebenen beschäftigen möchte. Es informiert darüber, wer die politischen Repräsentanten der deutschen Minderheiten im östlichen Europa waren und liefert Auskünfte über etliche spätere Vertriebenenpolitiker. Damit vermittelt es auch wertvolle Einblicke in die Schicksale jener Männer, deren Erfahrungen im Mythos Vertreibung meist nicht einmal erwähnt werden. Die in der Tschechoslowakei am 19. und 26. Mai 1935 gewählten 110 deutschen Abgeordneten und Senatoren, gemeinsam als Parlamentarier bezeichnet, bilden eine politisch repräsentative Gruppe. 7 2 Es handelt sich um die letzten freien Wahlen, in denen die späteren Vertriebenen ihre Stimmen den Parteien und Politikern ihrer Wahl unbehindert geben konnten. Die Wahlbeteiligung war mit 92,8 % sehr hoch 73 , und die Gewählten repräsentierten rund 95 % der deutschen Wähler; fünf Prozent der Deutschen wählten entweder tschechische Parteien, die multiethnisch verfassten jüdischen Parteien oder die Kommunistische Partei der Tschechoslowakei, die ebenfalls nicht nach ethnischen Gesichtspunkten organisiert war, da sie der Nationalität ihrer Mitglieder keine große Bedeutung beimaß. Die hier relevanten Egebnisse lassen sich mit Angaben über vier Parteien zusammenfassen: Die Sudetendeutsche Partei gewann ca. 67 %, die Deutsche Sozialdemokratische Arbeiterpartei ca. 16 %, die Christlichsoziale Volkspartei ca. 7 % und der Bund der Landwirte ca. 6 % der deutschen Wahlstimmen. 74 Da sich die beiden zuletzt genannten Parteien im März 1938 der Sudetendeutschen Partei anschlössen und diese wiederum im Herbst 1938 in der N S D A P aufging, bedeuten die oben genannten Wahlergebnisse von 1935, dass zur Zeit der Zerschlagung der Tschechoslowakei nur die Sozialdemokratische Partei mit ihren rund 300 000 Wählern eine zahlenmäßig ins Gewicht fallende Opposition gegen das NS-Regime repräsentierte - zusammen mit den oben erwähnten weiteren kleinen Gruppen deutscher Wähler anderer Parteien. Damit dürften rund vier Fünftel der deutschen Bevölkerung in der Tschechoslowakei am Vorabend des Zweiten Weltkriegs die mit dem Nationalsozialismus alliierten Parteien und rund ein Fünftel Parteien der NSGegner gewählt haben. Wer waren nun die 110 frei gewählten Personen und wie haben sie den Krieg und die Vertreibung erlebt?

Die meisten der deutschen Parlamentarier waren zwischen 1880 und 1900 geboren worden. Der älteste unter ihnen war Karl Anton Edmund Hilgenreiner, Dr. phil. et Dr. theol., am 2 3 . 2. 1867 in Friedberg/Hessen geboren und seit 1898 Professor für Kirchenrecht an der Prager deutschen Universität. Politisch arbeitete er eng mit seinem sechs Jahre jüngeren Universitätskollegen, dem aus Aspern bei Wien stammenden Robert Mayr-Harting, zusammen, der in den Jahren 1926-1929 Justizmi-

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Teil 4: Von der Vielfalt des Erinnerns nister der tschechoslowakischen Regierung gewesen war. Obwohl beide Politiker fest in den Strukturen des tschechoslowakischen Staates verankert waren, schlössen auch sie sich 1938 der Sudetendeutschen Partei Konrad Henlcins an, die in Hitlers Auftrag die Zerstörung des Staates betrieb. Beide traten anschließend auch der N S D A P bei. Hilgenreiner hielt sich ansonsten vom NS-Regime fern und wurde 1944 in einem Gestapogefängnis und 1945 vorübergehend in einem tschechischen Arbeitslager inhaftiert. Danach ging er nach Österreich, wo er 1948 starb. Sein Kollege Mayr-Harting blieb nach Kriegsende in Prag, wurde dort vom damaligen Präsidenten Edvard Benes persönlich unterstützt und starb 1948 in Prag. Diese beiden Biographien passen in kein gängiges Bild von sudetendeutschen Lebensläufen. Weder handelt es sich um fanatische Nationalsozialisten noch um naiv-nichtsahnende Sudetendeutsche. Sie passen auch nicht in das gängige Bild der Nachkriegstschechoslowakei als eines wild gewordenen Landes, in dem >die< Deutschen blind aufgrund antideutscher Hass- oder Rachegefühle verfolgt worden wären, nur weil sie Deutsche waren. Es handelt sich um keine Ausnahmen unter den älteren deutschen Parlamentariern: Franz Spina, 1868 im ostböhmischen Städtchen Markt Türnau/Mestecko Trnävka geboren und zweisprachig aufgewachsen, war ein seit 1917 als Universitätsprofessor tätiger Slawist und gehörte dem Bund der Landwirte an. 1920 bis 1938 vertrat er diese Partei im Prager Parlament, 1926 bis 1929 als Minister für öffentliche Arbeiten und 1929 bis 1935 als Gesundheitsminister sowie 1935 bis 1938 als Minister ohne Geschäftsbereich in der tschechoslowakischen Regierung. Anders als seine beiden oben erwähnten Kollegen legte Spina sein Mandat nieder, als seine Partei im März 1938 mit Henleins Sudetendeutscher Partei fusionierte. Wenige Monate später starb er. Zu den ältesten Parlamentariern zählte auch Ludwig Czech. Er wurde 1870 im heute ukrainischen Lwiw/ Lemberg geboren, war schon in der Habsburgermonarchie ein bekannter Sozialdemokrat und wirkte 1921 bis 1938 als Vorsitzender der Deutschen Sozialdemokratischen Arbeiterpartei in der Tschechoslowakei. Zwischen 1920 und 1925 war er Vizepräsident des Prager Abgeordnetenhauses und gehörte 1929 bis 1934 als Minister für soziale Fürsorge, 19 3 4 bis 19 3 5 als Arbeitsminister und 19 3 5 bis 19 3 8 als Gesundheitsminister der tschechoslowakischen Regierung an. Im März 1938 wurde er durch den späteren Vertriebenenpolitiker Wenzel Jaksch aus seinem Amt als Parteivorsitzender, Fraktionsvorsitzender und Mitglied des Parteivorstands verdrängt und ist 1942 als Jude in Theresienstadt umgekommen. Die Gruppe der ältesten, 1935 gewählten deutschen Parlamentarier bestand aus Politikern, die die in einer demokratischen Gesellschaft üblichen Formen deutschtschechischer politischer Zusammenarbeit praktizierten. Für das Erinnern an die Vertreibung ist die Tatsache von großer Bedeutung, dass keiner von ihnen später als Vertriebenenpolitiker wirkte. Schon allein ihres Alters wegen wäre es auch falsch, ihre Biographien als repräsentativ für die Vertriebenen zu betrachten.

Ganz anders sehen die Biographien der jüngeren unter den 110 damals frei gewählten deutschen Abgeordneten und Senatoren aus: Die jüngsten von ihnen wurden zwischen 1903 und 1905 geboren. Sie gehörten durchweg der Sudetendeutschen

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Partei und ab 1938 der NSDAP an und wirkten in der Regel tatkräftig an der Zerschlagung der Tschechoslowakei mit - also jenes Staates, dem sie als Parlamentarier ihre Loyalität geschworen hatten. Ihre Lebensgeschichten ähneln sich in hohem Maße und führen in vielen Fällen in die spätere Bundesrepublik. Der 1905 in Karlsbad geborene Rudolf Sandner wurde 1935 erstmals ins Parlament gewählt und war 1936 bis 1938 Propagandachef der Sudetendeutschen Partei. Er flüchtete im September 1938 nach Deutschland, um sich als Leiter der Dienststelle Waldsassen des Nachrichtendienstes des Sudetendeutschen Freikorps am Kampf der paramilitärischen Einheiten Hitlers im tschechoslowakischen Grenzgebiet gegen die Republik zu beteiligen. Nach der Zerschlagung und Besetzung des Landes machte Rudolf Sandner Karriere in der SA, als Mitglied des Großdeutschen Reichstages und als Gaupresseamtsleiter. Nach dem Krieg wurde er in der Bundesrepublik Vertriebenenpolitiker, unter anderem Vorstandsmitglied des Witikobundes und Bundesorganisationsleiter des Bundes der Heimatvertriebenen und Entrechteten. Er starb 1983 im bayerischen Oberstdorf. Auch der 1904 in Karlsbad geborene Fritz Köllner wurde 1935 für die Sudetendeutsche Partei gewählt und flüchtete im September 1938 nach Deutschland, um von dort aus seinen Kampf gegen die Tschechoslowakei offen aufzunehmen. Er wurde in Breslau Führer der Gruppe Schlesien des Sudetendeutschen Freikorps. Danach war er Gaugeschäftsführer und Gauorganisationsleiter im Reichsgau Sudetenland, SA-Brigadeführer und Mitglied des Großdeutschen Reichstages. Am 23. Januar 1939 wurde er vom Reichsarbeitsminister zum Reichstreuhänder der Arbeit für das Wirtschaftsgebiet Sudetenland, wirkte 1939/40 als stellvertretender Gauleiter und diente danach in der Wehrmacht. Nach Kriegsende wurde er verhaftet und im Februar 1947 in Prag zu 25 Jahren Gefängnis bzw. Zwangsarbeit verurteilt. Nach seiner Amnestierung und Ausweisung 1955 war er als Oberregierungsrat und Referatsleiter im bayerischen Arbeitsministerium tätig und spielte bis zu seinem Tod 1986 in Taufkirchen bei München unter anderem als Vorstandsmitglied des Witikobundes auch weiterhin eine wichtige Rolle im sudetendeutschen politischen Leben. Auch die fünf im Jahre 1903 geborenen Parlamentarier repräsentierten vor dem Krieg alle die Sudetendeutsche Partei und waren während des Krieges aktive Nationalsozialisten (drei von ihnen gehörten der SS und zwei der SA an). Einer von ihnen wurde seit Mai 1945 in Prag vermisst, einer starb 1948 in Marburg an der Lahn, und drei starben in den 1960er Jahren in der Bundesrepublik. Einer von ihnen war ein NS-Politiker von überregionaler Bedeutung - der nordböhmische Gymnasialprofessor Ludwig Eichholz, der 1938 als SA-Obersturmbannführer zum Gauamtsleiter und 1939 zum Regierungsdirektor in der Abteilung für kulturelle Angelegenheiten beim Reichsstatthalter in Reichenberg/Liberec avancierte und ab 1942 Leiter bzw. ab 1944 Präsident der Hauptabteilung Wissenschaft und Unterricht in der Regierung des Generalgouvernements in Krakau war. Nach der Entlassung aus der Kriegsgefangenschaft wurde Eichholz 1948 Gymnasiallehrer in Höxter an der Weser und 1959 Oberstudienrat und Leiter des Vertriebenen-, Schul- und Kulturamts dieser Stadt. Daneben betätigte er sich als Leiter der dortigen Volkshochschule und der Stadtbücherei sowie ab 1955 als Kreisobmann der Sudetendeutschen Landsmannschaft und Mitglied des Sudetendeutschen Rates. Er starb 1964 in Höxter an der Weser.

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*** Unter den 110 Parlamentariern waren auch 19 Gegner des Nationalsozialismus. Zehn von ihnen emigrierten nach der deutschen Besetzung des Landes, darunter auch die einzige Frau unter den 110 hier betrachteten Politikern, Irene Kirpal. Sie kehrte nach dem Krieg in die Tschechoslowakei zurück, wo sie am 17. Dezember 1977 in Aussig/Üstf nad Labern starb. Zwei der Emigranten, Wenzel Jaksch und Rudolf Zischka, starben in der Bundesrepublik, drei blieben bis zu ihrem Lebensende in England, zwei in Schweden und einer in New York. Von den neun NSGegnern, die unter der deutschen Besatzung lebten, starben zwei als Opfer der NS-Verfolgung und sieben überlebten das NS-Besatzungsregime; von ihnen starben sechs nach dem Krieg in der Tschechoslowakei, während einer, Franz Macoun, 1947 nach Schweden auswanderte. Die emigrierten Parlamentarier standen während des Kriegs in Kontakt mit der tschechoslowakischen Exilregierung in London, aber nur vier von ihnen unterstützten deren Bestrebungen, den 1938 zerschlagenen Staat wiederherzustellen. Die anderen sechs emigrierten NS-Gegner schlössen sich dem späteren Vertriebenenpolitiker Wenzel Jaksch an, der 1939 der Forderung nach Wiederherstellung der Tschechoslowakei in den Grenzen vor dem Münchener Abkommen von 1938 seine Unterstützung versagte, nach dem Krieg in der Sudetendeutschen Landsmannschaft mit ehemaligen Nationalsozialisten zusammenarbeitete und, wie wir gesehen haben, die Revision des Potsdamer Abkommens anstrebte. Jaksch wurde vielfach von seinen einstigen Parteikollegen kritisiert, etwa von Rudolf Zischka (1895-1980), der 1935 ebenfalls für die Deutsche Sozialdemokratische Arbeiterpartei ins Parlament gewählt worden war. Zischka emigrierte 1938,lebte I939bis 1962 in Bolivien und übersiedelte 1962 in die Bundesrepublik. 1964 war er Mitbegründer der Arbeitsgemeinschaft ehemaliger deutscher Sozialdemokraten in der Tschechoslowakei, der auch zwei weitere emigrierte Parlamentarier angehörten. Sie profilierte sich als eine der bekanntesten Gruppierungen von Kritikern der Vertriebenenpolitik.

Eine weitere besondere Gruppe unter den Parlamentariern bildeten die 12 Angehörigen der schon erwähnten paramilitärischen Organisation Sudetendeutsches Freikorps. Sie flüchteten am Vorabend des Münchener Abkommens, um gegen jenen Staat zu kämpfen, dessen Politik sie bis dahin als Parlamentarier mitbestimmt hatten, kehrten im Dienste des Besatzungsregimes zurück, und bildeten die Gruppe der nach Kriegsende in der Tschechoslowakei am schärfsten Verfolgten, weil sie schon vor dem Krieg mit der Waffe in der Hand gegen den eigenen Staat gekämpft hatten. Einer von ihnen fiel im Krieg an der Front, zwei von ihnen wurden nach Kriegsende in der Tschechoslowakei hingerichtet, einer starb im Prager Gefängnis, bevor ihm der Prozess gemacht wurde; einer wurde im Mai 1945 in Karlsbad erschossen, und sieben haben den Rest ihres Lebens in der Bundesrepublik verbracht. Einer der beiden in Prag Hingerichteten war der bekannteste sudetendeutsche Politiker, Karl Hermann Frank (1898-1946), der berüchtigte SS-Obergruppenführer und Deutsche Staatsminister für Böhmen und Mähren. Ihm wurde unter wech-

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selnden Reichsprotektoren die eigentliche Verantwortung für die verbrecherische NS-Besatzungspolitik zugeschrieben. Seine Hinrichtung am 22. Mai 1946 in Prag fand internationale Beachtung, und der deutschböhmische Publizist Egon Erwin Kisch hielt die Erinnerung daran in seiner Glosse Die letzten Schritte des K. H. Frank fest: »Noch im vorigen Jahr, als er Staatsminister des Deutschen Reiches war, Höherer SS- und Polizeiführer und dergleichen über das Protektorat Böhmen und Mähren, wo er unumschränkt regierte, als er Herr über Leben und Tod war und auch reichlich davon Gebrauch machte, als er noch der glanzvolle Tyrann Karl Hermann Frank war, wurden ihm andere Tribünen gebaut.«75 K. H. Franks Bruder Ernst Frank (1900-1982) gehörte später zu den bekannten sudetendeutschen Verlegern und veröffentlichte mehrere apologetische Bücher über seinen hingerichteten Bruder; noch 1994 ist eine Neuauflage eines solchen Erinnerungsbuches erschienen, wie wir sehen werden.76

Insgesamt sind von den 110 Parlamentariern 54 vor und 56 nach 1949 verstorben. Von der ersten Gruppe starben 17 vor 1945 und 14 im Jahre 1945 in der Tschechoslowakei, davon zehn in der Haft, und zwei wurden vermißt. Sechs wurden 1946/47 hingerichtet und weitere zwei starben in der Haft. Ab 1948 verstarben sieben in der Tschechoslowakei, davon einer in Haft, drei ehemalige Parlamentarier starben in der SBZ, drei in Österreich und sechs in Großbritannien bzw. Schweden. Die weitaus größte Gruppe starb in Westdeutschland. Es war keine repräsentative, sondern eine politisch weitgehend homogene Gruppe: 41 der in der Bundesrepublik lebenden vertriebenen Parlamentarier hatten der Sudetendeutschen Partei bzw. der NSDAP angehört, und nur zwei weitere - zwei ehemalige Sozialdemokraten - gehörten vor dem Krieg zu den NS-Gegnern: Wenzel Jaksch und Rudolf Zischka. Wie soeben erwähnt, arbeitete der Erstgenannte in den sudetendeutschen Vertriebenenorganisationen mit, während der zweite, Rudolf Zischka, zu den führenden Kritikern der Landsmannschaft gehörte. Aus unserer Übersicht geht hervor, dass 90 der 110 frei gewählten Abgeordneten und Senatoren der deutschen Parteien aktiv den Nationalsozialismus unterstützt haben, zumindest als NSDAP-Mitglieder. Damit wurde die deutsche Bevölkerung weitgehend von Politikern repräsentiert, die den Staat, in dem sie lebten und dessen Schicksal sie als Parlamentarier mitbestimmten, verrieten und im Dienste des NS-Regimes offen bekämpften. Anhand dieser Erkenntnis können die Gründe dafür, warum die Ausweisung der deutschen Bevölkerung in der tschechischen Gesellschaft breite Unterstützung fand, besser nachvollzogen werden, als wenn wir uns nur an die vertriebenen Frauen, Kinder und alten Menschen erinnern. Unsere Parlamentariergruppe weist auch auf die Gründe hin, warum es während des Zweiten Weltkriegs für die meisten Europäer schwer vorstellbar war, wie sich die von diesen Abgeordneten repräsentierte Bevölkerung nach der Niederlage des Großdeutschen Reiches stärker für das Zusammenleben mit ihren tschechischen und slowakischen Nachbarn in einem gemeinsamen Staat begeistern sollte als zuvor. Eine Fortsetzung der aus der Vorkriegszeit bekannten Probleme entlang der deutschen Ostgrenzen wollte niemand mehr fürchten müssen.

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Der Nationalsozialismus war unter den jüngeren politischen Repräsentanten der deutschen Bevölkerung in der Tschechoslowakei beliebter als unter den älteren; da sich aber die Vertriebenenpolitiker in der Bundesrepublik gerade aus der jüngeren Generation rekrutierten, war der Anteil der ehemaligen NS-Anhänger unter den sudetendeutschen Vcrtriebenenpolitikern außerordentlich hoch. Dies erklärt, warum im sudetendeutschen Erinnern an die Vertreibung und im politischen Leben insgesamt markante kulturhistorische Kontinuitäten zur NS-Zeit bemerkbar sind und warum die Erinnerungen der NS-Gegner über Jahrzehnte weitgehend verdrängt wurden.77 Das sudetendeutsche Erinnern an die Vertreibung wurde nahezu ausschließlich von Männern gestaltet; unter ihnen befanden sich überproportional viele Angehörige der ehemaligen Sudetendeutschen Partei Konrad Henleins bzw. der NSDAP. Das Erinnern wurde nicht von jenen unschuldigen Frauen, Kindern und alten Menschen geprägt, die als die eigentlichen Opfer der Vertreibung angesehen werden. Jene Männer, die für das politische Handeln der sudetendeutschen völkischen Bewegung und ihre Allianz mit dem Nationalsozialismus verantwortlich waren, trugen nach dem Krieg in hohem Maße die Mitverantwortung für die öffentliche Verbreitung von Legenden, sie schufen das undurchsichtige Zahlenlabyrinth, begründeten die feindselige Rhetorik gegenüber den Siegermächten des Zweiten Weltkriegs, unterstellten den Tschechen, Polen und Russen kollektive Gefühle der Rache und des Hasses und forderten die Revision der Nachkriegsordnung. Sie schürten Unversöhnlichkeit und behinderten eine rational-empirische historische Aufarbeitung der Erinnerungen. Auch unsere Gruppenbiographie der letzten frei gewählten Vertreter der deutschen Bevölkerung in der Tschechoslowakei zeigt deutlich, dass nicht >die Vertriebenen«, sondern die Vertriebenenpolitiker für jene Probleme verantwortlich sind, die das Erinnern an die Vertreibung bis heute belasten.

Das umstrittene Erinnern der Vertriebenenorganisationen »Bund und Länder [.../ haben Wissenschaft und Forschung bei der Erfüllung der Aufgaben, die sich aus der Vertreibung und der Eingliederung ergeben, sowie die Weiterentwicklung der Kulturleistungen der Vertriebenen und Flüchtlinge zu fördern.«11

In der Bundesrepublik ist, wie wir gesehen haben, aus der Vielfalt von Erfahrungen und Erinnerungen ein in der gesamten Gesellschaft dominantes und strukturell über Generationen gleich gebliebenes Erinnerungsbild hervorgegangen, das als Mythos Vertreibung bezeichnet werden kann.79 Zur Personifizierung dieses Narrativs sind die Vertriebenenorganisationen geworden. Ihr im Jahre 1958 gegründeter Dachverband - Bund der Vertriebenen (BdV) - ist aus jenen Organisationen hervorgegangen, die 1950 die Vertriebenen als »die vom Leid jener Zeit am schwersten betroffenen« Menschen präsentierten, wie es in der Charta der deutschen Heimatvertriebenen

Wie unterschiedlich erinnert wird heißt. Dieses Urteil formulierten die Politiker, bevor Historiker mit ihren Forschungen begonnen hatten, und auch die Ursachen der Vertreibung sollen schon bekannt gewesen sein, wie wir am Beispiel des Festakts der Ostdeutschen Landsmannschaften von 1951 in der Frankfurter Paulskirche gesehen haben: Die Oder-Neiße-Linie sei ein alter politischer Traum Polens gewesen; der tschechische Deutschenhass sei seit Generationen mit täglicher Hetze genährt worden; die Härte der deutschen Verwaltung in Warschau und Prag während des Krieges sei eine unkluge und verantwortungslose Antwort auf jenen Hass gewesen, der schon 1919 zu blutigen Gräueln geführt habe; dieser >slawische Hass« habe sich unter dem Einfluss bestimmter tschechischer und polnischer Staatsmänner gesteigert, die Stalin, Truman und Attlee die Hand bei der Unterzeichnung des Potsdamer Abkommens von 1945 geführt hätten. 80 All dies versuchen seitdem zahlreiche Vertriebenenpolitiker mit Hilfe unzähliger staatlich geförderter Autoren, Organisationen und Publikationen zu beweisen. Sie fühlen sich als Repräsentanten der Vertriebenen und fanden im Laufe des vergangenen halben Jahrhunderts viel Unterstützung in der deutschen Öffentlichkeit. Zugleich wurden sie stets auch vielfach kritisiert. Wer glaubt, was die Vertriebenpolitiker über die Vergangenheit erzählen, kommt zu einer naheliegenden Schlussfolgerung: Ihren politischen Forderungen sollte nachgekommen werden, die Vertreibung sollte ähnlich wie die NS-Verbrechen erinnert und entsprechende politische sowie staatsrechtliche Konsequenzen sollten gezogen werden. All das muss in der Nachkriegszeit vielen Deutschen rhetorisch vertraut, plausibel und logisch erschienen sein. Probleme ergaben sich aus dem fehlenden Bezug solcher Erinnerungsbilder zu den als Vertreibung bezeichneten historischen Ereignissen, und so mangelte es auch den Zielvorstellungen der Vertriebenenpolitiker an politischem Wirklichkeitsbezug. Der Bund der Vertriebenen ist die zentrale politische Plattform der Vertriebenenpolitiker und gilt als politischer Sprecher aller von Heimatlosigkeit Betroffenen: »Er ist der einzige repräsentative Verband der rund 15 Millionen Deutschen, die infolge Flucht, Vertreibung und Aussiedlung in der Bundesrepublik Deutschland Aufnahme gefunden haben und noch finden.« 81 Die wichtigsten Träger des BdV sind 21 (im Jahre 2008) Landsmannschaften als regionale Vereinigungen von so genannten Landsleuten aus verschiedenen Gebieten des östlichen Europa. Sie wurden »nicht als vom Verstände als notwendig erkannte, zur Erreichung eines bestimmten materiellen oder politischen Zweckes geschaffene Organisationen« gegründet, sondern »als organisatorisch erwachsene Form des Zusammenschlusses von Menschen gleichen Stammes und gleicher Heimat«. 8 2 Deshalb wäre es verfehlt, die Landsmannschaften als Vereinigungen der von der Vertreibung betroffenen Menschen und als politische Organisationen in dem in parlamentarischen Demokratien üblichen Sinn des Wortes zu betrachten. Die Organisationsform geht auf die völkische Tradition aus der Zwischenkriegszeit zurück, wie wir am Beispiel der schon nach 1918 im Deutschen Reich und Österreich gegründeten sudetendeutschen Heimatvereine gesehen haben. 83 Die Landsmannschaften seien »aus der Wirklichkeit der deutschen Stämme des Ostens erwachsen«. 84 Ihre Ziele betreffen primär ihre jeweiligen >Stammes- bzw. Heimatgebiete«, und sie verstehen sich nicht als demokratisch legitimierte Interessenverbände der Vertriebenen:

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Teil 4: Von der Vielfalt des Erinnerns »Die Einheit des landsmannschaftlichen Gedankens wird sich daher niemals in einer gleichen, starren Form äußern können, sondern vor allem immer in der gemeinsamen Zielsetzung, der Wiedergewinnung der Heimat und der Pflege des Heimatgedankens im weitesten Sinn dieses Wortes. Es braucht ja kaum hinzugefügt zu werden, daß diese Pflege des Heimatgedankens ihren stärksten Ausdruck in der kulturellen Arbeit finden muß.«85 Zu den Mitgliedern gehörte stets nur ein kleiner Teil der Vertriebenen. Nach Angaben der Landsmannschaften soll der Organisationsgrad der »Landsleute« 1955 nur 16,4 % betragen haben 86 , und im Jahre »1965, bei der letzten AllensbachUmfrage zum Thema Vertriebene ergab sich: N u r knapp ein Prozent gehörte einer Landsmannschaft an.«87 Genaue Angaben sind nicht bekannt, und das liegt nicht zuletzt an den Unklarheiten darüber, wer überhaupt als Vertriebener zu bezeichnen sei.88 Darüber stritten sich sogar führende Vertriebenenpolitiker untereinander; selbst einer der bekanntesten von ihnen, der in Kattowitz geborene einstige Bundesverkehrsminister und Sprecher der Sudetendeutschen Landsmannschaft, Hans-Christoph Seebohm 89 , musste sich 1950 öffentlich gegen die Vorwürfe eines anderen prominenten Vertriebenenpolitikers, Waldemar Kraft, wehren: »Es ist eine U n wahrheit von Herrn Kraft, daß ich erst im Juli 1949 entdeckt habe, daß ich Heimatvertriebener sei.« Seebohm erklärte, dass die Landsmannschaften keineswegs nur die von Flucht und Vertreibung betroffenen Menschen, sondern »die Landsleute« repräsentierten und dass »es nur darauf ankommt, daß die Mitglieder sich als Landsleute bewähren, das Bewußtsein für ihre Heimat pflegen und bereit sind, den friedlichen Kampf um die Rückgewinnung und später den Wiederaufbau ihrer Heimat durchzuführen«: »Es gibt viele Landsleute aus den deutschen Ostgebieten, die im Wege ihrer beruflichen Entwicklung oder infolge der Bedrückung durch das nationalsozialistische Regime oder infolge von Schicksalseinflüssen, die mit dem Krieg zusammenhingen, ihre Heimat vorübergehend verlassen haben oder auch zum Zeitpunkt der Vertreibung sich nicht in ihrer Heimat aufhielten. Diesen deshalb die Berechtigung abzusprechen, sich als Landsmann und Heimatvertriebener zu bezeichnen, halte ich für völlig abwegig.«90 Mit Sicherheit lässt sich nur sagen, dass sich die Klientel des BdV weder auf die von der Vertreibung betroffenen Menschen beschränkt noch deren Mehrheit repräsentiert. Die Vertriebenenpolitiker entwickelten mit Hilfe staatlicher Förderung ein beachtliches Netzwerk von Organisationen unterschiedlicher Art. Heute behauptet der BdV, er habe zwei Millionen Mitglieder. Diese Zahl kann nicht überprüft werden und ähnelt in erstaunlicher Weise der schon aus den 1950er Jahren bekannten Angabe, der BdV habe zweieinhalb Millionen Mitglieder und über 10 000 Ortsverbände. 91 Heute sollen die Mitglieder »in den rund 6.000 regionalen Gliederungen und den über 1.000 Heimatkreisvereinigungen bzw. Heimatortsgemeinschaften« organisiert sein. Dass es sich nicht nur um Vertriebene handelt, ist der Satzung des BdV zu entnehmen: »Die Mitgliedschaft in den Landsmannschaften und Landesverbänden ist nicht auf Vertriebene beschränkt; dementsprechend befinden sich unter den Mitgliedern viele Nichtvertriebene.« 92 Darüber, wie hoch der Anteil der

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Letzteren ist, liegen keine Informationen vor, und dementsprechend unklar ist, wie viele Vertriebene überhaupt zu den Mitgliedern zählen. Dennoch hat man sich in der Bundesrepublik daran gewöhnt, den BdV als die Repräsentation der von der Vertreibung betroffenen Menschen zu betrachten. Das ist ein großer politischer Erfolg für die Vertriebenenpolitiker, besonders wenn man bedenkt, wie wenig sie mit dem kulturhistorischen Wandel, der die deutsche Nachkriegsgesellschaft zu einer pluralen, demokratisch selbstbestimmten Öffentlichkeit machte, Schritt zu halten vermochten. Ihren Erfolg verdanken sie vor allem ihrer eigenartigen Stellung in der deutschen Gesellschaft, die sich aus den in der Gründungszeit getroffenen und bis heute nicht revidierten Entscheidungen ergeben hat. Die Vertriebenenpolitiker sind keineswegs nur von ihren eigenen politischen Leistungen abhängig; sie brauchen nicht um Mitglieder zu werben und ihre politischen Anliegen für die Öffentlichkeit verständlich und nachvollziehbar zu machen. Ihre Verbände sind zu einer staatlich geförderten öffentlichen Institution geworden, die von der Aura der Unschuld und eines vermeintlich von den einstigen Kriegsgegnern an der deutschen Nation verübten Unrechts umwoben ist. Daran konnte auch die Tatsache nichts ändern, dass die Träger der Vertriebenenorganisationen stets in konfliktreichen Beziehungen zu zahlreichen Vertriebenen, einem beachtlichen Teil der deutschen Medien sowie allen bisherigen Bundesregierungen standen. Die Vertriebenenorganisationen schufen und repräsentieren ein Milieu, das kulturell und politisch rasch in die Isolation geriet und dennoch bis heute im Symbolgefüge deutscher nationaler Identität hohes Ansehen genießt. Zu den bemerkenswertesten Folgen dieser Entwicklung gehört die verbreitete Stereotypisierung der Vertriebenen als einer Gruppe deutscher Staatsbürger besonderer Art. Die Landsmannschaften, die sich als ihre Repräsentanten ausgeben, werden entweder als Vereinigungen von Ewiggestrigen angeprangert oder als unverstandene Opfer einer feindseligen Welt verteidigt, meist jedoch einfach ignoriert, und die jeweilige Sicht wird oft gedankenlos auf die Gesamtheit der einstigen Vertriebenen übertragen. Über die Frage, warum eigentlich Organisationen, die sich als Repräsentanten von »rund 15 Millionen« 93 von schwerem Leid betroffener Menschen präsentieren, in einer modernen demokratischen Gesellschaft zum O b jekt endloser Kontroversen geworden sind, wird kaum diskutiert. Deswegen wird oft übersehen, dass all die verschiedenen Bilder >der< Vertriebenen eines gemeinsam haben: Die Vertriebenen werden mit dem Etikett einer vermeintlichen kulturellen Eigenart versehen und somit mental aus dem kulturhistorischen Kontext der Bundesrepublik ausgegrenzt, obwohl ihnen von fast allen politischen Parteien stets Sympathiebekundungen entgegengebracht werden. Diese Stellung der Vertriebenenverbände geht auf die Förderung eines angeblich besonderen ostdeutschen Kulturerbes durch bundesdeutsche Politiker zurück. Letztere schufen damit zwei schwerwiegende kulturpolitische Hürden auf dem Wege zur mentalen Integration der Vertriebenenpolitiker: Erstens trugen sie zur Verfestigung und zur allgemeinen Akzeptanz der Vorstellung bei, dass die Vertriebenenorganisationen eine besondere Kultur sui generis repräsentieren würden, die sich von der ihrer Umwelt unterscheide. Zweitens erklärten sie es zu ihrer Aufgabe, jenes angeblich besondere Kulturgut zu bewahren. So wurde das schon erwähnte Image der Vertriebenen als >am schwersten vom Leid der Zeit betroffenen« Men-

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sehen durch deren Nimbus als einer kulturell eigenständigen und ein wenig absonderlichen Gruppe ergänzt; die Landsmannschaften gelten als Hüter nicht nur des vermeintlich authentischen und daher > richtigen« Erinnerns an die Vertreibung, sondern auch eines eigentümlichen Kulturguts. Fahnenaufzüge und puppenartig wirkende Trachtenfrauen sind das bekannteste Symbol der Vertriebenenkultur, obwohl sich weder in Schlesien noch in der Tschechoslowakei oder anderswo die Deutschen je anders als andere Europäer gekleidet haben, und auch die Vertriebenen auf deutschen Straßen nicht an ihrer Kleidung erkennbar sind. In der Schaffung des Stereotyps der Vertriebenen als einer kulturell von anderen Deutschen abweichenden Gruppe wurden den Vertriebenenpolitikern durch die staatliche Kulturförderung Grundlagen zur Betätigung außerhalb der bundesdeutschen Öffentlichkeit erschaffen, die maßgeblich zum Fortleben jener Tendenz aus der Nachkriegszeit beigetragen haben, die die Vertriebenen als Fremde auszugrenzen pflegte.94 Ausgestattet mit dem Image von Repräsentanten der am schwersten betroffenen Kriegsopfer mit besonderer Gruppenkultur sowie mit gesicherten staatlichen Finanzmitteln in beträchtlicher Höhe, brauchten die Vertriebenenpolitiker weder auf die politische und kulturhistorische Vielfalt der Vertriebenen noch auf kritische Stimmen aus der deutschen Öffentlichkeit Rücksicht zu nehmen. Ihr auf Bewahrung einer vermeintlichen kulturellen Eigenständigkeit gerichtetes Image regte nicht dazu an, sich in die bundesdeutsche Gesellschaft einzufügen und auf abweichende Haltungen als selbstverständliche Bestandteile einer freien demokratischen Diskussionskultur zu reagieren. Das ist der Grund, warum die Vertriebenenverbände seit Generationen wiederholen und fordern, was ihre Mitglieder schon in der Gründungszeit glaubten und forderten, als wäre das Festhalten an den Erinnerungsbildern und Zielvorstellungen der unmittelbaren Nachkriegszeit lobenswert. In einer Gesellschaft, in der die Vergangenheitsbewältigung im Sinne einer Loslösung von kulturhistorischen und mentalen Kontinuitäten zugunsten der Zuwendung zu freiheitlich-demokratischen Wertvorstellungen und Praktiken rasche Fortschritte machte, konnten Kontroversen um die Pflege des in den 1930er und 1940er Jahren noch populären völkischen >Kulturerbes< und die diesem >Erbe< verpflichteten Vertriebenenorganisationen nicht ausbleiben, auch wenn ihr Anspruch, für alle Vertriebenen in der Bundesrepublik zu sprechen und zu handeln, selten in Frage gestellt worden ist.

Das Bundesvertriebenengesetz (Gesetz über die Angelegenheiten der Vertriebenen und Flüchtlinge, BVFG) aus dem Jahre 1953 sichert im Paragraphen 9 6 die Grundfinanzierung der Kulturpflege der Vertriebenen und damit wohl auch der Pflege des Erinnerns an die Vertreibung aus den öffentlichen Haushalten, darunter auch dem Bundeshaushalt. Die Geschichte der Vertreibung wird darin zwar nicht direkt als ein Themen- oder Aufgabenbereich genannt, dürfte aber unter die »Aufgaben, die sich aus der Vertreibung und der Eingliederung ergeben«, fallen:

Wie unterschiedlich erinnert wird »Bund und Länder haben entsprechend ihrer durch das Grundgesetz gegebenen Zuständigkeit das Kulturgut der Vertreibungsgebiete in dem Bewußtsein der Vertriebenen und Flüchtlinge, des gesamten deutschen Volkes und des Auslandes zu erhalten, Archive, Museen und Bibliotheken zu sichern, zu ergänzen und auszuwerten sowie Einrichtungen des Kulturschaffens und der Ausbildung sicherzustellen und zu fördern. Sie haben Wissenschaft und Forschung bei der Erfüllung der Aufgaben, die sich aus der Vertreibung und der Eingliederung der Vertriebenen und Flüchtlinge ergeben, sowie die Weiterentwicklung der Kulturleistungen der Vertriebenen und Flüchtlinge zu fördern.«95 In welcher H ö h e die Kulturförderung erfolgt, lässt sich ebenso wenig feststellen wie die Zahl der Vertriebenen, denen sie jeweils zu Gute kommt. Es handelt sich jedoch um beachtliche Summen. Im Jahre 1998 soll allein die vom Bund aufgewendete Summe ca. 23,6 Millionen Euro betragen haben; unter der rot-grünen Regierung soll sie gekürzt, von der darauf folgenden Regierung der Großen Koalition wieder angehoben und im Jahre 2009 ca. 17,8 Millionen Euro erreicht haben. 96 Insgesamt ist es schwierig, sich eine Vorstellung von der Höhe und Verwendung der Fördermittel zu verschaffen, denn auch hier treffen wir auf ein verwirrendes Zahlenlabyrinth. Die in der Öffentlichkeit genannten Zahlen sind recht unterschiedlich, zumal die Vertriebenenverbände aus verschiedenen Bundes- und Landesministerien unterstützt werden. Viele Kultureinrichtungen, die der Kulturförderung nach § 96 BVFG dienen, bestehen zugleich als eigenständige Rechtsträger, die zwar formell, aber keineswegs faktisch ihre Aufgaben unabhängig von den Vertriebenenverbänden wahrnehmen. Zur Illustration der Schwierigkeiten bei der Suche nach Informationen über die finanziellen Mittel, mit denen die deutschen Steuerzahler das kulturelle Leben der Vertriebenenorganisationen unterstützen, genügen einige wenige Beispiele aus der Fachliteratur. So schreibt etwa der Historiker Manfred Kittel: »Zumindest die finanziellen Zuwendungen für die Kulturarbeit der Vertriebenen wuchsen während der Ära Kohl von 3 Millionen D M (1982) auf über 45 Millionen D M (1998) exponentiell an.« 97 Im Handbuch des BdV aus dem Jahre 1993 ist dagegen zu erfahren, dass für die ostdeutsche Kulturarbeit 1980 rund 12,6 Millionen D M aus Bundesmitteln und rund r6,5 Millionen D M von den Ländern aufgewandt wurden, um rund 200 Zuwendungsempfänger zu fördern. 98 Die größten Teile kamen der »Kultur-, Heimat- und Volkstumspflege« sowie der »Wissenschaft und Forschung« zugute, in weiteren Rubriken einer entsprechenden Aufstellung werden etwa Schrifttum und Büchereien, Ostdeutsche Häuser, Ausstellungen, Ostkunde, Ostdeutsche Wochen, Wettbewerbe oder Patenschaften aufgeführt. Die regionale Aufteilung zeigt, dass ca. 73,7 % der Gesamtaufwendungen den überregionalen Einrichtungen und Aufgaben gewidmet wurden, von den restlichen Mitteln kamen knapp ein Drittel den »Nordostdeutschen« und je knapp ein Viertel den »Schlesiern« und den »Mitteldeutschen«, 16,5 % den Sudetendeutschen und rund 5 % den Südostdeutschen zugute. 99 Der historischen Forschung zur Geschichte der Vertriebenen wurde dabei wenig Aufmerksamkeit gewidmet, weil das Erinnern an das »Kulturgut der Vertreibungsgebiete« und die »Kulturleistungen der Vertriebenen und Flüchtlinge« eindeutig im Vordergrund standen.

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Teil 4: Von der Vielfalt des Erinnerns Was sich hinter diesen Zahlen verbirgt, wurde etwas konkreter anhand einer parlamentarischen Anfrage für das Jahr 1996 erklärt: Von ca. 20,5 Millionen D M für die institutionelle Förderung gingen damals die höchsten Zuwendungen an das Marburger Herder-Institut (2,9 Millionen DM) und die Stiftung Deutschlandhaus Berlin (2,36 Millionen DM). Sieben weitere Institutionen wurden mit Summen zwischen einer und zwei Millionen D M und weitere 11 Institutionen mit Summen unter einer Million DM gefördert. Von ca. 22,6 Millionen DM Projektmitteln wurden etwa 7,1 Millionen für Museen, 2,36 Millionen für Wissenschaft, 4,4 Millionen für »kulturelle Breitenarbeit« und weitere Summen unter einer Million für Bibliotheken, Musik, Kunst und Literatur bereitgestellt. Hinzu kamen 1,2 Millionen D M für »kulturelle Aussiedlcr-Integration« und eine relativ erstaunlich hohe Summe - 6,3 Millionen DM - für »grenzüberschreitende Kulturarbeit«.' 00 Welche finanziellen Mittel die Vertriebenenpolitiker je zur Erforschung der Geschichte der Vertreibung zur Verfügung gestellt bekamen, scheint nicht feststellbar zu sein. Fest steht nur, dass es den Vertriebenenorganisationen trotz dieses hohen Aufwands nicht gelungen ist, zur Suche und Verbreitung von auch nur grundlegenden Informationen über die Vertreibung viel beizutragen. 101 Jutta Faehndrich stellte in ihrer Untersuchung der Heimatbücher der Vertriebenen fest, dass die Geschichte der Vertreibung kaum behandelt wird: »Die Schilderung der eigentlichen Vertreibung fällt interessanterweise in fast allen Heimatbüchern recht knapp aus; daß in einem Buch von 800 Seiten dem Zweiten Weltkrieg, der Besetzung durch die Rote Armee und der Vertreibung acht Seiten eingeräumt werden, ist durchwegs repräsentativ.« 102 Die gängigen Erinnerungsbilder beschrieb der finnische Historiker Pertti Ahonen so: »In der Diktion der Vertriebenenverbände konstituierten die Vertreibungen nicht nur >ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit und einen Verstoß gegen die fundamentalen ethischen Prinzipien unserer Zivilisation«. Wegen ihrer unterschiedslosen Brutalität und ihres übergroßen Ausmaßes handele sich um etwas noch viel Schlimmeres: >das größte Kollektivverbrechen in der Geschichte«, das den Vertriebenen einen mit den jüdischen Überlebenden des Holocaust vergleichbaren Opferstatus verlieh.«103 Solche Erinnerungsbilder und historischen Urteile beruhen nicht auf der wissenschaftlichen Erforschung der Erfahrungen der Betroffenen, sondern weisen Übereinstimmung mit dem oben erwähnten Mythos Vertreibung auf. Die bis heute praktizierte Kulturförderung gemäß § 96 des Bundesvertriebenengesetz, die der in den 1950er Jahren konzipierten »Aufklärung« des I n - u n d Auslandes im Sinne des Anti-Potsdam-Revisionismus diente, behinderte die Öffnung der Vertriebenenverbände für die kulturelle Vielfalt der persönlich betroffenen Menschen. Gerade Letzteres aber wäre der Erforschung der als Vertreibung bekannten historischen Ereignisse zu Gute gekommen, und noch mehr: Es wäre die unabdingbare Voraussetzung gewesen für ein besseres Kennenlernen der Geschichte der Vertriebenen über das hinaus, was schon die ersten bundesdeutschen Politiker erzählt hatten. So wie es gekommen ist, hatte die in der Charta der deutschen Heimatvertriebenen von 1950 verankerte Vorstellung, dass die Vertriebenen die vom Leid jener Zeit am schwersten betroffenen Menschen gewesen seien, das Ausbleiben der Auseinan-

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dersetzung mit dem Nationalsozialismus in den Vertriebenenorganisationen zur Folge, und das entfremdete dieses Milieu jenen Teilen der deutschen Gesellschaft, die sich um eine Aufarbeitung der NS- und Kriegsgeschichte bemühten, einschließlich solcher Teile der einstigen Heimatlosen.

Die Vertriebenenorganisationen stellten sich von Anfang an als Verbände der unschuldigen Opfer schwerer, von den einstigen Kriegsgegnern verübter Unrechtshandlungen dar und schwiegen über die Geschichte ihrer Mitglieder und Funktionäre in der NS-Zeit. Sie prangerten wirkliche oder vermeintliche sowjetische, polnische und tschechische Gräueltaten, Fehlentscheidungen der alliierten Großmächte sowie vermeintliche Irrwege der gesamten europäischen Geschichte an. Damit begünstigten sie das Fortleben jener kulturhistorischen Tradition, durch die die Deutschen als Nation in ein langwieriges und teilweise bis heute fortdauerndes mentales Konfliktverhältnis zu anderen europäischen Nationen geraten ist. Es überrascht daher nicht, dass sich die Protagonisten solcher Geschichtsbilder stets auch der Hinweise auf das vermeintlich schon nach dem Ersten Weltkrieg den Deutschen zugefügte Unrecht und entsprechender Traditionen bedienen. In der sich wandelnden Bundesrepublik sind die Vertriebenenorganisationen zu einer wichtigen Plattform für das Fortleben kulturhistorischer Traditionen aus der Zwischenkriegs- und der NS-Zeit geworden.104 Unter den führenden Vertriebenenpolitikern, die als »unschuldige Vertreibungsopfer« angesehen werden wollten, waren die einstigen Nationalsozialisten von Anfang an nicht nur zahlreich vertreten, sondern auch einflussreich; selbst unter den Mitautoren und Signataren der Charta der deutschen Heimatvertriebenen fanden sich SS-Angehörige wie Waldemar Kraft, Rudolf Wagner oder Erik von Witzleben.105 Andere beklagten nun den Heimatverlust und versuchten zu verschweigen, dass sie ihn zuvor bejubelten - wie etwa Axel de Vries, als er in der Rcvalschen Zeitung vom 18. Oktober 1939 schrieb: »Heute verläßt der erste deutsche Dampfer mit Volksdeutschen Umsiedlern den Hafen unserer alten Stadt. Nach langen Tagen mühevoller Vorbereitungen und unruhevollen Wartens geht die erste geschlossene Gruppe Baltendeutscher an Bord, dem Ruf des deutschen Volkes und seines Führers folgend.«'06 Selbst unter den beliebten Rechtsexperten des Vertriebenenmilieus begegnen wir ehemaligen Nationalsozialisten wie Hermann Raschhofer(i905-i979). Der gebürtige Österreicherwirkte 1941 bis 1945 als Professor und Direktor des Instituts für Völkerrecht und Reichsrecht an der deutschen Universität in Prag und gehörte zum engen Kreis der Vertrauten von Karl Hermann Frank; nach dem Krieg profilierte sich Raschhofer, seit 1955 ordentlicher Professor für Völkerrecht an der Universität Würzburg, als Rechtsexperte für Vertreibungsfragen, und eines seiner Bücher wurde noch 1988 als »Standardwerk« neu aufgelegt.107 Diese Personalpolitik im Vertriebenenmilieu wurde nicht von allen Bundesbürgern gebilligt. Entsprechenden kritischen Hinweisen begegnete die Öffentlichkeit immer wieder. Selbst im viel gelesenen Nachrichtenmagazin Der Spiegel war etwa in einem Bericht vom Sudetendeutschen Vertriebenentreffen im Jahre 1961 zu lesen:

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Teil 4: Von der Vielfalt des Erinnerns »Daß die tschechische Endlösung des sudetendeutschen Problems ohne den nationalsozialistischen Sündenfall der deutschsprachigen Einwohner Böhmens und Mährens schlechterdings nicht möglich gewesen wäre, übersehen die von Seebohm angeführten Landsmannschafts-Revisionisten freilich geflissentlich. Die von ihrem früheren Parteifreund Karl Hermann Frank ab 1939 unter dem Schutz deutscher Bajonette eingeleitete und nur durch den Einmarsch alliierter Truppen beendete Zwangsgermanisierung des tschechischen Volkes werten sie heute als belanglose Episode, die eigene Austreibung durch die Benesch-Miliz hingegen als eine Art Völkermord.«' 08 Besonders häufig wurde der sudetendeutsche Witikobund kritisiert. »Aus einer Mitgliederliste des >Witiko-Bundes< geht hervor, daß von 634 Mitgliedern (1958) über 600 sudetendeutsche NS-Funktionäre waren«, war 1961 in der Wochenzeitung Die Zeit zu lesen: »Von den 13 Mitgliedern des Bundesvorstandes der sudetendeutschen Landsmannschaft sind zehn Witiko-Leute. Vorsitzender ist Dr. Franz Böhm, einst persönlicher Referent Henleins, parteiamtlicher NSDAP-Gaurichter und Beisitzer des Standgerichts in Reichenberg. Ein Vorstandsmitglied, Dr. Franz Ohmann, war bis zum März dieses Jahres Amtsrichter in Hessen. Dann wurde er amtsenthoben. Die Staatsanwaltschaft wirft dem ehemaligen Gestapo-Mitarbeiter vor, in Prag die Personalbogen von inhaftierten Juden und Antifaschisten mit dem Vermerk »Rückkehr unerwünscht« versehen zu haben. Während sich Staatsanwaltschaften und Gerichte mit sudetendeutschen Vertriebenenfunktionären befassen (der überführte Schreibtischmörder Krumey war Kreisobmann der sudetendeutschen Landsmannschaft), beschäftigt sich der WitikoBund mit der Zukunft der alten Heimat.«' 09 Aber es waren nicht nur die Vertriebenenpolitiker, die der eigenen Geschichte aus dem Wege gingen, auch die Bundesregierungen nahmen an der Vergangenheit ihrer Mitglieder und Beamten wenig Anstoß: »Der Mann, der Adenauers CDU die Vertriebenen zuführte und zur Symbolfigur für die Rechtslastigkeit dieser Liaison wurde, war Theodor Oberländer, der Ressortminister von 1953-1960. Der promovierte Land- und Volkswirtschaftler aus Thüringen war einst beim Hitler-Putsch von 1923 mitmarschiert, hatte als Reichsführer des Bundes Deutscher Osten (BDO) und als Ostexperte der WehrmachtsSondereinheit »Nachtigall« maßgeblich zur »rücksichtslosen Germanisierung« der östlichen Nachbarn beigetragen. Oberländer brachte es sogar fertig, die Schlüsselpositionen seines Ministeriums systematisch mit ehemaligen Nationalsozialisten zu besetzen.«" 0 Solche Kontinuitäten wurden auch von vielen Vertriebenen angeprangert. So lesen wir indem 1962 veröffentlichten Buch Die Henleins gestern und heute des aus der Tschechoslowakei stammenden Kurt Nelhiebel eine deutliche Anklage »gegen die ehemaligen Führer der »Fünften Kolonne« Hitlers«. Nelhiebel dokumentierte schon damals detailliert die NS-Vergangenheit sowie das politische Wirken zahlreicher führender sudetendeutscher Vertriebenenpolitiker und warnte vor der »Wiederkehr der sudetendeutschen Nationalisten in das öffentliche Leben«. Ihren Einfluss hielt er für äußerst bedenklich, wies aber auch darauf hin, dass die Verantwortung nicht bei ihnen allein zu suchen sei: »Von dieser Verantwortung kann auch

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die Bundesregierung nicht freigesprochen werden, da sie sich mit den politischen Zielen und revanchistischen Forderungen der Landsmannschaftsfunktionäre identifiziert.«111 Welche Folgen die personellen Kontinuitäten zwischen der NS- und der Nachkriegszeit in den Vertriebenenorganisationen für das Erinnern an die Vertreibung hatten, wurde dennoch bis heute nicht erforscht, analysiert und in der Öffentlichkeit diskutiert.

Die Vertriebenenpolitiker trugen nicht nur zum Fortleben der mentalen Kontinuitäten vor und nach 1945 bei, sondern erhoben auch den Anspruch auf einen besonderen Status im politischen Leben der Bundesrepublik. Sie protestierten und klagten ständig aus der Position einer moralisch und deutschlandpolitisch mit Sonderrechten ausgestatteten Gruppe gegen alles Mögliche. Dieses Auftreten begründete ihren Ruf als ewige Querulanten, aber kaum jemand zerbrach sich den Kopf mit der Frage nach dessen Ursachen. Viele Deutsche gaben sich mit dem kollektivistischen Stereotyp zufrieden, die Vertriebenen seien eben anders als andere Deutsche, sie seien durch ihre leidvollen Erfahrungen gezeichnet, traumatisiert und deshalb weniger vernünftig oder politisch schlechter orientiert als ihre Mitbürger. Das ist ein Stereotyp, das die Vertriebenen nicht verdienen, aber ein Blick in die Geschichte der Vertriebenenorganisationen macht verständlich, warum vielen Deutschen dieses Bild plausibel erscheint und wie die Vertriebenenpolitiker dazu beigetragen haben. Schon die Vorläufer des heutigen BdV beklagten sich unentwegt. So fühlte sich etwa Linus Kather von den Kritikern seiner Rede bei der Verabschiedung der Charta der deutschen Heimatvertriebenen missverstanden, aber er akzeptierte die Kritik nicht als einen selbstverständlichen Bestandteil des freien demokratischen Lebens und reagierte darauf nicht mit sachlichen Argumenten. Vielmehr forderte er Sonderrechte für sich und seine Organisationen; jeder Einsatz für das Vertriebenenproblem sei als Arbeit zum Wohle des ganzen Volkes zu betrachten und deshalb solle man »unseren Organisationen nicht mit Mißtrauen begegnen, sie nicht bekämpfen, sondern sie mit aller Kraft stützen und fördern«.112 Die Vorstellung, dass die Vertriebenenorganisationen eine privilegierte Stellung im öffentlichen Leben genießen sollten und dass sie für das Wohlergehen der deutschen Nation wichtiger seien als die Stimmen ihrer Kritiker, führte bei Vertriebenenpolitikern zu einer spezifischen Variante des politischen Klagelieds: Sie stellten sich als Repräsentanten nicht nur aller Vertriebenen, sondern sogar des »Wohles des ganzen Volkes« dar. Diese Einstellung erschwerte ihnen zwar den Umgang mit allen abweichenden politischen Haltungen, sicherte ihnen aber die Unterstützung all jener Kreise, in denen nationale Rhetorik populärer als liberal-demokratische Wertvorstellungen war. Deshalb waren führende Vertriebenenpolitiker häufig mit den sie fördernden Bundesregierungen unzufrieden: »Die Bundesregierung hat die Aufgabe, das Unrecht der Vertreibung und den Anspruch der Vertriebenen auf Wiedergutmachung klarer und energischer als bisher im Bewußtsein des deutschen Volkes und der ganzen Welt wachzuhalten und zu verteidigen«, hieß es etwa 1954." 3 Auch als der

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Teil 4: Von der Vielfalt des Erinnerns Bundestag 1955 das Saarstatut akzeptierte, wurde protestiert: »Die Bundesrepublik als Teil Deutschlands ist nicht berechtigt, Verträge über einen anderen Teil Deutschlands abzuschließen. Das Abkommen verstößt gegen das deutsche Staatsrecht und ist daher aus doppeltem Grunde nichtig.««"4 Selbst mit dem ersten Bundeskanzler Konrad Adenauer waren die Vertriebenenpolitiker unzufrieden, weil er beispielsweise 1957 in einem Interview in den USA »das Recht auf die Heimat« nicht als einen territorialen Anspruch präsentiert habe: »Der Bundeskanzler hat dem Begriff »Recht auf die Heimat« eine Auslegung gegeben, die es zu einem reinen Aufenthaltsort degradiert. Als dieser Begriff erstmalig in der »Charta der deutschen Heimatvertriebenen« Verwendung fand, haben die Unterzeichner der »Charta« nicht mit der Möglichkeit gerechnet, dass er in dieser abwegigen Weise interpretiert werden würde. Diese Interpretation muß schärfstens abgelehnt werden.«" 5 Viele Vertriebenenpolitiker konnten sich nicht nur in der Bundesrepublik, sondern auch in Europa nur schwer orientieren. Als Sir Winston Churchill 1956 mit dem Internationalen Karlspreis der Stadt Aachen geehrt wurde, demonstrierte in Aachen der Kreisverband des Bundes der vertriebenen Deutschen. Die Preisverleihung sei eine »Entgleisung bedeutenden Ausmaßes«, wenn »man einen Mann wegen besonderer Humanität auszeichnet, der eine Mitverantwortung für den grauenvollen Tod« von »mehr als 3 Millionen Menschen« trage, aber nicht nur das: »Es ist eine nicht wegzuleugnende geschichtliche Tatsache, daß Sir Winston Churchill sowohl mit dem Tatbestand der Vertreibung von mehr als 15 Millionen Deutschen aus ihrer Heimat, wie auch mit der Zerreißung unseres Vaterlandes in mehrere Teile in ursächlichem und auch schuldhaftem Zusammenhang steht. [...] Er ist mitverantwortlich dafür, daß die Voraussetzungen für eine wirkliche europäische Gemeinschaft bis auf weite Sicht nicht gegeben sind. [...] Für uns endet die Wiedervereinigung nicht an der Oder-Neiße-Linie, und für uns gehören zu Gesamtdeutschland auch die deutschen Vertreibungsgebiete.«'16 Die Erwartungen der Vertriebenenpolitiker richteten sich in erster Linie an die Außenpolitik. Mal forderten sie den Abbruch der diplomatischen Beziehungen zu Jugoslawien" 7 , mal protestierten sie gegen eine politische Erklärung des französischen Ministerpräsidenten Michel Debre als »Affront gegen legitime deutsche Interessen«." 8 Im Jahre 1961 warnten sie sogar vor »einem nicht abzuschätzenden Einbruch des Vertrauens in die Haltung des Westens«, sollte sich das weltpolitische Meinungsklima ändern und zur Anerkennung der DDR sowie der deutsch-polnischen Grenze führen: »Der Bund der Vertriebenen friedlichen und freiheitlichen Recht des ganzen deutschen Entschlüssen respektiert und

erwartet daher, daß der Westen unbeschadet einer Regelung des Berlin-Problems auch weiterhin das Volkes auf Selbstbestimmung in seinen politischen durchzusetzen bereit ist«." 9

Mitte der 19 60er Jahre stellten die Vertriebenenpolitiker fest, dass sich ein Wandel in den internationalen Beziehungen vollzog, den sie ablehnten: »Der Bund der Vertriebenen verfolgt mit Sorge die Aufweichungserscheinungen im Bündnissys-

Wie unterschiedlich erinnert wird tem der freien Welt.« 120 Trotz der viel beschworenen deutsch-französischen Aussöhnung wurde selbst der französische Präsident angegriffen: »Die Äußerungen des französischen Staatspräsidenten Charles de Gaulle während seines Aufenthalts in Polen und in den deutschen Ostgebieten sind weit über das Maß dessen hinausgegangen, womit gerechnet werden konnte«, hieß es im Jahre 1967; der oberste Repräsentant Frankreichs habe mit »der emphatischen Reverenz vor dem polnischen Nationalismus« die Gefühle der Vertriebenen zutiefst verletzt und den »für eine dauerhafte Friedensordnung in Europa unerläßlichen Prozeß des polnischen Umdenkens nicht gefördert«.' 21 Für die Bemühungen um die Überwindung des Kalten Krieges, um eine friedliche Koexistenz und um politischen Ausgleich in Europa hatten die Vertriebenenpolitiker kein Verständnis. Wie etwa aus ihrem Protest gegen Israel aus dem Jahre 1966 hervorgeht, verstanden sie insgesamt nicht, wie sich politische Entwicklungen in internationalen Beziehungen vollziehen: »Die Bundesversammlung des Bundes der Vertriebenen bringt ihr tiefes Befremden über die Erklärungen der israelischen Regierung zur Oder-Neiße-Frage zum Ausdruck. Keine ausländische Macht hat das Recht, Entscheidungen über die deutschen Ostgrenzen vorwegzunehmen, die selbst nach dem Wortlaut der Potsdamer Protokolle der drei Siegermächte einer Friedenskonferenz vorbehalten sind. Von der Bundesregierung wird erwartet, daß sie bei der weiteren Gestaltung der Beziehungen zum Staate Israel die lebenswichtigen Interessen des deutschen Volkes mit Nachdruck vertritt.«' 22 Auch die innenpolitischen Entwicklungen erweckten zunehmend die Unzufriedenheit des BdV. Weit davon entfernt, die Auseinandersetzung der deutschen Öffentlichkeit mit dem nationalsozialistischen Kapitel der deutschen Geschichte zu fördern, protestierte der BdV 1959: »Das Präsidium des Bundes der Vertriebenen sieht sich mit tiefer Besorgnis zu der Feststellung veranlaßt, daß durch einseitige deutsche Schuldbekenntnisse und Vorleistungsangebote die außenpolitische Position der Bundesrepublik gegenüber einzelnen Ostblockstaaten in unverantwortlicher Weise untergraben wird.« 123 Das Erinnern an die Vergangenheit wurde von den Vertriebenenpolitikern den eigenen außenpolitischen Zielsetzungen untergeordnet. Das begründete die bis heute fortdauernden sowohl innen- wie außenpolitischen Kontroversen über die Interpretation des Nationalsozialismus und der Vertreibung. Die Vertriebenenpolitiker protestierten aber auch gegen ihnen unliebsame Werke von Historikern. Im Jahre 1958 empörten sie sich über die Veröffentlichung der Studie Das Münchener Abkommen von 1938 von Boris Celovsky (1923-2008) durch das Institut für Zeitgeschichte. Damals beschäftigte sich die gesamte deutsche Presse mit dieser Studie und ihren Kritikern, wie etwa der Bayerischen Staatszeitung vom 9. Mai 1958 zu entnehmen ist: »Der Vorsitzende der GB-Fraktion 124 , Abg. [Walter] Becher, protestierte in einem Schreiben an den Kultusminister gegen den Plan, das von dem Tschechen Dr. Celovsky herausgegebene Buch über den »Vertrag von München« zur Grundlage zeitgeschichtlichen Unterrichts an den Schulen zu machen. Der Autor habe sich durch seine Tätigkeit als tschechischer Partisan in den Austreibungsjahren und

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Teil 4: Von der Vielfalt des Erinnerns durch seine in ausländischen Zeitungen erschienenen Hetzartikel über sudetendeutsche Parlamentarier für wissenschaftliche Arbeiten am Institut für Zeitgeschichte disqualifiziert, das von den Opfern der Austreibung steuerlich mitgetragen werde.« Das Buch, ursprünglich eine an der Universität Heidelberg entstandene Dissertation, zählt bis heute zu den grundlegenden wissenschaftlichen Werken zur europäischen Zeitgeschichte. Deshalb widersprachen viele Journalisten mit Entsetzen den Vertriebenenpolitikern. So zum Beispiel Harry Pross in der Deutschen Rundschau: »Stillschweigend wird vorausgesetzt, daß zeitgeschichtliche Arbeiten zu Ostfragen nach irgendjemandes Geschmack ausfallen müßten. Und dieser falschen Voraussetzung wird dann die Forderung angehängt, es müsse der eigene Geschmack sein. Welch ein Tiefstand des Denkens über deutsche Forschung! Und welche Verhöhnung der historischen Opfer! Nicht wie sie in Wahrheit gestorben sind, soll ans Licht kommen, sondern das soll erinnert werden, was gewissen Übriggebliebenen in den Kram paßt. Möge uns die Zukunft vor solchen »Sachwaltern der deutschen Sache« bewahren.«' 25 Die Vertriebenenpolitiker protestierten nicht nur gegen Studien »tschechischer Partisanen«, wie sie in diesem Fall betonten. Sie meinten auch, den Vertrieb eines ihnen unliebsamen Bandes' 26 der Schiederschen Dokumentation im Buchhandel verhindern zu können: »Der Sudetendeutsche Rat beschloß sogar, den Vertriebenenminister aufzufordern, die Publikation aus dem Buchhandel zurückzuziehen.« 127 Auch die britische Historikerin Elizabeth Wiskemann (1899-1971) machte keine guten Erfahrungen mit den Vertriebenenpolitikern, und das betraf sogar die Veröffentlichung ihres Buches Germany's Eastern NeighboursllS in Großbritannien, eines Buches, das nie ins Deutsche übersetzt wurde: »Dieses Buch erschien 1956, zu einer Zeit, da Hoffnungen auf einen Friedensvertrag mit Deutschland bestanden. Ich glaubte, ich brauche eine faire Kritik daran nicht zu fürchten. In der Bundesrepublik Deutschland gab es jedoch, nach einer günstigen Rezension Dick Crossmans im »New Statesman«, plötzlich einen Ausbruch wütender Empörung, weil ich nicht alle deutschen Ansprüche gelten liess, sondern gegeneinander abwog, was für und was gegen die Deutschen sprach. [...] Der Angriff auf mich war von eigenartiger Gehässigkeit - er verspritzte eine besondere Art von Gift, die ganz nach Goebbels-Propaganda roch. Zuerst war ich verletzt. Doch war es tröstlich, dass verschiedene deutsche Freunde mir sofort schrieben und mich ihrer Solidarität versicherten.«" 9 Auf unliebsame Berichte in deutschen Medien reagierten die Vertriebenenpolitiker genau so wie auf unliebsame Studien ausländischer Historiker. Sie sahen sich als auserwählte Zeitzeugen der Vertreibung, und selbst ein Aufruf des Norddeutschen Rundfunks an die ehemaligen Breslauer, sich zu melden und ihre Erfahrungen mitzuteilen, gefiel dem BdV nicht: »Die Organe der legitimen Repräsentation der betroffenen Bevölkerungsteile haben den Anspruch darauf, bei derartigen Vorhaben gehört zu werden. Der Anspruch muß um so mehr erhoben werden, als völlig offen ist, in welcher Art, durch welche Personen und zu welchem Zweck die Ergebnisse ausgewertet werden sollen.«' 30

Wie unterschiedlich erinnert wird Die Vertriebenenpolitiker erhoben damit den Alleinvertretungsanspruch im Erinnern an die Vertreibung und glaubten, freie demokratische Diskussionen unterbinden zu können; gerne hätten sie sogar die deutsche Geschichtswissenschaft kontrolliert: »Wir meinen, daß nicht zugelassen werden darf, daß jene tendenziöse deutsche Geschichtsschreibung die Oberhand gewinnt, welche die Verstrickung der europäischen Völkerschicksale und damit die objektiven Ursachen der Kriege und Revolutionen der Gegenwart unterschlägt und eine deutsche Alleinschuld konstruiert.«131 Im Jahre 1966 glaubten die Vertriebenenpolitiker nicht nur über die Erinnerungshoheit in Sachen Vertreibung zu verfügen, sondern auch über das Erinnern an den Nationalsozialismus entscheiden zu können: »Wir sind Opfer einer maßlosen Vergeltung geworden. Daraus leiten wir das Recht ab, unsere Stimme gegen einseitige Schuldbehauptungen zu erheben, die unser ganzes Volk noch auf lange Zeit hinaus qualifizieren sollen.«'32 Liest man die politischen Stellungnahmen der Vertriebenenpolitiker aus dem halben Jahrhundert ihrer Geschichte, begreift man rasch, warum sie sich stets über die deutsche und internationale Öffentlichkeit beklagen: Sie interpretieren jede abweichende politische Haltung als unvernünftig und jede kritische Stimme als diffamierend. Sie suchen eigene Meinungen nicht sachlich zu begründen, und deshalb haben sie Schwierigkeiten, ihre Umwelt zu verstehen und sich mit ihr zu verständigen. Seit den frühen 1960er Jahren, als die schwersten Mühen der materiellen Rekonstruktion im zerstörten Deutschland vorüber waren und die deutsche Öffentlichkeit immer selbstbewusster ihre Freiheit zur demokratischen Selbstbestimmung in Anspruch zu nehmen begann, wurde auch über die Außenpolitik dieses Staates öffentlich nachgedacht und diskutiert. In solche politischen Debatten vermochten sich die Vertriebenenpolitiker überhaupt nicht mehr einzubringen. Die Unfähigkeit, abweichenden Haltungen argumentativ zu begegnen, vertiefte zunehmend die Kluft zwischen den Vertriebenenverbänden und vielen deutschen Journalisten. »Die Bundesversammlung des Bundes der Vertriebenen wendet sich mit allem Ernst gegen Tendenzen in einem Teil der öffentlichen meinungsbildenden Organe, den deutschen Rechtsstandpunkt in der Frage der Wiederherstellung der deutschen Einheit, der Vertretung des Rechts auf die Heimat und des Selbstbestimmungsrechts für alle Deutsche abzuwerten«, hieß es etwa 1963; von den Länderregierungen wurde gefordert, »Staatsverträge und die Satzungen« der öffentlichen Rundfunkanstalten zu überprüfen. 133 Neben rechthaberischen Anspruchshaltungen wurde auch die Selbststilisierung der Vertriebenenpolitiker als einer verfolgten Minderheit bald zu einem Markenzeichen ihrer öffentlichen Stellungnahmen: »Das Präsidium erblickt in den von einzelnen Massenmedien immer hemmungsloser wiederholten Angriffen gegen die Vertriebenenverbände, gegen die Pflege des ostdeutschen Kulturgutes und die heimatpolitischen Ziele der Landsmannschaften einen Teilaspekt der Gesamtoffensive gegen die erklärte Deutschlandpolitik der Bundesregierung und der politischen Parteien.«' 34

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Die öffentliche Diskussion im Vorfeld der Brandtschen Ostpolitik befremdete ien BdV zutiefst. Man konnte den Eindruck gewinnen, als hätten seine Funktioiäre zwei Jahrzehnte nach Kriegsende immer noch nicht verstanden, dass derartige Kontroversen im demokratischen Alltag selbstverständlich sind. Am 30. lVärz 1968 hieß es: »Der Bund der Vertriebenen wendet sich entschieden gegen Voreingenommenheit und Einseitigkeit weiter Bereiche von Rundfunk und Fernseher bei der Berichterstattung und Kommentierung über die Vertriebenen und die Vertreibungsgebiete.«'35 Die Vertriebenenpolitiker verwechselten Kritik mit »Schmähtng« und politisch-diplomatische Diskussionen über die Grenzfrage mit einer Rechrfer-

Abb. 25 Mitte der 1960er jähre vertieft! sich die Kluft zwischen den Verthebenenvirbänden und der deutschen Öffentlichkeit zunehmend. Während 1965 die Deutxhe Bundespost an die Leidenserfahrmgen der einstigen Heimatlosen mit einer Iriefmarke erinnerte, veranstalteten Vertrietenenpolitiker trotzige Demonstrationen ihres Unwillens, sich mit der Nachkriegsoidnung in Europa zu versöhnen, wie hier aus einer Sonderpostkarte anlässlich des SchlesierTreffens aus demselben jähr ersichtlich wird.

Schlesierstrophe zum Deutschlandlied Schlesien, uns von Gott gegeben, deutsch-germanisch' Heimatland; Kunst, Kultur und Wirtschaft weben seit Jahrtausenden ein Band. Der Geschichtslauf wird sie richten, die das Schlesierland geraubt. / : Unser Volk wird nie verzichten, weil's an heilig' Rechte glaubt. :/

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tigung der Vertreibung: »Die Vertriebenen als die Opfer eines Verbrechens der Unmenschlichkeit werden geschmäht, die Vertreiber hingegen entschuldigt und deren gewaltsame Annexion zum Recht erklärt.« 1 ' 6

»Den Vertriebenen zu erklären, daß sie nie einen dem früheren ähnlichen Zustand deutscher Besiedlung der östlichen Gebiete erwarten können, zögert jede Regierung und jede Partei«, bemerkte i 9 6 0 der Philosoph Karl Jaspers. Er könne sich höchstens individuelle Rückkehrmöglichkeiten für »deutsche Heimkehrer als loyale polnische Staatsbürger« aufgrund von zwischenstaatlichen Abmachungen vorstellen: »Wer mehr verspricht, der drängt, auch wenn er sagt »auf friedlichem Wege«, unbewußt auf den Weltkrieg zu, an dessen Ende all diese Fragen überhaupt nicht mehr existieren würden.« 1 3 7 Die Möglichkeiten zur individuellen Rückkehr interessierten aber die Vertriebenenpolitiker nicht: »Neue tschechische Erklärungen, man werde individuelle Anträge auf Repatriierung Sudetendeutscher künftig »wohlwollend prüfen««, fänden bei ihnen keine Beachtung, berichtete 1961 Der Spiegel, weil sie sich der Parole verschrieben hätten: »Die Rückgewinnung des Sudetenlands muß Angelegenheit aller Deutschen sein.«' 38 Den Vertriebenenpolitikern lagen ganz offensichtlich »Angelegenheiten« der deutschen Nation mehr am H e r z e n als das Alltagsleben jener Bevölkerung, die sie zu repräsentieren vorgaben. So verkannten sie auch oft, dass man politische Diskussionen z. B. über Grenzfragen sehr wohl mit Empathie für die Vertriebenen verbinden konnte, wie die Schriften von Jaspers zeigen. In dessen Augen wurden die Vertriebenen besonders hart von den Folgen des Nationalsozialismus getroffen: »Obgleich das Unheil zu den Folgen Hitlerdeutschlands gehört, trifft es doch den Vertriebenen und nicht in gleicher Weise alle Deutschen.« Das sei ungerecht, aber: »Das Heimatgefühl mit dem umfassenden Nationalbewußtsein und dieses mit dem Nationalstaatsgedanken zu identifizieren, das hatte einen Sinn, als sich dies alles in glücklichen Fällen gegenseitig zu tragen vermochte. Jetzt bedeutet solche unklare Vermischung, daß die politischen Dinge nicht in ihren heute faktischen Proportionen gesehen werden. Ein blinder Drang zur Wiedervereinigung (in den Grenzen von 1937) würde sich an die Stelle setzen des Willens zu einem vielleicht möglichen Wiedergewinn der politischen und persönlichen Freiheit aller Deutschen. Es ist gleichgültig, in welchen staatlichen Grenzen das geschieht.«139 Dem Versuch der Vertriebenenpolitiker, territoriale Ansprüche zum Fetisch deutscher Politik zu machen, widersprach ein solches Denken diametral. Kontroversen im Erinnern an die Vertreibung haben aber eben nichts mit der Frage des Mitgefühls für die Vertriebenen und der Anerkennung ihres Leides zu tun. Karl Jaspers brachte seine Empathie für die Betroffenen ähnlich zum Ausdruck wie die meisten anderen Kritiker der Vertriebenenverbände vor und nach ihm. Einer der ersten war der einstige US-Militärgouverneur in Deutschland, General Lucius D . Clay, der in seinen Memoiren seine zwischen Mitgefühl für die Vertriebenen und Kritik an den Vertriebenenpolitikern differenzierende Haltung zu for-

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Teil 4: Von der Vielfalt des Erinnerns mulicren verstand. Er erinnerte daran, wie »tragisch« der »Auszug der Bevölkerung aus ihrer Heimat, in der sie vielfach seit mehr als hundert Jahren gelebt hatte«, war: »Und grausam war es, ja herzzerreißend, anzusehen, wie sie mit einem Arm voll Gepäck in einem Land eintrafen, in dem sie niemand willkommen hieß, in dem die verfügbaren Wohnmöglichkeiten durch Bomben und Beschuß dezimiert, die Möglichkeiten der Versorgung mit Lebensmitteln, schon bevor sie ankamen, unzureichend, Arbeitsplätze der Zerstörungen der Wirtschaft wegen rar und schwer erreichbar waren.« Dennoch beobachtete General Clay schon 1950 mit deutlichem Unbehagen das politische Geschehen unter den Vertriebenen: »Schon haben sie politische Gruppen, hauptsächlich reaktionärer Art gebildet, die die Heimkehr wünschen und fordern«. 140 In ähnlicher Weise vermochten auch viele Deutsche zwischen den leidvollen Erfahrungen der Vertriebenen und jenen »reaktionären« Politikern zu unterscheiden, die aus dem Leid der Heimatlosen ihre eigene politische Agenda zu begründen suchten. Über die Unterschiede zwischen den Vertriebenenpolitikern einerseits und andererseits denjenigen Menschen, die zu repräsentieren sie beanspruchten, wurde immer wieder berichtet. So besuchte etwa der Journalist und Schriftsteller Hans Schwab-Felisch (19181989) im Jahre 1962 das Schlesier-Treffen in Hannover und beschrieb seine Eindrücke in der Zeitschrift Der Monat. Von »einer aufgebrachten Irredenta-Stimmung« sei dort nichts zu spüren gewesen, die Mehrzahl der 300 000 Besucher sei ganz offensichtlich nicht gekommen, um den Vertriebenenpolitikern ihre Unterstützung zu geben: »Da saßen sie nun einträchtig beieinander in den großen, leergeräumten Hallen, in denen sonst blitzende Maschinen aus aller Welt ausgestellt werden. Saßen und tranken ihr Bier, ihre Milch, ihren Stonsdorfer, aßen Semmeln und Würstchen, wuselten von einer Halle in die andere, lagerten sich auf dem spärlichen Rasen, ein Bienenhaufen schwirrender Menschen, die einander suchten, besuchten, fanden oder verfehlten. Die Groß-Wartenberger suchen nach den Groß-Wartenbergern, die aus Neumarkt nach anderen, die aus Neumarkt herkamen, die Coseler nach Coselern und die Wohlauer nach Wohlauern. An den Wänden der Hallen sind die Städtenamen angebracht, und sie bezeichnen die Treffmöglichkeiten. Sie sitzen oft schon seit sechs Uhr morgens beisammen, die Alten und die Jüngeren, sie zeigen einander Bilder ihrer Familien, erkennen den und jenen wieder und reden und reden und schweigen, wenn es sich so ergibt. Zwei Tage lang geht das so zu, dann fahren alle wieder nach Hause. Und es war schön.«' 41 Hier wurde eine Form des Erinnerns beschrieben, die jeden Besucher eines Vertriebenentreffens bis heute rührt. In der medialen Berichterstattung lernt man solche Bilder allerdings selten kennen; dort wird den Politikern mehr Aufmerksamkeit geschenkt. Hans Schwab-Felisch beschäftigte sich auch mit den Vertriebenenpolitikern: »Heute haben die Vertriebenenverbände Macht. Heute weiß man oft nicht mehr zu unterscheiden, wer in allen Fragen der Ostpolitik, die bei der »DDR« beginnt und bis zur Hallstein-Doktrin reicht, wer der Getriebene und wer der Treiber ist: die Vertriebenen oder die Bundesregierung. Die Identität der ostpolitischen Auffassungen von Bundesregierung und Vertriebenen-Organisationen ist heute offensichtlich; die Meinungen einiger radikaler Gruppen, deren wahre Ziele sich hinter

Wie unterschiedlich erinnert wird den Begriffen wie »Neuordnung« verbergen könnten, mögen hier außer Acht bleiben.«' 42 Im gleichen Bericht ging Hans Schwab-Felisch auch auf die Kontroversen ein, die zu Beginn der 1960er Jahre das Erinnern an die Vertreibung begleiteten: »Das Recht auf Heimat oder, wie es neuerdings häufiger genannt wird, das Recht auf die Heimat, bereitet allen, die damit beschäftigt sind, großes Kopfzerbrechen«, meinte er und analysierte sorgfältig die verschiedenen Argumente. Dabei hob er auf die Widersprüchlichkeit und Wirklichkeitsfremdheit der deutschen Ansprüche ab, nannte das von der Bundesregierung ebenso wie von den Vertriebenenorganisationen beanspruchte Recht auf Heimat »ein Wolkenkuckucksheim« und wies darauf hin, dass es bezeichnenderweise in andere Sprachen unübersetzbar sei. Seine Schlussfolgerung bezüglich der Frage, wie Deutschland aus dieser rhetorischen Falle herausfinden könne, war recht optimistisch: »Die Einsichtigen haben das erkannt«, meinte er 1962. Allerdings gestand er zu, dass die notwendige kritische Auseinandersetzung mit dem Slogan »Recht auf die Heimat« noch ganz erhebliche Schwierigkeiten bereiten werde: »Aber nun hat man es neun oder zehn Jahre lang hochgepäppelt, mit Geld und Worten, und kann es nicht mehr aufgeben.« 143 Wie wahr! Im Jahre 2009 erhebt die C D U in ihrem Wahlprogramm immer noch die gleiche Forderung wie damals: »Die in der Europäischen Union geltende Freizügigkeit und Niederlassungsfreiheit ist ein Schritt hin zur Verwirklichung des Rechts auf die Heimat auch der deutschen Vertriebenen - in einem Europa, in dem die Völker und Volksgruppen einträchtig und ohne Diskriminierung auch aus der Vergangenheit zusammenleben können. Das Recht auf die Heimat gilt.«' 44 N u r das heute noch weniger Deutsche als damals verstehen, was damit gemeint ist.

Zu den Kritikern der Vertriebenenpolitiker gehörten oft Vertriebene selbst. In den Landsmannschaften suchten sie allerdings vergeblich nach Diskussionspartnern, dort wurde keine Kritik geduldet, selbst wenn es sich bei den Kritikern keineswegs um politische Außenseiter handelte. Die »Erklärung ehemaliger Funktionäre und Mitglieder der Deutschen Sozialdemokratischen Arbeiterpartei in der Tschechoslowakischen Republik« beispielsweise wurde 1965 von drei 1935 gewählten Abgeordneten der tschechoslowakischen Nationalversammlung, Franz Kögler (18911983), Franz Krejci (1888-1973) und Rudolf Zischka (1895-1980), verfasst.145 Wie schon oben dargestellt, hatten auch sie bei den letzten freien Wahlen der Deutschen in der Tschechoslowakei zu den Repräsentanten einer kleinen Opposition gegen die Sudetendeutsche Partei und ihre Verbindungen zum Nationalsozialismus gehört. Dreißig Jahre später standen sie gleichermaßen der Sudetendeutschen Landsmannschaft kritisch gegenüber - diesmal richtete sich ihre Kritik vor allem gegen die ehemaligen Nazis in der Landsmannschaft. Außerdem warfen sie deren Funktionären generell vor, dass sie zwar die Vertreibung verurteilten, aber nicht bereit seien, sie als eine Entscheidung der Siegermächte und damit als irreversible Tatsache zu akzeptieren. Die Sozialdemokraten der Gruppierung um Franz Kögler, Franz Krejci und Rudolf Zischka forderten schon damals - im Unterschied zu

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Teil 4: Von der Vielfalt des Erinnerns ihren einstigen Parteikollegcn um Wenzel Jaksch und seine Seliger-Gemeinde - die Normalisierung der diplomatischen, politischen, wirtschaftlichen und sozialen Beziehungen der Bundesrepublik zu den östlichen Nachbarstaaten Deutschlands und setzten sich für die konsequente Integration der Vertriebenen in die deutsche Gesellschaft ein: »Es wird für viele Angehörige der älteren Generation schmerzlich sein, sich mit dem Gedanken abfinden zu müssen, daß sich an den gegebenen Verhältnissen nichts mehr ändern läßt; es ist aber besser, die Tatsache zu sehen, daß jeder Tag, der neu vergeht, uns weiter von der Heimat entfernt, als Gedanken nachzugehen, die sich um so schmerzlicher als Träume herausstellen müssen, je länger sie mit Wünschen und Vorstellungen gepflegt und genährt werden, die dem heutigen Stande der Entwicklung nicht mehr entsprechen.«'46 Solche Forderungen wurden zwar nach und nach allenthalben anerkannt, aber den Kritikern der revisionistischen Vertriebenenpolitik vermögen bis heute nicht einmal Historiker die ihnen gebührende sachliche Aufmerksamkeit entgegenzubringen. So beschuldigt etwa Matthias Stickler, Verfasser einer im Jahre 2004 erschienen umfangreichen Studie über die Vertriebenenverbände, Georg Herde (1919-1989), »einen erbitterten Kreuzzug gegen die Vertriebenenverbände und gegen die die bundesdeutsche Gesellschaft angeblich bedrohende »neofaschistische« Gefahr« geführt zu haben.' 47 Der gleichen Haltung, ja selbst Formulierung, begegnen wir auch in dem bekannten Buch Kalte Heimat von Andreas Kossert: Georg Herde habe »einen erbitterten Kreuzzug gegen die Vertriebenenverbände und gegen die »neofaschistische« Gefahr« geführt, welche die bundesdeutsche Gesellschaft angeblich bedrohte«.' 4 8 Weder Stickler noch Kossert informieren ihre Leser über Georg Herdes Person und Werk, und sie gehen inhaltlich auf die Argumentation der einstigen Kritiker der Vertriebenenorganisationen mit keinem Wort ein.' 49 Verleumdungen, mit denen die »Abweichler« unter den Vertriebenen während des Kalten Krieges überhäuft wurden, warten immer noch darauf, überprüft zu werden, und zweifellos ist es bedauerlich, wenn sich selbst Historiker mit der Wiederholung abgedroschener Phrasen zufrieden geben. Georg Herde stammte aus Neisse/Oberschlesien, wurde mit 19 Jahren zur Wehrmacht eingezogen und erlebte den Krieg als Frontsoldat in Polen, Frankreich und an der Ostfront. Im Mai 1945 geriet er in sowjetische Kriegsgefangenschaft und wurde im Dezember 1949 nach Hessen entlassen. Im Jahre 1951 gehörte er zu den Mitgründern des Westdeutschen Flüchtlingskongrcsses (WFK), einer linken Vertriebenenorganisation. Seine 1958-1980 erschienenen Neue Kommentare entwickelten sich rasch zu einer wichtigen Plattformen für die Kritiker der Landsmannschaften. Im Mittelpunkt stand dort vor allem die Vergangenheitsbewältigung, namentlich die Aufarbeitung personeller und ideologischer Kontinuitäten der Vertriebenenpolitik zur Nazizeit. In dem i 9 6 0 gemeinsam mit Hans Maier veröffentlichten Buch ...bis alles in Scherben fällt... formulierte Georg Herde seine Ziele so: »Diese Schrift soll zu den Beiträgen des deutschen Volkes gehören, einer echten Demokratie den Weg zu bahnen. Sie soll der Bevölkerung, die in überwiegender

Wie unterschiedlich erinnert wird Mehrheit den Faschismus zutiefst verabscheut, gegen diejenigen mobilisieren, die erneut mit faschistischen Methoden das Zusammenleben der Völker und Rassen stören wollen. Für einen solches Beginnen ist es höchste Zeit. Die Bürger der Bundesrepublik sind aufgerufen, der Welt zu beweisen, daß für Kriegsverbrecher, wie Hitler und seine Komplicen es waren, kein Wirkungsfeld mehr vorhanden ist.«' 50 Georg Herde prangerte jene Wirkungsfelder an, die ehemaligen Nazis im öffentlichen Leben der Bundesrepublik gewährt worden waren. Das Buch konfrontiert Aussagen zahlreicher führender Vertriebenenpolitiker aus der Nazizeit mit ihren Aussagen aus der Nachkriegszeit. Ein uneingeweihte Leser kommt heute nicht umhin, über diese Dokumentation zu staunen. Hier wird mit einer einfachen Methode anhand unzähliger Beispiele festgehalten, wie viele der sich als Repräsentanten der Vertriebenen stilisierenden Politiker nicht nur glühende Verehrer Hitlers, sondern auch Antisemiten, SS-Männer und Kriegshetzer gewesen waren, und wie wenig sich ihre politischen Einstellungen verändert haben. Dass solche Kontinuitäten für viele Menschen im In- und Ausland empörend und zugleich beängstigend waren, überrascht kaum. Herdes Buch führt aber zugleich vor, in welcher mentalen Welt sich die von solchen Landsmannschaften geführten Vertriebenen bewegten; da werden z. B. Zukunftsszenarien wie das folgende aus der Zeitschrift Deutsche Ostkunde von 1959 zitiert und kritisiert: »Es geht also hier, wie wir sehen, um Fragen der nackten Existenz, die uns zwingen, das zurückzufordern, was auf Grund einer 700 Jahre währenden deutschen Kulturleistung auf ewig unser ist und uns nur durch staatlich sanktionierten Raub genommen werden konnte. [...] Für die in die deutschen Ostgebiete umgesiedelte Fremdbevölkerung müßte irgendwie gesorgt werden. Dann aber vielleicht auf Kosten des Staates, der trotz größten Landreichtums Polen noch dessen östliche Gebiete wegnahm und in teuflischer Absicht durch die Schaffung der Oder-NeißeGrenze ewige Zwietracht zwischen dem deutschen und dem polnischen Volk säen wollte. Dieser Gedanke mag heute vielen illusionär erscheinen. Er stellt aber in Wirklichkeit die einzige gerechte Lösung dar und wird sich, so hoffen wir, eines Tages auch ohne Krieg durchsetzen lassen.«151 Derartige politische Zielvorstellungen standen im Fokus des Kritikers Georg Herde. Seine Empörung darüber, dass in Deutschland wieder einmal darüber diskutiert werde, wie für eine »Fremdbevölkerung« gesorgt werden solle, ist keineswegs unverständlich, zumal Vertriebene wie Herde nicht die einzigen waren, die solche Kontinuitäten immer wieder anprangerten. »Es liegt uns ferne, eine neue Entnazifizierungswelle zu fordern«, schrieb er i 9 6 0 , es gehe ihm »lediglich um das Erkennen und die Ausschaltung jener Ewiggestrigen, die glauben, unter dem Deckmantel des »Antibolschewismus« einen neuen Ritt gegen den Osten vorbereiten zu können«. Georg Herde konnte sich auf zahlreiche ähnliche Stimmen berufen, z. B. auf den Rheinischen Merkur; daraus zitierte er wohlwollend: »Wer finden will, wird von den Zeugnissen der alten inhumanen Denkart überwältigt sein. Der Bundestag sollte daher endlich dafür sorgen, daß soweit die in diesen

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Teil 4: Von der Vielfalt des Erinnerns Organen [der Vertriebencnpresse] ständig verbreiteten Thesen nicht strafbar sind, den Propagatoren wenigstens die Subsidicn entzogen werden, die sie bislang weitgehend unter Ausnützung der allgemeinen Vertriebenenuntcrstützung für die Verseuchung der politischen Landschaft mißbraucht haben«.152 Herdes Kritik an den Kontinuitäten zwischen der NS-Zeit und der Nachkriegszeit verdient es sicherlich nicht, von Historikern als ein »erbitterter Kreuzzug gegen die Vertriebenenverbände« abgetan zu werden. Die Kontinuitäten lassen sich nicht von der Hand weisen, und ihre Folgen verdienen unsere Aufmerksamkeit. Dabei gehe es nicht nur darum, wie viele Vertriebenenpolitiker ehemalige Nazis waren, sondern und vor allem um die Wirkung ihrer abstrusen Geschichtsbilder und illusorischen außenpolitischen Visionen. Gerade die Schriften der Kritiker der Vertriebenenpolitik aus den Reihen der Betroffenen selbst können uns bei der kritischen Aufarbeitung dieser Geschichte helfen, da sie meist zu den besonders aufmerksamen und kenntnisreichen Beobachtern zählten. Das gilt auch für einen weiteren Kritiker der Vertriebenenverbände, den schon zitierten Historiker Johann Wolf gang Brügel. Er gewann mit seinem zweibändigen Werk Tschechen und Deutsche 1918-1938 bzw. 1939-1946'" den Respekt sowohl der angelsächsischen als auch der tschechischen Historikerzunft. 154 Sein Werk wurde auch in der Bundesrepublik, beispielsweise in der Zeit, positiv besprochen. 155 Dass seine Erkenntnisse dennoch keinen größeren Widerhall in der deutschen Öffentlichkeit fanden, ist sicherlich bedauerlich. Für das Erinnern an die Vertreibung wären sie bereichernd und inspirierend. Brügel war nicht nur ein kenntnisreicher Historiker der Vertreibung, sondern auch ein aufmerksamer und eigensinniger Beobachter sowohl des tschechischen als auch des deutschen politischen Lebens. Er kritisierte alle antiliberalen und kollektivistischen Geschichtsbilder und wurde somit zu einem bemerkenswerten Kritiker aller Formen des nationalen Chauvinismus. Das gefiel den Vertriebenenpolitikern nicht, zumal er auch darauf hinwies, dass die Bezeichnung »sudetendeutsch« vor dem Zweiten Weltkrieg von vielen deutschen Sozialdemokraten in der Tschechoslowakei abgelehnt worden war; den Ausdruck »Volksgruppe« hielt Brügel für einen »von den Nazis in die Begriffswelt eingeschmuggelten« Begriff und das Wort »Austreibung« für ein »nationalistisches Propagandaschlagwort, das zu verwenden ich mich sträube«: »Ich schlage vor, es durch »Aussiedlung« zu ersetzen, was das gleiche besagt, aber sachlicher ist.«' 56 Brügel verwandte viel Mühe darauf, die von einstigen Nationalsozialisten in der Bundesrepublik verbreiteten Legenden zu widerlegen, aber auch seine sorgfältig dokumentierte Kritik fand bis heute kein Echo im Erinnern an die Vertreibung. Wie tief die Kluft zwischen den Vertriebenenpolitikern und ihren Kritikern aus den Reihen der Betroffenen war, können wir uns vergegenwärtigen, wenn wir uns an die Stimmen der Sudetendeutschen Landsmannschaft jener Zeit erinnern, in der sie von Franz Kögler oder Rudolf Zischka, Georg Herde oder Johann Wolfgang Brügel kritisiert wurde. »Das diffizile Spiel der Entspannungspolitik verwirrt die Menschen und macht sie standpunktlos«, meinte 1971 ihr Sprecher Walter Becher, und drohte: »Die Grenze, bis zu welcher man das deutsche Volk und insbesondere die ostdeutschen Vertriebenen treiben kann, ist erreicht.«' 57 Becher war äußerst unzufrieden mit der Bundesrepublik, da er für die demokratische Vielfalt ihrer

Wie unterschiedlich erinnert wird Gesellschaft kein Verständnis aufbrachte: »Dieser Staat schickt sich an, die wenigen Bundesgenossen seines inneren Wohles zu demoralisieren, auf die er sich noch fest verlassen kann.«' 5 8 Er selbst fühlte sich nicht frei: »Die Kombination von Maulschellen und Sperrung von öffentlichen Mitteln, wie sie diesem Sudetendeutschen Tag gegenüber angewandt wurde, deutet auf Befehlszentralen, die mehr beabsichtigen, als nur uns alleine Schwierigkeiten zu bereiten.«' 59 Das war im Jahre 1973, als die Bundesregierung einen Vertrag mit der Tschechoslowakei schloss und sich Walter Becher darüber empörte, dass dieser nicht seinen eigenen Vorstellungen entsprach. In einem offenen Brief richtete er an Bundeskanzler Willy Brandt die Frage: »Ich schreibe Ihnen diese Zeilen als Sachwalter einer Volksgruppe, die vor achthundert Jahren nicht mit dem Schwert, sondern mit dem Pflug ihre Heimat in Böhmen, Mähren und Schlesien urbar machte. Sie ist jahrhundertelang ein Teil der gemeinsamen europäischen und deutschen Staatlichkeit gewesen. Selbst an der Frankfurter Nationalversammlung des Jahres 1848 nahm sie mit 36 Abgesandten teil. [...] Was veranlaßt Sie, sehr geehrter Herr Bundeskanzler, diesen Teil unseres Volkes so zu behandeln, daß man annehmen müßte, er wäre als Rechtssubjekt nicht mehr vorhanden? Ich erhebe dagegen Einspruch.«' 60 Walter Becher beklagte, dass die Bundesregierung einen Vertrag paraphiert habe, ohne die sudetendeutsche Volksgruppe zu konsultieren: »Über das Sudetendeutschtum wurde d a m i t - n a c h 1918,1938 und 1945 - e i n weiteres Mal entschieden, ohne daß es selbst gefragt worden wäre.« 161 Der sich als Sachwalter der Volksgruppe und Sprecher des Sudetendeutschtums gebärdende Walter Becher wirft hier paradoxerweise den Vergleich jener Probleme auf, die die tschechoslowakische Vorkriegsrepublik und die Bundesrepublik teilten. Bechers Forderungen an die Bundesregierung werden aus der Erinnerung an die völkische Tradition verständlich, in der Politiker wie er eine Sonderstellung für das Sudetendeutschtum in der Tschechoslowakei gefordert hatten. Auch der Sprecher der sudetendeutschen Volksgruppe zwischen 1933 und 1938, Konrad Henlein, hatte die Anerkennung der von ihm angeführten Bewegung als »Rechtssubjekt« gefordert, womit er die »Anerkennung der sudetendeutschen Volksgruppe als Rechtspersönlichkeit zur Wahrung [ihrer] gleichberechtigten Stellung im Staate« meinte. l62 Henlein hatte sich vorgestellt, dass die »Angehörigen einer Volksgruppe« nur dann »rechtlich wirksam zusammengefaßt werden« können, »wenn sie in ihrer Gesamtheit als Körperschaft des öffentlichen Rechtes mit einheitlicher Vertretung anerkannt« und mit Sonderrechten ausgestattet würden: »Die einheitliche Vertretung muß die rechtliche Macht erhalten, an dem Ausbau des Staates im eigenen und übertragenen Wirkungskreis geachtet und gleichberechtigt« mitzuwirken.' 6 3 Ähnlich erhob im Jahre 1973 Becher als »Sachwalter der sudetendeutschen Volksgruppe« den Anspruch, die demokratisch gewählte Bundesregierung habe gegenüber seiner Organisation eine besondere Konsultationspflicht in außenpolitischen Fragen. Solche Kontinuitäten wurden in der Bundesrepublik selten bemerkt, da hierzulande die sudetendeutsche Geschichte aus verständlichen Gründen wenig bekannt war. Aus der Sicht der wohlinformierten Vertriebenen wirkten sie um so gefährlicher.

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Kritische Äußerungen an die Adresse der Vertriebenenpolitiker sind nie verstummt. Im Jahre 2006 erklärte die Kulturwissenschaftlerin Aleida Assmann das Unbehagen vieler Deutscher mit der Art und Weise, wie die Vertriebenenpolitiker das Erinnern an die Erfahrungen der Vertreibung pflegen: »Der Bund der Vertriebenen, der sich über Jahrzehnte zum Verwalter dieser Erfahrung machte, artikulierte kein soziales, sondern ein politisches Gedächtnis. Er war ein partikularer Interessenverband, der mit seinen reaktionären Viten und folkloristischen Inszenierungen in der Gesamtheit der Gesellschaft im Laufe der Jahrzehnte immer weniger Aufmerksamkeit und noch weniger Zuspruch fand.«' 64 Zu ähnlichen Schlussfolgerungen sind inzwischen unzählige Beobachter der Vertriebenenorganisationen gekommen. Als sich einstige Vertriebene auf dem Gebiet der früheren DDR, wo solche Verbände nicht wirken durften, nach dem Fall der Mauer zu erfahren bemühten, was ihnen vorenthalten worden war, gab es manche unerwartete Aha-Erlebnisse. Der aus Ostpreußen stammende Bernhard Fisch, dem wir schon im Zusammenhang mit den Legenden über Nemmersdorf begegnet sind, beschrieb seine Erfahrungen in seinem Buch Die deutschen Vertriebenen 1990-1999: Eine Innenansicht}^ Fisch wurde als Neuankömmling allmählich zum Insider im BdV und in der Landsmannschaft Ostpreußen, betrachtete seine neue Umwelt jedoch mit den Augen eines aufmerksamen Outsiders. Er hatte Zugang zu den Interna, nahm an EntScheidungsprozessen ebenso wie an Öffentlichkeitsaktivitäten der Verbände teil, studierte sorgfältig alle politisch, historisch, juristisch und kulturell relevanten Dokumente, las die alte und die neue Vertriebenenpresse und fasste seine Eindrücke vom Erinnern der Vertriebenenorganisationen mit folgenden Worten zusammen: »Eine Zeitung der Vertriebenen muß ständig auf das Grunderlebnis von Flucht und Vertreibung zurückkommen. Wie sie aber die vielen Einzelbeispiele ohne Hinweis auf die Ursache behandelt, ist unsauber. Alle Leiden der Flucht werden alleine dem Gauleiter in die Schuhe geschoben, der Anteil der Wehrmacht wird verschwiegen. Da wird die Vergewaltigung von Frauen und Mädchen durch Rotarmisten angeprangert. Aber in den vier Jahrzehnten der Existenz der Landsmannschaft hat diese keine Initiative entwickelt, um den Opfern mit der Kraft und Solidarität der gesamten Organisation medizinische und psychiatrische Hilfe zu gewähren. Vorfälle werden beschrieben, als existierten die Betroffenen gar nicht und die Wirkungen seien gar nicht vorhanden. Bis zur praktischen Unterstützung ging das Erbarmen nicht. Das ist Mißbrauch des Leids um politischer Ziele willen.«'66 In den Darstellungen der ostpreußischen Vergangenheit kritisiert Fisch die »Verfälschung des wirklich multikulturellen Charakters« seiner Heimat: »Der Anteil des litauischen und polnischen Bevölkerungsanteils an der Urbarmachung und der gesamten Entwicklung der Provinz wird so gut wie verschwiegen.« l67 Er beanstandet, dass die von den Nationalsozialisten verfälschten Ortsnamen verwendet werden, und wundert sich über die Trachten: »Ich erinnere mich nicht, so etwas in meiner Jugend gesehen zu haben. Auch kam es mir mehr alpenländisch als nord-

Wie unterschiedlich erinnert wird ostdeutsch vor.«' 68 Sorgfältig recherchierend klärte Bernhard Fisch rasch seine eigene Verwunderung, und seit er die Geschichte jener Tracht kennt, nennt er sie »das braune Ostpreußenkleid«. 1 6 9 Solche Erfahrungen machten ihn zum Historiker und zugleich zum Kritiker des heute mit Steuergeldern gepflegten Kulturguts der Vertriebenen. Was die Landsmannschaft Ostpreußen unter Kulturförderung betreibt, hält er für Deutschtümelei und stellt dem ein anderes Konzept entgegen: »Ostpreußen könnte heute in Deutschland als Muster eines multikulturellen Landes dargestellt werden. In ideologischer Enge lehnt die Landsmannschaft das ab.«17° Den Vertriebenenorganisationen muss die Kritik von Aleida Assmann oder Bernhard Fisch auch weiterhin nicht viel Kopfzerbrechen bereiten. Ihr Image und ihre Finanzierung waren nie ernsthaft herausgefordert, sie erfuhren stets häufiger Zuspruch als Widerspruch, und die ersten Stimmen waren in der Regel einflußreicher als die letzteren. Im Jahre i 9 6 0 nahm Bundespräsident Heinrich Lübke die Vertriebenenorganisationen gegen ihre Kritiker in Schutz. Anlässlich des zehnten Jahrestages der Verkündung der Charta der deutschen Heimatvertriebenen hielt er eine Ansprache, um zu zeigen, »daß ich diese Vorwürfe zurückweise«: »Die großen Treffen der Vertriebenen haben eine wichtige gesellschafts- und staatspolitische Bedeutung. Sie sind nicht nur das Abbild der täglichen Arbeit in den Verbänden und Organisationen und symbolisieren so, was in bezug auf die Eingliederung der Heimatvertriebenen und Flüchtlinge in unsere Gesellschaft bereits erreicht worden ist. Sie zeigen vor allem mit der großen Zahl der Teilnehmer auch die eindrucksvolle Geschlossenheit, mit der die Heimatvertriebenen noch nach so vielen Jahren für das Recht auf die Heimat und die Einigkeit unseres Vaterlandes eintreten.«17' Bundeskanzler Ludwig Erhard bescheinigte den Landsmannschaften 1964 unmissverständlich seine Unterstützung: »Kundgebungen dieser Art stehen oft in dem Ruf, den eine feindselige Propaganda sorgfältig pflegt und nährt, Treffen von »Revanchisten« zu sein. Das hindert mich gerade wegen dieser Unwahrhaftigkeit nicht, meine Verbundenheit mit den Heimatvertriebenen auch dadurch zu betonen, daß ich heute dieser Kundgebung beiwohne.« 172 Erhards Nachfolger Kurt Georg Kiesinger hob darüber hinaus 1967 die Leistungen der Vertriebenenorganisationen hervor: »Mit der treuen Pflege Ihrer Traditionen tragen Sie dazu bei, daß die Erinnerung an die großen europäischen Kulturleistungen der ostdeutschen Stämme nicht verloren geht.« 173 Auch die SPD war damals »bemüht, einen betont vertriebenenfreundlichen Kurs zu fahren und Konfrontationen tunlichst zu vermeiden«. 174 Ende der 1960er Jahre, als die SPD Regierungspartei war, ging ihre »Sympathieoffensive« so weit, »daß den Teilnehmern der Treffen teilweise Tagegelder gezahlt wurden und parteiintern vertriebenenkritische Stimmen mundtot gemacht wurden«. Herbert Wehner ging noch weiter, er »drohte SPD-Journalisten, die ohne Genehmigung kritisch über die Vertriebenenverbände berichteten, mit fristloser Kündigung«.' 75 Den Landsmannschaften wurde sogar eine besondere Rolle bei der europäischen Integration zugeschrieben: »Die Landsmannschaften können in besonderem Maße dazu beitragen, den Gedanken der Versöhnung und Völkerfreundschaft fest einzu-

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Teil 4: Von der Vielfalt des Erinnerns pflanzen«, meinte 1984 der damalige Bundespräsident Karl Carstens.' 76 An derartigen Gönnern mangelt es den Vertriebenenorganisationen bis heute nicht, wie wir weiter unten sehen werden. 177 Doch ist das kein Grund, die Stimmen ihre Kritiker weniger ernst zu nehmen. »Ohne den »kalten Krieg« sind weder die »Vertriebenen-Vcrbände« in ihrer heutigen Form denkbar noch der Einfluß, den sie im Laufe der Jahre gewinnen konnten«, meinte 1962 Hans Schwab-Felisch.' 78 Dem ist sicherlich zuzustimmen, aber das Wissen um den Einfluss des Kalten Krieges befreit uns nicht von der Aufgabe, nach den Verantwortlichen für diese Entwicklung zu suchen. Das schlechte Image der Vertriebenen kann erst dann überwunden werden, wenn diejenigen benannt werden, die Legenden über die Vergangenheit und illusorische Zukunftsvisionen verbreitet, die entsprechende Organisationen »mit Geld und Wort« aufgepäppelt, die das Erinnern an die Leidenserfahrungen von Millionen Deutschen politisch instrumentalisiert und bei den Betroffenen Jahrzehnte lang unerfüllbare Hoffnungen auf Rückkehr, Rückgabe des verlorenen Vermögens oder Entschädigung geweckt haben und dies zum Teil heute noch tun. Die einstigen Heimatlosen waren Menschen, die viel Leid ertragen mussten, und ihre Lebenserfahrungen, ihre Erinnerungen ebenso wie ihre historische, politische und moralische Urteilsfähigkeit waren nicht einheitlich. Auch die Schlussfolgerungen, die sie aus ihren Erfahrungen gezogen haben, waren vielfältig, und sie verdienen von ihren Nachfahren besseres als auch weiterhin mit kollektivistischen Stereotypen belegt und politisch instrumentalisiert zu werden.

Die Vertriebenenpolitiker selbst bildeten eine bunte Gemeinschaft. Die Memoiren vier bekannter Persönlichkeiten aus diesem Kreis zeigen das anschaulich. Wenzel Jaksch 179 (1896-1966) war von 1964 bis 1966, Herbert Czaja (1914-1997) von 1970 bis 1994 Präsident des Bundes der Vertriebenen. Walter Becher (1912-2005) fungierte von 1968 bis 1982 als Vorsitzender der Sudeteaideutschen Landsmannschaft, und Herbert Hupka (1915-2006) hatte von 1968 bis 2000 das Amt des Präsidenten der Landsmannschaft Schlesien inne. Sie alle prägten das Antlitz der deutschen Vertriebenenpolitik nachhaltig, und alle berichteten ausführlich über ihre eigenen Lebenserfahrungen. Die Erinnerungen Herbert Hupkas weisen einen viel engeren Bezug zur »verlorenen Heimat« in Schlesien auf als die ausschließlich deutschlandpolitisch konzipierten Memoiren Herbert Czajas. In den Texten des Sozialdemokraten Wenzel Jaksch fällt ein anderes Verhältnis zum Nationalsozialismus auf als das Walter Bechers, des einst im Dienst des NS-Regimes wirkenden Journalisten. Keine dieser vier Personen machte sich durch Verdienste um die historische Erforschung der vielfältigen Vertreibungserfahrungen bemerkbar, und keiner von ihnen konnte zum Erinnern an die Vertreibung als Augenzeuge persönlich beitragen. Becher und Czaja dienten bis zum Kriegsende in der Wehrmacht und gerieten in Kriegsgefangenschaft, so dass sie die Mühsale der Vertreibung nicht selbst erlebten. Jaksch lebte zwischen 1939 und 1949 in Großbritannien, und Hupkas Erfahrungen am Kriegsende wurden davon geprägt, dass seine Mutter auf Grund ihrer jüdischen Abstammung verfolgt und 1944 nach Theresienstadt deportiert worden war.

Wie unterschiedlich erinnert wird Diese vier Vertriebenenpolitiker blieben alle nicht in ihrer Heimat, als sie dort noch hätten leben können. Wenzel Jaksch übersiedelte nach dem Schulabschluss mit 14 Jahren aus seinem südböhmischen Geburtsort Langstrobnitz/Stropnice nach Wien, ließ sich nach dem Ersten Weltkrieg in Nordwestböhmen, zunächst Teplitz/Teplice, danach in Komotau/Chomutov, und schließlich in Prag nieder, bevor er 1939 nach London flüchtete. Der 1915 in einem britischen Internierungslager im heutigen Sri Lanka geborene und im schlesischen Ratibor aufgewachsene Herbert H u p k a und der 1914 im damals Österreichisch-Schlesien, in der heute polnisch-tschechischen Grenzstadt Cieszyn/Teschen geborene Herbert Czaja verließen beide ihre schlesische Heimat nach dem Abitur. Hupka studierte in Halle und Leipzig, wo er 1944 promovierte, Czaja ging zum Studium nach Wien und Krakau und wirkte ab 1940 in den besetzten polnischen Städten Zakopane und Przemysl. Der geborene Karlsbader Walter Becher studierte ebenfalls in Wien und wurde danach 1936 Journalist in Prag: »Die Einkehr in Prag, allwo ich eine Aufgabe als Redakteur in der eben gegründeten Henleinschen Tageszeitung »Die Zeit« übernehmen sollte, wirkte wirklich deprimierend«, erinnerte sich Becher, weil ihm Prag zu provinziell erschien. Bald gefiel es ihm dort jedoch genauso gut wie zuvor in Wien, so dass ihn sein zwei Jahre später erfolgter Umzug in die Hauptstadt des neu errichteten Reichsgau Sudetenland, Reichenberg/Liberec, überhaupt nicht begeisterte: »Den Mitgliedern der »Zeit« bescherte der Wandel der Dinge am Ende den Abmarsch in die Provinz. Das Weltblatt verkümmerte zur »Gauamtszeitung«.« 180 Es wäre sinnlos, darüber zu spekulieren, wohin die Lebenswege dieser vier offenkundig hoch begabten Männer geführt hätten, wenn der Zweite Weltkrieg nicht ausgelöst worden wäre. Es ist aber kaum wahrscheinlich, dass Herbert Hupka in Ratibor, Herbert Czaja in Teschen oder Wenzel Jaksch im südböhmischen Langstrobnitz beheimatet geblieben wären, und selbst Walter Becher hätte wohl Karlsbad für zu provinziell gehalten. Keiner der vier Politiker erlebte die Vertreibung so, wie sie sie dargestellt haben. Wenzel Jaksch lebte und protestierte schon während des Krieges gegen die deutschlandpolitischen Pläne der alliierten Regierungen in London, und Herbert Czaja wurde erst 1946 aus der Kriegsgefangenschaft entlassen. Walter Becher und Herbert Hupka unternahmen im Frühjahr und Sommer 1945 mehrere Reisen zwischen Deutschland, Polen und der Tschechoslowakei und hinterließen Augenzeugenberichte, die den von ihnen verbreiteten Erinnerungsbildern des Kriegsendes und der Vertreibung widersprechen. Walter Bechers ohnehin merkwürdige Erinnerungen und Gedächtnislücken haben wir oben schon kennengelernt. 181 Hupkas Erlebnisse sind nicht minder bemerkenswert. Über seinen Besuch von Juni 1945 in Theresicnstadt berichtete er aber keineswegs so, wie die Vertriebenenverbände heute über »Benes-Theresienstadt« als »Ort des Schreckens« 182 erzählen. Hupka reiste dorthin, um seine Mutter in dem inzwischen befreiten Ghetto zu treffen, wo die einstigen Häftlinge noch monatelang auf Grund einer seit April grassierenden Typhusepidemie ausharren mussten, bevor die letzten Überlebenden der NS-Haft die Stadt Ende August verlassen konnten: »Die Freude des ersten Wiedersehens mit meiner Mutter, zwar ein Wiedersehen in der Fremde, aber in Freiheit, kann und will ich nicht in Worte fassen. Die Behau-

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Teil 4: Von der Vielfalt des Erinnerns sung in Theresicnstadt war nach wie vor in den Steinbaracken und auf den Holzpritschen mit Hunderten von Wanzen unmenschlich. Für die Verpflegung war - im Gegensatz zum heimischen Ratibor - reichlich und gut gesorgt, und dies schon deswegen, weil meine Mutter, die in der KZ-Zeit Glimmcrplättchen für irgendwelche Rüstungsprojekte bearbeiten mußte, jetzt in der Küche beschäftigt war.««18' Hupka ließ sich bald danach als Journalist in München nieder, wo im Herbst 1945 auch Walter Becher zu bleiben beschlossen hatte. Herbert Czaja fand nach der Entlassung aus der Kriegsgefangenschaft 1946 eine Anstellung im Schuldienst in Stuttgart, wo er bis zu seinem Lebensende blieb; schon 1947 wirkte er im Stuttgarter Stadtrat, und von 19 5 3 bis 1990 war er Bundestagsabgeordneter. Die schwierigsten Erfahrungen machte in der Nachkriegszeit wahrscheinlich Wenzel Jaksch, obwohl er darüber selbst nicht berichtete. Wie wir gesehen haben, hatte seine Gegnerschaft zu den deutschlandpolitischen Entscheidungen der alliierten Regierungen zur Folge, dass ihm die Niederlassung in Deutschland bis 1949 verweigert wurde. Die Besatzungsmächte befürchteten, dass Jaksch die Unzufriedenen unter den Vertriebenen aufwiegeln könnte' 8 4 , und erst infolge des Kalten Krieges änderten die britischen und die US-Behörden ihre Haltung: »Damit hatte eine zehnjährige Odyssee ein Ende gefunden, die ihn von Prag über Polen und Skandinavien nach England und schließlich nach Deutschland geführt hatte.«' 85 Die Unterschiede zwischen unseren vier Vertriebenenpolitikern machen sich nicht nur in ihren Lebenserfahrungen, sondern auch in ihren Interpretationen der Vertreibung bemerkbar. Das trifft besonders auf die beiden Sudetendeutschen unter ihnen zu. Während der einstige Nationalsozialist Walter Becher die Vertreibung noch im Jahre 1990 als den »an den Deutschen in Böhmen und Mähren-Schlesien verübtefn] Holocaust auf offener Straße«186 bezeichnete, berichtete der einstige NS-Gegner Wenzel Jaksch 1961 über Die Schicksale der deutschen Bevölkerungen in Osteuropa und der Sowjetunion seit 1939 sachlicher.187 Darin findet sich zwar das übliche Zahlenlabyrinth, da sich auch Jaksch auf die gängigen Zahlenangaben stützte, aber deutlicher als damals üblich wies er auf den Zusammenhang zwischen dem nationalsozialistischen Kapitel der deutschen Geschichte und den Nachkriegsumsiedlungen hin. Jakschs Darstellung nach lebten die Deutschen im östlichen Europa vor dem Krieg nicht in einem »deutschen Osten«, sondern in enger Nachbarschaft mit anderen Nationen. Das habe sich seit 1939 geändert, als »tiefgehende strukturelle Veränderungen in Osteuropa« stattgefunden hätten. Dabei erwähnte Jaksch die damals oft verschwiegenen nationalsozialistischen Massenumsiedlungen der deutschen Minderheiten, einschließlich der rund 300 000 Deutschen aus Südrussland. Auch erinnerte er daran, dass die Umsiedler »aus verschiedenen osteuropäischen Ländern« während des Krieges die deutsche Staatsangehörigkeit erhielten und deren wehrfähige Männer automatisch »zum Dienst in der deutschen Wehrmacht verpflichtet wurden«. 188 Jaksch begriff besser als die meisten Autoren der Vertreibungsliteratur die Folgen dieser Entwicklung: »Mit dieser Tragödie der Volksdeutschen, welche Hitler den Eroberungszielen seiner Ostpolitik opferte, ist das spätere Schicksal der Ostdeutschen, Sudetendeutschen, Ungarn-, Rumänien- und Jugoslawiendeutschen eng verbunden.« 189 Zur historischen Erforschung dieser Zusammenhänge haben allerdings weder Jaksch noch die staatlich geförderten Vertriebenenorganisationen beigetragen.

Wie unterschiedlich erinnert wird

Insgesamt zeigen die hier betrachteten Erinnerungen vier führender Vertriebenenpolitiker, dass es weniger die persönlichen Erfahrungen waren, die sie bewegten und verbanden, und schon gar nicht das Interesse an der historischen Erforschung der Geschichte der Vertriebenen. Sie scheinen nur eins geteilt zu haben: ihre Unfähigkeit zu verstehen, warum Deutschland nicht größer sein sollte, als es war. Sie glaubten, dass die tschechoslowakischen Grenzgebiete »deutsch« sein sollten, wie es Jaksch 1963 formulierte: »Darum sei allen gesagt, die von Europa reden: zu einem befriedeten Europa gehört auch ein deutsches Sudetenland.«190 Und sie glaubten, dass Schlesien »unser« sei, wie es das umstrittene Motto »Schlesien bleibt unser« des Deutschlandtreffens der Schlesischen Landsmannschaft von 1985 besagte. Herbert Czaja träumte noch 1996 von wenigstens ein paar neuen Landstrichen und schmiedete Pläne, wie die Bundesrepublik im integrierten Europa zumindest »Brückenpfeiler« vom »deutschen Osten« wiedergewinnen könne: »Es könnte dann in einem weiteren Schritt auch souveräne Brückenpfeiler und »Tore« zu den Nationalstaaten in umstrittenen Teilgebieten und an manchen Grenzen geben. Es dürfte wohl möglich sein, solche Brückenpfeiler in allen Teilen der OderNeiße-Gebiete zu entwickeln«, meinte er. Die langjährigen Träume unserer vier Vertriebenenpolitiker von der Wiedergewinnung des so genannten deutschen Ostens haben sich nicht erfüllt, und Czaja fand in den 1990er Jahren nicht einmal mehr unter seinen Kollegen im BdV viel Unterstützung für solche Projekte: »Entschließungen wiesen in diese Richtung. Immer weniger haben dem widersprochen, aber zu wenige haben dafür mit Elan gerungen. Neues läßt sich aber mit Trägheit nicht schaffen.«19' Trotz aller Unterschiede teilten unsere vier Vertriebenenpolitiker ein übergreifendes Ziel: das Potsdamer Abkommen von 1945 zu revidieren. Dabei stießen sie in der deutschen Öffentlichkeit sowohl auf Zustimmung als auch auf Kritik. Die im Laufe der vier Jahrzehnte zwischen 1949 und 1989 über die deutschen Grenzen ausgetragenen Kontroversen erwiesen sich am Ende erfolgreich. Deutschland wird heute von keinen Grenzproblemen mehr belastet, trotz des politischen Wirkens von Vertriebenenpolitikern wie Jaksch, Becher, Hupka oder Czaja. Ähnliche Debatten über die von ihnen propagierten Erinnerungsbilder der Vertreibung stehen dagegen noch aus.

Die Vertriebenenpolitiker spielten häufig in der Geschichte des deutschen Erinnerns auch dort eine wichtige Rolle, wo sie nicht im Rampenlicht standen, etwa in den 1970er Jahren, als es zu einer bemerkenswerten Belebung des öffentlichen Interesses an der Vertreibung kam. »Das seit etwa Mitte der siebziger Jahre in Ost und West neu erwachte Interesse an einer Aufarbeitung dieses Komplexes läßt hoffen, daß die Diskussion diesmal nicht in gegenseitigen Anklagen und Aufrechnungen steckenbleibt«, schrieb 1981 der Osteuropahistoriker Hans Lemberg: »Mit der historischen Erkenntnis allein wird es dabei nicht genug sein dürfen: Es ist »Trauerarbeit« zu leisten.«192 Der breiten Öffentlichkeit wurden u. a. in einer dreiteiligen Fernsehreihe Flucht und Vertreibung'9* und dem Begleitband dazu Augen- und Zeitzeugenberichte ebenso wie Interpretationen zu den historischen

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Teil 4: Von der Vielfalt des Erinnerns Hintergründen der Vertreibung angeboten. Über die Beteiligung von Vertriebenenpolitikern erfahren wir nur indirekt. Der Leiter des ARD-Projekts, Rudolf Mühlfenzl (1919-2000), war Fernsehchefredakteur beim Bayerischen Rundfunk, und seine Serie rief viele positive Reaktionen hervor: »Die großen Meinungsträger in der Bundesrepublik wie »Der Spiegel«, »Stern«, »Die Zeit« und natürlich die großen Tageszeitungen berichteten ausführlich über die Sendereihe und brachten noch Wochen nach der Ausstrahlung Nachfolgegeschichten von Menschen, die sich in Filmbildern wiedererkannt haben.« 194 Dabei wurde immer wieder gefragt, warum man auf diese Fernsehreihe fünfunddreißig Jahre lang habe warten müssen. Die damalige Erklärung lautete: Das Thema »Flucht und Vertreibung« sei in der Bundesrepublik so gut wie tabu gewesen.195 Man wusste zwar, dass die beiden deutschen Fernsehkanäle A R D und ZDF schon zuvor »in vielen Einzelsendungen über Flüchtlingsschicksale, das Los der Vertriebenen und Probleme der Wiedereingliederung berichtet haben«, aber 1981 glaubten viele Deutsche, dass damals ein neues Erinnerungsklima entstanden sei, als wäre es gerade erst möglich geworden, »eine Schleuse zu öffnen für einen Stau von bisher weitgehend tabuisierten Erinnerungen und Empfindungen«. 196 Als Ursache des beklagten Zustandes galt die Entspannungspolitik: »Natürlich muß an dieser Stelle und jetzt angemerkt werden, daß die Erinnerung an die gewaltsame Vertreibung von 14 Millionen Deutschen ganz und gar nicht in das Konzept einer Entspannungspolitik paßte, die man um keinen Preis gestört sehen wollte.« 197 Die damaligen Aussagen über das Erinnern an die Vertreibung ähneln bis ins Detail jenen, die um das Jahr 2000 zu hören waren, und viele behaupteten schon damals, dass sich gerade eine neue Entwicklung anbahne. 198 In der Fernsehdokumentation wurden weder neue historische Erkenntnisse über die Vertreibung noch neue Auslegungen angeboten. In ihrem Mittelpunkt standen Berichte von Augenzeugen. Nach eigener Darstellung haben die Autoren »32 Gespräche aufgenommen, die meist mehrere Stunden lang dauerten«, von denen 26 verwertet worden seien. Sie bemühten sich darum, das historische Umfeld von Flucht und Vertreibung aufzuzeigen sowie »U rsachen und Anlaß der Vertreibung« zu erläutern, und sie suchten und fanden bis dahin unbekannte Filmdokumente. Die beiden wichtigsten historischen Kapitel des Begleitbands wurden von den bekannten sudetendeutschen Historikern Fritz Peter Habel (»Deutsche im östlichen Europa: Zur Vorgeschichte der Vertreibung«) und Hans Lemberg (»Flucht und Vertreibung in der Zeit des Zweiten Weltkriegs«) verfasst. Dass es sich um zwei den Münchener Vertriebenenorganisationen nahe stehende Autoren handelte, überrascht nicht, schließlich wurde die Serie vom Bayerischen Fernsehen produziert; aber die Entscheidung für sie kam einer Weichenstellung gleich: Es war kaum zu erwarten, dass sich ihre Darstellung und Interpretation mit den gängigen Geschichtsbildern der bisherigen Vertreibungsliteratur ernsthaft auseinandersetzen würde, ging es doch nicht primär um das Kennenlernen der Vergangenheit, wie es Hans Lemberg formulierte, sondern um »Trauerarbeit«. 199 Rudolf Mühlfenzl erläuterte in seiner Eigenschaft als Projektleiter und Herausgeber des Begleitbandes die zu vermittelnde Botschaft:

Wie unterschiedlich erinnert wird

»Wenn jetzt in diesem Buch etwa vierzig Menschen dokumentieren, was 14 Millionen Menschen widerfahren ist, so sind diese Zeugenaussagen jeweils Bilder eines Infernos, in das die verschiedensten deutschen Volksgruppen - oft Tausende von Kilometern voneinander entfernt - hineingeraten waren. Die Bilder, die sie schildern, gleichen sich aber in einem - im Schicksal, geflohen und vertrieben, zum Teil auch verschleppt worden zu sein.«200 Die einzelnen Teile der Fernsehserie trugen die Titel »Inferno im Osten«, »Die Rechtlosen« und »Zwischen Fremde und Heimat«. Als Information über den historischen Hintergrund wurde »die Geschichte der Vertreibung seit 1919 bis 1939 (hier zeigt sich der hochexplosive Nationalitätenkonfliktstoff und das Problem der Volksgruppen- und Minderheitenschutzrechte)« erläutert, »dann folgt die Vertreibung während der Kriegsjahre 1939 bis 1945« hieß es, »und zuletzt stellen wir die Wellen der Vertreibung seit 1945 bis hinein in die Gegenwart dar«. 201 Diese Rhetorik und Interpretation der Vertreibung entsprechen den traditionellen Anklagen gegen die Pariser Friedensverträge von 1919/20 als der eigentlichen Ursache der Vertreibung, und auch die entsprechende Darstellung der Vertreibung als eines »Infernos« von »Rechtlosigkeit« war dem gängigen Erinnern entnommen. Erstaunlicherweise bieten die im Begleitband veröffentlichten Berichte der Zeitzeugen recht unterschiedliche Geschichten, und viele widersprechen dem in den Einführungen zusammenfassend präsentierten Erinnerungsbild. Manche Berichte widerlegen zum Beispiel die Vorstellung, dass alle Deutsche in der Nachkriegszeit gleich behandelt worden seien; hier erfahren wir von einem Wolhyniendeutschen, »daß die Rote Armee strenge Anweisungen hatte, zwischen den ehemaligen Sowjetbürgern, die wir eben nicht waren, und den Deutschen polnischer Staatsangehörigkeit große Unterschiede zu machen«. Die ehemaligen Sowjetbürger, gleich welcher Nationalität, sollten in die Sowjetunion zurückkehren: »Daraus entstand dann dieses furchtbare Schicksal unserer ostwolhynischen Landsleute, die jahrzehntelang in Sibirien leben mußten. Wir, die wir aber Vertragsumsiedler waren, also aufgrund eines völkerrechtlichen Vertrages umgesiedelt wurden, blieben von den Sowjetbehörden unbehelligt.« Auch von Polen seien nicht alle Deutschen gleich behandelt worden: »Später, als die Polen die Regierung wieder übernahmen, verhielten sie sich sehr unterschiedlich zu den zurückgebliebenen Deutschen, je nachdem wie sich einzelne Deutsche in der Okkupationszeit in ihrem Land verhalten hatten.« 202 Die Widersprüche zwischen ihren eigenen Verallgemeinerungen und einzelnen Zeugenaussagen nutzten die Autoren nicht, um zu neuen historischen Erkenntnissen zu finden. Vielmehr haben sie die Vielfalt der Erinnerungen mit einem rhetorischen Schleier längst bekannter Vertreibungsbilder überzogen. Die Zeugenberichte sind häufig sachlich und deshalb nachvollziehbar. Das macht auch die hier erzählten Leidensgeschichten bewegender, als es hohle aggressive Klagegesänge je vermögen. Der Zusammenhang zwischen dem Kriegsgeschehen und den erschütternden Lebensgeschichten wird in vielen Berichten deutlich, so dass hier ein Bild entsteht, in dem die deutschen Erzähler als ein Teil aller anderen Opfer jedes Krieges figurieren. N u r ein Bericht fällt auf, der sich von den anderen unterscheidet.

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Es ist der Bericht eines gewissen Alan Curtis mit der Überschrift »Sudetenland: Aussig«. 203 Der Berichterstatter sei ein »geborener Sudetendeutscher«, der am 30. Juli 1945 als englischer Offizier in die Tschechoslowakei geflogen sei, »um die britische Regierung über die Ausweisung der Deutschen zu informieren«. Es wird nicht erläutert, in wessen Auftrag genau Alan Curtis zu der Zeit, als die britische Regierung in Potsdam mit den USA und der UdSSR verhandelte, nach Prag geflogen war. Es ist auch kein Bericht über das, was Alan Curtis in Aussig sah. Hier werden Geschichten vom Hörensagen über das Massaker von Aussig mit falschen Informationen über »den Vorfall bei Lidice« im Jahre 1942 vermischt und mit unbelegten Interpretationen bereichert: »Dieses Lidice wurde zu einem Symbol für die Tschechen, Rache gegen die Deutschen zu schüren.« Am Ende des Berichts erfahren wir, dass Alan Curtis im Unterschied zu den anderen Augenzeugen Wiedergutmachung erwartete: »Es wäre schon ein Teil der Wiedergutmachung, wenn das Regime in Prag sich zu diesen Verbrechen bekennen würde - ebenso wie wir Deutschen uns dazu bekennen, daß in unserem Namen unauslöschliche Verbrechen geschehen sind. Wir haben es getan, den Tschechen steht das noch bevor.« Bei genauem Hinsehen erkennen wir, dass es sich nicht um den Bericht eines Augenzeugen handelt, sondern um eine Zusammenfassung des oben vorgestellten, 1948 erschienenen Buchs Ich flog nach Prag von Almar Reitzner. 204 Warum die Autorenschaft verheimlicht wurde, ist schwer zu sagen, zumal wir als weiteren angeblichen Augenzeugenbericht einen zweiten Text aus jenem Buch finden: ein nicht näher identifiziertes »Schreiben an den »Manchester Guardian«« von dem oben erwähnten britischen Politiker Richard R. Stokes. Im Hintergrund dieser Fernsehserie scheint einer der damals führenden sudetendeutschen Vertriebenenpolitiker, Almar Reitzner, eine Rolle gespielt zu haben. Dafür spricht auch der Hinweis, dass die Autoren über viel mehr Material zur Tschechoslowakei als zu anderen Staaten verfügten und mehr, als sie verwenden konnten: »Durch eine allzu ausführliche Darstellung der Vorgänge in der Tschechoslowakei wären im Film die Gewichte verschoben worden.« 205 Die Vermutung, dass Reitzner bei der Produktion dieser Vertreibungsserie im Hintergrund eine wichtige Rolle spielte, wird dadurch erhärtet, dass er nicht nur 1958-1962 Pressechef der bayerischen Landesorganisation der SPD sowie Gründer und Redakteur der sudetendeutschen Zeitschrift Die Brücke, sondern seit 1970 auch leitender Redakteur des Bayerischen Rundfunks war. Am Beispiel der Fernsehserie von 1981 wird offenkundig, wie groß das damalige Interesse der deutschen Öffentlichkeit für die Vertreibung war, und dass viele Augenzeugen bereit waren, ihre Lebensgeschichten sachlich zu erzählen. Wären die Journalisten den vielfältigen Hinweisen der Augenzeugen nachgegangen und hätten sie eigenständig die entsprechenden historischen Zusammenhänge recherchiert, dann hätten sie das Erinnern an die Vertreibung bereichern können. Dass den interessanten Augenzeugenberichten überlieferte völkische Interpretationen übergestülpt wurden, hatten wahrscheinlich die im Hintergrund wirkenden Vertriebenenhistoriker und -politiker zu verantworten, die wohl als Fachleute galten, für die jedoch die Geschichte der Vertriebenen lediglich als Instrument zur Verfol-

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gung ihrer eigenen politischen Ziele diente. Wenn der Bund und die Länder die Aufgabe haben, Wissenschaft und Forschung bei der Suche nach Erkenntnissen über die Vertreibung sowie der Weiterentwicklung der Kulturleistungen der Vertriebenen und Flüchtlinge zu fördern206, dann wäre es an der Zeit zu fragen, wie die Vertriebenenorganisationen unser Wissen zur Geschichte der Vertreibung eigentlich in inzwischen mehr als einem halben Jahrhundert bereichert haben.

Die häufig kritisierten personellen Kontinuitäten zwischen dem NS-Regime und den Vertriebenenverbänden waren in Nachkriegsdeutschland keine Besonderheit. Aber sie waren ausgeprägter als in vielen anderen Bereichen. In den Landsmannschaften und den ihnen nahestehenden Vereinen wurden keine Diskussionen über die NS-Vergangenheit geführt und mentale Überbleibsel nicht kritisiert. Ganz im Gegenteil. Das zeigt etwa die schon erwähnte Biographie von Ernst Frank über seinen Bruder, den bekanntesten sudetendeutschen Politiker, einstigen SS-Obergruppenführer und Staatsminister Karl Hermann Frank.207 Sie verweist uns auf längerfristig wirkende kulturhistorische Kontinuitäten einer spezifischen Art. Der Publizist und Verleger Ernst Frank (1900-1982) suchte nicht nur den Ruf seines Bruders zu verbessern, sondern schrieb in ähnlicher Art über den gesamten Zweiten Weltkrieg und sorgte für Neuauflagen entsprechender älterer Literatur. Für all das gründete er einen Verlag mit dem sprechenden Namen »Heimreiter«; heute gehört der Verlag Orion-Heimreiter zu einem der bekanntesten deutschen Verlagshäuser am rechten Rand der politischen Landschaft, dem Arndt-Verlag. Dort wird für Neuauflagen von Werken nicht nur von Ernst Frank, sondern auch weiterer Bücher aus dem von den Vertriebenen mitgebrachten Kulturgut gesorgt. So ist etwa 1992 das Buch Sudetendeutsche Landeskunde von Hans Krebs und Emil Lehmann erschienen.208 Es handelt sich um den Nachdruck eines Buchs aus dem Jahre 1937, und kaum ein Leser wird wissen, dass die beiden Autoren zu den einflussreichsten sudetendeutschen Nationalsozialisten gehörten und einer von ihnen, Hans Krebs, für seine NS-Aktivitäten 1947 sogar hingerichtet wurde.209 Im Vergleich zu der 1937 in Berlin veröffentlichten ersten Auflage des Buches wurden nur die Sätze über Juden herausgelassen; was damals über die Tschechen und die Tschechoslowakei geschrieben wurde, findet offenbar heute noch in der deutschen Öffentlichkeit Leser, aber kaum Kritiker, und ruft auch keinen Staatsanwalt auf den Plan. Zumindest liegen keine Hinweise auf eine klärende Rezeption dieses Werkes vor, und es ist auch nicht bekannt, dass die Vertriebenenorganisationen gegen solche Praktiken protestieren oder sich um Aufklärung bemühen würden. Die Traditionspflege der Vertriebenenorganisationen wird als ein Beitrag zur Erhaltung des deutschen Kulturguts verstanden, aber es wurde bisher in der Öffentlichkeit nicht darüber diskutiert, welche Traditionen zu pflegen und welche kritisch aufzuarbeiten sind.210 Infolgedessen erwies sich diese Form von Kulturförderung als ein Hindernis bei der Überwindung mentaler Überbleibseln der NS-Zeit.211 Die mangelhafte Auseinandersetzung mit der NS-Propaganda führte zur Entstehung eines eigenartigen Milieus: Im Umkreis der Vertriebenenverbände ist aus der Vermischung überlieferter Vorurteile und der Feindseligkeit gegenüber den

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Teil 4: Von der Vielfalt des Erinnerns einstigen Kriegsgegnern eine besondere Art von Verwirrung im Umgang mit historischen Informationen über den Zweiten Weltkrieg entstanden. So ist etwa in der soeben erwähnten Apologie von Karl H e r m a n n Frank aus dem Jahre 1994 zu erfahren, dass der tschechoslowakische Präsident Edvard Benes »der eigentliche Mörder Heydrichs« gewesen sei und durch »geschickte Verdrehungen und maßlose Übertreibungen der wahren Ereignisse um Liditz [...] einen propagandistischen Welterfolg« errungen habe: »Das Verbrechen Beneschs an Heydrich konnte dadurch sozusagen in ein Verbrechen des deutschen Volkes an den Tschechen umgemünzt werden.« 212 Die Geschichte des Zweiten Weltkriegs sei bisher völlig falsch interpretiert worden: »Die Verbrechen, die dem deutschen Volk nach dem Zweiten Weltkrieg angetan wurden, werden allgemein als Folgen deutscher Kriegsverbrechen aufgefaßt. So sind alle Völker, die wider ihren Willen in den Zweiten Weltkrieg hineingezogen wurden, in Verleumdungen verwickelt, aus deren Schlingen es keinen Ausweg mehr zu geben scheint. Die Tapferkeit der Deutschen in ihrem dreißigjährigen Verteidigungsringen verschwindet hinter den Lügen im Ersten und denen im Zweiten Weltkriege. Die Massenmorde an Deutschen, maßlose Vergewaltigungen und der Heimatraub im Osten Mitteleuropas beginnen zu verblassen. Die Frage, ob die Ausdehnung der Reichshoheit auf Böhmen und Mähren im Jahre 1939 eine Gewalt- oder eine Ordnungstat war, wird nur noch völlig einseitig gesehen.«2'3 Solche Geschichtsbilder zu entwirren würde viel Zeit in Anspruch nehmen; wichtig ist nur festzuhalten, dass hier von dem Bild eines dreißigjährigen Verteidigungsringens der tapferen Deutschen ausgegangen wird, das viele Deutsche und andere Europäer offensichtlich nicht verstünden, da sie in historischen Irrtümern verhaftet seien. Eine solche Wahrnehmung der modernen europäischen Geschichte war, wie wir gesehen haben, in der Nachkriegszeit keine Ausnahme. 2 ' 4 Vor diesem Hintergrund überrascht es kaum, dass die Nachfolger von Ernst Frank gutgläubig auf die NS-Propaganda zurückgreifen, um etwa »polnische Grausamkeiten« zu dokumentieren. Im Arndt-Verlag sind 1995 bzw. 1999 zwei solche Bücher veröffentlicht worden: Das erste trägt den Titel Dokumente polnischer Grausamkeiten: Verbrechen an Deutschen 1919-1939 nach amtlichen Quellen11'', das zweite heißt Der Tod sprach polnisch: Dokumente polnischer Grausamkeiten an Deutschen 1919-1949*'6. Beide Bücher sind ohne einen namentlich ausgewiesenen Autor oder Herausgeber erschienen, und beide sind im Buchhandel erhältlich, für das zweite warb im Jahre 2008 sowohl die Buchhandelskette Hugendubel 2 ' 7 wie die N P D auf ihren Internetseiten. Bei der N P D hieß es: »Polnische Übergriffe zwischen 1919 und 1949 in Oberschicsien, Westpreußen und Posen, das Massaker des Bromberger Blutsonntags Anfang September 1939, die Vertreibungsverbrechen und die Quälereien in polnischen Lagern werden geschildert. Viele grausame Fotos hingeschlachteter Deutscher belegen die erschütternde Bilanz polnischen Schreckens!«2'8 Unter dem Titel Der Tod sprach polnisch wird versucht, mit den Texten und Photos eines 1940 von der »deutschen Informationsstelle« im Auftrage des damaligen Auswärtigen Amts herausgegebenen Propagandabuchs all jene »polnischen Grausamkeiten« aus der Zwischenkriegszeit glaubhaft zu machen, mit denen die dama-

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ligen NS-Autoren gegenüber der deutschen und internationalen Öffentlichkeit den deutschen Überfall auf Polen rechtfertigen zu können glaubten. 2 ' 9 Die Dokumentation verwendet Augen- und Zeitzeugenaussagen, als handele es sich um Beweise, ohne dass versucht wird, ihren Wahrheitsgehalt überprüfbar zu machen und durch weitere Quellen zu belegen. Ähnlich werden dann anhand von Zeugenaussagen weitere »polnische Grausamkeiten« aus der Nachkriegszeit »nachgewiesen«. »Daß man einem Zeugen nicht unbedingt aufs Wort glauben darf, wissen auch die einfältigsten Polizisten« 220 , aber im Umkreis des Arndt-Verlags scheint sich diese Binsenwahrheit noch nicht herumgesprochen zu haben. Dort behauptet man, Nachweise für polnische Grausamkeiten an Deutschen aus den Jahren 1919-1949 vorzulegen, und unter dem Slogan, man dürfe »dieses Thema nicht länger tabuisieren« 221 , wird folgende Botschaft vermittelt: »Wir sind es den deutschen Opfern, die sozusagen stellvertretend für das ganze deutsche Volk die Vertreibungsverbrechen und andere Greueltaten erleiden mußten, schuldig, daß wir die uns bekannten brutalen Verbrechen von Polen an Deutschen benennen und somit das Andenken auch an deutsche Opfer wachhalten, denn wo das Opfer vergessen wird, da stirbt es ein zweites Mal!«222 Dem Anliegen, Verbrechen zu klären und ihren Opfern Gerechtigkeit wenigstens im Nachhinein zukommen zu lassen, hat in der Bundesrepublik, soweit bekannt, nie jemand widersprochen. Dieses Buch gibt jedoch Anlaß zu der Vermutung, dass über die Frage, wie Verbrechen nachzuweisen sind, bisher zu wenig diskutiert wurde. Ganz naiv gutgläubig scheinen die Herausgeber allerdings nicht zu sein. Sie verschweigen ihren Lesern nämlich die Tatsache, dass sie sich längst bekannter, mit staatlicher Unterstützung veröffentlichter Informationen bedienen. Ihre Berichte über die »polnischen Grausamkeiten« nach dem Zweiten Weltkrieg sind in der (nicht genannten) Schiederschen Dokumentation erschienen. Die im Buch Der Tod sprach polnisch vorliegenden Hinweise auf das Bundesarchiv sollen offensichtlich den Eindruck neuer Entdeckungen vermeintlich tabuisierter Verbrechen erwecken. 223 Selbst in dem Literaturverzeichnis im Anhang wird nicht auf die Schiedersche Dokumentation hingewiesen, dort finden sich vielmehr Verweise auf Bücher aus der NS-Zeit oder von Autoren, die sich der Bemühung verschrieben haben, die bisher gängigen Geschichtsbilder einer Revision zu unterziehen, wie Helga Hirsch, Heinz Nawratil oder Alfred de Zayas. Die anonymen Autoren und Herausgeber des Buches Der Tod sprach polnisch verschweigen nicht die NS-Verbrechen: »Es wurden schreckliche Verbrechen - das weiß man - von Deutschen an Polen verübt.« 224 Aber sie scheinen darüber wenig zu wissen. Mit der Ausnahme dieser Phrase reden sie einfach nicht über den Nationalsozialismus, und dieses Versäumnis macht den Charakter des Buches deutlich: Es handelt sich um kein historisches Buch, sondern um eine Propagandaschrift zur Verbreitung der These, es gebe »eine lange Tradition polnischer Akte der U n menschlichkeit gegenüber Deutschen«. 225 Als Beweise dienen Bücher, die in Deutschland von staatlichen Stellen während des Dritten Reiches und in der Bundesrepublik veröffentlicht wurden und in beiden Fällen »Beweise polnischer Grausamkeiten« liefern sollten. Die Autoren sind keine Historiker, haben keine eigenen

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Nachforschungen unternommen oder Beweise vorgelegt, sondern scheinen zu meinen, dass Zitate aus staatlich sanktionierten Veröffentlichungen ausreichen, um irgendein Verbrechen nachzuweisen. Wenn wir bedenken, dass die hier reproduzierten Zeugenaussagen während und unmittelbar nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs größtenteils von Behörden und Menschen gemacht und gesammelt worden sind, die dem NS-Regime nahe standen - w a s bei der 1940 veröffentlichten Dokumentation unzweifelhaft der Fall ist und bei den Aussagen aus den 1950er Jahren zumindest teilweise zutrifft226 - , dann müssen wir die Produzenten und Konsumenten solcher Literatur aus dem ArndtVerlag als Opfer der einstigen NS-Propaganda betrachten. Das gilt auf jeden Fall für die hier erwähnten Beispiele aus dem Angebot dieses Verlages, sei es die A p o logie von Karl Hermann Frank, die Sudetendeutsche Landeskunde oder Der Tod sprach polnisch. Den Sympathisanten solcher Werke muss zugestanden werden, dass nirgends nachzulesen ist, in welcher Hinsicht die Aussagen solcher Werke falsch sind. Es ist nicht ohne weiteres anzunehmen, dass jeder Bürger der Bundesrepublik über genügend historisches Wissen verfügt, um dies selbst erkennen zu können. Das Buch Der Tod sprach polnisch ist eine Kompilation vermeintlicher D o k u mente über »polnische Grausamkeiten«, die der deutsche Staat vor und nach 1945 herausgab. Es ist verwunderlich, dass nicht einmal die Vertriebenenorganisationen für öffentliche Aufklärung darüber sorgen, welche derartige Hinweise auf Verbrechen zutreffend und welche dagegen unbelegter Propaganda zuzuordnen sind; eine solche Aufklärung wäre notwendig, damit sich die nachwachsenden Generationen besser orientieren können. 227 Man kann in der Öffentlichkeit Neonazismus und Rechtsextremismus noch so oft anprangern - solange Buchhandlungen sowie die N P D solche Bücher vertreiben können, ohne dass eine öffentliche kritische Auseinandersetzung mit ihren Inhalten stattfindet, werden sie mit ihrer um die Vertreibung kreisenden kollektiven Opfermythologie immer wieder neue desorientierte junge Menschen ansprechen können. Da es sich um ein vor allem den Vertriebenenorganisationen nahe liegendes Thema handelt, ist es besonders bedauerlich, dass gerade sie nichts tun, um solche Missverständnisse aufzuklären. Dem Erinnern an die Vertreibung wird mit solchem Schweigen sicherlich kein guter Dienst erwiesen.

Das Milieu der Vertriebenenorganisationen hat sich nicht um kritische Aufklärung bemüht. Vielmehr trägt es maßgeblich zur Verbreitung alter Gerüchte und Legenden bei und ist deshalb zu einer wichtigen Drehscheibe von vielerlei Gruppierungen am rechten Rand der deutschen politischen Landschaft geworden. Die gängigen Anklagen gegen die einstigen Kriegsgegner verleihen dem deutschen rechtsextremistischen Milieu einen spezifischen Zug, und Hinweise auf die Vertreibung bieten ihm breite Berührungsflächen mit der Umwelt. Deswegen gehört das Erinnern an die Vertreibung zum Lieblingsthema von allerlei Verharmlosern des Nationalsozialismus, vulgären Demagogen oder emotional frustrierten Kritikern der modernen Welt. Es erlaubt ihnen, hemmungslos antislawische ebenso wie antiwestliche Aggressionen zu artikulieren, während sich die Autoren entsprechender Texte im

Wie unterschiedlich erinnert wird

Abb. 26 Das Erinnern an die Vertreibung bildet in der Bundesrepublik eine Drehscheibe zwischen dem politischen Alltagsleben und dem Rechtsradikalismus, v/ie auch diese beiden Bücher dokumentieren.

Einklang mit der deutschen Gesellschaft fühlen und auf staatlich sanktionierte Beweisführungen berufen können. Das Erinnern an die Vertreibung wirkt wie ein Kitt zwischen der deutschen Vergangenheit und Gegenwart, und den Vertriebenenorganisationen kommt dabei die Schlüsselrolle zu. Dass in den »Veröffentlichungen mancher Vertriebenenorganisationen« sich »die Verbindung von neuem Nationalismus und Rehabilitierung des »Dritten Reiches«« bemerkbar machte, zeigte Iring Fetscher schon 1967 an vielen Beispielen, die er für besorgniserregender hielt als »die rechtsradikalen Einzelgänger, die durch symbolische Gewaltakte von sich reden machen«.228 Edgar Weick wies zu derselben Zeit auf die staatliche Finanzierung der ähnlich kritisierten Vertriebenenpresse hin und suchte nach der Begründung: »Rechtsradikalismus und Politik der Bundesregie-

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Teil 4: Von der Vielfalt des Erinnerns rang berühren sich in einer der entscheidendsten Fragen der deutschen Nachkriegsgeschichte: in der Anerkennung oder Nichtanerkennung der Ergebnisse des Zweiten Weltkrieges.« 229 Wie am rechten Rand der deutschen politischen Landschaft an den Krieg und die Vertreibung erinnert wird, nachdem die Grenzfrage gelöst worden ist, zeigt der Sammelband 50 Jahre Vertreibung: Der Völkermord an den Deutschen.1*0 Die 1995 von Rolf-Josef Eibicht herausgegebenen Beiträge aus der Feder von Wissenschaftlern, Publizisten und Politikern sollen, so wird behauptet, die Bestrebungen der Autoren nach Aussöhnung und Ausgleich mit den östlichen Nachbarn dokumentieren: »Die verwahrlosten, jedoch in ihrer unermeßlichen landschaftlichen Schönheit ihresgleichen suchenden und äußerst unterbesiedelten ostdeutschen und sudetendeutschen Heimatgebiete könnten in polnischer und deutscher sowie in tschechischer und deutscher Gemeinsamkeit wieder aufgebaut werden. Und dies zum Nutzen aller: Polen, Tschechen und Deutschen.«251 Solche Worte klingen in der Bundesrepublik vertraut, etwas ungewöhnlich dagegen die folgenden: Gewidmet sei der Sammelband unter anderem jenen Ostdeutschen und Sudetendeutschen, »die schon im Jahre 1918/19 bei dem völkerrechtswidrigen polnischen Landraub großer ostdeutscher Gebiete (Westpreußen, die Provinz Posen, Oberschlesien) und dem ersten großen tschechischen Landraub des Sudetenlands kurz vor und nach dem Versailler Diktat, dem Teufelswerk unseres Jahrhunderts, Polen und Tschechen zum Opfer fielen«.232 Solche Formulierungen weichen inhaltlich, wie wir gesehen haben, nicht von altbekannten Meinungen über die nach dem Ersten Weltkrieg entstandene Staatenordnung Ostmitteleuropas ab, liegen rhetorisch jedoch ganz auf der Linie der NS-Propagandasprache. Unter den 37 Autoren aller Generationen finden sich Bundestagsabgeordnete, Beamte, Militärs, Hochschul- und Schullehrer, führende Amtsträger mehrerer Vertriebenenorganisationen sowie Publizisten aus Deutschland, Österreich und Tschechien, darunter so bekannte Politiker wie Alfred Dregger, Gerhard Frey, Jörg Haider, Heinrich Lummer, der ehemalige österreichische Justizminister Harald Ofner oder Franz Schönhuber, aber auch der andernorts vorgestellte Lieblingshistoriker der BdV-Vorsitzenden Erika Steinbach Heinz Nawratil, oder Rudolf Kucera aus Prag, Mitglied des Wissenschaftlichen Beirates der von ihr geleiteten Stiftung Zentrum gegen Vertreibungen. Der Herausgeber, Rolf-Josef Eibicht (* 1951), ist ein erfahrener Autor und hatte schon zuvor u. a. als wissenschaftlicher Mitarbeiter des Sudetendeutschen Rates zusammen mit dem langjährigen Leiter des Hauses des Deutschen Ostens in Düsseldorf, Oskar Böse, das bekannte Buch Die Sudetendeutschen - Eine Volksgruppe im Herzen Europas herausgegeben, eine Selbstdarstellung sudetendeutscher Vertriebenenpolitiker anhand ausgewählter Geschichtsbilder »Von der Frankfurter Paulskirche zur Bundesrepublik Deutschland«. 233 Die im Sammelband 50 Jahre Vertreibung: Der Völkermord an den Deutschen präsentierten Bilder der Vertreibung gehen von der Annahme aus, dass die Vertrei-

Wie unterschiedlich erinnert wird bung ein Verbrechen gewesen sei, das Erinnern daran einen wichtigen Bestandteil der deutschen nationalen Identität bilde, und dass sich das deutsche historische Bewußtsein verändern solle. Darin stimmen sie mit den Geschichtsbildern und Wünschen vieler Deutscher überein, und die spezifischen Züge dieses Sammelbandes machen sich oft nur in rhetorischen Nuancen bemerkbar. So beruht etwa das bekannte Buch Die Vertreibung: Böhmen als Lehrstück von Peter Glotz auf dem Gedanken, die Sudetendeutschen seien Opfer eines schwerwiegenden Verbrechens gewesen: »Vertreibungen - also ethnische Säuberungen sind Kriegsverbrechen, Verbrechen gegen die Menschlichkeit«. 234 Rolf-Josef Eibicht liegt auf der gleichen Linie, wenn er meint: »Unumstritten ist, die grausamen Massenaustreibungen von Deutschen, nach Kriegsende und im Frieden, haben millionenfach die Menschenrechte auf das schärfste verletzt.« 235 Auch die hier konstruierte Verknüpfung zwischen der Vertreibung und dem Nationalsozialismus ähnelt dem allgemeinen Konsens in der Bundesrepublik. »Es war die »Rache der Opfer« am Tätervolk«, schrieb etwa die bekannte Publizistin Helga Hirsch in ihrem Buch über Nachkriegspolen, in dem sie ihre Absicht erklärte, »das Leid, das infolge des Krieges auch den Deutschen widerfuhr, öffentlich zu thematisieren, ohne die Schuld der Deutschen zu verdrängen«. 236 Im Vorwort zu dem Sammelband 50 Jahre Vertreibung: Der Völkermord an den Deutschen führt der österreichische Politiker Jörg Haider den Gedanken, dass wir »weder die einen noch die anderen Verbrechen« vergessen dürfen, so aus: »Politische Überheblichkeit, politischer Wahnsinn, Rassismus und ethnischer Haß haben während des Krieges Millionen von Menschen ihre Heimat, Millionen ihr Leben genommen. Das Ende des Krieges war aber kein Anfang der Friedfertigkeit: Hunderttausende haben ihr Leben, Millionen ihre Heimat verloren, im sogenannten Frieden. Aus Rache - zumindest vorgeblich, als wäre dies entschuldigend - für unschuldige Opfer hat man andere Unschuldige zu Opfern gemacht. Rache ist Unrecht, Rache an Unschuldigen ist Verbrechen, Rache als Vorwand für Bestialität ändert die Abscheulichkeit der Motive nicht.«237 Rolf-Josef Eibicht kann ebenfalls auf vielerlei Zustimmung hoffen, wenn er dem Erinnern an die Vertreibung identitätsstiftende Bedeutung zuschreibt: »Das Thema um die deutschen Heimatvertriebenen bleibt ein zentrales Thema auch in Hinsicht auf die unabdingbar notwendig wiederzubringende deutsche Identität, die deutsche Selbstbewahrung und Selbstbehauptung, die deutschen Lebens- und ÜBerlebensrechte.« 238 Der ehemalige bayerische Staatsminister für Unterricht und Kultur, Hans Maier, führte im Jahre 2003 ähnliche Gründe auf, um zu erklären, warum er sich für das Museunisprojekt des BdV, das Zentrum gegen Vertreibungen, einsetze: »Nein, es geht wirklich nicht um Nationalismus. Aber es geht um einen Rest des seit Jahren verhängnisvoll gestörten (und nicht einmal durch die Wiedervereinigung geheilten) deutschen Selbstbewusstseins. Unsere nationale Selbstverneinung, die manchmal geradezu neurotische Züge annimmt, unsere Unfähigkeit, die Probleme der Zukunft zu meistern, hängen nach meiner Meinung auch mit unterdrückten Wahrheiten, verdrängten Erfahrungen unserer Geschichte zusammen. Sie muss überwunden werden. Es kann nicht im Sinn Europas sein, einen kranken Mann in seiner Mitte zu beherbergen.« 239

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Teil 4: Von der Vielfalt des Erinnerns Die Ansicht, dass Deutschland eine neue Form des Erinnerns an die Vertreibung brauche, u m die eigene nationale Identität in die wünschenswerten Bahnen zu führen, ist weit verbreitet, und viele Deutsche meinen auch, dass ein tief greifender Wandel erforderlich sei. So etwa der CDU/CSU-Bundestagsabgeordnete HansPeter Uhl: »Über ein halbes Jahrhundert nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs muß es auch für Deutsche eine historische Gerechtigkeit geben. Wir fordern nicht mehr und nicht weniger als diese Gerechtigkeit.« U m das zu erreichen, sei das Erinnern an den Nationalsozialismus zu ergänzen: »Das Wachhalten der Erinnerung an vergangenes Leid darf nicht dazu führen, daß das Gedenken zur alleinigen Verpflichtung der Deutschen wird. Richtiges Erinnern kann nicht bei der schonungslosen Aufdeckung von Verbrechen unter der NaziHerrschaft stehen bleiben. Denn diese Form der Erinnerung ist meist unvollständig: Der Verbrechen der Deutschen wird gedacht, aber die Verbrechen an Deutschen werden ausgeblendet.« 24° Ähnliche Gedanken steuerte Uhls Parteikollege Heinrich Lummer, der ehemalige Bundestagsabgeordnete und CDU-Fraktionsvorsitzende sowie Bürgermeister von Berlin und Senator für Inneres, zu dem Eibicht-Sammelband bei: »Die Deutschen brauchen ihr Licht nicht unter den Scheffel zu stellen. Sie brauchen ihre Geschichte nicht auf Auschwitz reduzieren zu lassen. [...] Erinnern an Dresden muß möglich bleiben. Erinnern an die Schrecken der Vertreibung der Deutschen auch. Hier darf nicht immer wieder und immer weiter mit zweierlei Maß gemessen werden.« 24 ' Derartige Formen des Erinnern an die Vertreibung scheinen weniger dem Interesse an den Lebenserfahrungen der Vertriebenen zu entspringen als dem Bedürfnis, die bisher üblichen Erinnerungsformen an den Nationalsozialismus und den Zweiten Weltkrieg einer Revision zu unterziehen. Dieses Anliegen wird in unterschiedlichen Formen zum Ausdruck gebracht. U m den rhetorischen Stil des Sammelbands 50 Jahre Vertreibung: Der Völkermord an den Deutschen einordnen zu können, hilft uns die Formulierung desselben Gedankens aus dem Parteiprogramm der N P D : »Wir wehren uns gegen die moralische Selbstvernichtung unserer Nation durch die einseitige Schuldzuweisung zu Lasten Deutschlands, die Aufwertung des Landesverrats und die Verherrlichung alliierter Kriegsverbrecher. Wir fordern deshalb zum Schutz der Ehre des deutschen Volkes: Die Ächtung der Geschichtsklitterung zum Nachteil Deutschlands. Ein Ende der einseitigen Vergangenheitsbewältigung. Wir Deutschen sind kein Volk von Verbrechern. Ein Eingeständnis unserer früheren Gegner, daß die zielgerichtete Bombardierung der Zivilbevölkerung, die Ermordung und Vertreibung von Millionen deutscher Zivilisten nach dem Krieg und die Tötung deutscher Kriegsgefangener Verbrechen sind, die auch heute noch geahndet werden müssen. Kein Ersatz der Freiheit von Forschung und Lehre durch ein staatlich verordnetes, von politischer Justiz überwachtes Geschichtsbild zu Lasten Deutschlands.«242 Beschäftigt man sich mit der Frage, wo die Unterschiede zwischen dem gängigen Erinnern an die Vertreibung und den Texten von Rolf-Josef Eibicht und seinen

Wie unterschiedlich erinnert wird Mitautoren zu suchen seien, fällt als erstes der Sprachstil dieses Sammelbandes auf. Die Beiträge sind durchwegs in einer gewaltsamen Sprache geschrieben, Worte wie Massen verbrechen, Genozid, Genozidplanung, Kampfund Ringen gehören zu den Schlüsselbegriffen. Sie werden nicht im Zusammenhang mit dem Nationalsozialismus, sondern zur Beschreibung der Handlungen der einstigen Alliierten verwendet. Ihnen wird der »Völkermord an den Deutschen« 243 zugeschrieben, während die deutsche Kriegsführung verharmlost wird. Die Wehrmacht wird in Kontrast zu den Bildern von einer »Flut« der »bolschewistischen Terrorbanden, genannt Rote Armee« 244 , verherrlicht. Das im deutschen Erinnern traditionelle Bild der Vergewaltigungen von Frauen durch Angehörige der Roten Armee wird hier so wiedergegeben: »Was die Bevölkerung während dieser Schlacht [in Oberschlesien] von Seiten der barbarischen Bolschewistenhorden erdulden mußte, ist unbeschreiblich. Was sich hier an hilflosen Zivilisten in blindwütigem Haß an den »Objekten der Rache« in der totalen nackten Brutalität austobte, konnte nicht von Menschen begangen worden sein, nur von Bestien in Menschengestalt. Diese Bestien stürzten sich auf die Fuhrwerke und rissen Mädchen und Frauen herunter. Die Schreie der Vergewaltigten wurden nur von den Mörderschüssen übertönt.«245 Dagegen sei es bewundernswert, »mit welcher Tapferkeit angesichts dieses Elends die Soldaten der Heeresgruppe Mitte in Oberschlesien fochten«. 246 Bereut wird nur die militärische Kapitulation des verbrecherischen Regimes: »Mit der Gesamtkapitulation der Wehrmacht zum 9. 5. 1945 fiel ein schwarzer Vorhang, und ein grauer Schleier legte sich über das Land. Es fiel in einen Dornröschenschlaf, aus dem es bis heute nicht erwacht ist. Erst, wenn der Erlöserprinz kommen wird, wird es wieder mit deutschem Leben erfüllt sein.«247 Die nationalsozialistischen Verbrechen werden nicht geleugnet, aber sie werden nicht thematisiert: »Alle Welt weiß von den tatsächlichen oder angeblichen deutschen Verbrechen.« 248 Welche NS-Verbrechen für real und welche für erfunden gehalten werden, wird nicht erläutert. Der Zusammenhang zwischen dem Zweiten Weltkrieg und den schweren Lebenserfahrungen der Vertriebenen kommt nicht zur Sprache. Stattdessen wird die falsche Behauptung aufgestellt, dass millionenfache Morde an Deutschen »mitten im Frieden, nach dem 8. Mai 1945« stattgefunden hätten. 249 Zugleich werden die »Vertreibungsverbrechen« als »keine Häufung von Ausschreitungen, sondern eine neuartige Form staatlich gelenkter Liquidationspolitik« 250 präsentiert und zu einem Kollektivverbrechen erklärt: Die »Vertreibung nach dem Zweiten Weltkrieg war ein Akt der Willkür und des Unrechts gegen das deutsche Volk«. 251 Auch hier werden für diese im deutschen Erinnern so populäre Behauptung keine Beweise vorgelegt. Während von den Erfahrungen der Betroffenen in dem Eibicht-Sammelband kaum die Rede ist, werden die gegenwärtigen Forderungen der Vertriebenenorganisationen ausführlich behandelt. Sie seien ein Mittel, um den Vertriebenen zur Heilung ihrer angeblich immer noch offenen Wunden zu verhelfen:

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Teil 4: Von der Vielfalt des Erinnerns »Die Vertreibung hat zwar vor 50 Jahren begonnen, sie dauert aber immer noch an und ist somit grausame Wirklichkeit. Die Vertreibung währt so lange, wie den gewaltsam Vertriebenen nicht das Recht auf Rückkehr, das Recht auf die Heimat, das Recht auf Selbstbestimmung und Minderheitenschutz gewährt wird. [...] Jedem in unserem Staate sei es deutlich gesagt: Die Wunden der Vertreibung sind offen, sie bluten und schmerzen.« 252 Aus der Auffassung, dass in Potsdam 1945 völkerrechtswidrige Entscheidungen getroffen worden seien, werden logisch erscheinende Forderungen abgeleitet: »50 Jahre nach der in der Weltgeschichte einzigartigen Massenvertreibung der Deutschen sollte es wirklich an der Zeit sein, dieses Verbrechen gegen die Menschlichkeit und gegen alles Völkerrecht wiedergutzumachen.« 253 Gefordert wird so mancherlei, zum Beispiel solle es möglich sein, »zwei Dinge zu erreichen: 1. Die moralische Qualifizierung der Vertreibung als Verbrechen und Völkermord durch diejenigen, die es verursacht haben [...]. 2. Daneben sollte die angemessene Bewertung, unabhängig von Fragen der Bestrafung, einen Weg öffnen, die Rechtsfolgen in einem gemeinsamen Dialog zu besprechen und zu beantworten. Natürlich gehören dazu auch Fragen des Umgangs mit konfisziertem Vermögen.« 254 Der damalige Vizepräsident des BdV, Paul Latussek, erläutert die diesbezüglichen »Aufgaben des Bundes der Vertriebenen«, zu denen etwa die »Durchsetzung des Mitbestimmungsrechtes der Vertriebenen und unserer Landsleute in der H e i mat zu allen Fragen, die die Heimat betreffen«, die »Durchsetzung des Ansiedlungsrechtes für die Deutschen in der Heimat« sowie die »Durchsetzung des Anspruches auf das Eigentum in der Heimat« gehören würden. Sogar die Forderung nach dem Wahlrecht »für unsere Landsleute für den Deutschen Bundestag« taucht auf, »damit sie sich als deutsche Staatsangehörige an der Entscheidungsfindung zu den Grundfragen deutscher Politik beteiligen können«. Wer hier gemeint ist, wird nicht ganz klar: »Unsere Landsleute sind als Deutsche in Deutschland geboren. Sie sind in ihrer Heimat geblieben. Dafür dürfen sie nicht durch Ausgrenzung bestraft werden.« 255 Als weitere Rechte für Angehörige deutscher Minderheiten in anderen Staaten werden unverhohlen »die Durchsetzung einklagbarer Volksgruppen- und Minderheitenrechte für unsere Landsleute in Mittel- und Osteuropa« 256 eingefordert. Solche Anklänge an die völkische Rhetorik der Zwischenkriegszeit deuten darauf hin, dass die damaligen Verwirrungen hinsichtlich der staatsrechtlichen und territorialen Aspekte der deutschen Identität immer noch fortleben. Die Erwartungen der Autoren richten sich vor allem an die beiden Staaten Polen und Tschechien: »Polen und Tschechen haben nicht nur gewaltige Verbrechen begangen, Völkermord haben sie betrieben.« 257 Deswegen sollen sie die an sie gerichteten Forderungen erfüllen: »Nach 50 Jahren sind nun die slawischen Nachbarvölker aufgerufen, der einst betriebenen Ausweisungspolitik den Rücken zu kehren und den Ost- wie den Sudetendeutschen das Selbstbestimmungsrecht und das Recht auf die Heimat zuzugestehen.« 258 Die Kritik der Autoren richtet sich aber auch gegen die Bundesrepublik und Österreich: »Da die Rechtsansprüche der Vertriebenen inzwischen durch Vererbungen auf das gesamte deutsche Volk innerhalb der BRD und B R Ö übergegangen sind, sind diese Staaten verpflichtet, diese Rechtsansprüche ihrer Staatsangehörigen zu vertreten, was bisher unterblieben ist.« 259

Wie unterschiedlich erinnert wird Bei den meisten Autoren des Eibicht-Sammelbands macht sich ein starker Groll gegen die deutsche Nation bemerkbar. Zum Teil richtet er sich gegen die deutsche Außenpolitik; sie habe »sich vorwiegend mit den polnischen und tschechischen Forderungen identifiziert. Das Recht der eigenen deutschen Bevölkerung wurde in der deutschen Außenpolitik nicht energisch genug vertreten.« 260 Zum Teil werden hier aber auch Ressentiments gegen deutsche Politiker geschürt: »Hatte 1945 die Wehrmacht nach einer gewaltigen Kraftanstrengung kapitulieren müssen, 1985 hat ein Teil der politischen Klasse in Bonn die bedingungslose Unterwerfung vollzogen« (sie). Damit ist die damalige Rede des Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker zum 40. Jahrestag des Kriegsendes gemeint: »Der höchste Repräsentant des staatsähnlichen, durch eine Verfassung allein sich ausweisenden gesellschaftlichen Verbandes Bundesrepublik, hatte damals diese positive Bewertung der schlimmsten Niederlage der Deutschen vorgenommen. Die Umerziehungsplaner haben ihr Ziel offensichtlich erreicht, die Deutschen selber praktizieren, was ihnen aufgetragen worden war.« 26 ' Manchmal werden ganz verwirrende Vorwürfe erhoben: »Der Verlust der Ostgebiete ist darum nicht nur ein Werk der Siegermächte, der dahinter stehenden imperialistischen Kreise und der ihnen weitgehend dienenden Oberschicht in Deutschland. Sie ist auch das Werk jener Teile des deutschen Volkes, die sich lange vor der Preisgabe Ostdeutschlands politisch selbst preisgegeben haben.« 262 Diese Rhetorik weckt Assoziationen zu den aus Mein Kampf bekannten Verunglimpfungen der deutschen Nation, nur dass hier nicht Juden, Bolschewismus oder die Syphilis für die vermeintliche Misere verantwortlich gemacht werden. Hier wird kollektivistisch von einer »deutschen Schuldneurose« gesprochen und eine Vision künftiger Auseinandersetzungen formuliert: »Der Wille des Feindes muß noch lange nicht der eigene sein! Oder besteht unsere politische Führung nur aus Kratz- und Hasenfüßen, die nicht fähig sind, Wort zu halten oder wenigstens in Würde zu protestieren, wenn man ihnen zu kuschen befiehlt?« 263 Der deutschen Nation sollen noch wichtige außen- und innenpolitische Konflikte bevorstehen: »Solange sich deutsches Land in fremder Hand befindet, solange ist das eine Niederlage, kein Siegl U n d es ist eine doppelte Niederlage, wenn ohne N o t die eigene Regierung das Land preisgibt.« 264 Dem Erinnern an die Vertreibung wird dabei eine wichtige Rolle zugeschrieben: »Die Auseinandersetzung um die deutschen Ostgebiete ist nicht zu Ende. Sie fängt erst richtig an. [...] Sie sucht im übrigen die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit und wird in einem bisher nicht gekannten Ausmaß revisionistisch und evolutionär sein. Sic wird unterstützendes Philosophieren und kulturelle, kolonisatorische und ökologische Strategien in den Vordergrund stellen. Und sie wird als zentralen Punkt der Auseinandersetzung den Kampf für politisch freie Reservate und gegen die uns herrschenden und zerstörenden imperialistischen Machtgruppen, Ideologien und Verhaltensweisen führen.«265 Für die Autoren des Sammelbandes 50 Jahre Vertreibung: Der Völkermord an den Deutschen bietet das gegenwärtige Europa keine Welt, der sie sich zugehörig fühlen:

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Teil 4: Von der Vielfalt des Erinnerns »Churchill hat nicht nur Deutschland zerstört, sondern eben auch das britische Weltreich. Eine Friedensordnung in Europa ist ferner denn je. Die künstlich geschaffenen »Wachhunde« Deutschlands im Osten zerfleischen sich innerlich selbst und können die Brocken vom Fleische Deutschlands nicht verdauen. Die Verwüstung von Flur und Siedlungen in den deutschen Ostgebieten ist alles andere als der blühende Garten Europas. Anstatt das zu korrigieren, beeilt man sich, das »endgültig« zu zementieren. Welch eine Schande!«266 Trotz aller kritischen Vorbehalte gegenüber der deutschen Nation soll ihr dennoch in dem hier präsentierten Szenario der europäischen Versöhnung eine besondere Rolle zukommen: »Dem echten Westeuropäer sind die Schicksale des als halbbarbarisch empfundenen Hinterhofs der abendländischen Kultur im Grunde genommen egal. [...] Das Gewissen des polnischen und tschechischen Volkes ist nicht erwacht. [...] Es bleibt uns Deutschen nichts anderes übrig, als ihnen ständig zu sagen: Eine Versöhnung ohne geschichtliche Wahrheit ist unmöglich.«267 Die Autoren suchen Inspiration für ihre Suche nach der geschichtlichen Wahrheit nicht nur in überlieferten Traditionen, sondern auch im »Anwachsen der Erfolge des wissenschaftlichen Revisionismus und der dadurch bewirkten Erosion der ideologischen Grundlagen der Nachkriegsordnung in Europa«. 268 Dementsprechend wird hier auch der Begriff Humanismus umgedeutet, als wäre die Revision der Nachkriegsordnung in Europa ein humanistisches Anliegen: »Das Wiedererlangen der durch die Vertreibung den Vertriebenen verlorengegangenen Rechte in der Heimat ist darum allein vom humanistischen Standpunkt eine zwingende Aufgabe unseres Volkes und eine selbstverständliche Aufgabe einer Interessengemeinschaft, wie sie der Bund der Vertriebenen (BdV) darstellt.« 269 Häufig werden »Menschen- und Völkerrechtsnormen« 270 zur Begründung der erhobenen Forderungen vereinnahmt, und stets werden deutsche Politiker zur Bekräftigung solcher Forderungen zitiert, wie etwa die Äußerung von Wolfgang Schäuble: »Wer Versöhnung will, der muß sich offen und ehrlich der historischen Wahrheit stellen [...] 14 Millionen Deutsche wurden vertrieben, nur weil sie Deutsche waren. Über 2 Millionen Deutsche verloren bei Flucht und Vertreibung ihr Leben... Auch das war schweres Unrecht, ein durch nichts zu rechtfertigendes Verbrechen.« 27 ' Im Kampf um das neue Rechtssystem und damit um den Frieden in Europa komme den Vertriebenenpolitikern die Rolle der Avantgarde zu: »Mit einem Wort, Sachwalter und Interessenvertreter für deutsches Land im Osten, aber auch für die Menschen, die sich diesem zugehörig fühlen und die hierher kommen wollen, müssen die Vertriebenenverbände sein. [...] So gesehen haben die Vertriebenenverbände eine Zukunft. Sic sind sogar unentbehrlich für eine Neugestaltung in diesem Land und eine Politik für die Zukunft dieses Volkes.«272 Deshalb solle jeder, »der mitwirken will, ohne Rücksicht auf Geburtsort oder -datum, Taufschein oder Parteibuch«, willkommen sein: »Jeder dem Wohle des Volkes verpflichtete Deutsche sollte für eine Landsmannschaft gewonnen werden, junge Menschen vor allem müssen in ihre Reihen treten.« 273 So verstand die Aufgaben seiner Organisation im Jahre 1995 Alfred Ardelt (1931-2001), ein einstiges Präsidiumsmitglied der Bundesversammlung der Sudetendeutschen Landsmann-

Wie unterschiedlich erinnert wird schaft, von 1986 bis 2000 ihr Landesobmann und führender Amtsträger des BdV in Niedersachsen. Mit Erinnern an die Vertreibung und mit Fürsorge für die vor einem halben Jahrhundert von schweren Lebenserfahrungen geplagten Menschen haben diese Aufgaben wenig zu tun. In Ardelts Augen stellen die Landsmannschaften vielmehr eine politische Kraft außerhalb der demokratischen Strukturen des Landes dar. Ihre Ziele sah er nicht nur in einer Revision der bestehenden Staatenordnung in Europa, sondern auch in einer tiefgreifenden Veränderung des politischen Lebens in der Bundesrepublik. Dabei handelt es sich um keine neue Konzeption der Vertriebenenpolitik. Ähnliches hatte schon beispielsweise im Jahre 1958 der sowohl vor als auch nach dem Zweiten Weltkrieg führende sudetendeutsche Politiker Walter Brand (19071980) 274 formuliert; er hatte gemeint, es gehe um die Auseinandersetzung zwischen zwei Fronten, »ob man nämlich in der Front jener steht, die im Zuge der »großen Umerziehung des deutschen Volkes nach 1945« nach oben gekommen sind und heute noch die alten MorgenthauVorstellungen verfechten [...] oder ob man sich jenen Kreisen zugehörig erachtet, die aus einer mehr konservativen, organischen Auffassung von Volk, Gesellschaft, Staat an einen Wiederaufbau unserer gesamten öffentlichen Verhältnisse herangehen«.275 Die auf der Grundlage der völkischen Denkweise gegründeten Landsmannschaften als Organisationen »der deutschen Stämme des Ostens« 276 verstanden sich von Anfang an nicht als bloße Interessenvertretung der Heimatlosen und Bestandteil eines demokratisch konstituierten Staates, wie wir gesehen haben. Ihr in der völkischen Tradition verankertes politisches Denken vermag - wie auch Ardelts Ausführungen zeigen - kein Verständnis für die liberal-demokratischen Prinzipien des modernen deutschen politischen Lebens aufzubringen. Die völkische Tradition ist nun einmal - wie die Geschichte der letzten hundert Jahre wiederholt gezeigt hat - mit moderner Demokratie unvereinbar. 277 Die völkische Phraseologie und das politische Milieu, in dem sie gedieh, hatte nach dem Ersten Weltkrieg in der Weimarer Republik die Nationalsozialisten hoffähig gemacht, und damit hatten die Völkischen eine Brückenfunktion eingenommen. Es ist keineswegs von der Hand zu weisen, dass heute die der völkischen Tradition verpflichteten Landsmannschaften als Brücke zwischen dem politischen Alltag der Bundesrepublik und all jenen Kreisen, die sich gegen die Überwindung der nationalsozialistischen Vergangenheit sträuben und allgemein als rechtsextrem eingestuft werden, dienen. Alle Autoren führen Worte wie Recht und Unrecht im Munde und bieten logisch plausible Argumente für ihre Forderungen. An historischem Wissen und empirischem Bezug zur Realität mangelt es allerdings erheblich: »Den Tschechen darf nichts genommen werden, was ihnen gehört. Das Sudetenland gehört ihnen nicht, das haben sie besetzt, und das halten sie weiter besetzt« 278 , erfahren wir von Alfred Ardelt, freilich ohne ein konkretes Gebiet identifizieren zu können, das er als »Sudetenland« bezeichnet, und ohne dass er seine Vorstellungen über die »Besitz- und Besetzungsverhältnisse« betreffend eines solchen Gebiets näher erläutert hätte. Solche frappierenden Anklänge an die hohle, historisch verbrämte Agitation aus der Zeit vor 1945 machen sich auch in der abschließenden Betrachtung des Herausgebers Rolf-Josef Eibicht über »Deutschland als Opfer der Geschichte« bemerkbar.

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Teil 4: Von der Vielfalt des Erinnerns Darin begegnen wir altbekannten Bruchstücken früher recht populärer deutscher Geschichtsbilder: »Das Erste Reich der Deutschen reichte im frühen Mittelalter von der Scheide- bis zur Rhonemündung, seine Grenze verlief südlich und östlich von Rom, die Siedlungsgebiete deutscher Kolonisten erstreckten sich von der Memel bis an die Adria. Aufgrund seiner Lage in Mitteleuropa, seiner Größe und Bevölkerungszahl schienen sein Bestand und seine Unabhängigkeit für immer gewährleistet. Der Kaiser dieses Reiches war der mächtigste Fürst des Abendlandes.«279 Diesem Mittelaltcrbild steht der Ausdruck des Entsetzens über die vermeintlich trostlose Lage der Gegenwart gegenüber: »Am Ende des zweiten Jahrtausends endet das deutsche Staatsgebiet im Osten an Oder und Lausitzer Neiße, im Süden am nördlichen Alpenrand, im Westen am Rhein oder nur wenig jenseits dieses Stroms. Österreich, der alten deutschen Ostmark, ist in einem Staatsvertrag die Trennung von Restdeutschland vorgeschrieben. Ein deutsches Siedlungsgebiet außerhalb dieser Territorien gibt es fast nicht mehr.«280 Schuld daran seien die Jahrhunderte alten antideutschen Aggressionen anderer Europäer: »Ais ältester und konsequentester Feind Deutschlands ist Frankreich zu nennen« 28 ', aber seit der Reichsgründung von 1871 soll »auch noch die Wirkung einer englischen Herrschaftsdoktrin immer spürbarer« geworden sein, »bis hin zu militärischen Auseinandersetzungen«. 282 In der russischen Geschichte habe dagegen »eine Gesetzmäßigkeit, die sich irgendwann gegen Österreich und Deutschland richten mußte und eine Voraussetzung für den Ausbruch des Ersten Weltkrieges war« 283 , gewirkt. Deutschland sei »in seiner Geschichte oft das Opfer der Politik seiner Nachbarstaaten geworden. Als Opfer der Vereinigten Staaten hat es auch seine größten Katastrophen erlebt.« 284 Mit diesem Satz endet der Sammelband. Das Erinnern an die Vertreibung dient hier dem Schüren aggressiver Feindseligkeit gegen die gesamte Welt von heute, so ähnlich, wie in den 1920er Jahren die Nationalsozialisten unter dem Vorwand des vermeintlichen Kampfes gegen das »Diktat von Versailles« gegen die Welt von damals hetzten. Mit historischem Wissen, politischem Verstand und nationalem Stolz haben diese Bilder der deutschen N a tion als eines Opfers der Weltgeschichte nichts zu tun. Hier wird Hitler nicht gepriesen und die NS-Verbrechen werden nicht geleugnet, vom Nationalsozialismus distanzieren sich alle hier versammelten Autoren in der einen oder anderen Form. Aber die Erinnerung an die Vertreibung als ein angeblich von den einstigen Kriegsgegnern verübtes und den NS-Verbrechen vergleichbares Massenverbrechen regt dazu an, die ererbten antidemokratischen Weltbilder in Anlehnung an überlieferte Denkstrukturen und Versatzstücke aus der NS-Propaganda in ständig neuen Variationen zusammenzustellen. Trotz aller ihrer Klagen über die Bundesrepublik sind die Autoren des EibichtSammelbands im politischen und öffentlichen Leben der Bundesrepublik fest verankert. Als sie ihr 1995 erschienenes Buch vorbereiteten, sahen sie ihre Zielvorstellungen voll im Einklang mit dem Bund der Vertriebenen und dessen Entschließung vom 16.Juni 1990: »Der BdV war und ist für einen tragfähigen und gerechten Ausgleich zwischen den Deutschen, den Polen und allen östlichen Nachbarn.

Wie unterschiedlich erinnert wird Er sagt ein klares Nein zu den Absichten auf totale Preisgabe Ostdeutschlands, - zur Anerkennung der Unrechtsfolgen des Geheimabkommens zwischen Stalin und dem Lubliner Komitee, das die Oder-Neißc-Linic als Grenze vorsieht, - zum Versuch, das völkerrechtliche Delikt der Massenvertreibung zur Grundlage der Gebietsabtretungen zu machen, - zur achtlosen Preisgabe von 800 Jahren ostdeutscher geschichtlicher Leistung und eines Viertels von jenem Deutschland, das nach dem Versailler Vertrag bestehen blieb.«285 Unter den Autoren des Bandes so Jahre Vertreibung: Der Völkermord an den Deutschen begegnen wir Angehörigen vieler Schichten der deutschen Gesellschaft, und sie alle präsentieren ein Sammelsurium aus rhetorischen Motiven, die dem deutschen öffentlichen Leben des 19. und 20. Jahrhunderts entnommen sind. Gefestigte Redewendungen werden hier wie eine Handvoll kleiner Glaskugeln in einer Schatulle des kollektiven Erinnerns neu gemischt und vermitteln anstelle von historischem Wissen nur eine emotionale Botschaft: Den Deutschen sei 1945 wie schon so oft zuvor Unrecht geschehen, und deshalb solle die bestehende Staatenordnung in Europa und die parlamentarisch-demokratische Ordnung der Bundesrepublik einer grundlegenden Revision unterzogen werden. Das Erinnern an die Vertreibung liefert den hier versammelten Autoren ihre zentralen Argumente. Von der gängigen Vertreibungsliteratur unterscheidet sich dieser Sammelband in vielerlei Hinsicht, und doch ähnelt er ihr in dem wichtigen Gedanken, dass die gegenwärtige Staatenordnung auf vermeintlich an der deutschen Nation verübten Unrechtshandlungen beruhe. Hier wird vieles in einer grobschlächtigeren Rhetorik erzählt, und es werden schwererwiegendere Vorwürfe erhoben als ansonsten heute üblich. Immer wieder werden jedoch angesehene Wissenschaftler und D o kumentationen zitiert, um zu beweisen, dass die Vertreibung das »bisher nicht gesühnte und nicht wiedergutgemachte Verbrechen gegen die Menschlichkeit« 286 sei und dass »dieser entsetzliche Völkermord, der - wie die Untaten des Nationalsozialismus - zu den schrecklichsten Verbrechen der Geschichte zählt, mit keinen anderen Verbrechen, die von Staaten oder von Einzelnen begangen wurden, rechtlich zulässig begründet, etwa »aufgerechnet«, gar »entschuldigt« werden kann«. 287 Dieser Glaube wird hier immer wieder unter Berufung auf das Gutachten eines Rechtsgelehrten von internationalem Ruf, des österreichischen Menschen- und Völkerrechtlers Felix Ermacora (1923-199 5), begründet, der u. a. 1992 im Auftrag der Bayerischen Staatsregierung seine Thesen vom »Völkermord« an den Sudetendeutschen zu begründen versuchte. 288 Damit ist eine Situation entstanden, in der die deutschen Politiker der deutschen Öffentlichkeit und den in diesem Sammelband versammelten Autoren eine Erklärung schulden: Sollte es sich tatsächlich um einen Völkermord handeln, dann hätten deutsche Politiker die moralische und rechtliche Verpflichtung, angemessene Konsequenzen daraus zu ziehen und entsprechend zu handeln - warum tun dies alle jene Politiker nicht, die entsprechende Gutachten in Auftrag geben und Organisationen politisch und finanziell fördern, die solche Thesen vertreten? Dass über solche Fragen in der Öffentlichkeit nicht diskutiert wird, nährt im rechtsradikalen Milieu ein Sendungsbewusstsein und trägt zu dessen Attraktivität besonders unter den nachwachsenden Generationen bei.

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Teil 4: Von der Vielfalt des Erinnerns Die Autoren des Eibicht-Sammelbands berufen sich auf die Menschenrechte, doch ist dabei von humanistisch getragenem Mitgefühl für leidende Menschen nichts zu spüren. Ganz im Gegenteil, hier macht sich eine zynische Sprache bemerkbar, etwa wenn Heinz Nawratil zusammenfassend feststellt: »Was auf den ersten Blick als »die Vertreibung« erscheint, war in Wirklichkeit ein makaberes Panoptikum aus Massaker und Flucht, aus Deportation zur Zwangsarbeit und Internierung im Konzentrationslager. Die eigentliche Vertreibung war nur das Finale, die Spitze des Eisbergs.« 289 Heinz Nawratil beruft sich auf die vom Statistischen Bundesamt veröffentlichten Angaben über »die deutschen Vertreibungsverluste« sowie die vom Bundesvertriebenenministerium herausgegebene Schiedersche Dokumentation, um sein Bild der Vertreibung zu begründen: »Die größte Völkervertreibung der Weltgeschichte stellt zugleich den größten Verbrechenskomplex der Nachkriegsgeschichte dar.« 290 Auch ihm dient das Gutachten von Felix Ermacora als Stütze seiner Völkermord-These: »Kein Geringerer als Prof. Felix Ermacora, der UNO-Sonderbeauftragte für Afghanistan [seit 1984], sieht den Tatbestand des Völkermordes im Sinne der UNO-Resolution vom 9 . 1 2 . 1 9 4 8 erfüllt.« 29 ' H e i n z Nawratil selbst gilt wiederum als Garant dafür, dass die hier verwendeten Vertreibungsbilder historisch korrekt seien, er habe die »ganz und gar unglaublichen Massenverbrechen an den deutschen Heimatvertriebenen« nachgewiesen, meint Rolf-Josef Eibicht, und darin würden ihm viele gutgläubige und irregeführte Deutsche zustimmen, empfahl doch Nawratils Schwarzbuch der Vertreibung 1999 sogar Erika Steinbach, die Präsidentin des BdV, in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung der deutschen Öffentlichkeit; bis heute erfreut sich das Buch einer entsprechenden Popularität. 292 Der Eibicht-Sammelband macht uns auf ein Problem des deutschen Rechtsradikalismus sui generis aufmerksam, das mit dem Erinnern an die Vertreibung zusammenhängt. Die Autoren von 50 Jahre Vertreibung: Der Völkermord an den Deutschen formulieren in einer heute politisch nicht korrekten Weise die allgemein akzeptierte Forderung nach einer Revision der gängigen Geschichtsbilder in Europa und stützen sich auf viel gelobte Vertreibungsdarstellungen. Sie können sich in vielerlei Hinsicht mit einem beachtlichen Teil der deutschen Bevölkerung im Einklang fühlen und ihre Darstellungen mit Hinweisen auf entsprechende Aussagen staatlich geförderter Dokumentationen sowie Äußerungen namhafter Wissenschaftler stützen. Dass häufig auch Autoren zu entsprechend verwirrenden Bildern der europäischen Geschichte beitragen, die dem Rechtsradikalismus politisch fernstehen, ist nicht überraschend, wenn wir uns die Geschichte des Erinnerns an die Vertreibung vergegenwärtigen. Darüber hinaus beruht der Wunsch nach Veränderungen der europäischen Staatenordnung sowie der gängigen Geschichtsbilder nicht nur auf einer seit 60 Jahren staatlich geförderten, sondern sogar auf einer noch weiter in die Vergangenheit zurückreichenden Tradition im deutschen historischen Denken; schon nach dem Ersten Weltkrieg war es beliebt, die Revision der europäischen Staatenordnung sowie der in Europa gängigen Darstellungen des Ersten Weltkriegs zu fordern. Die lange und weitverbreitete Weigerung, das Geschehene und Bestehende zu akzeptieren, hatte nicht nur schwerwiegende politische, sondern auch mentalitätsgeschichtliche Folgen für die deutsche Gesellschaft. Warum sollte jemand, der das Geschehene nicht zu akzeptieren bereit ist, sich um die hi-

Wie unterschiedlich erinnert wird storische Erforschung und Erklärung sowie um das Verstehen jener Ereignisse bemühen, die zu in seinen Augen unerwünschten Ergebnissen geführt haben? Im Erinnern an die Vertreibung macht sich eine derart enthistorisierende Geschichtsbetrachtung vor allem in der Verdrängung des Zweiten Weltkriegs bemerkbar. Die Gepflogenheit, die Geschichte des Zweiten Weltkriegs auf kurze Hinweise auf den Holocaust oder einfach nur ganz allgemein auf NS-Verbrechen zu reduzieren, war, wie wir gesehen haben, schon in der unmittelbaren Nachkriegszeit populär, und sie wirkt bis heute nachhaltig fort. Über »Vertreibung« als »Völkermord« reden nicht nur die rechtsradikalen Autoren des Eibicht-Sammelbands. O b sich manche Autoren beim Reden über die Vertreibung der Holocaust-Begrifflichkeit bedienen oder andere die Vertreibungsrhetorik auf das Reden über den Holocaust ausdehnen, macht keinen großen Unterschied. In beiden Fällen handelt es sich um eine Enthistorisierung der Vergangenheit, um das Reden sowohl über den Holocaust als auch über die Vertreibung ohne empirischen Bezug zur historischen Wirklichkeit. Die eigentlichen Lebenserfahrungen der Betroffenen blieben dabei auf der Strecke.

Die >anderen< Vertriebenen »Der Wert unserer Erfahrungen läßt sich nicht beliebig weitergeben [...] und unsere Versuche, einiges, das uns beispielhaft erscheint, ins Unvergängliche zu bringen, sind nur ein Ausdruck für die hoffnungslose Auflehnung gegen insgeheim erkannte Vergeblichkeit.«191 Zur Vielfalt des Erinnerns an die Vertreibung haben auch zahlreiche literarische Werke 294 beigetragen, deren Autoren nicht den Anhängern der Vertriebenenpolitiker zugerechnt werden können - wie etwa Horst Bienek: »Ich fühle mich nicht als Vertriebener oder als Flüchtling, aber natürlich verläßt einen die Kindheit nie. Vertriebene sind wir alle in dem Sinne, daß wir aus der Kindheit in das Erwachsensein hinausgetrieben, vertrieben wurden. So möchte ich das Buch verstanden wissen: nicht als Klage darüber, daß Oberschlesien einmal deutsch war, sondern als Erinnerungen an das, was einmal war und was nicht mehr ist.«295 Diese Sätze schrieb einer der bekanntesten deutschen Intellektuellen der Nachkriegszeit, Horst Bienek, über seinen im Jahre 1975 veröffentlichten Roman Die erste Polka. Die Erinnerungen des 1930 in der heute polnischen Stadt Gliwice/ Gleiwitz geborenen Schriftstellers ( t 1990) an die Vertreibung und die verlorene Heimat waren von anderer Art als die der Vertriebenenpolitiker. In seiner international beachteten Schlesien-Tetralogie erkundete Horst Bienek nicht nur sein Gedächtnis, sondern auch die Geschichte der Vertriebenen. Die letzten Wochen des Zweiten Weltkrieges bilden den zeitlichen Rahmen der H a n d lung im vierten Band Erde und Feuer.191' Bienek zeichnet hier das Bild eines gewaltgeladenen Chaos voll beeindruckender Details. Hier wird nicht über die Deutschen und ihre »Feinde« erzählt, hier werden alle Beteiligten mit einbezogen, als fühlende und handelnde Subjekte der sich entfaltenden Tragödie, dominiert von der Desori-

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Teil 4: Von der Vielfalt des Erinnerns entierung aller und mit dem Tod auch Tausender schlesischer Flüchtlinge in Inferno des Bombardements von Dresden endend. In seinen Erinnerungen ;n »eine Kindheit in Oberschlesien« schildert Bienek sein persönliches Schicksal in bescheidener Sprache: »In unserem Haus hatten die zurückgebliebenen Bewohner beschlossen, cazubleiben. Jetzt bei 20 Grad Kälte ins Ungewisse, das wollten sie nicht. Wir ve'barrikadierten uns im Keller, die Tür wurde mit dicken Brettern zugenagelt. Die Kitjuschas sausten über uns hinweg. Eine ganze Woche lang ging das so, und keiner tiaute sich raus. Als der Kampflärm vorbei war, wagten wir uns hinaus, und wir safen schon die ersten russischen Soldaten mit einem roten Stern auf den Pelzmützen Dieses Land war nicht mehr mein Land. Im Oktober desselben Jahres vurde ich von den polnischen Behörden ausgewiesen. Ich war fünfzehn Jahre alt. Ieh fuhr in einem vollgestopften und von außen verriegelten Viehwaggon über die Oder und dann über die Görlitzer Neiße. In Richtung Westen. Ich sah nicht ein eimiges Mal zurück.«297 Horst Bienek sah mehr als nur seine eigene Lebenslage, aber seine Erinierungen waren »nur« die eines Einzelnen. Die Vertreibung war Bestandteil seiner Erinnerungen an die Kindheit, er bot seinen Lesern keine öffentlichen Klagelieder und versuchte nicht, Anklagen zu erheben, sondern hielt möglichst viele Aspekte der eigenen Erlebnisse literarisch fest. Seine Werke eignen sich nicht zur Veibreitung politischer Botschaften, werden dagegen zweifellos zum Erinnern künftiger Generationen beitragen, auch dann, wenn die Forderungen der Vertriebenenpolitiker längst obsolet geworden sein werden. Bieneks Werke halten die autheitischen, individuellen Erfahrungen, Emotionen und Reflexionen eines Vertriebenen fest, und das macht sie aussagekräftiger als jede hohle, mit Superlativen geladene Phrase über die vermeintliche historische Bedeutung der Vertreibung. Auch der im heutigen Polen geborene Siegfried Lenz ("'1926 Efk/Lyck erinnert an die Leidenswege der Vertriebenen eindringlicher und konkreter, als ef summarische Erinnerungsbilder der Vertriebenenpolitiker zu tun vermögen. Leiz lässt in seinem Buch Heimatmuseum seinen Romanhelden Zygmunt Rogalla die Erinnerungen an den Untergang eines Schiffes erzählen, wie auf der Flucht seit.e letzten Familienangehörigen vor seinen Augen den Tod fanden; seine Frau und :ein Kind wurden schon zuvor vom ihm getrennt, und auch sie sah er nie wieder: »Taucher könnten unseren Fluchtweg rekonstruieren; auf dem Grund des Haffs und der Ostsee, von Fischen bewohnt, von Seepocken beschlagnahmt uid besiegt vom Rost, liegen noch heute die unzähligen Zeugen unseres verzweifeben Zuges nach Westen, kolossale Findlinge der Not, Wegzeichen selbstverschuketen Unglücks, die erbarmungslose Antwort der Gewalt, die wir selbst gesät hitten; ach, wie oft bin ich hinabgestiegen in die Lichtlosigkeit, in dieses Schweigen,hinab zur unterseeischen Todesspur, um mir die unfaßbare Sinnlosigkeit der Opfer lestätigen zu lassen.«298 Hier begegnen wir einer eindrucksvollen literarischen Darstellung jenes tnermesslichen Leids, das manche später als Vertriebene bezeichnete Menschen erlebten, bevor sie kurz vor dem Ende des Krieges ihre Zufluchtsorte in Deutschiard fanden. In den erzählenden Werken geistig unabhängiger Schriftsteller finden wir oft auch Erinnerungen, die Augenzeugen selten erwähnten und Vertriebenenpolitiker

Wie unterschiedlich erinnert wird zu beschweigen pflegten - wie etwa die Ankunft der Vertriebenen in Deutschland. Das war nämlich keine Stunde Null, in der ihr Leid zu Ende gegangen wäre und sie ihre Erinnerungen an die soeben erlebten traumatischen Erfahrungen wie auf ein weißes Blatt aufzuschreiben begonnen hätten. Als sie ankamen, brachten die Heimatlosen nicht nur unterschiedliche Erinnerungen mit, sondern sie nahmen auch ihre neue Umwelt unterschiedlich wahr. Die Zeit des Neuanfangs wirkte bei der Spurensicherung des einsetzenden Erinnerns konstitutiv mit, und es war keine gute Zeit für die Vertriebenen: »Am Anfang stand die Schleuse der Lager, Ortschaften, deren Namen man nie gehört hatte, die nun in Schrecken versetzten: Wasseralfingen oder Pasing, Durchgänge für von Krätze Befallene, der Aussatz der Transporte, die Entlausung war mittlerweile zum Ritual geworden, auch die Typhusspritze in die Brust. [...] Zögernd und unter vielfältigen Widerständen vereinten sich Ost und West, oft trat Haß unverhüllt zutage, dem Verständnis wurde nicht nachgeholfen. Was sollten sie denen erzählen, die besaßen?«299 Was Peter Härtung 1967 in seinem Essay Die Flüchtlinge mit der kahlen Sachlichkeit des Details andeutete, bringt die Misere der Vertriebenen eindrucksvoll zum Ausdruck. Seine diese Passage begleitenden Reflexionen über die Hilf- und Verständnislosigkeit seitens der künftigen neuen deutschen Nachbarn der Vertriebenen verrät den Gegenwartsbezug der Schilderung von Erinnerungen, die Härtung längst hinter sich gelassen hatte, als er sie niederschrieb. Seine literarischen Erinnerungen machen die zeitliche Distanz zwischen dem Erinnernden und dem erinnerten Ereignis ebenso wie die humanistisch geprägte Sichtweise ihres Autors deutlich. Seine Texte sind keine mental eingefrorenen Sichtweisen eines 1945 besiegten NSAnhängers, wie wir sie oft im Vertriebenenmilieu antreffen konnten. Zur Veranschaulichung dieses Unterschieds können wir auf die Erinnerungen eines der einflussreichsten Autoren der Vertreibungsliteratur, Eugen Lemberg (1903-1976), zurückgreifen. Auch Eugen Lemberg machte keine guten Erfahrungen bei seiner Ankunft diesseits der deutsch-tschechoslowakischen Grenze, aber er brachte sie ganz anders zum Ausdruck als Härtung: »Nach dem Zusammenbruch des Dritten Reiches traf der aufgestaute Flaß mit voller Wucht die Sudetendeutschen - ob sie persönlich Schuld auf sich geladen hatten oder nicht. Das Drama der Austreibung rollte mit apokalyptischen Szenen ab. Für mich war - neben dem Verlust von Stellung und Heimat und dem Elend der Familie - das Schlimme daran, daß das alles von vielen, sogar von Deutschen im Reich, als gerecht empfunden wurde: »Hättet ihr euch mit den Tschechen vertragen, so wäre euch das nicht passiert!« So konnte man es von Ahnungslosen hören. Solche Leute konnte ich wirklich hassen - mehr als die Tschechen, die mir bei all ihrer Barbarei doch einem bei allen Völkern angelegten Verhaltensmuster zu folgen schienen.«300 In Peter Härtlings und Eugen Lembergs Texten stehen sich nicht nur zwei unterschiedliche Erinnerungen an persönliche Erlebnisse aus der Ankunftszeit der Vertriebenen gegenüber. Hier kommen auch zwei individuell unterschiedliche Wahrnehmungen und Erinnerungsformen zum Ausdruck, denen wir in den Zeugenberichten über die Vertreibung immer wieder begegnen.

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Teil 4: Von der Vielfalt des Erinnerns In der Darstellung Härtlings finden wir Informationen über konkrete Begebenheiten, in der Lembergschen Schilderung begegnen wir einer pauschalisierenden und kollektivistischen Deutung des Erlebten. Die erste Erinnerungsform ist subjektiv und zugleich sachlich informativ, die zweite verbirgt ihre Subjektivität hinter einer scheinbar objektiv urteilenden Rhetorik und eignet sich eher zur politischen Instrumentalisierung des Erinnerns als zum Kennenlernen der Vergangenheit. Die Texte der ersten Art erweitern das kollektive Gedächtnis, indem sie einmalige Situationen nachvollziehbar machen, die Lembergschen Texte perpetuieren bekannte Redewendungen. Man könnte die Berichte Härtlings als »authentische«, die Lembergs als »entindividualisierte« Erzählungen bezeichnen, um der Tatsache Rechnung zu tragen, dass wir diesen beiden Erinnerungsformen in dem weitgehend auf Augen- und Zeitzeugenaussagen beruhenden kollektiven Erinnern an die Vertreibung immer wieder begegnen. Die individuell artikulierten, authentischen Erzählungen spielten im staatlich geförderten »entindividualisierten« Erinnern des Vertriebenenmilieus eine geringere Rolle als in der Öffentlichkeit insgesamt. Peter Härtling publizierte seine Texte nicht in den Medien der Vertriebenenorganisationen, sondern ebenso wie viele andere Vertriebene auf dem freien Markt der bundesdeutschen Presselandschaft. Am Beispiel von zwei zufällig ausgesuchten Zeitschriften können wir uns das Erinnern der »anderen« Vertriebenen veranschaulichen. Die 1948 gegründete Zeitschrift Der Monat gehörte zu den populärsten Plattformen des westdeutschen intellektuellen Diskurses, und Peter Härtling war jahrelang einer ihrer Mitherausgeber. Das war nicht ungewöhnlich, da Vertriebene in allen Bereichen des öffentlichen Lebens zu finden waren. Auch zu den Autoren und Mitarbeitern des Jahrbuchs Jahresring, das seit 1954 vom Kulturkreis im Bundesverband der Deutschen Industrie mit dem Untertitel »Beiträge zur deutschen Literatur und Kunst der Gegenwart« herausgegeben wurde, zählten zahlreiche Vertriebene. Der Monat verstand sich als eine »Internationale Zeitschrift«, und seine Aufmerksamkeit galt vor allem der Gegenwart. Der Jahresring betonte die Absicht, »sich nicht auf die Auseinandersetzung mit den Erscheinungen des kulturellen Lebens in der Bundesrepublik zu beschränken«, sondern den gesamten deutschen Sprachraum zu erfassen.301 In beiden Zeitschriften wurden in den ersten Jahrgängen Erinnerungen an die Opfer des Nationalsozialismus und an die Vertriebenen zwar nicht oft artikuliert, aber auch keineswegs tabuisiert, wie der oft erhobene Vorwurf an die Adresse dieses kulturellen Milieus lautet. Die hier zu findenden Erinnerungsformen können zum Kennenlernen der »anderen« Vertriebenen beitragen, derjenigen nämlich, die ohne staatliche Kulturförderung das Erinnern an die Vertreibung bereichert haben. In dem soeben zitierten Essay Die Flüchtlinge begegnen wir beispielsweise der folgenden Erinnerung an die Vertreibung: »Der Krieg, klagte jeder, kaum einer: die Politik. Zuerst waren es die Leute aus Bessarabien, die an der Weichsel angesiedelt worden waren von den Raumplanern, die vernichteten, wohin sie kamen, die auf der mörderisch vereinfachenden Idee vom Herren- und vom Untermenschen ihr Kolonialreich im Osten zu errichten trachteten. Schon damals bekam jeder seine Schuld zugemessen. Wer empfing, empfand sie? So gut wie keiner. Sie fingen an, sie abzuwälzen, nach Rangordnung, nach Befehlsstärke. Wußten sie nichts, die, gequetscht auf Pferdewagen sitzend,

Wie unterschiedlich erinnert wird hinter Schlitten herstampfend, müde, abgerissen, noch die Hoffnung auf ein heiles, barmherziges Reich hegend, von den Ursachen, deren Opfer sie waren und die sie, womöglich, mitverschuldet hatten?«302 Die politische Dimension, die Härtlings Erinnerung umfasst, unterscheidet sein Bild von den traditionellen Gedächtniskonstruktionen um eine wichtige Dimension: um die Reflexion der Ursachen, der Schuld und der Verantwortung. Die Vertriebenen werden hier als Subjekte erinnert, also als Träger moralischer und politischer Haltungen, nicht als stumme und passive Objekte fremder Gewalt. Im Jahresring begegnen wir einer ähnlich umfassender als üblich angelegten Erinnerung eines Vertriebenen an seine verlorene Heimat. Johannes Bobrowski (19171965), ein in der D D R lebender und auch im Westen geschätzter Schriftsteller umschrieb sein Thema mit folgenden Worten: »Mein Thema: Die Deutschen und der europäische Osten. Weil ich um die Memel herum aufgewachsen bin, wo Polen, Litauer, Russen, Deutsche miteinander lebten, unter ihnen allen die Judenheit. Eine lange Geschichte aus Unglück und Verschuldung, die meinem Volk zu Buche steht. Wohl nicht zu tilgen und zu sühnen, aber eine Hoffnung wert und einen redlichen Versuch in deutschen Gedichten. [...] Ich wollte diese Landschaft und Menschen schildern, um meinen deutschen Landsleuten etwas zu erzählen, was sie nicht wissen. Sie wissen nämlich nicht über ihre östlichen Nachbarn Bescheid. Bis heute nicht.«303 Die moralisch und politisch fundierten Erinnerungen an die Vertreibung wurden meist auch von »anderen« Erinnerungen an den multikulturellen Reichtum jener Gebiete begleitet, aus denen die Deutschen nach dem Zweiten Weltkrieg geflüchtet oder umgesiedelt, evakuiert und ausgewiesen worden waren. Wie bei Bobrowski ist der »deutsche Osten« auch in Härtlings Erinnerung keineswegs nur deutsch, denn bei beiden Autoren treten die anderen ehemaligen Mitbewohner nicht nur als »Vertreiber«, sondern ebenso wie die Deutschen als Subjekte schwieriger und oft kaum befriedigend lösbarer moralischer Entscheidungen auf. Solche »anderen« Formen der Erinnerung an die Vertreibung waren thematisch reicher als das staatlich geförderte Erinnern. Sie sind daher auch für die historische Forschung inspirativer als manch eine Dokumentation der deutschen Anklage gegen die »Vertreiberstaaten«. Mit der Vielfalt ihrer intellektuell problematisierenden Reflexionen warfen Schriftsteller mehr Fragen auf als das Jahrzehnte lang staatlich geförderte Gedächtnismilieu der Vertriebenenorganisationen. Die »anderen« Erinnerungen wirken wie ein Ferment, das es zu verhindern vermochte, dass sich auf Grund der starken staatlichen Förderung ausschließlich eine einzige, übergreifend gemeinschaftliche deutsche Erinnerungslandschaft in der Bundesrepublik verfestigen konnte - zum Bedauern mancher und zur Inspiration vieler anderer Deutscher. Im intellektuellen Milieu der westdeutschen Moderne gab es infolge des vielfältigen Miteinanders unterschiedlicher Erinnerungsperspektiven ein lebendiges Erinnern, in dem persönliche individuelle Erinnerungen an eine von der Gegenwart klar abgesetzte Vergangenheit zum Ausdruck gebracht wurden. Siegfried Lenz setzte der intensiven Auseinandersetzung der westdeutschen Intellektuellen mit den Erinnerungen an die Vertreibung ein Denkmal in seinem oben erwähnten Roman Heimatmuseum.

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Darin erzählt er die Geschichte eines masurischen Heimatmuseums vom wilhelminischen Kaiserreich bis zur Errichtung eines neuen Heimatmuseums in Schleswig-Holstein nach der Vertreibung; am Ende des Romans vernichtet der vertriebene Gründer sein altneues Heimatmuseum aus Protest gegen die Versuche von Vertriebenenpolitikern, es zu vereinnahmen. Lenz führt seine Leser durch das subtile Gewebe vielfältiger Bemühungen um das vergegenständlichte Festhalten der Vergangenheit. Er weiß von der tröstenden Kraft, die in einem »Sammelsurium der Vergänglichkeit« steckt, ebenso zu erzählen wie von den Gefahren der politischen Inbesitznahme. Die »Fiktion von Bleiben und Wiederkehr« weiß er mit liebenswürdiger Zuwendung zu seinen Romanfiguren ebenso zu würdigen wie die »Maulwürfe unserer Vergangenheit« zu warnen: »Der Wert unserer Erfahrungen läßt sich nicht beliebig weitergeben. Wir müssen damit einverstanden sein, wir leidenschaftlichen Schattenbeschwörer, daß andere in Zweifel ziehen, was uns so viel bedeutet; vielleicht ist alles zur Vergänglichkeit verurteilt, und unsere Versuche, einiges, das uns beispielhaft erscheint, ins Unvergängliche zu bringen, sind nur ein Ausdruck für die hoffnungslose Auflehnung gegen insgeheim erkannte Vergeblichkeit.«304 Auch Siegfried Lenz trug mit seinem umfangreichen und viel gelesenen literarischen Oeuvre entscheidend zur Bewahrung der kollektiven Erinnerung an die Vertreibung bei. Das taten viele Intellektuelle unter den Vertriebenen, die dem in der Bundesrepublik mit viel Nachdruck konstruierten Mythos Vertreibung fernstanden. Viele »verlorene« Orte und Landschaften sind dem kollektiven deutschen Speichergedächtnis keineswegs verloren, wie die Vertriebenenpolitiker beklagen, die Masuren sind im deutschen kulturellen Gedächtnis ebensowenig ohne Siegfried Lenz denkbar wie Danzig ohne Günter Grass, Prag ohne Johannes Urzidil oder Gleiwitz ohne H o r s t Bienek. Im Unterschied zu den vielen propagandistischen Aufklärungsschriften von Vertriebenenpolitikern werden die in literarischen Werken erhaltenen Erinnerungen an die Vertreibung nicht in Vergessenheit geraten. In der literarischen Welt wurden Erinnerungen an die Vertreibung in unterschiedlichen Formen artikuliert. Schriftsteller und Lyriker sind nicht alle gleich begabt und mit den gleichen Charaktereigenschaften ausgestattet, aber schöne Literatur gehört zu jenen Formen rhetorischer Betätigung, die von der Subjektivität lebt und sich deshalb nur mit Mühe durch die Politik kontrollieren lässt. Die Literaten sind keine von ihrer Umwelt unabhängigen Menschen, aber in ihren Werken begegnen wir ebenso wie in anderen Bereichen des künstlerischen Lebens häufig einer ausgeprägten individuellen Sicht und geistigen Eigenständigkeit. Deshalb bietet die Geschichte der deutschen Nachkriegsliteratur eine weitaus breitere Palette von Erinnerungen an die Vertreibung, als wir sie bei Politikern oder Historikern finden. Der Germanist Louis Ferdinand Heibig veröffentlichte 1988 eine Geschichte der »Flucht und Vertreibung in der deutschsprachigen Belletristik« und stellte fest, dass »ein umfangreicher Korpus von teilweise erstrangigen belletristischen Werken aller Genres zum Thema »Flucht und Vertreibung«« existiert: »Vierundsiebzig Romane bis etwa 1986 - welche anderen Themen können eine vergleichbar häufige und intensive Darstellung für sich in Anspruch nehmen?« Hinzu kam eine »große

Wie unterschiedlich erinnert wird Zahl« von Erzählungen, Kurzgeschichten, Einzelgedichten, »die in die Hunderte geht«, aber auch »die vielen Anthologien, Gedichtbände, Hörspiele und Fernsehverfilmungen« ebenso wie Spielfilme und eine in seinen Augen »geringe Zahl von Bühnenwerken«. 305 In all diesen Werken sind die unterschiedlichsten Interpretationen der Vertreibung enthalten, vor allem aber sehr viele individuelle Einsichten. Louis Ferdinand Heibig stellte fest, dass dort die von den Vertriebenenpolitikern gefestigten Redeweisen und Erinnerungsbilder kaum zu finden sind, und das hat ihn nicht überrascht: »Was kümmert es den einzelnen Menschen, ob ein Stück Land oder eine Stadt an einen anderen Staat, eine andere Nation übergeht; es kümmert ihn aber, wenn damit der Verlust an Ureigenstem verbunden ist. Solche Wunden heilen sehr langsam. Die Flucht- und Vertreibungsliteratur lehrt, daß es diese menschlichen Beschädigungen sind, die den größten und bleibendsten Schmerz verursachen, nicht - wie man beim Lesen gewisser nationalistischer Literatur meinen könnte - Niederlagen von Staaten, Verschiebungen von Grenzen und jegliche Art von nationaler Schmach.«306 Heibig benennt hier einen weiteren Grund, warum wir im literarischen Erbe der Nachkriegszeit einer weitaus umfangreicheren Dokumentation des Erinnerns an die Vertreibung als in den Erzeugnissen der staatlich geförderten Projekte begegnen. Dass die von den Vertriebenenpolitikern verbreiteten Erinnerungsbilder in der Öffentlichkeit weitaus einflussreicher waren als die Werke der Betroffenen, dass es zur Entstehung eines literarischen Genres der Vertreibungsliteratur sui generis und zur Verfestigung eines Mythos kommen konnte, in dem die Vielfalt der Erinnerungen keinen Ausdruck findet, ist sicherlich bedauerlich. U m so wichtiger ist es, den Unterschied zwischen dem »deutschen Erinnern« im engeren Sinne der staatlich geförderten Erinnerungsbilder auf der einen Seite und dem umfassenden Erinnern der Betroffenen auf der anderen Seite nicht aus den Augen zu verlieren.

Das >andere< Erinnern in der DDR »Die Oder-Neiße-Grenze soll eine Friedensgrenze und ihre Anerkennung soll die erste Voraussetzung für eine Verständigung mit dem polnischen Volke sein.« 3°7 Als 1949 die beiden deutschen Staaten gegründet wurden, fanden die Massenumsiedlungen deutscher Bevölkerung ihr Ende. Die zur Aufnahme der Heimatlosen erforderlichen Sonderverwaltungen konnten aufgelöst werden, und dabei ging man in den beiden neuen Staaten unterschiedlich vor. In der D D R wurde diese Entwicklung vom Verbot besonderer Umsiedler- bzw. Vertriebenenorganisationen begleitet. Mit den Worten des Zentralkomitees der SED hieß das: »Die weitere Existenz einer besonderen zentralen Umsiedlerverwaltung und besonderer Umsiedlerämter in den Ländern und Kreisen würde in seiner Konsequenz dazu führen, den Verschmelzungsprozeß durch die Herausstellung besonderer Umsiedlerinteressen zu

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behindern.«308 Zur selben Zeit wurden auch in den Westzonen Vertriebenenbehörden geschlossen und in die allgemeine Verwaltung integriert, wie der Historiker Philipp Ther feststellt: »Der Abbau der Sonderverwaltungen spiegelt somit eine grundsätzliche Tendenz von Administrationen zur Vereinheitlichung und Zentralisierung wider.« Doch in Fragen der politischen Integration der Vertriebenen gingen die beiden deutschen Staaten geradezu gegensätzliche Wege, und das hing mit dem jeweils unterschiedlichen Erinnern ihrer Regierungen an den Zweiten Weltkrieg und die Vertreibung zusammen. Die Unterschiede zwischen Ost- und Westdeutschland im Umgang mit den neuen Grenzen sowie mit den Vertriebenen waren, wie wir gesehen haben, von Anfang an deutlich sichtbar.309 Nach der Gründung beider Staaten vertiefte sich diese Kluft, weil sich beide um »Aufklärung« der Öffentlichkeit durch staatliche Propaganda bemühten: Eine »wichtige Aufgabe des Bundesministeriums für Vertriebene war die Aufklärung des In- und Auslands über die Größe des Flüchtlingsproblems«,310 hieß es in der Bundesrepublik, und auch die staatlichen Stellen der DDR fühlten sich einer »offensiv geführten Aufklärungsarbeit«311 verpflichtet. In der DDR wurden andere Erinnerungsbilder als in der Bundesrepublik verbreitet, und dementsprechend unterschiedliche Wege nahm auch die jeweilige Aufklärungs- und Geschichtspolitik. In keinem der beiden Staaten lagen historische Forschungen über die Geschichte der in der Bundesrepublik als Vertreibung und in der DDR als Umsiedlung bezeichneten Ereignisse vor, als sie mit ihren jeweiligen Aufklärungsaktivitäten begannen. Die grundlegenden konzeptionellen Unterschiede im öffentlichen Erinnern der beiden Staaten lassen sich an einem Beispiel aus dem Jahre 1955 ablesen. Damals wurde in der DDR eine Dokumentation mit dem schlichten Titel Oder-Neiße veröffentlicht, anhand der man die dort popularisierte Form des Erinnerns kennenlernen kann. In Stuttgart kam zeitgleich im Auftrag des vom Bundesvertriebenenministerium geförderten Johann-Gottfried-Herder-Forschungsrates312 eine Quellendokumentation zur Entstehung der Oder-Neiße-Linie heraus.3'3 Beide Dokumentationen waren Werke von mehreren Autoren, die zwei kulturhistorisch unterschiedlichen Milieus angehörten. Dementsprechend unterschiedlich waren auch die Lebenserfahrungen der beiden wichtigsten Mitherausgeber, Rudi Goguel (1908-1976) im Osten und Gotthold Rhode (1916-1990) im Westen. Der 1908 in Straßburg geborene Rudi Goguel verbrachte zwischen 1933 und 1945 über zehn Jahre in Zuchthäusern und Konzentrationslagern und wird heute vor allem als der Komponist des Liedes Die Moorsoldaten erinnert. Letzteres schuf er 1933 zusammen mit zwei Mitgefangenen im KZ Börgermoor bei Papenburg in Emsland; dank Hanns Eisler wurde es während des Spanischen Bürgerkriegs zum international bekannten Symbol deutscher Konzentrationslager. Nach der Befreiung lebte Rudi Goguel in Westdeutschland, kandidierte 1949 für die KPD bei den Bundestagswahlen, zog sich aber bald infolge innerparteilicher Konflikte aus dem politischen Leben zurück. 1952 übersiedelte er in die DDR, war als Historiker am Deutschen Institut für Zeitgeschichte in Berlin tätig und wirkte von 1959 bis 1968 als Abteilungsleiter für die »Geschichte der imperialistischen Ostforschung« an der Humboldt-Universität. Er engagierte sich für die historische Aufarbeitung der NS-Geschichte, wie etwa der von ihm maßgeblich mitgestaltete Bzndjuden unterm

Wie unterschiedlich erinnert wird

Hakenkreuz: Verfolgung und Ausrottung der deutschen Juden 1933-1945 zeigt. 3 ' 4 In der Bundesrepublik war er als Kritiker der Vertriebenenverbände sowie der Ostforschung bekannt. 3 ' 5 Rudi Goguel war kein Handlanger der Politiker. So wollte beispielsweise die SED seine 1947 in Düsseldorf und 1948 in Singen erschienenen Erinnerungen Es war ein langer Weg ohne Veränderungen nicht neu herausgeben, und Rudi Goguel war nicht bereit, der Zensur nachzugeben. So wurde sein ungewöhnlicher Bericht über das Leben in NS-Zuchthäusern und Konzentrationslagern erst 2007 von der Mahn- und Gedenkstätte Düsseldorf neu herausgegeben. 3 ' 6 Warum seine Erinnerungen kein Bestseller geworden sind, liegt ebenso nahe wie der Grund, warum sie von den DDR-Ideologen nicht geschätzt wurden. Sie lassen sich in keine Schablone pressen, da Goguel ein aufmerksamer Beobachter seiner Umwelt war. Er wollte kein »Heldenepos vom KZ« verfassen und betrachtete auch seine politischen Verbündeten kritisch: »Ich bin mir dabei vollkommen im Klaren, dass unsere Gegner die Schilderung eines demoralisierten Kommunisten mit Behagen aufgreifen werden. Sie mögen nicht vergessen [...], dass sie damit nur ihre eigene menschliche Erbärmlichkeit offenbaren.« Goguels Beobachtungsgabe und persönlicher Integrität verdanken wir einen der frühesten Berichte über die seelischen Folgen der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft, die sich selbst bei ihren Opfern bemerkbar machten: »Es ist billig, ein Heldenepos vom KZ zu singen und die Rollen einseitig zu verteilen. Wollte man totschweigen, dass auch aufrechte und anständige Genossen im Laufe der Jahre der Demoralisierung verfallen sind, so würde man ein Märchen aus Tausendundeiner Nacht erzählen, aber keine Tatsachen berichten. Ich meine, die ganze menschliche Tragödie nicht besser charakterisieren zu können als an solchen Einzelbeispielen.«3'7 Goguels Gegenpart unter den Herausgebern der westdeutschen Dokumentation über die Geschichte der Oder-Neiße-Grenze, Gotthold Rhode, stand, wie wir gesehen haben, auf der anderen Seite des politischen Spektrums. 3 ' 8 Während Goguel in den nationalsozialistischen Konzentrationslagern lebte, machte Rhode wissenschaftliche Karriere in der Ostforschung und betätigte sich praktisch bei den Umsiedlungen deutscher Minderheiten. Nach dem Krieg gehörte er zu den prominenten Vertretern jener Ostforschung, die Goguel als »imperialistische Ostforschung« unermüdlich kritisierte. In der Bundesrepublik genießt Rhodes Interpretation der Vertreibung nach wie vor hohes Ansehen, obwohl ihr keine kritische Selbstreflexion des Autors zugrundelag. Ganz im Gegenteil - über seine eigenen Erfahrungen als »Ortsbevollmächtigter« bei Umsiedlungen in Litauen 1941 berichtete Rhode 1981 verharmlosend und selbstzufrieden: »Wir erhielten feldgraue Uniformen ohne alle Rangabzeichen, aber mit Ärmelstreifen »SS-Umsiedlungskommando«.Umsiedlungen des Führers< Das nationalsozialistische Regime hat einzelne Nationen unterschiedlich behandelt, je nachdem, für welche Rolle sie in dem in Mein Kampf entworfenen und ab 1938/39 durchgeführten Kolonialprojekt im östlichen Europa prädestiniert worden waren. Die seit 1939 umgesiedelten Deutschen sollten im »neuen deutschen Osten« Aufbauarbeit leisten; Polen war jener Staat, der von den »Umsiedlungen des Führers« am stärksten in Mitleidenschaft gezogen wurde, weil diesem Land im deutschen Kolonialprojekt eine besonders wichtige Rolle zukam. Es galt als der erste umzugestaltende Baustein des künftigen Imperiums: »Von der March bis an die Memel reicht der neue Raum im Nordosten, als Einheit militärisch gewonnen

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Anhang: Historisch-statistische Veranschaulichung und nun auch geistig, seelisch und nicht zuletzt biologisch als Einheit zu erwerben. Hier wartet das Land auf neue Geschlechter«, hieß es damals: »»Menschen in den Osten!« wird der Ruf sein, der von Warthe und Weichsel in jedes binnendeutsche Haus dringen muß.« 8 ' Deshalb wurde die einheimische Bevölkerung im besetzten Polen mit besonders brutaler Gewalt misshandelt, und die ersten heimatlos gewordenen Deutschen wurden dorthin zur »Ansiedlung« gebracht. Viele der betroffenen Deutschen jubelten dem Projekt zu, ohne zu begreifen, wie sie selbst missbraucht wurden, welche Folgen diese Umsiedlungen für die einheimische Bevölkerung hatten und wie abstrus das ganze Umsiedlungsprojekt war. Es war nicht nur inhuman, sondern auch irrational, wie schon der oben zitierten anschaulichen Bilanz bis zum Jahre 1941 entnommen werden kann: »Insgesamt konnten die Umsiedlungsexperten dort zwar 293 794 Menschen deportieren, die mit Abstand höchste Zahl der Angesiedelten in den annektierten Gebieten. Im Sommer 1941 machten aber von den 4,5 Millionen Einwohnern des Warthegaus Polen immer noch 80 % und Juden 6 % aus. Dagegen betrug der Anteil der Volksdeutschen lediglich 14 %. Von einer nennenswerten Eindeutschung konnte also keine Rede sein, zumal noch immer über 250 000 Volksdeutsche in Lagern verharren mußten und auf ihre Ansiedlung warteten.« 84 Die bisher gängigen Darstellungen der »Umsiedlungen des Führers« beruhen weitgehend auf den Unterlagen der nationalsozialistischen Verwaltung, der damaligen Presse u n d auf nach dem Krieg veröffentlichten Berichten der einstigen Nazis. In den statistischen Angaben aus den NS-Unterlagen kann sich der heutige Leser nur schwer orientieren, da die in der nationalsozialistischen Rhetorik als »Umsiedler« bezeichneten Deutschen nicht nach ihrer Staatsangehörigkeit aus der Vorkriegszeit statistisch erfaßt wurden. Entsprechend der völkischen Tradition wurden sie nach den so genannten »Volksstämmen«, den vermeintlichen »deutschen Siedlungsgebieten« oder »deutschen Sprachinseln« registriert. U m sich eine Vorstellung darüber zu machen, aus welchen Staaten die Umsiedler kamen, m u ß die völkische Rhetorik der NS-Verwaltungsunterlagen »übersetzt« werden, das heißt die entsprechenden Angaben auf die Karte der seit 1 9 3 8 / 3 9 zerstörten Staatenordnung projiziert und neu berechnet werden. Dabei ergibt sich in etwa das folgende Bild: Tabelle 15: Die Massenumsiedlungen deutscher Minderheiten 1 939-1944 nach Herkunftsstaaten85 Staat Polen Baltische Staaten UdSSR

Anzahl der Umsiedler 166 000 127 000

Rumänien

370 000 212 000

Jugoslawien Insgesamt

35 000 910 000

»Warthegau - ein deutscher Siedlergau« lautete eine Überschrift im Völkischen Beobachter am 16. März 1944, als, wie oben erwähnt, berichtet wurde: »Mit den

Weiterführende Informationen

Schwarzmeerdeutschen ist nun der millionste Deutsche ins Wartheland eingezogen.« Daraus geht hervor, dass infolge der »Umsiedlungen des Führers« rund ein Viertel der Angehörigen der deutschen Minderheiten im östlichen Europa außer der Tschechoslowakei die Heimat verlor: unter anderem nahezu alle Deutschen aus den Baltischen Staaten und aus dem besetzten Teil der UdSSR, etwa die Hälfte der im östlichen Polen (östlich der Curzon-Linie) beheimateten Deutschen, knapp ein Drittel der deutschen Bevölkerung aus Rumänien und ein kleinerer Teil der Deutschen aus Jugoslawien. Die Heimat verließ damals allerdings mit Sicherheit eine noch größere Zahl von Deutschen. Wie viele Angehörige deutscher Minderheiten infolge der NSAuswahlverfahren ihr Leben verloren haben, ist bisher nicht erforscht worden, obwohl zahlreiche Hinweise auf entsprechende Fälle vorliegen. Es ist bisher auch nicht bekannt, wie viele Menschen während dieser Umsiedlungen ums Leben kamen. Des Weiteren ist unbekannt, wie viele Angehörige der deutschen Minderheiten außerhalb der offiziellen Umsiedlungen wohin verschleppt wurden, wie etwa die oben erwähnten, 1942 aus der Slowakei deportierten ca. 700 Deutschen.86 Am Ende des Krieges befanden sich die »Umsiedler des Führers« in einer besonders prekären Lage. Wohin sie aus dem befreiten Polen gerne gegangen wären, ob sie lieber zurückgekehrt wären oder lieber in Deutschland Zuflucht gesucht hätten, ist nicht bekannt. Im zerstörten östlichen Europa wäre es am Kriegsende denkbar schwierig gewesen, für eine eventuelle Rücksiedlung dieser Menschen Sorge zu tragen und Mittel zu finden, sofern dies damals überhaupt jemand in Betracht gezogen hätte. Im befreiten Polen wären diese Umsiedler wahrscheinlich nicht gerne geblieben, nachdem sie ihre dort mit unredlichen Mitteln erworbenen Besitztümer ihren rechtmäßigen Eigentümern hätten zurückgeben müssen. Es ist auch kaum vorstellbar, dass der polnische Staat für die dort »angesiedelten« Deutschen zu sorgen bereit gewesen wäre, selbst im Falle, dass es nicht zur Ausweisung der deutschen Bevölkerung aus Polen gekommen wäre. Die »Umsiedler des Führers« gerieten infolge der deutschen Niederlage in große Schwierigkeiten, aber es ist unverständlich, warum sie als »Vertriebene« bezeichnet werden.

Die Folgen des Zweiten Weltkriegs für die deutsche Minderheit in der UdSSR Die Massenumsiedlungen der deutschen Minderheit innerhalb der UdSSR werden in der Vertreibungsliteratur zwar oft erwähnt, aber selten historisch dargestellt. Die Folgen der deutschen Besatzung für die Sowjetdeutschen werden meist verschwiegen. Für die folgende Übersicht erwies sich die sorgfältig recherchierte und sachlich geschriebene Studie von Benjamin Pinkus und Ingeborg Fleischhauer Die Deutschen in der Sowjetunion. Geschichte einer nationalen Minderheit im 20. Jahrhundert^7 am wertvollsten; die dort vorgelegten statistischen Angaben scheinen wohl belegt und sorgfältig, differenziert und kritisch reflektiert. Die folgenden Informationen können zur Veranschaulichung der in diesem Buch an anderer Stelle dargestellten Vorgänge dienen88, sollten aber nicht als eine Zusammenstel-

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Anhang: Historisch-statistische Veranschaulichung

lung statistisch belegter Informationen im gängigen Sinne des Wortes gesehen werden. Tabelle 16: Massenumsiedlungen der Sowjetdeutschen 1941-1946 1,2 Mill

Deutsche in der UdSSR, 1926 bzw. 1939

89

90 bzw 1,4 Mill.

Von Umsiedlungen verschont Umgesiedelt von sowjetischen Behörden in den Osten des Landes

274 OOO91 1941:640 000 1942-1944: 50 OOO92

1941 unter deutsche Besatzung geraten

350 00093

Umgesiedelt von deutschen Behörden 1943/45 Zwangsrepatriiert Februar-Oktober 1945

324 OOO94 95

224 OOO96 50 OOO97

Zwangsrepatriiert Ende 1945/1946 1945 in deutscher Uniform von USA an UdSSR übergeben Deutsche in der UdSSR 1946-1950 Geblieben im Westen

27 956 98 1,2 Mill. 99 70 000-80 OOO100

Zwischen 1950 und 2006 sind 2 341 128 Aussiedler als »Heimkehrer« aus der UdSSR bzw. aus den GUS Staaten freiwillig in die Bundesrepublik gekommen. 101

Die nationalsozialistische Räumungspolitik 1943-1945 »Unter deutscher Herrschaft waren Zwangsevakuierungen gang und gäbe« 102 , aber die nationalsozialistische Räumungspolitik, die den gesamten Rückzug der Wehrmacht begleitete, verwandelte die Bevölkerung der betroffenen Gebiete in eine Art Räumungsgut. Die Durchführung dieser Evakuierungen gehört zu den bisher am wenigsten erforschten Massenverbrechen des NS-Regimes. Die arbeitsfähige Bevölkerung galt als Arbeitskräftereservoir, während man alle übrigen Evakuierten wie ein für die Kriegsführung lästiges Hindernis traktierte. Diese Vorgehensweise hatte auch für die deutsche Bevölkerung schwerwiegende Folgen. Als erste wurden Deutsche und ihre Kollaborateure aus den besetzten Gebieten der UdSSR und aus Südosteuropa evakuiert. Der erste Räumungsbefehl auf dem Gebiet des Großdeutschen Reiches, über den in der Schiederschen Dokumentation berichtet wird, ist am 4. August 1944 erlassen worden. Eingestellt wurde die Zwangsevakuierung der deutschen Zivilbevölkerung erst durch den Befehl des Chefs des OKW, Generalfeldmarschall Wilhelm Keitel, vom 29. April 1945: »Bei der Evakuierung der Zivilbevölkerung aus feindbedrohten Gebieten darf keinerlei Zwang ausgeübt werden«. 10 ' In der NS-Propaganda wurden die Evakuierten »Rückgeführte« oder »Flüchtlinge« genannt. Die Betroffenen berichteten unterschiedlich: Manche versuchten zu flüchten, andere weigerten sich, den Räumungsbefehlen Folge zu leisten, während

Weiterführende Informationen die Mehrheit offensichtlich der NS-Propaganda glaubte und den Befehlen Folge leistete. Während des Rückzugs der Wehrmacht kam es zu Gewaltverbrechen an deutschen Zivilisten. Über die von Angehörigen der Wehrmacht verübten Verbrechen ist in der Vertreibungsliteratur nur wenig zu erfahren. Viel wird dagegen über die Misshandlungen der deutschen Zivilbevölkerung durch Angehörige der Roten Armee erzählt, wenn auch selten Genaueres als das, was Augen- und Zeitzeugen berichteten. 104 Angesichts der Vernachlässigung der nationalsozialistischen Räumungspolitik in der Vertreibungsliteratur verfügen wir weder über eine Gesamtdarstellung der Vorgänge noch über eine ausreichende Menge an Einzelinformationen. los Ein sorgfältiger Blick auf die vorhandenen Informationssplitter verhilft uns zu einer ungefähren Vorstellung über die statistischen Dimensionen der Folgen der Räumungspolitik. Dabei ist u. a. zu beachten, dass sich manche der folgenden Angaben auf die Gesamtzahlen der damals evakuierten Personen und nicht nur auf die im östlichen Europa vor dem Zweiten Weltkrieg beheimatete deutsche Bevölkerung beziehen. Zu den Evakuierten gehörten auch dem deutschen Besatzungsregime dienende Kollaborateure unterschiedlicher Nationalität, Angestellte der Besatzungsbehörden sowie deutscher im Osten tätiger Wirtschaftsunternehmen und zahlreiche Deutsche, die sich aus unterschiedlichen Gründen dort niedergelassen hatten bzw. dort aufhielten. Auch zuvor schon innerhalb des östlichen Europas umgesiedelte Deutsche waren darunter. Die Folgen dieser Räumungspolitik waren katastrophal, wie wir gesehen haben 106 , zumal sich beachtliche Teile der Evakuierten am Kriegsende in Österreich, in der Tschechoslowakei und in Dänemark befanden.

Tabelle 17: Folgen der NS-Räumungspolitik für Deutsche im östlichen Europa Gebiet Ostgebiete des Großdeutschen Reiches

Vorliegende Angaben über die Anzahl der Betroffenen mindestens 5 Millionen der einheimischen Bevölkerung bzw. zwischen Ende 1944 bis April-Mai 1945 ca. 7 524 000 der Gesamtbevölkerung von 1944 bzw. 6 Millionen der einheimischen Bevölkerung107; nach anderen Angaben 2 Millionen »nicht ständig im Osten siedelndejn] Deutschefn]«' 08

Tschechoslowakei

150 000 einheimische Deutsche (davon über 30 000 aus dem heutigen Tschechien109 und 120 000 aus der Slowakei110); nach anderen Angaben ein Teil der rund 300 000 deutschen Flüchtlinge unmittelbar vor und nach Kriegsende11'; nach anderen Angaben sollen mit der Wehrmacht 370 000 Deutsche das Land verlassen haben 112

Ungarn Rumänien Jugoslawien

50-60 000 der einheimischen Bevölkerung113

UdSSR Gesamtzahl der Evakuierten bis März 1945

100 000 der einheimischen Bevölkerung1'4 »die Mehrheit durch Evakuierung oder Flucht entkommen« 1 ' 5 324 OOO"6 der einheimischen Bevölkerung

ca. 10-15 Millionen" 7

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Anhang: Historisch-statistische Veranschaulichung

Nach Angaben der deutschen Wehrmacht vom 6. März 1945 sollen von den Evakuierungen an die zehn Millionen Menschen betroffen gewesen sein: »Da in Danzig sich 1 000 000 Flüchtlinge in Bewegung gesetzt haben, ist die Gesaratsumme der Flüchtlinge nun auf 10 Millionen angestiegen.«"8 Nach anderen Angaben deutscher Behörden vom Januar 1945 sollen »im Osten« 3,5 Millionen und bis Anfang März 8,35 Millionen Menschen auf der Flucht gewesen sein; hinzu kamen 1,42 Millionen Flüchtlinge aus den westlichen Reichsgebieten und 4,88 Millionen Menschen, die aus den luftkriegsgefährdeten Gebieten evakuiert worden waren."9 Wie viele weitere Menschen noch zwischen Anfang März und dem Kriegsende von Räumungen betroffen waren, ist nicht klar, da in den chaotischen Verhältnissen des zerfallenden NS-Staats die Migrationsbewegungen nicht amtlich erfaßt werden konnten.

Grenzübergreifende Vertreibungen seit dem Kriegsende bis Ende 1945 Grenzübergreifende Vertreibungen deutscher Bevölkerung ereigneten sich in Gebieten, die bis zum Kriegsende zum Großdeutschen Reich gehörten. Betroffen waren kleinere Gruppen im nördlichen Teil des ehemaligen Jugoslawien, vor allem aber Deutsche im heutigen Tschechien und in Polen. Die Vertreibungen geschahen überwiegend in den Sommermonaten des Jahres 1945 und wurden von den alliierten Regierungen im Laufe der Herbstmonate unterbunden. Wie kam es dazu, dass Menschen aus ihren Häusern und Wohnungen, ja sogar aus ihren jeweiligen Staaten vertrieben werden konnten? In allen europäischen Staaten wurden nach dem Kriegsende besondere Gesetze und Verordnungen erlassen, die sich auf die Angehörigen der nationalsozialistischen deutschen Volksgemeinschaft und die Kollaborateure ihres Regimes bezogen. In der internationalen Presse wurde im Sommer 1945 immer wieder von derartigen Sondermaßnahmen berichtet, selbst über so einfache bürokratische Maßnahmen wie die in Österreich verfügte Verpflichtung der Gemeinden, alle Nationalsozialisten zu registrieren und Listen zu führen, die »durch jedermann eingesehen werden können«.120 In Belgien wurden schärfere Sonderbestimmungen eingeführt: »Die nationalsozialistisch gesinnten Bürger werden die belgische Nationalität verlieren und nach Deutschland verwiesen« hieß es, und die deutschen Staatsbürger, »die jetzt noch im Gebiet von Eupen und Malmedy wohnen, oder Deutsche, die während der Kämpfe dorthin evakuiert worden sind, müssen auf belgischem Territorium eine gelbe Armbinde tragen; ausgenommen von dieser Vorschrift sind Juden und »demokratische« Deutsche.«'1' In der Schweiz wurde u. a. durch den Bundesrat die Ausweisung von 945 deutschen Nationalsozialisten verfügt, und durch die Kantone wurden weitere 1 205 deutsche Nationalsozialisten ausgewiesen.122 Infolge solcher und ähnlicher Sondermaßnahmen zur Erfassung und Bestrafung der Protagonisten des Nationalsozialismus suchten bis Ende Oktober 1946 Menschen aus vielen Ländern in Deutschland Zuflucht.

Weiterführende Informationen

In der bundesdeutschen Statistik sind daher Angaben über »Vertriebene« aus verschiedenen Staaten zu finden, etwa n 195 Personen aus der Schweiz, 100 819 aus Österreich, 21 419 aus Frankreich, 10 839 aus Belgien, 13 159 aus Italien, 37 767 aus den Niederlanden oder 5 380 aus Luxemburg; weitere 2 805 Vertriebene kamen aus den USA und 15 783 aus anderen außereuropäischen Staaten.12' Wie viele dieser Personen deutscher Nationalität waren, ist nicht ersichtlich, auch nicht, warum sie als »Vertriebene« bezeichnet werden. Es kann sich teilweise um Ausgewiesene und teilweise um Flüchtlinge gehandelt haben, deren Geschichte noch nicht erforscht wurde. Im östlichen Europa war die Situation der befreiten Staaten weitaus komplizierter als im Westen. Nach dem Kriegsende wurden in den zuvor vom Großdeutschen Reich verwalteten Gebieten des heutigen Polens und Tschechiens rechtmäßige Regierungen eingesetzt, aber sie konnten sich weder auf eine frei gewählte parlamentarische Repräsentation stützen, noch stand ihnen ein normaler staatlicher Verwaltungsapparat zur Verfügung; auch funktionierten noch nicht die üblichen Organe der Gerichtsbarkeit wie Staatsanwaltschaften, Justizverwaltung und Strafvollzugsbehörden. Darüber hinaus konnte aus außen- und innenpolitischen Gründen nicht an die staatlichen Strukturen aus der Vorkriegszeit angeknüpft werden. Der einsetzende Kalte Krieg zwischen den Großmächten bahnte eine Abgrenzung des sowjetisch dominierten Teiles Europas an, und die heftigen innenpolitischen Auseinandersetzungen sowohl in Polen als auch in der Tschechoslowakei führten zur Errichtung so genannter volksdemokratischer Systeme unter kommunistischer Vorherrschaft. Deswegen unterschieden sich die damaligen Lebensbedingungen in diesen beiden Staaten über das Kriegsende hinaus auch weiterhin grundlegend von denen im Westen des Kontinents - wo der Krieg zwar ebenfalls zerstörerische Folgen mit sich gebracht, die gesellschaftliche Ordnung aber in einem weit geringeren Maße erschüttert hatte. Mit ähnlichen Problemen wie Polen und die Tschechoslowakei waren auch andere osteuropäische Staaten konfrontiert, insbesondere Jugoslawien, wo die Folgen des Krieges durch einen Bürgerkrieg zusätzlich belastet wurden. Deshalb wurden in den ersten Nachkriegsmonaten die ohnehin noch recht chaotischen Verhältnisse im östlichen Europa weitaus stärker als im Westen durch eine gewaltsame Atmosphäre bestimmt, in der zahlreiche Menschen häufig Opfer grober Misshandlungen wurden. Zu den Leidtragenden gehörten auch Deutsche sowie alle, die mit den Nationalsozialisten kollaboriert hatten. Die von Sonderregelungen betroffenen Personengruppen wurden in der damals gängigen Rhetorik unterschiedlich, aber überall ähnlich bezeichnet: »faschistischhitlerische Verbrecher«124 nannte man sie etwa in Polen, »Kriegsverbrecher, alle Verräter, alle bewußten und aktiven Helfer der deutschen und ungarischen Unterdrücker«l2S in der Tschechoslowakei, »Landesverräter, Kriegsverbrecher und Volksfeindje]«126 in Ungarn oder »Kriegsverbrecher, Faschisten und Kapitalisten«127 in Rumänien. Die Zuordnung einzelner Personen zu diesen Gruppen wurde selten sorgfältig begründet, aber alle so angesehene Personen wurden überall eine gewisse Zeit lang ähnlichen Verfolgungen ausgesetzt. Das betraf auch die in ihrer Heimat verbliebenen Angehörigen der nationalsozialistischen Volksgemeinschaft, ungeachtet dessen, ob sie vor dem Kriegsende deutsche Staatsangehörige oder Volksdeutsche gewesen waren.

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Anhang: Historisch-statistische Veranschaulichung Von den Sonderregelungen der Nachkriegsgesetzgebung wurden in der Regel diejenigen Deutschen ausgenommen, die sich den Exilarmeen und Widerstandsorganisationen angeschlossen hatten und ihren Vorkriegsstaaten gegenüber loyal geblieben waren oder zu den Opfern des NS-Regimes gehörten. So erließ beispielsweise am iö.Mai 1945 das tschechoslowakische Innenministerium eine Verordnung zum Schutz der deutschen NS-Gegner: »Im Sinne des Programmes der tschechoslowakischen Regierung ist allen deutschen Antinazisten und Antifaschisten, welche schon vor der Zerschlagung der Republik einen aktiven Kampf gegen den deutschen Faschismus geführt haben und welche den Abwehrkampf gegen die deutsche faschistische Okkupation hauptsächlich in der Zeit während des Krieges weiterführten, die tschechoslowakische Staatsbürgerschaft zu bestätigen. Das Ministerium des Inneren bestimmt, daß mit diesen Personen deutscher Nationalität anders verfahren wird als mit den übrigen Deutschen, ebenso mit ihren Angehörigen (mit Ausnahme Schuldbeladener). Diese Deutschen haben das Recht auf Schutz durch die tschechoslowakischen Staatsorgane.«'28 Die sich erst allmählich und infolge der im östlichen Europa schwerwiegenden politischen Belastungen mühsam etablierende staatliche Administration vermochte es jedoch nicht, auch manchen der NS-Gegner schwere Erfahrungen zu ersparen. Deren Anteil war unter der am Kriegsende verbliebenen deutschen Bevölkerung sehr gering, und über ihre Schicksale wurde in der Vertreibungsliteratur kaum berichtet - mit Ausnahme der Tschechoslowakei, wo es sich um eine größere G r u p pe als in anderen Staaten handelte. 129 Faktisch erlebte nahezu die gesamte deutsche Bevölkerung Europas für unterschiedlich lange Zeit und in unterschiedlichem Ausmaß Einschränkungen ihrer staatsbürgerlichen Rechte, aber östlich des heutigen Deutschlands hatte diese Entwicklung - den dort herrschenden Umständen entsprechend - weitaus heftigere Auswirkungen als im Westen. Eigentumskonfiskationen und Sondergerichtsbarkeit, Inhaftierungen und Verurteilungen von Protagonisten des NS-Regimes gehörten in der ersten Nachkriegszeit zum Alltag. Im östlichen Europa wurden Deutsche oft gezwungen, ihre Wohnungen und Häuser zu verlassen, sie mußten Zwangsarbeit leisten, oft wurden sie zeitweise in Lagern unter häufig inhumanen Bedingungen interniert, und viele von ihnen sind infolge von Hunger und Krankheiten sowie Misshandlungen umgekommen. Deutsche sind auch Opfer von Gewaltverbrechen und vereinzelt von regelrechten Massakern geworden, da es den neu entstehenden Behörden eine Zeit lang mit nur mäßigem Erfolg gelang, gegen die willkürliche gewalttätige Misshandlung von Deutschen vorzugehen. So wurde beispielsweise zwar schon am 10. Mai 1945 im Prager Rundfunk dezidiert gewarnt: »Alle willkürliche Handlungen gegen das Leben und die körperliche Unversehrtheit deutscher [StaatsJ-Angehöriger werden strengstens bestraft.«' 30 Aber solche Warnungen vermochten es nicht, brutale Ausschreitungen zu verhindern, die erst im Laufe von mehreren Wochen, ja in manchen Fällen sogar Monaten unterbunden werden konnten. Es überrascht daher kaum, dass viele Deutsche versuchten, auch nach dem Kriegsende nach Deutschland zu flüchten. Zu dieser Zeit kam es in mehreren Staaten auch zu willkürlichen grenzübergreifenden Vertreibungen der Deutschen.

Weiterführende Informationen

Tabelle 18: Grenzübergreifende Flucht und Vertreibungen 1945 Staat

Anzahl der Betroffenen

Polen

April bis Juli 1945: ca. 400 000 und August bis Dezember 1945: 593 4 0 0 ' " ; nach anderen Angaben: Juni/Juli 1945 ca. 250 000 und danach bis Ende 1945 ca. 400 000' 32

Tschechoslowakei

ein Teil der ca. 300 000 Flüchtlinge, die unmittelbar vor und nach Kriegsende die Tschechoslowakei verlassen haben sollen' 33 ; nach anderen Angaben sollen seit Kriegsende 200 000 bis 300 000 einheimische Deutsche und über eine Million dorthin aus Schlesien evakuierte Reichsdeutsche'34 geflüchtet oder vertrieben worden sein" 5

Ungarn

keine Vertreibungen 136

Jugoslawien

kleinere Gruppen 1945/46 in Slowenien (übrig gebliebener kleiner Teil der deutschen Bevölkerung) und ca. 3 000 in Slawonien wurden nach Österreich vertrieben137

Rumänien

Eine »eigentliche Vertreibung der Deutschen [hat] nicht stattgefunden« 138

Bulgarien

keine Vertreibungen

UdSSR (einschl. baltische Staaten)

keine Vertreibungen

Zu Vertreibungen kam es damit nahezu ausschließlich in Polen und in der Tschechoslowakei, und zum »populärsten« Symbol dieser so genannten wilden Vertreibungen ist der »Brünner Todesmarsch« vom Sommer 1945 geworden.'39 Die Beispiele solcher Vertreibungen in der Tschechoslowakei sind erschreckender als die, die für Polen vorliegen; dort war es aufgrund der schweren Kämpfe in den letzten Kriegsmonaten sowie des Umstands, dass die Evakuierungen in weitaus höherem Maße durchgeführt worden waren, zu einer erheblich stärkeren Fluktuation der Bevölkerung in den ersten Nachkriegsmonaten gekommen.'40 Die Vertreibungen erweckten weltweite Kritik, und es gelang bis zum Jahresende 1945, weitgehend geordnete Verhältnisse herbeizuführen. Über die Anzahl der willkürlich Vertriebenen liegen unterschiedliche Teilangaben, aber keine umfassenden Schätzungen vor, da nicht nur in Polen und der Tschechoslowakei, sondern auch in Deutschland keine Verwaltung im gängigen Sinne des Wortes existierte. Ein Blick in die Geschichte der SBZ erklärt uns, warum die damaligen statistischen Angaben stark voneinander abweichen.

In der SBZ konnte die Situation der dort anwesenden Bevölkerung in der ersten Nachkriegszeit überhaupt nicht statistisch erfasst werden, da sie sich von Tag zu Tag, von Monat zu Monat, veränderte.'4' Eine beachtliche Anzahl evakuierter und geflüchteter Deutscher befand sich schon vor dem Kriegsende dort, und zu ihnen gesellten sich ununterbrochen Neuankömmlinge, während manche der »Altflüchtlinge« in die zuvor verlassene Heimat zurückzukehren versuchten:

Anhang: Historisch-statistische Veranschaulichung »Sowohl bei den Besatzungsorganen als auch in den deutschen Verwaltungen herrschte völlige Unklarheit über das weitere Schicksal der Ostflüchtlinge und Vertriebenen. [...] In vielen Orten Mecklenburgs, Vorpommerns, Sachsens und der Provinz Mark Brandenburg existierte ein nicht zu übersehender und zu entflechtender Kreislauf von eintreffenden und abgeschobenen Flüchtlingen und Vertriebenen. Während auf der einen Seite die Behörden den Pommern, Ostbrandenburgern, Schlesiern sowie Ost- und Westpreußen bereitwilligst Papiere zur Rückkehr in die Heimat ausstellten, mußten sie gleichzeitig die Ankunft neuer Vertriebener registrieren.«'42 Überall bemühte man sich, die Massenwanderungen zu stoppen, aber erst zwischen Juni und August 1945 wurden die neuen Grenzen zwischen Deutschland, Polen und der Tschechoslowakei so weit kontrolliert, dass sie nur noch mit behördlichen Genehmigungen überquert werden konnten. Dennoch waren die Gemeindeämter sowie Bezirks- und Landesverwaltungen monatelang nicht in der Lage, die Bevölkerungsbewegungen zu erfassen. Ihre Energie konzentrierte sich auf die Bemühungen, »Flüchtlinge aus dem Westen« in Trecks mit Pferden oder »nach Möglichkeit mit der Bahn« zurückzuführen' 4 ', »dem Zurückströmen der Flüchtlinge nach Osten unbedingt Einhalt« zu bieten und das »planlose Umherziehen und das eigenmächtige Quartiersuchen mit aller Strenge zu unterbinden«; man versuchte Durchgangs- und Sammellager zu errichten, für die notwendigste Verpflegung und Krankenpflege zu sorgen, die Registrierung vorzunehmen und stets neue Ankömmlinge aufzunehmen.' 4 4 Die Geschichte der Trecks, die die NS-Propaganda schon 1939/40 zum Symbol der heimatlos gewordenen Deutschen gemacht hatte und die im Winter 1944/45 zum Symbol der flüchtenden Deutschen geworden sind, ist mit dem Kriegsende keineswegs zu Ende gewesen. Trecks wurden auch weiterhin mit Hilfe altbekannter Anweisungen organisiert: »Für jeden Treck wird ein Treckführer bestellt. Seinen Befehlen hat jedes Treckmitglied unbedingt nachzukommen«, hieß es beispielsweise in der Anordnung der Landesverwaltung Mecklenburg-Vorpommern vom 9. Juli 1945: »Verstöße, insbesondere eigenmächtiges Trecken oder unbefugtes Zurückbleiben im bisherigen Aufenthaltsort, wird hart bestraft.« Für den Kreis Güstrow bedeuteten solche Anordnungen beispielsweise, dass drei Arten der Trecks entstehen sollten: »a) Trecks, die durch den Kreis hindurchziehen [...] b) Flüchtlingstrecks, die im Kreise Güstrow zu Hause sind [...] c) Flüchtlingstrecks, die im Kreise Güstrow verbleiben sollen«.145 Alle Trecks erhielten genaue Marschrouten und Zielorte, aber es ist nicht bekannt, wie es um die praktische Durchführung solcher organisatorischer Bemühungen stand. In der SBZ wurden damals unter dem Begriff »Flüchtlinge« unterschiedliche Personengruppen subsumiert, die von Stadt zur Stadt zogen. Damalige statistische Angaben über Flüchtlinge dürfen nicht mit Informationen über die zuvor im östlichen Europa beheimateten Deutschen verwechselt werden. Der Historiker Manfred Wille weist auch auf einen weiteren Grund hin, warum wir über keine zuverlässigen Informationen zu den grenzübergreifenden Vertreibungn und zu der damaligen Situation der Heimatlosen in der SBZ verfügen:

Weiterführende Informationen »Die Einweisung der Vertriebenen in die Kreise, Städte und Gemeinden war von vielen Schwierigkeiten begleitet. Appelle der Landes- und Provinzialverwaltungen an die nachgeordneten Behörden und die einheimische Bevölkerung, den Vertriebenen, »die besonders unter den Folgen des Krieges zu leiden haben, wieder ein menschenwürdiges Dasein zu verschaffen«, fanden nur bei einer Minderheit Gehör. Mit vielfältigen Mitteln und Methoden wurde versucht, das Einströmen weiterer Vertriebener zu verhindern. Die Behörden wehrten sich gegen die Aufnahme, indem sie mit »Phantasiezahlen« auf eine angeblich bereits vorhandene Überbevölkerung verwiesen.«' 46 Da die damalige Situation für keinen Bürokraten überschaubar war, da die damals verwendeten Angaben über die Flüchtlinge oft auf »Phantasiezahlen« beruhten, und weil sie sich darüber hinaus auf die unterschiedlichsten Personengruppen bezogen, helfen uns die in Deutschland 1945 ermittelten Informationen bei der statistischen Rekonstruktion der grenzübergreifenden Vertreibungen der ersten Nacbkriegsmonate kaum.

Die Potsdamer Zwangsumsiedlungen 1946-1949 Die auf der Grundlage der Potsdamer Vereinbarung der Regierungen der USA, Großbritanniens und der UdSSR vom 2. August 1945 und unter ihrer Kontrolle durchgeführten Massenumsiedlungen fanden weitgehend im Jahre 1946 statt.' 47 Sie betrafen etwa 4,8 Millionen Deutsche aus Polen, der Tschechoslowakei und Ungarn' 48 und damit nahezu ausschließlich Deutsche, die Staatsangehörige des Großdeutschen Reiches gewesen waren. Diese Umsiedlungen fanden in enger Kooperation zwischen den Behörden der einzelnen betroffenen Staaten und den Besatzungsmächten in Deutschland statt. Zuvor wurden Vereinbarungen über die Durchführungsbestimmungen getroffen, deren Einhaltung kontrolliert wurde. Dabei wurde auf die medizinische Versorgung und Verpflegung, auf Familienzusammenhalt, angemessene hygienische Verhältnisse sowie Beheizung der Züge und begleitende Dokumentation Wert gelegt. Für die Transporte innerhalb Deutschlands sowie die weitere Unterbringung der Umsiedler sollten deutsche Behörden zuständig sein, faktisch aber waren die Besatzungsmächte verantwortlich. O b w o h l es immer wieder Beanstandungen wegen der Nichteinhaltung der Transportbedingungen gab, sind Misshandlungen oder gar Todesfälle der Betroffenen bis auf seltene Ausnahmen nicht bekannt. In der Vertreibungsliteratur wurde der Geschichte dieser Massenumsiedlungen erstaunlich wenig Aufmerksamkeit geschenkt. Das macht sich sogar auf der symbolischen Ebene bemerkbar. Nicht der »Zug« ist zum bekanntesten Symbol der Vertreibung geworden, obwohl die von den alliierten Regierungen zwangsumgesiedelten Deutschen nahezu ausnahmslos per Eisenbahn angekommen sind, sondern der »Treck« verkörpert bis heute im kollektiven Bildgedächtnis die Vertreibung - wohl weil die Trecks schon für die von den NS-Behörden zwischen 1939 und 1945 durchgeführten Umsiedlungen und Evakuierungen kennzeichnend gewesen waren.

692

Anhang: Historisch-statistische Veranschaulichung

Die Potsdamer Umsiedlungen waren Zwangsumsiedlungen, obwohl zahlreiche Deutsche den Verbleib in ihrer Heimat zu dieser Zeit ohnehin nicht mehr wünschten. Viele zogen es vor, Polen, die Tschechoslowakei und Ungarn zu verlassen, da ihnen die veränderten Lebensbedingungen in diesen Staaten nicht mehr zusagten. In der Schiederschen Dokumentation heißt es dazu sogar: »Nach den jahrelangen schweren Leiden erschien fast allen Deutschen aus Polen die Ausweisung als eine Erlösung.«'49 Der Zeitpunkt, über den hier die Rede war, ist zwar nicht klar, aber für die Tschechoslowakei liegen ähnliche Berichte schon für das erste Nachkriegsjahr vor.'50 Für die Zeit 1947/48 in Ungarn sollen zahlreiche Hinweise darauf vorliegen, »daß sich die Volksdeutschen in dieser Zeit wirklich aus den alten und ihnen bisher selbstverständlichen heimatlichen Bindungen zu lösen begannen und danach trachteten, das Land, in dem sie rechtlos geworden waren, zu verlassen«.'5' Die Massenumsiedlungen aus der Tschechoslowakei wurden im Oktober 1946 abgeschlossen, und danach kamen Menschen nur noch bei Familienzusammenführungen oder aufgrund individueller Entscheidungen nach Deutschland. Für Polen zwischen 1947 und 1949 soll es Hinweise dafür geben, dass den polnischen Behörden »nicht mehr in gleichem Maße wie vorher an einer Aussiedlung der Deutschen gelegen war«.'52 Zuletzt wurden nur noch einzelne Transporte zum Zweck der Familienzusammenführung organisiert. In Ungarn verliefen die entsprechenden Ausweisungen und Umsiedlungen weniger organisiert und regional unterschiedlich, wie in der Schiederschen Dokumentation berichtet wird; im Herbst 1947 sei »die Vertreibungsaktion ohnedies eingestellt« worden. Insgesamt sollen infolge des Zweiten Weltkriegs 239 000 Ungarndeutsche ins heutige Deutschland gekommen und »240 000 in ihrer alten Heimat« geblieben sein.'5' Tabelle 19: Umsiedlungen deutscher Bevölkerung durch die alliierten Regierungen' Ausweisungsland Polen Tschechoslowakei Ungarn Österreich'65 Insgesamt

1947/49

1946 knapp 2 Mill.155 1 859 641 1 5 9 120 OOO162 160 002

Gesamtzahl

1947:593 1948/49:76 18 1947/48 50

120156 875157 127160 OOO16'

166

4 086 931

738 122

2 617 283' 58 1 877 768' 61 1 70 OOO164 160 002 167 4 825 053' 68

Umsiedlungen aus den 1945 an die UdSSR angeschlossenen Gebieten »Im Gegensatz zu den polnisch verwalteten deutschen Ostgebieten hatten im sowjetisch verwalteten Teil Ostpreußens bis zum Sommer 1947 noch keinerlei Aussiedlungen stattgefunden. Anders als die Polen hatten die Sowjets kein nationales Interesse an der Vertreibung der Deutschen aus Ostpreußen«, erfahren wir in der Schiederschen Dokumentation.169 In den an die UdSSR angeschlossenen Teilen des

Weiterführende Informationen ehemaligen Ostpreußens sollen vor dem Krieg etwa 1,1 Million Menschen vorwiegend deutscher Nationalität gelebt haben. 170 Der überwiegende Teil der deutschen Bevölkerung verließ vor dem Kriegsende die Heimat, Vertreibungen fanden nicht statt, und zum i . November 1945 wurden dort nur noch 137 412 Deutsche registriert, davon 47 013 im Alter 17 bis 50 Jahre (37 269 Frauen und 9 744 Männer).' 71 Im »Sommer 1947 hatten einige wenige Tausend aus Königsberg Ausreisegenehmigung erhalten«, wie die Schiedersche Dokumentation berichtet.' 72 Die sowjetischen Behörden glaubten aus ihren Beobachtungen auf eine weit verbreitete feindselige Einstellung der Deutschen rückschließen zu können sowie auf deren Wunsch, nach Deutschland umzusiedeln: »Ein Großteil der deutschen Bevölkerung äußert den Wunsch, ihren Wohnsitz in Deutschland zu nehmen«, berichtete am 17. Juni 1947 Innenminister Sergej Kruglov dem stellvertretenden Ministerpräsidenten Alexander Kosygin.' 73 Anschließend wurden zwischen dem Herbst 1947, hauptsächlich 1948, sowie abschließend 1949 etwa 100 000 Deutsche aus Ostpreußen vorwiegend in die SBZ umgesiedelt. 174 Im Gebiet des 1945 der Sowjetrepublik Litauen eingegliederten Memellandes »fand keine Ausweisung der Deutschen statt«. Neben denjenigen, die 1944/45 geflohen oder zwangsevakuiert worden sind, »haben sich manche Deutsche aus dem Memelland wegen des sowjetischen Drucks heimlich nach Deutschland durchgeschlagen«. Die Mehrzahl der Memeldeutschen »ist jedoch in der Heimat verblieben«.' 75

Ankunft der Umsiedler, Flüchtlinge, Evakuierten und Ausgewiesenen im heutigen Deutschland Als in den vier Besatzungszonen und Berlin am 29. Oktober 1946 die erste Volkszählung der Nachkriegszeit stattfand, wurde keine genaue Zahl der Vertriebenen ermittelt. Gefragt wurde nach dem Wohnsitz am 1. September 1939, woraus sich die Zahl derjenigen Personen ergab, die 1939 entweder in den nicht mehr zu Deutschland gehörenden Gebieten oder im Ausland wohnhaft gewesen waren und sich 1946 in Deutschland aufhielten. Dazu gehörten die später als Vertriebene bezeichneten Personen aus dem östlichen Europa, aber nicht nur sie, und es handelte sich keineswegs nur um Deutsche. Es wurden nicht in allen Besatzungszonen dieselben Methoden und dieselbe Begrifflichkeit angewandt, aber da überall nach dem Wohnsitz vom 1. September 1939 gefragt wurde, sind in den vorliegenden Zahlen auch Personen anderer als deutscher Nationalität erfaßt.' 76 Deshalb bereitete den Vertreibungsstatistikern die folgende Frage Kopfzerbrechen: Wie sollte entschieden werden, »ob es sich bei den Zugezogenen um deutsche Vertriebene« handle? 177 Ähnlich, wie die nationalsozialistischen Behörden Probleme damit hatten, nach ihren eigenen Kriterien zu bestimmen, wer als Deutscher gelten solle und wer nicht, war es nach dem Krieg nicht einfacher, behördlich darüber zu entscheiden, wer als »Deutscher«, »Volksdeutscher« oder als »Ausländer« gelten solle; und erst recht war es nicht klar, wer als Flüchtling oder gar als Vertriebener zu betrachten sei.

Anhang: Historisch-statistische Veranschaulichung

In die Statistik gingen die Ergebnisse jener Volkszählung dennoch als ein überaus wichtiger Indikator ein. Es handelt sich nämlich um eine der wenigen wohl belegten Auskünfte darüber, welche Folgen der Krieg und die seit 1939 stattfindenden Massenumsiedlungen für die deutsche Bevölkerung gezeitigt hatten. Die Feststellung, dass in den vier Besatzungszonen und Berlin am 29. Oktober 1946 etwa 9,6 Millionen Personen registriert wurden, die vor dem Krieg entweder in den 1945 abgetretenen deutschen Ostgebieten oder im Ausland wohnhaft gewesen waren, gehört daher zu den Grundpfeilern jeder Beschäftigung mit dem Thema Vertreibung. Die Vermutung, dass zu jenem Zeitpunkt so viele Deutsche im östlichen Europa vertrieben worden seien, wird damit allerdings nicht bestätigt. Tabelle 20: Ortsfremde im Oktober 1946 in Deutschland' Herkunft ehemals deutsche Ostgebiete ehemals im Ausland wohnhaft davon Angehörige deutscher Minderheiten im östlichen Europa davon aus anderen Staaten

Insgesamt aus den ehemals deutschen Ostgebieten und dem östlichen Europa

Anzahl ca. 5,6 Mill. ca. 4 Mill. 179 ca. 3,77 Mill.' 80 225 OOO'81 aus u. a.182 Österreich: 100 819 Frankreich: 21 419 Belgien: 10 839 Italien: 13 159 Niederlande: 37 767 Schweiz: 11 195 Luxemburg: 5 380 ca. 9 370 000

In den gängigen Statistiken wird der Unterschied zwischen Vertriebenen und Ostvertriebenen selten beachtet. Wie folgenreich diese Nachlässigkeit für statistische Berechnungen war, können wir schon daran erkennen, dass, während im Jahre 1946 die Zahl der Vertriebenen aus den westeuropäischen Staaten und Übersee mit 225 000' 8 3 angegeben wurde, die entsprechende Zahl im Jahre 1958 schon auf 0,4 Millionen angestiegen sein soll.' 84 O b sich aber 1946 in Deutschland 9,37 oder 9,6 Millionen heimatlose Personen aus dem östlichen Europa befunden haben, ist aus zwei besonderen Gründen eine bedenkenswerte Frage: Zur Klärung der statistischen Dimension der Massenumsiedlungen von 19391949 handelt es sich um keinen besonders gewichtigen Unterschied. Alle diesbezüglichen Schätzungen sind ungenau, wie wir gesehen haben, und es muss stets mit bis in die Hunderttausende gehenden Fehlquoten gerechnet werden. Für die Vertreibungsstatistiker handelt es sich jedoch um einen zu Unrecht missachteten Unterschied, weil von den Ergebnissen dieser Volkszählung allerlei Berechnungen und Aussagen über die Vertreibung und die Vertriebenen abgeleitet worden sind. Da mit Fortschreibungen gearbeitet wurde und Geburtenüberschüsse über Jahre oder gar Jahrzehnte kalkuliert worden sind, ergaben sich aus einem Unterschied von über 200 000 immer größer werdende Fehlerquoten. Wenn solche

Weiterführende Informationen

Zahlen jedoch sogar als Grundlage von Berechnungen verwendet werden, um Vermutungen über den Tod von Menschen mit »ungeklärtem Schicksal« zu begründen, musste man den Verdacht prüfen, wie weit es sich um bewusste Zahlenmanipulationen handelte. Wir können nur davon ausgehen, dass zur Zeit der Volkszählung von 1946 im heutigen Deutschland über neun Millionen Menschen lebten, die vor dem Krieg anderswo gelebt hatten und die auf unterschiedlichen Weisen und aus vielfältigen Gründen hier eingetroffen sind. Tabelle 21: Angehörige deutscher Minderheiten aus dem östlichen Europa 1946 in Deutschland nach Herkunftsstaaten'15 Herkunft Tschechoslowakei Polen Danzig Baltische Staaten186

in Deutschland 1946 2 404 000 538 000 218 000 184 000

Ungarn

142 000

Jugoslawien Rumänien

123 000 166 000

Insgesamt

3 775 000

In den Jahren 1947-1949 sind in den von den alliierten Regierungen organisierten Transporten weitere 738 122 Personen, vorwiegend aus Polen, aber auch aus der Tschechoslowakei und Ungarn, sowie kleinere Gruppen weiterer Umsiedlungswilliger und einzelne Personen im Rahmen von Familienzusammenführungen nach Deutschland gelangt. Darüber hinaus sind entlassene Kriegsgefangene und Zivilinternierte 187 und rund 180 000 NS-Evakuierte größtenteils ab 1. November 1946 aus Dänemark nach Deutschland gekommen.' 88 Zusammenfassend geht aus diesen Schätzungen hervor, dass zwischen 1939 und 1949 etwa 11 Millionen Deutsche aus dem östlichen Europa einschließlich der ehemals deutschen Ostgebiete infolge von Massenumsiedlungen ihre Heimat verloren und ins heutige Deutschland gelangt sind. Manchmal begegnen wir der Angabe, dass rund 11,6 Millionen Deutsche von der Vertreibung »direkt betroffen« gewesen seien'8-'; nach den dem Bundesvertriebenenministerium vorliegenden U n terlagen seien allerdings nur 11,2 Millionen Ostvertriebene in den vier Besatzungszonen und Berlin bis 30. September 1950 eingetroffen, und 0,4 Millionen habe der Geburtenüberschuß nach der Aufnahme in Deutschland betragen.' 9 0 Unter den rund 11 Millionen in Deutschland als Ostvertriebene registrierten Personen war außer Deutschen auch eine nicht näher bekannte wohl kleine Anzahl Angehöriger anderer Nationen. Rund sieben Millionen dieser Menschen - knapp zwei Drittel - kamen aus den ehemals deutschen Ostgebieten, und rund vier Millionen lebten vor dem Krieg als Angehörige deutscher Minderheiten; von den letzteren kamen knapp zwei Drittel aus der Tschechoslowakei. Ein äußerst geringer Anteil dieser Menschen - etwa vier Prozent - kamen aus Gebieten außerhalb des Großdeutschen Reichs.

Anhang: Historisch-statistische Veranschaulichung

Über den jeweiligen Zeitpunkt der Vertreibung erfahren wir selten Genaueres, obwohl uns solche Hinweise darüber informieren, für welchen Teil der Lebenserfahrungen der Vertriebenen das NS-Regime und für welchen die alliierten Regierungen verantwortlich gemacht werden können. Für das alte Bundesgebiet wurden entsprechende Informationen veröffentlicht, und sie ergaben beachtliche regionale Unterschiede. Von den beispielsweise in der Bundesrepublik als Vertriebene erfassten 21 003 Deutschen aus Lettland wurde bei 19 871 der Zeitpunkt der Vertreibung vor Ende 1944 und bei weiteren 747 Personen zwischen Januar und 8. Mai 1945 angegeben; von den 188 096 Vertriebenen aus dem ostpreußischen Regierungsbezirk G u m binnen sollen 134 326 vor Ende 1944 und weitere 33 585 danach bis zum Kriegsende vertrieben worden sein, und von 149 871 Jugoslawiendeutschen seien 105 909 vor Ende 1944 und weitere 15 211 zwischen Januar und Mai 1945 vertrieben worden. Aus der besetzten Tschechoslowakei sollen dagegen von 1,44 Millionen Vertriebenen im alten Bundesgebiet nur 84 642 vor dem Kriegsende vertrieben worden sein, von 341 050 vertriebenen Oberschlesiern gaben dagegen 169 957 und damit etwa die Hälfte an, dass sie vor Kriegsende vertrieben worden sein.' 9 ' Insgesamt ergibt sich für das alte Bundesgebiet das folgende Bild: Tabelle 22: Die Vertriebenen in der Bundesrepublik nach dem Zeitpunkt der Vertreibung' Zeitpunkt bis Ende 1944 1.1.-7.5.1945 8.5.-31.7. 1945 1.8.-31.12.1945 1946 1947 1948 1949 1950-1955 Insgesamt

Anzahl 630 165 2 032 450 655 290 296 358 1 846 041 11 7 592 54 169 13 971 43 891 5 690 927

Diese Tabelle bietet uns ein ungefähres Bild über den Anteil derjenigen Vertriebenen, die schon vor dem Kriegsende und derjenigen, die danach ihre Heimat verlassen haben, und veranschaulicht damit den engen Zusammenhang zwischen dem Kriegsgeschehen und der Vertreibung. Prozentual umgerechnet geht daraus hervor, dass etwa die Hälfte der im alten Bundesgebiet als Vertriebene erfassten Menschen ihre Heimat schon während des Krieges verlassen haben. Anders betrachtet kann man feststellen, dass knapp zwei Drittel der Vertriebenen während des Krieges und in den ersten Nachkriegsmonaten und etwa ein Drittel im Jahre 1946 aus ihren Heimatorten fortgegangen sind.

Weiterführende Informationen Tabelle 23: Die Vertriebenen in der Bundesrepublik nach dem Zeitpunkt der Vertreibung (in v. H.)m Zeitpunkt der Vertreibung vordem 8.5.1945 8.5.-31.12.1945 1946 1947

Insgesamt

aus ehemals deutschen Ostgebieten 46,79% 57,61 % 16,72% 32,44 %

14,39% 23,96 %

2,07 %

2,82 %

1948-1949

1,15%

0,7 %

1950-1955

0,78 %

0,5 %

Danach sind nur noch kleinere Gruppen ehemaliger Angehöriger deutscher Minderheiten aus dem östlichen Europa in der Bundesrepublik eingetroffen. Dazu gehörten vor allem Personen, die im Zuge der Familienzusammenführung ihren Angehörigen folgten, und freiwillige Umsiedler aus den osteuropäischen Staaten, die sich seit der Nachkriegszeit in Deutschland, vor allem in der Bundesrepublik, niederließen. Einige der in die SBZ/DDR geflüchteten, evakuierten oder ausgewiesenen Menschen übersiedelten im Zuge der Familienzusammenführung oder flüchteten in den Westen; kleinere Gruppen wanderten aus Deutschland aus, vor allem nach Übersee. Die Auswanderung von Angehörigen deutscher Minderheiten im östlichen Europa nach Deutschland hat bis heute nicht aufgehört, so dass etwa allein aus der UdSSR bzw. aus den GUS Staaten 2 341 128 Personen als »Heimkehrer« zwischen 1950 und 2006 freiwillig in die BRD auswanderten'94, obwohl dort vor dem Krieg insgesamt nur etwa 1,2 Millionen Deutsche gelebt hatten'95.

Deutsche Minderheiten im östlichen Europa nach dem Zweiten Weltkrieg Nach dem Zweiten Weltkrieg sollen etwa 3,5 Millionen Deutsche im östlichen Europa geblieben sein'96, nach anderen Schätzungen sollen es 3 340 000 gewesen sein.'97 Es kann sich um keine genauen Angaben handeln, da über die deutsche Nachkriegsbevölkerung in Osteuropa noch weniger zuverlässige statistische Informationen als zu irgendeinem Zeitpunkt in der Vorkriegszeit vorliegen. In etwa ergibt sich das folgende Bild: Tabelle 24: Im östlichen Europa verbliebene Deutsche Staat Polen Tschechoslowakei

verbliebene Deutsche 1 030 000 + 200 OOO'98 240 OOO'99

Ungarn Rumänien

240 000 200 343 91 320'

Anhang: Historisch-statistische Veranschaulichung Staat UdSSR Jugoslawien

verbliebene Deutsche 1 300 OOO202

Bulgarien

keine

200 OOO203

Heimatlose Angehörige der deutschen Minderheiten fanden nach dem Krieg Zuflucht nicht nur in Deutschland. Eine relativ hohe Zahl von ihnen gelangte im Zuge der Räumungspolitik und ein kleinerer Teil infolge von Flucht und willkürlichen Vertreibungen in den ersten Nachkriegsmonaten nach Österreich. Die Angaben über die dort nach dem Krieg aufgenommenen einstigen Volksdeutschen variieren beträchtlich, meist zwischen 306 652 204 und 530 000 2 0 5 . Im Jahre 1946 wurden 160 002 206 Personen aus Österreich nach Deutschland umgesiedelt; bei vielen von ihnen dürfte es sich um die sich am Kriegsende dort aufhaltenden Flüchtlinge und evakuierten Volksdeutschen aus Südosteuropa sowie um Flüchtlinge und Vertriebene aus der Tschechoslowakei gehandelt haben. Aus Österreich sollen 57 246 Volksdeutsche in der Nachkriegszeit ausgewandert und 2 2 8 0 3 8 die österreichische Staatsangehörigkeit erworben haben. 207 Insgesamt sollen 1957 etwa 450 000 Vertriebene in Österreich und im westlichen Ausland gelebt haben. 208 Beim Erinnern an die Schicksale der im östlichen Europa verbliebenen Deutschen müssen wir vor allem die Folgen der nur allmählichen Normalisierung der dortigen Lebensbedingungen in Betracht ziehen. Es dauerte wohl bis in die 1950/1960er Jahre, bis die Deutschen ihre staatsbürgerlichen Rechte wieder genießen konnten, wenn auch in dem in kommunistisch regierten Staaten üblichen Ausmaß. Die Rückkehr der Überlebenden der NS-Verfolgung, der in die UdSSR deportierten Kriegsgefangenen und Zivilinternierten, Umsiedlungen im Zuge der Familienzusammenführung, der damals häufige Nationalitätenwechsel 209 , Assimilation und freiwillige Auswanderung nach Deutschland, ins westliche Europa sowie nach Übersee verhindern genauere statistische Schätzungen. Im Jahre 1984 ging man in Deutschland davon aus, dass über 3,5 Millionen Deutsche im östlichen Europa lebten: »Heute leben in den Gebieten jenseits von Oder und Neiße, dem Sudetenland sowie in Ost- bzw. Südost(mittel)europa über 3,5 Millionen Deutsche [...]. Der Wunsch zur Aussiedlung ist bei den Deutschen dieser Staaten unvermindert groß, vor allem bei solchen, die in Polen, der UdSSR und Rumänien wohnen.« 210 Heute geht der Bund der Vertriebenen davon aus, dass in den Staaten Mittel-, Ostund Südosteuropas sowie in der Russischen Förderation und anderen Nachfolgestaaten der ehemaligen Sowjetunion rund zwei Millionen Deutsche leben. 2 "

Militärische Verluste Unter den Deutschen aus den Gebieten östlich der heutigen deutschen Ostgrenze, die infolge des Krieges ihr Leben verloren haben, stellen diejenigen, die auf der Seite des Großdeutschen Reiches gekämpft haben, die größte Gruppe dar.

Weiterführende Informationen Tabelle 25: »Militärische Verluste aus den Vertreibungsgebieten«2'2 Herkunft ehemalige Ostgebiete Großdeutsche Ostgebiete Ost- und Südosteuropa Insgesamt

Anzahl 910 000 206 000 328 000 1 444 000

Diese Angaben beruhen auf den Studien über Deutsche militärische Verluste im Zweiten Weltkrieg von Rüdiger Overmans und umfassen »die Toten, die Verschollenen und diejenigen unter den Kriegsgefangenen, die gestorben sind«. 21 ' Sie korrigieren die früheren niedrigeren Schätzungen des Statistischen Bundesamtes: »Da bis in die 90er Jahre keine Untersuchung existierte, die die Verluste der Wehrmacht nach den Geburtsregionen der Soldaten aufgliederte, war das Statistische Bundesamt darauf angewiesen, den Anteil der Bevölkerung aus den Vertreibungsgebieten an den Wehrmachtsverlusten zu extrapolieren. Heute wissen wir, dass dem Statistischen Bundesamt zwei Fehler unterliefen. Zum einen liegt die tatsächliche Zahl der Wehrmachts verluste weitaus höher als vom Statistischen Bundesamt 1958 angenommen, zum anderen war die Annahme falsch, der Anteil der militärischen Verluste an der Gesamtbevölkerung sei in allen Regionen des Deutschen Reiches gleich hoch gewesen.« 2 ' 4 Der Historiker Paul Milata untersuchte die Geschichte der 63 000 rumäniendeutschen Waffen-SS-Männer und auch er musste feststellen, dass hier in der Regel zu niedrige Angaben über die Gefallenen gemacht wurden. Er vermutet, dass es sich in diesem Fall um folgende Gründe gehandelt habe: »Die Schlüsselrolle bei der Darstellung der rumäniendeutschen Geschichte in der westeuropäischen Öffentlichkeit besitzen derzeit nicht, wie zu erwarten wäre, die in Rumänien lebenden Deutschen, sondern mehrere Landsmannschaften aus Deutschland und Österreich. Diese kannten zwei Gründe, um eine hohe Gefallenenrate zu vermeiden: Erstens wurden diese Organisationen von ehemaligen NSFunktionären der DViR [Deutschen Volksgruppe in Rumänien] gegründet und ihre Führungsgremien lange Zeit von diesen kontrolliert. Die Veröffentlichung einer horrend hohen Gefallenenrate hätte für die ehemaligen Handlanger der SS in den Reihen der Landsmannschafts-Mitglieder (ursprünglich vor allem SS-Veteranen und deren Familien) zu politischen und finanziellen Folgen führen können. Zweitens sah sich die Landsmannschaft nach dem Krieg in die schwierige Rolle versetzt, ihre Zuwendungen aus dem Bundeshaushalt als »Wiedergutmachung« öffentlich rechtfertigen zu müssen. Anders als alle anderen bundesdeutschen Organisationen der Vertriebenen kämpften aber die rumäniendeutschen Landsmannschaften mit dem Problem, aus Rumänien nicht vertrieben worden zu sein, mehr noch, ein Großteil ihrer ursprünglichen Mitglieder waren in Deutschland verbliebene ehemalige Waffen-SS-Männer. Um die Aufmerksamkeit von den eigenen Fehlleistungen in der Vergangenheit abzuwenden sowie um der öffentlichen Darstellung als Opfer zu entsprechen - muss demnach vermutet werden -, hatten die Landsmannschaften die SS-Rekrutierung und deren Folgen zu verdrängen. Statt dessen wurde die Deportation der Rumäniendeutschen in die Sowjetunion zum Schlüsselercignis der rumäniendeutschen Geschichte im 20. Jahrhundert erhoben.« 2 ' 5

700

Anhang: Historisch-statistische Veranschaulichung Wie zutreffend die Vermutungen von Rüdiger Overmans und Paul Milata über die Gründe der bisherigen Verbreitung von falschen Informationen über die militärischen Verluste der Deutschen aus dem östlichen Europa sind, können nur weitere historische Studien zeigen. Die bisher vorliegenden Hinweise auf die maßgebliche Rolle ehemaliger Nationalsozialisten bei der Verharmlosung der verheerenden Folgen des Krieges für die deutsche Bevölkerung im östlichen Europa im Erinnern an die Vertreibung allgemein bekräftigen allerdings die Mutmaßungen Paul Milatas.

Die in der Nachkriegszeit im östlichen Europa umgekommenen Deutschen In der Bundesrepublik nehmen Fachleute an, dass die Deutschen aus der Tschechoslowakei die geringsten Opfer zu beklagen hatten: »Obwohl die Deutschen aus der Tschechoslowakei nach den Schlesiern die stärkste Vertriebenengruppe stellen, sind ihre Kriegs- und Nachkriegsverluste gemessen an der Vorkriegsbevölkerung und den übrigen Vertriebenen geringer.« 2 ' 6 Im Gegensatz zu dieser Aussage gilt - gemessen am Tenor der gängigen Darstellungen - die Tschechoslowakei im Erinnern an die Vertreibung als das Land, in dem es den Deutschen am Kriegsende am schlimmsten ergangen sei. Die Sudetendeutsche Landsmannschaft fordert sogar die »Anerkennung der Vertreibung der Sudetendeutschen aus ihrer seit Jahrhunderten angestammten Heimat als Genozid«, wie wir gesehen haben. 2 ' 7 Schaut man sich die Vertreibungsliteratur genauer an, findet man zahlreiche wenig bekannte Aussagen über die Vertreibungsverluste, die den allgemein verbreiteten Vermutungen über ihre H ö h e widersprechen. Tabelle 26: Deutsche Nachkriegsopfer Staat Polen

Schätzungen

Tschechoslowakei

15 000 - maximal - 30 000 Todesfälle220 (davon ca. 15 000 während des Prager Aufstands221); in den Lagern sollen 4-5 000 Personen umgekommen sein.222 »Verluste während der Vertreibung sind in größerem Umfange nicht eingetreten«. 223

Ungarn

»Daß. Menschen gezielt und in größerer Anzahl ermordet wurden [...] ist allerdings nicht nachweisbar. Selbst in den Arbeitslagern für Deutsche wie Lamsdorf und Potulitz, in denen die Verhältnisse besonders schlimm waren, starben die Opfer meist an Vernachlässigung, Unterernährung und Erschöpfung. Nur in wenigen Fällen wäre es im Nachhinein möglich, einzelnen Personen einen Tötungsvorsatz nachzuweisen.««2'8 In den Lagern sollen 1945-1949 ca. 15 000 Deutsche umgekommen sein.219

Weiterführende Informationen Staat Rumänien

Schätzungen Man nimmt an, daß »die Volksdeutschen des heutigen Rumänien echte Vertreibungsverluste in größerem Umfange nicht erlitten haben«.224

Jugoslawien

5 777 Deutsche sollen gewaltsam ums Leben gebracht, zumeist erschossen worden sein, und 48 027 sollen bis 1948 in den Lagern in Jugoslawien gestorben sein.225

Dänemark

Es sollen »insgesamt 17 209 deutsche Flüchtlinge in Dänemark gestorben« sein.226

Aus dieser Übersicht geht hervor, dass in Polen ca. 15 000 Deutsche in Lagern gestorben sein sollen, während in der Tschechoslowakei nach dem Ende der Kampfhandlungen etwa 15 000 Deutsche ihr Leben infolge von Gewalt und Lagerhaft verloren haben sollen. Für Jugoslawien finden wir die weitaus höchsten Angaben, worin allerdings auch die vor dem Kriegsende Umgekommenen eingeschlossen sind. Darüber hinaus starben weitere über 17 000 der nach Dänemark evakuierten Deutschen in den dortigen Lagern. Damit sollen nach deutschen Ermittlungen etwa 100 000 Deutsche aus dem östlichen Europa mit Ausnahme der UdSSR und einschließlich der Evakuierten in Dänemark nach dem Zweiten Weltkrieg ihr Leben verloren haben, davon rund 30 000 in Polen und in der Tschechoslowakei. 227 Um uns die historische Dimension dieser Zahlen zu vergegenwärtigen, sei beispielsweise an die oben erwähnten etwa 150 000 Zivilisten erinnert, die bei der Niederschlagung des Warschauer Aufstandes 1944 ihr Leben verloren haben. 228 Anhand anderer in Deutschland ermittelter Informationen können wir uns auch eine ungefähre Vorstellung darüber machen, wie regional unterschiedlich die Schicksale der deutschen Bevölkerung in den Vertreibungsgebieten waren.

701

Tabelle 27: Beispiele regionaler Unterschiede im »Schicksal der deutschen Bevölkerung in den Vertreibungsgebieten« Insgesamt

Ostpreußen

Niederschlesien

Oberschlesien

Tschechien

Südosteuropa

deutsche Vorkriegsbevölkerung

17 Mill.

2,1 Mill. 230

3 Mill. 23 '

810 835 232

3 Mill. 233

2 Mill. 234

gewaltsamer Tod (erschossen usw.)

58 256

9 434

5 552

5 629

5 596

6 927

Selbstmord

14 356

736

2 308

302

3 411

374

in der Verschleppung verstorben235

49 542

9 864

2 959

2 736

705

7 859

in Lagern der Vertreibungsgebiete verstorben236

80 522

7 841

427

4 841

6 615

44 071

auf der Flucht umgekommen

93 283

31 940

25 348

1 873

629

2 662

an den Folgen der Vertreibung verstorben

63 876

22 308

1 304

631

1 481

510

112612

41 237

14 028

25 620

379

2 062

566

-

-

73

314

473 013

123 360

51 926

18 889

64 779

Todesursache unbekannt

Sonstige

Todesfälle insgesamt

41 632

Weiterführende Informationen

Aus dieser Übersicht werden die verheerenden Folgen der nationalsozialistischen Räumungspolitik ersichtlich. Das ergibt sich beispielsweise aus dem Vergleich zwischen Ostpreußen, wo der größte Teil der deutschen Bevölkerung seit Sommer 1944 von den NS-Behörden evakuiert wurde, und dem heutigen Tschechien, wo solche Evakuierungen nur in einem geringen Maße vorgenommen worden sind: Von etwa 2,1 Millionen Ostpreußen wurden 123 360 Vertreibungsopfer ermittelt, während von über 3 Millionen Deutschen aus der Vorkriegstschechoslowakei knapp 19 000 ihr Leben als Vertreibungsopfer verloren haben sollen. Die Angaben über Deutsche, die einen gewaltsamen Tod durch Erschießungen u. ä. erlitten haben, weisen ebenfalls darauf hin, dass mehr Menschen auf diese Weise im Krieg als der Nachkriegszeit ums Leben gekommen sind. Von insgesamt 58 256 derartigen Opfern fallen auf die von Kriegskämpfen weniger betroffenen Gebieten des heutigen Tschechiens 5 596 und damit im Verhältnis zur Vorkriegsbevölkerung ein weitaus geringerer Teil als in den stärker umkämpften Gebieten Ostpreußens, Schlesiens oder Südosteuropas. Wenn sich die Flucht sowie NS-Evakuierungen für die deutsche Zivilbevölkerung als folgenschwerer erweisen als die mehrmonatigen Verwaltungslosigkeit der Nachkriegszeit in Polen, in der Tschechoslowakei und in Jugoslawien, und wenn die weitaus meisten Opfer von Erschießungen und Ähnlichem offensichtlich im Zusammenhang mit dem Kriegsgeschehen ihr Leben verloren, muss zusammenfassend festgestellt werden, dass die große Mehrheit der in Deutschland als Vertreibungsopfer registrierten Personen zu den Opfern des Zweiten Weltkrieges gehören. Das geht auch aus der folgenden Übersicht hervor. Tabelle 28: Beispiele bekannter und unbekannter Todesursachen Todesursachen auf der Flucht umgekommen gewaltsamer Tod (erschossen usw.) in Lagern der Vertreibungsgebiete verstorben Todesursache unbekannt

Insgesamt

Polen und UdSSR

Tschechien

Südosteuropa

93 283

89 992

629

2 662

58 256

45 733

5 596

6 927

80 522

29 836

6 615

44 071

112612

110171

379

2 062

Die überraschend hohe Zahl der »unbekannten Todesursachen« überhaupt und insbesondere in den einstigen deutschen Gebieten lässt darauf schließen, dass hier viele Personen erfasst worden sind, die in den letzten Kriegsmonaten ihr Leben verloren haben, sei es als Wehrmachts- oder Volkssturmangehörige sowie in der Kriegsgefangenschaft, oder die in Folge der durch die NS-Evakuierungen herbeigeführten humanitären Katastrophe verschollenen sind. Dafür spricht nicht nur der Vergleich mit der relativ niedrigen Zahl der unbekannten Todesursachen für Tschechien, wo nur wenige Deutsche von der nationalsozialistischen Räumungspolitik

704

Anhang: Historisch-statistische Veranschaulichung betroffen waren. Eine solche Vermutung wird auch von einem milde gesagt merkwürdigen Hinweis der hier zitierten Gesamterhebung über den Umgang mit A n gaben zu den umgekommenen Breslauern: »Es ist allgemein bekannt, daß die Bevölkerung der Stadt Breslau in den Wintermonaten 1944/1945 bis Kriegsende ein besonders hartes Schicksal zu erleiden hatte, das allerdings aus den hier ermittelten Zahlenergebnissen nicht immer sichtbar wird. Ungenaue Angaben auf den Karteiblättern erzwangen eine andere Einordnung und führten dadurch zwangsläufig zu einer Verschiebung innerhalb der einzelne Abschnitte.« 2 ' 8 Näheres erfahren wir über die erwähnte »Verschiebung« nicht, aber die erstaunliche Angabe, dass im Gebiet Groß-Breslau bei und als Folge der Vertreibung »nur« 7 4 8 8 Menschen und davon sogar 4 505 in »Lagern der Vertreibungsgebiete verstorben« seien, widerspricht allen sonstigen bekannten Informationen über die Schicksale der Breslauer während der letzten Kriegsmonate. 2 ' 9 Möglicherweise wurden viele umgekommene Breslauer in die Rubrik »unbekannte Todesursache« verschoben; was immer aber auch »geschoben« worden ist, die Angabe über die erstaunlich hohe Zahl der auf Grund von unbekannten Ursachen umgekommenen Menschen wartet noch auf historische Forschung. Die in Deutschland vorliegenden Unterlagen zur Klärung des Schicksals der Vertriebenen werfen viele Fragen auf, aber sie bilden eine außergewöhnlich wertvolle Grundlage für weitere Studien zur Geschichte der Vertriebenen. Aus den Angaben über 473 013 in der Bundesrepublik bekannte Personen, die als »bei und als Folge der Vertreibung verstorbene Personen« bezeichnet wurden, ergeben sich zahlreiche noch zu prüfende Hinweise. 24° Wenn etwa von den insgesamt 80 522 in Lagern der Vertreibungsgebiete umgekommenen Personen 44 071 in den Lagern Südosteuropa und 6 615 in den Lagern Tschechiens ihr Leben verloren haben sollen, dann ist zu vermuten, dass in den Lagern Polens und in der UdSSR insgesamt vor und nach dem Kriegsende etwa 22 907 Deutsche umgekommen seien. Das wäre eine weit niedrigere Zahl, als bisher allgemein vermutet wird, aber eine, die zwar höher, aber doch im Einklang mit anderen vorliegenden Information darüber steht, dass in den Lagern in Polen I 9 4 5 - I 9 4 9 c a . 15 000Deutsche umgekommen seien. 24 ' Vor allem machen die hier vorliegenden Informationen aber auf beachtliche regionale Unterschiede aufmerksam. Wenn etwa knapp die Hälfte aller aus Niederschlesien umgekommenen Personen ihr Leben »auf der Flucht« verloren haben sollen, während mehr als die Hälfte der in Südosteuropa Umgekommenen »in Lagern der Vertreibungsgebiete verstorben« seien, dann können wohl die Lebenserfahrungen dieser beiden Personengruppen kaum auf einen gemeinsamen Nenner gebracht, und noch weniger unter dem Begriff »Vertreibung« subsumiert werden. Für die als Flucht deklarierten Evakuierungen waren die NS-Behörden verantwortlich, für die Bedingungen in den Lagern die alliierten Regierungen, und in beiden Fällen wäre zu untersuchen, wie mit dem Leid der Betroffenen jeweils umgegangen wurde. Die Frage, warum knapp die Hälfte aller umgekommenen Niederschlesier ihr Leben »auf der Flucht«, aber nur 4,5 % der Oberschlesier auf diese Weise ihr Leben verloren hat, wartet noch auf ihre Antwort ebenso wie die Frage, wie die

Weiterführende Informationen Tatsache zu beurteilen ist, dass in der Tschechoslowakei bei einer wesentlich größeren Gesamtzahl der Betroffenen insgesamt rund 16 000 Menschen 242 ihr Leben verloren haben sollen, während doppelt so viele Menschen aus Ostpreußen - ca. 32 000 - allein auf der Flucht umgekommen waren. Erst Antworten auf solche Fragen können uns helfen, die unterschiedlichen Ursachen der von den Betroffenen damals erlittenen Leidenserfahrungen kennenzulernen. Aus den vorliegenden Zeugenberichten geht hervor, dass viele Deutsche während der letzten Kriegsmonate in den östlichen Gebieten des Großdeutschen Reiches Opfer von Gewalttaten geworden sind. Auf die von Angehörigen der Wehrmacht und deutscher Behörden verübten Verbrechen liegen zwar zahlreiche Hinweise vor; aber erstaunlicherweise gibt es bis heute keine statistischen Schätzungen. Am geläufigsten sind Hinweise auf von Angehörigen der Roten Armee verübte Verbrechen: »Die bloße Aufzählung all jener zahllosen Gewalttaten im gesamten militärischen Operationsgebiet von der Ostseeküste zwischen der Memel- und Odermündung bis zum Nordhang der Sudeten würde jede Darstellung sprengen. Anhand der Zeugenberichte der verschiedenen Ostdokumentationen des Koblenzer Bundesarchivs lassen sich etwa 3 300 Tatorte namentlich ermitteln, wobei nach den vorliegenden Zeugenangaben zu 2 620 Tatorten sich eine Zahl von ca. 24 500 Menschen errechnen läßt, die in ihren Heimatorten oder auf der Flucht einen gewaltsamen Tod fanden.«243 Über die Zahl der in diesem Gebiet aufgrund anderer Ursachen umgekommenen Menschen finden sich in der Vertreibungsliteratur keine auch nur annähernd vergleichbar konkreten Angaben.

705

Einblicke in die Geschichte des Zahlenlabyrinths >Vertreibung
° Rudolf Augstein: »Auf die schiefe Ebene zur Republik«, in: Der Spiegel 2/1985 v. 7. 1. 1985, S. 22-32, hier S. 30 »* Micha Brumlik: ... es ist noch nicht zu Ende, in: Haufler/Reineckc 2005, S. 18 f., hier S. 18 32 Habbe 2005; alle folgenden Zitate sind diesem Text entnommen, die Seitenzahlen werden nicht einzeln angegeben. " Die Vertriebenen in Westdeutschland 1, S. 72 14 Über den Arzt Hans Graf Lehndorff und seine Aufzeichnungen vgl. hier den Abschnitt »Auf der Suche nach Erklärungen« 33 Der Tagesbefehl des Führers an die Deutsche Wehrmacht: 1945 - J a h r einer geschichtlichen Wende, in: Völkischer Beobachter 2. 1. 1945 36 Rede von Staatsministerin Christa Stewens. Gedenkstunde zum 8. Mai 1945, Oberschleißheim, den 8. Mai 2002 (http://www.stewens.de/pdfs/M020508-Gedenk.doc, Zugriff 13. 7. 2004), vgl. auch Knopp 2001, S. 10 und de Zayas 2005, S. 109 37 Ilja Ehrenburg: »Die von einem Hitlergeneral frei erfundene Legende überstand den Bankrott des Dritten Reiches, ja sie überlebte auch den Nürnberger Prozeß und die Jahre danach«, vgl. Ilja Ehrenburg: Menschen, Jahre, Leben. Memoiren, Bd. 3, Berlin 1978, hier 2. Aufl. 1982, S. 33 38 Lew Kopelew in: Gerd Koenen/Lew Kopelew (Hg.): Verlorene Kriege, gewonnene Einsichten. Rückblick vom Ende eines Zeitalters. Ein Gespräch, in: Deutschland und die russische Revolution 1917-1924, München 1998, S. 15-46, hier S. 39 " Ilja Ehrenburg und die Deutschen. Ausstellungskatalog des Deutsch-Russischen Museums in Berlin-Karlshorst, Berlin 1997, S. 75; vgl. auch den kurzen Hinweis in Zeidler 2008, S. 718 f. 40 Friedrich Prinz: Auf dem Weg in die Moderne, in: Deutsche Geschichte im Osten Europas, Bd. 2: Böhmen und Mähren, hg. v. Friedrich Prinz, Berlin 1993, S. 304-481, hier S. 411 f. 41 Vgl. hier den Abschnitt »Aussig: Von der Verschriftlichung mündlicher Überlieferungen« 42 Vgl. hier den Anhang »Die Massenumsiedlungen ...«< 43 Vgl. hier den Abschnitt »Ausländische Berichte und Gerüchte, die das Erinnern prägten« 44 W+adyslaw Bartoszewski zit. nach Klaus Bachmann/Jerzy Kranz unter Mitarbeit von Jan Obermeier (Hg.): Verlorene Heimat. Die Vertreibungsdebatte in Polen, Bonn 1998, S. 33 43 Overmans 1989, S. 870 46 Reichenberger 1952, S. 25 47 Wolfgang Stingel: Der »Vater der Heimatvertriebenen««. Zum 40. Todestag von Father Em[m] anuel Reichenberger, in: Sudetendeutsche Zeitung 28.7. 2006; vgl. auch Biographisches Lexikon zur Geschichte der böhmischen Länder, Bd. 3, München 1991; Biographisches Handbuch deutschsprachiger Emigration, Bd. 1, München-New York 1988; Tobias Weger: Die katholische Rhetorik bei den vertriebenen Sudetendeutschen in der Nachkriegszeit, in: Bohemia 45/2,2004, S. 454-468, hier S. 454-457 und Weger 2008 passim 48 Tobias Weger: Die Ackermann-Gemeinde als katholische Gesinnungsgemeinschaft der Sudetendeutschen nach 1945, in: Jahrbuch für deutsche und osteuropäische Volkskunde 45, 2003, S. 35-52, hier S. 45 f. 4 « Jaksch 1948, S. 8 30 Bruno Brehm: Vorwort, in: Reichenberger 1952, S. 7 31 Wolfgang Stingel: Der »Vater der Heimatvertriebenen«. Zum 40. Todestag von Father Em[m] anuel Reichenberger, in: Sudetendeutsche Zeitung 28. 7. 2006 31 Reichenberger 1952, S. 104 33 Reichenberger 1948, S. 216 34 Ebenda, S. 11 " Ebenda 36 Püschel 1948, S. 77 37 Ebenda, S. 81 38 Paraphrase von Hans Dietrich Schultz: Räume sind nicht, Räume werden gemacht. Zur Genese »Mitteleuropas« in der deutschen Geographie, in: Europa Regional 5, 1997, Nr. 1, S. 2-14

Anmerkungen S. 39-42 35

Martin Broszat: Zweihundert Jahre deutsche Polenpolitik, Frankfurt am Main 1972, S. 313 (1. Aufl. 1963) 60 Ebenda S. 311 61 Deutsche Bischofskonferenz - Pressemitteilungen 8.5. 2005: Ökumenischer Gottesdienst »60 Jahre Ende des Zweiten Weltkriegs«. Predigt des Vorsitzenden der Deutschen Bischofskonferenz, Kardinal Karl Lehmann, am 8. Mai 2005 in der St. Hedwigs-Kathedrale in Berlin (http:// dbk.de/aktuell/meldungen/00549/index.html, Zugriff 24. 3. 2009) 6z Assmann 2006, S. 192 63 Wolfgang Benz: Fünfzig Jahre nach der Vertreibung. Einleitende Bemerkungen, in: Benz 1985, S. 8-15, hier S. 10 64 Lagebuch 6. 3. 1945 in Kriegstagebuch OKW IV/2, S. 1147 63 Edgar Wolfrum: Verbrechen am Ende des Zweiten Weltkrieges, in: Arendes/Wolfrum/Zedler 2006, S. 7-22, hier S. 17 66 Erich Goerlitz/Joachim Immisch (Hg.): Zeit und Menschen, Neue Ausgabe B, Bd. 4: Zeitgeschichte. Von der Oktoberrevolution bis zur Gegenwart, bearbeitet von Joachim Immisch, Paderborn 1983, S. 148 67 Rolf Lasius/Hubert Recke: Geschichte. Ein Lese- und Arbeitsbuch, Bd. 3: Das Zeitalter der Weltmächte und Weltkriege, Weinheim-Berlin-Basel 1970, S. 172 68 Knopp 2001, S. 9 69 Konrad Adenauer: Erinnerungen 1945-1953, Stuttgart 1965,8. 186 70 Die Flucht 2002, S. 83 71 Eugen Lemberg: Osteuropa und die Sowjetunion. Geschichte und Probleme. Ein Beitrag zur deutschen Ostkunde, Salzburg 1956, S. 260 71 Wolfgang Benz: Der Strom schien nicht zu versiegen. Flucht und Vertreibung waren das Schicksal von mehr als 16 Millionen Deutschen, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung 6. 4. 1996 73 Hans Ebeling: Die Reise in die Vergangenheit. Ein geschichtliches Arbeitsbuch, Bd. 4: Unser Zeitalter der Revolution und Weltkriege, Braunschweig et al. 1964, S. 252 74 Reichenberger 1952, S. 472 f.; hier wird ein viel zitierter Aufruf (eine Resolution des Priesterreferats aus Königstein im Taunus, die vom Kölner Kardinal Frings an den Alliierten Kontrollrat weitergeleitet wurde, vgl. Schicksal - Vertreibung 1980, S. 130 und Nittner 1967, S. 328) von Emmanuel Reichenberger unkorrekt wiedergegeben. Er ersetzte die in anderen Fassungen zitierte Angabe »14 Millionen« durch die Zahl »18 Millionen«; in seinem eigenen 1948 veröffentlichten Buch findet sich noch die Zahl »14 Mill.« (Reichenberger 1948, S. 280). 73 Guderian 1950, S. 53 76 Aly 2003, S. 29 77 Schwarzbuch der Vertreibung, S. 79 78 Vgl. http://bundesrecht.juris.de/bundesrecht/bvfg/gesamt.pdf (Zugriff 10. 10. 2009) 79 Havrehed 1989, S. 351 80 Bundesgesetze 1957, S. 14 und Steinberg 1991, S. 136 81 Münz/Ohliger 1998, S. 145 f. ' Die Definition des Begriffs Vertriebene im Bundesvertriebenengesetz umfasst vielerlei verschiedene Personengruppen, darunter auch »wer als deutscher Staatsangehöriger oder deutscher Volkszugehöriger [...] nach Abschluss der allgemeinen Vertreibungsmaßnahmen vor dem 1. Juli 1990 oder danach im Wege des Aufnahmeverfahrens vor dem 1. Januar 1993 die ehemals unter fremder Verwaltung stehenden deutschen Ostgebiete, Danzig, Estland, Lettland, Litauen, die ehemalige Sowjetunion, Polen, die Tschechoslowakei, Ungarn, Rumänien, Bulgarien, Jugoslawien, Albanien oder China verlassen hat oder verlässt« gehört dazu, vgl. Bundesvertriebenengesetz in der Fassung der Bekanntmachung vom 10. August 2007 (BGBl. I S. 1902), geändert durch Artikel 19 Abs. 1 des Gesetzes vom 12. Dezember 2007 (BGBl. I S. 2840), § 1 Vertriebener, vgl. http://www.bundesrecht.juris.de/bundesrecht/bvfg/gesamt.pdf (Zugriff 2. 4. 2008) 83 Sven Felix Kellerhoff: »Nur jeder Zehnte kennt das Ausmaß der Vertreibung«, in: Die Welt n . 11. 2005 84 Hans Maier: Zwei Wege der Erinnerung, in: Rheinischer Merkur 5 . 1 . 2006 83 [pca.]: »Vom Ruch des Revanchismus befreit«. Vertriebene fordern am »Tag der Heimat« abermals Zentrum gegen Vertreibungen, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung 20. 8. 2007 86 Beer 2004, S. 136

729

730

Anmerkungen S. 43-48 87

Naimark 2004, S. 233 Micha Brumlik: ... es ist noch nicht zu Ende, in: Haufler/Reinecke 2005, S. 18 f., hier S. 18 89 Arnd Bauerkämpcr: Deutsche Flüchtlinge und Vertriebene aus Ost-, Ostmittel- und Südosteuropa in Deutschland und Österreich seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs, in: Klaus J. Bade et al. (Hg.): Enzyklopädie Migration in Europa. Vom 17. Jahrhundert bis zur Gegenwart, Paderborn et al. 2007, S. 477-485, hier S. 478 *° Benz 2004, S. 17 '' Overmans 1994, S. 61 91 Bundesgesetze 1957, S. 18 (Hervorhebung im Original) 93 Schwarzbuch der Vertreibung, S. 79 94 Herman Kinder/Werner Hilgemann/Manfred Hergt: dtv-Atlas Weltgeschichte. Von den Anfängen bis zur Gegenwart, München 2006, S. 499 93 Witiko-Brief 47(50), F. 1+2+3, 2004, S. 2 96 Schwarzbuch der Vertreibung, S. 76 97 Püschel 1948, S. 77 98 Adenauer 1949, S. 29 99 Totenehrung, in: Reden und Vorträge VOL 1951, S. 13 100 Rudolf Laun: Das Recht auf die Heimat, in: Reden und Vorträge VOL 1951, S. 56-88, hier S. 65 ,0 ' Ebenda 107 Vertreibungsverluste 1958, S. 38 und 46; für mehr zu diesem Werk vgl. hier den Anhang »Die Massenumsiedlungen ...« 103 »Haar«-sträubende Zahlenklitterung des Historikers Ingo Haar, BdV Pressemitteilung vom 17. 11.2006 (http://www.bund-der-vertriebenen.de/presse/index.php3 ?id=496, Zugriff 21.3.2007) 104 Ebenda '°3 Auszug aus der Geschichte von Dr. Karl Ploctz, 27. Aufl., Würzburg 1968, S. 1419 f. (»Deutschland: Verluste im Zweiten Weltkrieg [...] Durch unmittelbare Auswirkung des Krieges«) 106 Beer 2005, S. 386 f. 107 Ahrens 1983, S. 40 f. 108 Ebenda, S. 37-48, hier S. 45 f.; zur Geschichte des genannten Berichts vgl. Beer 2005 109 Akten zur Auswärtigen Politik der Bundesrepublik Deutschland 1975, Band I: I. Januar bis 30. Juni 197 5, hg. v. Ilse Dorothee Pautsch, München 2006, S. 205-208, hier S. 206 1,0 Ebenda 111 Ebenda, S. 207 '" Vgl. Wilfried Ahrens (Hg.): Verbrechen an Deutschen. Die Opfer im Osten. Endlich die Wahrheit, die Bonn verschweigt, Huglfing/Obb. [1975]; 1989 wurde die »autorisierte Fassung vom Dezember 1982« veröffentlicht, vgl. Bericht 1974, S. 11 " 3 Pressedienst Institut für Zeitgeschichte, Nr. 38, 30. August 1983, unterzeichnet vom stellvertretendem Direktor Ludolf Herbst 114 Tobias Weger: Die Ackermann-Gemeinde als katholische Gesinnungsgemeinschaft der Sudetendeutschen nach 1945, in: Jahrbuch für deutsche und osteuropäische Volkskunde 45, 2003, S. 35-52, hier S. 48 1,3 Sladek 1988 • 16 w e g e r 2008, S. 349 " 7 Als Heimatortskartei bezeichnet man die aus den Unterlagen der Kirchlichen Suchdienste hervorgegangenen Sammelstellen von Informationen über die Vertriebenen. 1,8 Sladek 1988 " 9 Gert von Pistohlkors: Informationen zur Klärung der Schicksale von Flüchtlingen aus den Vertreibungsgebicten östlich von Oder und Neiße: Die Arbeit der Heimatortskarteien (HOK), in: Flüchtlinge und Vertriebene 1987, S. 57-68 120 Gesamterhebung, S. 30; vgl. hier den Anhang »Die Massenumsiedlungen ...« 111 Borodziej/Lembcrg 2000, Bd. 1, S. 8; vgl. die detaillierten Ausführungen zum Thema »Lager« (S. 85-99), die die Zahl von 60 OOO angeblich in polnischen Lagern Verstorbenen schon allein durch die Angabe wesentlich niedrigerer Zahlen der überhaupt in Lagern registrierten Personen widerlegen. 117 Suppan 2003, Nr. 1, S. 74-84, hier S. 74 (Unter " findet sich die folgende Anmerkung des Verfassers: Vertreibung und Vertreibungsverbrechen 1945-1948. Bericht des Bundesarchivs vom

88

Anmerkungen S. 48-56 28. Mai 1974. Archivalien und ausgewählte Erlebnisberichte, hg. von der Kulturstiftung der deutschen Vertriebenen, Bonn 1989, S. 38-41, 46 f., 51 ff.) 173 Gemeinsame Deutsch-Tschechische Historikerkommission. Pressemitteilung vom 17. 12. 1996: Stellungnahme der Deutsch-Tschechischen Historikerkommission zu den Vertreibungsverlusten, in: Jörg K. Hoensch/Hans Lemberg (Hg.): Begegnung und Konflikt. Schlaglichter auf das Verhältnis von Tschechen, Slowaken und Deutschen 1815-1989, Essen 2002, S. 245-247 174 de Zayas 1996, S. 176; in einer späteren Auflage seines Buches ersetzte der Verfasser in demselben Satz allerdings die Zahl »460 000« durch die Zahl »280 000« (»Unter Berücksichtigung bisher verschlossener Akten der untergegangenen DDR ist eine höhere Zahl geschätzt, nämlich 280 000 nach den statistischen Untersuchungen von Dr. Fritz Peter Habel«, vgl. de Zayas 2005, S. 187). 173 Overmans 1989, S. 867 f. ,l6 Detlef Brandes in: Vertreibung II: Wer in der EU dabei sein will, braucht Mut zur Wahrheit. Die neue Ehrlichkeit, in: Rheinischer Merkur 30. 5. 2002 177 Overmans 1999a, S. 177 178 Vgl. hier den Anhang »Die Massenumsiedlungen ...« 179 Ferdinand Seibt in: Deutschland, hg. v. Ferdinand Seibt et al, Bern 1982, S. 47 130 Kurt Nelbiebel: Erst kam der Krieg, dann die Vertreibung. Den Vergesslichen ins Stammbuch, in: Blätter für deutsche und internationale Politik 49,2004, Heft 12, S. 1504-1512, hier S. 1511 " ' Ebenda 1,7 Overmans 1989, S. 870 1,3 Sven Felix Kellerhoff: »Nur jeder Zehnte kennt das Ausmaß der Vertreibung«, in: Die Welt I I . 11. 2005 ' J4 Hans Maier: Zwei Wege der Erinnerung, in: Rheinischer Merkur 5.1. 2006 "-3 Zu den Zahlen zur Geschichte der Vertreibung vgl. hier den Anhang »Die Massenumsiedlungen ...« ' " Gollancz 1948, S. 100 (dort zit. aus Victor Gollancz: Let my People Go, London 1943) 137 Brumlik 2005, S. 30 138 Ebenda 139 Kleßmann 2001, S. 22 f. 140 Ralf Georg Reuth: Nehmt die Frauen als Beute. Um die Deutschen östlich der Oder und Neiße zu vertreiben ordnete Stalin das große Abschlachten an, in: Welt am Sonntag 20. 2. 2005 (hier zit. nach http://www.welt.de/print-wams/article123849/Nehmt_die_Frauen_als_Beute. html, Zugriff 15. 4. 2009) l4i Dokumente 1940/1995, S. 8 147 D V D O I / i , S . 7 f. 143 Ahrens 1983, S. 9 144 de Zayas 2005, S. 103 f. 143 Schwarzbuch der Vertreibung, S. 29 146 Echternkamp 2006, S. 78 147 de Zayas 2005, S. 109 148 Schwarzbuch der Vertreibung, S. 31 149 de Zayas 2005, S. 104. Auch in einer vom Militärischen Forschungsamt 2008 herausgegebenen Studie wird behauptet, dass wir im Falle Nemmersdorf über ein »besonders zuverlässiges Bild« der sowjetischen Gewalttaten verfügen, so ähnlich wie »für jene wenigen Tatorte, wo deutsche Gegenangriffe die zeitweilige Tätigkeit deutscher Ermittlungsbehördcn in einem größeren Rahmen ermöglichten« (Zeidler 2008, S. 716). 130 Schwarzbuch der Vertreibung, Bildteil hinter S. 128; de Zayas 2006, S. 67-70; Knabe 2005, Bildteil hinter S. 188; Die Flucht 2002, Bildteil hinter S. 120; Beer 2002, S. 17; Knopp 2001, S. 45-49; Chiodo 1993, Bildteil hinter S. 144; Ahrens 1983, Bildteil hinter S. 320; Eibicht 1995, Bildteil zwischen S. 448 und 449; Grube/Richter 1981, S. 133 f. und Abb. 81-82 131 Völkischer Beobachter 8. 3. 1945 137 Kunz 2005, S. 92 133 Fisch 1997, S. 26 134 Ebenda, S. 27 f. 133 Ebenda, S. 28

731

732

Anmerkungen S. 57-66 154

Ebenda, S. 29 f. Ebenda, S. 160 138 Ebenda, S. 159 139 Ebenda, S. 50 f. 160 Ebenda, S. 52 ,6 ' Ebenda, S. 57 "•' Ther 1998, S. 54 163 Am 12. März 1945 notierte Goebbels in seinen Tagebüchern: »Jedenfalls ist der Führer der Meinung, daß die von mir eingeleitete Greuelpropaganda durchaus richtig ist und weiter durchgeführt werden muß.« (Goebbels 1995 a, S. 481) 164 Fisch 1997, S. 119 163 Ebenda, S. 139 166 Ebenda, S. 160 " 7 D V D O I / i , S . 7 f"•8 de Zayas 2005, S. 105 169 D V D O I / i , S . 7 f. 170 Fisch 1997, S. 165 171 Ebenda, S. 165 177 Ebenda, S. 166 173 Ebenda, S. 167 174 Ebenda, S. 168 173 Fisch 1999, S. 62 176 Ebenda, S. 65 177 Eine Ausnahme in der Vertreibungsliteratur bildet die Behandlung von Nemmersdorf von Guido Knopp in seiner Fernsehserie »Die große Flucht«, wo zumindest die Rolle der Goebbelschen Propaganda bei der Entstehung des Mythos von Nemmersdorf erläutert und korrekte, allem Anschein nach anhand der Studien von Bernhard Fisch gewonnene Grundinformationen geboten werden, vgl. Knopp 2001, S. 37-41; auch hier wird jedoch weder die Nachkriegsgeschichte des Mythos von Nemmersdorf erklärt noch dessen Funktion als Symbol für den Beginn von Flucht und Vertreibung hinterfragt. 178 Fisch 1997, S. 128 179 Fisch 2004, S. 290 180 Fisch 1997, S. 122 ,8: Ebenda, S. 122 f. 187 Ebenda, S. 123 183 Ebenda, S. 124 184 Ebenda, S. 126 183 Fisch 2004, S. 291 186 Ebenda, S. 293 187 Ebenda, S. 301 188 Ebenda 189 Fisch 2003, S. 166 "° Goebbels 1996, S. 165 191 Ebenda, S. 192 f. 197 Klaus Zernack: Der historische Begriff »Ostdeutschland« und die deutsche Landesgeschichte, in: Nordost-Archiv, Neue Folge Band I/1992, Heft 1, S. 157-173, hier S. 161 f. 193 Fisch 2004, S. 302 194 Ebenda, S. 303 193 Ernst Heinrichsohn: Die verlorene Heimat existiert nur noch in der Erinnerung, in: Nord-WestZeitung 26. 5. 2006 196 Gollancz 1948, S. 100 197 Reitzner 1984, S. 65 198 Die Wehrmachtsberichte 1939-1945, Bd. 3: I.Januar 1944 bis 9. Mai 1945, München 1985 (Unveränderter photomechanischer Nachdruck), S. 568 199 Bohmann 1955, S. 50 700 Knopp 2001, S. 397

137

Anmerkungen S. 66-76 7m

Ebenda, S. 13 Geschichte verstehen 2002, S. 225 f. Mehr dazu vgl. hier den Abschnitt »Ein Augenzeugenbericht und seine Geschichte« 704 Reitzner 1984, S. 65 703 Ebenda 706 Reitzner 1948,8. 12-14. In seinen 1984 veröffentlichten Memoiren finden wir unter der Überschrift »Der Flug nach Prag« eine gekürzte Version des Reiseberichts von 1948, vgl. Reitzner 1984, S. 65-81. 707 Reitzner 1948 S. 12 708 Ebenda, S. 12-14 709 Sudetendeutsches Weißbuch, S. 124 7.0 D V D O I V / i , S. 71 f. 7.1 Franzel 1980, S. 420 7.7 Berthold Kohler: Als in Aussig die Jagd auf die Deutschen begann. Das tschechische Massaker vom 31. Juli 1945, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung 29. 7. 1995 7,3 Seibt 1997, S. 353 f. 714 Heinz Nawratil: Das Verbrechen an den deutschen Heimatvertriebenen, in: Eibicht 1995, S. 31-41, hier S. 35 7,3 Helga Hirsch: Flucht und Vertreibung: Kollektive Erinnerung im Wandel, in: Aus Politik und Zeitgeschichte 29. 9. 2003, S. 14-26, hier S. 18 7,6 Brandes 2005, S. 70 717 Pustejovsky 2001, S. 13 2.8 Ebenda 7.9 Ebenda, S. 26 770 Ebenda, S. 25 721 Ebenda, S. 26 227 Ebenda, S. 260 723 Kräl 1964, S. 490 724 Hans Krebs: Kampf in Böhmen, Berlin 1936, S. 137 773 Ebenda 776 Gauleiter Hans Krebs und Bannführer Siegfried Zoglmann: Sudetendeutschland marschiert, Berlin [1938] 777 Hans Krebs/Emil Lehmann: Sudetendeutsche Landeskunde, Kiel 1992 778 Pustejovsky 2001, S. 207 779 Ebenda, S. 208 250 Ebenda «• Ebenda, S. 86 737 Ebenda, S. 208 733 Ebenda, S. 202 234 Ebenda, S. 198 733 Ebenda, S. 203 736 Ebenda, S. 87 f. (diesen beiden Seiten sind auch alle weiteren in dieser Passage zitierten Texte entnommen) 737 Ebenda, S. 87 738 Ebenda, S. 87 f. 739 Ebenda, S. 207 240 Vgl. auch ebenda, S. 240 24 ' Ebenda, S. 88 242 Jirina Dvofäkovä: Bedfich Pokorny - vzestup a päd, in: Sbornfk Archivu Ministerstva vnitra Nr. 2, Praha 2004, S. 233-279 243 Pustejovsky 2001, S. 242 244 Ebenda, S. 275 243 Ebenda, S. 316 zit. nach Sudetendeutsches Weißbuch, Dok. Nr. 31, S. 121-123, hier S. 123 2 "' Zit. nach de Zayas 2005, S. 162 747 de Zayas 2005, S. 161 248 Londynske listy zit. nach DVDO IV/2, S. 286 707

703

733

734

Anmerkungen S. 76-85 249

Ebenda Reitzner 1948, S. 33-35 231 DVDO IV/2, S. 282-286 232 Adolf Wolf/Walter Stratmann: Aussig: Furor Czechoslovaka plebs, in: Deutscher Ostdienst 47/7, 2005, S. 13 f. 233 Ebenda 234 Brumlik 2005, S. 74 233 Gollancz 1948, S. 100 2s6 Johannes Fried: Der Schleier der Erinnerung. Grundzüge einer historischen Memorik, München 2004, S. 169 237 Vgl. hier den Abschnitt »Von der Vielfalt des Erinnerns« 738 Reichenberger 1948 739 Brumlik 2005 160 Der Weg in die Katastrophe 1994 261 Jaksch 1958 262 Duden: Die sinn- und sachverwandten Wörter Bd. 8, Mannheim-Wien-Zürich 1972, S. 731 263 Dieser Bezeichnung bedienten sich auch später bekannte Vertriebenenpolitiker, vgl. z. B. die Erklärung der Vertrauensleute ehemaliger sudetendeutscher Sozialdemokraten der US-Zone in der SPD vom 6V7. März 1948 in Richard Reitzner: Vom Ostwind verweht ... Das Schicksal von Millionen, München 1948, S. 24 264 Steinbach 2005, dort auch alle Zitate von Erika Steinbach in diesem Abschnitt »Eine Geschichte betroffener Sprachlosigkeit« 263 Thorwald 2005 266 Dok.[ument] 13: Menschen als Strandgut, in: Schwarzbuch der Vertreibung, S. 61 767 Vgl. Jürgen Thorwald: Das Ende an der Elbe, Stuttgart 1954, S. 389 oder Jürgen Thorwald: Die große Flucht. Es begann an der Weichsel. Das Ende an der Elbe, Stuttgart [1962], S. 572 f. 268 Schwarzbuch der Vertreibung, S. 61 269 Thorwald 2005, S. 631 270 Jürgen Thorwald: Das Ende an der Elbe, Stuttgart 1954, S. 389 271 Thorwald 2005, S. 620 777 Gleichzeitig mit der Fertigstellung des Manuskripts dieses Buches erschien über das hier behandelte Buch ein ausführlicher Aufsatz, der unsere Recherchen bestätigt; vgl. David Oels »Dieses Buch ist kein Roman«. Jürgen Thorwalds »Die große Flucht« zwischen Zeitgeschichte und Erinnerungspolitik, in: Zeithistorische Forschungen/Studies in Contemporary History, OnlineAusgabe, 6(2009), H. 3, URL: http: www.zeithistorische-foschungen.de/1612041-Oels-3-2009. 273 Vgl. dazu als Beispiel hier den Abschnitt »Nemmersdorf: Hat der Völkische Beobachter sowjetische Gräueltaten verharmlost?« 774 Leuschner 1943, S. 34 273 Goebbels am 12. 7. 1944 in: Goebbels 1995a, S. 97 276 Die Flucht 2002, S. 83 und S. 84 777 Ebenda, S. 84 f. 778 Sudetendeutsches Weißbuch, S. XVI 279 Glotz 2003, S. 202 780 Vgl. u. a. Vaclav Ledvinka: Der Maiaufstand und die Befreiung Prags, in: Vaclav Ledvinka/jiff Pesek: Prag, [Praha 2000], S. 621-624 781 Jaksch 1958, S. 425 787 Ebenda 283 Hübler 1991,8. 9 284 Ebenda, S. 29 283 Knopp 2001, S. 395 286 In dem als Quelle angegebenen Archiv für Kunst und Geschichte, Berlin (akg-images) wurde das Bild so identifiziert: »Nr: 185765; 9TS-1945-5-5-A1-5; 2. Weltkrieg/Tschechoslowakei. Aufstand tschechischer Nationalisten in Prag gegen die deutsche Besatzung, ab 5. Mai 1945. Von der SS (unter dem Befehl von General Pueckler) erschossene Zivilisten im Prager Vorort Pankrac (Grundstueck [U]lice Obeti Strasse Nr. 65).- Foto, 6. Mai 1945. Foto: akg-images«. (Mitteilung des agk-images an die Autoren vom 20. 12. 2006)

230

Anmerkungen S. 86-93 787

Vgl. die Ankündigung der Fernsehscrie von Guido Knopp: Die große Flucht in: TV Spielfilm v. 18. 12. 2001; vgl. auch Renate Hennecke: Seitenverkehrt. Das Vorurteil führte die Hand ..., in: Deutsch-Tschechische Nachrichten Nr. 70 v. 25. 1. 2006, S. 3; Vaclav Ledvinka/Jin Pesek: Prag, [Praha 2000], S. 624; Geschichte verstehen 2002, S. 219; Pamätnik prazskeho povstäni 1945, Praha 1946, S. 42 788 Wagner 1953,8. 30 289 Rudolf Lodgman von Auen: Die Lage Deutschlands, Europas und der Welt, in: Rudolf Lodgman von Auen: Reden und Aufsätze. Festgabe zum 77. Geburtstag des Sprechers der Sudetendeutschen Landsmannschaft, hg. v. Albert Karl Simon, München [1954], S. 115-126, hier S. 115 790 D V D O I / i , S . 112E 29 ' Ahrens 1983,8.8 792 Erich Goerlitz/Joachim Immisch (Hg.): Zeit und Menschen, Neue Ausgabe B, Bd. 4: Zeitgeschichte. Von der Oktoberrevolution bis zur Gegenwart, bearbeitet von Joachim Immisch, Paderborn 1983, S. 134 293 Frauke Wetzel: Missverständnisse von klein auf? Die Vertreibung der Deutschen in tschechischen und deutschen Schulbüchern, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 53, 2005, Nr. 10, S. 955-968, hierS. 964 294 Rudolf Lochner: Sudetendeutschland. Ein Beitrag zur Grenzlanderziehung im ostmitteldeutschen Raum, Berlin-Leipzig 1937, S. 28-35, hier S. 35 293 Emil Lehmann: Politik der Volkserziehung. Hans Krebs gewidmet, in: Kaergel 1938, S. 137140, hier S. 140 296 Leuschner 1943, S. 34 297 Rudolf Jung: Die Entstehung des Tschechenstaates und die sudetendeutsche Volksgruppe, in: Erich Kühne (Hg.): Sudetendeutscher Schicksalskampf, Leipzig 1938, S. 35-52, hier S. 46 298 Goebbels 1995a, S. 97 299 Lehndorff i960, S. 26 30C Franzel 1958, S. 410 f. 301 Lehndorff i960, S. 7 307 Vgl. hier den Abschnitt »Exkurs 6: Wie der Völkische Beobachter über die letzten Kriegsmonate berichtete« 303 Lehndorff i960, S. 54 304 Ebenda 303 Ebenda, S. 59 306 Ebenda, S. 55 307 Naimark 2004 308 Suppan 2003, S. 76 309 Sudetendeutsches Weißbuch, S. XVI 3,0 Jaksch 1958, S. 374 311 Ebenda, S. 376 3.2 de Zayas 2005, S. 76 3.3 Alfred M. de Zayas: Die Vertreibung, in: Grube/Richter 1981, S. 169-184, hier S. 169; so hat auch beispielsweise Wilfried Ahrens ein ganzes Kapitel entsprechend überschrieben: »Dem Präsidenten Benesch bleibt die geschichtliche Verantwortung für die Entstehung des Vertreibungssyndroms« (Ahrens 1983, S. 25-33). 314 Weger 2008, S. 352-356 ,,s Wilfried Schlau: Eine moderne Völkerwanderung: Flucht und Vertreibung, in: Deutschland nach dem Kriege. Sonderdruck der Texte zum Kalender 1985 des Gesamtdeutschen Instituts, Bonn [1986], S. 23-28, hierS. 28 3,6 Becher 1990, S. 145 7 " Erika Steinbach: Provokation aus Prag, in: Deutscher Ostdienst 47/6, 2005, S. 1 3.8 Reichenberger 1948, S. 76 3.9 Ebenda, S. 76L 370 Vollmer 2002 321 Ebenda

735

736

Anmerkungen S. 93-104 377

Paul E. Zinner: Czechoslovakia: The Diplomacy of F.duard Benes, in: Gordon A. Craig/Felix Gilbert (Hg.): The Diplomats 1919-1939, Princeton 1981, S. 100-122, hier S. 100 (die Namenschreibung so im Orig.) 3,3 Brown 2006 324 Weger 2008, S. 352 373 Carl von Ossietzky: Sämtliche Schriften. Band VI: 1931-1933, Texte 969-1082, hg. v. Gerhard Kraiker et al, Reinbek bei Hamburg 1994, S. 9 326 Ebenda, S. 67 f. 327 Giselher Wirsing (Hg.): Köpfe der Weltpolitik, München 1935, S. 8 (Vorwort des Herausgebers) 328 Ebenda 329 Hermann Ullmann: Eduard Benesch, in: Giselher Wirsing (Hg.): Köpfe der Weltpolitik, München 1935, S. 198-209, hier S. 202 330 Ebenda, S. 206 3,1 Gauleiter Hans Krebs/Bannführer Siegfried Zoglmann: Sudetendeutschland marschiert, Berlin [1938], ohne Seitenzahl; vgl. auch Max Domarus: Hitler. Reden und Proklamationen 1932-1945. Kommentiert von einem deutschen Zeitgenossen, Bd. I: Triumph. Zweiter Halbband 1935-1938, München 1965, S. 928 (ohne den Einschub in der Klammer) und S. 931 332 Zarnow 1939, S. 37 333 Ebenda, Vorwort S. IX 334 Völkischer Beobachter 10. 12. 1944 333 Goebbels 1995b, S. 665 336 Gernot Wildt: Hühnerhaufen. Wie man antisudetendeutsch gackert und dabei pseudointellektuelle Eier legt, in: Sudetendeutsche Zeitung 19. 4. 2002 337 Gernot Facius: Benesch, in: Die Welt 12. 7. 2003 338 Leitartikel von Erika Steinbach: Benes lebt, in: Deutscher Ostdienst 44/14, 2002, S. 3 339 Carl von Ossietzky: Sämtliche Schriften. Band VI: 1931-1933, Texte 969-1082, hg. v. Gerhard Kraiker et al., Reinbek bei Hamburg 1994, S. 9 340 Foerster 1953, S. 215 f. 341 Brügel 1974, S. 234 342 Ebenda, S. 239 343 de Zayas 2005, S. 76 344 Brandes 2005a, S. 1 343 Brandes 2006, S. 91 346 Brandes 2005 a 347 Ebenda, S. 7-69 348 Detlef Brandes: Die Vertreibung der Deutschen, in: Damals. Das Magazin für Geschichte und Kultur 34, 2002, Nr. 11, S. 14-20, hier S. 14 349 Brandes 2005a, S. 461 330 Ebenda, S. 462 331 Detlef Brandes: Die Vertreibung als negativer Lernprozess. Vorbilder und Ursachen der Vertreibung der Deutschen, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 51, 2005, Nr. 10, S. 885-896, hier S. 885 337 Brandes 2005a, S. 465 333 Ebenda, S. 411 334 Ebenda, S. 470 333 Ebenda, S. XIII 336 Brandes 2006, S. 91 337 Brandes 2005a, S. 466 338 Brandes 2006, S. 91 339 Sudetendeutsches Weißbuch, S. XVI 360 Zillich 195i,S. 104L 361 Faulenbach 2005, S. 195 367 Erzwungene Wege, S. 22 363 Flucht, Vertreibung, Integration 2005, S. 189 364 Erzwungene Wege, S. 74

Anmerkungen S. 104-115 33

'

Flucht, Vertreibung, Integration 2005, S. 190 (Im Zitat handelt es sich um den amerikanischen Historiker Norman M. Naimark, vgl. Naimark 2004) 366 Troebst 2006, S. 67 367 Antje Vollmer im Deutschen Bundestag am 4. 7. 2002 (Plenarprotokoll 14/248, S. 25240) 368 Antje Vollmer im Deutschen Bundestag am 16.5.2002 (Plenarprotokoll 14/236, S. 23593) 369 Hans Lemberg: Mehr als eine Wanderung. Eine Einführung, in: K. Erik Franzen: Die Vertriebenen. Hitlers letzte Opfer, München 2001, S. 12-33, hier S. 12 370 Flucht, Vertreibung, Integration 2005, S. 9 371 Helga Hirsch in: Haufler/Reinecke 2005, S. 15-17, hier S. 16 377 Erklärungen zur Deutschlandpolitik I, S. 17, vgl. auch Hahn/Hahn 2008 375 Vgl. hier im Abschnitt »Die politische Weichenstellung in der Bundesrepublik« 374 Jaksch 1958, S. 8 173 Ebenda, S. 7 und S. 9 376 Ebenda, S. 418 f., S. 422 und S. 423 377 Ebenda, S. 448 378 Ebenda, S. 10 (Hervorhebung im Original) 379 Rhode 1952 380 Handbuch 2008, S. 589-592 381 Aly 1993 382 Karl Schlögel: Literaturhinweise zur Geschichte der Vertreibung, (http://www.zeit.de/1999/18/ I999i8.1iteraturhinweis.xml?page=2, Zugriff 4. 10. 2009) 383 Rhode 1952 (Anhang) 384 Ebenda, S. 6 383 Ebenda, S. 31 386 »Übersicht über die Gruppenwanderungen in Europa seit 1917« in: ebenda, S. 28-30, vgl. insbes. S. 29 387 Ebenda, S. 16 388 Vgl. hier im Abschnitt »Das »andere« Erinnern in der DDR« 389 Rhode 1952, S. 15 390 Ebenda, S. 14 391 Aly 1993 392 Ebenda 393 Aly 2003 394 Aly 1993 395 Ebenda 396 Ebenda 397 Aly 2003, S. 29. Für die Begründung der hier geübten Kritik vgl. hier den Anhang »Die Massenumsiedlungen ...« 398 Götz Aly: Wider das Bewältigungs-Kleinklein, in: Hanno Loewy (Hg.): Holocaust: Die Grenzen des Verstehens. Eine Debatte über die Besetzung der Geschichte, Reinbek bei Hamburg 1992, S. 42-51, hier S. 51 399 Aly 2005, S. 36

Teil 2: Verdrängte Erinnerungen 1

7 3

Hilda Hadina-Königsreiter: Deutsches Leid in Böhmen, in: Emil Hadina/Wilhelm MüllerRüdersdorf: Großböhmerland. Ein Heimatbuch für Deutschböhmen, Nordmähren und das südöstliche Schlesien, Leipzig 1923, S. 2 Ebenda Emil Hadina (1885-1957), ein seinerzeit bekannter sudetendeutscher Schriftsteller, war der Bruder von Hilda Hadina-Königsreiter (1888-1980).

737

Anmerkungen S. 115-128 4

Alle Zitate in diesem und im folgenden Absatz sind den folgenden beiden Texte entnommen: »Der Heimatbund der Sudetendeutschen im Ausland« und »Sudetendeutscher Hilfsverein (Sitz Berlin)«, in: Sudetendeutsches Jahrbuch 1925, S. 86 und 87 f. 3 Hervorhebung im Original 6 Auslandsdeutschtum 1926, S. 12 7 Ebenda, S. 6 8 Ebenda, S. 16 9 Ebenda, S.16L 10 Ebenda, S. 18 " Ebenda, S. 29 12 Ebenda, S. 31 ' 3 Friedrich Solger in: Auslandsdeutschtum 1926, S. 33 14 Erich Pecher: Sudetenland ist frei!, in: Hans Lerch (Hg.): Großdeutschland, Bd. 1, Dresden 1940, S. 99-116, hier S. 101 13 Fittbogen 1924, S. 9 " Andreas Kossert: Ostpreußen: Geschichte und Mythos, München 2005, S. 138 17 Allgemeine deutsche Real-Encyklopädie für die gebildeten Stände (Conversations-Lexikon) in zwölf Bänden, 8. Aufl. Bd. 9, Leipzig 1836, S. 794 f. 18 [Heinrich August] Hoffmann von Fallersleben: Mein Leben. Aufzeichnungen und Erinnerungen, 6 Bde., Hannover 1868, hier Bd. 2, S. 1 19 K. H. Frank: Böhmen und Mähren im Reich, Prag 1941, S- 27 2 ° Gary B. Cohen: The Politics of Ethnic Survival: Germans in Prague 1861-1914, Princeton NJ 1981, S. 92 f. und Böhmen und Mähren 1998, S. 487 71 Dejiny Prahy. Bd. II: Od sloucem prazskych mest v roce 1784 do soucasnosti, Praha-Litomysl 1998, S. 384 22 Franzel 1983, S. 370 73 Der Volks-Brockhaus. Deutsches Sach- und Sprachwörterbuch für Schule und Haus. Dritte, verbesserte Auflage, Leipzig 1935, S. 535, 710, 717, 680, 592, 97, 409, 402, 189, 593 74 Für genauere Angaben vgl. hier den Anhang »Die Massenumsiedlungen ...« 73 Der Volks-Brockhaus (a.a.O.) 26 Statistisches Bundesamt, Pressemitteilung Nr. 171 v. 19. 4. 2004 27 Kittel/Möller 2006, S. 541 28 Dass die nationalsozialistische Propaganda im Sommer 1938 ebenso wie ein Jahr später die deutschen Minderheiten zu beschützen vorgab, ist hinlänglich bekannt, weniger dagegen, dass auch im Frühjahr 1939 die ca. 200 000 Personen zählende deutsche Minderheit in dem späteren Protektorat Böhmen und Mähren »geschützt werden sollte«, wie aus Hitlers Rede an das deutsche Volk sowie aus seinem Befehl an die deutsche Wehrmacht vom 15. März 1939 hervorgeht: »In Böhmen und Mähren herrscht unerträglicher Terror gegen deutsche Volksgenossen.« (vgl. Max Domarus: Hitler. Reden und Proklamationen 1932-1945. Kommentiert von einem deutschen Zeitgenossen, Bd. II: Untergang, Erster Halbband i939-i940,München 1965,8.1095 f.) 29 de Jong 1959, S. 18 30 »Die Erinnerung und Gedenken finden ihren Sinn im Willen für eine bessere Zukunft«. Rede von Bundesinnenminister Otto Schily am 29. Mai 1999 im Berliner Dom, in: Deutscher Ostdienst 41/22, 1999, S. 6-8, hier S. 8; für die erwähnten Äußerungen von Hagen Schulze vgl. LIagen Schulze: Staat und Nation in der europäischen Geschichte, München 1994, S. 293 " Heinrich August Winkler: Der lange Weg nach Westen. Bd. 1: Deutsche Geschichte vom Ende des Alten Reiches bis zum Untergang der Weimarer Republik, München 2000, S. 358 37 Jost Dülffer: Selbstbestimmung, Wirtschaftsintcressen und Großmachtpolitik. Grundprinzipien für die Friedensregelung nach dem Ersten Weltkrieg, in: Auf dem Weg zum ethnisch reinen Nationalstaat? Europa in Geschichte und Gegenwart, hg. v. Mathias Beer, Tübingen 2004, S. 41-67, hier S. 43 33 Ebenda, S. 45 34 Woodrow Wilson. Memoiren und Dokumente über den Vertrag zu Versailles anno MCMXIX, hg. v. R. St. Baker in autorisierter Übersetzung von Curt Theising, 3 Bde. Leipzig o. J. [1923], hier Bd. 3, S. 40-44 33 Antje Vollmer in Deutschen Bundestag am 16. 5. 2002 (Plenarprotokoll 14/236, S. 23593)

Anmerkungen S. 129-137 36

Zu dem auch in andere Sprachen unübersetzbaren deutschen Begriff »völkisch« vgl. Handbuch 2008; Cornelia Schmitz-Berning: Vokabular des Nationalsozialismus, Berlin-Ncw York 1998, S. 645-647; Uwe Puschncr/Walter Schmitz/Justus H. Ulbricht (Hg.): Flandbuch zur »Völkischen Bewegung« 1871-1918, München 1999; George L. Mosse: Die völkische Revolution. Über die geistigen Wurzeln des Nationalsozialismus, Frankfurt am Main 1971 37 Vgl. Handbuch 2008, S. 452-463 und insbesondere Michael Fahlbusch: »Wo der deutsche ... ist, ist Deutschland!«. Die Stiftung für deutsche Volks- und Kulturbodenforschung in Leipzig 1920-1933, Bochum 1994 und Fahlbusch 1999 38 Vgl. Hans Henning Hahn/Peter Kunze (Hg.): Nationale Minderheiten und staatliche Minderheitenpolitik in Deutschland im 19. Jahrhundert, Berlin 1999 39 Friedrich List: Die Ackerverfassung, die Zwergwirtschaft und die Auswanderung, in: Edgar Salin (Hg.): Aufsätze und Abhandlungen aus den Jahren 1831-1844, Berlin 1928, S. 418-547, hier S. 499 f. 40 Ebenda, S. 514 41 Hans Henning Hahn: Polnische Freiheit oder deutsche Einheit? Vor hundertfünfzig Jahren führte das Paulskirchen-Parlament seine große Polendebatte, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung 22. 7. 1998 42 Universalstaat oder Nationalstaat. Macht und Ende des Ersten deutschen Reiches. Die Streitschriften von Heinrich v. Sybel und Julius Ficker zur deutschen Kaiserpolitik des Mittelalters, hg. v. Friedrich Schneider, Innsbruck 1941, S. 13 43 Ernst Moritz Arndt: Des Deutschen Vaterland, hier zit. nach Deutschland! Deutschland? Texte aus 500 Jahren von Martin Luther bis Günter Grass, hg. v. Heinz Ludwig Arnold, Frankfurt am Main 2002, 213 f. 44 Der Alldeutsche Verband im Deutschen Reich soll zu Beginn des Ersten Weltkrieges 250 Ortsgruppen und etwa 18 000 Mitglieder gehabt haben, am Ende des Krieges stieg die Zahl auf 36 377 Personen, vgl. Michael Peters: Der Alldeutsche Verband am Vorabend des Ersten Weltkrieges (1908-1914). Ein Beitrag zur Geschichte des völkischen Nationalismus im spätwilhclminischen Deutschland, 2., korrigierte Auflage, Frankfurt am Main et al. 1996, S. 196 43 Karl Hermann Wolf im Jahre 1897, hier zit. nachjin Kofalka: Georg Ritter von Schönerer und die alldeutsche Bewegung in den böhmischen Ländern, in: Hahn 2007, S. 61-90, hier S. 72 (Dieser lesenswerte Aufsatz bietet wertvolle bibliographische Hinweise.) 46 Otto Richard Tannenberg (eigentl. Rudolf E. Martin): Gross-Deutschland. Die Arbeit des 20. Jahrhunderts, Leipzig-Gohlis 1911, S. 78 47 Meyers Großes Konversations-Lexikon. Ein Nachschlagewerk des allgemeinen Wissens. Sechste, gänzlich neubearbeitete und vermehrte Auflage, Bd. 10, Leipzig-Wien 1908, S. 229 48 Der Neue Brockhaus. Allbuch in vier Bänden und einem Atlas, Bd. 4, Leipzig 1938, S. 606 49 Ebenda, Bd. 3, Leipzig 1937, S. 340 30 Fahlbusch 1999, S. 5 5 31 Der Volks-Brockhaus. Deutsches Sach- und Sprachwörterbuch für Schule und Haus, Leipzig 1941,5.735 37 Fittbogen 1924, S. 22 33 Hahn/Hahn 2006 34 Fahlbusch 1999, zusammenfassend S. 787-799 33 Hildegard Kronawitter: Ein politisches Leben. Gespräche mit Volkmar Gabert, München 1996, S. 26 f. 36 Detlef Brandes: Die Sudetendeutschen im Krisenjahr 1938, München 2008; vgl. auch Alena Wagnerovä (Hg.): Helden der Hoffnung-die anderen Deutschen aus den Sudeten 1935-1989, Berlin 2008 37 Salzborn 2005, S. 294 38 Herbert Klauss: Nationalsozialistisches Volksgruppenrecht (Diss.), Heidelberg 1937, S. 5, hier zit. nach Salzborn 2005, S. 73 f.; vgl. auch Samuel Salzborn: Minderheitenkonflikte in Europa. Historische Entwicklung, aktuelle Kontroversen und Lösungsstrategien, in: Derselbe (Hg.): Minderheitenkonflikte in Europa. Fallbeispicle und Lösungsansätze, Innsbruck et al. 2006, S. 7-18 39 Karl Kneschke: Zur Geistesverfassung der Deutschen in der Tschechoslowakei, in: Die Stimmen aus Böhmen. Eine Sammlung, London 1944, S. 76-85, hierS. 81 60 Thomas Mann: Briefe 1889-1936, hg. v. Erika Mann, Frankfurt am Main 1961, S. 430

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Anmerkungen S. 137-143 6

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Die Tschechoslowakei. Das Ende einer Fehlkonstruktion. Die Sudetendeutsche Frage bleibt offen, hg. v. Rolf-Josef Eibicht et al., Berg 1992 Karl Iro: Die politische Unteilbarkeit der Provinz Böhmen, eine Forderung alldeutscher Politik, in: Unverfälschte Deutsche Worte 19, 1901, Nr. 15, 1. 8. 2014 [1901], S. 178 (hier. zit. nach Jirf Kofalka: Georg Ritter von Schönerer und die alldeutsche Bewegung in den böhmischen Ländern, in: Hahn 2007, S. 61-90, hier S. 85 f.) Vgl. Eva Hahn: Rudolf Jung und die vergessenen sudetendeutschen Vorläufer und Mitstreiter Hitlers, in: Hahn 2007, S. 91-143 Maser 1973, S. 468 Jäckel 1980, S. 532 Franz Katholnigg: Die tschechische Lyrik der Gegenwart und die Deutschen, in: Tschechische und slowakische Studien, hg. v. Ferdinand Liewehr, Heft 7 der Veröffentlichungen der Slavistischen Arbeitsgemeinschaft an der Deutschen Universität in Prag, Reichenberg 1930, S. 56114, hier S. 56

Ebenda Ebenda, S. 56 f.

Ebenda, S. 112 Krofta 1928, S. 3 71 Ebenda, S. 20 77 Ebenda, S. 27 73 Ebenda, S. 28 74 Ebenda 73 Ebenda, S. 29 76 Emanuel Rädl: VälkaCechüsNemci, Praha 1928 (dt. als Ders.: Der Kampf zwischen Tschechen und Deutschen, Reichenberg 1928) 77 Hans Lemberg: Deutsche und Tschechen - Die nationalen und die staatlichen Beziehungen, in: Hans Lemberg: Mit unbestechlichem Blick... Studien von Hans Lemberg zur Geschichte der böhmischen Länder und der Tschechoslowakei. Festgabe zu seinem 65. Geburtstag, hg. v. Ferdinand Seibt et a l , München 1998, S. 29-53, hier S. 39 78 Rädl 1935 79 Ebenda, S. 16 80 Ebenda, S. 24 81 Ebenda, S. 38 82 Ebenda, S. 38 83 Emanuel Rädl: O nemecke revoluci, Praha 1933 (dt. Ders.: Über die deutsche Revolution, Frankfurt 1988 und 1997, verf. Ms., u. a. in der Universitätsbibliothek Erlangen-Nürnberg) 84 Rädl 1935, S. 39 83 Für Näheres vgl. Eva Hahnovä: Emanuel Rädl mezi cesky m nacionalismem a (sudeto)nemecky m närodovectvi'm, in: Emanuel Rädl - vedec a filosof. Sborm'k z mezinärodni konference konane u pfflezitosti 130. vyrocinarozenia 60. vyroci ümrtiEmanuela Rädla (Praha 9.-12. ünora 2003), hg. v. Tomas Hermann/Anton Markos, Praha 2004, S. 548-582 (mit englischer und deutscher Zusam menf assung) 86 Sudetendeutsches Jahrbuch 1925, S. 174 87 Ebenda, S. 88 88 Jaksch 1958, S. 261 89 Der V. Kongreß der Komintern v. Juni 1923, zit. nach Habel 2003, S. 326 90 Denkschrift der Deutschen Sozialdemokratischen Arbeiterpartei (DSAP) in der CSR an den Internationalen Sozialistenkongreß in Hamburg v. 2 1 . 5. 1923, zit. nach Habel 2003, S. 319 91 Wenzel Jaksch in einem Interview in: Pri'tomnost 13, 1936, Nr. 19 v. 13. 5. 1936, hier zit. nach Roland J. Hofmann/Alois Harasko (Hg.): Odsun. Die Vertreibung der Sudetendeutschen/ Vyhnäni sudetskych Nemcü. Dokumentation zu Ursachen, Planung und Realisierung einer »ethnischen Säuberung« in der Mitte Europas, Band 1: Vom Völkerfrühling und Völkerzwist 1848/49 bis zum Münchner Abkommen 1938 und zur Errichtung des »Protektorat Böhmen und Mähren« 1939, München 2000, S. 677 92 Adolf Hitler zwischen 8. und 11. 8. 1941, hier zit. nach Hitler 1980, S. 55 70

Anmerkungen S. 143-151 93

Zur Widerlegung der bis heute populären These von Mein Kampf als einem »ungelesenen Bestseller« und zur Geschichte der weltweiten Rezeption des Buches vgl. Plöckinger 2006, hier S. 4 94 Die Behauptung, dass in »der ersten Phase nationalsozialistischer Herrschaft [...] die Deutschen Mittel-, Ost- und Südosteuropas im Konzept Hitlers nur eine untergeordnete Rolle« gespielt hätten (Kotzian 2005, S. 21), läßt sich mit der Lektüre von Mein Kampf v/idcAcgcn 93 Heinrich Mann am 19.10.1939, in: Heinrich Mann: Zur Zeit von Winston Churchill, Frankfurt am Main 2004, S. 191 96 MK 1939, S. 641 97 Ebenda, S. 663 98 Ebenda, S. 645 99 Ebenda, S. 650 '°° Ebenda, S. 637-664 101 Ebenda, S. 650 f. (Hervorhebung im Original) 107 Ebenda, S. 648 ">' Ebenda, S. 663 104 Ebenda, S. 640 103 Hitler 1980, S. 55 106 Ebenda, S. 90 107 Ebenda, S. 62 108 Ebenda, S. 110 109 Ebenda, S. 336 "° Ebenda, S. 110 ' " Ebenda, S. 335 " 7 Ebenda, S. 110 113 MK1939, S. 13 " 4 Ebenda, S. 605 " 3 Ebenda, S. 605 " ' Ebenda, S. 569 1.7 Ebenda, S. 228 1.8 Ebenda, S. 225 " 9 Ebenda, S. 235 170 Ebenda, S. 238 121 Ebenda, S. 277 122 Ebenda, S. 264 123 Ebenda, S. 238 124 Ebenda, S. 24of. 123 Ebenda, S. 245 6 " Ebenda, S. 244 127 Ebenda, S. 2 50. Nachdem Hitler Reichskanzler geworden war, soll er selbst gemeint haben, dass er hier nicht den wahren Ton getroffen habe: »Inhaltlich möchte ich nichts ändern«, soll er 1934 über Mein Kampf zu Hans Frank gesagt haben: »Wenn es schon »Phantasien zwischen Gittern« sind, die ich da dem Hess diktiert habe: es gibt auch eine Logik des Traumes. Nur das Kapitel über die Syphilis müßte ich als unrichtig total umändern. Das jedenfalls weiß ich, wenn ich 1924 geahnt hätte, Reichskanzler zu werden, dann hätte ich das Buch nicht geschrieben. Aber ich weiß nicht, ich sah mich immer nur als Parteiführer und höchstens einmal als beratenden »Intimus« eines Reichsoberhauptes!« Vgl. Frank 1953, S. 45 f. 128 MK 1939, S. 277 129 Ebenda, S. 643 130 Ebenda, S. 144 '" Ebenda, S. 138 und S. 141 1,2 Zusammenfassend vgl. »Hitler und sein außenpolitisches Programm« in: Josef Becker: Weltmacht oder Untergang. Der Weg von Hitlers Reich in den Zweiten Weltkrieg, in: Helmut Altrichter/Josef Becker (Hg.): Kriegsausbruch 1939. Beteiligte, Betroffene, Neutrale, München 1989, S. 21-38, hier S. 31-36 133 Für die folgenden Zitate vgl. Lagarde 1944; im Einzelnen wurden die Zitate den folgenden Abhandlungen von Lagarde entnommen: Über die gegenwärtigen Aufgaben der deutschen

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Anmerkungen S. 151-157 Politik (18 5 3), S. 63-93; Über die gegenwärtige Lage des Deutschen Reiches (187 5),S. 157-268; Programm für die konservative Partei Preußens (1884), S. 338-416; Die nächsten Pflichten deutscher Politik (1886), S. 435-487. 134 Lagarde 1944, S. 182 133 Ebenda, S. 399 136 Ebenda, S. 395 137 Ebenda, S. 75 138 Ebenda, S. 89 139 Ebenda, S. 75 140 Ebenda, S. 75,78, 79 f. "" Ebenda, S. 178 f. 142 Ebenda, S. 469 143 Ebenda, S. 396 144 Ulrich Sieg: Deutschlands Prophet. Paul de Lagarde und die Ursprünge des modernen Antisemitismus, München 2007, S. 334 143 Jaksch 1939, S. 67 146 Ebenda 147 Rosenberg 1955, S. 105 148 Gerhard Grimm: Der Nationalsozialismus. Programm und Verwirklichung, München-Wien I 9 8 I , S . 39 149

Baeumler 1943, S. 8 130 Konrad Heiden: Geschichte des Nationalsozialismus. Die Karriere einer Idee, Berlin 1932, S. 46 131 Baeumler 1943, S. 15; vgl. auch Frank-Lothar Kroll: Alfred Rosenberg. Der Ideologe als Politiker, in: Garleff 2001, S. 147-166 und Christine Pajouh: Die Ostpolitik Alfred Rosenberg 1941-1944 in: Garleff 2001, S. 167-195 137 Als Hitler 1924/2 5 vorübergehend in Haft saß und die NSDAP verboten war, leitete Rosenberg die Ersatzorganisation »Großdeutsche Volksgemeinschaft«. 133 Ernst Piper: Alfred Rosenberg. Hitlers Chefideologe, München 2005 134 Rosenberg 1932 133 Rosenberg 1956, S. 3 f. 136 Frank-Lothar Kroll: Alfred Rosenberg. Der Ideologe als Politiker, in: Garleff 2001, S. 147-166, hier S. 148 137 Rosenberg 1932, S. 129 (Hervorhebung im Original) 138 Robert Cecil: The Myth of the Master Race: Alfred Rosenberg and Nazi Ideology, London 1972, S. 168 f.; andere Historiker sehen in Hitlers Verhältnis zu Russland eher die Spuren von Rudolf Heß, dem Hitler Mein Kampf diktierte und der bei dem berüchtigten Münchener Geographen und Theoretiker der Geopolitik Karl Haushofer studiert hatte, vgl. Z. A. B. Zeman: Pursued by a Bear. The Making of Eastern Europe, London 1989, S. 107 139 Rosenberg 1932, S. 128 160 Rosenberg 1935 ' " Ebenda, S. 16 167 Ebenda 163 Ebenda, S. 15 f. 164 Ebenda, S. 16 163 Ebenda "* Ebenda, S. 12 (Hervorhebung im Original) 167 Ebenda, S. 18 168 Rosenberg 1932, S. 662 169 Ebenda, S. 127 170 Der Volks-Brockhaus. Deutsches Sach- und Sprachwörterbuch für Schule und Haus, Leipzig 1938, S. 586 171 Rosenberg 1932, S. 662 177 Vgl. hier den Abschnitt » Wie der Zeitzeuge Alfred Rosenberg über Fleimkehr, Holocaust und Vertreibung berichtete« 173 Eva Hahn: Über Rudolf Jung und vergessene sudetendeutsche Vorläufer und Mitstreiter Hitlers, in: Hahn 2007, S. 91-143

Anmerkungen S. 157-171 174

Ernst Birke: Der ostdeutsche Mensch im westdeutschen Raum, hg. v. Sozialminister des Landes Nordrhcin-Wcstfalen, Schriftenreihe für das Vertriebenenwesen, Vortragsheft Nr. I, Düsseldorf 1953, S. 17 ' " Meyers Lexikon. Siebente Auflage. In vollständig neuer Bearbeitung, Bd. 3, Leipzig 1925, Sp. 678E (Hervorhebung im Original) 176 Penck 1925, S. 62-73, für die Zitate vgl. S. 62, 63, 64 und 69 f. (Hervorhebung im Original) 177 Koenen 2005 178 Bochm 1936, S. 18 179 Zit. nach Cornelia Schmitz-Berning: Vokabular des Nationalsozialismus, Berlin-New York 1998, S. 651 180 Karl Stuhlpfarrer: Volksgemeinschaftsideologie und nationalsozialistische Umsiedlungspolitik, in: Austria Slovenica. Die Kärntner Slovenen und die Nation Österreich/Koroski Slovenci in avstrijska naeija, hg. v. Andreas Moritsch, Klagenfurt et al. 1996, S. 71-85, hier S. 83 181 »Im Gegensatz zu dem Deutschstämmigen ist der »Volksdeutsche« seinem deutschen Volkstum treugeblieben. [...] Der Unterschied zwischen einem Deutschstämmigen und einem Volksdeutschen oder genauer gesagt einem »deutschen Volkszugehörigen« beruht [...] nicht auf rassischer Verschiedenheit, sondern ist nur rein volkspolitischer Art.« (Leuschner 1943, S. 20) 187 Ebenda, S. 21 183 Zum Begriff »Deutsche Zugehörigkeit«, in: Außendeutscher Wochenspiegel. Bearbeitet im Deutschen Auslands-Institut Stuttgart, 14. Woche, 17. 4. 1939, S. 2 184 Das braune Netz 1935, S. 13 183 Ebenda, S. 64 186 Taschen-Brockhaus 1942, S. 76 187 Ebenda, S. 337 188 Ebenda, S. 88 f. 189 Zusammengestellt nach Taschen-Brockhaus 1942, S. 88 f. 190 191

Ebenda

Generalplan Ost. Rechtliche, wirtschaftliche und räumliche Grundlagen des Ostaufbaues, vorgelegt von SS-Oberführer Professor Dr. Konrad Meyer, Berlin-Dahlem, Juni 1942, zit. nach Madajczyk 1994, S. 91-130, hier S. 128 197 Wolfgang Wippermann: Wie modern war der »Generalplan Ost«? Thesen und Antithesen, in: Mechtild Rössler/Sabine Schleiermacher (Hg.): Der »Generalplan Ost«. Hauptlinien der nationalsozialistischen Planungs- und Vernichtungspolitik, Berlin 1993, S. 123-130, hier S. 129 19 ' Der Treck 1943, S. 25 194 D V D O I / i , S . iE 193 Meyer 1942, Vorwort zur 2. unveränderten Auflage ">6 Deutscher Osten 1942, S. 58 197 Der Treck 1943, S. 25 198 Heinrich Mann am 21. 9. 1939, in: Heinrich Mann: ZurZeit von Winston Churchill, Frankfurt am Main 2004, S. 197 199 Siemsen 1946, S. 66 700 Ebenda, S. 83 201 Meyer 1942, S. 19 202 Friedrich Lange: Ostland kehrt heim, Berlin-Lepzig 1940, S. 77 f. 203 Hitler 1939, S. 56 204 Ebenda 203 Schechtman 1946, S. 42 706 Erlass des Führers und Reichskanzlers zur Festigung deutschen Volkstums. Vom 7. Oktober 1939, zit. nach Moll 1997, S. 191 f. 707 So der Titel eines Romans von Karl Götz: Die große Heimkehr, Stuttgart 1941 708 Deutsche Volksgruppen 1941 709 Vgl. Ebbinghaus/Roth 1992 210 Vgl. hier den Abschnitt »Über die misslungene Dokumentation der Vertreibung« 7.1 Theodor Schieder in Ebbinghaus/Roth 1992, S. 88 2.2 Ebenda, S. 90 f. 2.3 Ebenda, S. 89

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744

Anmerkungen S. 171-177 214

T6th20oi, S. 24 Krisztiän Ungväry: Die in Frage gestellte Assimilation: Zur Genese der »Deutschenfrage« in Ungarn, in: Jerzy Kochanowski/Maike Sach 2006, hier S. 118 2.6 Zit. nach Brügel 1974, S. 118, dort auch die Zitate im folgenden Paragraph 2.7 Ebenda, S. 119 2.8 Ähnlich gab die deutschen Botschaft in Belgrad bekannt, »daß die Umsiedlungsaktion für Jugoslawien nicht aktuell« sei, vgl. DVDO V, S. 75E f. 119 Madajczyk 1994, S. 44 220 Tatjana Tönsmeyer: Das Dritte Reich und die Slowakei 1939-1945. Politischer Alltag zwischen Kooperation und Eigensinn, Paderborn et al. 2003, S. 313 221 Kräli964, S. 490 f. 222 Brügel 1974, S. 120 723 Ebenda, S. 120 224 Theodor Schieder zit. nach Ebbinghaus/Roth 1992, S. 87 773 Hierbei handelt es sich um einen vernachlässigten Forschungsbereich, wie Isabel Heinemann 2003 feststellt: »Die bislang einzige Studie zu Himmler als Reichskommissar für die Festigung deutschen Volkstums und seinem Volkstumsapparat ist eine frühe Pionierarbeit des US-Historikers Robert L. Koehl aus dem Jahre 1957.« (Heinemann 2003, S. 35L); Koehls Studie RKFDV: German Resettlement and Population Policy 1939 - 1945: a History ofthe Reich Commision for the Strengthening of Germandom (Cambridge Mass. 1957) ist nie ins Deutsche übersetzt worden. 726 Leniger 2006, S. 225 227 Vgl. Handbuch 2008, S. 5 31 - 5 40 228 Aly 1995, S. 49 779 Ebenda, S. 46 730 Goebbels 1998,8.278 231 Ebenda, S. 281 232 Goebbels 1993, S. 572 233 Scheffler 1999, S. 158 234 Ebenda, S. 159 233 Zitate in diesem Absatz vgl. Jachomowski 1984, S. 72 236 Der Menscheneinsatz 1940, S. 43-48 237 Heinemann 2003 738 Heinemann 2006, S. 175; vgl. die beeindruckende analytische Beschreibung der Absurdität des so genannten Schleusungsverfahren in Leniger 2006, S. 148-223 739 Jachomowski 1984,8. 141 740 Ebenda, S. 145-149 741 Aly 1995, S. 114 742 Broszat 1961, S. 35 243 Ebenda, S. 34 244 Ebenda, S. 35 243 Jachomowski 1984, S. 161 246 Heinemann 2003, S. 127-186, hier S. 127 f. 247 Madajczyk 1994, S. 499 (Hervorhebung im Original) 248 Vgl. Ferdinand Seibt: Unterwegs nach München. Zur Formierung nationalsozialistischer Perspektiven unter den Deutschen in der Tschechoslowakei 1930-1938, in: Der Nationalsozialismus. Studien zur Ideologie und Herrschaft, hg. v. Wolfgang Benz/Hans Buchheim/Hans Mommsen, Frankfurt am Main 1995, S. 133-152, hier S. 152 249 Jaksch 1939, S. 76 230 Horst Naude: Erlebnisse und Erkenntnisse, 2 Bde. München 1975 (Veröffentlichung des Sudetendeutschen Archivs 8), hier Bd. 1: Als politischer Beamter im Protektorat Böhmen und Mähren, 1939-1945, S. 94 731 Kral 1964, S. 447 232 Ebenda, S. 509 233 Ebenda, S. 516 234 Ebenda, S. 517

2,3

Anmerkungen S. 177-188 733

Madajczyk 1994, S. 499 Ebenda 737 Ebenda, S. 500 738 Bericht über die SS im Kriegsjahr 1939/40, in: Nationalsozialistisches Jahrbuch 1940, hier zit. nach IMG Bd. 29, 2163-PS, S. 273 239 Ebenda 160 Madajczyk 1994, S. 495 261 Ebenda, S. 496, vgl. auch Bericht des Reichskommissars für die Festigung deutschen Volkstums v. 20. Januar 1943 in: Jacobsen 1970, S. 186-191 "" Heinemann 2006, S. 169, vgl. auch Lars Bosse: Vom Baltikum in den Reichsgau Wartheland, in: Garleff 2001, S. 297-387, hier S. 307 263 Zit. nach Kotzian 2005, S. 23 764 Jachomowski 1984, S. 2 263 Leniger 2006, S. 91-147 166 Beer 2004, S. 127 267 Leniger 2006, S. 146 768 Himmler 1970, S. 214 269 Deutsche Allgemeine Zeitung 22.7. 1942, hier zit. nach Kulischer 1948, S. 261 270 Deutscher Osten 1942, S. 56 771 Ebenda, S. 57 272 Ebenda, S. 4 273 Deutschland-Berichte der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands (Sopade), Siebter Jahrgang 1940, Frankfurt am Main 1989, S. 35 f. 774 Ebenda, S. 40 273 Ebenda, S. 102 276 Markus Leniger erklärt das mangelhafte Interesse der Historiker an dieser Institution mit dem Hinweis auf die Besonderheit der »verbrecherischen Komponente« ihres Agierens: Sie lag »mit signifikanten Ausnahmen, deutlich unterhalb der Schwelle des Massenmordes. Die Objekte ihres Handelns, die umgesiedelten »Volksdeutschen«, verloren nicht ihr Leben, sondern »nur« ihre Heimat.« (Markus Leniger: »Heim im Reich?« Das Amt XI und die Umsiedlerlager der Volksdeutschen Mittelstelle, 1939-1945, in: Beiträge zur Geschichte des Nationalsozialismus (vormals: Beiträge zur nationalsozialistischen Gesundheits- und Sozialpolitik) Bd. 17: Wolf Grüner/Armin Nolzen (Hg.): »Bürokratien«. Initiative und Effizienz, Hamburg et al. 2001, S. 81-109, hier S. 81; vgl. auch Leniger 2006 und Lumans 1993 277 Heinemann 2003, S. 574 f. 278 Alle Zitate in diesem Abschnitt, wenn nicht anders angemerkt, beziehen sich auf Alfred Rosenberg: Baltische Heimkehr, in: Völkischer Beobachter 20. 10. 1939 279 Rosenberg 1955, S. 286 280 Ebenda, S. 292 281 Ebenda, S. 293 282 Ebenda, S. 291; über Rosenbergs Memoiren vgl. u. a. Nicolas Berg: Der Holocaust und die westdeutschen Historiker. Erforschung und Erinnerung, Göttingen 2003, S. 327 f. 283 Rosenberg 1955, S. 340 284 Ebenda 283 Ebenda, S. 343 7,6 Rosenberg 1956, S. 92 787 Ebenda, S. 99 788 Ebenda 289 Alfred Rosenberg an Heinrich Himmler am 23. 1. 1940, aus den beigelegten Briefen der betroffenen Umsiedler zit. nach Leon Poliakov/Josef Wulf: Das Dritte Reich und seine Denker. Dokumente, Berlin-Grunewald 1959, S. 483-485 290 Ebenda, S. 486 f. 791 Alfred Rosenberg: Altes und neues Europa, in: Rosenberg 1943, S. 359-378, hier S. 369 292 Ebenda 293 Alfred Rosenberg: Baltische Heimkehr, in: Völkischer Beobachter 20. 10. 1939 294 Goebbels 1998, S. 206 236

745

Anmerkungen S. 188-198 793

Ebenda, S. 216 Ebenda, S. 346 797 Leniger 2006, S. 10 2,8 Fielitz 2000 299 Kotzian 2005, S. 12 3 °° Engelhardt-Kyffhäuser 1940, S. 26 301 Goebbels 1998, S. 346 301 Engelhardt-Kyffhäuser 1940, S. 37 303 Ebenda, S. 40 304 Diese und die beiden nächsten Zitate ebenda, S. 41 303 Ebenda, S. 45 796

506 piehtz 2 0 0 0 , S. 22 307

Engelhardt-Kyffhäuser 1940, S. 46 Ebenda, S. 47 309 £) e r Treck 1943, S. 24 3.0 Ebenda 3.1 Deutscher Osten 1942, S. 58 317 Der Treck 1943, S. 5 313 Ebenda, S. 9 314 Deutsche Volksgruppen 1941, S. 11 3,3 Ebenda, S. 14 316 Ebenda, S. 13 f. 3,7 Selbst Markus Leniger geht in seiner ausführlichen Studie der Frage nach einer auch nur annähernd zahlenmäßigen Erfassung der umgekommenen Umsiedler nicht nach, vgl. Leniger 2006, S.79 318 Hanns Johst: Ruf des Reiches - Echo des Volkes! Eine Ostfahrt, München 1940, S. 28 3,9 Joachim Fest in: Himmler 1974, S. 115 f. 320 Himmler 1974, S. 246 321 Ebenda, S. 124 f. 372 Ebenda, S. 127 373 Ebenda, S. 128 324 D. h. den aus den Angehörigen der deutschen Minderheit organisierten paramilitärischen Einheiten, vgl. Jansen/ Weckbecker 1992 und hier den Abschnitt »Wie unterschiedlich erinnert wird« 323 Broszat 1961, S. 44 376 Hans-Jürgen Bömelburg/Bogdan Musial: Die deutsche Besatzungspolitik in Polen 1939-1945, in: Borodziej/Ziemer 2000, S. 43-111, hier S. 47 377 Wolfgang Jacobmeyer: Der Überfall auf Polen und der neue Charakter des Krieges, in: Christoph Kleßman (Hg.): September 1939. Krieg, Besatzung, Widerstand in Polen, Göttingen 1989, S. 16-37, hier S. 24 378 Himmler 1974, S. 128 329 Ebenda, S. 130 330 Ebenda, S. 133 331 Ebenda, S. 135 332 Ebenda, S. 137 333 Ebenda, S. 130 334 Ebenda, S. 141 333 Für die folgenden Zitate vgl. Broszat 1961, S. 39-45 336 Gemeint ist: die alteingesessene, schon zu preußischer Zeit im Lande wohnende polnische Bevölkerung 337 Heinrich Himmler in seinem Tagebuch am 20.12.1920, zit. nach Klaus Mücs-Baron: Heinrich Himmler: Studie zur Agrarromantik, Antisemitismus und völkischer Radikalität (1900-1933), Diss. Carl von Ossietzky Universität Oldenburg, August 2007, S. 204 (Hervorhebung im Original) 338 Ebenda, S. 205 339 Himmler 1974, S. 132 (so im Original formuliert, einschließlich der Hervorhebung)

308

Anmerkungen S. 198-209 340

Ebenda, S. 132 f. 34' Werner Bergengruen: Dichtergehäuse. Aus den autobiographischen Aufzeichnungen, Nachwort von Emil Staiger, Zürich-München 1966, S. 53 f. 347 Kroeger 1967,8. 71 343 Über Kroegers Biographie vgl. u. a. Schröder 2001, passim 344 Kroeger 1967, S. 97 343 Ebenda, S. 98 346 Ebenda, S. 146 347 Ebenda, S. 160 348 Ebenda, S. 165 349 Ebenda, S. 184 330 Vgl. Julius Krämer: Sepp Müller (1893-1977), in: Aufbruch 1977, S. 595-604 331 Ebenda, S. 600 332 Diese Benennung leitet sich von der seit der ersten Teilung Polens im Jahr 1772 offiziellen österreichischen Bezeichnung der zur Habsburgermonachie zugeschlagenen polnischen Provinz Kleinpolen als Königreich Galizien und Lodomerien ab und wird für die im 18. und 19. Jahrhundert dorthin eingewanderten Deutschen verwendet. 333 Sepp Müller: Im Umsiedlungswerk, in: Heinrich Bosse (Hg.): Der Führer ruft. Erlebnisberichte aus den Tagen der grossen Umsiedlung im Osten, Berlin 1941, S. 224-228 334 Müller, S. 1977, S. 95 333 Müller, S. i960, S. 341 336 Rosenberg 1955, S. 138 337 Handbuch 2008, S. 324-333 338 Müller, S. i960, S. 354 339 Ebenda 360 Müller, S. 1977, S. 118 361 Ebenda 367 Alberti 2004, S. I2if. 33 ' Vgl. den Abschnitt »Die »europäisierte« Erklärung« 364 The German New Order 1942 365 Großdeutschland, hg. v. Hans Lerch, Bd. 1, Dresden 1940, S. 212 >" The German New Order 1942, S. 145 367 Ebenda, S. 143 368 Wolfgang Weber: Der Führer rief sie, in: Berliner Illustrierte Zeitung 2. 1. 1941 (The German New Order 1942, S. 202) 369 The German New Order 1942, S. 202 37 ° Dieses und die nächsten beiden Zitate ebenda, S. 154 371 Ebenda, S. 155 372 Ebenda, S. 203 373 Ebenda, S. 155 374 Ebenda, S. 205 373 Ebenda "* Für Beispiele der polnischen Darstellung der deutschen Umsiedlungspolitik aus der Nachkriegszeit vgl. Janusz Sobczak: Ethnic Germans as the Subject of the Nazi Resettlement Campaign During the Sccond World War, in: Polish Western Affairs 8/1, 1967, 63-95 und Janusz Sobczak: Hitlerowskie przesiedlcnia ludnosci niemieckicj w dobie II wojny swiatowej, Poznan 1966 377 Churchill 1985,8. 125 f. 378 Karl Spitzner: Warthegau - ein deutscher Siedlungsgau, in: Völkischer Beobachter 16. 3. 1944 379 Himmler beim »Tag der Freiheit« in Posen: Die Grenzmark wird das Reich schützen, in: Völkischer Beobachter 7. 11. 1944 380 Hitler 1981,8. 46 381 Ebenda, S. 57 382 Waldemar Kraft in: Die Ostdeutschen Landsmannschaften 1951 S. 14 f. 383 Himmler 1974, S. 128 384 Der Treck 1943, S. 25

747

Anmerkungen S. 210-215 383

Lew Kopelew in: Lew Kopelew und Gerd Koenen: Verlorene Kriege, gewonnene Einsichten. Rückblick vom Ende eines Zeitalters. Ein Gespräch, in: Deutschland und die russische Revolution 1917-1924, hg. v. Gerd Koenen/Lew Kopelew, München 1998, S. 15-46, hier S. 23 386 Die Verwendung dieses neutralen geographischen Begriffs lehnt sich an die Begründung von Mcir Buchsweiler an (Meir Buchsweiler: Die Sowjetdeutschen - außerhalb der Wolgarepublik - im Vergleich mit anderen Minderheiten 1917 bis 1941/41, in: Die Deutschen im Russischen Reich und im Sowjetstaat, hg. v. Andreas Kappeler/Boris Meissner/Gerhard Simon, Köln 1987, S. 69-96, hier S. 93). 387 Pohl 2008, S. 322 388 Erich v. Manstein: Verlorene Siege, Bonn 1955,8. 539 389 Ebenda, S. 540 (Hervorhebung im Original) 390 Winkler 1931, S. 198 391 Zu den unterschiedlichen statistischen Angaben vgl. Benjamin Pinkus: Das Bildungssystem der exterritorialen nationalen Minderheiten in der Sowjetunion: Deutsche, Juden und Polen, 19171939, in: Ingeborg Fleischhauer/Hugo H. Jedig (Hg.): Die Deutschen in der UdSSR in Geschichte und Gegenwart. Ein internationaler Beitrag zur deutsch-sowjetischen Verständigung, Baden-Baden 1990, S. 191-201, hier S. 192 f.; Fleischhauer 1982, S. 302 f.; Dahlmann 1994, S. 201-226; Kösters 2005, S. 20; Volk auf dem Weg 2006, S. 62 397 Pinkus/Fleischhauer 1987, S. 96; vgl. auch Fleischhauer 1982, S. 302 f. und Suchdienst 1996, S. 89 393 Thorsten Pomian: Die »nationalen Rayons« der deutschen Minderheit in der Ukraine von 1924 bis 1939: Substanzielle Autonomie oder Transmissionsriemen des Sowjetstaates?, in: Dietmar Neutatz/Volker Zimmermann (Hg.): Die Deutschen und das östliche Europa. Aspekte einer vielfältigen Beziehungsgeschichte. Festschrift für Detlef Brandes zum 65. Geburtstag, Essen 2006, S. 261-271, hier S. 271 394 Volk auf dem Weg 2006, S. 28; als ausführliche und informative Darstellung vgl. Victor Dönninghaus: Minderheiten in Bedrängnis. Sowjetische Politik gegenüber Deutschen, Polen und anderen Diaspora-Nationalitäten 1917-1938, München 2009 393 Kösters 2005, S. 20 396 Fleischhauer 1982, S. 301 und Pinkus/Fleischhauer 1987, S. 86 397 Volk auf dem Weg 2006, S. 32; Fleischhauer 1982,8. 319-321 398 Thorsten Pomian: Die »nationalen Rayons« der deutschen Minderheit in der Ukraine von 1924 bis 1939: Substanzielle Autonomie oder Transmissionsriemen des Sowjetstaates?, in: Dietmar Neutatz/Volker Zimmermann (Hg.): Die Deutschen und das östliche Europa. Aspekte einer vielfältigen Beziehungsgeschichte. Festschrift für Detlef Brandes zum 65. Geburtstag, Essen 2006, S. 261-271, hier S. 268 399 Pinkus/Fleischhauer 1987, S. 92 400 L e w K o p e l e w in: L e w K o p e l e w u n d G e r d K o e n e n : Verlorene Kriege, g e w o n n e n e Einsichten.

Rückblick vom Ende eines Zeitalters. Ein Gespräch, in: Deutschland und die russische Revolution 1917-1924, hg. v. Gerd Koenen/Lew Kopelew, München 1998, S. 15-46, hier S. 23 4 °' Vgl. Plöckingcr 2006, S. 513-548 402 Das braune Netz 1935, S. 286 403 Mayer 1989,8. 278 404 Ebenda, S. 305 f. 403 Ebenda, S. 307 406 Buchsweiler 1984, S. 386 f. 407 Ebenda, S. 389 408 Eisfeld/Herdt 1996 409 Schon im Jahr 1942 war in NS-Unterlagen z. B. von der Umsiedlung von etwa 250 000 Deutschen aus der unter faktischer deutscher Kontrolle stehenden, offiziell rumänisch verwalteten Region Transnistrien und aus dem deutschen Reichskommissariat Ukraine die Rede (Madajczyk 1994, S. 496) 410 Eisfeld/Herdt 1996, S. 14 4 " Klein 1997, S. 213

Anmerkungen S. 215-224 4.2

Eisfeld/Herdt 1996, S. 35 Biographisches Handbuch der deutschsprachigen Emigration nach 1933, Bd. I, München et al. i98o,S.XLIV 4,4 Eisfeld/Herdt 1996, S. 39 4.3 Ebenda, S. 40-44 4.6 Ebenda, S. 47-50 4.7 Ebenda, S. 54 f., hier S. 54 4.8 Ebenda, S. 55 4.9 Ebenda, S. 58 420 Kulischer 1948, S. 297 421 Dahlmann 1994, S. 216 422 Eisfeld/Herdt 1996, S. 52 423 Dahlmann 1994, S. 213 f. 424 Eisfeld/Herdt 1996, S. 97 423 Ebenda, S. 118 426 Ebenda, S. 124 f. 427 Ebenda, S. 125 428 Ebenda, S. 173 479 Ebenda, S. 174 430 Ebenda, S. 117 431 Ebenda, S. 174 432 Ebenda, S. 179 433 Ebenda, S. 141 434 Ebenda, S. 250 433 Ebenda, S. 248 f. "6 Rede des Reichsleiters A. Rosenberg vor den engsten Beteiligten am Ostproblem am 20. Juni 1942, in: IMG Dok. 1058-PS, Bd. 26, S. 610-627, hier S. 614 437 Ebenda, S. 616 438 Ebenda, S. 627 439 Ebenda, S. 621 440 Ebenda, S. 620 441 Ebenda 442 Ebenda, S. 627 443 Rede Himmlers auf einer Befehlshabertagung in Bad Schachen vom 14. Oktober 1943, in: IMG Dok. 070-L, Bd. 37,498-523, hier S. 511 444 Ebenda, S. 522 443 Ebenda, S. 523 446 Ansprache Heydrichs an die leitenden Persönlichkeiten der Okkupationsbehörden über die Ziele der nationalsozialistischen Protektoratspolitik vom 2. Oktober 1941 in Prag, zit. nach Deutsche Politik 1997, S. 107-122, hier S. 112 f. 447 Für die neueste übersichtliche Darstellung vgl. Heinemann 2003, S. 417-473 4d8 Angrick 2003, S. 254-294 449 Ebenda, S. 9 430 Kunz 2005, S. 62 431 Ebenda, S. 218 432 Ebenda 433 Ebenda, S. 220 434 Angrick 2003, S. 269 433 Klein 1997, S. 352 436 Wassili Grossman/Ilja Ehrenburg (Hg.): Das Schwarzbuch. Der Genozid an den sowjetischen Juden. Flg. der deutschen Ausgabe Arno Lustiger, Reinbek bei Hamburg 1994, vgl. auch Arno Lustiger: Rotbuch - Stalin und die Juden. Die tragische Geschichte des Jüdischen Antifaschistischen Komitees und der sowjetischen Juden, Berlin 2000, besonders den Abschnitt »Die Geschichte des Schwarzbuchs, S. 184-196; Altmann 2008, S. 15-39 u n d 474"494 437 Angrick 2003, S. 287 438 Ebenda, S. 288 413

749

750

Anmerkungen S. 224-234 439

Ebenda, S. 287 u n d S. 2 9 0 *° E b e n d a , S. 266

4

461

Ebenda, S. 726; Handbuch 2008, S. 697-700 Angrick 2003, S. 735 Goebbels 1993, S. 321 464 Hubatsch 1965, S. 232 f. 463 IMG Dok. 066-UK, Bd. 39, S. 129; s. auch Müller, N. 1980, S. 139 f. und vgl. Helmut Heiber (Hg.): Hitlers Lagebesprechungen. Die Protokollfragmente seiner militärischen Konferenzen 1942-1945, Stuttgart 1962, S. 65-69 466 Kriegstagebuch OKW III/2, S. 775 467 Goebbels-Reden, Bd. 2: 1939-1945, hg. v. Helmut Heiber, Düsseldorf 1972, S. 136 (Hervorhebungen im Original) 468 Goebbels 1993, S. 85 469 Ebenda, S. 85 f. 470 Hass/Schumann 1972, S. 179-181, hier S. 180 f. 473 Ebenda, S. 183 477 Hans Werner Neulen: Europa und das 3. Reich. Einigungsbestrebungen im deutschen Machtbereich 1939-45, München 1987, S. 106 f. und S. 108 473 Zit. nach Jacobsen 1970, S. 191-196 474 Ehrenburg 1943, S. 262 473 Pohl 2008, S. 322 476 Kriegstagebuch OKW II/2, S. 1318 477 Müller, N. 1980, S. 325 f. 478 Ehrenburg 1943, S. 262 (»When the Germans were retreating in January, they set fire to the villages. In February they started to round up the people and drive them away.«) 479 Vgl. hier im Abschnitt »Die Alliierten und die deutsche Ostgrenze im Zweiten Weltkrieg« 480 Kriegstagebuch OKW II/2, S. 1318 481 Schumann 1979, S. 75; vgl. auch Müller, H. 1980, S. 334 487 Schumann 1979, S. 352; vgl. auch Lumans 1993, S. 247 483 Gerlach 1999, S. 1093 484 Müller, H. 1980, S. 348-350 483 Gerlach 1999, S. 1097 486 Goebbels 1995 b, S. 481 487 Ministerium für Kultur der Republik Belarus: Die staatliche Gedenkstätte »Chatyn« (http:// www.khatyn.by/de/genocide/ccs/ozarichi/, Zugriff 28. 5. 2007). Zur Errichtung des Lagers sei es »entsprechend der Befehle und der Anordnungen des Oberbefehlshabers der 9. Armee Generaljosef Harze [wohl Harpe, Vf.], des Kommandeurs des 56. Panzerkorps General Friedrich Gossbach [wohl Hoßbach, Vf.] und des Kommandeurs der 35. Infanteriedivision General Georg Richter« gekommen. 488 Gerlach 1999, S. 1098; vgl. auch Pohl 2008, S. 328 f. 489 Schumann 1979, S. 81 490 Pohl 2008, S. 327 491 Ebenda 492 Milata 2007,8. 127 493 Angrick 2003, S. 699 494 Schumann 1979, S. 350 493 Angrick 2003, S. 712 496 Bernhard R. Kroener/Rolf-Dietcr Müller/Hans Umbreit: Organisation und Mobilisierung des deutschen Machtbereichs. Zweiter Halbband: Kriegsverwaltung, Wirtschaft und personelle Ressourcen 1942-1944/45, Stuttgart 1999, S. 234 und Heinemann 2003, S. 468-472, hier S. 468; vgl. auch Pinkus/Fleischhauer 1987, S. 284-288; Fleischhauer 1982, S. 317 f.; Schechtman 1946, S. 209; Kulischer 1948, S. 267 497 DVDO i/I, S. 1 (Überschrift: Evakuicrungsmaßnahmen und erste Fluchtbewegungen der ostpreußischen Bevölkerung seit August 1944) 498 Müller 1991, S. 208 499 Ebenda, S. i n ; vgl. auch Lumans 1993, S. 247-249

467

463

Anmerkungen S. 234-245 300

Schechtman 1946, S. 208-213 Eisfeld 1992, S.124 302 Vgl. Anm. 496 3 °' Goebbels 1995b, S. 450 304 Zit. nach Heinemann 2003, S. 469 303 Mühlfenzl 1981, S. 27 306 Vgl. hier den Anhang »Die Massenumsicdlungen ...« 307 Pinkus/Fleischhauer 1987, S. 301 308 Eisfeld/Herdt 1996, S. 305 309 Pinkus/Fleischhauer 1987, S. 302 und dasselbe bei Fleischhauer 1983, S. 243 3,0 Nach anderen Angaben sollen 700 000 in den Jahren 1941-44 nach Asien deportiert und 280 000 Administrativumsiedler 1945 zwangsrepatriiert worden sein, 90 000 entgingen der Zwangsrepatriierung (Reichling 1986, S. 29) 3 " Volk auf dem Weg 2006, S. 63 3,2 BdV-Blickpunkt für Aussiedler, Ausgabe Dezember 2005, S. 4 313 Aus der Internetdarstellung des BdV/ZgV »Geschichte der deutschen Vertriebenen und ihrer Heimat« (http://www.z-g-v.de/aktuelles/?id=56#russland, Zugriff 12. 2. 2008) su Rhode 1952, S. 29 313 Zentrum gegen Vertreibungen: Chronik der Vertreibungen europäischer Völker im 20. Jahrhundert (http://www.z-g-v.de/aktuelles/?id=58, Zugriff 27. 4. 2008) 3.6 Schwarzbuch der Vertreibung, S. 40 3.7 Vgl. hier den Abschnitt »Die »europäisierte« Erklärung« 318 Erzwungene Wege, S. 73 3,9 BdV-Bundesversammlung übernimmt Positionen der Landsmannschaft (April 2008), Presseerklärung der Landsmannschaft der Deutschen aus Russland (http://www.deutscheausrussland. de/presse/27.htm, Zugriff 28. 4. 2008) 320 Pressemitteilung: Stellungnahme der Landsmannschaft zum drastischen Rückgang der Spätaussiedlerzahlen (http://www.dcutscheausrussland.de/presse/05.htm, Zugriff 28. 4. 2008) 371 BdV-Bundesversammlung übernimmt Positionen der Landsmannschaft (a.a.O.) 372 BdV-Blickpunkt für Aussiedler, Ausgabe Dezember 2005, S. 12 323 Broucek 1988, S. 571 324 Ebenda 323 Ebenda, S. 571 f. 326 Jacobsen 1959, S. 324 f. 327 DVDOV,S. 8 i E 378 Der Südosten 1943, S. 204 329 Ebenda, S. 208 330 Ebenda, S. 197 333 Ebenda, S. 199 332 Ebenda, S. 204 333 Hitler 1939, S. 56 334 Der Südosten 1943, S. 217 333 Eisfeld 1992, S.124 » ' D V D O I I I . S . 119 »" Ebenda, S.66E 338 Ebenda 339 Ebenda, S.75E 340 Ebenda, S. 128E 341 Für eine zusammenfassende Übersicht der unterschiedlichen Schätzungen über die Anzahl der rumäniendeutschen Waffen-SS-Männer vgl. Milata 2007, S. 214-224 342 Milata 2007, S. 261-273 343 DVDOIII,S. 122E 344 Ebenda 343 Winkler 1931, S. 229 346 D V D O I I L S . 119E 347 D V D O I I , S. 11E 301

751

752

Anmerkungen S. 245-255 348

Milata 2007, S. 123 DVDO II, S. 27E-29E 330 Ebenda, S. 35E 331 Ebenda, S. 37 E 332 Ebenda 333 Ebenda, S. 40E 334 DVDO III, S. 40E 333 DVDO II, S. 39E f. 336 Ebenda, S.41E 337 Ebenda, S.42E 338 Ebenda, S.44E 339 Ebenda 360 Ebenda 3 " DVDOV.S. 11E 362 Ebenda, S. 50E 363 Ebenda, S.74E 364 Ebenda, S. 79E 363 Ebenda, S. 80E 366 Ebenda, S. 82E 367 Ebenda, S. 82E f. 368 Ebenda, S. 62 399 Ebenda 370 Ebenda, S. 87E 371 Ebenda, S.89E 372 Broucek 1988,8.475 373 Töpperwien 2006, S. 264 374 Ebenda, S. 265 373 Ebenda, S. 274 376 Ebenda, S. 272 377 Ebenda, S. 273 378 Ebenda, S. 275 379 DVDOV.S. 143-150 380 Ebenda, S. 124 381 Ebenda, S. 104 382 Ebenda, S. 157 383 Günther 1948,8.91 f. 384 Ebenda, S. 92 383 Ebenda, S. 235 386 Ebenda, S. 282 387 Ebenda, S. 308 388 Ebenda, S. 332 389 Der Südosten 1943, S. 212 390 Hudaki983,S. 6 393 DVDOIV/2, S. 718 392 Dusan Koväc: Die »Aussiedlung« der Deutschen aus der Slowakei, in: Erzwungene Trennung 1999, S. 231-236, hier S. 232 393 DVDO IV/2.S. 739 394 Ebenda, S. 745 393 Hudak 1983, S. 101 f. (Hier werden nur Auszüge aus einem längeren Abschnitt wiedergegeben.) 396 DVDO IV/2, S. 794 397 Ebenda, S. 818 398 Hudak 1983, S. 104 399 Martin Seckendorf (Hg.): Die Okkupationspolitik des deutschen Faschismus in Jugoslawien, Griechenland, Albanien, Italien und Ungarn (1941-1945), Berlin-Heidelberg 1992, Dok. Nr. 356, S. 394 f.

349

Anmerkungen S. 255-266 6

°° Karl Hnilicka: Das Ende auf dem Balkan 1944/45. Die militärische Räumung Jugoslaviens durch die deutsche Wehrmacht, Göttingen et al. 1970, S. 67 601 Ebenda, S. 336-363 601 Ebenda, S. 341-348 to> Vgl. die zwar selbstrechtfertigendc, jedoch ausführliche Darstellung über »Kampfgebiet Banat« in Sepp Janko: Weg und Ende der deutschen Volksgruppe in Jugoslawien, Graz-Stuttgart 1983, S. 263-292 604 Vgl. hier den Anhang »Die Massenumsiedlungen ...« 6o! Völkischer Beobachter 3. I I . 1944 606 D V D O IV/2, S. 776 f. 607 Ebenda, S. 3 608 Ebenda 609 Ebenda, S. 3L 610 Ebenda, S. 31 f. '" Ebenda, S. 8 ' Der Eingliederungsstand 1958, S. 56-63 197 Zusammengestellt nach ebenda und Steinberg 1991, S. 260-262. Berücksichtigt wurden hier nur diejenigen Vertriebenen, die bis 1956 einen Antrag auf Vertriebenenausweis gestellt haben, wobei es sich um etwa 85 % der Gesamtzahl aller Vertriebenen gehandelt haben soll (Der Eingliederungsstand 1958, S. 5). 193 Berechnet nach Steinberg 1991, S. 263-265 194 Volk auf dem Weg 2006, S. 63 393 Vgl. den Abschnitt »In der Sowjetunion zwischen »Heimkehr« und »Räumung«« sowie im Anhang »Masscnumsiedlungen der Sowjetdeutschen 1941-1946« 196 Münz/Ohliger 1998, S. 145 f. 197 Reichling 1987, S. 46 (»3 340 000 in ihren Vorkriegswohngebieten zurückgeblieben«); die wesentlich niedrigeren Angaben z. B. in Vertreibungsverluste 1958, S. 46 (1,5 Millionen) oder Steinberg 1991, S. 107 (2,2 Millionen) dürfen mit unterschiedlichen Definitionen dessen, was unter den so genannten Vertreibungsgebieten zu verstehen sei, zusammenhängen. 198 Bis Ende 1948 erhielten 1 030 000 ehemalige deutsche Staatsbürger die polnische Staatsbürgerschaft, und rund 200 000 Personen weigerten sich noch 1952, die polnische Staatsbürgerschaft anzunehmen (Borodziej/Lemberg 2000, Bd. 1, S. 111)

168

Anmerkungen S. 697-701 199

»Zum I. November 1946 befanden sich nach offiziellen Angaben noch knapp 240 000 Sudetendeutsche in der Tschechoslowakei.« (Brandes 2007, S. 243) 200 DVDO II, S. 72E 201 DVDO III, S. 119E 202 Pinkus/Fleischhauer 1987,8. 318 203 Nach dem Rückzug der deutschen Wehrmacht DVDO V, S. 89E 204 Volksdeutsche am 1. 8. 1946, vgl. Gabriela Stieber: Volksdeutsche und Displaced Persons, in: Gernot Heiss/Oliver Rathkolb (Hg.): Asylland wider Willen. Flüchtlinge in Österreich im europäischen Kontext seit 1914, Wien 1995, S. 140-156, hier S. 145 (hier auch Erklärung, warum die Zahlenangaben variieren). 23,3 »Zwischen 1945 und 1950 wurden mehr als eine Million Volksdeutsche aufgenommen, wobei ca. 530 000 in Österreich geblieben sind.« (Margita Urbanek: Tschechische Flüchtlinge zwischen 1968 und der Wende 1989, in: Elizabeth Reif/Ingrid Schwarz (Hg.): Zwischen Konflikt und Annäherung. Wien, Mandelbaum 2005, S. 167-198, hier S. 168; Steinberg 1991, S. 114 gibt die Zahl 341 000 für Vertriebene an, die sich im Jahre 1950 in Österreich befunden haben sollen. 206 Scheuringer 1983, S. 24 207 Ebenda, S. 25 208 Heimatvertriebene »in Österreich und im westlichen Ausland« 1957, vgl. Bundesgesetze 1957, S. 16 209 So wurden z. B. für die Tschechoslowakei auf dem Gebiet des sog. Reichsgaus Sudetenland 91 000 Personen 1939 als Deutsche, 1950 aber als Tschechen gezählt, vgl. Maria Rhode: Der Wechseides nationalen Bekenntnisses in der Tschechoslowakei 1930-19 50 und seine Bedeutung für die Zahl der sudetendeutschen Vertreibungsopfer, in: Erzwungene Trennung 1999, S. 179200, hier S. 195 7,0 Bayerische Sozialpolitik 1984, hg. v. Bayerischen Staatsministerium für Arbeit und Sozialordnung, [München 1984], S. 231 " ' Vgl. die Homepage des BdV http://www.bund-der-vertriebenen.de/infopool/dt-minderheiten. php3 (Zugriff 8. 7. 2009) 212 Nach Overmans 1999, S. 299 (»die Toten, die Verschollenen und diejenigen unter den Kriegsgefangenen, die gestorben sind«, S. 177) 713 Ebenda, S. 177 7,4 Overmans 2008, S. 101 2,3 Milata 2007, S. 274 f. "6 Steinberg 1991, S. 125 (Hervorhebung im Original) 217 Resolution der Bundesversammlung vom 9./10. April 2005, in: Mitteilungsblatt der Sudetendeutschen Landsmannschaft, Ergänzungsblätter für das Amtsträgerhandbuch Folge 7/2005, S. 15; vgl. den Abschnitt »Im Labyrinth von Informationen und Deutungen« 218 Ther 1998, S. 65 f.; im Lager Lamsdorf sollen am 4. 10. 1945 mehr als 40 Personen erschossen worden sein (Nitschke 2003, S. 120); im Lager Potulitz und den Außenstellen des Lagers sollen 4 495 Deutsche ums Leben gekommen sein (Ther 1998, S. 66). "" I lirsch IUQ9, S. 203; nach den von Historikern als zu niedrig eingeschätzten Angaben polnischer Verwaltungsunterlagen sollen zwischen August 1945 und August 1947 in den Lagern Polens 6 140 Deutsche umgekommen sein (Borodziej/Lemberg 2000, Bd. 1, S. 98); nach älteren deutschen Angaben hätte die Zahl der in Polen und dem sowjetischen Teil von Ostpreußen in Lagern verstorbenen 29 836 betragen (siehe weiter unten). 720 Gemeinsame Deutsch-Tschechische Historikerkommission. Pressemitteilung vom 17.12.1996: Stellungnahme der Deutsch-Tschechischen Historikerkommission zu den Vertreibungsverlusten, in: Jörg K. Hoensch/Hans Lemberg (Flg.): Begegnung und Konflikt. Schlaglichter auf das Verhältnis von Tschechen, Slowaken und Deutschen 1815-1989, Essen 2002, S. 245-247; ausführlicher dazu Stanek 2005, passim und S. 325-328 221 Overmans 1999a, S. 176 222 Brandes 2007, S. 237 223 DVDOILS.72E 224 DVDO III, S. 122E 223 DVDOV,S. 13iE

Anmerkungen S. 701-710 276

Havrehed 1989,8. 355; »Die bedauerlichen tödlichen Fehlschüsse, denen deutsche Flüchtlinge zum Opfer fielen, fielen erst nach der ordnungsgemäßen Internierung der Flüchtlinge hinter dem Stacheldraht der Lager und nachdem junge unerfahrene und bewaffnete Wachposten die Bewachung übernommen hatten. [... Zwischen] September 1945 und Frühjahr 1946 wurden die inneren Verhältnisse der Lager geordnet und eine Infrastruktur errichtet.« (Havrehed 1989, S. 61 undS. 104) 227 Dieser Information entspricht auch die in der Bundesrepublik ermittelte Zahl von 80 522 Personen, die in den Lagern der Vertreibungsgebiete ums Leben gekommen sein sollen und in der die Zahl der in Dänemark verstorbenen deutschen Evakuierten nicht berücksichtigt wurde, da das Land nicht zu Vertreibungsgebieten zählt (Gesamterhebung, S. 30) 278 [ul]: Neue Zahl der Kriegstoten, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung 27. 8. 2009 229 Zusammengestellt nach Winkler 1931 und Gesamterhebung, S. 30, 55, 353,405,471 und 571 230 Nach Winkler I 9 3 I , S . 64 f. 731 Ebenda 232 Deutschsprachige Bevölkerung nach ebenda 233 Berechnet nach Winkler 1931, S. 93 (»Einheimische Bevölkerung«); die beiden östlichen Teile der einstigen Tschechoslowakei, Slowakei und Karpathorußland, wurden dem Gebiet Südosteuropa zugeordnet (Gesamterhebung, S. 567) 234 Slowakei, Ungarn, Rumänien, Jugoslawien, Karpaten-Ukraine [sie] (Gesamterhebung, S. 567 f.), berechnet nach Gebietsgliederung der Gesamterhebung und Winkler 1931 233 Unter dem Begriff »Verschleppung« sei gemeint: »Meldungen über Personen, die bei der Vertreibung verschleppt wurden und hierbei den Tod fanden«, wobei es sich um Angaben über die in die UdSSR deportierten Deutschen handelt (Gesamterhebung, S. 37). 236 Personen, die in Lagern oder auch Gefängnissen der Vertreibungsgebiete umgekommen sind (Gesamterhebung, S. 37) 237 Berechnet nach der vorherigen Tabelle und Gesamterhebung, S. 30 238 Gesamterhebung, S. 452 239 Vgl. hier den Abschnitt »Breslau: Aufzeichnungen aus einer gemarterten Stadt« 240 Zu der Problematik dieser Zählung vgl. am Beispiel der Tschechoslowakei Kucera 1994 241 Hirsch 1999, S. 203 247 Nach anderen oben zitierten Forschungen solle es sich um 13-15 000 gehandelt haben (Overmans 1999a, S. 177). 743 Zeidler 1996, S. 145 244 Püschel 1948, S. 77 243 Reichling 1958, S. 15 f. 246 Kaller 1945, S. 34 247 Vgl. hier den Abschnitt »Deutschland 1945-1949: Zwischen Mitleid und Anklage« 248 Rosenberg 1955, S. 291; vgl. hier den Abschnitt »Wie der Zeitzeuge Alfred Rosenberg über »Heimkehr«, Holocaust und Vertreibung berichtete« 249 Neuhoff 1977, S. 16 2S ° Für das Jahr 1946 vgl. Bundesgesetze 1957, S. 14 und für die Jahre 1950 und 1986 vgl. Reichling 1986, S. 59 231 Bundesgesetze 1957, S. 19 f. 232 Rcichling 1986, S. 57 f. 233 Nellner 1959, S. 84 234 Reichling 1986, S. 55 f. 233 Neuhoff 1977, S. 16 736 Benz 2006, S. 137 237 Reichling 1986, S. 56 238 [vh]: Vertriebenen-Status künftig nicht mehr vererbbar, in: Frankfurter Rundschau 7. 5. 1971 739 Peter Christian Lutz (Hg.): DDR Handbuch, hg. v. Bundesministerium für innerdeutsche Beziehungen, Köln 1975, S. 147; nach DDR-Angaben soll es sich zum 19. 4. 1949 um 4 312 288 Vertriebene gehandelt haben (Wille/Hoffmann/Mcinicke 1993, S. 19, vgl. auch Schwanz 2008, S. 626 f. und S. 648 f.). 260 Zit. nach Goguel 1959, S. 563 261 Ebenda, S. 564

Anmerkungen S. 711-724 262

Vertreibungsverluste 1958, S. [5] Ebenda, S. 40 264 Ebenda, S. 37 und S. 44 26s Im Anhang wurden Nordschlcswig, Südtirol und Bulgarien behandelt. 266 Weger 2008, S. 587 267 Vertreibungsverluste 1958, S. 315-364 268 Zusammenfassend in »Bevölkerungsbilanz für deutsche Siedlungsgebiete im Ausland« (Vertreibungsverluste 1958, S. 45) »69 Vertreibungsverluste 1958, S. 355 270 Ebenda 271 DVDO IV/I, S. 135 777 Sladek 1988 273 Ausführlich zur Geschichte dieser Legende vgl. Haar 2007 274 Luza 1964, S. 300 273 Ebenda, S. 292-299 274 Vertreibungsverluste 1958 277 Stanislaw Schimitzek: Zum Thema der sogenannten Vertreibungsverluste, in: Blätter für deutsche und internationale Politik 12, 1967, Heft 3, S. 259-265, hier S. 265 278 Vgl. den Abschnitt »Über die misslungene Dokumentation der Vertreibung« 279 DVDOV, S. 1 iE (nach Volkszählung 1931) 280 £ ) e r g r o ß e Ploetz 33. Aufl., Freiburg 1998, S. 802 »81 Vertreibunsgsverluste 1958, S. 433, S. 435, S. 446 282 DVDOV,S. 132E 283 Ebenda, S. 119E-132E, hier S. 131E »84 Vertreibungsverluste 1958, S. 444 283 Ebenda, S. 435 286 Flucht, Vertreibung, Integration 2005, S. 78 287 Die Ostdeutschen Landsmannschaften 1951, S. 28 788 Erika Steinbach am Tag der Heimat 2008, hier zit. nach Dokumentation Tag der Heimat 2008. Erinnern und Verstehen. Festakt des Bundes der Vertriebenen in Berlin 6. September 2008, S. 5-11, hier S. 7 f. (http://www.bund-der-vertriebenen.de/files/tdh2008.pdf, Zugriff 22.1.2010) 289 Vertreibungsverluste 1958, S. 435 290 Leitfaden 2005, S. 32 (auch in Blumenwitz 2002, S. 63; im Orig. anders formatiert) 291 Leidensweg 297 Blumenwitz 2002, S. 48 f. 293 Vgl. hier den Abschnitt »Die Vertreibung als Zahlenlabyrinth« 294 »Haar«-sträubende Zahlenklitterung des Historikers Ingo Haar, BdV Pressemitteilung vom 17. 11. 2006 (http://www.bund-der-vertriebenen.de/presse/index.php3?id=496, Zugriff 5. 3. 2008) 19S Hans Lukaschek: Zum Geleit, in: Statistisches Taschenbuch 1953, S. III t96 Bundesgesetze 1957, S. 18 (Flervorhebung im Original) 297 Vertreibungsverluste 1958, S. 9 298 Ebenda, S. 38 und S. 46 299 Ebenda, S. 10 300 Zusammengestellt und berechnet nach Reichling 1958, S. 26 301 Reichling 1958, S. 26 f. 302 Reichling 1986, S. 36 3 3 ° Dr. Kurt Horstmann, Abteilungspräsident a.D. im Statistischen Bundesamt im Vorwort, in: Reichling 1986, S. 8 304 Reichling 1986, S. 21 303 D V D O I / i . S . 158EL so« B er i_bt 1974; zur dessen Geschichte vgl. Beer 2005 und hier den Abschnitt »Die Vertreibung als Zahlenlabyrinth« 307 Bericht 1974, S. 53 f. 308 Ebenda, S. 54 309 Gesamterhebung, S. 30 261

8o6

Anmerkungen S. 724-726 3,0

Ingo Haar: Die demographische Konstruktion der »Vertreibungsverluste« - Forschungsstand, Probleme, Perspektiven, in: Historie. Jahrbuch des Zentrums für Historische Forschung der Polnischen Akademie der Wissenschaften Folge 1, 2007/2008, S. 108-120, hier S. 111 3 " Gesamterhebung, S. 30 312 Narben bleiben 2005, S. 12 313 Benz 1992, S. 381 3,4 Overmans 1999a, S. 169 3,3 Overmans 1994 316 Sichtbares Zeichen - 50. Jahrestag BdV: Anlässlich der jüngsten Äußerungen Erika Steinbachs zum Sichtbaren Zeichen erklärt die stellvertretende Vorsitzende der SPD-Bundestagsfraktion Angelica Schwall-Düren, 22. Oktober 2007 (http://www.spdfraktion.de/cnt/rs/rs_dok/o„42l98,00.html, Zugriff 13. 6. 2008) 317 Overmans 2008, S. 102

Verzeichnis der abgekürzt zitierten Literatur Dieses Verzeichnis enthält keine umfassende Bibliographie der verwendeten Literatur, auch nicht aller hier zitierten Werke. Es wurde erstellt, um die Anmerkungen übersichtlich zu gestalten, und es nennt lediglich die von den Verfassern mehrfach zitierten Veröffentlichungen sowie solche Texte, die sie nach ihrem Verständnis zur weiterführenden Lektüre empfehlen würden. 10 Jahre nach der Vertreibung -*• 10 Jahre nach der Vertreibung. Äußerungen des Inund Auslandes und eine Zeittafel, hg. v. Bundesministerium für Vertriebenen, Flüchtlinge und Kriegsgeschädigte, Bonn 1956 1945 - Das Jahr der endgültigen Niederlage 198$ -» Gerhard Förster/Richard Lakowski (Hg.): 1945 - Das Jahr der endgültigen Niederlage der faschistischen Wehrmacht. Dokumente, Berlin 1985 Adenauer 1949 -* Konrad Adenauer: Erklärung der Bundesregierung, in: Deutscher Bundestag, 20. 9. 1949, Bd. 1, S. 22-30 Adenauer 1975 —* Konrad Adenauer: Reden 1917-1967. Eine Auswahl, hg. v. HansPeter Schwarz, Stuttgart 1975 Ahonen 2003 -» Pertti Ahonen: After the Expulsion. West Germany and Eastern Europe 1945-1990, Oxford 2003 Ahrens 1983 -» Wilfried Ahrens: Verbrechen an Deutschen. Dokumente der Vertreibung, Arget 1984 (1. Aufl. 1983) Alberti 2004 —* Michael Alberti: »Exerzierplatz des Nationalsozialismus«. Der Reichsgau Wartheland 1939-1941, in: Klaus-Michael Mallmann/Bogdan Musial (Hg.): Genesis des Genozids: Polen 1939-1941, Darmstadt 2004, S. 111-126 Altmann 2008 —* Il'ja Al'tmann: Opfer des Hasses. Der Holocaust in der UdSSR 19411945, Glichen 2008 Aly 1993 -* Götz Aly: Jahrhundert der Vertreibung. Vaclav Havel, der Bürgerkrieg in Bosnien und die Sudetendeutschen, in: Wochenpost 29. 4. 1993 Aly 1995 -» Götz Aly: »Endlösung«. Völkerverschiebung und der Mord an den europäischen Juden, Frankfurt am Main 1995 Aly 2001 -» Götz Aly: Dafür wird die Welt büßen. Ethnische »Säuberung«, ein europäischer Irrweg, in: Götz Aly: Rasse und Klasse. Nachforschungen zum deutschen Wesen, Frankfurt am Main 2003, S. 28-41 Aly 200s —* Götz Aly: Auschwitz und die Politik der Vertreibung, in: Zwangsmigration in Europa 2005, S. 35~44 Angrick 2003 -* Andrej Angrick: Besatzungspolitik und Massenmord. Die Einsatzgruppe D in der südlichen Sowjetunion 1941-1943, Hamburg 2003 Arendes/Wolfrum/Zedler 2006 -» Cord Arendes/Edgar Wolfrum/Jörg Zedier (Hg.): Terror nach innen: Verbrechen am Ende des Zweiten Weltkrieges, Göttingen 2006 Assmann 2006 —* Aleida Assmann: Der lange Schatten der Vergangenheit. Erinnerungskultur und Geschichtspolitik, München 2006 Aufbruch 1977 -» Aufbruch und Neubeginn. Heimatbuch der Galiziendeutschen Teil II, hg. v.Julius Krämer, Stuttgart-Bad Canstatt 1977 Auslandsdeutschtum 1926 —» Auslandsdeutschtum und Heimat. Eine Zusammenstellung, hg. v. Bund der Auslandsdeutschen e. V, Berlin 1926 Baeumler 1943 —* Alfred Baeumler: Alfred Rosenberg und der Mythus des 20. Jahrhunderts, München 1943

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Verzeichnis der abgekürzt zitierten Literatur Becher 1979 -» Walter Becher: Reden zum Sudetendeutschen Tag 1968-1979, München 1979 Becher 1990 -* Walter Becher: Zeitzeuge. Ein Lebensbericht, München 1990 Beer 1998 —* Mathias Beer: Im Spannungsfeld von Politik und Zeitgeschichte. Das Großforschungsprojekt »Dokumentation der Vertreibung der Deutschen aus OstMitteleuropa«, in: Vicrteljahrshefte für Zeitgeschichte 46/3, 1998, S. 345-389 Beer 2002 —* Umsiedlung, Flucht und Vertreibung der Deutschen als internationales Problem. Zur Geschichte eines europäischen Irrwegs, hg. v. Haus der Heimat des Landes Baden-Württemberg im Auftrag des Ministeriums für Kultus, Jugend und Sport Baden-Württemberg. Konzeption, wissenschaftliche Leitung und Bearbeitung: Dr. Mathias Beer, Stuttgart 2002 Beer 2004 —* Mathias Beer: Umsiedlung, Vernichtung, Vertreibung. Nationale Purifizierung in Europa während und am Ende des Zweiten Weltkriegs, in: Auf dem Weg zum ethnisch reinen Nationalstaat? Europa in Geschichte und Gegenwart, hg. v. Mathias Beer, Tübingen 2004, S. 119-144 Beer 2005 -» Mathias Beer: Verschlusssache, Raubdruck, autorisierte Fassung. Aspekte der politischen Auseinandersetzung mit Flucht und Vertreibung in der Bundesrepublik Deutschland (1949-1989), in: Diktatur - Krieg - Vertreibung: Erinnerungskulturen in Tschechien, der Slowakei und Deutschland seit 1945. Für die Deutsch-Tschechische und Deutsch-Slowakische Historikerkommission hg. v. Christoph Cornelißen et al., Essen 2005, S. 369-401 Benz 198s -* Wolfgang Benz (Hg.): Die Vertreibung der Deutschen aus dem Osten. Ursachen, Ereignisse, Folgen, Frankfurt am Main 1985 Benz 1991 -» Wolfgang Benz (Hg.): Dimension des Völkermords. Die Zahl der jüdischen Opfer des Nationalsozialismus, München 1991 Benz 1992 -» Wolfgang Benz: Fremde in der Heimat: Flucht - Vertreibung - Integration, in: Klaus J. Bade (Hg.): Deutsche im Ausland, Fremde in Deutschland. Migration in Geschichte und Gegenwart, München 1992, S. 373-386 Benz 2004 -* Wolfgang Benz: Flucht und Vertreibung aus dem Osten: Deutsche Erinnerungen zwischen Integration und Interessenpolitik, in: Ders. (Hg.): Wann ziehen wir endlich den Schlußstrich? Von der Notwendigkeit öffentlicher Erinnerung in Deutschland, Polen und Tschechien, Berlin 2004, S. 9-27 Benz 2006 -» Wolfgang Benz: Ausgrenzung, Vertreibung, Völkermord. Genozid im 20. Jahrhundert, München 2006 Bericht 1953 -* Vertriebene, Flüchtlinge, Kriegsgefangene, heimatlose Ausländer 19491952. Bericht des Bundesministers für Vertriebene, Bonn 1953 Bericht 1974 -* Vertreibung und Vertreibungsverbrechen 1945-1948. Bericht des Bundesarchivs vom 28. Mai 1974. Archivalien und ausgewählte Erlebnisberichte, hg. v. Kulturstiftung der deutschen Vertriebenen, Bonn 1989 Bethke 1993 -» Susann Bethke: Der Weg der Deutschen aus der Tschechoslowakei in die Sowjetische Besatzungszone Deutschlands (1945/46), in: Wille 1993, S. 5-27 Bleyer et al. 1975 -* Wolfgang Bleyer/Karl Drechsler/Gerhard Förster/Gerhart Hass: Deutschland von 1939 bis 1945 (Deutschland während des zweiten Weltkrieges), Berlin 1975 Blue Book 1939^* Documents Concerning German-Polish Relations and tbe Outbreak of Hostilities between Great Britain and Germany on September 3, 1939. Presented by the Secretary of State for Foreign Affairs to Parliament by Command of His Majesty, London 1939 Blumenwitz 2002 -» Dieter Blumenwitz: Rechtsgutachten über die Verbrechen an den Deutschen in Jugoslawien 1944-1948, München 2002

Verzeichnis der abgekürzt zitierten Literatur Boehm 1936 -» Max Hildebert Boehm: Der deutsche Osten und das Reich, in: Der deutsche Osten 1936, S. I-18 Bohmann 195 5 -* Alfred Bohmann: Die Ausweisung der Sudetendeutschen dargestellt am Beispiel der Stadt- und Landkreise Aussig, Marburg 1955 Bohmann 1959 —* Alfred Bohmann: Das Sudetendeutschtum in Zahlen. Handbuch über den Bestand und die Entwicklung der sudetendeutschen Volksgruppe in den Jahren von 1910 bis 1950. Die kulturellen, soziologischen und wirtschaftlichen Verhältnisse im Spiegel der Statistik, München 1959 Böhmen und Mähren 1998 -» Joachim Bahlke/Winfried Eberhard/Miloslav Polivka (Hg.): Böhmen und Mähren, Stuttgart 1998 Borodziej/Lemberg 2000 -» Wtodzimierz Borodziej/Hans Lemberg (Hg.): »Unsere Heimat ist uns ein fremdes Land geworden ...«. Die Deutschen östlich von Oder und Neißei945-I950. Dokumente aus polnischen Archiven, 4 Bde., Marburg 2000-2004 Borodziej/Ziemer 2000 -» Wlodimierz Borodziej/Klaus Ziemer (Hg.): Deutsch-polnische Beziehungen. Eine Einführung, Osnabrück 2000 Brandes 2005 -» Detlef Brandes: Vertreibung und Zwangsaussiedlung der deutschen Bevölkerung aus der Tschechoslowakei, in: Flucht, Vertreibung, Integration 2005, S. 63-73 Brandes 2005a -» Detlef Brandes: Der Weg zur Vertreibung 1938-1945. Pläne und Entscheidungen zum »Transfer« der Deutschen aus der Tschechoslowakei und aus Polen, München 2005 (= 2. überarbeitete und erweiterte Auflage, I. Aufl. 2001) Brandes 2006 -» Detlef Brandes: Die Vertreibung und Aussiedlung der Deutschen aus Polen und der Tschechoslowakei. Pläne, Entscheidungen, Durchführung 1938-1947, in: Ulf Brunnbauer/Michael G. Esch/Holm Sundhaussen (Hg.): Definitionsmacht, Utopie, Vergeltung. »Ethnische Säuberungen« im östlichen Europa des 20. Jahrhunderts, Berlin 2006, S. 77-95 Brandes 2007 —» Detlef Brandes: 1945: Die Vertreibung und Zwangsumsiedlung der Deutschen aus der Tschechoslowakei, in: Detlef Brandes/Dusan Koväc/Jifi Pesek (Hg.): Wendepunkte in den Beziehungen zwischen Deutschen, Tschechen und Slowaken 1848-1989, Essen 2007, S. 223-248 Broszat 1961 -» Martin Broszat: Nationalsozialistische Polenpolitik 1939-1945, Stuttgart 1961 Broucek 1988 -» Peter Broucek: Ein General im Zwielicht. Die Erinnerungen Edmund Glaises von Horstenau, Bd. 3: Deutscher Bevollmächtigter General in Kroatien und Zeuge des Untergangs des »Tausendjährigen Reiches«, Wien-Köln-Graz 1988 Brown 2006 -» Martin David Brown: Dealing with Democrats. The British Foreign Office and the Czechoslovak Emigres in Great Britain, 1939 to 1945, Frankfurt am Main et al. 2006 Brügel 1974 -» Johann Wolfgang Brügel: Tschechen und Deutsche 1939-1946, München 1974 Brumlik 2005 —» Micha Brumlik: Wer Sturm sät. Die Vertreibung der Deutschen, Berlin 2005 Buchsweiler 1984 -* Meir Buchsweiler: Volksdeutsche in der Ukraine am Vorabend und Beginn des Zweiten Weltkfriegs - ein Fall doppelter Loyalität? Gerungen 1984 Bundesgesetze 1957 —» Bundesgesetze und Leistungen für die Geschädigten des Krieges und der Kriegsfolgen, hg. v. Bundesminister für Vertriebene, Flüchtlinge und Kriegsgeschädigte, Bonn 1957 Chiodo 1993 -* Marco Picone Chiodo: Sterben und Vertreibung der Deutschen im Osten 1944-1949. Die Vorgänge aus der Sicht des Auslands, Frankfurt/M.-Berlin 1993

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Verzeichnis der abgekürzt zitierten Literatur Churchill 1985 -» Winston S. Churchill: Der zweite Weltkrieg. Mit einem Epilog über die Nachkriegsjahre, Bern-München-Wien 1985 Czaja 1996 —* Herbert Czaja: Unterwegs zum kleinsten Deutschland? Mangel an Solidarität mit den Vertriebenen. Marginalien zu 50 Jahren Ostpolitik, Frankfurt am Main 1996 Dahlmann 1994 -* Dittmar Dahlmann: »Operation erfolgreich durchgeführt«. Die Deportation der Wolgadeutschen 1941, in: Streibel 1994, S. 201-226 Dahlmann/Hirschfeld 1999 -» Dittmar Dahlmann/Gerhard Hirschfeld (Hg.): Lager, Zwangsarbeit, Vertreibung und Deportation. Dimension der Massenverbrechen in der Sowjetunion und in Deutschland 1933 bis 1945, Essen 1999 Das braune Netz 1935 -* Das braune Netz. Wie Hitlers Agenten im Auslande arbeiten und den Krieg vorbereiten, Paris 1935 Das deutsche Flüchtlingsproblem 1950—* Das deutsche Flüchtlingsproblem. Sonderheft der Zeitschrift für Raumforschung, Bielefeld 1950 Das Land der Toten 1947 -* Das Land der Toten. Eine Studie über die Ausweisung aus Ost-Deutschland. Verantwortlich: Geistl. Rat Georg Goebel, vervielfältigtes Ms., Lippstadt [1947] Das Land der Toten 1948 -» Das Land der Toten. Menschen ohne Menschenrechte. Studien der Deportation aus dem Osten Deutschlands, mit einem Vorwort von Dr. Friedrich Holzapfel, Detmold [1948] de Jong 1959 —* Louis de Jong: Die deutsche Fünfte Kolonne im Zweiten Weltkrieg, Stuttgart 1959 de Jong 1967 -» Louis de Jong: Zwischen Kollaboration und Resistance, in: Andreas Hillgruber (Hg.): Probleme des Zweiten Weltkrieges, Köln-Berlin 1967, S. 245-265 (urpr. 1957) de Vries 1951 -» Axel de Vries: Die Ostdeutschen Landsmannschaften, in: Die Ostdeutschen Landsmannschaften 195i,S. 5 f. de Zayas 1986 —* Alfred-Maurice de Zayas: Anmerkungen zur Vertreibung der Deutschen aus dem Osten, Berlin et al. 1986 de Zayas 1996 ~» Alfred M. de Zayas: Die Anglo-Amerikaner und die Vertreibung der Deutschen, Berlin 1996 (vom Autor erw. und aktualisierte 9. Aufl. der englischen Originalausgabe Nemesis at Potsdam. The Expulsion of the Germans from the East, London 1977) de Zayas 2005 -» Alfred de Zayas: Die Nemesis von Potsdam. Die Anglo-Amerikaner und die Vertreibung der Deutschen, München 2005 (Überarbeitete und erweiterte Neuflage der englischen Originalausgabe Nemesis at Potsdam. The Expulsion of the Germans from the East, London 1977 und der deutschen Ausgabe de Zayas 1996) de Zayas 2006^* Alfred M. de Zayas: Die deutschen Vertriebenen. Keine Täter - sondern Opfer. Hintergrunde, Tatsachen, Folgen, [ARES Verlag, Graz] 2006 (eine aktualisierte Neuauflage des Buches de Zayas 1986, mit einem Vorwort von Erika Steinbach) Defty 2004 -* Andrew Defty: Britain, America and Anti-Communist Propaganda 1945-53. The Information Research Department, London-New York 2004 Democratic Postwar Reconstruction 1943 ~* Democratic Postwar Reconstruction in Central Eastern Europe. By a Group of European and American Experts, Yellow Springs, Ohio 1943 Der deutsche Osten 1936 -* Der deutsche Osten. Seine Geschichte, sein Wesen und seine Aufgabe, hg. v. Karl C. Thalheim/Arnold Hillcn Ziegfeld, Berlin 1936 Der Eingliederungsstand 1958 -* Der Eingliederungsstand von Vertriebenen und Sowjetzoncnflüchtlingen, hg. v. Statistischen Bundesamt Wiesbaden, Stuttgart 1958, S. 56-63 (Statistik der Bundesrepublik Deutschland Band 211)

Verzeichnis der abgekürzt zitierten Literatur Der Menscheneinsatz 1940 -» Der Menscheneinsatz. Grundsätze, Anordnungen und Richtlinien, hg. v. der Hauptabteilung I des Reichskommissariats für die Festigung des deutschen Volkstums, [o. O. Gedruckt in der Rcichsdruckerei] 1940 Der Südosten 1943 -* Der Südosten. Allgemeinbildender Sonderlehrgang Südosteuropa, Breslau 1943 (48- Sammelband der Schriftenreihe »Soldatenbriefe zur Berufsförderung«) Der Tod sprach polnisch 1999 -* Der Tod sprach polnisch: Dokumente polnischer Grausamkeiten an Deutschen 1919-1949, Kiel 1999 Der Treck 1943 —» Der Treck der Volksdeutschen aus Wolhynien, Galizien und dem Narew-Gebiet. Mit einem Geleitwort von SS-Obergruppenführer Werner Lorenz und mit einer Einführung von Wilfrid Bade, Berlin-Amsterdam-Prag-Wien 1943 Der Weg in die Katastrophe 1994 -* Detlef Brandes/Vaclav Kural (Hg.): Der Weg in die Katastrophe. Deutsch-tschechoslowakische Beziehungen 1938-1947, Essen 1994 Deutsche Politik 1997 -» Deutsche Politik im »Protektorat Böhmen und Mähren« unter Reinhard Heydrich 1941-1942. Eine Dokumentation, hg. v. Miroslav Kärny/ Jaroslava Milotovä/Margita Kärnä, Berlin 1997 Deutsche Volksgruppen 1941 -» Deutsche Volksgruppen aus dem Osten kehren heim ins Vaterland. Von SS-Hauptsturmführer K.[urt] Lück, hg. v. Oberkommando der Wehrmacht nur für den Gebrauch innerhalb der Wehrmacht, o. O 1941 Deutscher 1980 -»Isaac Deutscher: Reportagen aus Nachkriegsdeutschland, Hamburg 1980 Deutscher Bundestag —» Verhandlungen des Deutschen Bundestages. Stenographische Berichte, Bonn 1949 ff. Deutscher Osten 1942 -* Deutscher Osten - Land der Zukunft, hg. v. Professor Heinrich Hoffmann, gestaltet von A. R. Marsani, Reichsminister Dr. Goebbels schrieb das Vorwort, München 1942 Deutschsprachige Minderheiten 2007 —* Deutschsprachige Minderheiten 1945. Ein europäischer Vergleich, hg. v. Manfred Kittel/Horst Möller/Jiri Pesek/Oldfich Tüma, München 2007 Die Betreuung 1956 —» Die Betreuung der Vertriebenen, Flüchtlinge, Zugewanderten, Evakuierten, Kriegsgeschädigten, heimatlosen Ausländer, ausländischer politischer Flüchtlinge, rückgekehrten Personen, Auswanderer durch das Bundesministerium für Vertriebene, Flüchtlinge und Kriegsgeschädigte, [Bonn] 1956 Die deutschen Vertreibungsverluste siehe Vertreibungsverluste 1958 Die Flucht 2002 -» Stefan Aust/Stephan Burgdorff (Hg.): Die Flucht. Über die Vertreibung der Deutschen aus dem Osten, Stuttgart-München 2002 (um mehrere Beiträge erweiterter Nachdruck der vierteiligen SPIEGEL-Serie über Flucht und Vertreibung der Deutschen aus dem Osten aus dem Jahre 2002: Der Spiegel 13/2002 v. 25. 3. 2002, S. 36-64; 14/2002 v. 30. 3. 2002, S. 58-73; 15/2002 v. 8. 4. 2002, S. 56-74; 16/2002 v. 15.4. 2002, S. 62-75) Die Ostdeutschen Landsmannschaften 1951 -* Die Ostdeutschen Landsmannschaften. Vom landsmannschaftlichen Gedanken, Göttingen [1951] Die Räumung 1993 ~* Joachim Rogall (Hg.): Die Räumung des »Reichsgau Wartheland« vom 16. bis 26. Januar 1945 im Spiegel amtlicher Berichte, Sigmaringen 1993 Die UdSSR und die deutsche Frage 2004 -» Die UdSSR und die deutsche Frage 19411948. Dokumente aus dem Archiv für Außenpolitik der Russischen Föderation, Bd. 1: 22. Juni 1941 bis 8. Mai 1945; Bd. 2: 9. Mai 1945 bis 3. Oktober 1946, hg. v. Jochen P. Laufer/Georgij P Kynin unter Mitarbeit von Viktor Knoll, Berlin 2004 Die Vertriebenen 1955 -* Die Vertriebenen und Flüchtlinge in der Bundesrepublik Deutschland in den Jahren 1946 bis 1953, hg. v. Statistischen Bundesamt Wiesbaden, Stuttgart-Köln 1955 (Statistik der Bundesrepublik Deutschland 114)

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Verzeichnis der abgekürzt zitierten Literatur Die Vertriebenen in Westdeutschland -* Die Vertriebenen in Westdeutschland. Ihre Eingliederung und ihr Einfluss auf Gesellschaft, Wirtschaft, Politik und Geistesleben, hg. v. Eugen Lembcrg/Friedrich Edding in Verbindung mit Max Hildebert Boehm/ Karl Heinz Gehrmann/Alfred Karasek-Langer in drei Bänden, Kiel 1959 Dokumente 1940/1995 -* Dokumente polnischer Grausamkeiten. Verbrechen an Deutschen 1919-1939 nach amtlichen Quellen, Kiel 1995 (Gekürzter Nachdruck des 1940 in Berlin erschienenen Buches »Dokumente polnischer Grausamkeit. Im Auftrage des Auswärtigen Amtes auf Grund urkundlichen Beweismaterials zusammengestellt, bearb. u. hg. v. der deutschen Informationsstelle«) Dokumente 1984 -»Dokumente zur Deutschlandpolitik. I. Reihe/Band 1: 3. September 1939 bis 31. Dezember 1941 Britische Deutschlandpolitik, bearb. v. Rainer A. Blasius, hg. v. Bundesministerium für innerdeutsche Beziehungen, Frankfurt am Main 1984 Dokumente 1992 -* Dokumente zur Deutschlandpolitik, II.Reihe/Band I: Die Konferenz von Potsdam, Dritter Drittelband, bearb. v. Gisela Biewer, hg. v. Bundesminister des Innern, Kriftel 1992 Dokumente 2003 -* Dokumente zur Deutschlandpolitik. I. Reihe/Band 5, Zweiter Halbband: Europäische Beratende Kommission 15. Dezember 1943 bis 31. August 1945, bearb. v. Herbert Elzer, hg. v. Bundesministerium des Inneren und vom Bundesarchiv, München 2003 DVDO —» Dokumentation der Vertreibung der Deutschen aus Ost-Mitteleuropa. In Verbindung mit Werner Conze, Adolf Diestelkamp, Rudolf Laun, Peter Rassow und Hans Rothfels bearb. v. Theodor Schieder, hg. v. Bundesministerium für Vertriebene, Flüchtlinge und Kriegsgeschädigte. 5 Teile in 8 Bänden, 3 Beihefte und Register, Bonn I 953 _ [ I 962]; für die genaue bibliographische Erfassung der ersten Auflage vgl. Beer 1998, S. 345; hier zit. nach Dokumentation der Vertreibung der Deutschen aus OstMitteleuropa, 8 Bde., Deutscher Taschenbuch Verlag München 2004 (Im Text unveränderter Nachdruck) Ebbinghaus/Roth 1992 -» Vorläufer des »Generalplans Ost«. Eine Dokumentation über Theodor Schieders Polendenkschrift vom 7. Oktober 1939. Eingeleitet und Kommentiert von Angelika Ebbinghaus und Karl Heinz Roth, in: 1999. Zeitschrift für Sozialgeschichte des 20. und 21. Jahrhunderts 7, 1992, Heft 2, S. 62-94 Echternkamp 2006 -» Jörg Echternkamp: Kriegsschauplatz Deutschland 1945. Leben in Angst - Hoffnung auf Frieden: Feldpost aus der Heimat und von der Front, hg. v. Militärgeschichtlichen Forschungsamt, Paderborn et al. 2006 Ehrenburg 1943 —»Ilya Ehrenburg: Russiaat War. Withan IntroductionbyJ. B. Priestley, London 1943 Eibicht 1995 -* Rolf-Josef Eibicht (Hg.): 50 Jahre Vertreibung. Der Völkermord an den Deutschen. Ostdeutschland - Sudetenland, Rückgabe statt Verzicht, Tübingen 1995 Eibicht/Hipp 2000 -* Rolf-Josef Eibicht/Anne Hipp: Der Vertreibungs-Holocaust. Politik zur Wiedergutmachung eines Jahrtausendverbrechens, Riesa 2000 Eisfeld 1992 -* Alfred Eisfeld: Die Rußlanddeutschen. Mit Beiträgen von Detlev [sie] Brandes und Wilhelm Kahle, München 1992 Eisfeld/Herdt 1996^ Alfred Eisfeld/Victor Herdt (Hg.): Deportation, Sondersiedlung, Arbeitsarmee. Deutsche in der Sowjetunion 1941 bis 1956, Köln 1996 Engelhardt-Kyffhäuser 1940 -» Otto Engelhardt-Kyffhäuser: Das Buch vom großen Treck. Mit einem Geleitwort von SS Obergruppenführer Lorenz, Berlin 1940 Erklärungen zur Deutschlandpolitik -» Erklärungen zur Deutschlandpolitik. Eine Dokumentation von Stellungnahmen, Reden und Entschließungen des Bundes der Vertriebenen - Vereinigte Landsmannschaften und Landesverbände. Teil I: 1949-1972,

Verzeichnis der abgekürzt zitierten Literatur bearb. v. Werner Blumenthal/Bardo Faßbender, Bonn 1984; Teil II: 1973-1978, bearb. v. Werner Blumenthal, Bonn 1986; Teil III: 1979-1986, bearb. v. Werner Blumenthal, Bonn 1987 Erzwungene Trennung 1999 —» Detlef Brandes/Edita Ivanickovä/Jifi Pesek (Hg.): Erzwungene Trennung. Vertreibung und Aussiedlung in und aus der Tschechoslowakei 1938-1947 im Vergleich mit Polen, Ungarn und Jugoslawien, Essen 1999 Erzwungene Wege -» Erzwungene Wege. Flucht und Vertreibung im Europa des 20. Jahrhunderts. Eine Ausstellung der Stiftung Zentrum gegen Vertreibungen, Katalog, [Berlin 2006] Fahlbusch 1999 -» Michael Fahlbusch: Wissenschaft im Dienst der nationalsozialistischen Politik? Die »Volksdeutschen Forschungsgemeinschaften« von 1931-1945, Bochum 1999 Faulenbach 2005 -» Bernd Faulenbach: Vertreibungen - Ein europäisches Thema, in: Flucht, Vertreibung, Integration 2005, S. 189-195 Fielitz 2000 -* Wilhelm Fielitz: Das Stereotyp des Wolhyniendeutschen Umsiedlers. Popularisierungen zwischen Sprachinselforschung und nationalsozialistischer Propaganda, Marburg 2000 Fisch 1997 -* Bernhard Fisch: Nemmersdorf, Oktober 1944. Was in Ostpreußen tatsächlich geschah. Mit einem Nachwort von Ralph Giordano und einem Vorwort von Wolfgang Wünsche, Berlin 1997 Fisch 1999 —* Bernhard Fisch: Was haben die Augenzeugen wirklich gesehen? Erfahrungsbericht über die Quellen zu den Ereignissen im ostpreußischen Nemmersdorf am 21. und 22. Oktober 1944, in: Bulletin für Faschismus- und Weltkriegsforschung 1999/12, S. 3 1 - 65 Fisch 2001 —* Bernhard Fisch: Die deutschen Vertriebenen 1990-1999: Eine Innenansicht, Jena-Plön-Quedlingburg 2001 Fisch 2003 -» Nemmersdorf 1944-nach wie vor ungeklärt, in: Gerd R. Ueberschär (Hg.): Orte des Grauens. Verbrechen im Zweiten Weltkrieg, Darmstadt 2003, S. 155-167 Fisch 2004 -» Bernhard Fisch: Nemmersdorf im Oktober 1944, in: Rotarmisten 2004, S. 287-304 Fischer 2003 -» »Was haben wir uns angetan?« Ein ZEIT-Interview mit Außenminister Joschka Fischer über ein Zentrum gegen Vertreibungen und über das Geschichtsbild der Deutschen, in: Die Zeit 28. 8. 2003 Fittbogen 1924 -* Gottfried Fittbogen: Was jeder Deutsche vom Grenz- und AuslandDeutschtum wissen muß, München-Berlin 1924 Fläche und Bevölkerung 1946 -* Fläche und Bevölkerung der Besatzungszonen in Deutschland. Stand 29. Oktober 1946, in: Statistisches Jahrbuch deutscher Gemeinden, hg. v. Deutschen Städtetag, 37, 1949, S. 48-55 Fleischhauer 1982 -» Ingeborg Fleischhauer: »Unternehmen Barbarossa« und die Zwangsumsiedlung der Deutschen in der UdSS, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 30/2, 1982, S. 299-321 Flucht, Vertreibung, Integration 2005 -» Flucht, Vertreibung, Integration. Begleitbuch zur Ausstellung im Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland, Bonn, 3. Dezember 2005 bis 17. April 2006, Bielefeld 2005 Flüchtlinge und Vertriebene 1987 -» Flüchtlinge und Vertriebene in der westdeutschen Nachkriegsgeschichte. Bilanzierung der Forschung und Perspektiven für die künftige Forschungsarbeit, hg. v. Rainer Schulze/Doris von der Brelie-Lewien/Helga Grebing, Hildesheim 1987 Foerster 1953 -* Friedrich Wilhelm Foerster: Erlebte Weltgeschichte 1869-1953. Memoiren, Nürnberg 1953

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Verzeichnis der abgekürzt zitierten Literatur Foitzik 1999 -»Jan Foitzik: Sowjetische Militäradministration in Deutschland (SMAD) 1945-1949. Struktur und Funktion, Berlin 1999 Foschepoth 1985 —» Josef Foschepoth: Potsdam und danach. Die Westmächte, Adenauer und die Vertriebenen, in: Benz 1985, S. 70-90 Frank 1953 ~* Hans Frank: Im Angesicht des Galgens. Deutung Hitlers und seiner Zeit auf Grund eigener Erlebnisse und Erkenntnisse. Geschrieben im Nürnberger Justizgefängnis, München-Gräfelfing 1953 Frank 1994 -* Mein Leben für Böhmen: als Staatsminister im Protektorat. Karl Hermann Frank, hg. v. Ernst Frank, Kiel 1994 Frank 2008 —» Matthew Frank: Expellingthe Germans. British Opinion and Post-1945 Population Transfer in Context, Oxford 2008 Franzel 1958 -* Emil Franzel: Sudetendeutsche Geschichte. Eine volkstümliche Darstellung, Augsburg 1958 Franzel 1980 -» Emil Franzel: Die Vertreibung. Sudetenland 1945-1946. Nach Dokumenten des Bundesministeriums für Vertriebene, Flüchtlinge und Kriegsgeschädigte sowie Dokumenten aus dem Bundesarchiv in Koblenz, nach Fragebogenberichten des Bundesarchivs und Erlebnis- und Kreisberichten, 2. Auflage der 1979 erschienenen unveränderten Neuausgabe, München 1980 (1. Aufl. 1967) Franzel 1983 -> Emil Franzel: Gegen den Wind der Zeit. Erinnerungen eines Unbequemen, München 1983 Frei 2006 —» Norbert Frei (Hg.): Transnationale Vergangenheitspolitik. Der Umgang mit deutschen Kriegsverbrechern in Europa nach dem Zweiten Weltkrieg, Göttingen 2006 Freund 1953 -» Michael Freund (Hg.): Geschichte des Zweiten Weltkrieges in Dokumenten, 3 Bde., Freiburg 1953-1956 Frömel 1999 —»Johann Heinrich Frömel: Die Sozialdemokratische Partei Deutschlands und die Vertriebenenverbände 1945-1969. Vom Konsens zum Dissens, Bonn 1999 Frumkin 1951 -» [Gregory (Grzegorz) Frumkin]: Population Changes in Europe since 1939. A Study of Population Changes in Europe during and since World War II as shown by the Balance Sheets of Twenty-four European Countries, New York-London 1951 Für Heimat und Zukunft 1959 -* Für Heimat und Zukunft. Aufruf des Bundes der Vertriebenen - Vereinigte Landsmannschaften und Landesverbände, in: Vertriebenen-Korrespondenz 7. 3. 1959 (veröffentlicht am 12. 2. 1959 durch die Pressestelle des BdV) Garleff 2001 -* Michael Garleff (Flg.): Deutschbalten, Weimarer Republik und Drittes Reich, Bd.i, Köln-Weimar-Wien 2001 (Bd. 2: 2008) Gerlach 1999 -* Christian Gerlach: Kalkulierte Morde. Die deutsche Wirtschafts- und Vernichtungspolitik in Weißrußland 1941 bis 1944, Hamburg 1999 Gesamterhebung —» Gesamterhebung zur Klärung des Schicksals der deutschen Bevölkerung in den Vertreibungsgebieten. Hg., bearb. u. zusammengestellt v. der Zentralstelle des Kirchlichen Suchdienstes in München, München [1965] Geschichte verstehen 2002 -* Zdenek Benes et al.: Rozumet dejinäm. Vyvoj ceskonemeckych vztahü na nasem üzemi v letech 1848-1948. Pro Ministerstvo kultury Ceske republiky vydala Gallery, s.r.o., [Praha] 2002; in deutscher Übersetzung erschienen als: Geschichte verstehen. Die Entwicklung der deutsch-tschechischen Beziehungen in den böhmischen Ländern 1848-1948, hg. v. Zdenek Benes/Väclav Kural, Prag 2002 Giordano 2000 -» Ralph Giordano: Apropos »Charta der deutschen Heimatvertriebenen«. Überfälliges Nachwort zu einem verkannten Dokument, in: Ralph Giordano:

Verzeichnis der abgekürzt zitierten Literatur Die zweite Schuld oder Von der Last Deutscher zu sein, Köln 2000, S. 267-292 (1. Aufl. 1987) Gleiss 1986/97 —» Horst G. W Gleiss: Breslauer Apokalypse 1945: Dokumentarchronik vom Todeskampf und Untergang einer deutschen Stadt und Festung am Ende des Zweiten Weltkrieges unter besonderer Berücksichtigung der internationalen Presseforschung, persönlicher Erlebnisberichte von Augenzeugen und eigenen Tagebuchaufzeichnungen, 10 Bände, Wedel (Holstein) 1986-1997 Glotz 1990 —» Peter Glotz: Der Irrweg des Nationalstaates. Europäische Reden an ein deutsches Publikum, Stuttgart 1990 Glotz 1996 —* Peter Glotz: Die Jahre der Verdrossenheit. Politisches Tagebuch 1993/94, Stuttgart 1996 Glotz 2003 -» Peter Glotz: Die Vertreibung. Böhmen als Lehrstück, München 2003 Glotz 2005 -» Peter Glotz: Von Heimat zu Heimat. Erinnerungen eines Grenzgängers, Berlin 2005 Goebbels 1993 —» Die Tagebücher von Joseph Goebbels. Im Auftrag des Instituts für Zeitgeschichte und mit Unterstützung des Staatlichen Archivdienstes Rußlands hg. v. Elke Fröhlich, Teil II: Diktate 1941-1945, Band 7: Januar-März 1943, bearb. v. Elke Fröhlich, München et al. 1993 Goebbels 1995a —* Die Tagebücher [... wie oben], Teil II: Diktate i 9 4 i - i 9 4 5 , B a n d 13: Juli-September 1944, bearb. v. Jana Richter, München et al. 1995 Goebbels 1995b -» Die Tagebücher [... wie oben], Teil II: Diktate 1941-1945, Band 15: Januar-April 1945, bearb. v. Maximilian Gschaid, München et al. 1995 Goebbels 1996 -» Die Tagebücher [... wie oben], Teil II: Diktate 1941-1945, Band 14: Oktober bis Dezember 1944, bearb. v. Jana Richter/Hermann Graml, München 1996 Goebbels 1998 -* Die Tagebücher [... wie oben], Teil I: Aufzeichnungen 1923-1941, Band 7: Juli 1939-März 1940, bearb. v. Elke Fröhlich, München 1998 Goguel 1959 —» Polen, Deutschland und die Oder-Neisse-Grenze, hg. v. Deutschen Institut für Zeitgeschichte in Verbindung mit der Deutsch-Polnischen Historikerkommission unter der verantwortlichen Redaktion von Rudi Goguel, Berlin 1959 Goguel i960 -» Rudi Goguel: Über Ziele und Methoden der Ostforschung, in: »Ostforschung« und Slawistik. Kritische Auseinandersetzungen. Vorgetragen auf der Arbeitstagung am 3. VII. 1959 im Institut für Slawistik der Deutschen Akademie der Wissenschaften zu Berlin, Berlin i960, S. 12-39 Goguel/Pohl 1956 —* [Rudi Goguel/Heinz Pohl]: Oder-Neisse. Eine Dokumentation, 2. durchgesehene Auflage, Berlin 1956 (1. Aufl. 1955) Goldenbaum 2007 —» Hans Goldenbaum: Nicht Täter, sondern Opfer? Ilja Ehrenburg und der Fall Nemmersdorf im kollektiven Gedächtnis der Deutschen, in: Hallische Beiträge zur Zeitgeschichte I, 2007, Heft 17, S. 7-38 Gollancz 1945 -* Victor Gollancz: What Buchenwald Really Means, London 1945 Gollancz 1947 -» Victor Gollancz: Unser bedrohtes Erbe, Zürich 1947 Gollancz 1948 -» Victor Gollancz: Stimme aus dem Chaos. Eine Auswahl der Schriften von Victor Gollancz, hg. mit einer Einleitung v. Julius Braunthal, Nürnberg 1948 (2. Aufl. i960) Gollancz 1948a -* Victor Gollancz: Versöhnung. Zwei Reden von Victor Gollancz, Hamburg 1948 Gollancz 1955 -* Victor Gollancz: Auf dieser Erde. Erinnerungen, [Gütersloh] 1955 Grimm 1950 -* Hans Grimm: Die Erzbischofschrift. Antwort eines Deutschen, Göttingen 1950 Grosser/Schraut 1998 -* Thomas Grosser/Sylvia Schraut (Hg.): Flüchtlinge und Heimatvertriebene in Württemberg-Baden nach dem Zweiten Weltkrieg. Dokumente

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Verzeichnis der abgekürzt zitierten Literatur und Materialien zu ihrer Aufnahme und Eingliederung, Bd. i: Besatzungspolitische, administrative und rechtliche Rahmenbedingungen 1945-1949, Mannheim 1998 Grube/Richter 1981 -* Frank Grube/Gerhard Richter: Flucht und Vertreibung. Deutschland zwischen 1944 und 1947, Hamburg 1981 (1. Aufl. 1980) Grumke/Wagner 2002 -* Thomas Grumke/Bernd Wagner (Hg.): Handbuch Rechtsradikalismus. Personen - Organisationen - Netzwerke vom Neonazismus bis in die Mitte der Gesellschaft, Opladen 2002 Guderian 1950 -» Generaloberst Guderian: Kann Westeuropa verteidigt werden?, Göttingen 1950 Günther 1948 -* Joachim Günther: Das letzte Jahr. Mein Tagebuch 1944/45, Hamburg 1948 Gutachten 2005 -* Gutachten zu Ansprüchen aus Deutschland gegen Polen in Zusammenhang mit dem Zweiten Weltkrieg, in: Zeitschrift für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht 65/3, 2005, S. 625-652 Haar 2007 —» Ingo Haar: Die deutschen »Vertreibungsverluste« - Zur Entstehungsgeschichte der »Dokumentation der Vertreibung«, in: Tel Aviver Jahrbuch für deutsche Geschichte 35, 2007, S. 251-272 Habbe 2005 -» Christian Habbe: Die Abrechnung: Schrecklicher Exodus, in: SPIEGEL Special 2/2005 v- 3°- März 2005, S. 222-225 Habel 2003 -» Fritz Peter Habel: Dokumente zur Sudetenfrage. Unerledigte Geschichte, München 2003 Hahn 1983 -» Eva Schmidt-Hartmann (d. i. Eva Hahn): Die deutschsprachige jüdische Emigration aus der Tschechoslowakei nach Großbritannien 1938-45, in: Ferdinand Seibt (Hg.): Die Juden in den böhmischen Ländern, München-Wien 1983,8.297-3 r 3 Hahn 1991 -* Eva Schmidt-Hartmann (d. i. Eva Hahn): Tschechoslowakei, in: Benz 1991, S. 353-380 Hahn 2007 -* Hans Henning Hahn (Hg.): Hundert Jahre sudetendeutsche Geschichte. Eine völkische Bewegung in drei Staaten, Frankfurt et al. 2007 Hahn/Hahn 2001 —* Eva Hahn/Hans Henning Hahn: Flucht und Vertreibung, in: Etienne Frangois/Hagen Schulze (Hg.): Deutsche Erinnerungsorte 1, München 2001, S. 335-351 Hahn/Hahn 2006 —* Eva Hahn/Hans Henning Hahn: Die »Geburt« der sudetendeutschen Volksgruppe und die deutsche Minderheit in der ersten Tschechoslowakischen Republik, in: Samuel Salzborn (Hg.): Minderheitenkonflikte in Europa. Fallbeispiele und Lösungsansätze, Innsbruck et al. 2006, S. 159-187 Hahn/Hahn 2006a —• Hans Henning Hahn/Eva Hahn: Mythos »Vertreibung«, in: Heidi Hein-Kircher/Hans Henning Hahn (Hg.): Politische Mythen im 19. und 20. Jahrhundert in Mittel- und Osteuropa, Marburg 2006, S. 167-188 Hahn/Hahn 2008 -* Hans Henning Hahn/Eva Hahn: Die Charta der deutschen Heimatvertriebenen vom 5. August 1950: Ein umstrittenes Dokument, in: GunillaBudde/Dagmar Freist/Dietmar von Reeken (Hg.): Geschichts-Quellen. Brückenschläge zwischen Geschichtswissenschaft und Geschichtsdidaktik. Festschrift für Hilke Günther-Arndt, Berlin 2008, S. 69-89 Handbuch 2008 —* Handbuch der völkischen Wissenschaften. Personen, Institutionen, Forschungsprogramme, Stiftungen, hg. v. Ingo Haar/Michael Fahlbusch, München 2008 Handbuch BdV 1993 -» Bund der Vertriebenen - Vereinigte Landsmannschaften und Verbände: Handbuch 1993, Bonn 1993 Härtling 1967 -*• Peter Härtling: Die Flüchtlinge, in: Der Monat 19, 1967, Heft 220, S. 18-22

Verzeichnis der abgekürzt zitierten Literatur Flass/Scbumann 1972 -* Gerhart Hass/Wolfgang Schumann (Hg.): Anatomie der Aggression. Neue Dokumente zu den Kriegszielcn des faschistischen deutschen Imperialismus im zweiten Weltkrieg, Berlin 1972 Haufler/Reinecke 2005 —* Daniel Haufler/Stefan Reinecke (Hg.): Die Macht der Erinnerung. Der 8. Mai 1945 und wir, taz-Journal 2005/1 [Berlin 2005] Havrehed 1989 -* Henrik Havrehed: Die deutschen Flüchtlinge in Dänemark 19451949, Heide 1989 Heidmann/Wohlgemuth 1968 -» Zur Deutschlandpolitik der Anti-Hitler-Koalition (1943 bis 1949). Zusammengestellt und eingeleitet von Eberhard Heidmann/Käthe Wohlgemuth, Berlin 1968 Heinemann 2003 —» Isabel Heinemann: »Rasse, Siedlung, deutsches Blut«. Das Rasseund Siedlungshauptamt der SS und die rassenpolitische Neurodnung Europas, Göttingen 2003 Heinemann 2006 —» Isabel Heinemann: »Deutsches Blut«. Die Rasseexperten der SS und die Volksdeutschen, in: Kochanowski/Sach 2006, S. 163-182 Heibig 1988 —» Louis Ferdinand Heibig: Der ungeheuere Verlust. Flucht und Vertreibung in der deutschsprachigen Belletristik der Nachkriegszeit, Wiesbaden 1988 Henderson 1939 -* Endgültiger Bericht von Sir Nevile Henderson über die Umstände, die zur Beendigung seiner Mission in Berlin führten. Dokumente und Urkunden zum Kriegsausbruch, September 1939, Fase. 3, Basel 1939 Henlein 1939 —* Konrad Henlein: Heim ins Reich. Reden aus den Jahren 1937 und 1938, hg. v. Ernst Tscherne, Karlsbad 1939 Hillgruber 1986 -* Andreas Hillgruber: Zweierlei Untergang. Die Zerschlagung des Deutschen Reiches und das Ende des europäischen Judentums, Berlin 1986 Hillmann/Zimmermann 2002 -» Kriegsende 1945 in Deutschland. Im Auftrag des Militärgeschichtlichen Forschungsamtes hg. v. Jörg Hillmann/John Zimmermann, München 2002 Himmler 1970 -* Reichsführer! Briefe an und von Himmler, hg. v. Helmut Heiber, München 1970 Himmler 1974 —* Heinrich Himmler: Geheimreden 1933 bis 1945 und andere Ansprachen, hg. v. Bradley F. Smith/Agnes F. Peterson mit einer Einführung von Joachim C. Fest, Frankfurt/M. et al. 1974 Hirsch 1999 —» Helga Hirsch: Die Rache der Opfer. Deutsche in polnischen Lagern 1944-1950, Reinbek bei Hamburg 1999 ( 1. Aufl. Berlin 1998) Hitler: Mein Kampf siehe MK 1939 Hitler 1939 -» Adolf Hitler in: Verhandlungen des Reichstags, 4. Wahlperiode 1939, Band 460, Stenographische Berichte 1939-1942. Anlagen zu den Stenographischen Berichten 1.-8. Sitzung, hier 4. Sitzung, Freitag den 6. Oktober 1939, S. 51-63 Hitler 1980 -* Adolf Hitler: Monologe im Führer Hauptquartier 1941-1944. Die Aufzeichnungen Heinrich Heims hg. v. Werner Jochmann, Hamburg 1980 Hitler 1981 -* Hitlers politisches Testament. Die Bormann Diktate vom Februar und Aprili945. Mit einem Essay von Hugh R. Trevor-Roper und einem Nachwort von Andre Fran