2000 Jahre Varusschlacht: Geschichte - Archäologie - Legenden
 311028250X,  9783110282504

Table of contents :
Vorwort ix
I. Prooemium
Reinhard Wolters/ Die Schlacht im Teutoburger Wald. Varus, Arminius und das römische Germanien 3
II. Pars imperii
Klaus-Peter Johne / Das Stromgebiet der Elbe im Spiegel der griechisch-römischen Literatur 25
Alexander Demandt / Das Bild der Germanen in der antiken Literatur 59
Dagmar Beate Baltrusch / Und was sagt Thusnelda? Zu Macht und Einfluß germanischer Frauen 71
Christian Wendt / Die Oikumene unter Roms Befehl. Die Weltherrschaft als Antrieb der römischen Germanienpolitik? 95
Ernst Baltrusch / P. Quinctilius Varus und die "bella Variana" 117
Siegmar von Schnurbein / Augustus in Germanien. Archäologie der fehlgeschlagenen Eroberung 135
III. In situ
Michael Meyer / "hostium aviditas". Beute als Motivation germanischer Kriegsführung 151
Achim Rost und Susanne Wilbers-Rost / Kalkriese – Archäologische Spuren einer römischen Niederlage 163
Morten Hegewisch / Von Leese nach Kalkriese? Ein Deutungsversuch zur Geschichte zweier linearer Erdwerke 177
IV. Cura posterior
Klaus Kösters / Endlose Hermannsschlachten... 213
Uwe Puschner / "Hermann, der erste Deutsche" oder: Germanenfürst mit politischem Auftrag. Der Arminius-Mythos im 19. und 20. Jahrhundert 257
Heide Barmeyer / Denkmalbau und Nationalbewegung. Das Beispiel des Hermannsdenkmals 287
Henning Holsten / Arminius the Anglo-Saxon. Hermannsmythos und politischer Germanismus in England und den USA 315
Wolfgang Beyroth / "Steh auf, wenn du Armine bist...". Ein kunsthistorischer Essay 391
Christine de Gemeaux / Arminius, Ambiorix und Vercingetorix aus französischer Perspektive. "Kleine Heimat" versus Imperium in Geschichtsschreibung und Comics 403
V. Epilogos
Heinz-Günter Horn / Varus im 21. Jahrhundert. Zur kulturpolitischen Gestaltung des Varus-Jubiläums 423
Bildnachweise 437

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2000 Jahre Varusschlacht

Topoi Berlin Studies of the Ancient World Edited by Excellence Cluster Topoi

Volume 7

De Gruyter

2000 Jahre Varusschlacht Geschichte – Archäologie – Legenden

Edited by

Ernst Baltrusch Morten Hegewisch Michael Meyer Uwe Puschner Christian Wendt

De Gruyter

ISBN 978-3-11-028250-4 e-ISBN 978-3-11-028251-1 ISSN 2191-5806

Library of Congress Cataloging-in-Publication Data A CIP catalog record for this book has been applied for at the Library of Congress.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

© 2012 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Einbandbild: Collage, M. Hegewisch | Links: Hermannsdenkmal, Detmold, Ernst von Bandel; Mitte: „Der gescheiterte Varus“, Haltern, Dr. Wilfried Koch; Rechts: Panzerstatue des Augustus von Prima Porta, Vatikanische Museen, Rom. Satz: Dörlemann Satz GmbH & Co. KG, Lemförde Druck und buchbinderische Verarbeitung: AZ Druck und Datentechnik, Allgäu · Berlin o Gedruckt auf säurefreiem Papier Printed in Germany www.degruyter.com

Anselm Kiefer, Varus, 1976.

Inhaltsverzeichnis

Vorwort

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IX

Reinhard Wolters Die Schlacht im Teutoburger Wald. Varus, Arminius und das römische Germanien

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3

Klaus-Peter Johne Das Stromgebiet der Elbe im Spiegel der griechisch-römischen Literatur . . . .

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25

Alexander Demandt Das Bild der Germanen in der antiken Literatur

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59

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71

Christian Wendt Die Oikumene unter Roms Befehl. Die Weltherrschaft als Antrieb der römischen Germanienpolitik? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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95

Ernst Baltrusch P. Quinctilius Varus und die bella Variana

I. Prooemium

II. Pars imperii

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Dagmar Beate Baltrusch Und was sagt Thusnelda? Zu Macht und Einfluß germanischer Frauen

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117

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135

Michael Meyer hostium aviditas. Beute als Motivation germanischer Kriegsführung . .

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151

Achim Rost und Susanne Wilbers-Rost Kalkriese – Archäologische Spuren einer römischen Niederlage .

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163

Morten Hegewisch Von Leese nach Kalkriese? Ein Deutungsversuch zur Geschichte zweier linearer Erdwerke . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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177

Siegmar von Schnurbein Augustus in Germanien. Archäologie der fehlgeschlagenen Eroberung

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III. In situ

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INHALTSVERZEICHNIS

VII

IV. Cura posterior Klaus Kösters Endlose Hermannsschlachten … .

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213

Uwe Puschner „Hermann, der erste Deutsche“ oder: Germanenfürst mit politischem Auftrag. Der Arminius-Mythos im 19. und 20. Jahrhundert . . . . . . . . . . .

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257

Heide Barmeyer Denkmalbau und Nationalbewegung. Das Beispiel des Hermannsdenkmals

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287

Henning Holsten Arminius the Anglo-Saxon. Hermannsmythos und politischer Germanismus in England und den USA . . . . . . . . . . . . . . . . .

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315

Wolfgang Beyroth „Steh auf, wenn du Armine bist …“ Ein kunsthistorischer Essay .

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391

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403

Heinz-Günter Horn Varus im 21. Jahrhundert. Zur kulturpolitischen Gestaltung des Varus-Jubiläums .

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423

Bildnachweise

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437

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Christine de Gemeaux Arminius, Ambiorix und Vercingetorix aus französischer Perspektive. ,Kleine Heimat‘ versus Imperium in Geschichtsschreibung und Comics .

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V. Epilogos

VIII

INHALTSVERZEICHNIS

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Vorwort

Im Jahr 2009 fand ein Jubiläum besonderer Art statt: 2000 Jahre zuvor, im Jahr 9 n. Chr., besiegten aufständische Germanen unter der Führung des Cheruskerfürsten Arminius (,Hermann‘) den römischen Statthalter Varus in der berühmten ,Schlacht im Teutoburger Wald‘. Wie einschneidend dieses Ereignis war, wusste bereits der römische Geschichtsschreiber Tacitus, denn er nannte Arminius „ohne Zweifel den Befreier Germaniens“ (liberator haud dubie Germaniae). Mit dieser römischen Niederlage wurde der Verzicht des römischen Imperiums verbunden, Germanien östlich des Rheins und nördlich der Donau zu erobern. Wie immer dieser Zusammenhang historisch auch zu beurteilen sein mag, so ist es doch eine Tatsache, dass die Römer nur den südlichen und westlichen Teil des heutigen Deutschlands ,romanisierten‘. Auf diese Weise hatte die Varusschlacht also unbestreitbare Nachwirkungen. Aus diesem Anlass wurde an der Freien Universität Berlin 2009 eine Ringvorlesung unter dem Titel ,2000 Jahre Varusschlacht. Geschichte – Archäologie – Legenden‘ veranstaltet. Sie wurde unter interdisziplinären Gesichtspunkten konzipiert, da auch das Ereignis selbst vom 19. Jahrhundert an von unterschiedlichen Fachdisziplinen in den Blick genommen wurde; der vorliegende Band soll nun sowohl den Ertrag und die Relevanz der Veranstaltung dokumentieren als auch erstmals das Zusammenwirken der vielf ältigen disziplinären Ansätze in einer möglichst facettenreichen Gesamtschau betonen. Dieser Gesichtspunkt lag bereits der Planung der Ringvorlesung zugrunde: Die übergreifende Behandlung dreier mit der Varusschlacht verbundener Komplexe sollte Hörern und nun den Lesern die Bedeutung des Ereignisses – sowie die Grenzen seiner Bedeutung – plastisch vor Augen führen. Die historische Dimension: Sie ergibt sich aus dem Faktum, dass ein Herrschaftsraum, der bereits auf dem Wege der ,Romanisierung‘ war, von der damals alles beherrschenden römischen Macht aufgegeben wurde. Die Beiträge gehen der Frage nach, wie die Varusschlacht historisch eingeordnet werden kann. Wie kann man ,germanische‘ Identität fassen, und was wissen wir nicht zuletzt über den weiblichen Anteil am gesellschaftlichen und politischen Leben? Welches war der Charakter römischer Herrschaft, von der sich die Germanen ,befreiten‘? Die archäologische Dimension: Die augusteischen Bestrebungen, Germanien zu erobern, haben reichhaltige Spuren im Boden hinterlassen. Sie erlauben es, ein genaues Bild der römischen Vorstöße, Strategien und Präsenz zu zeichnen. Die römischen Lager an der Lippe werden seit mehr als 100 Jahren erforscht, und seit wenigen Jahren gibt es mit Waldgirmes an der Lahn den gesicherten Nachweis einer rechtsrheinischen Stadtgründung. Dies ist ein deutliches Zeichen, dass die römische Herrschaft rechts des Rheins nicht allein militärischer Natur war. Sensationelle Funde in Kalkriese bei Osnabrück seit 1987 zeigen ein umfangreiches Schlachtfeld aus der Zeit um 9 n. Chr. – den ,wahren‘ Ort der Varusschlacht? Die wirkungsgeschichtliche Dimension: Mit dem Beginn der Frühen Neuzeit begann in vielen europäischen Ländern die Suche nach ,Ur-Helden‘, die einen Nationalmythos begründen konnten. In Deutschland identifizierte man mit ,Hermann‘ dem Cherusker jenen Helden, dessen ,Befreiungskampf‘ mythentauglich und – wie sich zeigen sollte – mit dem Übergang zum 19. Jahrhundert politisch instrumentalisierbar war. Der Mythos hat in den Jahrhunderten seit der Wiederentdeckung der Germania des Tacitus im 15. Jahrhundert vielf ältige Entwicklungen durchlaufen und – insbesondere – ein facettenreiches Kunstschaffen ausgelöst, das von zahlreichen Barockopern bis hin zum monumentalen Hermannsdenkmal bei Detmold reicht.

VORWORT

IX

Wichtig ist den Herausgebern, deutlich zu machen, wie unterschiedlich sich die Forschung in vielen Fragen in Hinblick auf die Varusschlacht positioniert hat und wie sehr Versuche einer Vereinnahmung des Themas durch Politik, Ideologie und Medien bereits im Ansatz daran kranken, dass eine communis opinio längst nicht in Sicht ist, weder im Hinblick auf die geographische Lokalisierung des Schlachtgeschehens noch auf die historische Bewertung. Auch die verschiedenartige Wahrnehmung im internationalen Kontext findet Berücksichtigung. Der alle Erwartungen sprengende Erfolg der Ringvorlesung ,2000 Jahre Varusschlacht. Geschichte – Archäologie – Legenden‘ war ein Gradmesser für das öffentliche Interesse an dieser Thematik und eine Bestätigung des Konzeptes, die disziplinenübergreifende Herangehensweise dem Publikum vorzustellen. Eine konstant hohe Zahl an Zuhörerinnen und Zuhörern von ca. 300 Personen besuchte die Vorträge im Hörsaal 1a der sogenannten Rostlaube an der Freien Universität, die Fluktuation war gering, die Themen offensichtlich zugkräftig. Dies ermöglichte eine Fülle von Diskussionen, die sich an die etwa einstündigen Vorträge anschlossen. Dabei zeigte sich, dass sowohl Fachkollegen und Spezialisten als auch interessierte Laien den Weg in den Hörsaal gefunden hatten. Lebhaft und durchaus kontrovers tauschte man sich aus, problematische Felder wie etwa die privaten Sondengänger oder das Marketing wurden ebenso gestreift, wie sich insbesondere die Altertumswissenschaftler immer wieder der Frage stellen mussten, wie sie es denn selbst mit dem möglichen Ort der Varusschlacht hielten. Die nach jedem Vortrag lebendig geführten Diskussionen konzentrierten sich besonders auf Fragen zur Lokalisation und Datierung von Ereignissen und Funden, etwa der Identifizierung befestigter Lager, zu ökonomischen Motiven und logistischen wie strategischen Hintergründen und natürlich zur Rezeption des Ereignisses und der handelnden Personen in diversen Zusammenhängen und mit Hilfe vieler naheliegender wie auch überraschender Analogien. Sowohl die Besucherzahlen als auch die rege Beteiligung des Auditoriums bestärkten die Herausgeber in der Idee, die Ringvorlesung in Form eines gedruckten Werks zu dokumentieren. Viele Anfragen, wo und wann es denn die Beiträge nachzulesen gebe, erreichten uns nicht nur aus dem Kreis der Zuhörerschaft. Drei Jahre, nachdem die erste Woge an Jubiläumspublikationen abgeebbt und verarbeitet ist, können wir nun gleichsam die ,Nachlese‘ des Jahres 2009 vorlegen. Dank der großzügigen Finanzierung durch den Berliner Exzellenzcluster TOPOI waren wir nicht nur in der Lage, die Veranstaltung durchzuführen, sondern nun auch innerhalb der Reihe ,TOPOI. Berlin Studies of the Ancient World‘ des Verlags De Gruyter den Band vorzulegen. Für dieses Privileg bedanken wir uns sehr. Sowohl die interdisziplinäre Zusammenarbeit als auch die beherrschenden Fragestellungen nach räumlichen Kenntnissen von und geeigneten Herrschaftskonzeptionen für Germanien, der archäologisch-historischen Rekonstruktion der Ereignisse sowie dem Nachleben und dem Einfluss des umgewerteten Arminius- und somit Germanienbildes können exemplarisch für die Grundfrage des Großprojekts TOPOI gelten: die Beziehung zwischen Raum und Wissen in der Antike samt ihren Nachwirkungen bis in die Gegenwart. Die Chronologie der Veranstaltung wurde für die Struktur des Bandes nicht übernommen. Statt einer ablaufgetreuen Dokumentation haben wir uns entschieden, die Beiträge nach ihren thematischen Schwerpunkten zu bündeln, um wiederum kenntlich zu machen, welche Perspektiven eingenommen werden und welche Forschungsansätze die wissenschaftliche Auseinandersetzung prägen. Auch die Gegenüberstellung einzelner Positionen soll den Leserinnen und Lesern auf diese Weise leichter fallen. Darüber hinaus konnten weitere Autoren – selbst nicht Vortragende im Rahmen der Veranstaltung – gewonnen werden, die durch zusätzliche relevante Aspekte den Band wesentlich bereichern.

X

VORWORT

I. Prooemium Reinhard Wolters gibt in einem einführenden Kapitel zunächst einen Überblick über das Geschehen und die allgemeinen politischen Hintergründe wie auch über die aus den Ereignissen des Jahres 9 n. Chr. resultierenden Konsequenzen. Ebenso wird hier ein Schlaglicht auf die Wandlungen geworfen, die innerhalb der antiken Überlieferung vorliegen: Denn erst infolge von Tacitus’ Dictum über Arminius als dem „Befreier Germaniens“ war die Zuspitzung der Rezeption auf die Bedeutung der Varusschlacht möglich.

II. Pars imperii Das folgende Kapitel ist dem historischen Rahmen der Varusschlacht gewidmet und behandelt die Hintergründe, vor denen der germanische Raum sowie ein römisches Engagement östlich des Rheins zu verstehen und einzuordnen sind. Klaus-Peter Johne zeigt in seinem Beitrag „Das Stromgebiet der Elbe im Spiegel der griechisch-römischen Literatur“, wie das Gebiet zwischen Rhein und Elbe in der antiken Wahrnehmung präsent war, belegt die entscheidenden Wandlungen und betont die wichtige Orientierungsfunktion des Flusses Elbe. Alexander Demandt zeichnet das Bild der Germanen nach, wie wir es von den antiken Autoren überliefert finden. Dabei gelingt es ihm, die Vorstellung eines angeblichen Germanentopos zu entkräften, der unisono allen Darstellungen zugrunde liegen würde. Ein – durchaus provokanter – Ausblick auf die Kontinuitäten in Mittelalter und Neuzeit beschließt seine Ausführungen. Dagmar Beate Baltrusch gibt einen Einblick in die bislang weitgehend vernachlässigte Welt der germanischen Frauen. Die Gewissheit, mit der in vereinzelten Publikationen Aussagen über die Stellung und Rolle der Frauen gemacht wurden, wird hier kritisch hinterfragt. Zudem unterstreicht Baltrusch, welch entscheidenden Einfluss Frauen in kultischem und politischem Kontext ausüben konnten und wie ungeklärt ihre konkreten Aufgaben und ihr Status letztlich sind. In seinem Beitrag „Die Oikumene unter Roms Befehl. Die Weltherrschaft als Antrieb der römischen Germanienpolitik?“ entwirft Christian Wendt die Entwicklung des römischen Weltherrschaftsgedankens als konstitutives Merkmal der Genese des Prinzipats und wirft die Frage auf, inwiefern die Expansion nach Germanien durch eben dieses Motiv der schrankenlosen Herrschaft angestoßen und geleitet wurde. Ernst Baltrusch hinterfragt die Berechtigung, mit der das vorwiegend negative Urteil antiker Autoren über P. Quinctilius Varus gef ällt wurde. Konträr zur derzeit vorherrschenden Auffassung, die in Varus einen hervorragenden Verwaltungsfachmann erkennen will, dessen Bild aufgrund seiner Niederlage tendenziös verzerrt wurde, beleuchtet Baltrusch dessen Statthalterschaft in Syria, um auch in diesem Zusammenhang ein kaum von Wissen über einen schwierigen Herrschaftsraum geprägtes Vorgehen seitens des römischen Statthalters zu diagnostizieren. In einer übergreifenden Bestandsaufnahme kann Siegmar von Schnurbein zeigen, dass die archäologischen Zeugnisse für Germanien in augusteischer Zeit eine hohe Differenzierung aufweisen: Waldgirmes – mit dem jüngst gefundenen Kopf des Pferdes einer Reiterstatue (s. das Vorblatt zu Kapitel III) – als die Anlage einer städtischen Siedlung steht etwa eindeutig militärisch orientierten Befestigungen im Lippegebiet gegenüber. Dieser Befund spricht für eine tatsächlich intendierte Eroberung und Provinzialisierung des germanischen Raums durch Rom.

VORWORT

XI

III. In situ Die Beiträge des Kapitels III beschäftigen sich neben der Schlacht und ihrer Lokalisierung mit dem tatsächlichen Fundniederschlag von Schlachtenereignissen, ferner mit der römischen Militärpolitik, der Motivation germanischer Teilnehmer an der Varusschlacht sowie weiteren Örtlichkeiten und Ereignissen im sogenannten Barbaricum. Michael Meyer setzt sich mit der Motivation germanischer Kriegführung auseinander und stellt das Element der für die Teilnehmer zu erringenden Beute in den Mittelpunkt. Verglichen wird dabei der überraschend große Umfang dieser Beute im Verhältnis zum Aufwand germanischer Handwerker, um etliche tausend Kilogramm an Metallen, Edelmetallen und sonstigen Werkstoffen auf konventionellem Wege zu gewinnen. Achim Rost und Susanne Wilbers-Rost stellen neue Grabungsergebnisse der Wallanlage auf dem Oberesch vor und thematisieren Waffenfunde sowie Knochenreste im Kontext des Schlachtereignisses. Die Autoren präsentieren zudem ein Interpretationsmodell für das Fundareal von Kalkriese, um dieses quellenkritisch würdigen zu können. Morten Hegewisch widmet sich kritisch einer Wallanlage im niedersächsischen Leese, die seit den 1920er Jahren im Verdacht steht, hier habe die bei Tacitus benannte ,Schlacht am Angrivarierwall‘ des Germanicus stattgefunden. Der Abschnittswall ,Ohle Hoop‘ befindet sich etwa drei Tagesmärsche von Kalkriese entfernt und weist in vielerlei Hinsicht eine ähnliche Struktur wie die Wallanlage auf dem Oberesch auf. Diskutiert werden außer den Ausgrabungsbefunden neben der Wallanlage in Kalkriese weitere gut dokumentierte Befunde aus dem skandinavischen Raum.

IV. Cura posterior Das vierte Kapitel konzentriert sich auf die Rezeption der ,Schlacht im Teutoburger Wald‘ und die Instrumentalisierung von Arminius seit dem 16. Jahrhundert bis in die Gegenwart. Klaus Kösters zeichnet die Etablierung des Arminius-Mythos in der Übergangsepoche vom 15. zum 16. Jahrhundert nach, als Arminius zunächst in den Auseinandersetzungen zwischen der römischen Kurie und dem Heiligen Römischen Reich argumentativ funktionalisiert, zusehends zur deutschen Symbolfigur aufgebaut und nun auch in ,Hermann‘ umbenannt wurde. Arminius avancierte in den beiden folgenden Jahrhunderten im deutschen, französischen und italienischen Sprachraum zum literarischen und Opernhelden und geriet mit dem aufgeklärten 18. Jahrhundert zusehends in nationale Fahrwasser. Mit der Expansion Frankreichs und Napoleons Vorherrschaft in Europa stieg ,Hermann‘ nun endgültig zum Nationalheros auf, wie Uwe Puschner ausführt, und wurde bis ins 20. Jahrhundert hinein zum Symbol im Kampf zunächst gegen den äußeren – französischen – Feind und seit der Reichsgründung verstärkt auch die imaginierten sogenannten inneren Reichsfeinde. Der Ort des politischen Mythos war seit dem Kaiserreich das Hermannsdenkmal im Teutoburger Wald bei Detmold, dessen Entstehungsgeschichte von der nachnapoleonischen Zeit bis zur Denkmalsenthüllung 1875 und den Jubiläumsfeiern 1909 und 1925 Heide Barmeyer schildert und analysiert. Arminius/Hermann und die Varusschlacht waren seit Mitte des 18. Jahrhunderts nicht nur fester Bestandteil nationaler deutscher Narrative, sondern auch der englischsprachigen Welt, wo der Römerbezwinger, wie Henning Holsten in dieser ersten grundlegenden Untersuchung der britischen und US-amerikanischen Rezeptionsge-

XII

VORWORT

schichte in einer dichten Beschreibung herausarbeitet, als Symbol von spezifischen Freiheitsideen figurierte, ebenso wie er der Selbstbehauptung der Deutschamerikaner in ihrer dominant ,englischen‘ und von anderen Einwanderungsgruppen geprägten Umwelt Ausdruck verlieh. Neben der Inszenierung von Arminius/Hermann seit der Frühen Neuzeit durch Literaten, Opernlibrettisten und Komponisten verliehen seit dem Übergang zum 19. Jahrhundert dem deutschen Freiheitshelden und der Varusschlacht prominent bildende Künstler Gestalt, wie Wolfgang Beyroth aufzeigt. Sie leisteten damit einen wichtigen Beitrag für die Verankerung des Mythos in der nationalen Gedächtniskultur im 19. und frühen 20. Jahrhundert und wirkten in der Gegenwart im Verbund mit Historikern, Schriftstellern und Publizisten an der kritischen Auseinandersetzung mit diesem deutschen Nationalmythologem und dessen – noch nicht abgeschlossener – Entzauberung mit. Die französische Sicht auf die dortigen Ikonen des Widerstands gegen das Imperium Romanum verdeutlicht Christine de Gemeaux anhand der Aufnahme in die Populärkultur der bandes dessinées/comic-Literatur und stellt die divergente Rezeption der Freiheitshelden in einen europäischen, ja sogar einen aktuellen strategischen Zusammenhang.

V. Epilogos Als Kapitel V beschließt das – bewusst im Rededuktus verbliebene – Vortragsmanuskript von HeinzGünther Horn den Band, so wie der Referent auch die Veranstaltung mit seinen Rück- und Einblicken auf und in die Festveranstaltungen zum Varus-Jubiläum beschlossen hat. Die pointierte Darstellung politischer Zusammenhänge und organisatorischer Schwierigkeiten beleuchtet die Hintergründe des Feierjahres 2009 auf eine besondere, nicht ironiefreie Weise und zeigt auf diesem Weg, wie kompliziert sich das Ringen um Deutung und Deutungshoheit nicht nur auf wissenschaftlicher Ebene bzw. in der intellektuellen Debatte gestaltet, sondern auch in der breitenwirksamen Vermittlung. Die Herausgeber bedanken sich bei Hans Kopp und Stefan Noack, die beide mit großem Engagement die Mühen der Bildbeschaffung und Textvereinheitlichung übernommen haben und zudem an der Redaktion des Bandes in erheblichem Maße mitgewirkt haben. Ohne ihre Arbeit wäre der Band nicht in der vorliegenden Form entstanden. Ein weiterer großer Dank gilt den Personen und Institutionen, die ihre Einwilligung zum Abdruck von Bildmaterial gegeben haben, das sich in ihrem rechtlichen Verfügungsrahmen befindet; im besonderen seien hier genannt Dr. Wilfried Koch, Wilfried Mellies, die Bayerischen Staatsgemäldesammlungen, die Kunsthalle Hamburg sowie das Stadtarchiv Krefeld, das LVR-Landesmuseum Bonn, das Deutsche Theatermuseum München, die Verlage Standaard Uitgeverij und Castermann, die Staatsbibliothek Berlin, die Staats- und Universitätsbibliothek Hamburg, die Michael Pereckas Stiftung Niedersachsen, das Germanische Nationalmuseum, City of New Ulm (Minnesota), Conservation Solutions Inc., sowie www.zwermann.info, die uns die Nutzung unentgeltlich überlassen haben. Berlin im Mai 2012 Ernst Baltrusch, Morten Hegewisch, Michael Meyer, Uwe Puschner, Christian Wendt

VORWORT

XIII

I. Prooemium

Der sog. Caelius-Stein, der Kenotaph des Centurio Marcus Caelius (geboren um 45 v. Chr., gestorben 9 n. Chr. in der Varusschlacht).

Reinhard Wolters Die Schlacht im Teutoburger Wald Varus, Arminius und das römische Germanien

Im Herbst des Jahres 2009 jährte sich die sogenannte ‚Schlacht im Teutoburger Wald‘ zum zweitausendsten Mal. In ihr vernichteten germanische Kämpfer unter Führung des Cheruskers Arminius das Heer des römischen Feldherrn Publius Quinctilius Varus. Der Verlust von drei Legionen sowie neun Hilfstruppeneinheiten, insgesamt wohl zwischen 15000 und 20000 Mann, war eine der großen Niederlagen in der Geschichte des Imperium Romanum. Für den Norden Europas wiederum zählen das Ereignis und seine politischen Hintergründe zu den ältesten Vorgängen, die – über die Historiker des Römischen Reiches – Eingang in die geschichtliche Überlieferung gefunden haben.1 Die imposante Rundzahl von 2000 Jahren lenkte, zumal in Deutschland, hohe publizistische Aufmerksamkeit auf das vergangene Geschehen. Die Bundesbürgerinnen und Bundesbürger wurden in Presse, Rundfunk und Fernsehen in groß aufgemachten Geschichten über die Germanen, die römischen Eroberungsversuche rechts des Rheins sowie das Scheitern Roms belehrt. Höhepunkt war im Sommer 2009 die Ausstellung ,Imperium – Konflikt – Mythos‘, die als größte historische Sonderausstellung in der Geschichte der Bundesrepublik, verteilt auf drei Städte und zwei Bundesländer, zu sehen war: im westf älischen Haltern als einem der hervorragenden Orte aus der Zeit der römischen Herrschaft in Germanien; im Lippischen Landesmuseum in Detmold, zugleich dem Ort des Hermannsdenkmals; schließlich in Kalkriese nördlich von Osnabrück als mutmaßlichem Ort der Varuskatastrophe. Gerade noch rechtzeitig zum Bimillennium schien es mit der Entdeckung eines römischgermanischen Kampfplatzes 1989 bei Kalkriese gelungen zu sein, dem historischen Ereignis einen Ort zu geben. Die Politiker versäumten in ihren Grußworten genauso selten wie die Medien in ihren Berichten, für das Jahr 2009 eine bedeutungsschwere Reihe aufzumachen: ‚2000 Jahre Schlacht im Teutoburger Wald, 60 Jahre Gründung der Bundesrepublik Deutschland, 20 Jahre Mauerfall‘. Die ‚Schlacht im Teutoburger Wald‘ wurde in Deutschland vorrangig als ein Teil der deutschen Geschichte wahrgenommen, und der Begriff ‚Jubiläum‘ war an der Tagesordnung. Doch auch ohne den zweitausendsten Jahrestag konnte das Thema ‚Die Römer in Germanien‘ bereits in den letzten beiden Jahrzehnten ganz erhebliche Aufmerksamkeit auf sich ziehen. Denn neben Kalkriese gab es eine Fülle spektakulärer archäologischer Neuentdeckungen von römischen Militärplätzen oder gar von römischen Städtegründungen, bis tief in das rechtsrheinische Gebiet hinein. Die Neufunde haben unser Bild von der Zeit der römischen Herrschaft in Germanien auf eine weitgehend neue Grundlage gestellt. Die archäologischen Funde helfen, die schriftlichen Quellen immer wieder neu zu lesen und zu verstehen. 1

Für eine deutlich ausführlichere Entwicklung des Themas mit dichter Dokumentation der Quellen sowie der strittigen und abweichenden Positionen in der Forschung sei auf die Monographie Wolters (2009a) verwiesen. Die vorliegende Skizze folgt weitgehend dem Wortlaut des Vortrags und beschränkt sich auf die wichtigsten Nachweise sowie Nachträge. Als neuere Literatur

ist auf die drei umfassenden Kataloge der Ausstellung ,Imperium – Konflikt – Mythos‘ hinzuweisen (Imperium [2009]; Konflikt [2009]; Mythos [2009]) sowie Dreyer (2009) und Aßkamp u. Esch (2010). Ein ordnender Überblick zu der im Umfeld des Jahres 2009 ausgebrochenen Publikationsflut bei Kehne (2009a).

DIE SCHLACHT IM TEUTOBURGER WALD

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1. Bilder von der Varusschlacht Will man sich heute den historischen Ereignissen um die ‚Schlacht im Teutoburger Wald‘ annähern, so stehen dem eine Reihe von Schwierigkeiten entgegen. Zum einen ist dies die ausgesprochen dürftige Quellenlage zu den damaligen Vorgängen, zum zweiten das oft schwierige Verhältnis zwischen archäologischer und literarischer Überlieferung, und drittens sind es die ‚Bilder‘, die sich die verschiedenen Jahrhunderte von diesem Ereignis gemacht haben: Seit dem Humanismus war das Thema nicht nur Gegenstand wissenschaftlicher Untersuchungen, sondern ebenso von politischen Pamphleten, Dramen, Romanen und Gedichten, Liedern und Opern, Gemälden und Standbildern. Die Darstellungen haben einen dichten Fluss von Bildern hervorgerufen, die ihre eigene und oft viel eindringlichere Wirklichkeit erzeugt haben. Das historische Geschehen wurde dadurch in vielem bis zur Unkenntlichkeit entstellt bzw. liegt darunter begraben. In der Wissenschaft ist längst anerkannt, dass der Rezeption des Ereignisses ‚Schlacht im Teutoburger Wald‘ weitaus mehr Bedeutung zukommt als dem Ereignis selbst.2 Bei jeder Annäherung an das Thema sind also zwei grundverschiedene zeitliche Horizonte auseinanderzuhalten: zum einen das historische Ereignis des Jahres 9 n. Chr., bei dem als Germanen bezeichnete Stämme im Gebiet rechts des Rheins drei römische Legionen vernichteten – und das es mit den uns zur Verfügung stehenden Quellen und wissenschaftlichen Methoden historisch zu rekonstruieren gilt. Zum zweiten die Rezeption dieses Ereignisses ab dem 15. Jahrhundert, bei der sich – von Gelehrten ausgehend – die deutschsprachige Bevölkerung nördlich der Alpen in eine Tradition mit den Germanen setzte und sich mit den Bewohnern Nordeuropas aus der Zeit um Christi Geburt identifizierte.3 Ausgangspunkt waren die wiederentdeckten Schriften der antiken Autoren, insbesondere die Germania des Tacitus 1455, die Annalen des selben Autors 1507 und die Römische Geschichte des Velleius Paterculus 1520. Die Humanisten erkannten in diesen Texten ihre eigene Vergangenheit, geschrieben in der Antike und damit von höchster Autorität. In unhistorischer Weise wurden Einst und Jetzt miteinander gleichgesetzt und die in den Schriften überlieferten Verhaltensweisen der damaligen Germanen für die eigene Gegenwart normativ: Nun waren die ‚Germanen‘ zu ‚Deutschen‘ und ‚Arminius‘ zu ‚Hermann‘ geworden. Dies alles geschah, obwohl es zwischen der Bevölkerung Nordeuropas in römischer Zeit und jener im 15. Jahrhundert keine gelebte Tradition mehr gab. Besonders apart ist, dass die Identifikation der damaligen Deutschen mit den Germanen der Antike auf Grundlage der Texte griechisch-römischer Autoren vorgenommen wurde, also nicht aufgrund einer Selbstbeschreibung der Träger dieser Kultur, sondern auf Basis einer von außen vorgenommenen Fremdbeschreibung: Die Verfasser dieser Fremdbeschreibungen hatten Land und Leute nur in wenigen Fällen selbst gesehen. Der deutsche Name ‚Hermann‘ (wohl als Übertragung aus dux belli) für Arminius kam im Umfeld Martin Luthers auf. Von seinen Mitstreitern wurde der Reformator zugleich mit dem Cheruskerfürsten identifiziert. Den Gegenpart dieses neuzeitlichen Arminius bildete die römisch-katholische Kirche, mit dem Papst in der Rolle des Augustus oder gar des Varus. Die Parallelsetzung zeigte zugleich an, welche Seite den Sieg davontragen würde. Die Rezeption vom späteren 16. bis weit ins 18. Jahrhundert ist charakterisiert durch eine Fülle primär künstlerischer Bearbeitungen zum Thema ‚Arminius‘ oder ‚Hermannsschlacht‘: als Drama und 2

4

Vgl. die Beiträge in Fansa (1994); Wiegels u. Woesler (1995); Mythos (2009); dazu von See (1970) u. (2003); Wiegels (2007); Bendikowski (2008); Kösters (2009).

REINHARD WOLTERS

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Zum Fortleben des Germanen-Mythos s. A. Demandt und K. Kösters im vorliegenden Band.

Roman, in Lyrik und als Oper. Oft trat Arminius mit seiner Thusnelda nur noch als Held einer tragischen Liebesbeziehung auf. Erst mit dem Nationalstaat wurde der Arminius-Stoff wieder deutlich politischer. Auf der einen Seite stand die Tat des Arminius für die Idee der Einigung aller Deutschen, ein scheinbarer historischer Gegenpol und Vorbild zur Überwindung der deutschen Kleinstaaterei. Doch auf der anderen Seite diente Arminius in der kulturellen und schließlich politischen Auseinandersetzung zwischen Romanismus und Germanismus als Sinnbild germanisch-deutscher Überlegenheit erneut der äußeren Abgrenzung. Äußerungen von großer Nachwirkung waren einerseits die 1808 als Reaktion auf das Napoleonerlebnis verfasste, offen antifranzösische Hermannsschlacht Heinrich von Kleists, andererseits das nach dem Sieg über Frankreich und der Reichsgründung von 1871 schließlich vollendete und mit dem Schwert nach Westen grüßende Hermannsdenkmal bei Detmold. Schon bald nach der Reichsgründung verband sich der politische Germanismus mit den Ideen des Rassismus. Für diesen boten nun allerdings stärker die Charakterisierungen der Nordbewohner in der Germania des Tacitus die antike Vorlage als die historische Tat des Arminius. Die Blütezeit einer deutschen ‚Rasse‘ glaubte man in diesem Text zu erkennen, der die Autochthonie und Unvermischtheit der Germanen ja sogar ausdrücklich hervorhob.4 Zwar war dies ein weit verbreiteter und längst erkannter Topos antiker Ethnographien, doch die Ausbildung einer Theorie der Rassenhygiene ließ sich davon nicht beeindrucken – bis hin zu ihren mörderischen Konsequenzen im Nationalsozialismus. Nach dem Zweiten Weltkrieg war in Deutschland Germanenforschung jedweder Art erst einmal gründlich diskreditiert, auch weil manche Wissenschaftler sich mit ihren Arbeiten allzu bereitwillig in den Dienst des nationalsozialistischen Regimes gestellten hatten. Erst in den 70er Jahren kam es zu einer erneuten Hinwendung zu diesem Themenkreis auf breiterer Basis, bis zu der vor wenigen Jahrzehnten kaum für möglich gehaltenen Fülle archäologischer, historischer und philologischer Neuerscheinungen im Umfeld der Auffindung des Schlachtfeldes von Kalkriese sowie jetzt des Bimillenniums. Die Vorgänge um den historischen Arminius sind durch diese ebenso massenhafte wie verschiedenartige Rezeption deutlich überdeckt worden. Selbst die antiken Quellen haben es schwer, gegen die Kraft der so erzeugten Bilder zu bestehen – und je dünner die Quellenlage ist, desto mehr Raum besteht bekanntermaßen für Überbrückungen und phantasievolle Ausmalungen. Die folgenden Ausführungen bemühen sich um eine Rekonstruktion der Varuskatastrophe als historischen Geschehens. Sie gelten nicht der Wiedergeburt des Arminius als Hermann ab dem 15. Jahrhundert und dessen ganz eigener Geschichte, die bis in die Gegenwart reicht. Doch für jede Annäherung auch an den historischen Arminius ist es unerlässlich, die oft so vertraut anmutenden, aber erst in den Jahrhunderten der Rezeption entstandenen Vorstellungen von ihm – quasi wie ein Archäologe – Schicht für Schicht abzutragen.

2. Römer und Germanen: der politische Hintergrund Seit der Eroberung Galliens durch Caesar (58–51 v. Chr.) waren die Germanen Nachbarn des Römischen Reiches. In beispielloser Weise hatte Caesar das Herrschaftsgebiet Roms von der heutigen Provence – der schmalen Landverbindung zwischen Italien und dem römischen Spanien – bis an den Atlantik im

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Tac. Germ. 4.

DIE SCHLACHT IM TEUTOBURGER WALD

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Abb. 1 | Karte augusteischer und tiberischer Anlagen sowie römischer Truppenvorstöße in augusteischer Zeit.

Nordwesten und den Rhein im Osten vorgeschoben. Innerhalb weniger Jahre gewann er dem Reich das Gebiet des heutigen Frankreich, der Beneluxstaaten sowie die westlichen Teile Deutschlands hinzu. Jenseits des Rheins siedelten die Germanen – jedenfalls nannten die Römer sie so.5 Das Problem eines jeden heutigen Versuchs, die Bewohner rechts des Rheins historisch zu fassen, liegt darin, dass es zwar archäologische Hinterlassenschaften von ihnen gibt, doch keine eigenen schriftlichen Zeugnisse. Es fehlen demnach Quellen, die erzählend Zusammenhänge herstellen und dabei die germanische Perspektive wiedergeben. Alle uns vorliegenden Berichte über die Bewohner rechts des Rheins stammen 5

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Zum Germanenbegriff: Pohl (2000); Beck, Geuenich, Steuer u. Hakelberg (2004); Bleckmann (2009) sowie die Beiträge in Mythos (2009).

REINHARD WOLTERS

von griechischen und römischen Autoren. Häufig sind die Verfasser dieser Schriften nicht einmal in die Nähe des von ihnen beschriebenen Landes gekommen. Ausführungen zur gesellschaftlichen und politischen Ordnung der Germanen, zu Lebensweise und Religion, Verhalten in Frieden und Krieg, dem Verhältnis zwischen Männern und Frauen, Alten und Jungen, Fürsten, Kriegsführern und Volk sind demnach als ethnographische Erzählungen zu lesen. Die darin geschilderten Sachverhalte sind nur im Bewusstsein dieser begrenzten Möglichkeit des Sehens, Verstehens und Ausdrückens der nichteigenen Kultur zu interpretieren. Nach allem, was wir wissen, wurde der Name ‚Germane‘ von den Bewohnern jenseits des Rheins niemals als Selbstbezeichnung benutzt. Auch das mit dem einheitlichen Namen suggerierte Bewusstsein einer gemeinsamen Identität gab es nicht. Die Bewohner rechts des Rheins waren und fühlten sich als Sugambrer, Tenkterer, Chatten, Cherusker, Marser oder Chauken. Sie gliederten sich in eine Vielzahl von Stämmen, mit eigenen Traditionen und eigener Geschichte, von unterschiedlicher Größe, mit eigener gesellschaftlicher und politischer Ordnung und mit je eigener Führung. Zwar existierten Kultgemeinschaften, und man heiratete, zumal unter den führenden Familien, auch über die Stammesgrenzen hinweg, doch ebensogut grenzte man sich immer wieder von den anderen Stämmen ab und war oft genug mit ihnen in Nachbarschaftsfehden verwickelt. Zudem war die Stammeswelt vergleichsweise instabil. In der Überlieferung oft nur kurz aufscheinende und dann wieder verblassende Stammesnamen spiegeln Abspaltungen und Zusammenschlüsse, Neubildungen und das Verschwinden von Stämmen. Eine gemeinschaftlich handelnde Gruppe blieb oft nur so lange stabil, wie eine starke Führung oder der gemeinsame Erfolg sie zusammenhielt. Zur Identifizierung und Abgrenzung belegten sie sich selbst mit einem spezifischen Namen – oder wurden von außen so angesprochen – und konnten sich im Erfolgsfall als ‚Stamm‘ verfestigen.6 Der vereinheitlichende Begriff ‚Germanen‘ für diese differenzierte und heterogene Gesellschaft wurde überhaupt erst von Caesar in die Mittelmeerwelt getragen. Kern des caesarischen Germanenbegriffs war eine schiere geographische Abgrenzung, keine ethnologisch differenzierende Beobachtung: Der Rhein auf seiner vollen Länge war für Caesar die entscheidende Grenzlinie zwischen Kelten und Germanen. Mit seinen ethnographischen Exkursen, in denen er die Verschiedenheit zwischen dem Charakter und der Lebensweise der Kelten links und der Germanen rechts des Rheins beschrieb, füllte Caesar den Germanenbegriff inhaltlich und übermittelte das Bild zweier grundsätzlich verschiedener Völker im Norden Europas. Die auf gemeinsame Sitten und Gebräuche verweisenden archäologischen Überreste, ergänzt durch die Namensforschung zur Rekonstruktion alter Sprachgebiete, bieten uns heute jedoch ein anderes Bild: Demnach gab es am Rhein eher eine horizontale Abfolge der Kulturen, keine vertikalen Unterschiede zwischen Ost und West.7 Im Süden dehnte sich beiderseits des Stroms die Latène-Kultur aus, die von Spanien über Frankreich und den Süden Deutschlands bis nach Böhmen reichte. Ihre Charakteristika sind befestigte Siedlungen (oppida), eine bereits eingeführte Geldwirtschaft und in Ansätzen auch schon Schriftgebrauch. Nördlich darüber lag im Mittelgebirgsraum eine Übergangszone, die zwar auch noch oppida und Münzgebrauch aufweist, jedoch mit aufwändigen Bestattungen ein eigenständiges Profil zeigt. Ganz im Norden hingegen, vor allem im niederländisch-norddeutschen Flachland, gab es dann eine weniger von Ackerbau als von Viehwirtschaft geprägte Gesellschaft mit nur gering entwickelter materieller Kultur. Vorherrschend waren Kleinsiedlungen mit Familienclans, während über6

Grundlegend: Wenskus (1961); vgl. jetzt auch Tausend (2009).

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Ament (1984).

DIE SCHLACHT IM TEUTOBURGER WALD

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geordnete gesellschaftliche Strukturen kaum zu erkennen sind. Das Aufkommen des Germanennamens gerade in diesem Raum spricht dafür, wenn überhaupt, dann in diesem Gebiet und in seinen Bewohnern jene Kulturgruppe zu suchen, von der aus – aufgrund vermeintlich ähnlicher Lebensformen – der Name ‚Germanen‘ auf alle Bewohner rechts des Rheins übertragen wurde.

3. Die Zeit der römischen Angriffskriege Rund 40 Jahre nach der Eroberung Galliens durch Caesar begannen unter Augustus die römischen Feldzüge ins Gebiet rechts des Rheins. Die Kriegszüge sind verbunden mit dem Namen seines Stiefsohns Drusus, der die römischen Truppen ab 12 v. Chr. Jahr für Jahr weiter ins Land führte und 9 v. Chr. schließlich die Elbe erreichte. Auf dem Rückweg stürzte Drusus vom Pferd und erlag seinen Verletzungen. Posthum wurde ihm der Name GERMANICVS verliehen. Der Ehrenname eines ‚Germanensiegers‘ wurde von nun an in seiner Familie erblich. Mit den Drususfeldzügen verbindet sich die Frage, welche Absichten das Imperium überhaupt rechts des Rheins verfolgte. Die Antworten reichen von einer eher minimalistischen Perspektive, nach der es in den Feldzügen nur um die Verteidigung Galliens gegangen sei – wohin immer wieder germanische Kriegergruppen plündernd eingefallen waren und das es nun in einer Art Vorfeldverteidigung zu beschützen gegolten hätte –, bis zu einer Maximalperspektive, nach der von Anfang an die Vorverlegung der Reichsgrenze bis zur Elbe geplant war, wenn nicht noch weit darüber hinaus.8 Die Forschungen der letzten Jahre haben erkennbar gemacht, dass der wissenschaftliche Streit um Art und Umfang des beabsichtigten römischen Landgewinns den Blick vermutlich lange Zeit falsch gelenkt hat. Denn in starkem Maße waren die Feldzüge in Germanien innenpolitisch bestimmt, insbesondere von der Idee einer militärischen Qualifizierung des möglichen Nachfolgers des Augustus.9 Im Feld sollte jener Ruhm erworben werden, der den Kriegsherrn in den Augen der Öffentlichkeit geeignet erscheinen ließ, zukünftig das Römische Reich zu führen. Es ging weniger um die Gewinnung von Land als um die Gewinnung von Prestige. Akzeptiert man diese Perspektive, dann bedeutet das allerdings auch, dass den Germanen selbst nur die Rolle einer materies gloriae zukam: eines Gegenstands, der sich eignete, den erhofften Ruhm zu erwerben. Eine wirkliche militärische Bedrohung konnten die Germanen demzufolge in den Augen der römischen Entscheidungsträger schwerlich sein. Eng verbunden mit den Drususfeldzügen ist weiterhin die Frage, was die Römer am Ende dieser Jahre in Germanien erreicht hatten. Tiberius, der noch aus den Händen seines sterbenden Bruders das Heer übernommen und 8 v. Chr. umfangreiche Organisationsmaßnahmen in Germanien durchgeführt hatte, feierte am 1. Januar 7 v. Chr. in Rom einen großen Triumph über die Germanen. Zugleich wurde die sakrale Stadtgrenze, das pomerium, erweitert – ein Akt, der die Ausdehnung an der Peripherie des Reiches in seinem Zentrum spiegelte. Nicht zuletzt aufgrund der zahlreichen archäologischen Neuentdeckungen in den Gebieten rechts des Rheins ist die Forschung mittlerweile deutlich optimistischer und geht zum überwiegenden Teil davon aus, dass diesen Symbolisierungen in Rom auch eine gewisse Realität im Norden zugrunde lag: Für die Zeit ab 8/7 v. Chr. dürfte das Imperium im germanischen Gebiet bis zur Elbe die Herrschaft be8

8

Neuere Zusammenfassungen der Forschung bei Deininger (2000); Johne (2006).

REINHARD WOLTERS

9

Insbesondere Kehne (1998); Kehne (2002).

ansprucht haben.10 Das bedeutet nicht, dass die römische Herrschaft bis in den letzten Winkel verwaltungstechnisch durchgesetzt war. Auch in Gallien vergingen nach den Eroberungen Caesars noch Jahrzehnte bis zu einer provinzialen Ordnung. Doch römische Herrschaft bestand in dem Sinne, dass Ungehorsam als Widerstand bewertet wurde. In intensiver Weise stützte sich Rom auf die Zusammenarbeit mit germanischen Stammesführern, die ihre Autorität in den Dienst Roms stellten. Nur mit Hilfe dieser indirekten Herrschaftsmechanismen war es für das verwaltungsarme römische Herrschaftssystem überhaupt möglich, ein derart großes, heterogenes und verkehrsgeographisch äußerst problematisches Gebiet zu kontrollieren. Mit Blick auf die Varuskatastrophe des Jahres 9 n. Chr. bedeutet die Feststellung einer römischen Herrschaft ab 8/7 v. Chr. zugleich, dass für rund 20 Jahre, also für beinahe eine nachgewachsene Generation der Germanen, die ständige römische Präsenz in ihrem Land sowie ordnende Eingriffe der Vormacht eine normale Lebenserfahrung waren. Abgesichert wurde die politische Herrschaft durch ein Netz militärischer Standorte. Dieses ist durch die Entdeckungen der letzten beiden Jahrzehnte in seiner Weiträumigkeit und Dichte immer besser erkennbar geworden.11 Neben den Einfallswegen von Xanten aus entlang der Lippe sowie von Mainz aus durch die Wetterau bzw. über Main und Lahn sind mit römischen Militäranlagen bei Marktbreit (südlich von Würzburg), Bielefeld, Hedemünden (zwischen Kassel und Göttingen) und wohl auch an der Porta Westfalica neue Plätze identifiziert worden, die römische Präsenz jetzt auch weit im Südund Nordosten dokumentieren. In Lahnau-Waldgirmes bei Gießen ist schließlich ein Ort engen Zusammenlebens zwischen Römern und Germanen mit einer zentralen Platzanlage gefunden worden, die übereinstimmend als römische Stadtgründung in Germanien angesprochen wird. Derartige Stadtgründungen sind zwar bei dem griechischen Autor Cassius Dio beschrieben,12 doch bis zum archäologischen Fund war seine diesbezügliche Glaubwürdigkeit von der Forschung immer wieder angezweifelt worden.

4. Varus und Arminius Die Gegner im Teutoburger Wald, Varus und Arminius, erscheinen uns nicht nur als Exponenten einer militärischen, sondern einer auch grundsätzlichen zivilisatorischen Auseinandersetzung. Als Anführer ihrer Truppen stehen der Römer und der Cherusker für unterschiedliche politische und gesellschaftliche Organisationsformen, verschiedene Kulturen und Kulturstufen sowie weit auseinandergehende persönliche Motive. Doch die Biographien beider verbindet mehr, als es die unter dem Eindruck der Varuskatastrophe entstandenen Kontrastierungen vermuten lassen. Beide kannten sich nicht nur persönlich, sondern sie dienten derselben Sache. Jeder wirkte auf seine Weise an der Aufrechterhaltung der römischen Herrschaft in Germanien. Der Katastrophe voraus ging eine vertrauensvolle Zusammenarbeit, bei der Arminius häufig mit Varus zu Tische lag.

10 11

Wolters (1999); Eck (2009). Ein aktueller Überblick mit der wichtigsten Literatur jetzt bei Mattern (2008); vgl. auch Moosbauer (2009); für Lahnau-Waldgirmes: Becker (2008a u. 2008b); für

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Dorsten-Holsterhausen: Ebel-Zepezauer, Grünewald, Ilisch, Kühlborn u. Tremmel (2009). Cass. Dio 56,18,2; vgl. Tac. ann. 1,59,2: coloniae novae.

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4.1 Varus Seit Beginn seiner politischen Laufbahn bezeugen die antiken Quellen den um 47/46 v. Chr. geborenen Publius Quinctilius Varus im engsten Umkreis des römischen Herrschers Augustus.13 Ihm war er bald auch verwandtschaftlich verbunden: Varus war ein Schwiegersohn des Agrippa, des wichtigsten Helfers und – bis zu seinem frühen Tod – vorgesehenen Nachfolgers des Augustus. Zugleich war Varus ein Schwager des Tiberius, des Stiefsohns des Augustus, der dann tatsächlich in der Herrschaft folgte. Nach dem Tod seiner Frau um 7 v. Chr. heirate Varus die Claudia Pulchra, Enkelin der Octavia, der einzigen Schwester des Augustus. Von Bedeutung ist, dass er auch mit dieser neuen Ehe sofort wieder in den engsten Familienkreis des Augustus eingebunden wurde. Varus bekleidete mit Tiberius 13 v. Chr. den Konsulat. Für beide war es der erste Konsulat, den sie als ordentliche Konsuln am 1. Januar des Jahres gemeinsam antraten. Derartige Symbole wurden von der Öffentlichkeit nicht nur sorgf ältig beobachtet, sondern auch gezielt gesetzt. Ein Höhepunkt des gemeinsamen Konsulats war der Beschluss zur Errichtung der Ara Pacis, des Friedensaltars für Augustus. So ist Varus auch in den bedeutendsten und noch heute erhaltenen Zeugnissen der augusteischen Zeit präsent: Als einer der Teilnehmer ist er in dem langen Prozessionszug auf der Ara Pacis dargestellt – wohl die Person hinter Tiberius, ein Rang, der ihm zustand –, und ebenso ist Varus in den Res Gestae, dem Tatenbericht des Augustus, nach Theodor Mommsen „die Königin der Inschriften“, namentlich erwähnt.14 Nach seinem Konsulat bekam Varus die mächtigsten und prestigeträchtigsten Provinzen des Römischen Reiches zur Verwaltung: Africa, wohl in den Jahren 7/6 v. Chr., sowie Syrien in den Jahren 6 bis 4 v. Chr. In Syrien befehligte Varus vier Legionen, mehr also, als mit ihm in Germanien untergingen. Mit großer Entschiedenheit schlug er in Judäa einen Aufstand nieder, der sich dort nach dem Tod des Herodes erhoben hatte. Durch den jüdischen Schriftsteller Flavius Josephos besitzen wir eine detaillierte Beschreibung seiner dortigen Tätigkeit.15 Varus bewährte sich in Judäa sowohl als Militär, Verwaltungsbeamter wie als persönlicher Vertrauter des Augustus im Kontakt zum befreundeten judäischen Kaiserhaus. Als er zu Beginn des Jahres 7 n. Chr. Germanien zur Verwaltung bekam, war er Mitte 50, einer der ranghöchsten Aristokraten Roms, erfahren als Verwaltungsfachmann und als Militär, dem Herrscher und Herrscherhaus persönlich verbunden: Das Kommando am Rhein war der ehrenvolle Abschluss einer großen Karriere.

4.2 Arminius Die Informationen über den Germanen Arminius sind quellenbedingt weitaus schlechter.16 Aus den Überlieferungssplittern der griechischen und lateinischen Literatur sind von der neueren Forschung verschiedene Biographien rekonstruiert worden. Zu den gesicherten Elementen zählt, dass Arminius ein Fürstensohn der Cherusker war. Die Cherusker wiederum waren ein germanischer Stamm, der mit Rom besonders eng kooperierte und im Gegenzug vielfache Förderung erfuhr. Arminius wurde 18 oder 16 v. Chr. geboren, war 9 n. Chr. also ca. 25 bis 27 Jahre alt, halb so alt wie sein Gegner. Die Führung der Cherusker hatte zu dieser Zeit wohl noch sein Vater Segimer. Arminius 13 14

10

Syme (1986); Nuber (2008); Salzmann (2009); Eck (2010). R. Gest. div. Aug. 12.

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S. dazu E. Baltrusch im vorliegenden Band, mit teils abweichenden Wertungen. Immer noch grundlegend: Timpe (1970); vgl. Kehne (2008); Wolters (2009a) 89ff.; Kehne (2009b).

selbst befehligte das Aufgebot der Cherusker, die als Verbündete an der Seite des römischen Heeres kämpften. Möglicherweise stand er mit seinen Landsleuten um 7/8 n. Chr. südlich der Donau, wo er gemeinsam mit den römischen Berufssoldaten einen Aufstand der Pannonier gegen die römische Herrschaft niederschlug. Für seine Dienste erhielt Arminius von Rom hohe und höchste Auszeichnungen: Er bekam das römische Bürgerrecht und selbst den Rang eines römischen Ritters. Arminius sprach selbstverständlich Latein, und er war ein Waffenkamerad des römischen Historikers Velleius Paterculus. Dieser hatte selbst an den römischen Feldzügen in Germanien teilgenommen. Dem Augustussohn und -nachfolger Tiberius war Arminius mit Sicherheit über Jahre persönlich vertraut.

5. Verlauf und Ort der Varuskatastrophe Der erfolgreiche Überfall auf die römischen Legionen ist überhaupt nur durch diese politischen und militärischen Hintergründe zu erklären. Protagonisten waren die Cherusker, doch selbst diese waren uneinig: Die Quellen berichten von Richtungskämpfen.17 Teile der cheruskischen Führung, so der Schwiegervater des Arminius, Segestes, sollen dem Varus sogar den geplanten Abfall angezeigt haben. Varus entschloss sich jedoch, dem bis dahin mit seinem Leben für Rom kämpfenden und mit der Spitze der römischen Führung verkehrenden Arminius zu vertrauen. Denunziationen gehörten sicherlich zum Alltag eines römischen Legaten. Für den Verlauf der Varuskatastrophe liegt ein vergleichsweise detaillierter Bericht des Cassius Dio vor. Der Bericht stammt zwar erst aus dem beginnenden 3. Jahrhundert n. Chr., doch Philologen und Historiker stimmen darin überein, dass Cassius Dio sehr gute, zeitnahe Quellen zu Verfügung standen. Seine Darstellung des Geschehens wird mehrheitlich als glaubwürdig angesehen.18 Demnach war die Vernichtung der Legionen keine eigentliche Schlacht, sondern ein viertägiges Kampfgeschehen über einen weiten Raum: Die Germanen sollen Varus, der sich mit seinem Heer in der Nähe der Weser aufhielt, einen Unruheherd angezeigt haben. Darauf zog Varus mit drei Legionen, die von Tross, Wagen, Frauen, Sklaven und Kindern begleitet wurden, zu diesem Unruheort aus. Die Mitführung des umfangreichen Trosses ist ein Hinweis, dass er das Heer wohl in die Quartiere an den Rhein zurückführen wollte. Dort war die Masse der Soldaten den Winter über besser zu versorgen als in den Quartieren rechts des Rheins. Aus logistischen Gründen wurden die Besatzungen in den rechtsrheinischen Anlagen während des Winters deutlich reduziert. Wenn Varus sein Heer zugleich zum Rhein zurückführen wollte, so ist davon auszugehen, dass er sich von der Weser aus grob in Richtung Westen bewegte. Zu dem angezeigten Unruhegebiet zogen die Legionen durch schwieriges, durch Wälder, Berge und Sümpfe charakterisiertes Gelände, dessen Durchquerung noch während des Marsches immer wieder Erschließungsarbeiten notwendig machte. Offensichtlich war es mit einer derart großen Menschenmenge noch nicht passiert worden. Hier kam es zum plötzlichen ersten Überfall der Germanen. Zuvor hatten sich die Stammesführer unter dem Vorwand, weitere Verstärkung zu holen, aus dem Verband entfernt. Aus der Perspektive des römischen Heeres bedeutet dies, dass die in Waffen auf den 17

Vell. 2,118,3f.; Tac. ann. 1,55,3; 60,1; Flor. epit. 2,30,33; Cass. Dio 56,19,3.

18

Cass. Dio 56,18–23; dazu Manuwald (2007). Eine handliche Zusammenstellung der wichtigsten Quellen jetzt bei Walther (2008). Zur Überlieferungskritik, mit teils abweichender Gewichtung: John (1963).

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römischen Heereszug vorrückenden germanischen Verbände als die erhoffte Verstärkung angesehen wurden – sie mithin bis zum ersten Speerwurf die Maske von Verbündeten trugen. Für die Römer war es aufgrund des Geländes nicht möglich, sich den germanischen Angreifern in Kampfformation zu stellen. Varus entschloss sich, soweit es die naturräumlichen Verhältnisse zuließen, ein Lager aufzuschlagen. Im Lager wurden der Tross reduziert, die meisten der Wagen verbrannt und nicht dringend Notwendiges zur Zurücklassung bestimmt. Derart auf die neue Situation vorbereitet, zogen die Legionen am nächsten Tag geordnet weiter, und es gelang ihnen sogar – bei anhaltend starken Verlusten –, offenes Gelände zu erreichen. Doch Varus setzte seinen Weg fort, erneut in schwieriges Gelände. Das römische Heer, das sich abermals nicht entfalten konnte, wurde erneut von den nadelstichartig vorgetragenen Angriffen der Germanen überzogen. Ohne Lagerbau wurde der Marsch über Nacht fortgesetzt. Der Erfolg brachte den Germanen kontinuierlich weiteren Zuzug, und die Verhältnisse verschoben sich immer mehr zu ihren Gunsten. Am vierten Tag konnten die germanischen Krieger die Reste der römischen Truppen einkesseln. In dieser ausweglosen Lage gaben sich der bereits verwundete Varus sowie andere hohe Offiziere selbst den Tod. Versuche einer Lokalisierung des Geschehens können sich vor allem auf einen Bericht des Historikers Tacitus stützen, der den Besuch des Unglücksortes sechs Jahre später durch Germanicus beschreibt, als dieser die verbliebenen Überreste der Gefallenen bestattete.19 Für einen Autor, der das Gebiet wohl niemals selbst gesehen hat, sind die Angaben des Tacitus bemerkenswert genau: Demnach zog Germanicus mit seinem Heer zu den äußersten Brukterern (ad ultimos Bructerorum) in ein Gebiet zwischen Ems und Lippe (inter Amisiam et Lupiam), von wo ein (hügeliger/bewaldeter) Landschaftsstrich (saltus) nicht weit entfernt war, der nach einem ansonsten nicht bezeugten Ort Teutoburgium seinen Namen trug: Mit der Angabe eines Stammesnamens, von Flusskoordinaten und schließlich einem ganz konkreten Ortsnamen bemüht sich Tacitus um größte geographische Exaktheit. Kernproblem jeder von diesem Text ausgehenden geographischen Zuschreibung ist, wie das „nicht weit (entfernt) (haud procul)“ zu bewerten ist: Bezeichnet dieses eine Distanz von beispielsweise 2 Marschstunden oder aber von 2 Tagen? Die textsicheren Humanisten identifizierten den östlich von den Oberläufen von Ems und Lippe gelegenen Osning mit dem saltus Teutoburgiensis des Tacitus, und ihre Benennung dieses Höhenzugs als ‚Teutoburger Wald‘ hat sich ab dem 17. Jahrhundert durchgesetzt. Doch auf der Grundlage dieses Textes konnte, trotz zahlreicher Vorschläge, bis heute kein Ort ausgemacht werden, an dem ein signifikanter archäologischer Befund die Deutung als römisch-germanischer Kampfplatz bestätigt hätte. Die unstrittige Entdeckung eines solchen Platzes aus den Jahren der römischen Okkupation ist erstmals 1989 bei Kalkriese gelungen, nördlich von Osnabrück.20 Vor Ort sind die Zuschreibungen als ‚Örtlichkeit der Varusschlacht‘ schnell erfolgt und begründeten den Bau eines großen Museums mit angeschlossenem Freizeitpark. Die hinsichtlich der Deutung des Fundplatzes anfangs noch gesetzten Fragezeichen sind längst abgelegt. Schon der die Vermarktung leitende Name lässt keinen Zweifel: „Varusschlacht im Osnabrücker Land. Museum und Park Kalkriese“. Doch noch ist die Diskussion über die Deutung des Fundplatzes nicht abgeschlossen, und sie kommt vielleicht nach dem Bimillennium in ein ruhigeres Fahrwasser: Die vorherrschende Chronologie der römischen Militärplätze rechts des Rheins, ein wesentliches Argument für die angegebene Interpretation von Kalkriese, ist durchaus nicht unproblematisch und beinhaltet, wie etwa angesichts des gänzlichen 19

12

Tac. ann. 1,60,3.

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20

Grundlegend die Fundmünzenpublikation von Berger (1996). Zum Fundplatz im vorliegenden Band A. Rost u. S. Wilbers-Rost.

Fehlens eines Germanicushorizonts im archäologischen Befund dieser Region, erhebliche Probleme. Ebenso sind die Widersprüche zwischen der literarischen Überlieferung zur Varuskatastrophe einerseits und dem Fundplatz von Kalkriese andererseits auch nach mittlerweile 20 Jahren archäologischer Forschung eher größer als kleiner geworden.21

6. Die politischen Folgen der Varuskatastrophe Aus römischer Perspektive war die Niederlage des Varus kein Einschnitt: Die drei verlorenen Legionen wurden sofort ersetzt, dazu zwei weitere neu aufgestellt, so dass am Rhein nun insgesamt acht Legionen, mit Hilfstruppen wohl über 80000 Mann standen. Nach Sicherung der Rheingrenze operierten die römischen Truppen zwischen 10 und 13 n. Chr. wieder rechts des Stroms. Militärstützpunkte wurden neu angelegt und Straßen befestigt.22 Der unverändert bestehende Herrschaftsanspruch über Germanien kommt deutlich in den 14 n. Chr. an mehreren Stellen des Reiches veröffentlichten Res Gestae zum Ausdruck. Im außenpolitischen Teil des letztmals 13 n. Chr. von Augustus redigierten Textes heißt es mit Bezug auf Germanien: „Die Provinzen Galliens und Spaniens, ebenso Germanien habe ich befriedet, ein Gebiet, das der Ozean von Gades bis zur Mündung der Elbe umschließt“.23 Ungeachtet einer möglicherweise bewusst konstruierten Doppeldeutigkeit war für den unvoreingenommenen Rezipienten dieser Passage die Befriedung Germaniens nicht Anspruch, sondern Tatsache. Der nicht erwähnten Varuskatastrophe f ällt allenfalls der Rang einer Betriebsstörung zu, die bald behoben sein würde. Für die Jahre ab 14 n. Chr. stellen die mit dem Tod des Augustus einsetzenden Annalen des Tacitus wieder eine detailreichere Überlieferung bereit: Im Zentrum der ersten beiden Bücher des Werks stehen die Feldzüge des Germanicus, des Sohns des Germanien-Siegers Drusus.24 Jahr für Jahr führte dieser seine Truppen immer tiefer nach Germanien hinein, mit dem Ziel, auf den Spuren seines Vaters Drusus dem Römischen Reich das Gebiet bis zur Elbe zurückzuerobern. Einen Einschnitt brachte erst die Abberufung des Germanicus vom Oberkommando am Rhein Ende 16 n. Chr. Sie sollte sich wirkungsgeschichtlich als entscheidende Zäsur in der römischen Germanienpolitik erweisen. Die Rückberufung des Germanicus nach Rom erfolgte gegen dessen Willen und Widerstand. Vorangetrieben wurde sie vom neuen Herrscher Tiberius, zugleich dem besten Germanienkenner seiner Zeit: Zu eklatant war das Missverhältnis zwischen den enormen Verlusten des rücksichtslos vordringenden und – gegen die Überlieferung – wohl auch nur mäßig begabten jungen Feldherrn und dem wenigen tatsächlich von ihm Erreichten. Mit der Abberufung des Germanicus wurden die römischen Truppen auf die Rheinlinie zurückgezogen. Doch bedeutete der Rückzug keinen förmlichen Verzicht auf das ehemals beherrschte Gebiet rechts des Rheins. Eher ging es darum, die von Germanicus so gef ährlich verlustreich und nahezu ohne jede Nachhaltigkeit geführten Feldzüge zumindest für den Moment auszusetzen. Dies zeigt sich auch daran, dass sich in der römischen Öffentlichkeit und zumal Teilen der senatorischen Aristokratie der Anspruch auf Germanien noch bis zum Ende des Jahrhunderts hielt, und nahezu jeder Herrscherwechsel war, wie zum letzten Mal beim Übergang auf Traian im Jahre 98 n. Chr. von Tacitus formuliert, mit der Hoffnung verbunden, dass der neue Kaiser diesen Anspruch alsbald Realität werden lassen 21

Vgl. Kehne (2000); Wolters (2000); Chantraine (2002); Wolters (2007); Berger (2007); Heinrichs (2007); WiggWolf (2007); Wolters (2010).

22 23 24

Vgl. Tac. ann. 1,38,1; 50,1; 4,72f.; Vell. 2,121,1. R. Gest. div. Aug. 26. Timpe (1968); Kehne (1998).

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würde.25 Doch selbst ein Traian, unter dem das Römische Reich zu seiner größten Ausdehnung kommen sollte, hatte an einer Wiedereroberung Germaniens kein Interesse mehr. Die Gef ährdungen an den anderen Außengrenzen des Reiches, nicht zuletzt an der Donau, waren weitaus realer als die wohl nur noch aus Tradition übersteigert dargestellten Bedrohungen am Rhein. Eine Beurteilung der politischen Folgen der Varuskatastrophe aus germanischer Perspektive ist eng verbunden mit der Frage, welches die Ziele bei dem Überfall auf das Varusheer waren. Die Hervorbringung einer einheitsstiftenden Gemeinschaftstat aller Germanen, so wie die späteren Deutschen es oft und gerne hineininterpretierten, war sicherlich kein von den zeitgenössischen Bewohnern der Gebiete rechts des Rheins verspürtes Defizit: Nur ein Teil von ihnen, im wesentlichen die Stämme aus dem nördlichen Mittelgebirgsraum zwischen Ems und Weser, war überhaupt an dem Überfall beteiligt; andere – wie Friesen und vielleicht auch Chauken – hielten Rom auch über 9 n. Chr. hinaus die Treue. Römische Quellen sprechen von einem Widerstreben der Germanen gegen die Formen der römischen Herrschaft, gegen die von Rom erhobenen Tribute und gegen die von der Vormacht beanspruchte Rechtsprechung. Derartige Widerstände gegen eine von außen aufgestülpte Ordnung, die vormals selbständige Gemeinschaften und zumal deren politische Führer zu Untertanen machte, sind als Motiv nicht nur plausibel, sondern überaus wahrscheinlich. Allerdings verlieren sie ihre spezifische Aussagekraft und Trennschärfe dadurch, dass sich die Römer – aus deren Perspektive ja allein die Quellen vorliegen – im Prinzip jeden Aufstand gegen ihre Herrschaft auf diese Art und Weise erklärten. Sucht man nach individuellen Merkmalen außerhalb einer derartigen ‚Topik der Revolte‘, so kam der Person Arminius sicherlich eine wichtige Rolle zu: Der junge Truppenführer genoss als Angehöriger der cheruskischen Stammesführung einerseits sowie als römischer Bürger und Ritter andererseits die Privilegien gleich zweier verschiedener politischer und gesellschaftlicher Systeme. Die Quellen beschreiben ihn als klug und geschickt, aber auch ausgesprochen ehrgeizig und polarisierend. Möglicherweise besaß er 9 n. Chr. noch nicht einmal die Führung im Stamm der Cherusker. Doch seine persönlichen Ambitionen gingen offenbar deutlich darüber hinaus. Mit dem Markomannenkönig Maroboduus stand ein Vorbild zur Verfügung.26 Innerhalb nur weniger Jahre hatte dieser von Böhmen aus durch den Zusammenschluss verschiedener Stämme eine bis in das Gebiet der mittleren Elbe reichende Machtbildung geschaffen, die es ihm erlaubte, mit Rom beinahe auf Augenhöhe zu verhandeln. Eine Gegnerschaft zu Rom konnte für Arminius ein Mittel sein, diejenigen germanischen Gruppen, deren latente Unzufriedenheit er zur Tat führte, längerfristig an seine Führung zu binden. Denn dass die Besiegung eines römischen Heeres unweigerlich massivste römische Gegenschläge nach sich ziehen würde, war ein Grundelement der römischen Geschichte, das dem Neubürger Gaius Iulius Arminius auch ohne Einbürgerungstest bekannt gewesen sein wird. Mit anderen Worten: Diejenigen Germanen, die er durch Teilnahme an dem Aufstand gegen Rom kriminalisierte, waren von nun an mit ihm in einer Schicksalsgemeinschaft. In dieser Führungsposition organisierte Arminius dann auch in den Jahren nach 9 n. Chr. den Widerstand gegen Germanicus. Dies war die Zeit seiner potentia. Vermutlich umfasste die mit diesen Worten ausgedrückte Macht weit mehr als die Führung über die Cherusker und umschloss die Koalition aller bereits an dem Überfall beteiligten Stämme.27 Insoweit hatte Arminius in diesen Jahren seine persönlichen Ziele erreicht. Wiederholt gelang es ihm, sich mit seinen Stammeskriegern in offenen

25 26

14

Wolters (1989) u. (2009b). Dazu jetzt die verschiedenen Beiträge in Salacˇ u. Bemmann (2009), insbes. Dobesch (2009); Kehne (2009c).

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27

Tac. ann. 2,88,3.

Feldschlachten gegen das riesige Berufsheer des Germanicus zu behaupten. Unstrittig war dies der Höhepunkt des politisch-militärischen Lebens des Arminius! Doch die Spannungen innerhalb der germanischen Stämme, selbst innerhalb der Cherusker, waren durch die römischen Angriffskriege nur überdeckt. Schon bald, nachdem die Römer Ende 16 n. Chr. ihre Wiedereroberungsversuche eingestellt hatten, brachen die Konflikte wieder offen aus: Ein Konflikt betraf das Verhältnis zwischen den beiden Führungsmächten im mittleren und südlichen germanischen Raum, zwischen der Reichsbildung des Maroboduus und der Militärkoalition des Arminius. In einer großen Schlacht stellten der Markomanne und der Cherusker ihre Truppen einander gegenüber. Arminius siegte, wobei beide Heere bezeichnenderweise in römischer Ordnung kämpften. Doch mit dem Sieg verlor Arminius einen weiteren Gegner – und Faktor zur Stabilisierung der eigenen Macht. Denn ohne äußeren Gegenpol vermochte er offensichtlich nicht, seine Stellung zu behaupten. Ungef ähr zwei Jahre nach diesem Sieg wurde Arminius durch seine eigenen Verwandten ermordet. Sie warfen ihm superbia (Hochmut) vor und auch, dass er sich zum König über seine Landsleute machen wollte.28

7. ‚Geschichte‘ wird gemacht: Erste Umdeutungen des Geschehens Das erste Jahrhundert n. Chr. ist besonders interessant, weil hier aus einer ex eventu-Perspektive bereits Umdeutungen und Umwertungen der römischen Okkupationsgeschichte einsetzten, ebenso der Bewertung der Varuskatastrophe. Ließ der römische Herrscher Tiberius den Germanicus noch Anfang 17 n. Chr. in Rom einen Triumph über die „bis zur Elbe besiegten Völker“ feiern, so wurden zwei Jahre später dieselben Aktivitäten in einem Ehrenbeschluss für den verstorbenen Germanicus nur noch mit den Worten gewürdigt, ihm sei es gelungen, die Grenzen Galliens vor den Germanen zu beschützen.29 Nicht zuletzt derartig rasche Umdeutungen der Geschehnisse machen es so schwierig, aus den zumeist erst später einsetzenden literarischen Quellen die Ziele der römischen Unternehmungen rechts des Rheins zu rekonstruieren. Doch in Einzelf ällen erlaubt es die literarische Überlieferung, gewissermaßen schichtenweise in die Veränderungen der zeitgenössischen Vorstellungen vorzudringen. Ein Beispiel ist das sich in zwei Jahrzehnten völlig verändernde Bild vom römischen Feldherrn P. Quinctilius Varus: Nach der Selbsttötung des römischen Feldherrn ließ Arminius das Haupt seines Gegners abschlagen und übersandte es dem Maroboduus. Der Markomannenkönig schlug dieses indirekte Koalitionsangebot jedoch aus und schickte den Kopf des Varus weiter nach Rom. Augustus wiederum übergab es den Quinctiliern zur Bestattung in der Familiengruft. Eine symbolische Ächtung des Varus, etwa um der Öffentlichkeit einen Haupt- oder Alleinschuldigen zu präsentieren, fand nicht statt: Von einer gewissen Vertrauensseligkeit abgesehen, die in einigen der Quellen anklingt, wurden in erster Linie der Verrat und die Hinterlist der Feinde für den Verlust der Legionen im Teutoburger Wald verantwortlich gemacht, dazu das Schicksal. Dessen Wirken entzog das Geschehen vollends der den Menschen gegebenen Möglichkeiten. Auf die Stellung der Angehörigen des Varus in Rom hatte die verheerende Niederlage in Germanien keinen Einfluss. Der politische Aufstieg seiner Neffen setzte sich beispielsweise fort. Publius Cor28

Tac. ann. 2,88,2.

29

Tac. ann. 2,41,2; Crawford (1996) 515ff. (Tabula Siarensis, insbes. Frg. I, Z. 12–15); zur Textkonstitution auch Johne (2006) 194ff.; vgl. Lehmann (1995).

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nelius Dolabella wurde im Jahre 10 n. Chr. und Sextus Appuleius im Jahre 14 n. Chr. Konsul. Als Statthalter erhielten die Neffen mit Africa und Asia die wichtigsten und vornehmsten Provinzen zur Verwaltung angewiesen: Ungeachtet der Ereignisse des Jahres 9 n. Chr. blieben die Quinctilii höchst geachtete und von Augustus beständig geförderte Mitglieder der Gesellschaft. In besonderer Weise galt dies für die Witwe des Varus. Als Freundin der einflussreichen jüngeren Agrippina, der Gemahlin des Germanicus, war Claudia Pulchra eine der großen Damen ihrer Zeit. Der engen Verbindung der beiden Mütter dürfte es zu verdanken gewesen sein, dass P. Quinctilius Varus, der Sohn des Feldherrn, im Herbst 18 n. Chr. sogar mit Iulia Livilla, der jüngsten Tochter des Germanicus, verlobt wurde: Nur neun Jahre nach der Niederlage des Varus sollte der Sohn des so furchtbar gescheiterten Legaten zum Schwiegersohn des vorgesehenen Nachfolgers des Tiberius werden! Die Umtriebigkeit des Segestes, der sich nach 15 n. Chr. als beständiger Freund des Imperiums und Mahner erfolgreich zu profilieren versuchte und für sich in Anspruch nahm, die Verschwörung des Arminius dem Varus noch rechtzeitig angezeigt zu haben, ging offensichtlich nicht zu Lasten des Varus. Obwohl die Version des Germanen durchaus Verbreitung fand, verletzten direkte Vorwürfe an die Adresse des Varus noch in den zwanziger Jahren des 1. Jahrhunderts n. Chr. ein Tabu: Als der für verbale Tiefschläge berüchtigte Rhetor Lucius Cestius Pius in einer Anspielung dem P. Quinctilius Varus die Niederlage seines Vaters vorhielt, galt dies dem älteren Seneca als ein Musterbeispiel unanständigen Verhaltens.30 Zu einer Wende in der Beurteilung des Varus kam es erst einige Jahre später: Im Jahre 26 wurde in Rom Claudia Pulchra von dem ambitionierten Aufsteiger Domitius Afer angeklagt. Es war dies die Zeit der berüchtigten Hochverratsprozesse unter Tiberius; in Rom herrschte ein Klima der Angst, Verfolgung und Missgunst. Das die üblichen Verdächtigungen zitierende Verfahren – unsittlicher Lebenswandel, Giftmischerei und Zauberei zu Lasten des Prinzeps – zielte über Claudia Pulchra im Kern auf eine Beschädigung der jüngeren Agrippina: Entsprechend unmöglich war es der mittlerweile verwitweten Gattin des Germanicus, ihrer Vertrauten zu helfen. Im Jahr darauf zog Domitius Afer den Sohn des Legaten gleichfalls in das für die Angeklagten aussichtslose Verfahren hinein. An diesem Punkt endet die Überlieferung zu den Quinctiliern. Mit der Anklage und dem Ausscheiden der Familie aus der Führungsschicht des Reiches war allerdings auch das Andenken des Feldherrn seines Schutzes beraubt. Schon in seiner drei Jahre später abgefassten Römischen Geschichte gab Velleius Paterculus eine verzerrende Karikatur des ihm persönlich vertrauten Toten: „Quinctilius Varus (…) war von milder Gemütsart, ruhigem Temperament, etwas unbeweglich an Körper und Geist, mehr an müßiges Lagerleben als an den Felddienst gewöhnt. Dass er wahrhaftig kein Verächter des Geldes war, beweist seine Statthalterschaft in Syrien: Als armer Mann betrat er das reiche Syrien, und als reicher Mann verließ er das arme Syrien. Als er Oberbefehlshaber des Heeres in Germanien wurde, bildete er sich ein, die Menschen dort hätten außer der Stimme und den Gliedern nichts Menschenähnliches an sich. (…) Die Zeit des Sommerfeldzugs (brachte er) damit zu, von seinem Richterstuhl aus Recht zu sprechen und Prozessformalitäten abzuhandeln.“31 Das vernichtende Urteil erscheint an dieser Stelle zum ersten Mal. Vermutlich war Velleius selbst sein Urheber. Erwachsen ist es auf der einen Seite aus dem von Velleius bewusst konstruierten Gegensatz des römischen Feldherrn zum Charakter des Arminius, der nach dem Schriftsteller „tüchtig im Kampf und rasch im Denken (war und) ein beweglicherer Geist, als es die Barbaren gewöhnlich sind“.32 30 31

16

Sen. contr. 1,3,10. Vell. 2,117,2–4 (Übers. M. Giebel).

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Vell. 2,118,2.

Auf der anderen Seite griff Velleius auf eine vorhandene Topik negativer Charakterisierungen zurück. Das Bonmot zur syrischen Statthalterschaft nimmt kurioserweise eine dem Varus selbst vorgetragene Klage der Bewohner Judäas gegen Herodes auf.33 Und nur wenige Kapitel zuvor beschreibt Velleius inhaltlich durchaus ähnlich, wenn auch rhetorisch weniger brillant, den – von ihm gleichfalls herabgewürdigten – Marcus Lollius als einen Mann, „dem der Gelderwerb allgemein mehr am Herzen lag als eine ordentliche Amtsführung“.34 Beide Passagen bedienten das ebenso beliebte wie in der Öffentlichkeit weit verbreitete Bild vom römischen Magistraten, der sich in den Provinzen unrechtmäßig bereicherte. Zu Lebzeiten des Legaten – oder gar in unmittelbarer zeitlicher Folge seiner syrischen Statthalterschaft – wären solche Anwürfe und Urteile undenkbar gewesen. Allein schon die Zugehörigkeit zur Familie des Herrschers hätte Varus davor geschützt. Doch auch wenn Velleius ihn in einer rhetorisch weniger stilisierten Stelle zurückhaltender als „durchaus ernsthaften Mann mit den besten Absichten“ würdigt,35 so sind es vor allem die Charakterisierungen jener abschätzig formulierten Passage – mit denen sich Velleius in der Zeit der Verfolgung der Quinctilii zugleich selbst positionierte –, die seitdem das Bild von Varus nachhaltig bestimmt haben und Ausgangspunkt weiterer negativer Ausmalungen der Persönlichkeit des Varus geworden sind: So bezeichnete Theodor Mommsen den Legaten als „Mann von fürstlichem Reichtum wie von fürstlicher Hoffart, aber von trägem Körper und stumpfem Geist und ohne jede militärische Erfahrung und Begabung.“ Allein der „Kopf- und Mutlosigkeit des römischen Feldherrn“ war nach Auffassung des Historikers die Schuld am Untergang der Legionen anzulasten.36 Als ein „anmaßende(r) und stumpfsinnige(r) Grand-Seigneur“ erschien der „von allen guten Geistern verlassene P. Quinctilius Varus“ Ernst Hohl, und „diesen Popanz mit der Verwaltung Germaniens zu betrauen“ war nach diesem Historiker ein „verhängnisvolle(r) Entschluss des greisen Augustus“.37 Auch wenn in der jüngeren Forschung die Charakterisierungen weniger süffig ausfallen, so ziehen sich die in krassem Widerspruch zur sachgerechten Amtsführung des Varus in Syrien stehenden Vorwürfe hinsichtlich seiner angeblichen militärischen Unerfahrenheit und seines fehlenden Fingerspitzengefühls bis heute durch die meisten Darstellungen, und sie prägen unser Bild von dem römischen Feldherrn.

8. „… ohne Zweifel der Befreier Germaniens“ Am Ende des zweiten Buchs der Annalen schließt der römische Historiker Tacitus die GermanicusErzählung mit dem Ausblick auf das Schicksal von dessen bedeutendstem militärischen Gegner ab. An dieser Stelle widmet der römische Senator dem Arminius seinen berühmt gewordenen Nachruf: „Im übrigen hatte Arminius, der nach dem Abzug der Römer und der Vertreibung Marbods nach der Königsherrschaft trachtete, den Freiheitssinn der Volksgenossen gegen sich, und als man mit Waffengewalt vorging, kämpfte er mit wechselndem Glück und fiel durch die Hinterlist seiner Verwandten: Er war ohne Zweifel der Befreier Germaniens (liberator haud dubie Germaniae), der nicht wie andere Könige und Heerführer das römische Volk in seinen Anf ängen, sondern ein Reich in seiner ganzen Blüte herausgefordert und in den Schlachten mit wechselndem Erfolg (gekämpft hatte), im Krieg aber unbesiegt (geblieben war). Er vollendete das 37. Lebensjahr, davon 12 im Besitz der Macht, und noch heute besingt man ihn bei den barbarischen Völkern, während er in den Jahrbüchern der Griechen, die nur 33 34

Ios. ant. Iud. 17,307; bell. Iud. 2,86. Vell. 2,97,1.

35 36 37

Vell. 2,120,5. Mommsen (1905) 340. Hohl (1942) 472.

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das Eigene bewundern, unbekannt ist und auch von den Römern kaum gerühmt wird: Während wir das Alte preisen, vernachlässigen wir das eben erst Vergangene.“38 Die Passage ragt, abgesehen von den biographischen Details, heraus, weil sie in der gesamten antiken Literatur die einzige ist, die dem Arminius historische Bedeutung zuspricht. Auch Tacitus war sich dieser Neubewertung bewusst: Denn erst von diesem Standpunkt aus wird seine Kritik der bisherigen griechischen und römischen Überlieferung verständlich, deren Autoren Arminius kaum beachteten, geschweige denn würdigten. Und gerade die Affirmation haud dubie (ohne Zweifel) zeigt, dass eben doch Zweifel an dieser Einschätzung möglich waren. Die Würdigung der Leistungen des Arminius „in den Schlachten (hatte er) mit unterschiedlichem Ausgang (gekämpft), im Kriege aber (war er) unbesiegt (geblieben)“ verdeutlicht fernerhin, dass nicht primär der Sieg des Arminius über Varus, sondern in der Summe die Kämpfe der Germanicuszeit für Tacitus die Grundlage seines Urteils bildeten. Die Rezeption freilich löste das Urteil des Tacitus liberator haud dubie Germaniae in aller Regel aus dem Kontext und verband es direkt mit der Vernichtung des Varusheeres. In dieser anachronistischen Zuspitzung findet es sich etwa als Inschrift auf dem Hermannsdenkmal. Das Ende der römischen Offensiven wurde von den Späteren symbolkräftig auf ein einzelnes Ereignis zusammengezogen. Die Benennung der Vernichtung des Varusheeres als ‚Schlacht‘ gab dem politischen Verzicht darüber hinaus eine – aus der Sicht der Germanen – aktive und zugleich heroische Komponente. Erst in dieser zunehmenden Verdichtung wuchs der ‚Schlacht im Teutoburger Wald‘ mit Hilfe des abgeleiteten Tacitusurteils der Rang einer historischen Wendemarke zu.

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II. Pars imperii

Die Gemma Augustea.

Klaus-Peter Johne Das Stromgebiet der Elbe im Spiegel der griechisch-römischen Literatur

Im Sommer des Jahres 9 v. Chr. stand der Stiefsohn des Kaisers Augustus, Nero Claudius Drusus, mit einem Heer im Inneren Germaniens am Ufer eines breiten Stromes, den vor ihm kein römischer Feldherr und keine Legion, vielleicht nicht einmal ein römischer Kaufmann zu Gesicht bekommen hatte – am Ufer der Elbe. Vom Rhein aus war er durch das Gebiet der Chatten ins Suebenland und von dort zu den Cheruskern gezogen, durch Teile des heutigen Hessen, Westfalen und Niedersachsen. Nachdem er die Weser überschritten hatte, rückte er, dem Zeugnis des Cassius Dio zufolge alles verwüstend, bis zur Elbe vor. Der Prinz ließ am Ufer ein Denkmal errichten und dokumentierte damit die Entdeckung dieses Flusses für die griechisch-römische Welt.1 Sein Feldzug hatte eben auch den Charakter einer fremde Territorien erkundenden Expedition. Seit diesem Vorgang war die Elbe ein geographischer wie politischer Faktor in Mitteleuropa. Die vagen Kenntnisse der vergangenen Jahrhunderte, angefangen vom ‚Bernsteinfluß‘ Eridanos über die aus dem Arkynischen Gebirge nach Norden fließenden Ströme bei Aristoteles, die mögliche Entdeckung der Elbmündung bei Pytheas bis hin zu dem doch mit einiger Wahrscheinlichkeit zu vermutenden Wissen Caesars, wurden nun durch die Gewißheit ersetzt, daß im zentralen Germanien ein dem Rhein vergleichbarer großer Fluß parallel zu ihm in den nördlichen Ozean verläuft. Die Feldzüge, die mit dem Jahr 12 v. Chr. ihren Anfang nahmen, haben das Weltbild der Römer über den Norden in kurzer Zeit wesentlich erweitert. Scheinen die Kenntnisse zuvor nicht viel über die am östlichen Rheinufer siedelnden Germanen, die Caesar beschrieben hatte, hinaus gereicht zu haben, so dehnten sich seitdem von Jahr zu Jahr nicht nur der Einflußbereich Roms, sondern auch die Kenntnisse über Germanien in geradezu rasanter Weise aus. Es waren die Jahre, von denen Strabon später sagte, die Römer hätten den gesamten Westen Europas bis zur Elbe erschlossen.2 Ausgehend von dem Zeitpunkt der ‚Entdeckung‘ der Elbe im Jahre 9 v. Chr. soll in den folgenden Ausführungen drei Fragen nachgegangen werden: 1. Seit wann waren und wie wurden Griechen und Römern die Elbe und ihr Stromgebiet bekannt? 2. Wann und unter welchen Umständen kann der Plan einer Ausdehnung des Römischen Reiches bis an diesen Fluß entstanden sein? 3. Welche Rolle spielten die Elbe und die sie umgebenden Landschaften nach dem Scheitern der Expansionspläne in der antiken Literatur? Bei der ersten Frage geht es um einen Aspekt des geographischen Weltbildes der Antike. Lange Zeit waren die Vorstellungen über den mitteleuropäischen Raum bei den griechischen Schriftstellern äußerst vage. Für die Autoren vom 7. bis zum 2. Jahrhundert v. Chr. war stets die Donau die Begrenzungslinie in Richtung Norden, an der alle näheren Kenntnisse ihr Ende fanden. Allenfalls in die schemenhaften Vorstellungen vom ‚Bernsteinfluß‘ Eridanos könnte ein Wissen von der Elbe mit eingeflossen sein. Dieser Eridanos galt bei dem Dichter Hesiod um 700 v. Chr. als der markante Fluß des Westens, vergleichbar dem Nil im Süden, der Donau im Norden und dem Phasis in der Kolchis für den

1

Cass. Dio 55,1,2–3.

2

Strab. 1,2,1 p. 14C.

DAS STROMGEBIET DER ELBE IM SPIEGEL DER GRIECHISCH-RÖMISCHEN LITERATUR

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Osten, alles aus der Perspektive des Mittelmeerraumes betrachtet.3 Da er mit der Bernsteingewinnung verbunden war, identifizierte man ihn mit Flüssen, über die der im Süden so begehrte Stoff importiert wurde, mit dem Po im nördlichen Italien und mit der Rhône im südlichen Gallien. Interessant ist eine Äußerung Herodots aus der Mitte des 5. Jahrhunderts v. Chr. über die Mündung des Eridanos in das nördliche Meer, allerdings zieht er die Existenz des Flusses überhaupt in Zweifel.4 Offensichtlich sind in die Vorstellung von diesem in die griechische Mythologie eingebundenen Fluß Nachrichten von verschiedenen Strömen eingegangen, die mit dem Bernsteinhandel in Verbindung gebracht wurden. Nach Herodot könnte dies auch für die Elbe zutreffen, vor deren Mündung die ‚Bernsteininsel‘ Abalus liegt, in der mit einiger Wahrscheinlichkeit Helgoland vermutet werden kann.5 Ein Jahrhundert nach Herodot kannte Aristoteles nördlich der Donau ein Arkynisches Gebirge, aus dem Flüsse nach Norden strömen.6 Hierbei handelt es sich um die älteste Erwähnung des Mittelgebirgssystems, das sich vom Schwarzwald über die böhmischen Randgebirge bis zu den Karpaten hinzieht und in den späteren Quellen unter dem Namen ‚Herkynischer Wald‘ begegnet. Bei der großen Ausdehnung dieses Gebirges wird man unter den Flüssen alle großen Ströme Mitteleuropas vom Rhein bis zur Weichsel verstehen müssen. Bald nach Aristoteles wurden noch im 4. Jahrhundert v. Chr. die Küsten Westeuropas durch Pytheas von Massalia entdeckt. Auf der Suche nach einem ‚nördlichen Seeweg‘ um Europa herum bis ins Schwarze Meer gelangte er vermutlich bis nach Helgoland und zur Mündung der Elbe. Da von seinem Werk Über das Weltmeer nur Fragmente in den Schriften von Strabon, Diodor und Plinius dem Älteren erhalten geblieben sind, bleibt vieles an dieser Expedition unklar. In jedem Falle bedeutete sie einen ersten Schritt zur Erforschung des Nordwestens der bisher bekannten Oikumene. Mit seiner Schiffsreise wurde erstmals der Blick auf Mitteleuropa vom Westen aus gerichtet, und nicht, wie bisher immer, vom Südosten.7 Obwohl durch Pytheas das bisherige Weltbild beträchtlich erweitert wurde, galt die Erforschung Kontinentaleuropas auch im 2. vorchristlichen Jahrhundert für die Griechen immer noch als eine Aufgabe der Zukunft. Polybios von Megalopolis, der bedeutendste Historiker im Zeitalter des Hellenismus, hat in seinem monumentalen Geschichtswerk vor allem die Kelten seinen Lesern näher gebracht. Über große Teile des mittleren und nördlichen Europa wußte er allerdings nicht viel mehr als Herodot 300 Jahre früher. Das zwischen dem Tanaïs, dem als Grenzfluß zwischen Europa und Asien geltenden Don, und dem bei Narbonne ins Mittelmeer mündenden Küstenfluß Narbo sich nach Norden erstreckende Land sei unbekannt und harre noch künftiger Erforschung.8 Diese wäre vermutlich auch in der Folgezeit nicht viel schneller als in den vorangegangenen Jahrhunderten weitergegangen, wenn nicht äußere Anlässe bald nach dem Tode des Polybios um 120 v. Chr. zu einer Änderung der entdeckungsgeschichtlichen Situation geführt hätten. Zum einen tauchten Stämme aus dem ‚barbarischen‘ Kontinentaleuropa an der Peripherie der mittelmeerischen Staatenwelt auf, die nicht mehr die seit dem 4. vorchristlichen Jahrhundert auch in Italien bekannten Kelten waren, sondern aus den von Pytheas aufgesuchten Gegenden stammten. Zum anderen begannen sich die Römer etwa seit derselben Zeit immer stärker in Gallien zu engagieren. Die Unterwerfung des südlichen Gallien und die Gründung der späteren Provinz Gallia Narbonensis 121 v. Chr. hatten zur Folge, daß römische Kaufleute den Handel mit den inner3 4 5 6

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Hes. theog. 337–345; grundlegend für die ‚Entdeckung des Nordens‘ die Ausführungen von Timpe (1989). Hdt. 3,115,1f. Vgl. Wenskus u. Ranke (1973); Wenskus (1985). Arist. meteor. 1,13 p. 350a36–350b10.

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Zu Pytheas und seinen Reisen vgl. Gisinger (1963); Timpe (1989) 323–332; Nesselrath (2003); Johne (2006) 30–35; zu seinem Werk Bianchetti (1998). Polyb. 3,38,2; vgl. 3,37,8; Lafond u. Olshausen (2000).

gallischen Stämmen und vielleicht sogar mit Britannien aufnahmen. Im Laufe der Zeit mußte ihnen das gallische Fluß- und Wegenetz bis zum Rhein bekannt werden. So lenkten die Vorstöße nördlicher Völker nach Süden ebenso wie die römische Expansion in Gallien das Interesse griechischer und römischer Autoren verstärkt in einen zuvor fast unbekannten Raum. Mit den Zügen der Kimbern und Teutonen zwischen 113 und 101 v. Chr. kam die Mittelmeerwelt erstmals mit Stämmen aus dem weiteren Umfeld der Elbe in Berührung. Die Schlacht von Noreia 113 v. Chr. war der Beginn jahrhundertelanger Auseinandersetzungen zwischen Römern und Germanen, von der verheerenden römischen Niederlage bei Arausio 105 v. Chr. nahm das Bild vom furor Teutonicus, der „teutonischen Raserei“, seinen Ausgang.9 Schließlich bedurfte es größter Anstrengungen und einer Heeresreform, um der Gefahr aus dem Norden zu begegnen. Die Einf älle konnten erst in der Provence und in der norditalienischen Po-Ebene endgültig gestoppt werden. Spätestens in dieser Schlußphase der Auseinandersetzungen dürfte die Frage aufgeworfen worden sein, woher denn diese Stämme überhaupt gekommen sind und welcher der bisher bekannten Barbarengruppierungen sie zuzuordnen wären. Alle einschlägigen Quellen betrachten Kimbern und Teutonen als Küstenbewohner des nördlichen Ozeans. Die in diesem Zusammenhang genannte Halbinsel ist unstrittig Jütland und Schleswig-Holstein. Interessant für die mittelmeerische Vorstellungswelt ist die Beschreibung ihrer Heimat als „ein schattiges und waldreiches Land, auf das ganz wenig Sonnenschein falle wegen der Tiefe und Dichte der Eichenwälder, die sich vom äußersten Ozean bis zum Herkynischen Gebirge erstreckten …“10 Das Zitat bestätigt einmal mehr die Unerforschtheit Mitteleuropas. Zwischen Nordmeer und Herkynischem Wald gibt es nur undurchdringliche Wälder, aus denen sich die „Barbarenflut“ in den Süden ergossen habe. So unklar wie die geographische war den antiken Schriftstellern auch die ethnische Herkunft dieser Stämme. Anfangs wurden sie den Kelten zugeordnet und als ‚Gallier‘ bezeichnet. Da jedoch die Unterschiede zwischen Kimbern und Teutonen und den anderen Kelten in den Kriegen ab 113 v. Chr. offenbar wurden, kam die Vorstellung auf, diese Stämme kämen aus dem Grenzgebiet zwischen Kelten im Nordwesten und den Skythen im Nordosten Europas. Für diese angenommene Mischung aus Kelten und Skythen kam der Begriff ‚Keltoskythen‘ auf.11 Die richtige Erkenntnis in der ethnischen Zuordnung wird Caesar verdankt, der, von politisch-propagandistischen Motiven geleitet, die Verbindung zwischen ihnen und den Germanen Ariovists hergestellt hat.12 Die wissenschaftliche Verarbeitung des historischen Geschehens um die Invasoren aus dem Norden leistete Poseidonios von Apameia in der ersten Hälfte des 1. Jahrhunderts v. Chr. Wie niemand vor ihm interessierte sich dieser Universalgelehrte auch für die terra incognita Mitteleuropas. Auf seinen heute verlorenen Werken beruht ein großer Teil der von späteren Autoren überlieferten Nachrichten zu den Kimbern und Teutonen. Außerdem wird ihm die umfangreichste Keltenethnographie verdankt, die im Altertum geschrieben wurde.13 Darin begegnet wohl zum ersten Mal in der Literatur der Begriff der Germanen in Verbindung mit einem verbreiteten Topos über nördliche Barbaren.14 Da das Zitat des Poseidonios jedoch erst in einem kaiserzeitlichen Werk überliefert ist, läßt sich über die Authentizität des Begriffs letzte Sicherheit nicht erreichen. Unstrittig ist, daß der Gelehrte unter den Germanen, so er

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Zu Kimbern und Teutonen vgl. Ihm (1899); Franke (1934); Timpe (2006a); Dietz (1997b); Neumann, Grünewald u. Martens (2000); Wiegels (2002a); Zimmer (2005); vgl. auch Trzaska-Richter (1991) 48–79; Johne (2006) 39–56. Plut. Marius 11,9; Timpe (1989) 342.

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Plut. Marius 11,6–7; Timpe (1989) 342f.; Dobesch (1995) 53–58. Caes. Gall. 1,33,3–4; 40,5–7. Reinhardt (1953); Dobesch (1995) 59–110; Inwood (2001); Malitz u. Reichert (2003). Poseid. frg. 22 = Athen. 4,39 p. 153e.

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Abb. 1 | Porträtherme des Poseidonios von Apameia.

sie denn unter diesem Namen gekannt hat, kein großes und selbständiges Ethnos zwischen Kelten und Skythen verstand. Sie waren für ihn ein besonders wilder ostkeltischer Stamm oder aber ‚Keltoskythen‘.15 Die Einf älle der nordseegermanischen Stämme bis in die Provence und nach Italien hatte den Römern die Erkenntnis gebracht, daß die Alpen nicht mehr länger der natürliche Schutzwall für ihr Staatswesen waren und daß es außer den ihnen seit langem bekannten Kelten noch andere Stämme gab, die ihnen gef ährlich werden konnten. Seitdem mußte sich die römische Politik auch für die Verhältnisse nördlich der Alpen interessieren und sich auf Dauer auf einen Feind aus dem Norden einstellen. Einen markanten Einschnitt in dieser Entwicklung bedeutete in der Mitte des 1. vorchristlichen Jahrhunderts das Wirken von C. Julius Caesar. Mit der Eroberung Galliens von 58 bis 50 v. Chr. verknüpfte er die Mittelmeerwelt und Mitteleuropa auf Dauer miteinander, mit seinen beiden Rheinübergängen der Jahre 55 und 53 v. Chr. begann die ein halbes Jahrtausend währende Präsenz Roms im Rheinland, und sein Feldzugbericht eröffnete den Römern auch die Welt der Germanen. Seitdem war es nur noch eine Frage der Zeit, wann das rechtsrheinische Germanien im Imperium bekannter würde. Im Rahmen der commentarii de bello Gallico bleibt der erste Rheinübergang trotz des spektakulären Brückenbaus in der Gegend zwischen Andernach und Neuwied nur eine Episode.16 Im Rückblick begann jedoch in dem Sommer 55 v. Chr. die intensive Phase der römisch-germanischen Auseinandersetzungen. Wenn auch die erste Expedition in rechtsrheinisches Gebiet lediglich ein Unternehmen von drei Wochen Dauer war und das römische Heer den Rhein wieder verließ, so waren doch die Folgen dieses Vorgangs unübersehbar. Caesar hatte mit dem ersten Brückenschlag über den Rhein in seinem Mittel15

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Vgl. Walser (1956) 40–46; Timpe (1989) 345; Dobesch (1995) 61–63; Malitz u. Reichert (2003) 302f.

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Caes. Gall. 4,16–19.

Abb. 2 | Porträt des Caius Julius Caesar, sog. „Grüner Caesar“, grüner Schiefer.

lauf bisher ganz unbekannte Perspektiven eröffnet. Mit der ältesten Rheinbrücke war gleichsam ein Tor vom Westen in das zentrale Mitteleuropa aufgestoßen worden. Als erster bezog dieser Feldherr das europäische Barbaricum im großen Maßstab in seine Planungen mit ein. Bisher hatte man sich in Rom wie in den hellenistischen Staaten mit der Abwehr der von Zeit zu Zeit auftretenden barbarischen Plünderungswellen begnügt. Caesar begann jedoch mit der Eroberung Kontinentaleuropas jenseits der mediterranen Zone. Der Rhein spielt schon im Eingangskapitel des Bellum Gallicum eine wesentliche Rolle. Nachdem die Grenzen zwischen Galliern, Aquitaniern und Belgern beschrieben worden sind, werden letztere als die tapfersten charakterisiert. Eine Ursache für ihre Tapferkeit sei die Nachbarschaft zu den Germanen, mit denen sie ständig Krieg führen. Die Germanen aber wohnen jenseits des Rheins.17 Hier wird dieser Strom erstmals als die östliche Grenze Galliens bezeichnet und damit auch als das angestrebte Ziel caesarischer Eroberung. Flußgrenzen galten Caesar im gallischen Raum für selbstverständlich, die Garonne trenne die Gallier von den Aquitaniern, Marne und Seine die Gallier von den Belgern. Zugleich wird deutlich, daß die Germanen keine Kelten sind und von den übrigen ethnischen Gruppierungen in Gallien unterschieden werden müssen. Damit widersprach Caesar gleich zu Beginn seiner commentarii der Autorität des Poseidonios, dessen Auffassung er korrigierte. Das Bekanntwerden der Germanen in Rom ist untrennbar mit der Person des Heerkönigs Ariovist verbunden, dessen Auftreten im östlichen Gallien die zweite Hälfte des ersten Buches des Gallischen Krieges gewidmet ist.18 In einer langen Passage von 25 Kapiteln stehen erstmals in der Literatur Germanen unter diesem Namen im Mittelpunkt des Geschehens. Zugleich ist Ariovist in der Überlieferung 17

Caes. Gall. 1,2,3. Wiegels (2001a); Zimmer, Wolters u. Ament (2003).

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Caes. Gall. 1,30–54; zur Person des Ariovist vgl. Walser (1956) 8–36; Christ (1974); Callies (1973); Trzaska-Richter (1991) 90–101; Will (1996); Fischer (1999) 31–68; Johne (2006) 60–66.

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der erste als Person fassbare Angehörige der bisher unbekannten Völkerschaft. Caesars Werk hat für die Ausbreitung und Einbürgerung des Namens ‚Germanen‘ ganz Wesentliches geleistet, indem er der Bezeichnung für einige kleinere Gruppen im belgischen Raum, den von ihm so genannten Germani cisrhenani, eine riesige Ausdehnung im gesamten rechtsrheinischen Gebiet verschaffte.19 Im Gallischen Krieg hat Caesar wohl auch die geographische Bezeichnung Germania geprägt. In den ersten drei Büchern seiner commentarii gibt es nämlich noch keinen Begriff für das Land, in dem die Germanen leben, und er behilft sich mit Ausdrücken wie „die Germanen, die jenseits des Rheins wohnen“. Erst im vierten Buch, zu Ereignissen des Jahres 55 v. Chr., taucht das Wort für die rechtsrheinischen Gebiete auf. Caesar benötigte die Bezeichnung offenbar als das Gegenstück zum Begriff Gallia omnis.20 Im weiteren Verlauf des Gallischen Krieges sind es dann immer wieder die Sueben, die als Gegner der Römer auftreten. Caesar schätzt sie als den bei weitem größten und kriegerischsten Stamm aller Germanen ein.21 Gegen ihn waren der erste und vor allem der zweite Rheinübergang 53 v. Chr. gerichtet. Beide Male ergriffen die Sueben die Flucht und ließen Caesar ins Leere stoßen. Bei diesen Feldzugberichten wird erstmals der Blick aus der Umgebung des Rheins in Richtung Mitteldeutschland gelenkt. Das ‚Suebenland‘ soll den Eindruck beachtlicher Größe hervorrufen und natürlich den eines undurchdringlichen Waldgebietes, in dem man sich gut verstecken könne.22 Konkret muß es sich um Gebiete im heutigen Hessen handeln. Im äußersten Grenzgebiet des ‚Suebenlandes‘ gebe es einen Wald von unermeßlicher Größe, der Bacenis genannt wird. Dieser erstrecke sich weit ins Landesinnere und sei ein natürlicher Wall zwischen Sueben und Cheruskern.23 Mit der Erwähnung dieses Waldes liegt erstmals eine geographische Angabe aus dem Inneren Germaniens vor, die sich wenigstens etwas eingrenzen läßt, mit der Nennung der Cherusker taucht der berühmte Stamm des Arminius in der Überlieferung auf. Der Bacenis-Wald kann nur eines der deutschen Mittelgebirge gewesen sein. Als Scheidegrenze zwischen den Sueben in Hessen und den zwischen Weser und Elbe siedelnden Cheruskern würde der Harz am besten passen. Als eine zweite Möglichkeit der Lokalisierung wird weiter südlich das Rhön-Vogelsberggebiet bis hin zum westlichen Thüringer Wald diskutiert. Schließlich wird man bei den äußerst vagen Vorstellungen, die Caesar vom Inneren Germaniens vermittelt, nicht ausschließen können, daß in dem Begriff des Bacenis-Waldes die Kenntnisse mehrerer Waldgebirge zusammengeflossen sind.24 Immerhin wird an dieser Stelle der commentarii eine Eingrenzung vorgenommen, die den tatsächlichen Gegebenheiten näher kommt als alle vorangegangenen Äußerungen. Zweifellos hatte Caesar bessere Kenntnisse über das rechtsrheinische Mitteleuropa als alle vor ihm schreibenden Autoren. Dabei ist es nicht unmöglich, daß er viel mehr wußte, als aus seinem Werk deutlich wird. Aber zu seinen Feldzugberichten aus Gallien und zu denen über zwei kurze und vorerst folgenlose Expeditionen nach Germanien würden ins Detail gehende Ausführungen über die rechtsrheinischen Gebiete gar nicht passen. Dem Tenor seiner Germanendarstellung entsprachen viel besser die Bilder von der „Einsamkeit der Wälder“ und vom Bacenis-Wald „von unermeßlicher Größe“.25 Somit wird man nicht ausschließen können, daß der drittgrößte Strom Mitteleuropas Caesar bekannt gewesen ist. Vermuten läßt sich dieselbe Kenntnis auch für einige wenige an Geographie und Ethnographie Interessierte in dieser Zeit. Poseidonios hat im hohen Alter noch die Eroberung Galliens erlebt, er ist

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Caes. Gall. 2,3,4; 2,4,1–3 u. 10; Walser (1956) 39f.; von Petrikovits (1986); Neumann (1986); Pohl (2000) 52–56; Reichert (2001). Vgl. Caes. Gall. 4,4,1. Caes. Gall. 4,1,3; 1,37,3; 1,54,1; 4,1,3–3,4; zu den schwierigen Problemen des Suebenbegriffs vgl. Peschel (1978);

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Caes. Gall. 4,19,2–3; zur Rolle des Waldes bei Caesar Nenninger (2001) 126–133. Caes. Gall. 6,9,1–10,5. Vgl. Neumann u. Wenskus (1973); Goetz u. Welwei (1995) I, 340f.; Nenninger (2001) 96. Vgl. Johne (2006) 68–73.

Abb. 3 | Porträt des M. Vipsanius Agrippa.

gegen Ende dieses Krieges, um das Jahr 51 v. Chr., gestorben.26 Ein weiterer Zeitgenosse war Timagenes von Alexandria, der sich mit Geschichte und Geographie des Keltenlandes befaßt hat.27 M. Terentius Varro, der gelehrteste Römer dieses Jahrhunderts, beschrieb in seinem Werk De ora maritima auch den Verlauf der Meeresküsten und könnte dabei die Elbemündung erwähnt haben.28 Alle Überlegungen dieser Art bleiben jedoch im Bereich der Vermutung, ein sicherer Nachweis für eine Kenntnis der Elbe vor der Regierungszeit des Augustus läßt sich nicht erbringen.29 Caesar hat in den Jahren des Gallischen Krieges Germanen erstmals auf ihrem eigenen Territorium bekämpft, er hat das für die Römer fortan verbindliche Bild von den Germanen entwickelt und wahrscheinlich den geographischen Begriff Germania geprägt, und er hat den Rhein sowohl zur Trennlinie zwischen Kelten und Germanen als auch zur Grenze des Imperium Romanum erklärt. Zu seinen Lebzeiten und in den darauf folgenden drei Jahrzehnten ging es jedoch vorrangig um die Sicherung Galliens, der Rhein blieb eine ‚Anspruchsgrenze‘. 17 Jahre nach dem Bau der ersten Rheinbrücke überschritt 38 v. Chr. M. Vipsanius Agrippa als zweiter römischer Feldherr den Rhein. Er war der wichtigste Mitstreiter des späteren Kaisers Augustus und der bedeutendste Feldherr in der ersten Hälfte von dessen Regierung.30 Im Zentrum seiner Statthalterschaften – in den Jahren 20 bis 19 v. Chr. weilte er nochmals in Gallien – standen der Ausbau der Infrastruktur und die Konsolidierung der römischen Herrschaft in den von Caesar eroberten Gebieten. 26 27

Walser (1956) 55–57 nimmt für Poseidonios eine Kenntnis der Elbe an. Vgl. Meister (2002).

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Vgl. Sallmann (2002) bes. 1131f. und 1139. Vgl. Deininger (1997) 9. Hanslik (1961); Kienast (1996).

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Vor allem aber widmete er sich dem Aufbau eines Systems von Fernstraßen. Etwa zwischen 30 und 17 v. Chr. entstand die wichtigste Verbindung an den Rhein, in moderner Terminologie von Lyon über Metz und Trier nach Köln. Den Schutz der Grenze in deren mittlerem Abschnitt überließ man dem verbündeten Stamm der Ubier, die Agrippa schließlich auf dem linken Rheinufer, im Bereich der Kölner Bucht, ansiedelte.31 Die germanischen Stämme der Sugambrer, Usipeter und Tenkterer ließen sich jedoch von dem Grenzanspruch der Römer nicht beeindrucken. Wie zu Caesars Zeiten fielen sie über den Rhein nach Gallien ein, so in den Jahren 29, 25 und 17/16 v. Chr. Bei dem letzten Einfall erlitt der ihnen entgegentretende Statthalter M. Lollius eine schmachvolle Niederlage und verlor das Feldzeichen, den Legionsadler.32 Dies wog besonders schwer, weil erst wenige Jahre zuvor die in der Schlacht bei Carrhae an die Parther verlorenen Feldzeichen wiedergewonnen worden waren und dieser Vorgang als ein großer Erfolg gefeiert wurde.33 Nunmehr schien endgültig ein dauerhafter Schutz der Rheingrenze durch das römische Heer erforderlich zu sein, sie konnte nicht länger allein befreundeten und abhängigen Germanen anvertraut werden. Die Niederlage des Lollius rief Kaiser Augustus nach Gallien und in das Grenzgebiet. Bis zum Jahre 13 v. Chr. blieb er dort, um die Neuordnung von Caesars Eroberungen zu einem vorläufigen Abschluß zu bringen und um die Politik gegenüber den Germanen neu zu konzipieren. Die bisher im Inneren Galliens stationierten Legionen wurden jetzt an den Rhein verlegt. Bis zum Jahr 12 v. Chr. entstanden die Militärlager von Noviomagus (Nijmegen/Nimwegen), Vetera I bei Xanten, Asciburgium (Moers-Asberg), Novaesium (Neuß), Bonna (Bonn) und Mogontiacum (Mainz). Erst mit diesem eindrucksvollen Truppenaufgebot war der Rhein von der Mitte bis zur Mündung römischer Kontrolle unterstellt und zur wirklichen Grenze geworden. Bis vor kurzem galt das 16 v. Chr. gegründete Novaesium als das älteste Lager am Rhein. Neuere Ausgrabungen und Münzfundauswertungen zeigen jedoch, daß das Legionslager von Nijmegen bereits in die Jahre 19/18 v. Chr. datiert werden kann.34 Es dürfte auf Agrippas Initiative zum Schutze der Rheinmündung errichtet worden sein, mithin keine Reaktion auf die Niederlage des Lollius wie die anderen Heerlager. Mit der befestigten Rheingrenze waren zum einen weiteren germanischen Flußüberschreitungen ein Riegel vorgeschoben worden, zum anderen auch alle Vorbereitungen getroffen, um östlich des Stromes aktiv werden zu können. Die Politik der Defensive, die nur reagierte, war vorbei. Vier Jahrzehnte nach den diffusen Beschreibungen des ‚Suebenlandes‘ durch Caesar machten sich die Römer daran, in dieses Land einzudringen. Im März des Jahres 12 v. Chr., unmittelbar vor Beginn der vom Niederrhein ausgehenden Feldzüge gegen Germanien, starb Agrippa. Er hinterließ das Werk commentarii geographici, in dem er die auf seinen Feldzügen und Reisen sowie während seiner Tätigkeit als Statthalter in Gallien und am Rhein gewonnenen Kenntnisse mit den bereits vorhandenen Itinerarien verarbeitet hat. Geboten wurde darin der Kenntnisstand vor der ‚Entdeckung‘ der Elbe.35 Die verlorene Schrift kann teilweise aus der Naturgeschichte des älteren Plinius rekonstruiert werden. Dieser Schriftsteller bezeichnet nun unter ausdrücklicher Berufung auf Agrippa die Weichsel als die Grenze zwischen Germanien und Sarmatien.36 Die Kenntnis der Weichsel wirft natürlich die Frage nach einer Kenntnis der Elbe zur gleichen Zeit auf.

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Vgl. Eck (2004a) 46–55; Johne (2006) 77–79; Wolters (2008) 23–26; K. Tausend (2009) 17 und 91f. Vgl. Goetz u. Welwei (1995) II, 12–17; Eck (1999); Wolters (2008) 27–29. Vgl. Wolters (1990) 153–155; Bleicken (1999) 356–362, 729f; dazu auch C. Wendt im vorliegenden Band.

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Vgl. Kemmers (2005) 44ff.; Wolters (2008) 27; zur Problematik der Flußgrenzen Dobesch (2005). Vgl. Hanslik (1961) 1270f.; Kienast (1996); Timpe (1989) 356f.; Engels (1999) 369–377. Plin. nat. 4,81; Gutenbrunner (1967); Waldherr (2002b); Udolph u. Nowakowski (2006).

Abb. 4 | Die Rheingrenze in der Zeit zwischen Caesar und Augustus.

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Mindestens drei Möglichkeiten dürfte es bei der Beantwortung geben: Zum einen braucht unsere Überlieferung in diesem Detail nicht repräsentativ zu sein, und der Eindruck weitgehender Unkenntnis vom inneren Germanien, den die erhaltenen Quellen vermitteln, ist so nicht richtig. Poseidonios, Timagenes und Varro könnten mehr gewußt haben, als überliefert ist. Bei Caesar besteht die Möglichkeit, daß vorhandenes Wissen bewußt keinen Niederschlag in seinen Schriften gefunden hat. Eine weitere Möglichkeit wäre, daß der Ausbau des gallischen Straßennetzes, die Niederlage des Lollius und der Aufenthalt des Augustus in Gallien sowie die Verlegung der Legionen an den Rhein mit einer intensiveren Erkundung Germaniens einhergingen. Die bis dahin wirklich unbekannten Ströme im zentralen Mitteleuropa wären dann erst im Vorfeld eines sich abzeichnenden stärkeren Engagements Roms an seiner Nordgrenze bekannt geworden. Die dritte mögliche Variante wäre, daß die Kenntnisse der Römer vor dem Beginn der Feldzüge vom Niederrhein aus wirklich nicht weit ins Innere Germanien gereicht hätten, wie aus der erhalten gebliebenen Überlieferung hervorgeht. Die Elbe wäre tatsächlich erst von Drusus ‚entdeckt‘ worden, und zwar nicht nur im allgemeinen Bewußtsein der griechisch-römischen Welt, sondern auch für geographisch interessierte Gelehrte. Dann wäre die weit im Osten fließende Weichsel noch vor der Elbe bekannt geworden. Möglich gewesen sein könnte dies nur durch den Handelsweg der ‚Bernsteinstraße‘ von der Ostsee zur Donau. Bei Annahme dieser Variante hätte es eine Zeit lang zwar die Kenntnis der Germanien begrenzenden Flüsse Rhein und Weichsel gegeben, während der Raum dazwischen jedoch noch weitgehend terra incognita war. Das Jahr 12 v. Chr. bedeutet im Rückblick einen Markstein sowohl in der Germanienpolitik des Imperiums als auch für die Erweiterung des geographischen Weltbildes der Griechen und Römer. In diesem Jahre begann das fast dreißigjährige Ringen um die Herrschaft in dem Gebiet zwischen Rhein und Elbe, das auf diesen Feldzügen nun auch näher erforscht wurde. In den ersten vier Jahren dieses Zeitabschnitts war der ältere Drusus die entscheidende Persönlichkeit auf der römischen Seite.37 Als im Sommer 12 v. Chr. Sugambrer, Usipeter und Tenkterer erneut einen Einfall über den Rhein nach Gallien unternahmen, sollte dies der letzte derartige Vorstoß werden. Denn jetzt ermöglichten die an die Flußgrenze vorverlegten Legionen einen Akt sofortiger Vergeltung. Drusus besiegte nicht nur die Angreifer, er unternahm auch eine Flottenexpedition an die Nordseeküste in die Gebiete der Friesen und Chauken und entdeckte die Mündung der Ems.38 Im folgenden Jahre weitete sich der Kriegsschauplatz beträchtlich in das Innere Germaniens aus. Drusus zog durch das Gebiet der Cherusker bis an die Weser, kämpfte mit den Sugambrern und ließ das Kastell Oberaden an der Lippe errichten.39 Der Feldzug 10 v. Chr. richtete sich gegen die Chatten, erneut die Sugambrer und wohl auch gegen die Markomannen.40 Der vierte und letzte Expeditionszug des Drusus erfolgte im Jahre 9 v. Chr., in dem der Prinz auch das Konsulat bekleidete. Dieses Mal machte er nicht an der Weser Halt, sondern überquerte den Fluß und zog weiter nach Osten bis zur Elbe, wie zu Beginn dieses Beitrags ausgeführt.41 Für seine Marschroute gibt es leider nur die sehr allgemeinen Fixpunkte ,Cherusker‘, ,Weser‘ und ,Elbe‘. Wenn man an der Weser den Abschnitt zwischen Hameln und Höxter/Corvey als den wahrscheinlichsten, an dem die Römer 11 v. Chr. den Fluß erreichten, in Betracht zieht, dann ist ein weiterer Vormarsch nörd37 38

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Vgl. Moeller (1986); Kienast (1997). Zum Feldzug des Jahres 12 vgl. Moeller (1986) 205–207; Wolters (1990) 158–161; Becker (1992) 131–137; Bleicken (1999) 576–578; Kehne (2002) 305–310; Johne (2006) 88–91; Wolters (2008) 38–42. Zum Feldzug des Jahres 11 vgl. Moeller (1986) 207–209; Wolters (1990) 162–165; Becker (1992) 137–147; Bleicken (1999) 579; Kehne (2002) 310–312; Johne (2006) 91–95;

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Wolters (2008) 42–44; zur Weser Gutenbrunner u. John (1967); Wiegels (2002b); Udolph (2006); Müller (2007). Zum Feldzug des Jahres 10 vgl. Moeller (1986) 209; Wolters (1990) 165–167; Becker (1992) 147–151; Bleicken (1999) 580; Johne (2006) 95f.; Wolters (2008) 45. Ausführliche Behandlung dieses Feldzuges und aller damit in Zusammenhang stehenden Fragen bei Johne (2006) 83–113, bes. 96–106.

Abb. 5 | Porträt des Nero Claudius Drusus Maior.

lich des Harzes anzunehmen. Er würde an die Elbe im Raum des späteren Magdeburg führen, wo der große Strom Innergermaniens in seinem Mittellauf am weitesten nach Westen reicht. Nach der erst vor wenigen Jahren erfolgten Auffindung des Lagers Hedemünden ist allerdings der Weserübergang eine ganze Strecke weiter südlich an der unteren Werra, die als „obere Weser“ verstanden wurde, wahrscheinlicher. Von dort führte der Zug entweder weserabwärts oder gleich zur Leine und von dort nördlich am Harz vorbei. Hedemünden ist der am weitesten östlich gelegene Stützpunkt, der bisher auf deutschem Boden entdeckt worden ist. Er sicherte eine Route von Mainz aus durch die Wetterau bis an die Weser. Der älteste Teil der Anlage ist ein kleines Marschlager von 1,3 ha Umfang, das aller Wahrscheinlichkeit nach während der Expedition des Jahres 9 v. Chr. angelegt wurde.42 Cassius Dio berichtet, Drusus habe nach der Ankunft an der Elbe versucht, diese zu überqueren, das jedoch nicht vermocht, sondern nur Siegeszeichen errichten lassen und danach den Rückzug angetreten.43 Da schon im Jahre 11 v. Chr. an der Weser Versorgungsprobleme aufgetreten sind, müssen diese jetzt noch gravierender gewesen sein. Außerdem könnte Drusus die Elbe noch im späteren Frühjahr erreicht haben, als sie ihr Umland überschwemmt hatte. Das Überschwemmungsgebiet der Elbe im Norddeutschen Tiefland besaß im Altertum vielfach eine Breite zwischen 10 und 20 km. Erst die im hohen Mittelalter vorgenommene Eindeichung hat diese Breite auf 1, 5 bis 3 km eingeschränkt.44 Daß es die noch Hochwasser führende Elbe gewesen ist, die Drusus zum Rückzug bewogen hat, läßt sich zumindest nicht ausschließen. Der Heereszug bewegte sich vermutlich elbaufwärts bis zur Mündung 42 43

Grote (2004) und (2006). Cass. Dio 55,1,3.

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Jäger, Schmid, Timpe u. Mildenberger (1989) 96; Jäger (1992) 140–144.

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der Saale beim heutigen Barby, dann die Saale aufwärts bis zu deren Mittellauf, um von dort aus wieder die Ausgangsbasis Mainz zu erreichen. Für den Rückzug bieten sich entweder eine Strecke südlich des Harzes zur Werramündung oder eine durch das Ilmtal und nördlich des Thüringer Waldes in Richtung Hessen an. Auf diesem Rückweg zwischen Saale und Rhein stürzte Drusus so unglücklich vom Pferd, daß er noch im Barbarenland verstarb. Diesem Unglücksfall wird die einzige Erwähnung der Saale in der antiken Literatur verdankt.45 Der nur wenige Monate nach dem Erreichen der Elbe und dem Halt an ihrem Ufer eingetretene Tod des Prinzen in einem fernen und unbekannten Land regte zur Legendenbildung an. So berichtet Cassius Dio, eine Frau von übermenschlicher Größe sei dem Feldherrn am Elbufer entgegengetreten mit den Worten: „Wohin treibt es dich, unersättlicher Drusus? Nicht alles hier ist dir vom Schicksal zu sehen vergönnt. Kehre um! Denn schon sehr nahe ist das Ende deiner Taten und deines Lebens.“46 Unstrittig ist, daß hinter der Frauengestalt das Wissen um germanische Seherinnen steht, die die Römer immer sehr beeindruckt haben.47 Strittig ist hingegen, ob sich hinter der Geschichte mehr verberge als eine legendenhafte Ausschmückung der Tatsache, daß Drusus an der Elbe an die Grenze des ihm und seinem Heer Möglichen gestoßen war und kurz danach auch noch tödlich verunglückte. Schon Strabon hat die Feldzüge ins Innere Germaniens mit denen Alexanders des Großen nach Asien verglichen.48 Davon ausgehend, sind in jüngerer Zeit die Bezüge zur Alexandertradition herausgearbeitet worden. Der unbekannte Fluß am Rande der oikoumene als die Stelle der Umkehr – bei Alexander der Hyphasis im indischen Pandschab –, der jugendliche Held als Eroberer im fremden Land und der frühe Tod sind auch tatsächliche Parallelen.49 Solche lassen sich auch bezüglich des ‚Entdeckers‘ Drusus finden. In einem anonymen, Ovid zugeschriebenen Trostgedicht für Livia, in dem die Taten ihres Sohnes verherrlicht werden, wird bedauert, daß er nun nicht mehr berichten könne, was er alles erkundet habe, fremde Flüsse und Berge, die Namen unbekannter Gegenden und „was er sonst noch an Wunderbarem in der neuen Welt gesehen“.50 Formulierungen wie „die neue Welt“ (orbis novus), die „neuen Länder“ (terrae novae) und „die germanische Welt“ (Germanus orbis) sprechen für sich und stellen Drusus neben andere Heerführer, die ihre Feldzüge zugleich als geographische Expeditionen verstanden wissen wollten, neben Pompeius im Kaukasus und Caesar am Rhein und in Britannien. Ihr aller Vorbild war Alexanders Zug nach Indien. Ein Entdecker ist der jüngere Stiefsohn des Augustus auch für spätere Schriftsteller, die auf seine Feldzüge und auf seinen frühen Tod zu sprechen kommen. So erinnert der Philosoph Seneca in der zwischen 37 und 41 verfaßten Trostschrift für Marcia an die Trauer der Livia um ihren Sohn, der tief in Germanien eingedrungen sei und die römischen Feldzeichen selbst dort aufgerichtet habe, wo kaum bekannt gewesen sei, daß überhaupt Römer existierten.51 Zu den Kriegszielen, die mit den Feldzügen des Drusus verbunden sind, fehlen eindeutige Aussagen in den Quellen; sie sind von der Sache her auch gar nicht zu erwarten. Die vorhandenen Zeugnisse wiederum lassen meistens verschiedene Interpretationsmöglichkeiten zu, entsprechend kontrovers ist die Einschätzung der Germanienpolitik des Augustus.52 Einiges spricht dafür, daß sich die Elbe als Kriegsziel erst im Verlauf der Feldzüge herausgebildet hat. Drusus ist im Sommer 12 v. Chr. nicht von sich aus zu einem Eroberungszug aufgebrochen, sondern hat auf einen weiteren Einfall von Germanen 45 46 47 48 49

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Strab. 7,1,3 p. 291C.; Waldherr (2001). Vgl. Anm. 43. Vgl. S. Tausend (2009) bes. 170 u. D. B. Baltrusch im vorliegenden Band. Strab. 1,2,1 p. 14C. Timpe (1967); vgl. auch Abramenko (1994) und Johne (2006) 97–102.

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Ov. Consolatio ad Liviam 313–14 u. 20 u. 39; vgl. Herrmann (1988–1992) I, 518f. Sen. De Consolatione ad Marciam 3,1; vgl. Herrmann (1988–1992) I, 554. Zu den verschiedenen Forschungsmeinungen vgl. Deininger (2000); Timpe (2006b) 300–314; Johne (2006) 16–20 und 109–112; Wolters (2008) 48–52.

Abb. 6 | Römische Feldzüge an die Elbe.

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Abb. 7 | Vorkaiserliches Porträt des Tiberius Julius Caesar, sog. Adoptionstypus.

reagiert. Die Ereignisse der ersten beiden Kriegsjahre können, für sich betrachtet, durchaus als Strafexpeditionen und Erkundungszüge der endgültig zu sichernden Rheingrenze betrachtet werden. Die Fortsetzung des Krieges ab dem Jahre 10 v. Chr. war vor allem durch den Abfall der Chatten bedingt und wäre ohne diesen Vorfall vielleicht gar nicht erfolgt, wofür auch die 11 v. Chr. geplante, aber dann doch nicht erfolgte Schließung des Janus-Tempels sprechen könnte. In den Jahren 12 und 10 v. Chr. wird von römischer Seite jedenfalls in erster Linie auf germanisches Verhalten reagiert. Die Feldzüge dieser Jahre waren begrenzte Offensiven, die sich immer mehr ausweiteten, bis sie den Radius des Jahres 9 v. Chr. erreicht hatten. Der Zug dahin könnte sich aus der Verfolgung der sich aus dem Weserland zurückziehenden Cherusker ergeben haben. Die Bedeutung der Elbe als östliche Markierungslinie im Innern Germaniens dürfte nicht zuletzt den dramatischen Umständen verdankt werden, die den ‚Entdecker der Elbe‘ das Leben kosteten. Die reichsweiten Trauerfeiern im Herbst 9 haben den vierten seiner Germanienfeldzüge auch in den Details zweifellos bekannter gemacht als die drei vorangegangenen. Die Elbe muß durch Drusus‘ Tod im ganzen Römischen Reich als ein mächtiger Strom im fernen Barbaricum ein Begriff geworden sein. Das von ihm einmal erreichte Ziel wieder zu gewinnen wurde eine verpflichtende Aufgabe erst für seinen Bruder Tiberius und dann vor allem für seinen Sohn Germanicus.

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Der Tod des Drusus hat die Germanienpolitik des Augustus nicht geändert. Sein älterer Bruder Tiberius eilte unverzüglich nach Germanien und übernahm – „zwischen Saale und Rhein“ – die Führung der Expeditionsarmee. In den Jahren 8 und 7 v. Chr. festigte er die Herrschaft Roms weiter, so daß im Rückblick gesagt werden konnte, alle Germanen zwischen Rhein und Elbe hätten sich dem Tiberius unterworfen.53 Sein bedeutendster Erfolg war die Unterwerfung der Sugambrer und deren Umsiedlung auf das linke Rheinufer.54 Am 1. Januar 7 v. Chr. feierte Tiberius einen Triumph über Germanien, womit die erste Phase der Eroberungszüge ihren Abschluß fand. Gegen den Plan einer seit Beginn der Feldzüge angestrebten Grenze an der Elbe spricht die Tatsache, daß in den Jahren 8 und 7 v. Chr. mehrere erst wenige Jahre zuvor errichtete militärische Anlagen wieder aufgegeben wurden. Offenbar wollten sich die Römer zu diesem Zeitpunkt noch mit der Abhängigkeit von Stämmen in einem weiten Vorfeld der Rheingrenze begnügen, ohne selbst militärisch dort präsent sein zu müssen. Bezeichnend dafür ist das erst 11 v. Chr. errichtete Legionslager Oberaden bei Bergkamen. Es war zweifellos zur Kontrolle des besonders aggressiven Stammes der Sugambrer angelegt worden. Nachdem dieser Stamm umgesiedelt worden war, hatte es seine Funktion verloren und wurde aufgegeben. Ein Jahrzehnt später finden wir an der Lippe drei neue Römerlager, Holsterhausen, Haltern und Anreppen, zu denen Oberaden ebenfalls gepaßt hätte. Die Konzeption einer ‚Lippestraße‘, d.h. Militäranlagen in bestimmten Abständen an diesem Flußlauf, scheint also erst nach der Aufgabe Oberadens entstanden zu sein.55 Mit dem Jahre 6 v. Chr. verschwindet dann Tiberius aus dem politischen Geschehen und damit auch von dem Kriegsschauplatz in Germanien. Das Fehlen eines prominenten Angehörigen des Kaiserhauses an der Rheingrenze wirkte sich sofort auf die Überlieferung aus, das Interesse der Schriftsteller ließ schlagartig nach. Für das nachfolgende Jahrzehnt bis 4 n. Chr. sind nur zuf ällige Nachrichten über die Verhältnisse in Germanien erhalten geblieben.56 Eine davon beleuchtet die Tätigkeit des L. Domitius Ahenobarbus, der als zweiter römischer Heerführer die Elbe erreicht hat. Cassius Dio berichtet, er habe die Elbe überschritten, ohne daß ihm jemand entgegentrat, mit den dortigen Barbaren Freundschaft geschlossen und an dem Strom einen Altar für Augustus errichtet. Tacitus schreibt ergänzend dazu, er sei tiefer als alle anderen nach Germanien eingedrungen, wofür er die Triumphalornamente erhalten habe.57 Die beiden spärlichen Notizen über ein etwa in das Jahr 3 v. Chr. zu datierendes Geschehen lassen genügend Fragen offen.58 Für die im Entstehen begriffene Römerherrschaft in Germanien bedeutete das Jahr 1 n. Chr. offensichtlich einen Einschnitt. Von 1/2 bis 3/4 n. Chr. mußte ein mehrjähriger Krieg, ein immensum bellum, gegen germanische Stämme, die bereits einmal von Drusus und Tiberius unterworfen worden waren, geführt werden. In der Schlußphase dieses Krieges wurde Tiberius ein zweites Mal über den Rhein geschickt. Er hat in den Jahren 4 bis 6 n. Chr. den Zustand wiederhergestellt, der bei seinem Triumph 7 v. Chr. schon einmal erreicht zu sein schien.59 Um den Beginn der christlichen Zeitrechnung begannen die Römer dann mit dem Aufbau einer direkten Herrschaft mit dem Ziel der Errichtung einer Provinz 53 54

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Cassiod. Chronica ad annum 746, Chronica minora 2,135 (p. 299 frg. 3 ed. H. Peter). Suet. Aug. 21,1; Tib. 9,2; vgl. Herrmann (1988–1992) III, 544f.; zu der Umsiedlung und ihren Folgen Heinrichs (2001). Zum Lager Oberaden Kühlborn (1995) 103–124; zu allen Lagern zuletzt Mattern (2008). Von einem „dunklen Jahrzehnt“ spricht Wolters (2008) 54–56.

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Cass. Dio 55,10a,2; Tac. ann. 4,44,2; vgl. Herrmann (1988–1992) III, 525. Ausführliche Erörterung bei Johne (2006) 120–127 mit weiterführender Literatur. Vell. 2,104,2; vgl. Herrmann (1988–1992) I, 528; zum immensum bellum Wolters (1990) 185–187; Becker (1992) 169f.; Timpe (2006b) 297f.; Johne (2006) 127–129; Wolters (2008) 56–59.

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Germanien in dem geographischen Rahmen, den die beiden Stiefsöhne des Augustus zwischen 12 und 7 v. Chr. abgesteckt hatten.60 Die Zeit des zweiten Aufenthalts des Tiberius war zweifellos der Höhepunkt des römischen Einflusses zwischen Rhein und Elbe. Im Sommer 5 n. Chr. erfolgte eine kombinierte Land- und Seeoperation des Prinzen an die untere Elbe. Darüber informiert uns Velleius Paterculus, der als Offizier an diesem Feldzug teilgenommen hat.61 Er liefert den einzigen erhalten gebliebenen Augenzeugenbericht eines ‚Römers an der Elbe‘ und schildert die „zweifellos berühmteste Episode, die sich im Altertum an der Elbe ereignet hat“.62 Tiberius hatte mit seinem Heer ein Lager am linken Ufer aufgeschlagen, wo auch die Flotte ankerte. Das rechte Ufer war von germanischen Kriegern besetzt, die sich im Glanz ihrer Waffen zeigten, allerdings sofort die Flucht ergriffen, wenn eine Bewegung der römischen Schiffe erkennbar wurde. Die Situation des bewaffneten Gegenüberstehens und Beobachtens wurde unterbrochen, als ein älterer ‚Barbar‘ von höherem Rang allein einen Einbaum bestieg und vom rechten Ufer aus in die Flußmitte ruderte. Von dort aus bat er um die Erlaubnis, das linke, ‚römische‘ Ufer betreten zu dürfen, um Tiberius sehen und sprechen zu dürfen. In der literarisch gestalteten Rede soll der Germane die Römer als höhere Wesen angesehen und mit den Göttern gleichgesetzt haben. Danach bestieg er wieder sein Boot und fuhr, sich unverwandt nach dem Feldherrn umsehend, über die Elbe an das rechte Ufer zurück.63 Die geballte Macht von Heer und Flotte im Inneren Germaniens hat ohne Zweifel einen tiefen Eindruck auf die Bewohner des Landes gemacht. Der Zug des Tiberius mußte als ein für die Germanen westlich wie östlich der Elbe sichtbares Signal verstanden werden, die Macht des Imperium Romanum bis an diesen Fluß ausdehnen zu wollen. Für eine Lokalisierung des von Velleius geschilderten Zusammentreffens stehen neben dem Flußlauf leider nur die Namen germanischer Stämme zur Verfügung. Tiberius unterwarf in diesem Sommerhalbjahr zuerst die Chauken an der Nordseeküste zwischen Ems und Elbe.64 Anschließend wandte er sich gegen die Langobarden und besiegte sie, woraufhin diese ihre Wohnsitze räumten und auf das östliche Flußufer übersiedelten.65 Dazu bemerkt Velleius noch, daß die Elbe an den Territorien der Semnonen und Hermunduren vorbeifließe.66 Die Semnonen tauchen wie die Langobarden zu diesem Zeitpunkt erstmals in der Überlieferung auf. Die Nennung von Chauken, Langobarden und Semnonen weisen auf den Unterlauf der Elbe hin, die Vorschläge für die Lokalisierung reichen von Hamburg bis Wittenberge.67 Aus geographischer wie archäologischer Sicht spricht einiges für das sogenannte Kastell Höhbeck auf einem Sporn über dem linken Elbsteilufer bei Vietze im Hannoverschen Wendland (Kreis Lüchow-Dannenberg). Auf dieser Erhebung zwischen Seege und Elbe bricht eine germanische Besiedlung in den Jahren um Christi Geburt ab.68 Die Einmaligkeit der Expedition dieses Jahres bestand aber nicht im Erreichen der Elbe an sich, wie Velleius suggerieren will, sondern im Zusammentreffen des Heeres mit einer römischen Flotte an einem zuvor vereinbarten Ort. Diese Überlegung des Tiberius verdient das von seinem Offizier gespendete Lob und darf als eine der bedeutendsten strategischen Leistungen der augusteischen

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Zu dem Problem, ob Germanien vor dem Jahre 9 n. Chr. bereits eine Provinz war oder nicht, vgl. u.a. Eck (2004b); Wolters (2008) 71–74 einerseits und Timpe (2006b) 292f.; Wiegels (2008) 58–60; Johne (2006) 152; vgl. 116–118; Johne (2008a) 246–248 andererseits. Krapinger (2002); zu Velleius’ Werk ausführlicher Schmitzer (2000) bes. 9–26; Christ (2001); Kehne (2006a). Deininger (1997) 20. Vell. 2,107,1f.

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Vell. 2,106,1; Neumann, Wenskus u. Schmid (1981); Dietz (1997a). Vell. 2,106,2; Strab. 7,1,3 p. 291C; Dietz (1999); Nedoma, Scardigli, Udolph, Pohl, Eger u. Bierbrauer (2001) 50–93, zur Sache 62 und 69–76; Johne (2008b) bes. 43–46. Vell. 2,106,2; vgl.Wiegels (2001b); Sitzmann u. Castritius (2005); Dietz (1998); Kehne (2006b). Zu den Lokalisierungsvorschlägen Johne (2006) 141. Wachter (1986) 123–126 und 201–203.

Feldzüge betrachtet werden.69 Mit dem Halt an der Elbe befolgte der Prinz eine Anweisung des Augustus, diesen Fluß auf keinen Fall zu überschreiten.70 Das Verbot des Kaisers dürfte aus den Erkenntnissen einer wahrscheinlich in das Jahr 4 n. Chr. zu datierenden Flottenexpedition resultieren, die den Küstenverlauf des ‚nördlichen Ozeans‘ erkunden sollte und tatsächlich bis zum Kap Skagen an der Nordküste Jütlands gelangt ist.71 Die durch dieses Unternehmen gewonnene Erkenntnis war, daß eine langgestreckte Halbinsel, die ‚Kimbrische‘, wie sie im Altertum genannt wurde, eine Weiterfahrt in Richtung Osten versperre und die Elbe nach dem Rhein, der Ems und der Weser die letzte vom offenen Meer her befahrbare ‚Wasserstraße‘ sei, die den Zugang ins germanische Binnenland ermögliche. Die zuvor existierende Annahme eines ‚Seeweges‘ um das nördliche Europa herum, den 300 Jahre früher schon Pytheas gesucht hatte, erwies sich mit dieser Expedition als falsch, das Verbot einer Überschreitung der Elbe dürfte die entscheidende politische Folge gewesen sein.72 So erklärt sich das Verhalten des Tiberius, es mit seiner konzentrierten Macht von Heer und Flotte bei einer Demonstration zu belassen und keine Anstalten zu einem Flußübergang zu machen. Diese Expedition wird im allgemeinen mit der gemeinsamen Operation von Heer und Flotte im Jahre 5 n. Chr. verbunden. Velleius Paterculus betont dabei ausdrücklich die Versorgungsaufgabe der Flotte für das Landheer und die genaue Einhaltung des Zeitplans.73 Beides mußte sich bei einer Forschungsexpedition in unbekannte Gewässer geradezu als Unmöglichkeit erweisen. Die in vielen Darstellungen, Kommentaren und Landkarten ohne Diskussion aufgestellte Behauptung über die Identität der Flotte, die zur Nordspitze Jütlands gesegelt ist, mit derjenigen, die die Elbe aufwärts fuhr, kann nicht stimmen. Es muß sich um zwei verschiedene Fahrten gehandelt haben, die ‚Entdeckungsfahrt‘ wahrscheinlich des Jahres 4 ist von der ‚Nachschubfahrt‘ des Jahres 5 zu trennen.74 Velleius Paterculus schließt seinen Bericht über diesen Sommerfeldzug mit der kurzen Mitteilung, Tiberius habe als Sieger über alle aufgesuchten Gebiete und Stämme seine Legionen heil und unversehrt ins Winterlager zurückgeführt.75 Eher beiläufig wird hier der letzte Abzug der Römer von der Elbe beschrieben. Die Tragweite des Vorgangs kann auch Velleius bei der Niederschrift seines Geschichtsabrisses ein Vierteljahrhundert später nicht verborgen geblieben sein. Nach dem Sommer 5 hat kein römischer Feldherr diese Flußlinie jemals wieder erreicht. Die Politik, die Tiberius als Kaiser verfolgte, mußte den Geschichtsschreiber belehren, daß ein Vorstoß bis dahin auch nicht mehr zu erwarten sei. Somit war der Rückmarsch in diesem Sommer für alle Bestrebungen in Richtung Elbgrenze ein Vorgang von historischer Bedeutung. Im folgenden Jahr 6 n. Chr. sollte mit der geplanten Unterwerfung oder auch nur Schwächung des Markomannenreiches im späteren Böhmen ein vorläufiger Endpunkt römischer Eroberungen im Vorfeld der Rhein-Donau-Grenze erreicht werden. Nördlich von Böhmen muß dann aber zweifellos die Elbe als die ins Auge gefaßte Grenze angesehen werden. Diese konnte nur dann als einigermaßen sicher gelten, wenn der Einfluß des Markomannenkönigs Marbod auf die elbgermanischen Stämme gebrochen war. Mit diesem König ist die früheste Reichsbildung bei den Germanen verbunden.76 Der Feldzug gegen ihn wurde durch den Ausbruch des Pannonisch-Dalmatischen Aufstandes verhindert, 69 70 71 72

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Zu Tiberius Eck (2002); Kehne (2005). Strab. 7,1,4 p. 291f.C. R. Gest. div. Aug. 26; vgl. Herrmann (1988–1992): IV, 584; Plin. nat. 167. Ausführlich zu Datierung und Problematik dieser Expedition Johne (2006) 140–144, vgl. 145–148; Johne (2008a) 248–250. Vell. 2,106,2–3.

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Als Möglichkeit auch in Betracht gezogen von Wolters (2008) 57f. mit Anm. 16. Vell. 2,107,3; zu dem Geschehen im Sommer 5 vgl. Wolters (1990) 190–192; Becker (1992) 171f.; Deininger (1997) 18–23; Bleicken (1999) 587 und 758. Zu Marbod und seinem Reich Losemann (1999); Kehne (2001a); Johne (2006) 150–158; Kehne u. Salacˇ (2009).

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dessen Niederschlagung Tiberius übernahm und der ihn bis zum Jahre 9 n. Chr. südlich der Donau festhielt. Die Person des P. Quinctilius Varus hat durch die Schlacht, die mit seinem Namen verbunden ist, traurige Berühmtheit erlangt. Dennoch muß man auch sehen, daß in den Jahren seiner Statthalterschaft von 7 bis 9 n. Chr. die Provinzialisierung des von ihm verwalteten Territoriums den Höhepunkt erreicht hat. Nach der Machtdemonstration des Tiberius und einem Friedensschluß mit Marbod konnte er, wie es schien, einer ruhigen Amtszeit entgegensehen und sich um den Aufbau einer Infrastruktur und die Einführung der Provinzordnung kümmern. Seine wichtigste Aufgabe dürfte die Aufrechterhaltung der Ruhe gewesen sein und die Sorge dafür, daß sich Tiberius seiner neuen Aufgabe zwischen Donau und Adria widmen konnte. Solange im Illyricum gekämpft wurde, mußte alles getan werden, um den mit Marbod abgeschlossenen Frieden zu erhalten. So vermied es Varus offensichtlich bewußt, die Elbgermanen als Marbods Verbündete zu reizen. Bis gegen Ende seiner Amtszeit bewegte er sich nicht über die Weser hinaus.77 Im Jahre 8 gelang den Römern der entscheidende Erfolg in Pannonien, und die Donaugrenze gelangte wieder in ihre Hand. Vor diesem Hintergrund scheint Varus seine vorsichtige Haltung aufgegeben zu haben. Der berühmte Zug der drei Legionen sollte offenbar die römische Position im Raum zwischen Weser und Elbe stärken. Er kann als eine mit großem Aufwand unternommene Machtdemonstration vor allem gegen Langobarden und Semnonen betrachtet werden.78 Die Schlacht im Teutoburger Wald hatte Auswirkungen auf den Stellenwert der Elbe im politischen Bewußtsein. Bis zum September 9 war der Strom die beanspruchte Grenze einer geplanten Provinz. Wenn es auch keine wirkliche Machtausübung bis an seine Ufer gab, so existierte andererseits auch westlich davon keine Kraft, die Roms Anspruch in Frage stellen konnte. Wer sich, wie die Langobarden im Jahre 5, nicht unterordnen wollte, mußte auf das östliche Ufer fliehen. Nach dem Jahre 9 war der seit 12 v. Chr. schrittweise vorangekommene politische Einfluß schlagartig fast überall wieder auf die Ausgangspositionen reduziert worden. Allein die Küstenstriche an der Nordsee machten eine Ausnahme. Da Friesen und Chauken in der bisherigen Abhängigkeit verharrten, blieb vorerst der Herrschaftsanspruch des Reiches bis an die Mündung der Elbe bestehen. Darauf nahm Kaiser Augustus Bezug, als er gegen Ende seines Lebens eine Bilanz zog. In seinem Tatenbericht, erhalten in der Abschrift des Monumentum Ancyranum, kommt er auf die Eroberungen unter seiner Regierung zu sprechen. Dabei schlägt er einen riesigen Bogen von der Straße von Gibraltar entlang der Küsten Westeuropas bis an die Mündung der Elbe. Er habe die gallischen und spanischen Provinzen und ebenso Germanien, soweit es der Ozean einschließt, von Gades bis zur Elbmündung befriedet.79 Die Notiz ist unter zwei Aspekten bedeutsam. Es ist die früheste sicher datierbare Erwähnung des Flusses, aus den Jahren 13/14 n. Chr., und es ist eines der beiden Zeugnisse, in denen der Strom in einem offiziellen Dokument erwähnt wird. Zugleich ist sie eine propagandistische Meisterleistung. Augustus will unbedingt das Vordringen bis zur Elbe als einen Erfolg seiner Heere darstellen. Nach der Niederlage des Varus erstreckte sich der römische Einflußbereich aber nur noch entlang der Nordseeküste bis an die Flußmündung, die er in Beziehung zu den ‚Säulen des Herakles‘ an der Straße von Gibraltar setzt, wofür Gades, das heutige Cádiz, steht. Die spanischen und gallischen Reichsteile werden als Provinzen bezeichnet, Germanien dagegen nicht, ein weiteres Indiz dafür, daß es östlich des Rheins auch unter Varus noch nicht zur förmlichen Bildung einer Provinz gekommen ist. Die Nennung Germaniens ohne den Zusatz ‚Provinz‘ ist zweifellos erst einmal korrekt und ebenso die Feststellung römischen Einflusses im Küstengebiet. Den77

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Zu Varus u.a. Timpe (1970) 99–104; Eck (2001); Wolters (2006); Johne (2006) 159–177; Wolters (2008) 75–88.

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Vgl. Timpe (1970) 90–93 und 98–104. R. Gest. div. Aug. 26; Galsterer (2000).

Abb. 8 | Porträt des Germanicus Julius Caesar.

noch wird durch die Aneinanderreihung Spanien, Gallien, Germanien und durch den diese Gebiete verbindenden Bogen vom vermeintlichen ‚Ausfluß‘ des Mittelmeers in den Ozean bis zum tatsächlichen Ausfluß der Elbe in dasselbe Weltmeer der Eindruck erweckt, alle genannten Territorien seien römisches Herrschaftsgebiet. Trotz einer dem strikten Wortlaut nach zutreffenden Darstellung wird von Augustus der Anspruch auf mehr als nur das Mündungsgebiet der Elbe erhoben und der Gedanke der Ausdehnung des Imperiums bis an diesen Strom eingebracht.80 Offenbar hatte sich der Princeps nicht mit dem Verlust des germanischen Binnenlandes abgefunden und plante dessen Rückeroberung. Darauf scheinen alle Maßnahmen der letzten Jahre seiner Regierung hinauszulaufen. Tiberius wurde im Jahre 10 n. Chr. zum dritten Male an den Rhein beordert, um den Schutz der Grenze zu übernehmen. Die dort stationierte Armee wurde nicht nur schnell um die Zahl der im Teutoburger Wald verlorengegangenen Legionen ersetzt, sondern um zwei weitere auf insgesamt acht vergrößert. Mit Beginn des Jahres 13 übernahm Germanicus das außerordentliche Kommando in Gallien und am Rhein. Seine Berufung bedeutete ein Programm, denn Augustus übergab ihm damit das politische Erbe seines Vaters Drusus und, gewollt oder ungewollt, den Auftrag zur Wiedereroberung Germaniens.81

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Vgl. Timpe (1968) 34; Welwei (1986) bes. 119–121; Deininger (1997) 26f.; Bleicken (1999) 606f.; Ridley (2003) 196–203; Wolters (2008) 135–137; C. Wendt im vorliegenden Band.

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Vgl. Wolters (1990) 239–245; Eck (1998); Kehne (1998).

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Die Feldzüge des Germanicus in den Jahren 14, 15 und 16 n. Chr. sind das Hauptthema in den beiden ersten Büchern der Annalen des Tacitus. Sie sind dadurch die mit Abstand am besten bekannten militärischen Unternehmungen dieser Jahrzehnte.82 In das Jahr 15 fallen der Besuch des Schlachtfeldes im Teutoburger Wald und die ‚Schlacht an den Langen Brücken‘, zwei Vorgänge, die für das Verständnis der Varusschlacht von grundlegender Bedeutung sind.83 Im Sommer 16 n. Chr. wurde das größte jemals gegen die Germanen aufgebotene Heer von acht Legionen auf 1000 Schiffen vom Rhein auf die Ems gebracht und zog von dort zur Weser. Die Schlachten von Idistaviso und am Angrivarierwall waren die Höhepunkte der Germanicus-Feldzüge. Die römische Offensive in Richtung Elbe, die nun auch ausdrücklich zum Kriegsziel erklärt wurde, blieb jedoch trotz aller Anstrengungen östlich der Weser stecken. Unmittelbar vor der Schlacht bei Idistaviso an der Weser in der Nähe der Porta Westfalica will Germanicus seine erschöpften Soldaten anfeuern und erhofft sich vom bevorstehenden Kampf eine Entscheidung. Der Aufruf schließt mit dem eindringlichen Appell, daß die kommende Schlacht ihren Wunsch nach dem Ende aller Strapazen erfüllen werde, wenn sie ihm nur in dem Land, in dem sein Vater Drusus und sein Onkel Tiberius gekämpft hätten, zum Siege verhelfen würden, sei doch die Elbe bereits näher als der Rhein, und darüber hinaus sei kein Krieg mehr zu führen.84 Die auf die programmatische Rede folgende Schlacht brachte den Römern zwar einen Sieg, jedoch keineswegs den, den sie erhofft hatten und schon gar nicht die Wiedererringung der Herrschaft bis zur Elbe. Auch die kurz danach erfolgte Schlacht am Angrivarierwall zwischen Weser und Steinhuder Meer hatte keinen anderen Ausgang, beide waren ‚verlorene Siege‘. Sie waren zudem mit nicht mehr vertretbaren Verlusten erkauft worden. Tiberius hatte offenbar bereits zum Ende des Jahres 15 den Abbruch der Kampfhandlungen in Germanien gewünscht und berief nunmehr, nachdem mit der Aufbietung aller verfügbaren Kräfte auch nichts Wesentliches erreicht worden war, Germanicus ehrenvoll, aber entschieden ab.85 Am 26. Mai 17 durfte der Prinz mit großem Aufwand einen Triumph in Rom feiern, gewidmet den Siegen „über Cherusker, Chatten und Angrivarier sowie die anderen Stämme, die bis zur Elbe hin wohnen.“86 Neben dem Tatenbericht des Augustus ist dieser Triumphtitel der zweite offizielle Text, in dem die Elbe begegnet. Die Formulierung wie die Datierung auf den Tag genau verraten die Herkunft der Passage aus einem staatlichen Dokument und sind ein unverdächtiger Beweis für das Expansionsstreben bis zu dem mitteleuropäischen Strom. Tacitus hat also dem Prinzen nicht erst nachträglich Pläne in dieser Hinsicht unterstellt. Mit dem Triumph ehrten Kaiser und Senat Germanicus als Rächer des Varus und seiner untergegangenen Armee und – wider besseres Wissen – auch als denjenigen, der die von seinem Vater begonnene Eroberungspolitik im zentralen Mitteleuropa zu einem erfolgreichen Ende geführt habe. Daß das Motto des Triumphes ausschließlich als eine schmeichelhafte Ehrung des Prinzen gedacht war, zeigte sich nach seinem frühen Tode im Jahre 19. Nur zweieinhalb Jahre nach dem Triumph war bei den großartigen posthumen Ehrungen von einem Fernziel Elbe überhaupt keine Rede mehr. In einem Senatsbeschluß vom Dezember 19 werden als die Verdienste des Germanicus aufgeführt: der Sieg über die Germanen im Krieg und deren Zurückdrängung von den gallischen Provinzen, die Rückgewinnung der verlorenen Feldzeichen, die Rache für die durch Verrat erfolgte Niederlage des römi-

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Zur taciteischen Auffassung der Germanicusfeldzüge und zur sonstigen Überlieferung Timpe (1968) 8–23; zu den Feldzügen selbst Koestermann (1957); Wolters (1990) 229–245; Becker (1992) 187–218; Johne (2006) 182–192; Wolters (2008) 127–134. Tac. ann. 1,59,1–62,2 und 1,63,6–68,5.

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86

Tac. ann. 2,14,4. Tac. ann. 2,26,1–4; Timpe (1968) 59–65; Timpe (1971); Wolters (1990) 239–243; Becker (1992) 213–218; Johne (2006) 187f. und 192. Tac. ann. 2,41,1ff.; Strab. 7,1,4 p. 292C.

schen Heeres und die Ordnung des Zustandes in Gallien.87 Der Kontrast zum Triumph konnte kaum größer sein, nicht ein Element der Triumphformel findet sich wieder. Mit Schutz und Sicherung Galliens ging die römische Politik wieder auf die Position des Jahres 12 v. Chr. zurück. Damit hatte die 30-jährige Offensivpolitik gegen Germanien ihr Ende gefunden. Zwar wurden die Ansprüche auf das Land zwischen Rhein und Elbe nicht aufgegeben, aber die in Rom getroffenen Entscheidungen sprachen für sich. Germanicus erhielt keinen Nachfolger, das einheitliche Oberkommando über die acht Legionen der Rheinarmee wurde abgeschafft. Die bisher vorhandenen Truppenmassierungen in den Räumen um Xanten und Mainz wurden aufgegeben und die Legionen über die gesamte Rheingrenze verteilt, von der heutigen niederländischen bis an die Schweizer Grenze. Diese Truppenverlegungen machten den Politikwechsel deutlich, größere Offensiven waren für die nächste Zeit nicht mehr geplant. Die mit der Abberufung des Germanicus getroffene Entscheidung wurde im Bereich der Grenze am Niederrhein nicht wieder revidiert. Ein Aufstand der Friesen im Jahre 28 beendete die römische Oberhoheit über den Küstenstreifen zwischen Ems- und Elbemündung, auf die Augustus in seinem Tatenbericht mit Nachdruck verwiesen hatte.88 Für kurze Zeit wurde der verlorene Einfluß im Jahre 47 noch einmal wiederhergestellt, als letztmalig eine Flotte rheinabwärts in die Nordsee geschickt, die Friesen erneut unterworfen und die Chauken bekämpft wurden. Ehe es jedoch zu größeren Auseinandersetzungen kam, untersagte Kaiser Claudius eine Fortführung der Kämpfe und befahl den Rückzug der Armee auf die Rheingrenze und die Aufgabe aller Stützpunkte östlich davon.89 Im Jahre 43 war mit der Eroberung Britanniens begonnen worden, und diesem Kriegsschauplatz gebührte fortan die Priorität gegenüber Germanien. Die Entscheidung des Claudius ließ den Niederrhein endgültig zur Grenze werden. In den zwanziger Jahren des 1. Jahrhunderts änderte sich die Rolle der Elbe im politischen Bewußtsein der Römer. Ohne die Expedition der eigenen Heere und ohne die Tätigkeit prominenter Persönlichkeiten erlosch das Interesse am Stromgebiet der Elbe. Seitdem war dieses Gebiet nur noch für Historiker, Geographen und Ethnographen interessant, nicht mehr für die praktische Politik. Als die östlichste von Römerheeren in Mitteleuropa erreichte Linie galt der Fluß als denkwürdig für die gesamte Eroberungspolitik im Norden und wurde als erstrebenswerte Grenze in zunehmendem Maße verklärt. Der geographische Ertrag der Germanien-Feldzüge findet sich zuerst im Werk des Strabon von Amaseia, das in der Regierungszeit des Augustus und am Anfang der des Tiberius entstanden ist.90 Der Schriftsteller war zwar ein Zeitgenosse dieser Feldzüge, doch die Informationen darüber sind nur punktuell und unsystematisch in die Geographika eingearbeitet worden. Gleich zu Beginn seiner Darstellung betont er die Entdeckerfunktion der Expedition nach Germanien. Wie Alexander der Große Asien und den ganzen Norden Europas bis zur Donau erschlossen habe, so hätten die Römer den Westen bis zur Elbe, die Germanien in zwei Teile trenne, erschlossen, und außerdem die Gebiete jenseits der Donau bis zum Dnestr.91 Strabon betrachtet alle Grenzpunkte von seiner Heimat Kleinasien aus, denn nur aus diesem Blickwinkel kann die Donau im Norden und die Elbe im Westen lokalisiert werden. Gleich bei dieser zeitlich frühesten Nennung des Stroms in einem literarischen Werk wird er als eine Trennlinie verstanden, die den bekannten Teil des Landes von dem unbekannten scheidet; eine andere Begründung für die trennende Funktion des Flusses findet sich bei Tacitus. An einer späteren Stelle in seinem Werk trifft Strabon die Feststellung, daß die Gebiete jenseits der Elbe unbekannt 87 88

Vgl. Tabula Siarensis frg. I Z. 12–15 ed. Lebek (1991) 52; Lehmann (2007) bes. 425ff. Vgl. Tac. ann. 4,72,1–74,1; Wolters (1990) 251f.; TrzaskaRichter (1991) 176–179; Becker (1992) 222f.; Johne (2006) 209.

89 90 91

Vgl. Tac. ann. 11,18,1–20,1; Cass. Dio 60,30,4f.; Johne (2006) 210ff. Vgl. Engels (1999) 36–40; Radt (2001); Pothecary (2002); Wolters (2005a); Johne (2006) 25f. und 199–202. Strab. 1,2,1 p. 14C.

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Abb. 9 | Karte der augusteischen Feldzüge in das rechtsrheinische Germanien, 1. Jh. n. Chr.

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sind.92 In dem Zusammenhang verweist er auf das Verbot des Augustus, das oben erwähnt worden ist.93 Im siebenten Buch der Geographika findet sich eine relativ ausführliche Beschreibung Germaniens als des Landes zwischen Rhein und Elbe. Beide Ströme fließen parallel zueinander und besitzen ein annähernd gleich großes Stromgebiet.94 Unter den aufgeführten Stämmen im Elberaum begegnen alle, die in den Werken späterer Schriftsteller auftauchen, die Chauken am Ozean, die Langobarden, die Semnonen, Hermunduren und Markomannen. Marbods Reich in Böhmen ist Strabon bekannt, und sein ‚Herkynischer Wald‘ bezeichnet die Randgebirge des Böhmischen Beckens, Erzgebirge, Riesengebirge, Böhmisch-Mährische Höhen, Böhmerwald und Oberpf älzer Wald. Diese Konkretisierung des Begriffs, verglichen mit den bei Caesar vorliegenden Nachrichten, stellt für das Stromgebiet der Elbe den größten Erkenntnisfortschritt bei diesem Schriftsteller dar. Etwa 20 Jahre nach der Schlußredaktion von Strabons Werk entstand die älteste erhalten gebliebene geographische Schrift in lateinischer Sprache, die Länderkunde des Pomponius Mela, verfaßt in den Jahren 43 und 44. Sie ist vor allem eine Kompilation älterer, meist griechischer Quellen, verwertet jedoch auch jüngere Berichte. Mela brauchte nicht wie Strabon nachträglich gewonnene Erkenntnisse in einen älteren Text einzuarbeiten, ihm lagen bei Arbeitsbeginn bereits Berichte von den Germanienfeldzügen vor, so die Arbeit des Geographen Philemon über den nördlichen Ozean. Die Länderkunde brachte einige Erkenntnisfortschritte gegenüber den Geographika und muß als ein weiterer Ertrag der Okkupationszeit angesehen werden.95 Germaniens Grenzen sind bei Pomponius Mela im Westen der Rhein, im Süden die Alpen, im Norden der Ozean und im Osten die sarmatischen Stämme sowie die bei Strabon nicht auftauchende Weichsel, Vistula, als der Grenzfluß zwischen Germanen und Sarmaten.96 Klarere Vorstellungen als Strabon hat er auch vom Flußsystem Germaniens. Von den Strömen, die das Land verlassen und auf dem Territorium anderer Stämme weiterfließen, nennt er Donau und Rhône, als die bekanntesten Nebenflüsse des Rheins den Main und die Lippe, als die in den Ozean mündenden Flüsse Ems, Weser und Elbe. Die in ihrem Verlauf erstmals richtig beschriebene Lippe und der zuvor nicht genannte Main verraten zweifellos Kenntnisse über die Einfallswege der römischen Armee, wie auch die Nennung der Ems neben der Weser und der Elbe. Gewisse Vorstellungen von den Küsten im Bereich der Elbmündung verwerten Kenntnisse, die erst durch die Expedition nach Kap Skagen gewonnen worden sind.97 Ebenfalls aus der Regierungszeit des Kaisers Claudius stammt die mit Abstand umfangreichste Aufarbeitung der augusteischen Germanienkriege, das Werk Bella Germaniae des älteren Plinius. Neben Velleius Paterculus war er der einzige römische Schriftsteller, der Germanien besucht hat und als Augenzeuge von dort berichten konnte. Im Jahre 47 nahm er an dem letzten Feldzug gegen die Chauken teil und lernte die Nordseeküste und deren Hinterland kennen. Im Militärbezirk der Oberrheinarmee besuchte er die Donauquellen im Schwarzwald, die heißen Quellen von Wiesbaden und bekämpfte im Jahre 50 die Chatten in Hessen.98 Die 20 Bücher der Germanenkriege, entstanden zwischen 47/48 und 57/58, werden sicher mit den Zügen der Kimbern und Teutonen begonnen und bis zu seiner eigenen Zeit gereicht haben, wobei der Schwerpunkt zweifellos die augusteische Zeit darstellte und hier vor allem die Person des Drusus. Die Verehrung für ihn lebte im Jahre 41 mit dem Regierungsantritt seines 92 93 94 95

Strab. 7,2,4 p. 294C. Vgl. oben Anm. 70. Strab. 7,1,3 p. 290C; Timpe (1989) 360–362, 367f.; Becker (1992) 8–17; Deininger (1997) 38–41. Vgl. Brodersen (1994) 1–28; Gärtner (2001); Kehne (2001c); zu Philemon Timpe (1989) 366f.; Gärtner (2000).

96 97 98

Mela 3,25 und 3,33; vgl. Herrmann (1988–1992) I, 544 und 547. Mela 3,30f.; Timpe (1989) 365–370; Blomkvist u. Castritius (2003) bes. 357–360. Vgl. Sallmann (2000); Wolters (2003).

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Sohnes Claudius nochmals auf, für Plinius ist sie durch seinen Neffen ausdrücklich bezeugt.99 Der fast vollständige Verlust der Bella Germaniae ist für die Geschichte der römisch-germanischen Beziehungen eine schmerzliche Lücke. Tacitus, der dieses Werk in beträchtlichem Maße ausgeschöpft hat, nannte Plinius nicht ohne Grund „den Geschichtsschreiber der Germanenkriege“ – Germanicorum bellorum scriptor.100 Erhalten hat sich von Plinius die aus 37 Büchern bestehende monumentale Enzyklopädie Naturgeschichte. In ihr finden sich auch Nachrichten, die in dem Werk über die germanischen Kriege gestanden haben dürften, z.B. über die Expedition zum Kimbernkap. Als erster Schriftsteller besaß er eine richtige Vorstellung von der ‚Barriere‘ Jütland. Das Kimbernkap springt nach seiner Beschreibung weit in das umgebende Meer vor und bildet eine große Halbinsel. Westlich davon nennt er 23 Inseln. Daß es sich dabei um die Nordfriesischen, Ostfriesischen und Westfriesischen Inseln handelt, zeigt die Bemerkung, die berühmteste sei Borkum.101 Dem außerordentlichen Interesse des Plinius nicht nur an den Ereignissen an der Rheingrenze, sondern auch an denen im Inneren Germaniens verdanken wir die letzte Detailangabe aus diesem Gebiet in der literarischen Überlieferung. Wie Tacitus berichtet, kam es im Sommer 58 zwischen Hermunduren und Chatten zu einer großen Schlacht um den Besitz von Salzquellen an einem Fluß, der die Grenzen beider Stämme bildete.102 Den Sieg errangen die Hermunduren, die Niederlage war für die Chatten umso verhängnisvoller, weil beide für den Fall ihres Sieges alle Beute, Menschen und Pferde den Göttern geweiht und damit totaler Vernichtung anheimgegeben hatten. Die Herkunft der Notiz aus einem Werk des Plinius wird durch die ausführliche Beschreibung der Salzgewinnung geradezu zur Gewißheit. In der Naturgeschichte beschäftigt dieser sich mit Salzlagerstätten und den Problemen der Salzgewinnung. An einer Stelle wird dasselbe Verfahren erwähnt, das Tacitus den beiden Germanenstämmen zuschreibt.103 Bei dem Grenzfluß handelt es sich mit größter Wahrscheinlichkeit um die Werra in der Gegend des heutigen Bad Salzungen in Thüringen, wo seit dem Jahre 775 Salzsiedehütten nachgewiesen sind. Direkt aus der Naturgeschichte des älteren Plinius stammt eine Information zur ‚Bernsteinstraße‘. Danach betrage die Entfernung vom pannonischen Carnuntum an der Donau bis zu dem Strand Germaniens, von dem der Bernstein eingeführt wurde, 600 Meilen (= 888 km). Ein römischer Ritter hatte in der Regierungszeit Kaiser Neros diese Reise unternommen und war mit größeren Mengen des begehrten Stoffes zurückgekehrt.104 Diese Nachricht ist der einzige konkrete literarische Hinweis auf den berühmten Handelsweg von der Donau durch das Marchtal, die Mährische Pforte und über die Oder an die Weichsel und ihr entlang bis zur Danziger Bucht und zur Küste Samlands. Die ‚Bernsteinstraße‘ erklärt auch, warum die Weichsel als einziger Fluß östlich der Elbe bekannt wurde und in den Vorstellungen über Mitteleuropa eine Rolle spielt. In den siebziger Jahren des 1. Jahrhunderts wandte sich Kaiser Vespasian wieder einer aktiven Germanienpolitik zu, die mit der Rückzugsentscheidung des Claudius im Jahre 47 faktisch aufgehört hatte. In den Jahren 73 und 74 wurde die Grenze über den Oberrhein bis zum Neckar und zur Schwäbischen Alb vorgeschoben. Sein Sohn Domitian eroberte im Chattenkrieg der Jahre 83 bis 85 das Neuwieder Becken und die Wetterau. Dieser partielle Erfolg wurde überschwänglich gefeiert, u.a. mittels einer Münzserie mit der Legende Germania capta, und zum Anlaß genommen, um die provisorischen Ver199 Plin. epist. 3,5,4 vgl. Herrmann (1988–1992) III, 534; Goetz u. Welwei (1995) II, 5 Anm. 2. 100 Tac. ann. 1,69,1f. 101 Plin. nat. 4, 97. 102 Tac. ann. 13,57,1f.; K. Tausend (2009) 36 und 86.

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Plin. nat. 31,81–83; Haid u. Stöllner (2004) bes. 370–373; Johne (2006) 213f. 104 Plin. nat. 37,45; Bohnsack u. Follmann (1976) 292f.; 296f.; Hünemörder u. Pingel (1997); K. Tausend (2009) 187f.; 195ff.

hältnisse an der Rheingrenze zu beenden. Die Militärbezirke der Nieder- und der Oberrheinarmee hatten bis dahin immer noch die Option offengelassen, die einmal geplante große provincia Germania zu verwirklichen. Diese Militärbezirke wurden jetzt in die Provinzen Nieder- und Obergermanien umgewandelt, die Grenze damit festgeschrieben und ein Verzicht auf weitere Eroberungen dokumentiert. Zeitgleich kam es zu einem Wechsel in der römischen Außenpolitik. Ein mit dem Jahre 85 einsetzender Krieg gegen die Daker verlagerte die Schwerpunktsetzung an die Donau. Die bisher so wichtige Rheingrenze verlor seitdem an Bedeutung zugunsten der Donaugrenze. Die Entscheidungen Domitians wurden von Trajan in den Jahren um 100 unumkehrbar gemacht durch die Auflösung von drei Legionslagern am Rhein und durch die Reduzierung der an dem Fluß stationierten Legionen auf vier.105 Polemik gegen Domitians Siegespropaganda und die als ‚Bereinigung‘ des Germanien-Problems gedachten Provinzgründungen gehören zu den Absichten der berühmten Germania des Cornelius Tacitus, der bedeutendsten Schrift, die über den mitteleuropäischen Raum aus dem Altertum erhalten geblieben ist.106 Aus ihr stammt das bekannteste Elbe-Zitat in der römischen Literatur. „Einst war sie ein bekannter und vielgenannter Fluß, jetzt kennt man ihn nur noch vom Hörensagen“, lautet die resignierende Feststellung des Historikers.107 Im Inneren Germaniens ist die Elbe der einzige Strom, der von Tacitus einer namentlichen Erwähnung für würdig befunden wird, außer ihr kommen sonst nur Rhein, Donau und Main vor. Auch ohne jede weitere Erläuterung müßte man diesen Umstand bei dem extrem sparsamen Gebrauch von Flußnamen als eine Heraushebung verstehen. Tacitus fügt der Nennung des Namens jedoch Angaben hinzu, die erkennen lassen, daß für ihn die Elbe nicht nur das wichtigste, sondern das einzige Binnengewässer bei den Germanen ist, das eine Namhaftmachung verdient. Wie bei Rhein und Donau wird die Quelle erwähnt, allerdings sehr unbestimmt im Hermundurenland. Wie die beiden anderen Ströme stellt auch die Elbe für Tacitus eine Grenze dar, und zwar in zweifacher Hinsicht: Sie trennt die westliche Germania von der östlichen Suebia, worunter er den größeren Teil Germaniens zwischen Donau und Baltikum versteht.108 Damit trennt sie die Gebiete, die von den Römern schon einmal unterworfen waren oder zumindest in ihrem Einflußbereich gelegen haben von den übrigen; Strabon hatte hier die Trennlinie zwischen dem bekannten und dem unbekannten Germanien gesehen. Vergangenheit und Gegenwart werden knapp und dennoch aussagekräftig angedeutet. ‚Einst‘ bezieht sich auf die Jahre zwischen 9 v. Chr. und 5 n. Chr., da war die Elbe berühmt und bekannt, ‚jetzt‘, in der Gegenwart des Jahres 98, kennt man sie nur noch vom Hörensagen. Dies ist nach taciteischem Verständnis das Ergebnis der kritisch beleuchteten Politik der letzten 80 Jahre. Aus der Formulierung scheint die Resignation wegen der Preisgabe aller Expansionsabsichten zu sprechen, wie sie mit der Gründung der beiden germanischen Provinzen und dem Beginn des Limesbaus bekräftigt worden ist. Vor dem Hintergrund dieser Entscheidungen mußten die Erfolge der augusteischen Feldherrn endgültig als Großtaten der Vergangenheit erscheinen. Sicher wird man aus den Worten des Historikers den Wunsch herauslesen dürfen, die Grenze des Imperiums statt an Rhein und Donau lieber an der vermeintlich innergermanischen Grenze zur Suebia zu sehen. Ob sich hinter den Äußerungen auch Hoffnungen verbargen, daß Kaiser Trajan die im Jahre 98 endgültig erscheinenden Maßnahmen Domitians korrigieren möge, läßt sich nicht erweisen. Festzuhalten bleibt, daß Tacitus mit dem ‚Elbe-Satz‘ in der Germania denkbar knapp und dennoch eindrucksvoll auf die Germanienpolitik des 1. nachchristlichen Jahrhunderts zurückblickt. 105

Vgl. Johne (2006) 218–220 und 235–237 mit weiterführender Literatur. 106 Vgl. Herrmann (1988–1992) II, 11–72; Flaig (2001); Wolters (2005b); Johne (2006) 222–234; Timpe (2008).

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Tac. Germ. 41,2; Deininger (1997) 46f.; S. Tausend (2009) 169f. 108 Vgl. Timpe (1992); Lund (1989); Scharf (2005) 190f.

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In den Kapiteln 28 bis 46 der Germania gibt Tacitus jeweils eine kurze Vorstellung und Charakterisierung germanischer Stämme. Das betrifft auch die elbgermanischen Stämme der Semnonen, Langobarden, Hermunduren und Markomannen.109 Als ältesten und angesehensten Stamm aller Sueben betrachtet Tacitus die Semnonen. Ihr Territorium wird als sehr groß bezeichnet, dessen Ausdehnung – zwischen Elbe und Oder – jedoch nicht eingegrenzt. Das Kapitel ist vorrangig der Beschreibung des urtümlichen Kultes der Semnonen gewidmet, der mit einem zentralen Heiligtum des Kultverbandes, dem ,Semnonenhain‘, zusammenhing.110 Die auffallende Betonung der religiösen Aspekte bei diesem Stamm ist zweifellos mit einem zeitgenössischen Ereignis in Verbindung zu bringen. Cassius Dio berichtet, der Semnonenkönig Masyos und die wahrsagende Jungfrau Ganna kamen zum Kaiser Domitian, wurden von ihm ehrenvoll empfangen und kehrten dann zurück.111 Da die Nachricht nur aus Exzerpten des dionischen Werkes überliefert ist, bleibt die Datierung unsicher und ist wohl zwischen 92 und 96 anzusetzen. Der Aufenthalt von König und Stammesorakel eines östlich der Elbe beheimateten Stammes beim römischen Kaiser muß als ein singulärer Vorgang angesehen werden. Er zeigt das bewährte Modell römischer Diplomatie, zu grenzfernen Germanen ein gutes Verhältnis zu unterhalten, um sie gegen der Reichsgrenze näher siedelnde Stämme auszuspielen. Ganna wird als die Nachfolgerin der Veleda bezeichnet, die als Wahrsagerin im Bataveraufstand eine politisch aktive Rolle gespielt hatte.112 Dem volkreichen Stamm der Semnonen wird die geringe Zahl der Langobarden gegenübergestellt. Ihr Siedlungsgebiet beiderseits der unteren Elbe kann nur daraus erschlossen werden, daß ihre nördlichen Nachbarn am Ozean siedeln. Sie alle sind im Kultverband der Muttergottheit Nerthus zusammengeschlossen, der dem Kultverband der Semnonen zur Seite gestellt wird.113 Einen völlig anderen Akzent setzt Tacitus bei der Beschreibung der Hermunduren. Hier interessieren ihn weder Größe und Tapferkeit noch Religion und Kultverband. Das Kapitel ist allein auf das gute Verhältnis dieses Stammes zu den Römern abgestellt. Daran waren auch diese sehr interessiert, waren die Hermunduren doch die Gegner der Chatten, des wichtigsten romfeindlichen Stammes seit dem Ende der augusteischen Kriege. Deren Niederlage im Jahre 58 dürfte den Römern sehr willkommen gewesen sein. Eine romfreundliche Politik betrieb auch der einzige namentlich bekannte König der Hermunduren, Vibilius, dessen Machtstellung in den Jahren um 20 bis 50 datiert werden kann.114 An den Markomannen ist vor allem deren Königtum von Interesse.115 Tacitus meinte in der Germania zu Recht, die Elbe kenne man zu seiner Zeit nur noch vom ‚Hörensagen‘. Dennoch hat sich das Wissen über sie und ihr Umland im zweiten und frühen dritten Jahrhundert noch einmal vermehrt. Tacitus hatte die Quelle der Elbe mit der Angabe „im Hermundurenland“ nur sehr ungenau bestimmt. Den tatsächlichen Gegebenheiten näher lag die Lokalisierung des alexandrinischen Gelehrten Klaudios Ptolemaios ein halbes Jahrhundert später. Noch einmal 50 oder 60 Jahre später findet sich dann im Werk des Cassius Dio die einzig richtige Angabe der Elbquelle aus dem Altertum. Wir haben also den merkwürdigen Befund vor uns, daß die Quelle des Stroms mitten durch Germanien nicht richtig bekannt war, solange römische Heere bis an den Mittel- und Unterlauf vorgestoßen sind und sie als mögliche Grenze im Blickfeld lag, während eine zuverlässigere und die wirklich zuverlässige Angabe einer Zeit angehören, in der sich nur noch Geographen und Historiker für den Fluß interessierten.

109 Vgl. die Angaben in den Anm. 65, 66, 76; Johne (2006) 230–234 und K. Tausend (2009) passim. 110 Tac. Germ. 39,1ff. 111 Cass. Dio 67,5,3.

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Vgl. Reichert u. Timpe (1998); Kehne (2001b); Johne (2006) 221f.; S. Tausend (2009) 166ff. und 171–174; D. B. Baltrusch im vorliegenden Band. Tac. Germ. 40,1–4; Günnewig u. Castritius (2002). Tac. Germ. 41,1f.; Kehne (2006b). Tac. Germ. 42,1f.

Für das Weltbild der späteren Kaiserzeit war das Wirken des Mathematikers, Astronomen und Geographen Klaudios Ptolemaios in Alexandria von größter Bedeutung. In seiner Anleitung zum Zeichnen einer Weltkarte faßte er das geographische Wissen seiner Zeit zusammen. Darin bietet er mehr Einzelinformationen als alle anderen vergleichbaren Werke. Von Irland und den Kanarischen Inseln im Westen bis nach China sind etwa 8100 Namen von Flüssen, Bergen und Orten aufgeführt. Allerdings bereitet das Werk erhebliche Schwierigkeiten bei der Auswertung. Dazu tragen kartographische Verzerrungen ebenso bei wie die Quellenlage. In der Fülle des ausgebreiteten Materials können viele Angaben mangels einer Parallelüberlieferung nicht verifiziert werden.116 Als Germaniens Grenzen bezeichnet Ptolemaios den Rhein und die Weichsel, die Donau und den nördlichen Ozean. Das dazwischen liegende Gebiet nennt er in Abgrenzung zu den römischen Provinzen Germania inferior und Germania superior ‚Groß-Germanien‘, Germania magna.117 Als Flüsse östlich des Rheins führt er Ems, Weser, Elbe und Weichsel auf, bei denen er die Koordinaten der Längen- und Breitengrade für die Mündung wie für die Quelle angibt. Die Mündung der Elbe befindet sich bei ihm nördlich der Wesermündung. Eine Erklärung dafür könnte sein, daß das heutige Wattenmeer der Helgoländer Bucht noch zu einem Teil Festland war und die Elbmündung erst in der Gegend der Insel Scharhörn und damit der Wesermündung viel näher lag.118 Schwieriger sind die Angaben zur Quelle zu deuten. Sie wird von Ptolemaios in den Sudeten lokalisiert, die nach seinen Vorstellungen jedoch eher mit dem Böhmerwald als mit dem Riesengebirge gleichzusetzen sind. Der Geograph dürfte die Quelle der Moldau für die Elbquelle gehalten haben. Eine von ihm aufgeführte „zur Elbe führende Quelle“ ist dagegen wahrscheinlich die richtige, sie ist im Askiburgion-Gebirge angesiedelt, womit er offenkundig das Riesengebirge bezeichnet.119 Die Angaben zur Mündung und Quelle des mitteleuropäischen Stroms sind exemplarisch für die Schwierigkeiten bei der Auswertung des ptolemaiischen Werkes. Erstmals erwähnt wird bei dem alexandrinischen Gelehrten die im geographischen Schrifttum sonst sehr stiefmütterlich behandelte Oder unter dem Namen Syebos.120 Ganz in den Südosten Germaniens gedrängt ist bei ihm der ‚Orkynische Wald‘ und damit jener Terminus marginalisiert, der jahrhundertelang als Sammelbegriff des gesamten mitteleuropäischen Gebirgssystems gegolten hatte, vom Arkynischen Wald des Aristoteles bis zu Caesars Herkynischem Wald. Bei Strabon war der Begriff auf die Randgebirge Böhmens eingeengt worden, bei Ptolemaios umfaßt er die Kleinen und Weißen Karpaten, für die anderen Gebirgszüge gab es inzwischen Eigennamen.121 Die Römische Geschichte des Cassius Dio aus dem Beginn des 3. Jahrhunderts ist die wichtigste erhalten gebliebene Quelle für das Zeitalter der augusteischen Expansion. Der darin enthaltene Bericht über die Schlacht im Teutoburger Wald ist nicht nur der ausführlichste, sondern auch der zuverlässigste. Er verwertete zweifellos zeitnahe Quellen aus dem frühen 1. Jahrhundert, in denen Varus noch nicht zum alleinigen ‚Sündenbock‘ gemacht worden war wie bei allen späteren Autoren.122 Durch zuverlässige Angaben zeichnet sich Dio auch bei der Elbe aus. Als er sie bei der Schilderung der Feldzüge des Drusus des Jahres 9 v. Chr. zum ersten Male erwähnt, charakterisiert er sie durch je eine Angabe zu Quelle und Mündung, sie entspringt in den Vandalischen Bergen und ergießt sich in großer Breite in den nördlichen Ozean.123 Nun ist die Elbmündung unter Augustus von römischen Flotten aufgesucht

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Vgl. Timpe (1989) 381–387; Folkerts, Hübner u. Harmon (2001); Reichert (2003); Johne (2006) 238–243. Ptol. 2,11,1–4; 2,9,2; 8,6,1 = Herrmann (1988–1992) III, 214–217; 212f.; 234f. (Übersetzung) und Kommentar 559–564; 557f.; 587. Ptol. 2,11,1.

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Ptol. 2,11,1f. und 5; Deininger (1997) 49; Reichert (2003) 581f.; Johne (2006) 239f. 120 Ptol. 2,11,2 und 7f.; Udolph u. Nowakowski (2002). 121 Ptol. 2,11,5 und 11. 122 Manuwald (2007); Wolters (2008) 102–107; vgl. 107–119. 123 Cass. Dio 55,1,3.

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worden und war allgemein bekannt. Über ihre Quelle herrschte jedoch bei Tacitus wie bei Ptolemaios Unsicherheit. Dio steht mit seiner Angabe der Vandalischen Berge allein und trifft damit zweifellos das Richtige, das Riesengebirge. Ptolemaios hatte es Askiburgion genannt und mit der „zur Elbe führenden Quelle“ verbunden. Nun kann Dio die Nachricht nicht aus den Quellen geschöpft haben, nach denen er die Feldzüge des Drusus geschildert hat. Den Schriftstellern der augusteischen Zeit waren Vandalen überhaupt noch nicht bekannt und den Autoren des 1. Jahrhunderts nicht als ein bestimmter Stamm, mit dem man ein Gebirge in Verbindung bringen konnte. Diese Bezeichnung kann erst in der Zeit der Markomannenkriege (166–180) entstanden sein.124 Damit hat Dio zweifellos Wissen seiner eigenen Lebenszeit verwertet. Die von ihm vorgenommene richtige Lokalisierung der Elbquelle war der letzte Erkenntnisfortschritt über das Gebiet des mitteleuropäischen Stroms in der antiken Literatur. Alle Erwähnungen der Elbe und ihres Stromgebietes nach der Zeit um 230 stellen nur noch literarische Reflexionen eines älteren Wissensstandes dar. Als repräsentativ für das geographische Weltbild der Spätantike kann das Breviarium des Eutropius betrachtet werden. Es war das populärste Geschichtswerk des 4. Jahrhunderts und kam mit seiner knappen und übersichtlichen Darstellung des historischen Stoffes dem Bedürfnis breiter Kreise sehr entgegen. Die knappe Skizzierung der Germanenkriege unter Augustus entnimmt er dessen Biographie bei Suetonius. Die Erwähnung der Elbe ergänzt Eutropius mit dem Zusatz, dies sei ein Fluß im Barbaricum, weit entfernt vom Rhein.125 Suetonius konnte im frühen 2. Jahrhundert die Bekanntheit des Flusses bei seinen Lesern voraussetzen. Eutropius geht in der Mitte des 4. Jahrhunderts gerade umgekehrt davon aus, daß seine Leser mit der Nennung des Namens nichts mehr anfangen können. Germanien verschwindet seit dem 3. Jahrhundert fast wieder in der nebelhaften Ferne, in der es sich für die Mittelmeerwelt bis Caesar befunden hatte. Die Geographen schreiben nur noch ältere Vorlagen ab, die Historiker, Rhetoren und Dichter benutzen die Elbe als Chiffre einstiger römischer Machtausdehnung. Dafür zum Abschluß einige Beispiele im Überblick. Solinus beschreibt um 300 Germanien nach der Naturgeschichte des älteren Plinius, die er jedoch partiell mißversteht. Markianos von Herakleia schöpft um 400 das Werk des Ptolemaios aus und erwähnt als letzter griechischer Autor der Antike die Elbe.126 Erfolge des Soldatenkaisers Probus im Vorfeld der Oberrheingrenze in den Jahren 277/278 werden in der Historia Augusta in einen Vorstoß „über Neckar und Elbe“ umgemünzt. Die Nebeneinanderstellung dieser beiden Flüsse zeigt eine rapide Verschlechterung des Wissens über das Innere Germaniens.127 Den Tiefpunkt erreicht sie bei dem Dichter Claudius Claudianus, der die Elbe als Nebenfluß des Rheins mißversteht.128 Derselbe Claudianus feiert das Auftreten des Heermeisters Stilicho am Niederrhein 396 als eine nochmalige Ausdehnung römischer Macht bis an die Elbe. Tatsächlich war Stilicho der letzte Repräsentant Roms an der Rheingrenze und mußte sich um die Stellung von Hilfstruppen bemühen und die Sicherheit vor Einf ällen mit Geldzahlungen erkaufen. Geradezu grotesk ist die Behauptung römischen Einflusses bis zur Elbe selbst noch in der Phase der Agonie des Weströmischen Reiches. Sidonius Apollinaris schmeichelte dem Kaiser Eparchius Avitus 456 damit, seine Herrschaft

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Vgl. K. Tausend (1997); Waldherr (2002a) 1121; Castritius u. Bierbrauer (2006) bes. 168–172; Johne (2006) 251f; K. Tausend (2009) 148–153. Eutrop. 7,9 = Herrmann (1988–1992) III, 468f. (Übersetzung) u. Kommentar 666; Suet. Aug. 21,1 = Herr-

KLAUS-PETER JOHNE

mann (1988–1992) III, 188f.; (Übersetzung) u. Kommentar 544; Johne (2006) 281ff. 126 Vgl. Johne (2006) 283ff. 127 Vgl. Johne (2006) 275–279; 294ff. 128 Vgl. Johne (2006) 291–294.

reiche bis in das Innere Germaniens. Tatsächlich hatten zu diesem Zeitpunkt Germanen schon den größeren Teil des Westreiches in ihrem Besitz.129 An einer Zeitenwende für die Kenntnis der Elbe stand im späten 8. Jahrhundert der langobardische Schriftsteller Paulus Diaconus. In seiner Historia Romana wiederholte er den spätantiken Wissensstand mit dem Zitat Eutrops, nach dem der Strom weit entfernt vom Rhein im „Barbarenlande“ fließt. In der ebenfalls von ihm stammenden Historia Langobardorum lieferte er die ersten Nachrichten über den Fluß in nachrömischer Zeit. In dieser Schrift erwartete er von seinen Lesern, daß der Name bekannt sei. In dem offenbar für ehrwürdig erachteten Text des Eutropius beließ er es bei dem für das 4. Jahrhundert so charakteristischen Zusatz, obwohl dieses barbaricum lange die Heimat der Langobarden gewesen war und inzwischen zum Frankenreich gehörte.130 Als Paulus Diaconus seine Geschichte der Langobarden schrieb, führte Karl der Große bereits seine Kriege zur Unterwerfung der Sachsen, die zur Ausdehnung des Frankenreiches bis an Elbe und Saale führten. Mit ihnen erfolgte der ‚Wiedereintritt‘ des Stroms in die schriftliche Überlieferung. Der erste Feldzug im Jahre 780 ging vom Rhein die Lippe aufwärts bis an die Elbe nördlich Magdeburgs. Karl der Große erreichte den Fluß in derselben Gegend wie fast 800 Jahre früher der Römer Drusus.

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129 Vgl. Johne (2006) 298f.

130

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KLAUS-PETER JOHNE

Alexander Demandt Das Bild der Germanen in der antiken Literatur

Siebenhundert Jahre lang waren die Germanen die nördlichen Nachbarn der Römer. Das Verhältnis zwischen den beiden Völkern prägten wiederholt heftige Kriege, doch gab es auch lange Friedenszeiten dazwischen. Sowohl die Kriege als auch die Friedenszeiten zeigen eine asymmetrische Struktur. Die Kriege der Römer waren zu Anfang aggressive ,Kolonialkriege‘ gegen militärisch weit unterlegene ,Barbaren‘, Eroberungszüge ins freie Germanien bis an die Elbe. Später wurden es Abwehrkämpfe auf Reichsboden links des Rheins und rechts der Donau gegen einen ebenbürtigen Feind, in denen für Rom zuletzt Sein oder Nichtsein auf dem Spiele standen. Die Kriege der Germanen waren dementsprechend zunächst meist Verteidigung der Heimat, später gewöhnlich Raubzüge ins Imperium, bei denen es anfangs um Beute, zuletzt um Landnahme ging. Die Wende zwischen der frühen und der späten Phase brachte die Schlacht im Teutoburger Wald 9 n. Chr. In den friedlichen Zwischenkriegszeiten profitierten beide Seiten vom Handel, doch die Bilanz war wiederum schief. Denn für die Germanen war der Kontakt zusätzlich ein Lernprozeß, bei dem sie zahlreiche Errungenschaften römischer Technik kennenlernten und übernahmen. Schüler der Römer waren die Germanen auf allen Gebieten, namentlich im Militärwesen, und das ermöglichte ihnen schließlich in der Völkerwanderungszeit, die römischen Heere zu besiegen, das Imperium zu zerschlagen und das Erbe Roms anzutreten. Das Bild von den Römern in den Augen der Germanen kennen wir nur aus wenigen, allerdings bezeichnenden Anekdoten und Aussprüchen aus germanischem Munde, die uns antike Autoren überliefern. Der Eindruck ist gespalten. Auf der einen Seite bestaunte man die römische Zivilisation, auf der anderen fürchtete man die römische Herrschaft, die dem notorischen Freiheitsbegehren der Germanen entgegenstand. Das Bild, das umgekehrt die Römer von den Germanen hatten, ist ebenfalls ambivalent, denn einerseits bewunderte man die körperliche Verfassung der naturnah lebenden Nordvölker und ihren Kriegsgeist, und andererseits sah man auf ihre wilde, ungezügelte, unkultivierte Lebensweise herab, fürchtete ihre Angriffslust, den furor Teutonicus.1 In jedem Falle ist das Bild, das die Römer von den Germanen hatten, sehr viel inhaltsreicher als das umgekehrte, denn die antiken Autoren haben aus gutem Grund ihre Nachbarn im Norden sehr genau beobachtet, genauer als die Völker an den anderen Grenzen. Vier Kronzeugen ragen für die römische Sicht heraus: für die frühe Phase Caesar und Tacitus, für die späte Ammianus Marcellinus und Salvian von Massilia. Eine methodische Vorbemerkung ist betreffs der Zuverlässigkeit unserer Quellen zu machen. Die Germanen fallen unter den Sammelbegriff der Barbaren. In der Ilias2 werden die Leute aus Karien in Südwestkleinasien als barbaropho¯n bezeichnet, weil sie ein unverständliches ‚Blabla‘ reden. Später wurden alle Völker, deren Sprache ein Grieche nicht verstand, als barbaroi betrachtet, sowohl die hochzivilisierten, kunstsinnigen, aber vergleichsweise ,schwachen‘ Orientalen als auch die schriftlosen, kulturarmen, aber ,kraftstrotzenden‘ Skythen, Kelten und Germanen. Diesen letzteren werden in der antiken Ethnographie ähnliche oder gleichartige Eigenschaften zugeschrieben hinsichtlich ihrer Lebensart, ih-

1

Lucan. 1,255f.

2

Hom. Il. 2,867.

DAS BILD DER GERMANEN IN DER ANTIKEN LITERATUR

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rer Denkweise, ihrer Charaktereigenschaften und ihrer Religion. Die Aussagen darüber wirken mithin oft klischeehaft, so daß wir nie wissen: Handelt es sich um Topoi oder um echte Befunde? Angesichts der ähnlichen Lebensumstände im gesamten mittleren und nördlichen Europa ist jedoch grundsätzlich davon auszugehen, daß die Nachrichten über solche Übereinstimmungen nicht aus literarischer Konvention stammen, sondern auf wirkliche Beobachtung zurückgehen und jedenfalls in der Regel als verbürgt gelten dürfen. Weiterhin ist methodisch zu beachten, daß an fremden Völkern gewöhnlich nur das Andersartige auff ällt. Das, was mit den eigenen vertrauten Verhältnissen übereinstimmt, erscheint meist nicht erwähnenswert. Insofern ist das Bild vor dem Hintergrund des Betrachters zu sehen und auf das beschränkt, was sich von ihm abhebt. Ebenso bleibt Allgemeinmenschliches unerwähnt, etwa daß Kinder von den Eltern erzogen werden, daß die Nahrungsaufnahme in gemeinsamen Mahlzeiten stattfindet und daß man nachts schläft. Die Notierung des Fremdartigen dient nicht selten unausgesprochen oder gar ausdrücklich der Kritik an den eigenen Lebensumständen des Autors. Er hält in mahnender Absicht seinen Landsleuten und Zeitgenossen die Nachbarn als Spiegel vor. Das verführt ihn leicht zur Überzeichnung von Kontrasten, zur Übertreibung von Eigenarten, die ihm nachahmenswert oder abscheulich erscheinen. Wo solche Intentionen erkennbar sind, müssen historisch entsprechende Abstriche gemacht werden. Bevor die Römer sich ein Bild von den Germanen machen konnten, mußten sie einen Begriff von ihnen haben. Dessen Entstehung läßt sich in groben Zügen rekonstruieren. Als früheste Germani belegt der ältere Plinius3 einen Stamm in Spanien mit dem Beinamen, dessen Angehörige als Oretani bezeichnet werden. Diese Ore¯tes Ibe¯res nennt bereits Polybios4 im Zusammenhang mit Hannibal, so daß die spanischen ,Germanen‘ schon für das 3. Jahrhundert v. Chr. bezeugt sind. Die Forschung streitet darüber, ob es sich bei diesen Leuten um Keltiberer handelt, die zuf ällig auch Germani hießen, oder ob es nicht doch ,echte‘ Germanen waren, die im 6. Jahrhundert v. Chr. aus dem belgischen Raum mit den Kelten nach Spanien gezogen sind. Da es aber in dieser frühen Zeit noch keine Germanen in Belgien gegeben haben dürfte, ist diese These abwegig. Wahrscheinlicher ist, daß die spanischen Germani Kelten waren, daß aber die Namensgleichheit mit den germanischen Germanen keineswegs zuf ällig ist. Zeuge dafür ist Poseidonios, jener griechische Reisephilosoph, der um 70 v. Chr. Südgallien besucht hat. Er schreibt von einem nicht näher lokalisierten Stamm namens Germanoi, daß diese Leute mittags Fleisch, in Scheiben gebraten, verzehren, dazu Milch und ungemischten Wein trinken.5 Gemeint sind damit wohl jene Kelten an der oberen Rhône, die für die Hannibalzeit als semigermanae gentes, als „halbgermanische Völker“ bezeichnet werden.6 Keltenstämme gleichen Namens an verschiedenen Orten gibt es mehrfach, denn oft haben sie sich bei der Wanderung geteilt, so die Volcae, Tectosages, Lingones, Boii und die Veneti. Warum der etymologisch dunkle, sicher mit dem Kriegswesen zusammenhängende Name Germani von den keltischen auf die germanischen Germanen übergegangen ist, wissen wir nicht, wohl aber, wie und wann das geschah. Tacitus berichtet:7 Das Wort ‚Germane‘ sei eine neuere Bereicherung des Wortschatzes, da die ersten, die über den Rhein gekommen seien und die Gallier vertrieben hätten, die heutigen Tungrer um das spätere Tongern in Belgien, damals ‚Germanen‘ genannt worden wären. So habe sich deren Name, der zunächst nur einem einzelnen Stamm (natio), nicht dem ganzen rechtsrheinischen Volk (gens) gehörte, langsam verbreitet, indem alle anderen Stämme zuerst nach dem Sie3 4 5

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Plin. nat. 3,25. Pol. 3,33,9. Athen. 153E.

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6 7

Liv. 21,38. Tac. Germ. 2.

ger aus Furcht ‚Germanen‘ genannt wurden, bald aber sich auch selbst so bezeichneten. Dies letztere wissen wir aus römischen Grabinschriften germanischer Leibwächter der iulisch-claudischen Kaiser.8 Dem Bericht des Tacitus können wir entnehmen, daß die Verbreitung des Germanen-Namens ursprünglich als Fremdbezeichnung von den erschrockenen Kelten ausgegangen ist, von denen die Römer diese Bezeichnung übernommen haben. Die Tungrer oder Eburonen hatten nicht lange vor Caesar den Rhein überschritten und die Kelten aus Eifel und Ardennen verdrängt. Sie werden von Caesar Germani Cisrhenani benannt.9 Da Caesar den Swebenfürsten Ariovist rex Germanorum, d.h. einen „Germanenkönig“ nennt10 und von der Trauer der „Germanen“ um seinen Tod spricht,11 war der GermanenName damals bereits auf die Sweben übergegangen. Der gleiche Titel rex Germanorum begegnet uns unter Septimius Severus für den Markomannenkönig Aistomodius.12 Die ältere Selbstbezeichnung der Germanen insgesamt oder wenigstens der größten Stammesgruppe unter ihnen lautete Swebi, zu deutsch ‚Schwaben‘, in der Bedeutung ‚wir selbst‘ – also nicht sehr vielsagend, ähnlich dem späteren Namen der Alamannen, ‚alle Männer‘.13 Caesar war der erste Autor, der ein klares Bild von den Germanen hatte. Waren doch zuvor die Kimbern und Teutonen in Rom als Gallier betrachtet worden, obschon Poseidonios bezeugt, daß sie eine andere Sprache hatten.14 Noch Cicero hielt sie 56 v. Chr. für Kelten.15 Caesar verwandte den Germanen-Namen wie selbstverständlich und berichtet gleich zu Eingang seiner Kommentarien, die tapfersten Gallier seien die Belgier, weil sie am weitesten entfernt von der römischen Dekadenz wohnten und sich fortwährend mit den Germanen im Kampfe messen müßten. Weiter schreibt er zum Jahre 58, als es gegen Ariovist ging, daß seine Legionäre sich gefürchtet hätten, den Germanen entgegenzutreten, denn ihnen ging der Ruf von unwiderstehlichen Kriegern voraus. Caesar mußte seine ganze Beredsamkeit aufbieten, um seinen Legionären Mut zu machen.16 Im vierten Buch charakterisiert er die Sweben,17 im sechsten bringt er einen ethnographischen Doppelexkurs, in dem er Gallier und Germanen einander gegenüberstellt. Dabei hebt er die Unterschiede hervor. Anders als die Gallier besäßen die Germanen keine Druiden, hielten auch nicht viel von Opfern und verehrten nur die Sonne, den Mond und das Feuer. Daß Caesar hier irrt, wissen wir aus anderen literarischen und archäologischen Quellen, die uns Götternamen und möglicherweise auch Götterbilder überliefern. Caesar schreibt, die Männer seien überwiegend mit Jagd und Krieg befaßt und von Jugend an so abgehärtet, daß sie in ihren kalten Flüssen badeten. Sie waren – also anders als die Römer – keine ‚Warmduscher‘. Im Gegensatz zu diesen hielten die Germanen bis zum 20. Lebensjahr auf Keuschheit, dabei sei der Umgang der Geschlechter höchst unbefangen. Bei der Kleidung notiert Caesar das Pelzwerk. Viehhaltung und Fleischnahrung, so heißt es, überwiegen. Ackerbau werde vernachlässigt, das Land jährlich neu verteilt. Das erinnert an den römischen Mythos vom Goldenen Zeitalter Saturns, als es noch kein Privateigentum am Boden, keine Eigentumsgrenzen gab.18 Gemeineigentum am Ackerland bezeugt für die Germanen ebenfalls Tacitus,19 auch für die frühen Kelten in Spanien wird es überliefert.20 Im 19. Jahrhundert haben Proudhon und Friedrich Engels hier Belege für den Urkommunismus der klassenlosen Gesellschaft gesehen, die sie auf technisch höherer Stufe erneuern wollten. Engels 18 19 10 11 12 13 14

ILS 1717. Caes. Gall. 2,3f.; 6,2,3. Caes. Gall. 1,31,10. Caes. Gall. 5,29,3. ILS 856. Agathias 1,6,3. Plut. Marius 15; s. dazu auch K.-P. Johne im vorliegenden Band.

15 16 17 18 19 20

Cic. prov. 32. Caes. Gall. 1,39f. Caes. Gall. 4,1; 4,11ff. Verg. georg. 1,126ff.; Ov. met. 1,136. Tac. Germ. 26. Diod. 5,34,3.

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und Lassalle schwärmten ja ebenso von den alten Germanen wie Gobineau, Carlyle und Felix Dahn. Germanomanie finden wir bei Rassisten, Nationalisten und Sozialisten, wie in Deutschland, so in Frankreich und England. Wenn Caesar bemerkt, die Germanen begrenzten um des sozialen Friedens willen den Reichtum, so macht er wohl aus der Not eine Tugend in gesellschaftskritischer Absicht. Die den Germanen abgesprochene Habsucht beruht vermutlich auf Mangel an Gelegenheit zur Bereicherung. Gelobt wird die Gastfreundschaft der Germanen, die noch im nordischen Mittelalter hochgehalten wurde. In Island war es Gastrecht, daß jeder Fremde drei Tage lange beherbergt und beköstigt werden mußte, ähnlich wie in homerischen Zeiten bei den Griechen.21 Sodann kommt Caesar nochmals auf den Kriegsgeist und den Ödlandstreifen um das Stammesgebiet zu sprechen, den zu betreten kein Feind wagen dürfe. Raubzüge auch privater Gefolgschaftsführer außerhalb seien weder verboten noch ehrenrührig. Im Gegenteil. Anders, heißt es, lebten die Gallier – offenbar in der Provence –, die das süße Leben im römischen Frieden vorzögen und offen einräumten, den Germanen im Kampf nicht gewachsen zu sein. Den Abschluß des Germanen-Exkurses bildet eine Beschreibung des Hercynischen Eichenwaldes, der sich neun Tagereisen weit parallel zur Donau quer durch Germanien ausdehnte. Das Ende seiner Ausläufer, die sich über wenigstens sechzig Tagesmärsche erstreckten, habe noch niemand erreicht. Dann werden die Tiere erwähnt, zuerst das Einhorn, ein Mittelding zwischen Stier und Rentier; weiterhin der identifizierbare Auerochse, dessen Hörner als Jagdtrophäen gelten, am Rande mit Silber eingefaßt werden und als Trinkgef äß dienen, und schließlich der Elch, der mit einer schlechterdings genialen Jagdmethode gefangen wird. Der Elch, so lesen wir, besitzt keine Kniegelenke, kann daher, einmal umgefallen, nicht wieder aufstehen. Zum Schlafen lehnt er sich darum an einen Baum. Die listigen germanischen Jäger suchen diese Schlafbäume auf und sägen sie an. Wenn der Elch abends müde sich anlehnt, dann bricht der Baum. Der Elch f ällt um, und nun hat man ihn. Dieses köstliche Stück Jägerlatein, in vollem Ernst erzählt, hat offenbar ein germanischer Nimrod dem Caesar vorgeflunkert, wenn der Exkurs denn authentisch ist, was manche Philologen nicht grundlos bezweifeln. Der Inhalt aber wird damit nicht wertlos. Anders als Caesar ist Tacitus für sein Germanenbild keine Quelle aus erster Hand. Seine Germania, die mit Abstand ergiebigste Schrift zum Thema, ist vermutlich aus den 20 Büchern über die Germanenkriege komprimiert, die der ältere Plinius hinterlassen hat, die aber nicht überliefert sind.22 Plinius hatte als Offizier unter Claudius in Niedergermanien gedient und wußte, wovon er schrieb. Tacitus wollte mit seinem Werk offenbar die Propaganda Domitians zurechtrücken, der auf Tausenden von Germania capta-Münzen verkündet hatte, Germanien unterworfen zu haben. Davon konnte natürlich keine Rede sein. Das eigentliche Germanien, die Germania Magna, begann jenseits der Provinzgrenzen. In einem ungemein gedrängten, inhaltsreichen Stil beschreibt Tacitus in seinem ersten Teil Land und Leute generell und in seinem zweiten die wichtigsten Stämme im einzelnen. Das Bild, das er entwirft, ist durchaus von Sympathie getragen. Er zeichnet eine dörflich lebende, patriarchalisch strukturierte Kriegergesellschaft, die in vielen Einzelheiten an frührömische Zustände erinnert. Als Kritiker des zeitgenössischen Luxus mit seinen sozialen Nebenerscheinungen sieht er in den Germanen unverdorbene Naturkinder, gesund und lebenstüchtig und durch die Verführungen der Zivilisation keineswegs angekränkelt. Er beschreibt ihre Religion und ihre Verfassung, die Rechtsordnung und das Kriegswesen, die Wirtschaft und die Technik, die Siedlung und die Kleidung. 21

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Hom. Od. 4,26ff.

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Plin. epist. 3,5,4.

Tacitus lobt den Gemeingeist der Germanen, das Ehrgefühl, den Familiensinn und den hohen Respekt vor den Frauen. Inesse aliquid sanctum et providum putant – ihnen wohne etwas Heiliges, Vorausschauendes inne, so meinte man.23 Darum höre man auf sie. Tacitus nennt zwei Priesterinnen, Veleda und Aurinia, die sogar politisch einflußreich waren. Frauen hätten schon wankende Schlachtreihen zum Stehen gebracht und seien als Geiseln begehrter als Männer. Denn Frauen in Feindeshand setze man keinem Risiko aus, wenn Vertragsbruch erwogen wird. Die Zahl der Kinder künstlich zu begrenzen, wie das bei den Römern üblich war, sei, so Tacitus, bei den Germanen verpönt. Den Kinder- und Menschenreichtum der Germanen bezeugt zudem sein Zeitgenosse Flavius Josephus.24 Cassius Dio vermerkt ihn für die Markomannen,25 in der Spätantike wird er für die Franken, Alamannen und Burgunder überliefert. Jordanes26 nennt Skandinavien die vagina nationum, und Isidor von Sevilla27 sah im Namen Germania einen Hinweis auf die Fruchtbarkeit des Volkes, vermutlich etymologisch im Gedanken an germen, den sprießenden Keim. Die Aussage des Tacitus steht mithin nicht allein. Trotz all dieser löblichen Eigenschaften ist der Autor aber nicht blind für die Schwächen der Germanen: ihre Spielleidenschaft und ihre Trunksucht. Das Bier findet er scheußlich. Er nennt es einen Gerstensaft in quandam similitudinem vini corruptus – „in eine gewisse Ähnlichkeit mit dem Wein verschlimmbessert“.28 Noch Kaiser Julian hat in seinem ersten Epigramm das Bier verlästert. Unter den Stämmen hebt Tacitus die Chatten in Niederhessen hervor.29 Ihn beeindruckt ihre fast schon römische Disziplin in Krieg und Frieden, ihr hochgewachsener Körperbau und ihre rasche Auffassungsgabe. Er legt ihnen gar eine stoische Lebensregel bei: fortunam inter dubia, virtutem inter certa numerare – das Glück sei eine unsichere Sache, verläßlich aber sei die virtus, die Tugend, die sich in Haltung und Leistung kundtut. Die Cherusker freilich seien inzwischen, drei Generationen nach Arminius, durch den langen Frieden abgeschlafft.30 Gleichwohl empfindet Tacitus die Germanen als bedrohlich. Seit zweihundert Jahren würden die Germanen besiegt und doch nicht bezwungen31 – das geht gegen Domitian –, und daher begrüßt er es, wenn sie sich gegenseitig aufreiben. Angesichts eines mörderischen Kampfes zwischen den Brukterern und ihren Nachbarn entf ährt ihm ein Stoßgebet: Wenn sie schon uns nicht lieben, so möge doch der Haß auf ihresgleichen erhalten bleiben, denn wenn einst das Schicksal Rom in Bedrängnis bringt (urgentibus imperii fatis), kann uns Fortuna nichts Besseres gewähren als Zwietracht unter den Feinden.32 Tacitus ist der einzige Autor, der den Teutoburger Wald erwähnt, nicht bei der clades Variana, da seine Annalen erst im Jahre 14 einsetzen, wohl aber beim Besuch des Schlachtfeldes durch Germanicus.33 Die römische Niederlage des Varus provozierte in der Antike abwertende Aussagen über den germanischen ,Nationalcharakter‘. Velleius34 nennt die Germanen äußerst wild und verschlagen, zum Lügen geboren, haben sie doch Varus hinters Licht geführt! Arminius beging ein scelus, ein Verbrechen, und doch hat Velleius vor Arminius höchsten Respekt. Zur Ausführung seines Frevels bef ähigten ihn seine edle Herkunft, sein tapferer Arm, sein klarer Blick, seine für einen Barbaren ganz ungewöhnliche Intelligenz und das Feuer seines Geistes, das ihm aus den Augen sprühte. Hat Velleius dies erfunden oder von Gefangenen erfahren? 23 24 25 26 27 28

Tac. Germ. 8; s. auch D. B. Baltrusch im vorliegenden Band. Ios. bell. Iud. 2,16,4. Cass. Dio 73,2,1. Jordanes, Getica 25. Isidor von Sevilla, Etymologiarum libri viginti 14,4,4. Tac. Germ. 23.

29 30 31 32 33 34

Tac. Germ. 30f. Tac. Germ. 36. Tac. Germ. 37. Tac. Germ. 33. Tac. ann. 1,60. Vell. 2,117ff.

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Ähnlich positiv sah ihn Tacitus.35 In dem Gespräch, das er Arminius und seinen romtreuen Bruder über die Weser hinweg führen läßt, rühmt letzterer die Größe Roms und die Milde des Kaisers, während Arminius die heiligen Rechte des Vaterlandes, die altüberkommene Freiheit und die Götter Germaniens beschwört und sich auf die Meinung der Mutter beruft, die seine Haltung teile. Tacitus sympathisiert offenkundig mit dem Reichsfeind. Für ihn ist Arminius erstaunlicherweise kein Verräter, der seinen Eid auf den Kaiser gebrochen hat, sondern ein Freiheitsheld: liberator haud dubie Germaniae.36 Es ging also nicht um die Freiheit der Cherusker und ihrer Verbündeten, sondern ganz generell um die Freiheit der Germanen insgesamt, zu deren Anwalt Arminius sich berufen fühlte. Im Freiheitssinn der Germanen stecke überhaupt mehr Energie als in der ganzen Königsmacht der Perser: Regno Arsacis acrior est Germanorum libertas.37 Dieses acrior könnte man in preußischer Kasinosprache auch übersetzen mit ,schneidiger‘. Den Kriegerstolz der Germanen illustriert eine Episode aus dem Jahre 58 n. Chr. Damals erschienen zwei Friesenfürsten als Gesandte ihres Stammes bei Kaiser Nero. Bei dieser Gelegenheit zeigte man ihnen die Sehenswürdigkeiten von Rom und führte sie zuletzt ins Pompeius-Theater. Hier nahmen sie in ihrer barbarischen Kluft unaufgefordert auf den Ehrensitzen der Senatoren Platz, was zunächst im Auditorium Murren auslöste. Als sie erklärten, kein Volk der Erde übertreffe die Germanen an Waffentüchtigkeit und an Treue zu Rom, da verwandelte sich das Buh-Rufen in Beifallklatschen.38 Ihre Kriegstüchtigkeit nahm man den Nordleuten ab, aber an Kunstsinn mangelte es ihnen. Einem Gesandten der Teutonen zeigte man die Gemälde, die auf dem Forum ausgestellt waren. Darunter befand sich ein meisterhaftes Bild von einem alten Hirten. Als man den Teutonen fragte, wie er das Werk schätze, erklärte er, solch einen alten Kerl nähme er nicht einmal geschenkt.39 Das Bild der Germanen gewann im Laufe der hohen Kaiserzeit keine neuen Züge. Wohl aber änderte sich die politisch-militärische Bedeutung der Nordvölker für das Imperium, und zwar im konstruktiven wie im destruktiven Sinne. Die positive Seite lag in der wachsenden Integration germanischer Söldner ins Heer und germanischer Siedler ins Reich, die durch die Constitutio Antoniniana von 212 rechtlich zu Bürgern wurden. Der negative Aspekt bestand in der steigenden militärischen Gefahr der äußeren Germanen für das Imperium seit den verheerenden Einbrüchen der Alamannen und Franken, Goten und Heruler im 3. Jahrhundert. Deleto paene imperio Romano heißt es bei Eutrop 40 zu den Katastrophen des Jahres 260 n. Chr. Erst mit der Spätantike wendete sich das Blatt noch einmal, und auch das Germanenbild gewann neue Züge. Sie sind freilich so gegensätzlich wie die Funktionen der reichsverderbenden Reichsretter im 4. und 5. Jahrhundert. Unsere beste Quelle, das Werk des Ammianus Marcellinus, geht oft auf die Germanen ein. In der Forschung galt er lange als führender Kopf der germanenfeindlichen Richtung. Als Schlüsselstellen galten die Passagen, wo Ammian die vom Hunger getriebenen Alamannen mit wilden Bestien vergleicht, die auf Raub ausgehen, wenn man sie zu füttern vergaß. Derartige Vergleiche gibt es einige bei ihm, doch verwendet er dieselbe Raubtiermetaphorik ebenso für aufständische Legionäre oder Kämpfe unter Christen, so daß eher das Verhalten als die Gruppe charakterisiert wird. Ebensowenig ist Antigermanismus im Spiel, wenn Ammian für römischen Vertragsbruch gegenüber den Germanen41 oder brutale Maßnahmen gegen sie42 Verständnis zeigt, denn das Reich stand in der Defensive. 35 36 37 38

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Tac. ann. 2,9. Tac. ann. 2,88. Tac. Germ. 37,3. Tac. ann. 13,54.

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39 40 41 42

Plin. nat. 35,25. Eutr. 9,9. Amm. 21,4,5. Amm. 31,16,8.

Im Hinblick auf die Germanen im Reichsdienst urteilt Ammian durchaus abgewogen. Einzelne germanische Heerführer werden belobigt, andere sachlich beurteilt, nur ausnahmsweise wird der eine oder andere getadelt, aber schwerlich unverdient. Die Tapferkeit germanischer Einheiten auf Seiten Roms wird unumwunden anerkannt. Ihre Liebe zu dem von Ammian hoch verehrten Kaiser Julian erkennt er daran, daß sie sich von ihm gegen ihre Gewohnheit zu Schanzarbeit einteilen ließen. Sonst waren Erdarbeiten und ähnliches mit dem germanischen Kriegerstolz unvereinbar. Das gemahnt an die Maxime im preußischen Heer: Die Garde gräbt nicht. Mehrere germanische Offiziere hat Julian zu Heermeistern erhoben, einen, Nevitta, sogar zum ordentlichen Konsul, der höchsten Würde im Reich. Daher ist schwer nachzuvollziehen, mit welchem Recht er seinen Onkel Constantin dafür tadelt, Germanen zu Konsuln befördert zu haben. Diesen Widerspruch moniert Ammian,43 zumal Nevitta den Kandidaten Constantins an Glanz, Erfahrung und Ruhm nicht gleichgekommen sei. Nevitta wird als inconsummatus – ungebildet, als subagrestis – bäurisch, und vor allem als crudelis – grausam bezeichnet. Unter Julians Nachfolger Valentinian gab es in den römisch-germanischen Beziehungen ein romantisches Zwischenspiel in der Liebesaff äre zwischen Ausonius, dem Rhetor und Prinzenerzieher, und dem Schwabenmädchen, das den Kosenamen Bissula trug. Ausonius nahm im Gefolge des Kaisers Valentinian 368 oder später an einem der Feldzüge gegen die Alamannen teil und erhielt dieses Mädchen als Beute. Es bescherte dem sechzigjährigen Witwer noch einen Liebesfrühling. Ausonius widmete seiner Ziehtochter, seiner alumna, wie er sie nannte, ein Büchlein mit Gedichten,44 das er seinem Freund Axius Paulus, einem Rhetor in Bordeaux, schickte. Er habe die Zweifel des Dichters, ob er seine Verse veröffentlichen solle, gelöst wie einst Alexander den Gordischen Knoten, nämlich unerwartet und kurzentschlossen. Dem Leser empfiehlt Ausonius, sich erst einmal ein Glas Wein einzuschenken, um in die richtige Stimmung zu kommen, und wenn er darüber einschlafe, dann erscheine ihm Bissula als die Traumfrau des Dichters. Wir erfahren sodann, daß Bissula jenseits des eiskalten Rheins nahe den Donauquellen aufgewachsen ist; von der Hand des Römers gefangen, habe sie das Herz des Römers bezwungen, regiere sie nun das Haus ihres Herrn. Niemand mache ihr einen Vorwurf wegen ihrer Herkunft oder wegen ihres Schicksals, so daß sie nun die Vorzüge des Lebens im Reich genießen kann. Mit ihren alamannischen blonden Haaren und blauen Augen bleibe sie eine echte Germanin. Blonde oder rötliche Haare und blaue, mitunter trotzige Augen werden den Germanen auch von Tacitus45 und Juvenal46 bescheinigt. Doch indem Bissula Latein lernt, ist sie als Doppelwesen am Rhein wie in Latium daheim. Ausonius nennt sie seine Wonne, seinen Schatz, seine Liebe, die als Barbarin die schönsten Frauen Roms beschämt. Klinge ihr Name für andere auch etwas bäurisch, sei er dem Herrn jedoch entzückend. Ausonius mahnt einen Maler, mit Farben könne er ihre Schönheit nicht wiedergeben – dazu müsse er aus allen Blumen den Honig verwenden. Die Bissula-Idylle war indes kein Symptom für eine germanenfreundliche Grundstimmung der Zeit überhaupt. Symmachus47 beklagt die Unverschämtheit von 29 gefangenen Sachsen, die für die Gladiatorenkämpfe des Jahres 393 vorgesehen waren, sich aber in der Nacht vor dem Auftritt in der Arena im Kerker das Leben genommen hatten, anstatt dem Volk von Rom die Freude des tödlichen Spektakels zu gönnen. Symmachus mußte daher auf afrikanische Bären zurückgreifen. Die Ammian zu Unrecht unterstellte Germanenfeindlichkeit findet sich wenig später tatsächlich in der Politik wie in der Literatur. Mehrere hochrangige Reichsgermanen wurden Opfer der nationalrömi43 44

Amm. 21,10,8. Aus. Bissula 9.

45 46 47

Tac. Germ. 4. Iuv. 13,164f. Symm. epist. 2,46.

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schen Reaktion gegenüber den Fremden. An ihrer Spitze ist Stilicho zu nennen, Schwiegersohn und Schwiegervater von Kaisern, dreizehn Jahre Regent des Westens. Als Motiv wirkte Fremdenfeindlichkeit gegenüber den nordischen Barbaren.48 Erstaunlich sind die antigermanischen, man möchte sagen: rassistischen Auslassungen von Kirchenvätern und anderen christlichen Autoren gegen die Germanen, unangesehen der Lehre von der Chancengleichheit aller Menschen im Jüngsten Gericht. Schon Lactanz49 vermißte bei den Barbaren Humanität, Ambrosius50 betrachtet sie als Wilde, Prudentius erachtet sie als nicht kulturf ähig, die heidnischen Götzen seien für sie gerade noch gut genug, zwischen Barbaren und Römern klaffe ein Abgrund wie zwischen Vierfüßlern und Menschen.51 Für manche Autoren reicht auch die Christianisierung nicht hin, um aus germanischen Barbaren Kulturmenschen zu machen, das zeigen einschlägige Äußerungen von Orosius,52 Victor Vitensis53 und Fulgentius.54 Synesios nannte die Germanen schlicht „Wölfe“.55 Was den Germanen fehle, so Sidonius,56 sei nicht die Bibel, sondern Vergil. In der Tat war die Welt der Bücher nicht die der Germanen. Als eine Gruppe von Ostgermanen im Jahre 269 Athen erobert hatte, machten sie sich einen Spaß daraus, die Buchrollen aus den Bibliotheken auf den Markt zu häufen, um sie zu verbrennen. Da mahnte ein weiser Alter ihren Anführer, das bleiben zu lassen. Denn mit den Büchern vertrödelten die Römer ihre Zeit und vernachlässigten die Kriegsübung, und genau das könne den Germanen nur recht sein. Der Alte hatte Erfolg, denn anderenfalls wäre die Episode von Petrus Patricius57 nicht überliefert. Zur dominant abschätzigen Beurteilung der Germanen durch die Kirchenautoren gibt es jedoch eine erklärte Gegenposition bei dem gallischen Presbyter Salvianus von Massilia. In seiner Schrift De gubernatione Dei von 440 erklärt er die Not des Reiches aus den Lastern der Römer und stellt ihnen in mahnender Absicht die unverdorbenen, tugendhaften Germanen gegenüber. Deren Bild ist gewiß ebenso ins Positive überzeichnet wie das zuvor skizzierte ins Negative, rückt aber die Bilanz zurecht. Salvian verweist auf den Zulauf, den die ins Reich eingedrungenen Germanen erleben. Zahlreiche Provinzalen schlössen sich ihnen an, um der rücksichtslosen Steuereintreibung zu entgehen.58 Bei den Barbaren f änden sie römische Humanität, während sie bei den Römern barbarische Inhumanität erdulden müßten.59 Salvian kehrt den Vorwurf mangelnder humanitas einfach um und entschuldigt die arianische Ketzerei der Germanen damit, daß es ja die Römer waren, die ihnen die falsche Lehre beigebracht haben. Und gibt es nicht auch im Reich jede Menge Häresien?60 Dem Zwist unter den Römern stellt er die germanische Eintracht gegenüber,61 vielleicht ein wenig optimistisch. Salvian ist nicht blind für die Fehler der Germanen. Die Sachsen sind wild, die Franken treulos, die Gepiden unmenschlich, die Alamannen trunksüchtig und die Alanen räuberisch. Aber alle diese üblen Eigenschaften findet er bei den Römern ebenso, ja in noch höherem Grade.62 Denn deren Luxusdasein fördert die Laster, die dem einfachen Leben der Germanen abgehen. Insbesondere wettert er gemäß der christlichen Sexualphobie gegen die lasziven Schaustellungen auf dem Theater, die zu Hurerei, Ehe-

48 49 50 51

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Oros. 7,38,1. Lact. inst. 1,21. Ambr. epist. 19; 24,8; 30,8. Prud. Libri contra Symmachum 2,816f.: Sed tantum distant Romana et barbara quantum / Quadrupes abiuncta est bipedi, vel muta loquenti. Oros. 7,35,19. Victor Vitensis, Historia persecutionis Africanae Provinciae 3,62.

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Fulg. Mythologiae 1,17. Synes. De regno 19. Sidon. epist. 1,8; 4,1. FHG IV 196. Salv. gub. 5,17f. u. 28ff. Salv. gub. 5,21. Salv. gub. 5,14. Salv. gub. 5,15. Salv. gub. 4,67f.

bruch und sonstigen Ausschweifungen verführten.63 Derartiges kennen die Germanen nicht, sie werden im Vergleich zu den Römern als keusch und züchtig beschrieben. Im Reich rühmen sich Schürzenjäger ihrer Erfolge, aber bei den Goten, Sachsen und Vandalen werden sie verachtet.64 All dies klingt ganz ähnlich wie bei Tacitus. Hier kann mithin kein christliches Askese-Ideal das Germanenbild geschönt haben. Wenn Tacitus das Ende des Imperiums durch die Germanen befürchtet hat, so wird eben dies durch Salvian festgestellt und mit deren Sittenreinheit begründet. Wir sollen uns nicht wundern, schreibt er, wenn wir von ihnen im Felde besiegt werden, da sie uns an Ehrbarkeit überlegen sind. Das Bild, das die antiken Autoren von den Germanen entworfen haben, ist im Mittelalter weithin in Vergessenheit geraten. Im Jahre 1009 ist niemand auf den Gedanken gekommen, eine Tausendjahrfeier für Arminius zu begehen. Dennoch waren die Germanen bei einzelnen Geistlichen präsent. Kronzeuge ist der unbekannte Autor des Annoliedes, der um 1080 den bedeutenden Kölner Erzbischof und Tutor Heinrichs IV. in einem mittelhochdeutschen Gedicht verherrlichte, das er mit einem weltgeschichtlichen Rückblick einleitete. Als Caesar, so lesen wir, nach Unterwerfung der Franken nach Rom zurückkehren wollte, da wollte man von ihm nichts wissen. Da begab er sich wieder in die „deutschen Lande“, wo er so viele treffliche Helden kennengelernt hatte. Mit ihnen vertrieb er seine Gegner aus Rom und besiegte Pompeius. Dann belehrte und beschenkte er seine „deutschen Mannen“, die fortan in Rom lieb und wert waren. Die Germanen werden hier selbstverständlich als ,die alten Deutschen‘ behandelt, wie es bis zu Theodor Mommsen und Friedrich Engels üblich war. Die breitenwirksame Rezeption des römischen Germanenbildes begann im späten 15. Jahrhundert mit dem Humanismus65. Die Werke des Tacitus hatten in Fulda und Corvey überwintert, 1470 erschien die Germania in Venedig, drei Jahre danach in Nürnberg. Der große Humanist und spätere Papst Pius II., Enea Silvio Piccolomini, verfaßte seinerseits eine Germania und erinnerte nach dem Fall von Konstantinopel auf dem Frankfurter Fürstentag die Deutschen an ihren von Tacitus gerühmten Kriegsgeist, um sie zum Türkenkrieg zu bewegen. Die deutschen Humanisten waren stolz auf das wohlwollende Germanenbild des Tacitus. Jakob Wimpfeling († 1528) aus Sélestat, damals Schlettstadt, verfaßte eine Germania, die gegen den französischen Anspruch auf das Rheinufer den germanisch-deutschen Charakter des Elsaß dartun sollte. Konrad Celtes versuchte sich an einer Theodoriceis, einem deutschen Nationalepos über Theoderich den Großen in Anlehnung an Vergils Aeneis. Luther erklärte in seinen Tischreden,66 er habe den Arminius, den er Hermann nannte, „von Herzen lieb“, und sah in ihm einen Vorkämpfer gegen Roms Ansprüche auf Deutschland. Ulrich von Hutten schrieb ein Streitgespräch zwischen Alexander, Hannibal, Caesar und Arminius, in dem letzterer bewies, daß er der größte aller Feldherren sei, da er ja die Römer bezwungen habe, die ihrerseits die Griechen überwunden hatten. Im Jahre 1690 erschien in zwei Folianten der monströse Roman des Kaiserlichen Rats Daniel Kaspar von Lohenstein aus Breslau mit über dreitausend zweispaltigen Seiten unter dem Titel Großmüthiger Feldherr und tapfferer Beschirmer der deutschen Freyheit Arminius oder Herrmann nebst seiner durchlauchtigen Thußnelda. Der Roman wimmelt von Exkursen und Fußnoten, kombiniert extensive Gelehrsamkeit mit blühender Phantasie, er verschlüsselt Zeitgeschichte und schwelgt in deutschpatriotischem Germanentum. Lohensteins Huldigung an die „alten Deutschen“ fand Anklang und Nachfolge. Dreißig Oratorien und Opern waren Arminius gewidmet, Händels Arminio hatte am 12. Januar 1737 im Londoner Covent Garden Opera House Premiere.

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Salv. gub. 6,17ff. Salv. gub. 6,35; 7,24ff.; 64; 84ff.; 91; 97ff.

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S. zum Folgenden auch den Beitrag von K. Kösters im vorliegenden Band. WA TR 3,329; 5,415.

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1772 wurde unter der alten Eiche von Weende der Göttinger Hainbund gestiftet, dessen geistiger Vater der hochgefeierte Hamburger Dichter Klopstock war. Er hat das verklärte Germanenbild der Römer aufgegriffen und mit seinen pathetischen Bardengesängen den Germanenkult der Romantik begründet. Ihm huldigte Kleist mit seiner gegen Napoleon gerichteten Hermannsschlacht. Heine nannte 1835 die Deutschen der Freiheitskriege „Enkel des biderben Arminius und der blonden Thusnelda“. Arminius hatte sie – bei Kleist „Tussi“ genannt –, in ‚Raubehe‘ gewonnen, denn sein Schwiegervater Segestes stand auf Seiten Roms. Er bekam schließlich seine Tochter und deren Söhnchen in seine Gewalt und lieferte sie den Römern aus. Beim Triumphzug des Germanicus 17 n. Chr. wurden sie mitgeführt.67 Der Stolz auf das Wort des Tacitus vom „Befreier Germaniens“ spricht aus dem Hermannsdenkmal bei Detmold. Nachdem Fürst Leopold von Lippe-Detmold den Bauplatz auf der Grotenburg zur Verfügung gestellt hatte – die Funde von Kalkriese waren noch nicht gemacht –, bildeten sich Fördervereine in Detmold, München und Hannover. Die Schuljugend spendete, König Georg V. von Hannover und der Preußenkönig Wilhelm I. standen nicht abseits. Der Baumeister Ernst von Bandel selbst brachte sein Vermögen ein. Die letzte Rate zahlte nach vollendeter Einheit der Reichstag 1871, so daß 1875, nach 37-jähriger Bauzeit, das Monument im Beisein des Kaisers eingeweiht werden konnte. Der Baedeker von 1905 bemerkt, daß Armins sieben Meter langes Schwert ein Geschenk von Friedrich Krupp gewesen sei, daß der Held aus Kupfer und Eisen 76565 Kilo wiege und daß die Bronze der Relieftafel für Kaiser Wilhelm I., den „neuen Arminius“, von einer erbeuteten französischen Kanone stamme68. Die Germanomanie des 19. Jahrhunderts, wie sie etwa aus Richard Wagners Ring des Nibelungen spricht, war gleichwohl kein rein deutsches Phänomen. Das zeigen Autoren wie Gobineau in Frankreich und Carlyle in England. Auch alle Parteien waren germanophil: die Demokraten mit Jakob Grimm, die Liberalen mit Theodor Mommsen, die Nationalisten mit Felix Dahn und last not least die germanenbegeisterten Sozialisten mit Ferdinand Lassalle und Friedrich Engels. Der Germanenkult vor 1945 führte danach zu einer Tabuisierung des Themas in der Öffentlichkeit, doch hat sich das nun mit dem Zweitausendjahresjubiläum geändert. Selbst der Spiegel titulierte die „Geburt der Deutschen“ im Teutoburger Wald. Angesichts der neuerlichen Aktualität des Germanenthemas erhob sich die Frage nach der Kontinuität im deutschen Nationalcharakter. Insbesondere ging es darum, welche der von den antiken Autoren überlieferten Eigenschaften der Germanen überdauert hätten. Die beiden dominanten Charakterzüge der Germanen waren, wie wir sahen, ihr Freiheitswille und ihr Kampfgeist. Beide Eigenschaften haben sich in der germanisch geprägten Welt über die Antike hinaus erhalten. Der Freiheitsgedanke zeigt sich am deutlichsten in England, wo er in der Form des Liberalismus von der Magna Charta Libertatum aus dem Jahre 1215 bis heute lebendig ist. Aber auch in Frankreich haben Montesquieu und Guizot die Freiheitsidee aus dem fränkischen Erbe abgeleitet. Das Kriegertum hingegen durchsäuerte die deutsche Seele, und zwar bis 1945 im eigentlichen Sinne; danach, aber auch schon zuvor, außerdem in Eigenschaften, die das Zivilleben prägen, aber irgendwie aus dem Militärischen abgeleitet sind. Dazu zählt der Aktionsdrang: Der Deutsche ‚krempelt die Ärmel hoch‘; weiterhin der Durchhaltewille: Der Deutsche ‚gibt nicht klein bei‘; und schließlich die Gefolgschaftstreue: Der Deutsche respektiert seine Obrigkeit.

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Strab. 7,291f.; s. auch zur künstlerischen Verarbeitung der Szene den Beitrag von W. Beyrodt im vorliegenden Band.

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Zum Denkmal s. den Beitrag von H. Barmeyer im vorliegenden Band.

Das lateinische Wort socius stammt von sequor – folgen; socius ist der Gefolgsmann. Der soziale Gedanke hat zumal eine germanische Wurzel. Soziales Bewußtsein bezeichnet die Solidarität innerhalb der Gruppe. Nicht zuf ällig waren die Sozialisten Marx und Engels Deutsche. Sie haben das soziale Prinzip auf die Spitze getrieben, das in dieser oder jener Form in Deutschland von allen Parteien, allen Konfessionen vertreten wurde und vertreten wird. Seit sechzig Jahren kommt glücklicherweise auch der Freiheitsgedanke wieder zu Ehren. Seitdem haben die soziale und die liberale Idee gleiches Gewicht, doch reicht ihr Ursprung über zweitausend Jahre zurück, quod erat demonstrandum.

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Dagmar Beate Baltrusch Und was sagt Thusnelda? Zu Macht und Einfluß germanischer Frauen

In den neueren Publikationen zur Varusschlacht gibt es kaum einen historischen Aspekt, der nicht genauer untersucht worden wäre: Römer und römische Stützpunkte, Germanen und ihre Siedlungen, Gräber, Waffen, Schlachtfelder, Arminius und Varus, das Nachleben der beiden und vergleichbares. Was aber hören wir über die germanischen Frauen, was über Thusnelda, die Frau des Arminius? Nichts – warum? Thusnelda sagte nichts, so überliefert es Tacitus. Als ihr römerfreundlicher Vater Segestes nach der Varusschlacht auf seine Bitten hin von den Römern unter Germanicus aus den Händen seiner Stammesgenossen befreit wurde, übergab er Thusnelda „unter Zwang“ – necessitate – seinen römischen Befreiern.1 Trotzdem aber erhob die Tochter weder flehend ihre Stimme, noch war sie von Tränen übermannt, legte nur ihre Hände zusammen und betrachtete ihren schwangeren Leib. Später wurde sie nach Rom fortgeschickt und gebar dort einen Sohn.2 Obwohl beide nicht feindselig behandelt worden sein sollen,3 wurde Thusnelda aber später, wie der Geograph Strabon berichtet, zusammen mit dem inzwischen dreijährigen Thumelicus als Gefangene bei einem glänzenden Triumphzug des Germanicus den Römern vorgeführt. Der Vater Segestes schaute diesen Triumph als Zuschauer an – er war rechtzeitig zu den Römern übergelaufen.4 Das sind, in Kürze, die Nachrichten über die Frau des Arminius. Doch obwohl Tacitus, der die Akteure dieser Zeit am genauesten beschreibt, Thusnelda nicht mit einer Rede überliefert – es ist ja durchaus denkbar, daß er genaue Informationen hatte und wußte, daß sie geschwiegen hatte –, macht er dennoch deutlich, daß sie eine eigene und vom Vater abweichende Meinung gehabt haben muß. Ganz offensichtlich hatte Thusnelda bereits gegen den Willen ihres Vaters gehandelt, als sie sich mit Arminius zusammentat, denn sie war bereits einem anderen versprochen gewesen,5 und anders als ihr Vater war sie gegen die Römer: mariti magis quam parentis animo, wie ihr Vater, laut Tacitus, seinen Befreiern gegenüber eingesteht.6 Diese Zipfelchen an Information, daß Thusnelda aktiv gegen den Willen ihres Vaters gehandelt hatte und auch mehr die Gesinnung ihres Ehemannes zeigte, soll der Ausgangspunkt unserer Frage nach dem politischen Einfluß, der Macht und Autorität germanischer Frauen im ersten Jahrhundert nach Christus sein. Was wissen wir eigentlich von den Frauen dieser Zeit? Von den Germanen selbst haben wir keine schriftlichen Quellen, sie bewahrten ihre geschichtliche Überlieferung in mündlich tradierten Heldenliedern auf,7 und hätten wir nicht die Werke des Tacitus, würden wir uns wundern, wie sich kleinere und größere Stämme überhaupt je bilden konnten – denn eines haben die frühen Sueben wie die späteren Franken in nahezu allen römischen und griechischen Quellen gemein: Sie bestehen im Grunde nur aus Männern. In den Berichten des 2. bis 4. Jahrhunderts tauchen germanische Frauen als Individuen gar nicht mehr auf, als Gattung nur noch selten. In einem Brief des Kaisers Julian von 361 lesen wir: „… ich, Kaiser, Julian, vertrieb die Chamaven (am Nieder1 2 3 4 5 6

Tac. ann. 1,58,4. Tac. ann. 1,57,4 und 1,58,6. Tac. ann. 2,10,1. Strab. 7,1,4. Tac. ann. 1,55,3: alii pacta, „die Braut eines anderen“. Tac. ann. 1,57,4.

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Tac. Germ. 2,2; von Arminius sagt Tacitus ann. 2,88,2: canitur … adhuc barbaras apud gentes; die m.E. immer noch beste Einführung in das Thema geschichtliche Überlieferung in der Heldendichtung allgemein ist Lord (1960); überblicksartig zu den germanischen Heldensagen Wamers (1987).

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rhein) und nahm viele Rinder, sowie Weibsbilder mit ihren Kindern als Beute“.8 Diese Reihung finden wir häufig in den Quellen, Frauen als Beute, zusammen mit dem Vieh. Eine von den abertausenden der Beutestücke kennen wir mit Namen – Bissula, blondhaarig und blauäugig, als Kriegsbeute (bellica praeda) dem Dichter Ausonius nach dem Alamannenfeldzug von 368/9 übergeben – sie hat ihn zu allerhand Dichterwerk angeregt.9 Auch in der historischen Literatur tauchen die germanischen Frauen – als Individuen wie als Gattung – selten einmal auf,10 und in dem drei Bände umfassenden Ausstellungswerk zur Varusschlacht11 kann man zu ihnen ebenfalls nichts finden – wir lesen vielmehr: „Der eigentliche Akteur im historischen Prozess und damit sein Protagonist, war der germanische Krieger.“12 Mit anderen Worten: Männer machen Geschichte. Und mit Jane Austens Romanfigur Catherine Moreland aus Northangar Abbey vom Anfang des 19. Jahrhunderts müssen wir immer noch seufzen: wars in every page; the men all so good for nothing, and hardly any women at all. In den letzten 30 Jahren ungef ähr hat sich dies ein wenig geändert – wenn wir jetzt die Ausstellungsbände einmal beiseite lassen –, meist bleiben die Historiker aber bei der Nacherzählung der Quellen stehen, oder aber, falls die Barbarenfrauen dieser Zeit einmal nicht nur in der typischen Reihung ‚Vieh, Weiber, Kinder‘ auftauchen, bezweifeln sie den Wahrheitsgehalt der Nachrichten des Tacitus. Er hätte die Barbarin an und für sich überhöht, um den Römerinnen seiner Zeit einen Spiegel vorzuhalten; dann müßten wir allerdings annehmen, er hätte die Stellung der Frauen in den germanischen Stämmen positiv gewertet – sollten die Römerinnen wirklich werden wie die Germaninnen? In jedem Fall seien seine Nachrichten Fiktion, ethnographisches Geschwätz, mit einem Wort: Germanenlatein.13 Das Unvermögen, vielleicht sogar der Widerwille, sich vorzustellen, daß Frauen in ‚barbarischen‘ Gesellschaften nicht unterdrückt waren (oder sind), etwa gar irgendeinen Einfluß, politische Macht oder Autorität gehabt haben sollen (oder haben), geht bis in die Übersetzungen der lateinischen Texte hinein, in denen bis in die jüngste Zeit mulier oder femina mit dem in unserem Sprachempfinden abwertenden ‚Weib‘, nicht mit ‚Frau‘ wiedergegeben wurde.14 Von Veleda, auf die ich noch ausführlich zu sprechen 18

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einem Brief an den Rat und das Volk der Athener (Iul. epist. 278D–280D). Hier wirklich verächtlich das sächliche   (!); anders als in der dt. Übersetzung von Goetz, Patzold u. Welwei (2006/7) I, 265; dazu unten Anm. 14. Aus. Bissula 3: … Germana maneret / ut facies, oculos caerula, flava comas. Durch nahezu völlige Abwesenheit von Frauen glänzt auch Herrmann (1988) hier 532. Imperium (2009); Konflikt (2009); Mythos (2009). Burmeister (2009) 26. Beispiele sind unter vielen anderen Bruder (1974), der das germanische Frauenbild besonders des Tacitus, aber auch anderer antiker Autoren, verzeichnet sieht, die gesellschaftlich bedeutende Stellung der Frau zur Zeit des Tacitus als Fiktion betrachtet und allein aus „ethnographischer Tradition, politischer oder moralischer Tendenz und dichterischer Intuition zu erklären“ (184) sucht; Bruder, für den erst die Wikingerzeit und das Christentum den Frauen eine wichtigere gesellschaftliche Position verschafften, vergleicht jedoch lediglich die antiken Quellenaussagen untereinander; sofern er für eine Aussage keine Bestätigung durch eine andere Quelle findet, f ällt sie als Beweis fort (123–125); diese

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Methode – an und für sich bereits zweifelhaft – ist insofern noch weniger zu begrüßen, als sie die Zeugnisse zur Geschichte der Frauen völlig isoliert betrachtet und nicht im Zusammenhang mit den sonstigen Zeugnissen zur Struktur des Stammes, zur Ausübung von Macht bzw. Autorität innerhalb und außerhalb desselben; auch der Herausgeber der Germania, Much (1967), interpretiert ähnlich einseitig, dazu unten S. 78/9 mit Anm. 61. In anderen Zusammenhängen aber wird die historisch zuverlässige Arbeitsweise des Tacitus besonders gelobt, dazu z.B. Giardina (2008) 34. Als Beispiele für diese durchgängig geübte Praxis mögen hier einige Beispiele aus Übersetzungen mittelalterlicher Quellen genügen: Reinhold Rau (in: Quellen zur karolingischen Reichsgeschichte [FrStGA] Bd. 2, Darmstadt 1980, 342/3, 198/9 und 136/7): Annales Xantenses s.a. 837 (feminae) bzw. Annales Bertiniani s.a. 869 (mulieres), jeweils übersetzt als „Weiber“, allerdings vgl. ibid. s.a. 864 (sanctimoniales ceteraeque feminae: „Nonnen und andere Frauen“[!]); oder Werner Trillmichs Übersetzung von Rimberts Vita Anskari (in: Quellen des 9. und 11. Jahrhunderts zur Geschichte der Hamburgischen Kirche und des Reiches [FrStGA], Darmstadt 1978, 115): mos est feminarum: „nach Weiberart“; und oben Anm. 8.

kommen werde, berichtet Tacitus late imperitabat, also „sie herrschte weithin“;15 zugestanden wird ihr in den Übersetzungen von Joseph Borst und neuerdings von Sabine Tausend aber nur, daß sie „weithin über die Geister (!) geherrscht“,16 von Goetz, Patzold und Welwei immerhin, daß sie „Einfluß ausgeübt“ habe.17 Bevor ich nun den Beweis antrete, daß Frauen dieser Zeit nicht nur nicht unterdrückt waren, sondern vielmehr Einfluß, Macht und Autorität besaßen und zwar innerhalb ihrer Sippen, in ihren Stämmen sowie über diese hinaus, möchte ich noch zwei Vorbemerkungen machen: 1.) Die Germanen glaubten von sich selbst, einer Abstammungsgemeinschaft anzugehören, zumindest läßt Tacitus sie so argumentieren.18 Moderne Sprachforscher, Archäologen und Historiker finden daran viel Unglaubwürdiges und stellen fest, daß es die Germanen (und damit auch Germanien) in diesem Sinn nicht gegeben haben kann,19 weshalb man sie korrekterweise als ‚Barbaren germanischer Zunge‘, oder zumindest ‚Germanen‘ und das von ihnen bewohnte Land als Barbaricum bezeichnen müßte.20 Andererseits gibt es eine große Begeisterung über die Möglichkeiten der Ahnenforschung im Genlabor, darüber, daß man mittels Genanalyse feststellen lassen kann, welcher Herkunft man selbst ist, ja gar welchem ‚Urvolk‘ – Germanen, Kelten oder anderen – man angehört.21 Für die hier vorliegende Fragestellung ist beides nicht von Bedeutung, und ich vermute, daß die ‚Barbaren germanischer Zunge‘ nicht im Geringsten von intellektuellen Selbstzweifeln über ihre Abstammung geplagt waren. Die Stellung der Frauen und ihre politische Rolle hängt vom Aufbau der Gesellschaft und der Organisation ihres Zusammenlebens ab sowie von den Wertvorstellungen und dem Glauben der Menschen, davon, was sie über sich selbst dachten sowie von ihren Lebensbedingungen und -umständen. Von die15 16

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Tac. hist. 4,61,2; zu Veleda siehe unten S. 85f. und passim. Borst (1984) 496. Trotz anderen Anspruchs mit gleicher Übersetzung S. Tausend (2009) 163 („Wir erfahren demnach, dass eine Jungfrau … weithin über die Geister herrschte“). Goetz, Patzold und Welwei (2006) II, 221. Dazu vor allem der Bericht über den Bataveraufstand, hist. 4,14,4; 17,1–4; 28,1; 65,1 et passim, in dem Tacitus den Civilis mehrmals auf die consanguinitas der Bataver mit den übrigen Germanen eingehen läßt, sowie vor allem in Civilis’ Abgrenzung von den Galliern, hist. 4,61,1. Dazu im Überblick Pohl (2004), der – wie viele andere – meint, daß der Germanenname für die Völker jenseits des Rheins und oberhalb der Donau als Fremdbezeichnung in der Spätantike aus der Mode kam und erst durch die Humanisten wieder „ins Zentrum der Debatten“ kam (1); als mittelalterliche Quelle gilt für ihn nur Otto von Freising im 12. Jahrhundert (!), bei dem er ein Mal fündig wird (5); bei Autoren des frühen Mittelalters war die Benennung dieses Gebietes als Germania, des Königs über dieses Gebiet als rex Germaniae und des Volkes als populus Germanicus jedoch keineswegs außer Gebrauch; nur einige Beispiele hierfür: Beda Venerabilis, Historia Ecclesiastica gentis Anglorum III,13 bzw V,9: Quarum in Germania plurimas noverat esse nationes, a quibus Angli et Saxones, qui nunc Brittaniam incolunt, genus et originem duxisse noscuntur; Einhard, Vita Karoli Magni c. 15 (MGH SS rer. Germ. in usum scholarum Bd. 25, 18.23–26) lokalisiert Germanien zwischen Rhein und Weichsel, Donau und Meer; Annales regni Francorum s.a. 794 (MGH SS rer. Germ. in usum scholarum Bd. 6, 94) wo von Bischöfen aus Gallien, Germanien und Italien

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gesprochen wird; Notker, Gesta Karoli I.17 (MGH SS rer. Sanggallensium 738.13–14), wo Notker von einem Bistum in prima Germaniae sede spricht; rex Germaniae ist beinahe durchgehend Ludwig, der Sohn Ludwig des Frommen, z.B. in den Annales Bertiniani s.a. 864 (MGH SS rer. Germ. in usum scholarum Bd. 1, 465.31 und 466.18); Der Begriff populus Germanicus bzw. populi Germanici in den Annales Fuldenses s.a. 873, 877 und 880 (MGH SS rer. Germ. in usum scholarum Bd. 7, 79, 90 und 96) sowie in den Annales Bertiniani s.a. 839 (MGH SS rer. Germ. in usum scholarum Bd. 1, 433.2); dies nur eine kleine Auswahl einschlägiger Quellen zur unhaltbaren Behauptung von Pohl. Von Carnap-Bornheim (2008) 77 bezeichnet das von Germanen besiedelte Gebiet, wie jetzt in vielen Publikationen üblich, als „Westliches Barbaricum … Kernraum germanischer Gentes“; außerdem sehr ausführlich dazu und letztendlich unergiebig Dick (2008) insb. 1–25; ganz anders jedoch K. Tausend (2009). Es gibt unzählige Internetseiten zum Thema Gentest; dazu eine Meldung von Welt online Wissen vom 25. November 2007: 50 Prozent der deutschen Frauen, aber nur 6 Prozent der Männer hätten „germanische Vorfahren“ (ohne Angabe der Anzahl untersuchter Proben!); wirklich außerordentlich eine Meldung vom Juli 2008, daß man mittels DNA-Analyse die Verwandtschaft zweier Männer mit den Überresten bronzezeitlicher Menschen aus der am südwestlichen Harzrand gelegenen Lichtensteinhöhle feststellen konnte; als Einstieg in diesen Zweig der Diskussion siehe Sykes (2001), der nach den Ergebnissen seiner Forschungen die Meinung vertritt, daß nahezu alle Europäer von lediglich sieben Urmüttern abstammen.

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sen Tatbeständen – soweit sie rekonstruierbar sind – muß diese Untersuchung ausgehen. Unser Verständnis von der Stellung der Frauen wird durch die Benennung der Menschen – ob nun mit oder ohne Gänsefüßchen – weder erweitert noch eingeschränkt. Die in den Quellen als Germanen bezeichneten Menschen mit dem pejorativen Begriff Barbaren und das von ihnen bewohnte Land als Barbaricum22 zu bezeichnen, wird zu unseren Kenntnissen und Einsichten zweifelsohne auch nicht das Geringste beitragen. 2.) Im Wesentlichen betrachte ich den Zeitraum des 1. Jahrhunderts nach Christus. Ein gelegentlicher vergleichender Blick vor diese Zeit bzw. in das Frühmittelalter hinein möge gestattet sein. Die antiken Autoren berichteten nur wenig und Schlaglichtartiges über die Frauen. Caesar23 und Ammianus Marcellinus24 setzten sich mit den Germanen im wesentlichen nur als Militärs auseinander, beleuchteten deshalb innerstämmische Angelegenheiten so gut wie gar nicht. Tacitus hingegen erzählt einiges, vor allem in der Germania, den Historien und den Annalen. Für ihn war allerdings die Herrschaft einer Frau so gänzlich verächtlich, daß er über den im äußersten Nordosten lebenden Stamm der Suithonen, der unter der Herrschaft einer Frau gestanden haben soll, ausrief: „so tief sind sie nicht nur unter die Freiheit sondern selbst unter die Knechtschaft hinabgesunken“.25 Tacitus’ Abneigung gegen weibliche Herrschaft bezog sich selbstverständlich nicht nur auf Germaninnen, sondern schloß alle Frauen der Welt, auch die Römerinnen, mit ein.26 Daher war für ihn jede Form weiblicher Beteiligung am Gemeinwesen oder am politischen Leben nicht nur nicht erwähnenswert – er sah sie gar nicht; es sei denn, die Frauen machten den Römern Schwierigkeiten durch ihre Herrschaftsausübung, dann wurden sie erwähnt – wie beispielsweise die Königinnen Cartimandua und Boudicca in Britannien, unter deren Befehl die keltischen Stämme der Briganten und Icener gegen die Römer zogen,27 oder die germanische Seherin Veleda, auch sie ein Ärgernis durch ihre Herrschaftsansprüche und -ausübung. In keinem Fall war die Traumfrau (nicht nur) römischer Geschichtsschreiber diejenige, die selber Befehlsgewalt hatte oder nach ihr griff, sondern diejenige, wie Ammianus forderte, die mit weiblicher Sanftmut – cum lenitate feminea – den Mann auf den richtigen politischen Weg brachte – falls er überhaupt je davon abgewichen war.28 Um den Anteil der germanischen Frauen am politischen Leben zu bestimmen, will ich zunächst die sozialen Beziehungen innerhalb der Stämme betrachten, durch die grundsätzlich der Zusammenhalt ihrer konstituierenden Elemente erst möglich ist, sowie Macht und Autorität, die sich aus diesen Beziehungen ergaben. Anders als bei den Römern waren familiae et propinquitates,29 also Familien und

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So durchgängig abwertend bei Zosimus; als Beispiel zum Jahr 380 (4,30,3): „Die Barbaren marschierten ohne jede Disziplin und benahmen sich auf den Märkten nach ihrem Belieben“ (Übers. Goetz, Patzold u. Welwei, [2006] II, 153); der Begriff Barbaricum ist ebenfalls eine Fremdbezeichnung, darüber hinaus pejorativ gebraucht und spätantik, so z.B. von Amm. 17,12,21 oder 27,5,6 – warum sollte man ihn dann Caesars Bezeichnung Germania vorziehen und für das erste Jahrhundert benutzen? Caesar hatte nur wenig Einsicht in germanische Verhältnisse im Vergleich zu den gallischen; lediglich in seinem Bericht über den Krieg gegen Ariovist (Gall. 1,32–54) bzw. in seinem Germanenexkurs (Gall. 6,21–28) gibt er einige Anhaltspunkte. Innergermanische Verhältnisse werden von Ammianus Marcellinus so gut wie gar nicht berührt.

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Tac. Germ. 45: in tantum non modo a libertate sed etiam a servitute degenerant. Vgl. als Beispiel ann. 14,11,1, wo Tacitus es als dedecus für den Senat und das Volk von Rom bezeichnet, wenn Neros Mutter Agrippina es hätte erreichen können, sich von den Prätorianerkohorten den Treueid leisten zu lassen. Tac. hist. 3,45 und ann. 14,31,1 und 35,1; in Agr. 16,1 sagt er, daß sie im Oberbefehl „nicht nach Geschlecht unterscheiden“; s. auch unten. Amm. 14,1,1–8, wo er der Frau des Caesar Gallus vorwirft, sie hätte ihren Gatten „doch eher mit weiblicher Sanftmut auf den Weg der Wahrheit und Menschlichkeit zurückführen müssen“, anstatt ihm Gehilfin auf dem Weg in den Abgrund zu sein. Tac. Germ. 7.

Verwandtschaft die konstitutiven Elemente der gentes und bildeten die Grundstruktur des Stammes; sie waren ohne Zweifel der bestimmende Faktor des täglichen Lebens. Die propinquitates zählten die Verwandtschaft durch Vater und Mutter, hatten also keine clan-Struktur,30 sondern stellen eine Sippe im Definitionssinn dar. Die Schlachtenreihen waren nach Stämmen und innerhalb dieser nach Familien und Sippen geordnet. Die Gesamtheit der Sippe (universa domus) trat als Empf ängerin der Kompensation für Vergehen wie z.B. einen Totschlag hervor, ebenso mußten die Freundschaften und die Feindschaften des Vaters wie der übrigen Verwandten von jedem Sippenmitglied übernommen werden.31 Konflikte zwischen den Sippen zu vermeiden, Recht und Ordnung untereinander aufrecht zu erhalten, Übeltäter zu bestrafen, das war das Hauptanliegen des Stammes in seiner Gesamtheit. Dazu waren die germanischen gentes aber nicht notwendigerweise auf Institutionen, wie zum Beispiel einen König, angewiesen, sondern die Sippen selbst stellten die Regeln auf und setzten sie auch durch, nach innen wie nach außen. Jede Sippe stellte also als mächtige Grundstruktur des Stammes bereits einen politischen Faktor dar.

Wie war die Stellung der Frauen in diesen Sippen? Die Ausdehnung der Sippen und die Kompetenzen und Aufgaben einzelner Mitglieder festzustellen ist schwierig für das erste Jahrhundert, denn nur, was von der Norm des täglichen Lebens abwich, also Störungen des Sippefriedens, Intrigen oder Mord, waren berichtenswert. Durch jede neue Heiratsbeziehung wurde die Sippe erweitert. Das machte sie natürlich zu einer unübersichtlichen und umständlich zu nutzenden Institution. Ihre Mitglieder konnten über eine weite Gegend verstreut sein, weshalb sich Sippen – anders als clans – nicht dazu eigneten, territorial voneinander getrennte, geschlossene politische Einheiten zu bilden, mit gleichen Rechten und Pflichten gegenüber den gleichen Personen. An den Familien und Sippen des Arminius sowie des Civilis, der den Bataveraufstand 69 n. Chr. anführte, den zweiten großen Kriegszug gegen die Römer von seiten der Germanen im 1. Jahrhundert, kann man einiges über die Struktur der Sippe sowie die Beteiligung von Frauen auf dieser Ebene der politischen Organisation erfahren. Männliche Verwandte des Arminius werden nur in ihrer Funktion als Gegner genannt: allen voran sein Bruder Flavus, der im römischen Heer diente und sich durch Treue gegen die Römer auszeichnete,32 sowie sein Onkel Inguiomerus, der Bruder seines Vaters; dieser hatte zunächst mit ihm gegen die Römer gekämpft, 17 n. Chr. aber dann zusammen mit Marbod, dem König der Sueben, die Cherusker unter Arminius, also seinen eigenen Stamm und Neffen, angegriffen.33 Ebenfalls – und zwar von Anfang an – gegen Arminius war sein Schwiegervater Segestes, welcher für das Bündnis mit Rom und gegen den Angriff auf die Römer 9 n. Chr. plädiert hatte.34 Das Ende seines Lebens fand Arminius schließlich dolo propinquorum, also durch die List seiner Verwandten,35 ohne daß uns genauer berichtet würde, wer diese propinqui waren. Vielleicht waren es principes der Chatten. Einer von ihnen, Adgendestrius, hatte dem römischen Senat angeboten, Arminius durch Gift zu töten,36 was bedeutet, daß er 30

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Clans sind dadurch bestimmt, daß sie ihre Abkunft durch eine einzelne Person definieren, sei sie männlich oder weiblich. Tac. Germ. 21: Suscipere tam inimicitias seu patris seu propinqui quam amicitias necesse est. Tac. ann. 2,9,1. Tac. ann. 1,68 bzw. 2,45,1.

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Tac. ann. 1,55,3: „er war der verhaßte Schwiegersohn eines feindlich gesinnten Schwiegervaters (gener invisus inimici soceri), und was bei Einträchtigen ein Band der Zuneigung ist, wurde zum Stachel des Zornes bei erbitterten Gegnern“; bzw. 55,2. Tac. ann. 2,88,2. Tac. ann. 2,88,2.

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selbst oder aber über seine Verschwägerten Zugang zu Arminius Tafelrunde gehabt haben muß – wie hätte das Gift sonst verabreicht werden können? Die chattischen principes gehörten zu Arminius’ Verwandtschaft, da sowohl sein Bruder Flavus wie auch Sesithakus, der Vetter seiner Frau Thusnelda, chattische Ehefrauen hatten.37 Soweit ein Blick auf den durch Abkunft oder Heiratsbeziehungen zusammengesetzten Kreis der neidigen männlichen Sippengenossen. Unterstützt wurde Arminius bei seinem Aufstand von seiner Frau Thusnelda sowie von seiner Mutter, die, von Tacitus als socia des Arminius bezeichnet, versuchte, den Sohn Flavus auf die Seite der kämpfenden Cherusker zu ziehen und ihn ermahnt haben soll, „er wolle doch nicht ein Überläufer und Verräter an seinen Verwandten und Verschwägerten, und überhaupt an seinem Volk sein“.38 Neben Müttern werden auch Schwestern als Unterstützer in schweren Zeiten genannt. So soll Civilis während des Bataveraufstandes neben der Mutter auch seine Schwestern im Rücken des Heeres aufgestellt haben.39 Was bedeutete nun dieser Sippenverband, der für jedes einzelne Mitglied Schutz und Hilfe bieten, seine Freund- und Feindschaften übernehmen und Kompensationen empfangen oder bezahlen sollte, für seine weiblichen Mitglieder? Frauen blieben, auch wenn sie heirateten, weiterhin Teil ihrer Geburtssippe so wie Thusnelda oder die Schwestern des Civilis; Brüder hatten zu Söhnen ihrer Schwestern ein besonderes Nahverhältnis, wie aus zahllosen Beispielen belegt werden kann.40 Im frühen Mittelalter kehrten Frauen bei Scheidung oder Tod des Partners häufig in ihre Geburtssippe zurück, was man vielleicht auch für das erste Jahrhundert bereits annehmen darf, denn wie hätte Thusnelda von ihrem Vater Segestes den Römern übergeben werden können, wenn sie nicht in seiner unmittelbaren Umgebung gewesen wäre? Vielleicht also wechselten Frauen auch gar nicht den Wohnort, wenn die Geburtsfamilie mit dem Schwiegersohn nicht einverstanden war, wie in diesem Fall zu vermuten ist. Dadurch, daß die Frauen gewissermaßen zwischen ihrer Geburts- und ihrer Heiratssippe standen, konnten sie also in sehr schwierige Situationen kommen, andererseits machte genau dies aber auch ihre Stärke aus. Denn erstens stand hinter der Ehefrau immer die gesamte Geburtssippe zu Schutz und Hilfe auch gegen die Sippe des Mannes. Zweitens konnten und mußten die Frauen manchmal eine sehr aktive Rolle spielen, wenn durch die Heirat feindliche Sippen oder sogar verfeindete Stämme versöhnt werden sollten. Ganz bestimmt liegt eine solche Versöhnungsabsicht den bereits erwähnten Verbindungen zweier Töchter von Chatten-principes mit Söhnen von Cherusker-principes in der Zeit des Arminius zugrunde. Warum die Stämme der Cherusker und Chatten sich feindlich gegenüber standen, wissen wir nicht, aber daß sie ewig Streithändel miteinander hatten, berichtet Tacitus: aeternum discordant.41 In der angelsächsischen Poesie werden Frauen gar als „Friedensweberin“ und als „Friedensband für die Völker“ bezeichnet,42 eine Rolle, die ihnen über einige Jahrhunderte hin zugesprochen wurde.43 Diese Aufgabe – Friedenssicherung und Friedenswiederherstellung innerhalb und zwischen den Sippen und Stämmen – 37 38 39 40

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Tac. ann. 11,16,1 und Strab. 7,1,4. Tac. ann. 2,10,1 im Jahre 16 n. Chr.: ne propinquorum et adfinium, denique gentis suae desertor et proditor … esse mallet. Tac. hist. 4,18,1. Zum Beispiel wurden die beiden Schwesternsöhne des Civilis, Claudius Victor und Verax, von diesem mit der Heerführung und Leitung von Kämpfen gegen die Römer betraut: hist. 4,33,1; 5,20,1; aus späterer Zeit die berühmte Geschichte der Sunilda, die auf Befehl des Gotenkönigs Ermanarich getötet und dann von ihren beiden Brüdern blutig gerächt wurde (Jordanes, Getica MGH AA 5,1,24.129). Tac. ann. 12,28,2.

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Beowulf 1942 und 2017: freothuwebbe bzw. frithusibb folca; leider war der Versuch, zumindest längerfristig gesehen, oft erfolglos, wie der Dichter resignierend bekennt (2028–2029): „doch selten einmal, nur kurze Frist, nach des Königs Fall, ruht der Mordspeer, ist die Braut auch schön“. Siehe Bemmann (2008) 66 zu archäologischen Beweisen für die „Verheiratung von Frauen aus vornehmer Familie in die Fremde“, die er als „Kontaktpflege zwischen den Herrschaftszentren“ bezeichnet; allerdings verschleiert der Begriff ‚Kontaktpflege‘ m.E. die Bedeutung der Frauen und weist ihnen eher die passive Rolle eines wertvollen Gegenstandes zu; solche tauschte man schließlich untereinander zur ‚Kontaktpflege‘.

aber weist auf das große Ansehen und den Einfluß der Frauen innerhalb dieser hin. Ihre Bedeutung wurde auch dadurch gestärkt, daß, wie Tacitus bezeugt, die Germanen der Einehe huldigten; nur ganz selten und nur aus politischen Gründen hätte ein Großer einmal zwei Frauen gehabt.44 Das einzige konkret überlieferte Beispiel für eine Ehe mit zwei Frauen ist die des Ariovist – wie auch Caesar anmerkt, aus politischen Gründen.45 Den Frauen wurde die Sorge für Hof, Kult und Äcker überlassen: delegata domus et penatium et agrorum cura feminis.46 Dies könnte man natürlich so interpretieren, daß die Männer nichts taten außer zu trinken, Würfel zu spielen und, wenn ein Römer auftauchte, zu raufen, während die Frauen mit krummen Rücken das Land bestellten; ipsi hebent – „sie selbst (die Männer) faulenzen“, sagt Tacitus ja auch wörtlich.47 Ich möchte den Akzent etwas verschieben: Die Männer mögen gefaulenzt haben oder nicht, die Stellung und der Erfolg des ganzen Hauses hing aber in jedem Fall von der wirtschaftlichen Leitung der Frauen ab, was ihre Bedeutung nur noch mehr unterstreicht.48 Cura domus et penatium, als Hendiadyoin verstanden, wird als ‚Sorge für Haus und Hof‘ übersetzt. Die cura penatium könnte aber durchaus auch ein Hinweis auf die sakrale Stellung der Frauen sein, auf die wiederholt in den Quellen erwähnten Losentscheidungen und Orakelbefragungen durch die matres familiae, wie sie Caesar nennt; durch diese griffen sie in das häusliche und darüber hinaus das politische Geschehen insgesamt ein, worauf ich noch zu sprechen kommen werde. Die wichtige und anerkannte Stellung der Frauen in den Familien und Sippen finden wir auch in den Verträgen dieser Zeit bestätigt. In dieser Zeit war es üblich, zur Absicherung von Verträgen Geiseln zu stellen, von den Germanen wurden meist adlige Mädchen gefordert, sowie auch die Söhne von Schwestern. So befanden sich beispielsweise Frau und Schwester des Civilis sowie die Tochter des Classicus als Unterpfand der Bündnistreue bei den Ubiern, die dann von diesen in einem intrigenreichen politischen Spiel den Römern zur Auslieferung angeboten wurden.49 Die Römer hatten den Wert der Frauen für die Germanen früh erkannt; bereits Augustus, sagt Sueton, „habe versucht, einigen die Frauen als eine neue Art von Geiseln abzufordern, weil er die Erfahrung gemacht hatte, daß ihnen ihre männlichen Geiseln gleichgültig waren“.50 Germanicus raubte auf seinem Feldzug 16 n. Chr. Ehefrau und Tochter des Arpus, eines princeps der Chatten,51 und die Römer nahmen Thusnelda gern aus den Händen ihres Vaters entgegen, zusammen mit vielen feminae nobiles.52 Daß es den Germanen als ignominia, als Schande also, ausgelegt wurde, wenn ihre Frauen in römischer Knechtschaft schmachteten, und daß man deshalb die Stämme durch weibliche Geiseln sich stärker verpflichten konnte, lesen wir bei Tacitus an vielen Stellen.53 Der Austausch weiblicher Geiseln ist eine Besonderheit des germanischen Vertragsrechtes und weist wie der bilaterale Aufbau der Sippen und die Eheschließungen zwischen verfeindeten Gruppen auf die bedeutende und einflußreiche Stellung der Frauen in ihren Familien und Sippen hin. 44 45 46 47 48

Tac. Germ. 18. Caes. Gall. 1,53,4. Tac. Germ. 15. Tac. Germ. 15. Dazu Kasprzycka u. Stasielowicz (2008) mit Abbildungen; die Funde des Gräberfeldes, einer gotischen Nekropole im Südwesten der Elbinger Höhe im heutigen Polen, stammen aus über 500 bis heute erforschten Gräbern, die von ca. 70 nach Chr. bis in die Mitte des 4. Jahrhunderts reichen; es finden sich zahlreiche Bestattungen von Frauen, die, im Gegensatz zu denen der Männer, besonders reich ausgestattet waren – vielleicht

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ein Hinweis auf den wirtschaftlichen Erfolg von Frauen; die Autoren vermuten, daß die zugehörigen Siedlungen an einer Handelsstraße, der sogenannten Bernsteinstraße, lagen. Zu den Funden auch unten S. 81. Tac. hist. 4,49,1. Suet. Aug. 21; siehe auch Allen (2006), der aber zu dem hier untersuchten Thema nichts beiträgt. Tac. ann. 2,7,2. Tac. ann. 1,57,4. Tac. ann. 2,46,1: Marbod über die Gefangenschaft von Thusnelda und Thumelicus, die eine Schande für Arminius seien, sowie Germ. 8 und hist. 5,17,2.

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Wie war die politische Struktur der Stämme? Die einzelnen Sippen stellten die konstitutiven Elemente eines Stammes dar; in Übereinstimmung mit allgemein akzeptierten Regeln hielten sie die innere, soziale Ordnung aufrecht; was wissen wir über solche Regelungen? Welches politische Instrumentarium hatten solche Gruppen außerdem, um ihre Existenz anderen gleichartigen Verbänden gegenüber sicherzustellen und welchen Anteil hatten Frauen daran? Selbstverständlich gibt es eine große Bandbreite von gesellschaftlicher Organisation bei den germanischen gentes, das muß nicht eigens betont werden; und natürlich vereinheitlichte auch Tacitus das, was er wußte, um seinen Lesern bei allen Unterschiedlichkeiten der Germanen sowohl einheitliche Merkmale als auch Besonderheiten zeigen zu können. Es wird uns berichtet, daß Entscheidungen aller Art bei den Germanen more suo, also „gewohnheitsmäßig“, auf Volksversammlungen, concilia, getroffen wurden. Sie fanden an festgelegten Tagen statt, ob immer in heiligen Hainen, wird nicht deutlich. Ausdrücklich wird dies unter anderem von der Verschwörung des Arminius und der Versammlung des Civilis berichtet, wie auch von den religiösen Feiern und concilia der Semnonen;54 bei anderen Stämmen scheinen die Haine ausschließlich Priestern zugänglich gewesen zu sein, wie der der Nerthus, oder auch die Haine, in denen man Schimmel zur Vorhersage hielt.55 Die Teilnehmer der Versammlungen, die bei dringenden Angelegenheiten über Boten zusammengerufen wurden,56 standen unter der Ordnungsaufsicht von Priestern.57 Ausgeschlossen von der Teilnahme waren lediglich Verräter, Überläufer, Feiglinge, Kriegsscheue und Unzüchtige,58 vermutlich ebenso die servi. Von diesen abgesehen entschieden omnes über die wichtigsten Angelegenheiten des Stammes. Wer aber waren omnes und gehörten zu ihnen auch die Frauen, denn es ist nie davon die Rede, daß lediglich Männer zu den concilia gekommen wären. Diese Frage werde ich noch an anderer Stelle aufgreifen. Die Versammlung als organisierte Öffentlichkeit des Stammes war der Ort für Politisches und Sakrales zugleich, hier wurde der Stammesbund befestigt. Junge Männer wurden hier durch die Übergabe von Schild und Speer (scutum frameaque) offiziell in den Stamm aufgenommen; während man vorher lediglich Glieder der Familie in ihnen sah, sagt Tacitus, sah man sie danach als Glieder des Gemeinwesens: ante hoc domus pars videntur, mox rei publicae.59 Wurden auch Frauen Glieder des Gemeinwesens oder blieben sie lediglich Glieder ihrer Familien und Sippen? Nun wurden den Frauen zwar nicht in der Volksversammlung die Waffen übergeben – Tacitus’ Worte sind ohne Zweifel nur auf die jungen Männer bezogen –, aber auch sie erhielten scutum cum framea gladioque bei der Eheschließung von ihrem Bräutigam.60 Wenn wir bereit sind, der Symbolik der Waffen jedesmal das gleiche Gewicht beizumessen, steht außer Zweifel, daß die Frauen, zwar später als die jungen Männer, aber ebenfalls wie diese zu Gliedern der res publica wurden.61 Tacitus unterstützt diese Interpretation. Er sagt

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Tac. Germ. 39. Tac. Germ. 40. Caes. Gall. 4,19,2. Tac. Germ. 11 Tac. Germ. 12: proditores, transfugae, ignavi, inbelles et corpore infames. Tac. Germ. 13. Tac. Germ. 18; zusätzlich zu den Waffen erhielt die Frau Rinder und ein gezäumtes Pferd als Mitgift (dos) von ihrem Bräutigam.

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Anders aber Much (1967) 287, der lediglich diskutiert, ob die Waffen immer die gleichen geblieben sind, die von der Mutter des Bräutigams auf die Schwiegertochter übergegangen sind; zur Symbolik der Waffen enthält er sich jeder Äußerung; er bemerkt nur, daß Geschenke dieser Art für Frauen keinen Wert haben (285), bzw. wenig passen (286); lediglich die Tatsache, daß auch die Frau dem Mann eine Waffe schenkte (atque in vicem ipsa armorum aliquid viro affert), glaubt er dahingehend interpretieren zu müssen, daß der Mann damit Herr über Le-

nämlich, daß Frauen mit dieser Waffenübergabe zur Gef ährtin des Mannes in Krieg und Frieden geworden seien (laborum periculorumque socia), was letztlich nichts anderes ausdrückt als eine gleichberechtigte Partnerschaft im Privaten wie im Öffentlichen.62 Zu den Aufgaben der Volksversammlungen gehörte es außerdem, principes zu wählen, die zur Rechtsprechung durch Gaue und Dörfer zogen;63 ihnen wurden 100 comites aus dem Volk (ex plebe) beigegeben, als Rat und zu größerem Ansehen. Die principes mußten außerdem die Beziehungen zu den Nachbarstämmen pflegen, zogen vielleicht auch die Abgaben von Vieh und Feldertrag ein, die zum Bestreiten des Notwendigsten dienten. Ferner wurden in der Volksversammlung über Krieg und Frieden beraten und duces zum Zweck der Kriegsführung bestimmt.64 Selbst wenn man einschränken muß, daß nicht alle Einzelheiten der politischen Organisation in allen germanischen gentes genau so zu finden waren und sich im Detail sicherlich viele Abweichungen finden mögen, tritt in den einzelnen Stämmen dennoch deutlich eine Führungselite hervor. Allerdings wird von den römischen Autoren das Bild einer schwachen Führung entworfen, der sehr eigenwillige, undisziplinierte Genossen gegenüberstanden.65 Die Führungselite war durch Wahl und Zustimmung sowie durch Abgaben anerkannt, war aber machtlos, wenn das Volk sie nicht unterstützte. Als Beispiel kann hier der Cherusker Segestes dienen: Er glaubte zwar, daß das Volk (plebs) nicht ohne seine principes von sich aus die Römer angreifen werde; er als princeps wurde aber, obwohl er den Krieg gegen die Römer unter allen Umständen hatte verhindern wollen, durch die Einmütigkeit seines Stammes in diesen hineingezogen.66 Umgekehrt kam der Aufstand des Civilis zum Ende, weil der Stamm sich weigerte, weiter Krieg gegen die Römer zu führen.67 Tutor, der gallische Verbündete des Civilis im Bataveraufstand, soll, laut Tacitus, die Germanen als unsichere Partner im Krieg empfunden haben, da „sie sich nichts befehlen, sich nicht einfach kommandieren ließen, sondern in allem nach reiner Willkür handelten“.68 Sogar in schwierigen Situationen hätten sich die Germanen nicht um ihre duces gekümmert.69 Am deutlichsten wird das allgemein verbreitete prekäre Verhältnis zwischen plebs und proceres jedoch an der Königsherrschaft. Die Beschreibung der Institution bleibt nebelhaft. Die Germanen nahmen ihre Könige, sofern sich ein Stamm oder Stammesbündnis überhaupt einen König an die Spitze stellte, aus dem Adel;70 diese hatten sakrale sowie öffentliche und rechtliche Aufgaben.71 Ihre Macht war allerdings beschränkt wie die der duces: „selbst die Könige haben keine unbeschränkte oder freie Herrschergewalt“, sagt Tacitus (nec regibus infinita aut libera potestas).72 Potestas, vis et potentia war keine Eigenschaft germanischer

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ben und Tod seiner Frau wurde; dann müßte aber auch die Ehefrau mit den von ihrem Mann geschenkten Waffen Herrin über sein Leben geworden sein, um so mehr als Frauen, die im Rücken des eigenen Heeres aufgestellt waren, Männer, die dem Kampf den Rücken gekehrt hatten und ihr Heil in der Flucht suchen wollten, erdolcht haben sollen. Tac. Germ. 18: ne se mulier extra virtutum cogitationes extraque bellorum casus putet, ipsis incipientis matrimonii auspiciis admonetur venire se laborum periculorumque sociam idem in pace, idem in proelio passuram ausuramque; nach Much (1967) 286 sind dies allerdings „rhetorische Ergüsse, die mit der germanischen Vorstellungswelt nichts gemein haben und sachlich deshalb schon wertlos sind, weil sie einem Mißverständnis entspringen“ (welchem Mißverständnis, wird nicht erläutert); es ist

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interessant festzustellen, daß alle taciteischen Aussagen zu Frauen, welche nicht in das vorgefertigte Bild der Historiker passen, in das Reich der Phantasterei und Rhetorik verwiesen werden; vgl. auch unten Anm. 121. Tac. Germ. 12. Tac. Germ. 11. Tac. ann. 1,50,1 u. 4. Tac. ann. 1,55,2–3: consensu gentis in bellum tractus. Tac. hist. 5,25,2. Tac. hist. 4,56,2: non iuberi, non regi, sed cuncta ex libidine agere. Tac. ann. 2,14,3. Tac. Germ. 7: ex nobilitate sumunt. Tac. Germ. 10–12. Tac. Germ. 7.

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Könige – für Tacitus schwer zu verstehen,73 vor allem in Fällen, in denen die Germanen selbst die Römer um Einsetzung von Königen gebeten hatten, wie zum Beispiel die Cherusker um den Italicus, den Neffen des Arminius.74 Aber auch die Könige, die sich aus eigener Machtfülle erhoben hatten wie Marbod, oder Männer, die eine Königsherrschaft errichten wollten, wie man es Arminius oder Civilis nachsagte, hatten keine Unterstützung in ihren Stämmen. Was also war Königsherrschaft bei den Germanen, worin bestand sie und was war ausgeschlossen? Die Römer versuchten überall, nicht nur bei den germanischen Stämmen, Könige einzusetzen oder zu unterstützen, „nach dem alten und früh schon geübten Brauch des römischen Volkes, als Werkzeuge zur Knechtung auch Könige zu benutzen“.75 Sie nahmen an, daß diese Könige auctoritas besaßen, die sich in vis et potentia äußern würde. D.h. sie glaubten, die Könige hätten die Macht, ihre Stammesgenossen tun zu lassen, was sie, die Könige (als Verlängerung des römischen Armes) wollten, denn ihr Recht beruht ja auch auf der Macht, wie Pomponius Mela glaubt.76 Die von den Römern eingesetzten Könige aber wurden allesamt gehaßt, man warf ihnen superbia vor, sie wurden vertrieben oder ermordet. Die Römer schoben diesen Mißerfolg ihrer Königspolitik der Freiheitsliebe der Germanen, deren Disziplinlosigkeit und Wankelmut zu. Die Germanen erwarteten aber offenkundig etwas anderes von Königen als die Römer: auctoritas gewannen diese nämlich nicht durch die Anwendung von Macht und Gewalt gegenüber den Stammesgenossen – denn hier standen sich ja gleichberechtigte Sippen gegenüber –, sondern durch die Anwendung von Macht und Gewalt gegen äußere Gegner und einer nach innen gerichteten Friedenshaltung. Der König war primus inter pares, und seine erhöhte Stellung war seinen sakralen Aufgaben, seiner wirtschaftlichen Stellung, seiner Einnahme von Ehrenämtern, seinem klugen Rat, seiner Redegabe, vielleicht auch seinem Kriegsglück zuzuschreiben. Solange Italicus mit seinen Stammesgenossen um die Wette trank und ein gutes Leben führte, waren sie mit ihm zufrieden. Sobald Könige und solche, die nach Herrschaft strebten, aber versuchten, über den ihnen traditionell zustehenden Umfang ihrer Rechte und Pflichten hinauszugehen, setzten sie ihr Leben aufs Spiel – sie provozierten Rivalitäten innerhalb der eigenen Familie und Sippe sowie letztlich im gesamten Stammesverband. Von dem Markomannen Marbod, dem König der Sueben, verhaßt bei den eigenen Leuten, fielen ganze gentes, wie die Semnonen und Langobarden, ab.77 Arminius wurde nur nachgesagt, er strebe nach dem Königsthron (regnum adfectans), was seinen Verwandten, also doch wohl

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Tac. Germ. 42: hier auf die stammesfremden Könige der Markomannen bezogen. Macht (vis, potentia, potestas) beinhaltet die Fähigkeit, etwas zu tun, bzw. auf eine Sache oder Person zu reagieren; Macht ist demnach die Fähigkeit, den eigenen Willen, bezogen auf sich selbst, auf andere Personen oder Dinge auszuführen; politische Macht besteht also vor allem darin, andere Personen tun zu lassen, was man selbst will; genau daran aber scheint es den germanischen Königen gemangelt zu haben; im Gegensatz zu den Begriffen potestas, vis und potentia impliziert auctoritas die Anerkennung von Macht und diese Anerkennung existiert nur in den Köpfen der Menschen; auctoritas existiert also nur in einem von allen anerkannten System von Werten, welche die Akzeptanz der politischen und sozialen Institutionen einschließt, durch welche auctoritas ausgeübt wird. Tac. ann. 11,16,1. Tac. Agr. 14,1; vgl. auch die natio Frisiorum, die 47 n. Chr. von den Römern agri sowie einen Ältestenrat, Behörden

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und Gesetze erhielt (Tac. ann. 11,19,1); bereits 55–58 n. Chr. hatten die Friesen Ländereien der Römer am Rhein besetzt unter der Führung von Verritus und Malorix, qui nationem eam regebant, in quantum Germani regnantur (Tac. ann. 13,54,1); Wenskus (1961) 412 sieht hierin einen Beweis für alte Königsherrschaft, was allein durch den Gebrauch von regere und regnare nicht bewiesen werden kann; regere wird auch auf die adligen Bataverführer angewandt, welche Kohorten in Britannien führten (Tac. hist. 4,12,3: (cohortes) quas vetere instituto nobilissimi popularium regebant), und daß der Gebrauch von regnare vielleicht eher aus stilistischen Gründen erfolgte und nicht die Königsherrschaft bei den Friesen beweist, das betont deutlich die ausführliche Schilderung des Tacitus über die Ordnung der Verhältnisse bei den Friesen nach ihrem Aufstand anno 28 (Tac. ann. 4,72–74,1). Mela 3,23: ius in viribus habent. Tac. ann. 2,45,1.

gleichberechtigten Genossen, so sehr mißfiel, daß sie ihn auf Grund ihrer Freiheitsliebe ermordeten.78 Arminius begann über die Verwandten hinaus seine peergroup zu dominieren; daher umfaßte die Opposition gegen ihn weitere Kreise als die eigene Sippe. Seinem Neffen Italicus wurde dessen Herkunft von dem Römerfreund Flavus (Arminius’ Bruder) vorgeworfen, speziell von Leuten, die bereits vorher in den Parteikämpfen Ansehen hatten, also wohl von denen, die Arminius vorgeworfen hatten, gegen die Freiheit zu sein und die weder die Römer noch eine Königsherrschaft über sich dulden wollten.79 In allen germanischen Stämmen hatten sich Familien etabliert, aus welchen sich die Führungselite der Stämme rekrutierte, als „Adel“ von Tacitus bezeichnet. Er erwähnt zudem eine stirps regia z.B. der Cherusker: Italicus sei der letzte aus der königlichen Sippe der Cherusker gewesen;80 Civilis, der Anführer des Bataveraufstandes, soll ebenfalls Angehöriger einer stirps regia gewesen sein81 und das Ziel gehabt haben, eine Königsherrschaft über Germanien und sogar Gallien aufzurichten.82 Wie Arminius hatte Civilis jedoch mächtige Gegner sowohl innerhalb seines Stammes wie innerhalb seiner Familie. Am Ende des uns überlieferten Zeitraums (Tacitus’ weiterer Bericht ist verloren), ob er nun das endgültige oder auch nur vorläufige Ende des Aufstandes darstellte, war jedoch der Stamm der Bataver gegen Civilis, und damit mußte er die Hoffnung auf die Errichtung einer Königsherrschaft aufgeben. In dieser Führungselite der principes werden keine Frauen erwähnt, ebenfalls nicht unter den regesAnwärtern, und nicht einmal die selten erwähnten Ehefrauen von Königen werden, ganz anders als bei den keltischen Stämmen in Britannien,83 als reginae bezeichnet. Hatten die Frauen also keinen politischen Einfluß oder Anteil an der Führung des Stammes? In dem bereits erwähnten gotischen Gräberfeld von Weklice in Polen wurde das besonders reich ausgestattete Grab einer älteren, 55 bis 60-jährigen Frau gefunden, das aus dem 2. Jahrhundert nach Christus datiert. „Die Ausstattung dieses Grabes erinnert an die zeitgleichen so genannten ‚Fürstengräber‘ aus Pommern“,84 was auf eine deutlich herausgehobene Stellung dieser Frau in ihrem Stamm hinweist. Neben archäologischen Hinweisen auf sozial herausgehobene Frauen unterrichtet uns aber vor allem Tacitus ausdrücklich darüber, daß Frauen politische Macht hatten; er erzählt, daß die Bataver nicht etwa eine mögliche Königsherrschaft des Civilis ablehnten, sondern „die Herrschaft germanischer Frauen“: honestius principes Romanorum quam Germanorum feminas tolerari.85 Frauen müssen also doch eine bedeutende politische Rolle gespielt haben, obwohl sie in der Reihe der Machtträger bisher noch nicht sichtbar geworden sind – also wo halten sie sich verborgen?

Die Sakralsphäre Das Leben der germanischen Stämme, das private wie das öffentliche, war durchdrungen von religiösen Vorstellungen – die Welt zerfiel noch nicht in eine natürliche und eine übernatürliche, zwei sich ausschließende Sphären; rituelle Praktiken begleiteten die Menschen als einzelne wie als Gruppe Tag für Tag und in allen Lebenslagen. Tacitus schildert, daß der pater familiae eine besondere Bedeutung

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Tac. ann. 2,88,2. Tac. ann. 11,16,2f. Tac. ann. 11,16,1. Tac. hist. 4,13,1. Tac. hist. 4,17,6: nationum regno imminebat. Bei den Briganten herrschte die Königin Cartimandua (Tac. hist. 3,45), und der König der Icener, Prasutagus,

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hatte u.a. seine beiden Töchter als Erben eingesetzt, um regnum et domum zu schützen (Tac. ann. 14,31,1). Kasprzycka u. Stasielowicz (2008) 70–72, mit Abbildungen der Funde; vgl. oben Anm. 48. Tac. hist. 5,25,2: „ehrenvoller sei es, römischen Fürsten zu folgen als germanischenFrauen“.

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eingenommen hat, indem er bei Losentscheidungen und Vorzeichendeutung die Gebete sprach.86 Aber warf er auch die Lose? An anderer Stelle berichtet Tacitus nämlich, daß die Germanen „die meisten Frauen für Weissagerinnen“ hielten (plerasque feminarum fatidicas … arbitrantur),87 und Caesar schreibt in seinem Bellum Gallicum, daß es die matres familiae gewesen seien, „die Hausmütter, die durch Losorakel und Weissagungen offenbarten, ob es nützlich sei, eine Schlacht zu beginnen oder nicht“.88 Diese Auskunft, die Caesar von einem gefangenen Kriegsmann des Ariovist erhalten hatte, bedeutet, daß die matres familiae als Gruppe in einer öffentlichen, sakralen Handlung bestimmten, wann im Kriegsfall der günstigste Moment für die Aufnahme von Kriegshandlungen für ihren Stamm sein würde. Die Aussagen von Caesar und Tacitus implizieren zweierlei: Auch für private Losorakel müssen wir die Frauen vermuten; es wäre widersinnig, wenn die meisten von ihnen, als fatidicae anerkannt, nur öffentlich für ihren Stamm, nicht aber privat für ihre Familien geweissagt hätten. Zweitens könnten diese Mitteilungen ein Nachweis dafür sein, daß Frauen bei der Volksversammlung anwesend waren; denn schließlich ist es unwahrscheinlich, daß die Männer den Krieg auf der Volksversammlung, vielleicht sogar an einem dem Stamm heiligen Ort, beschlossen und erst später, am anderen Tag und an einer anderen Stelle die Frauen zusammenkamen, um das Orakel über günstige Tage für Angriffe zu befragen. In taciteischer Zeit spricht – wie der pater familiae im privaten Bereich – der Stammespriester, sacerdos civitatis, die Gebete bei den Losentscheidungen in öffentlichen Angelegenheiten.89 Tacitus sagt, sie (Plural) schneiden Ästchen, kennzeichnen sie und verstreuen sie auf ein weißes Laken. Immer im Plural: amputant und spargunt; danach betet der Priester (Singular) zu den Göttern und hebt die Lose auf. Die ‚sie‘ sind auf alle Fälle andere als der Priester oder Vater und könnten durchaus die Frauen bezeichnen, ohne daß dies ausdrücklich gesagt wird.90 Es stellt sich überhaupt die Frage, wie aussagekräftig die Sprache der Quellen ist – die sacerdotes sind nur in den Übersetzungen grundsätzlich Männer. Sacerdos im Lateinischen ist geschlechtsneutral und schließt die Priesterin mit ein. Caesar bezeichnete die Geiseln im Fall der Germanen immer als liberi – wählt also ebenfalls ein geschlechtsübergreifendes Wort –, im Fall der Gallier spricht er von pueri. Er macht hier also einen Unterschied, aber der würde wahrscheinlich nicht weiter auffallen, wenn wir nicht von Tacitus wüßten, daß die Germanen auf Grund ihrer besonderen Wertschätzung der Frauen weibliche Geiseln bevorzugten; d.h. der Begriff liberi muß genau diese Praxis bezeichnen.91 Was heißt das also? Ein Ausschluß der Frauen vom Priesteramt ist allein durch den Gebrauch des Wortes sacerdos nicht zu beweisen. Expressis verbis werden Priesterinnen in der Zeit der Kimbern- und Teutonenzüge 113 bis 101 v. Chr. genannt, und zwar von dem griechisch schreibenden Autor Poseidonios,92 wobei aber unklar ist, inwieweit die grauhaarigen, weißgewandeten Priesterinnen mit Bronzegürtel um die Hüften und Schwert in der Hand, die den kriegsgefangenen Römern die Hälse aufschlitzten, um aus deren Blut die Zukunft vorauszusagen, eine belastbare Nachricht darstellen, zumindest was die blutige Zukunftsvorhersage bedeutet. In unserem Zusammenhang ist die Erwähnung von   « ¹  – also von die Zukunft deutenden Priesterinnen – wichtig, und die Tatsache, daß diese in einer Weise in Erscheinung traten, die die Römer sehr beeindruckt haben muß. Ob die Autoren dann diese Geschichten noch ausmalten, um sie ihrem Barbarenbild anzupassen, 86 87 88

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Tac. Germ. 10 Tac. hist. 4,61,2. Caes. Gall. 1,50,4: ut matres familiae eorum sortibus vaticinationibusque declararent, utrum proelium committi ex usu esset necne. Tac. Germ. 10 Zu einem anderen Schluß kommt S. Tausend (2009) 155, nämlich daß „weibliches Kultpersonal völlig fehlt“.

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Schon die Römer bevorzugten also eine ,geschlechtergerechte‘, wenn auch noch nicht ,anti-sexistische‘ Sprachregelung – wie sie jetzt in einer 16-seitigen Broschüre Geschlechtergerechter Sprachgebrauch beim europäischen Parlament (hg. von der Parlamentsverwaltung der EU März 2009) vorgeschrieben wird. Poseid. FgrHist 87 F 31,3.

ist nicht das Thema dieses Beitrages. Daß aber zumindest das äußere Erscheinungsbild der Priesterinnen durch einen ungef ähr 300 Jahre jünger zu datierenden archäologischen Fund in der gotischen Nekropole von Weklice bestätigt wird, bekräftigt, daß die römischen und griechischen Autoren in Bezug auf die Frauen nicht nur „rhetorische Ergüsse“ von sich gaben.93 Die Nachrichten über die Aufgaben der sacerdotes sind sehr unterschiedlich. Neben der Pflege der Götter für den Stamm sowie Vorhersagen waren sie eingebunden in das öffentliche politische Leben, sorgten bei öffentlichen Zusammenkünften für die Wahrung von Ruhe und Ordnung,94 allein sie durften Krieger, die sich etwas zu Schulden hatten kommen lassen, „hinrichten, fesseln, schlagen“, aber so, als führten sie den Befehl des Gottes, der den Kriegern zur Seite steht, und nicht die Anordnung des Heerführers durch.95 Es ist verständlich, daß die Heerführer keine Bestrafung durchführen konnten, war doch der Krieg eine religiöse Unternehmung und stand unter dem Schutz der Götter; darauf weist deutlich die Opferung der gegnerischen Heere für den unterstützenden Gott in Mooren, also die Versenkung der unbrauchbar gemachten Waffen und ihrer Pferde hin.96 Heiliger Ort war für die einzelnen Stämme bzw. eine Gemeinschaft von Stämmen der oder die vielfach bezeugten Haine.97 Viele von diesen waren weiblichen Gottheiten, uns meist völlig unbekannten, geweiht, so z. B. der hochberühmte Kultbezirk (Tempel und/oder Hain) der Marser einer Tanfana98 und der Hain der Friesen der Baduhenna.99 Am bekanntesten ist zweifellos der der Nerthus, der Mutter Erde, die von einer großen Gruppe von Stämmen verehrt wurde. Bei der Umfahrt der Nerthus, welche diese von Zeit zu Zeit machte, schwiegen alle Waffen, und es herrschte kultischer Friede.100 Auf Weihesteinen begegnen wir häufig weiblichen Gottheiten, jedoch ohne daß wir irgendetwas über diese in Erfahrung bringen könnten. Nur bei den ubischen Matronen vermutet man, daß es sich um Fruchtbarkeitsgöttinnen gehandelt hat.101 Inwieweit die weiblichen Gottheiten zugewiesenen Haine auch auf eine kultische Präsenz von Priesterinnen deuten, ist nicht mehr aufzuhellen – ist der Priester der Naharnavaler, der in weiblicher Tracht einem „Hain mit uraltem Kult“ vorstand – dem der Alken –, ein Hinweis auf einen Übergang des Kultes von Priesterinnen auf Priester?102 Die Stammessage der Langobarden, deren Sieg über die Vandalen durch Vermittlung der Stammesmutter Gambara über die Göttin Freia gesichert wurde, könnte ebenfalls ein Anhaltspunkt für einen Wechsel von weiblicher Priesterschaft und Stammesführung auf männliche enthalten.103 Und schließlich kann man in Jordanes’ spätantik/frühmittelalterlicher Geschichte der Goten einen weiteren aufschlußreichen Beleg für weissagende Frauen finden, die ihre Macht – in diesem Fall allerdings unfreiwillig – eingebüßt haben. Jordanes erzählt, daß während der Wanderschaft der Goten ihr (mythologischer) König Filimer „einige Zauberinnen in seinem Volk fand, die er selbst in seiner Muttersprache ‚Haliurunnae‘ nannte; und weil er sie für verdächtig hielt, verstieß er sie aus

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S. o. S. 81; ferner Anm. 62. Tac. Germ. 11. Tac. Germ. 7. Vgl. dazu Tac. ann. 1,59,3, wo Arminius an die in der Varusschlacht erbeuteten römischen Feldzeichen erinnert, welche man in den Hainen als Weihegabe für die heimischen Götter aufgehängt habe, und Tac. ann. 13,57,2, wo vor Kriegsbeginn zwischen Chatten und Hermunduren beide Stämme das gegnerische Heer dem Ziu oder Wotan weihten; zu Kriegsbeuteopfern allgemein siehe Blankenfeldt u. Rau (2009) sowie Ilkjær u. Iversen (2009).

197 Tac. Germ. 9; zu Kultgemeinschaften K. Tausend (2009). 198 Tac. ann. 1,51,1: celeberrimum … templum, quod Tanfanae vocabant. 199 Tac. ann. 4,73,4. 100 Tac. Germ. 40. 101 Einen allgemeinen Überblick über die Matronen gibt Simek (2003) bes. 11–13 und 117–124 und nochmals dazu in Simek (2008). 102 Tac. Germ. 43. 103 Origo gentis Langobardorum c. 1 (MGH SS rer. Lang. et Ital. saec. VI–IX, 1–6, hier 2–3), bzw. Paulus Diaconus, Historia Langobardorum c. 8 (ibid. 52.13–14); vgl. dazu auch Wolfram (1990) bes. 60–61.

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der Mitte seines Volkes … und zwang sie in der Einöde herumzuirren“.104 Man geht in der Interpretation dieser Erzählung sicher nicht zu weit, wenn man in den magae mulieres genau die Frauen entdeckt, von denen wir schon bei Caesar und Tacitus lesen – Frauen, die durch ihre Weissagungen Macht und Einfluß in ihrem Stamm hatten; die überlieferte Geschichte bleibt völlig vage; der König „verdächtigte“ die Frauen – warum? Wenn man annimmt, daß der historische Kern dieser Geschichte in der Zeit der Völkerwanderung zu finden ist, könnte man mutmaßen, daß sich das Machtgefüge innerhalb des Stammes zugunsten der Kämpfenden und deren Götter verschoben hatte und deshalb die Frauen nicht mehr für wirkmächtig gehalten wurden. Ein archäologischer Beweis für weissagende Frauen bei den Goten ist auf dem bereits mehrmals erwähnten Gräberfeld von Weklice entdeckt worden, nämlich eine etwa 60-jährige Frau mit einer ganz besonderen Ausstattung. Sie trug nicht nur zwei Ketten und zwei Gürtel; an einem dieser beiden Gürtel, der besonders reich mit Bronzeknöpfen verziert war, war ein Dolch mit Scheide befestigt, außerdem hielt die Frau „ein Ledersäckchen, in dem sich vier Kauri-Schnecken, eine in Bronze gefaßte Bärenklaue, drei ebenfalls in Bronze gefasste Bernsteinscheiben mit magischen Rosetten sowie drei Glas- und eine Bronzeperle befanden“. Die Autoren kommen zum Schluß, daß es sich bei dieser Frau um eine „germanische Priesterin“ gehandelt haben muß.105 Weibliche Namen von heiligen Hainen und auf Votivsteinen, Mitteilungenen über den Dienst von Priesterinnen in der Zeit der Kimbern- und Teutonenzüge, Hinweise christlicher Autoren auf „lächerliche Geschichten“ in der Überlieferung germanischer Stämme sowie archäologische Funde lassen uns erkennen, daß Frauen in ihrer Funktion als weissagende matres familiae und fatidicae eine entscheidende Rolle im Kultus ihrer Stämme eingenommen haben müssen. Ein eindrucksvoller Satz des Tacitus jedoch weist über den Bereich des Kultes weit hinaus; die Germanen glaubten nämlich, so sagt er, daß den Frauen „sogar etwas Heiliges und Seherisches eigne; ihre Ratschläge verwerfen sie daher nicht, noch mißachten sie ihre Bescheide“.106 Dieser Satz des Tacitus hat in der Forschung so viel Unglauben hervorgerufen, wie sonst nur noch die anderen Nachrichten des Tacitus über die Rolle der germanischen Frauen: In einer Übersetzung von Suetons Caesarenleben von 1986 findet man deshalb für die beiden taciteischen Begriffe consilia und responsa z.B. auch die Übersetzung: „Sehergabe und Zauberkräfte“.107 Was aber bedeuten die Begriffe consilia und responsa, also ‚Ratschläge‘ und ‚Bescheide‘? Eindeutig verknüpft sind diese mit dem Seherischen und Heiligen der Frauen. Weil den Frauen eine religiöse Kraft zugeschrieben wurde, wurden ihre Ratschläge und Bescheide nicht verworfen, und sie schufen sich also so über das Religiöse hinaus Einfluß.108 Was wissen wir von solchen Frauen, kennen wir welche mit Namen?

104 Jordanes, Getica 24,121: Filimer rex Gothorum … repperit in populo suo quasdam magas mulieres, quas patrio sermone Haliurunnas is ipse cognominat, easque habens suspectas de medio sui proturbat longeque ab exercitu suo fugatas in solitudinem coegit errare. 105 Kasprzycka u. Stasielowicz (2008). Dazu auch oben S. 81. 106 Tac. Germ. 8: Inesse quin etiam sanctum aliquid et providum putant nec aut consilia earum aspernatur aut responsa neglegunt; ähnlich auch Tac. hist. 4,61,2. 107 Heinemann (1986) 431 Anm. 1. 108 Siehe Schneider (1985) 272–301 zur politischen Macht von Äbtissinnen in den angelsächsischen Königreichen; von der Zeit direkt nach dem Übertritt zum Christen-

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tum bis in das frühe 9. Jahrhundert hatten die religiösen Frauen größten politischen Einfluß und standen – vor allem auch ihren Familienmitgliedern – mit Rat und Tat zur Seite; anders als Bruder (1974), der glaubt, daß erst das Christentum den Frauen Personenwürde und religiösen Einfluß gebracht hat, vermute ich, daß die christlichen Missionare deshalb bei den (heidnischen) Frauen Unterstützung fanden, weil auch zu dieser Zeit den Frauen noch eine große religiöse Kompetenz zugeschrieben wurde; in den ersten beiden christlichen Jahrhunderten hielten die Äbtissinnen außerordentliche politische Macht in den Händen.

Am bekanntesten ist Veleda, eine virgo nationis Bructerae,109 von der wir bezüglich ihrer Funktionen, Aufgaben, Macht und Autorität die meisten Informationen aus der Überlieferung erschließen können. Tacitus nennt neben ihr noch die „Albruna und mehrere andere“,110 die die Germanen verehrt hätten. Von diesen sind aber nicht einmal der Herkunftsstamm oder der Ort ihres Wirkens bekannt. Die Seherin Ganna aus dem Suebenstamm wird unter Kaiser Domitian erwähnt,111 und sogar die Römer waren von den seherischen Qualitäten mancher germanischer Frauen beeindruckt. Eine barbara mulier specie humana amplior, also eine „übergroße Barbarenfrau“, soll Drusus, dem Vater des Kaisers Claudius, an der Elbe verboten haben, weiter die Germanen zu verfolgen,112 und Kaiser Vitellius vertraute den Weissagungen einer mulier Chatta „wie einem Orakel“.113 Sie war eine Seherin in römischen Diensten genauso wie vielleicht Waluburg, deren Name auf einem Ostrakon des 2. Jahrhunderts im ägyptischen Elephantine gefunden wurde.114 Sie ist dort als B      ) unter dem Dienstpersonal des Präfekten von Ägypten verzeichnet. Der Namensbestandteil Walu weist ebenso wie der Name Ganna auf das Wort ,Zauberstab‘ hin, was in Waluburgs Fall durch die Bezeichnung als Sibylle, in Gannas Fall als  «   buchstäblich unterstützt wird. Was bei Suetons barbara mulier wie nur beiläufig erwähnt klingt, scheint im Zusammenhang mit den Berichten über Veleda nicht von der Hand weisbar: Frauen konnten mittels ihrer religiösen Fähigkeit und Bedeutung und ihrer Vorhersagegabe potestas und auctoritas gewinnen. Als Veleda während des Bataveraufstandes den Ausgang des Kampfes der Germanen richtig vorausgesagt hatte, wuchs ihre Autorität weit über ihren Stamm hinaus: tuncque Veledae auctoritas adolevit; nam prosperas Germanis res et excidium legionum praedixerat.115 All ihre politischen Aktivitäten, die sich aus dieser auctoritas ergaben, waren deshalb auch religiös ausgestaltet und ummantelt: Als Gesandte der Ubier zu Veleda kamen, durften sie sie weder sehen noch ansprechen; „sie wurden von ihrem Anblick ferngehalten, um größere Ehrfurcht vor ihr einzuflößen. Sie selbst wohnte auf einem Turm. Einer ihrer Verwandten, der zu diesem Zwecke ausersehen war, überbrachte die Fragen und Antworten, wie der Bote eines höheren Wesens.“116 Keine Person, sei sie Mann oder Frau, hätte ohne Unterstützung seitens ihrer Verwandten und seitens ihres Stammes eine solche Stellung erreichen können, und auch wenn nichts Konkretes bezüglich Veledas Bedeutung bei den Brukterern selbst überliefert ist, kann man doch auf Grund ihrer ausgedehnten Aktivitäten außerhalb ihres Stammes davon ausgehen, daß sie auch bei den Brukterern potestas und auctoritas besessen haben muß. Die Begriffe von Herrschaft, die Tacitus der Veleda beilegt, sind synonym den Herrschaftsbegriffen, mit denen Könige oder duces wie Arminius oder Civilis belegt werden. Daß Veledas Macht und 109 Tac. hist. 4,61,2; zu Veleda im Überblick Walser (1955) und vor allem Volkmann (1975), der alle Quellen zu Veleda zusammengetragen hat und auch die übrigen, in den römischen Quellen namentlich genannten Seherinnen zusammenstellt; die Arbeit von S. Tausend (2009) geht insoweit über Volkmanns Betrachtungen hinaus, als sie die altnordischen Quellen sowie das Material über griechische und römische Frauen mit Sehergabe zum Vergleich heranzieht; ihr Interesse liegt zum einen auf der Technik der Weissagekunst, zum anderen darauf, die seherischen Frauen als „notwendiges Kultpersonal“ zu verstehen. 110 Tac. Germ. 8: Albruna et compluris alias. 111 Cass. Dio 67,5,3:  « ! …   112 Suet. Claud. 1,2; Cass. Dio 55,1,3. 113 Suet. Vit. 14, 5. 114 Detailliert zu Waluburg Volkmann (1975) 238–239; S. Tausend (2009) glaubt allerdings eher an Waluburgs

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Anwesenheit in Ägypten im Rahmen einer stammesübergreifenden Gesandtschaft im Rahmen der Markomannenkriege: „Derartige kriegerische oder friedliche Zusammenschlüsse germanischer Stämme bedürfen geradezu zwingend der Dienste einer professionellen Seherin, wie Veleda und Ganna gezeigt haben“ (168); es wird nicht erklärt, warum Frauen und nicht Männer zwingend waren. Tac. hist. 4,61,2. Tac. hist. 4,65,4: Sed coram adire adloquique Veledam negatum: arcebantur adspectu, quo venerationis plus inesset. ipsa edita in turre; delectus e propinquis consulta responsaque ut internuntius numinis portabat; vgl. dazu den Gebrauch des Begriffes numen bei Tacitus, z.B. numen Augusti, also hier etwa die ‚Hoheit‘ des Augustus (u.a. ann. 3,66,1) und nicht ‚Gottheit‘; dazu siehe auch die folgende Anmerkung.

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Autorität kein Einzelfall war, darauf weist Tacitus deutlich hin. Veleda ist ihm als Beispiel aus der Gegenwart gut bekannt, aber er setzt sie mit anderen gleich: „auch früher schon haben sie eine Albruna und mehrere andere verehrt (venerati sunt), freilich ohne Kriecherei (non adulatione) und ohne sie gleichsam zu Göttinnen zu machen“.117 Eine alte Sitte sei dies zudem bei den Germanen: vetus apud Germanos mos118 – wir horchen auf, denn diese Bemerkung steht völlig im Gegensatz zu den Berichten über die Könige, die ja, wie wir bereits gesehen haben, größte Schwierigkeiten hatten, ihre potestas aufrecht zu halten, um so mehr als ihnen zumeist auctoritas fehlte – von veneratio ist überhaupt nie die Rede. Standen also Frauen wie Veleda gewissermaßen zwischen Göttern und Menschen und waren ihre Bescheide und damit Eingriffe in das politische Leben dadurch jeder menschlichen Kritik enthoben? Um so mehr, als Tacitus an dieser gleichen Stelle – im Widerspruch zu seinen sonstigen Aussagen – behauptet, die Germanen hätten die weissagenden Frauen für Göttinnen gehalten (plerasque feminarum fatidicas et augescente superstitione arbitrantur deas). Nicht ganz, denn zumindest die Bataver wollten lieber die Herrschaft römischer Herren als die germanischer Frauen ertragen;119 aus dem Zusammenhang geht hervor, daß es sich im konkreten Fall um Veleda gehandelt haben muß. Es gab also auch bei den Frauen eine deutliche Begrenzung der Herrschaft. Zwar achtete man den Rat der Frauen, verwarf nicht ihre Ratschläge, verehrte sie; den Frauen selbst wurden alle Attribute der Herrschaft beigelegt: potestas, auctoritas, imperare. Doch warum die Bataver gegen die Herrschaft der Veleda waren, und wie die Brukterin überhaupt in die Lage kam, ihre Herrschaft über die Bataver auszudehnen, darüber kann nur eine genauere Betrachtung der Beteiligung der Frauen an den außenpolitischen Entscheidungen der Stämme näheren Aufschluß geben.

Das äußere politische Leben Welchen Anteil hatten Frauen an den Außenbeziehungen der Stämme? Natürlich wird am häufigsten von den zahllosen kriegerischen Auseinandersetzungen zwischen den Germanen selbst sowie zwischen Germanen und Römern berichtet, und natürlich stehen hier die Männer als Kämpfer im Vordergrund. Allerdings wird immer auch geschildert, daß Frauen und Kinder in der Nähe der Schlachtreihe (in proximo), also wohl in deren Rücken aufgestellt wurden, um den Kämpfenden Stärkung und Ermutigung zukommen zu lassen.120 Gar manche Kriegerreihe sei durch die Frauen wieder zum Stehen gebracht worden, vor allem durch die Vorstellung einer nahen Gefangenschaft ihrer Frauen, sagt Tacitus.121

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Tac. Germ. 8: sed et olim Albrunam et compluris alias venerati sunt, non adulatione nec tamquam facerent deas. Tac. hist. 4,61,2. Tac. hist. 5,25,2: et si dominorum electio sit, honestius principes Romanorum quam Germanorum feminas tolerari; diese Stelle widerspricht m.E. der These von S. Tausend (2009), die die Seherinnen als unverzichtbares kultisches Bindeglied politischer Zusammenschlüsse der mehrere Stämme umfassenden Kultgemeinschaften interpretiert; daher setzt sie Veleda mit der delphischen Pythia gleich; die Frauen können nach Tausend „fallweise (eine) äußerst machtvolle Position“ – ein von der Autorin nicht definierter Begriff – erringen, bleiben aber nach ihrer Interpretation ganz und gar beschränkt auf die Religion, d.h. sie gewinnen Einfluß innerhalb ihres religiösen Aufgabengebietes und nicht Macht und Ein-

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fluß kraft der Religion; Veleda ist aber m.E. eben nicht ausschließlich Teil eines – wenn auch mächtigen – Kultpersonals, sondern vermittels der religiösen Fähigkeiten politisch eigenständig handelnd wie ein Heerführer oder König. 120 Tac. Germ. 7: et in proximo pignora, unde feminarum ululatus audiri, unde vagitus infantium, hi cuique sanctissimi testes, hi maximi laudatores. … illae … hortamina pugnantibus gestant. 121 Tac. Germ. 8: Memoriae proditur quasdam acies inclinatas iam et labantes a feminis restitutas constantia precum et obiectu pectorum et monstrata cominus captivitate, quam longe impatientius feminarum suarum nomine timent; bezüglich der Überlieferung glaubt Much (1967) 164, daß „einzig der erste Tag von Aquae Sextiae [in Betracht kommt], und dieser Tag muß Tacitus wohl vor Augen

Über Kämpfe von Stämmen auf der Wanderschaft berichten unter anderen Plutarch und Orosius aus der Zeit der Kimbern- und Teutonenzüge des 2. Jahrhunderts vor Christus;122 Florus schildert, daß die Frauen ihre Männer im Kampf unterstützten, indem sie hinter ihren Wagen stehend von hoch oben herab mit Lanzen und Wurfspießen kämpften, und daß die Auseinandersetzung mit ihnen nicht leichter war; sie drohten im Falle einer Niederlage sich und die Ihren selbst zu entleiben, um nicht in Gefangenschaft zu geraten.123 Ähnliches berichtet Caesar über die Streitmacht des Ariovist 58/7 v. Chr.124 Nun behauptet Tacitus in der Germania außerdem, daß Frauen generell an Schlachten beteiligt waren. Als die Römer gegen die Bataver zu Felde zogen, soll Civilis bei Castra Vetera seine Mutter und seine Schwestern zusammen mit den Frauen und kleinen Kindern aller anderen im Rücken des Heeres aufgestellt haben, und in diesem Fall befand sich ja niemand auf der Wanderschaft.125 Warum standen diese Frauen also da? Doch bestimmt nicht, um im Falle einer Niederlage schreiend kehrt zu machen! Und warum kämpften bewaffnete Frauen zur Zeit der Markomannenkriege um 170 n. Chr. in Italien? Ihre Leichen wurden nach der Niederlage von den Römern gefunden.126 Diese Frauen waren weder auf der Wanderschaft, noch verteidigten sie ihre Heimat. Trotz der zahlreichen Berichte über kämpfende Frauen werden diese jedoch lediglich als ein Topos allgemeinbarbarischer Sitten bezeichnet.127 Was aber spricht gegen die Kampfteilnahme von Frauen außer dem eigenen Vorurteil? Auf keltischer Seite erscheinen Frauen ebenfalls aktiv kämpfend: Die britischen Stämme waren ja sogar gewohnt, unter der Führung von Frauen in den Krieg zu ziehen, da sie im Oberbefehl nicht nach Geschlecht unterschieden.128 Und selbst zwei Römerinnen nennt Tacitus, die mit der Waffe gekämpft haben: Verulana Gratilla ging dem Kriegshandwerk nach (bellum secuta), ebenso Triaria, die Gattin des Vitellius, die er als „gemein und grausam“ (ultra feminam ferox) bezeichnete.129 Beim Angriff der Römer auf die Insel Man bildeten die (einheimischen) Männer eine dichte Reihe von Kämpfenden, während zwischen den Reihen Frauen herumliefen, „welche nach Art der Furien im Leichengewand mit herabwallenden Haaren Fakkeln vorantrugen“, eine Schilderung, welche neben dem Kampf vielleicht auch auf eine religiöse Rolle der Frauen in der Schlacht schließen läßt,130 vielleicht aber, wie das Kriegsgeschrei (ululatus) der Bataverinnen, die Gegner vor allem in eine Schreckstarre versetzen sollte. Kämpfende Frauen sind demzufolge kein Germanen- oder Keltenlatein, denn sie bekamen Waffen und Schild bei der Hochzeit überreicht. Diese Nachrichten können wir nicht einfach als Topos bezeichnen, nur weil sie nicht in unser Bild von Frauen passen. Wenn man die Größe der gentes bedenkt, könnte man das Kämpfen von Frauen durchaus auch als ein Erfordernis auffassen. In der bereits erwähnten Stammessage der Langobarden schweben“; warum Tacitus nur gekannt haben soll, was uns heute noch an Quellen überliefert ist, bleibt unklar; Much verweist dessen Behauptung daher, da es sich bei dem auf Poseidonius zurückgehenden Bericht Plutarchs über Aquae Sextiae (s. folgende Anm.) lediglich „um ein einzelnes Vorkommen“, das zudem die Entscheidung nur hinausgeschoben, nicht gewendet habe, in den Bereich des Literarischen, ohne Rücksicht „auf geschichtliche Genauigkeit“. 122 Plut. Marius 19,9; Oros. 5,16,17–21. 123 Flor. epit. 1,38,16: lanceis contisque pugnarent. 124 Caes. Gall. 1,51,2f. 125 Tac. hist. 4,18,2: hortamenta victoriae vel pulsis pudorem. 126 Cass. Dio 71,3,2: "   #« #« $  λ   $  ³   %&. 127 Vgl. dazu Bruder (1974) 135, 142, 184 und insbes. Herrmann (1988) 292 mit Anm. 51; hier wird der Schlachtenbericht von Castra Vetera als reine „rhetorische

Ausschmückung“ gesehen, welcher keinerlei Bezug zur Wahrheit hatte, insbesondere soweit dieser die Anwesenheit von Frauen und Kindern betrifft. „Mitkämpfende germanische Frauen begegneten den Römern erstenmals auf den Zügen der Kimbern und Teutonen. Diese Erscheinung wandernder Stämme nahm die römische Geschichtsschreibung, ohne ihren ursprünglichen Zusammenhang zu verstehen (?), als Topos auf. Frauen in der Kampfordnung galten daher als ‚allgemeinbarbarische‘ Sitte. Sie waren bevorzugter Gegenstand moralischer und psychologischer Erörterungen“; diese Ausführung faßt trefflich die übliche Auslegung des Faktums der kämpfenden Frauen seitens moderner Historiker zusammen. 128 Tac. ann. 14,35,1: solitum quidem Britannis feminarum ductu bellare bzw. Agr. 16,1: neque enim sexum in imperiis discernunt. 129 Tac. hist. 3,69 bzw. 77 u. 2,63. 130 Tac. ann. 14,30,1.

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wird erzählt, daß die gens der Vandalen von der gens der Winniler Tribut forderte, woraufhin die Stammesmutter Gambara und ihre beiden Söhne beschlossen, lieber zu kämpfen als zu zahlen. Weil sie, die späteren Langobarden, aber ein so sehr kleiner Stamm waren, baten sie über Gambara die Göttin Freia um Hilfe und Unterstützung in ihrem Kampf. Auf deren Rat hin banden sich die Frauen ihre langen Haare als Bärte vor das Gesicht und traten zusammen mit ihren Männern vor Sonnenaufgang vor den Gott Wotan, der ihnen den Sieg zusprach; dieser Ratschlag wird nicht erklärt, aber zweifelsohne war es diese Vermehrung, ja Verdoppelung der Kämpfer, die den Gott veranlaßte, dem Stamm nicht schon aufgrund seiner kümmerlichen Anzahl den Sieg zu verweigern.131 Man könnte darüber hinaus vermuten, daß zu diesem Zeitpunkt nur noch Männern in Verbindung mit einem männlichen Gott kultische Wirkmacht zugeschrieben wurde, was wiederum die Vertreibung der Haliurunnae bei den Goten erklären könnte. Anzunehmen ist ferner, daß es sich bei einer Vielzahl von Stämmen um Kleinstverbände mit sehr wenigen Menschen gehandelt haben muß – wie also hätten solche Gemeinschaften, wenn es um das Überleben als Gruppe ging, auf die Hälfte ihrer Mitglieder, also die Frauen verzichten können? Je kleiner die Zahl der kämpfenden Männer war, um so notwendiger war das Eingreifen der Frauen. Im übrigen begegnen in frühmittelalterlichen Quellen immer wieder Frauen, die kämpften,132 weshalb man zusammenfassend feststellen kann: 1.) Frauen waren psychisch und physisch in der Lage zu kämpfen, und es bestand auf Grund der geringen Größe der gentes auch die Notwendigkeit zu kämpfen; 2.) Waffen waren deshalb für Frauen kein unpassendes Geschenk; 3.) Frauen standen nicht nur während der Wanderschaft auf den Wagen hinter den Kriegern, sondern auch bei Kämpfen in ihrer Heimat; vielleicht nahmen sie sogar manchmal an Kriegszügen teil; 4.) Frauen kämpften mit Waffen, Geschrei und bestimmt auch mit Zauberkünsten. Die Beziehungen der Stämme zueinander sowie die zu den Römern waren bereits formalisiert. Man tauschte untereinander öffentlich Geschenke aus,133 ebenso Geiseln zur Absicherung der Verträge: Wie oben schon erwähnt, wurden weibliche Geiseln bevorzugt. Boten bzw. Gesandte waren unverletzlich,134 und immerhin hören wir auch zweimal von weiblichen Gesandten. Als 102 v. Chr. die Römer die Kimbern bei Vercellae in Oberitalien geschlagen hatten, kamen kimbrische Frauen als Abgesandte zu Marius mit der Anfrage, ob man ihnen nicht Freiheit und Priestertum gewähren könne.135 Während dieses erste Beispiel noch aus der Not des Kriegsgeschehens erklärt werden kann, ist das zweite ein ein131

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Origo gentis Langobardorum, c. 2: die Göttin Freia wird um Hilfe gebeten, die den Rat (consilium) gibt, ut sole surgente Winniles et mulieres eorum crines solutae circa faciem in similitudinem barbae et cum viris suis venirent. Auf Grund dieser Aktion wurden die Winniler von Wotan als Langbärte bezeichnet; bereits Paulus Diaconus in seiner Historia Langobardorum, c. 8 bezeichnete diese Geschichte als ridicula fabula (MGH SS rer. Lang. et Ital. saec. VI–IX, 52.11); s. oben S. 83. Der langobardische König Rothari aus der ersten Hälfte des 7. Jahrhunderts fand es, wie die modernen Forscher, völlig absurd, daß Frauen kämpfen könnten, weshalb er nur Strafen für männliche Räuberbanden verfügte (sog. Edictus Rothari, c. 278): Eine Frau könne nicht mit Gewalt in einen Hof einbrechen (absurdum videtur esse, ut mulier libera, aut ancilla, quasi vir cum armis vim facere possit, MGH LL Bd. 2, 67.14–16); dies hatte mißliche Folgen, lesen wir doch in dem Gesetzbuch seines Nachfolgers Liutprand ungef ähr einhundert Jahre später (MGH LL Bd. 4, 170.10–171.10): Einige bösartige Kerle hatten es zwar selber nicht gewagt, in ein fremdes Dorf oder Haus

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mit Waffengewalt einzudringen, aus Furcht vor jener Buße, die im alten Gesetzbuch (also Rotharis) darauf gesetzt ist. „Sie hießen aber ihre Frauen sich zusammenrotten … und schickten sie gegen Leute von geringerer Wehrhaftigkeit. Jene also ergriffen die Leute dieses Ortes, brachten ihnen Wunden bei und stifteten auch sonstiges Unheil mit Gewalt, grausamer als die Männer. Aus diesem Grunde wird im Gesetzbuch expressis verbis aufgenommen: Wenn hinfort Frauen sich vermessen, so irgendetwas zu tun …“. Tac. Germ. 15. Tac. Germ. 5; zu weiteren Boten hist. 4,15,1; 17,1; 19,1; 20,1; 21,2. Flor. epit. 1,38,17; Oros. 5,16,13 interpretiert die Anfrage so: ob Marius „sie in unverletzter Keuschheit dazu bestimmen würde, den heiligen Jungfrauen und den Göttern zu dienen“, also den Vestalinnen; hatten die Frauen Kenntnis über im Kultus tätige Staatssklaven und hofften sie als solche aufgenommen zu werden? Zu den Staatssklaven im Kultus allgemein siehe Eder (1980) 37–56.

deutiger Beweis: Es ist die Gesandtschaft der bereits erwähnten Ganna, die 92 n. Chr. gemeinsam mit dem König der Semnonen, Masyos, Kaiser Domitian in Rom besuchte und von diesem hoch geehrt wurde. Ganna wird als parthenos, als Jungfrau bezeichnet, die nach Veleda in Germanien prophezeite, d.h. Seherin war.136 Ob nun Ganna eine Semnonin war oder nicht, ist in unserem Zusammenhang unerheblich;137 hervorzuheben ist jedoch, daß Cassius Dio die „weissagende Jungfrau“ in einem Atemzug völlig gleichberechtigt neben dem König nennt, was die Bedeutsamkeit und hervorgehobene Position der Ganna eindrucksvoll offenbart.138 Verträge, pacta, wurden von den Germanen nicht nur mit den Römern, sondern auch untereinander abgeschlossen. Im Fall der Treverer, die mit Civilis im Bataveraufstand verbündet waren, hören wir, daß deren Anführer Julius Tutor in geheimer Unterredung die Stimmung speziell der Ubier, also eines von den Römern in Köln angesiedelten Stammes, erforschen wollte, um sie auf die Seite der Aufständischen zu bringen. Mit ins Vertrauen gezogenen, geeigneten Leuten traf er sich in einem Kölner Privathaus: „in ihrer Mehrheit wollte nämlich die dortige Bürgerschaft nichts von einem solchen Beginnen wissen.“139 Nach dem Scheitern dieser ersten Verhandlungen140 wurden den Kölnern aber sowohl der Anschluß an Civilis Partei als auch Zugeständnisse an die rechtsrheinischen Germanen abgerungen. Diesen gestanden die Ubier den freien Zugang zu ihrer Stadt Köln sowie freien Handelsverkehr zu.141 Zu diesen Zwecken wurden pacta geschlossen, aber nicht direkt zwischen den die Unterhandlungen führenden Tenkterern und Ubiern, sondern die Kölner forderten als Schiedsrichter Civilis und Veleda (arbitrum habebimus Civilem et Veledam, apud quos pacta sancientur).142 Sie schickten also Gesandte mit Geschenken zu beiden und konnten bei diesen alle ihre Vorstellungen und Wünsche durchsetzen (cuncta ex voluntate Agrippinensium perpetravere).143 Wir sehen daraus, erstens: Veleda hatte die Macht, auf bereits verhandelte Verträge Einfluß zu nehmen, da sie als Schiedsrichterin angerufen wurde und da die Kölner erreichen konnten, was sie gewollt hatten. Dies impliziert, daß Veleda Vertragsinhalte annehmen oder auch verwerfen konnte – weitreichendste politische Machtbefugnis, in der Tat. Was bedeutet, zweitens, pacta sancientur? Die Verträge wurden durch religiöse Weihe unverletzlich und unverbrüchlich festgesetzt, ein ganz unglaublicher Vorgang und Beweis nicht nur für die religiöse Autorität der Veleda; denn man kann nur dann eine Sache unverletzlich machen, wenn man auch Maßnahmen gegen Störungen des Vertragsfriedens ergreifen kann. Die Tatsache, daß die Ubier zu Civilis Gesandte schickten bezüglich der abzuschließenden Verträge, ist nicht verwunderlich: Er war der Kopf des Aufstandes, er konnte militärisch, mit dem Schwert in der Hand, die Einhaltung der Abmachungen garantieren. Was aber konnte Veleda, die in einem Turm saß, den Blicken der Sterblichen entrückt, tun? Konnte sie bei Vertragsbruch eingreifen, vermitteln und vielleicht auch Strafen verhängen? Von den Brukterern, zu deren Stamm sie gehörte, ist nicht bekannt, daß sie eine besonders herausgehobene Rolle in Civilis’ Aufstandsbewegung gespielt hätten; Veledas Rolle findet ihre Erklärung also nicht in der politischen Rolle ihres Stammes, sondern ist allein in ihrer Person und Funktion zu suchen. Veleda, sagt Tacitus, late imperitabat.144 Wann immer Tacitus den Begriff imperitare verwendet, bezeichnet er 136

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Cass. Dio 67,5,3: M« ²  '   (« λ *  –  « !  κ O, " 9 - K 9   – ! μ« μ .   ' , λ  -« ’ , /' « $ & . So Volkmann (1975) 238; dagegen S. Tausend (2009) 166f. Es ist nicht belegbar, ob Waluburg ebenfalls eine Gesandtschaft begleitete, wie S. Tausend (2009) glaubt (s. oben S. 85 mit Anm. 114).

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Tac. hist. 4,55. Tac. hist. 4,63,1. Tac. hist. 4,64f. Tac. hist. 4,65,3. Tac. hist. 4,65,4. Tac. hist. 4,61,2.

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damit wirkliche Herrschaft.145 Da seine Beispiele bei den Germanen nicht häufig sind, kann man davon ausgehen, daß der Begriff imperitare bei Veleda bewußt gewählt wurde und deshalb auch großes Gewicht hat. Die Seherin herrschte, und zwar late, also über den Stamm hinaus, sie vermittelte bei Vertragsabschluß und garantierte diesen, wenn man auch nicht weiß, auf welche Weise. Das aber bedeutet in der Summe nicht nur religiöse Autorität, sondern – auf dieser aufbauend – auch politische Macht. Auch die Römer mußten die Autorität und Macht Veledas anerkennen und wußten um ihren Einfluß auf die aufständischen Germanen. Wie sonst wäre es zu erklären, daß der römische Feldherr Cerialis, um den Bataveraufstand endgültig zu beenden, in getrennten (geheimen) Botschaften den Batavern Frieden und dem Civilis Verzeihung anbot, Veleda und ihre Verwandten (propinqui) aber mahnte, „dem Kriegsglück durch ein Verdienst um das römische Volk eine Wendung zu geben“.146 Die Botschaft an Veleda wird als einzige der drei Nachrichten ausführlich dargelegt: Sie wird aufgefordert, Civilis keinen Unterschlupf zu gewähren – denen, die den Heimatlosen aufnähmen, sei er eine Last.147 Die von Tacitus genannte amicitia zwischen Civilis und Veleda verpflichtete also die beiden Protagonisten des Aufstandes zu wechselseitiger Hilfe; war demnach die amicitia ein förmlicher Vertrag? Wurden also vor Veleda nicht nur Verträge verhandelt, sondern schloß sie auch selbst welche? Die Römer warfen Veleda ferner vor, daß die Germanen so häufig den Rhein überschritten hätten,148 was eindeutig beweist, daß sie Veleda Befehlsgewalt über die rechtsrheinischen Germanen zuschrieben. Veleda hatte also ganz unzweifelhaft, wie die (männlichen) Könige, politische Macht über mehrere Germanenstämme. Dies offenbart sich auch darin, daß sie, wie andere führenden Köpfe des Aufstandes auch, Anspruch auf Beute hatte: Neben unbekannten Gaben wurde ihr einmal ein römischer Legionslegat namens Munius Lupercus als Geschenk zugeschickt, der jedoch leider unterwegs ermordet wurde;149 von wem er umgebracht wurde, wird nicht überliefert; man kann aber durchaus vermuten, daß die Mörder unter denen waren, die ihn Veleda überbringen sollten. Das aber läßt auf Ablehnung der Veleda und auf Opposition gegen ihre Macht schließen. Nach dem Sieg des Civilis über die römische Flotte erhielt Veleda das Befehlshaberschiff, einen Dreiruderer, gewiß ohne die 170 Mann Besatzung; das gewaltige Schiff mußte die Lippe hinaufgezogen werden.150 Die Tatsache, daß Veleda das Befehlshaberschiff bekam und nicht nur irgendeines aus der erbeuteten Flotte, unterstreicht zwar ihre herausragende Autorität in diesem Konflikt, doch waren ihre Macht und Autorität trotzdem nicht unumstritten, wie die Ermordung von Lupercus bereits vermuten läßt: Denn die Bataver wollten lieber keine germanische Frau über sich ertragen, wenn die Wahl stand zwischen römischen principes und germanischen Frauen als domini.151 Das behauptet jedenfalls Tacitus. Fürchteten die Bataver also die Herrschaft der Veleda genauso wie die des Civilis und die Cherusker die Herrschaft des Arminius? Wurde die Seherin politisch zu mächtig? Wie es Veleda am Ende erging, ist durch den Verlust der relevanten Partien von Tacitus’ Historien nicht mehr genauer aufzuklären, aber da sie in einem Gedicht von Statius als Gefangene der Römer erwähnt wird: „Ich habe keine Zeit, von den Schlachten im Norden, dem Aufstand am Rhein und den Bitten der gefangenen Veleda Kunde zu

145 Dazu z.B. Tac. ann. 12,54. 146 Tac. hist. 5,24,1f. 147 Tac. hist. 5,24,1f.: caesos Treviros, receptos Ubios, ereptam Batavis patriam; neque aliud Civilis amicitia partum quam vulnera fugas luctus.exulem eum et extorrem recpientibus oneri.

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148 Tac. hist. 5,24,2: et satis peccavisse, quod totiens Rhenum transcenderint. 149 Tac. hist. 4,61,1f.: sed Lupercus in itinere interfectus. 150 Tac. hist. 5,22,3: multa luce revecti hostes captivis navibus, praetoriam triremem flumine Lupia donum Veledae traxere; zu Trieren siehe Bockius (2007) 58–59. 151 Tac. hist. 25,2; wie oben S. 81.

geben“,152 muß sie sich wohl gegen das römische Angebot gewandt und keine Verdienste für die Römer erbracht haben.153 Augenscheinlich aber waren ihre politische Autorität und ihre Macht so groß, daß die Römer sie unmöglich in ihrer Heimat belassen konnten und sie ins Exil bringen mußten, wie jeden anderen männlichen Germanenführer, der zum Ausgangspunkt neuer Aufstandsbewegungen gegen die römische Herrschaft hätte werden können. Zur Zeit des Domitian wurde dann von dem Statthalter Spurinna den Brukterern ein König mit Waffengewalt aufgedrückt – möglicherweise der Ersatz für die aus der Herrschaft entfernte Veleda.154 Ich fasse zusammen: 1.) Die Bilateralität der Sippen bildete die gesellschaftliche Voraussetzung für die Stellung der Frauen in den germanischen gentes; sie machte die Unterdrückung der weiblichen Mitglieder der Familien unmöglich und stellte sie, ganz im Gegenteil, gleichberechtigt als sociae an die Seite der Männer. 2.) Frauen waren Teil des Gemeinwesens, was sich an der Übergabe der Waffen an Frauen, an ihrer Beteiligung an Kampfhandlungen, an der Vorhersage geeigneter Zeitpunkte für Schlachten und an der offiziellen Vertretung des Stammes als Gesandte und als Geiseln zeigt. Natürlich, das muß nicht eigens betont werden, waren Frauen dadurch, daß sie Kinder bekamen (und bekommen), stets auch stärker an das Haus gebunden als die Männer und deshalb – im gebärf ähigen Alter – immer weniger sichtbar im Öffentlichen als diese. Diese Tatsache allein beschränkt aber weder die Macht noch die Autorität von Frauen. 3.) Politische Macht und Autorität konnten Frauen durch die Religion gewinnen – die Seherinnen, vielleicht Jungfrauen, verfügten über Macht vergleichbar mit der der männlichen Mächtigen, ihre Autorität und die Verehrung, die ihnen entgegengebracht wurde, ging sogar weit über die der Männer hinaus. Es scheint, als ob im Verlauf der Völkerwanderungszeit, durch die ständigen kriegerischen Auseinandersetzungen, vielleicht auch durch die Einflüsse der römischen Gesellschaft, die Frauen mittels ihrer seherischen Gaben keine gesellschaftliche Bedeutung mehr erlangen konnten. Erst in der Zeit der christlichen Missionierung begannen die Frauen sich nun mittels einer neuen Religion ihre politische Machtposition zurückzuerobern. 4.) Thusnelda, um schließlich zu unserem Ausgangspunkt zurückzukehren, hatte zwar eine politische Meinung, bekam gleichwohl keine Macht neben Arminius – und das nicht nur, weil sie zu früh an die Römer ausgeliefert wurde. Von keiner Ehefrau germanischer Könige oder duces dieser Zeit wird – anders als von den Briten – berichtet, daß ihr Macht und Autorität durch Erbe oder Ehe verliehen worden wäre; Erwerb, Erhalt und Erweiterung von Macht und Autorität ist für die germanischen Frauen dieser Zeit nur über die Sakralsphäre möglich gewesen.

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Stat. silv. 1,4,89–90: non vacat Arctoas acies Rhenumque rebellem / captivaeque preces Veledae et …; Walser (1955) 620–621 weist auf ein 1926 in Ardea, südlich von Rom gefundenes und wieder verloren gegangenes Marmorbruchstück vom Ende des 1. Jahrhunderts n. Chr. hin, das den Namen Veleda, „die hochgewachsene Jungfrau“, enthält, mit dem sicher zu lesenden Zusatz: „die die Rheinwassertrinker verehren“; unterschiedliche Ergänzungen besagen, daß sie entweder im Tempel Putz-

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dienste verrichtet hat oder aber als Wahrsagerin tätig war; vielleicht war Veleda eine im Kultus tätige römische Staatssklavin; zu den römischen Staatssklaven Eder (1980). Eher eine Asylgewährung denn eine Gefangennahme hält S. Tausend (2009) 164 im Anschluß an Walser (1955) für wahrscheinlich, da Veleda prorömisch agiert habe; das aber kann keineswegs belegt werden. Plin. epist. 2,7,2.

UND WAS SAGT THUSNELDA?

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Christian Wendt Die Oikumene unter Roms Befehl Die Weltherrschaft als Antrieb der römischen Germanienpolitik?

Der Reiz des Gebiets Germanien erschloß sich dem Römer der Zeitenwende sicherlich nicht auf Anhieb: Reichlich vage Ideen von undurchdringlichen düsteren Wäldern voller Fabelwesen und gewaltiger Bestien, von ausgedehnten Sumpfgebieten und unwirtlichen klimatischen Verhältnissen werden nicht dazu beigetragen haben, Begehrlichkeiten nach der Inbesitznahme eines Flecken Landes in diesen nördlichen Gefilden zu wecken. Ebenso wenig wird das Verlangen groß gewesen sein, den gefürchteten, kaum berechenbaren Völkern des Nordens im Kampf gegenüberzustehen, nachdem eine direkte Gefahr für Rom seit den Siegen des Marius bei Aquae Sextiae und Vercellae (102/101 v. Chr.) gebannt schien. Dennoch unternahm Rom massive Anstrengungen, um nach anf änglichen begrenzten Vorstößen das rechtsrheinische Gebiet zumindest bis zur Elbe in Besitz zu nehmen. Die Rheinübergänge Caesars Mitte der 50er Jahre des 1. Jahrhunderts v. Chr. zeugten bereits von der Ambition des Feldherrn, sich nicht zwangsläufig mit der Eroberung des von ihm selbst als ,Gallien‘ gekennzeichneten linksrheinischen Territoriums bescheiden zu wollen und natürliche Grenzen wie etwa den Rhein oder den Ärmelkanal keinesfalls als gegebene Begrenzungen des römischen Herrschaftsanspruchs zu akzeptieren. Wie sehr derartige Aktionen auch bloßes Symbol blieben, sie wiesen den Weg für all jene, die die Leistungen des späteren Divus Iulius zu übertreffen suchten bzw. sich auf dessen Spuren bewähren mußten. Wie erklärt sich dieses Expansionsinteresse, und weshalb richtete es sich ausgerechnet auf Germanien? Diesen Fragen sollen die folgenden Ausführungen nachgehen.

1. Rom und die bewohnte Welt Im Jahr 9 n. Chr. dürfte es nur wenige Römer gegeben haben, die an der Weltreichsqualität des Imperium Romanum ernstliche Zweifel hegten, dies ganz im Sinne Vergils, der im ersten Buch seines gründungsmythischen Epos Aeneis die folgende Standortbestimmung durch Iuppiter selbst vornehmen läßt: His ego nec metas rerum nec temporum pono: imperium sine fine dedi (Verg. Aen. 1,278f.) „Ich setze diesen keine Grenzen, weder nach Orten noch nach Zeiten: Befehlsgewalt ohne Ende habe ich gegeben“

Daß Rom die stärkste Macht der Welt war, sein mußte, drängte sich angesichts der gewaltigen Erfolge bereits der klassischen römischen Republik auf, die sich nach den Punischen Kriegen und den Kämpfen im griechischen Osten als Vormacht im Mittelmeerraum etabliert hatte. Doch war mit der Vorstellung der Überlegenheit auch die Idee verbunden, dem römischen Volk sei der gesamte Weltkreis (orbis terrarum) unterworfen, wie es im Praescript des augusteischen Tatenberichts – vermutlich postum – formuliert ist?

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Rerum gestarum divi Augusti quibus orbem terrarum imperio populi Romani subiecit (R. Gest. div. Aug., pr.) „Von den Taten des göttlichen Augustus, durch die er den Erdkreis dem Befehl des römischen Volkes unterwarf“

Wohl ist davon auszugehen, daß die Vorstellung, Rom sei die Herrin der Welt, längst vor der Herrschaft des iulischen Hauses in Stadt und Reich präsent war. Zu den frühesten Zeugnissen derartigen Gedankenguts zählt das Geschichtswerk des Polybios, der als Geisel nach dem 3. Makedonischen Krieg im Jahr 167 v. Chr. nach Rom deportiert wurde und dort mit den führenden Persönlichkeiten in Kontakt stand. Zweck seiner nach dem Abschluß des 3. Punischen Krieges, also nach 146 v. Chr., endenden Ausführungen sollte es sein, zu erklären, wie Rom „in weniger als dreiundfünfzig Jahren annähernd die gesamte bewohnte Welt unter seine Herrschaft bringen konnte, ein Vorgang, der zuvor noch nie zu beobachten war.“ (Pol. 1,1,5)

Auch wenn Polybios seinen wiederholten Diagnosen der römischen Herrschaft meist die Relativierung hinzufügt, Rom herrsche über ‚annähernd‘ die gesamte bewohnte Welt,1 und so die Existenz unabhängiger, nicht direkt unterworfener Staaten konzediert, besteht doch kein Zweifel, daß er Rom als Weltreich verstand, als das größte der Geschichte gar, das von der Vorsehung (Tyche) zur Herrschaft berufen und seiner ausgezeichneten Verfassung wegen zur langen Ausübung seiner Vormachtstellung prädestiniert sei, ja, auch künftig keine Rivalen zu fürchten brauche.2 Polybios argumentiert dabei in Kategorien, die zunächst an schon in früheren Zeiten formulierte Vorstellungen der Abfolge von Weltreichen erinnern. Sicherlich nimmt er allerdings auch Strömungen auf, die spätestens nach der endgültigen Vernichtung Karthagos im Jahr 146 v. Chr. in Rom kursierten – auch wenn die von Valerius Maximus überlieferte Formel des zensorischen Gebets des jüngeren Scipio Africanus, in dem er die Macht und Ausdehnung Roms als ausreichend bezeichnet und die Götter lediglich um die Erhaltung des status quo bittet, eher Mäßigung und Bescheidenheit vermittelt.3 Bereits im Umfeld des Jahres 168 v. Chr. scheint der sogenannte Hymnos der Melinno entstanden zu sein, der die Größe und Übermacht der römischen Sieger über Griechenland besingt.4 Die römische Überlegenheit wurde demnach bereits früh von einigen auswärtigen Betrachtern durchaus als Weltherrschaft wahrgenommen. Jedoch taucht der Topos eines weltbeherrschenden Rom erst in späterem Kontext wieder auf und wird Plutarch zufolge im Jahr 133 v. Chr. von einem Römer selbst (vom Volkstribun Tiberius Gracchus) thematisiert. Über die römische Bevölkerung heißt es da:  «   « ρ    ,  ξ     « (Plut. Tiberius Gracchus 9) „Obwohl sie Herren der Welt genannt werden, haben sie doch nicht eine Scholle Landes zu eigen.“

Die Forschung geht heute davon aus, daß es sich dabei um eine anachronistische Konjektur handelt,5 angesichts des zeitlichen Abstands des Autors zum Geschehen (Plutarch schrieb über 200 Jahre nach 1 2 3

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Z.B. Pol. 1,1,5: μ   κ    . Pol. 1,2,7. Val. Max. 4,10.

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4 5

Stob. 3,7,12; s. auch Bengtson (1964) 153f.; Lieberg (1975) 72; Bowra (1957). Z.B. Welwei (2004) 122 Anm. 13.

dem berichteten Ereignis), des Fehlens von Parallelbelegen – Appian läßt Tiberius wesentlich vorsichtiger von Hoffnungen auf den Besitz der bewohnten Welt sprechen6 – sowie der stilistischen Zuspitzung des Paradoxons. Dieser Kritik ist sicher im Grundsatz zu folgen, auch wenn damit nicht auszuschließen sein kann, daß eine derartige rhetorische Figur durchaus in der Polemik einer Volksversammlung vorstellbar gewesen wäre. Ähnlich problematisch verhält es sich mit anderen Belegstellen für die frühe Auseinandersetzung mit Weltherrschaft, etwa der Überlieferung bei Livius, nach dem Tode des Romulus sei ein gewisser Proculus Iulius vor das Volk getreten und habe eine im Traum empfangene Botschaft des Romulus verkündet, in der Roms Bestimmung, caput orbis terrarum, also „Haupt des Erdkreises“ zu sein, ausgesprochen wird.7 Cicero zitiert in seinem Spätwerk De divinatione den von Accius in Verse gesetzten Traum des letzten Königs Roms, Tarquinius Superbus, in dem eine ähnliche Idee formuliert wird.8 Während Livius’ Bericht sicher als Legendenbildung anzusehen ist, ist Ciceros Passage möglicherweise zu entnehmen, daß im Jahr 136 v. Chr., als das Stück Brutus des Accius aufgeführt wurde, die römische Vormachtstellung öffentlich als gottgewollt bezeichnet worden war. Vor dem Hintergrund, daß im parallelen zeitlichen Umfeld auch das Geschichtswerk des Polybios entstand, ist ein derartiger Hinweis nicht allzu verwunderlich. Die erste zeitgenössische Erwähnung der errungenen Weltherrschaft durch einen Römer findet sich im rhetorischen Lehrwerk des anonym gebliebenen Auctor ad Herennium, um das Jahr 85 v. Chr. zu datieren. Dort heißt es: Imperium orbis terrae, cui imperio omnes gentes, reges, nationes partim vi, partim voluntate consenserunt (Rhet. Her. 4,9,13) „die Herrschaft über den Erdkreis, mit der alle Völker, Könige und Stämme einverstanden waren, teils freiwillig, teils nach Anwendung von Gewalt“

Hier ist bereits der vom Oceanus umflossene und begrenzte orbis terrarum der Parameter, an dem sich der Umfang von Herrschaft ermessen läßt. Nicht unerheblich ist, daß diese Zeilen zu einer Zeit entstanden sein dürften, als sich auch das offizielle Bild des Verhältnisses Roms zu anderen, auch nicht besiegten Völkern hin zu einer deutlichen Betonung der Suprematie Roms wandelte. Zeugnis ist hier etwa das Verhalten Sullas einem Gesandten des parthischen Großkönigs gegenüber, der Plutarch zufolge neben einem mittig thronenden Sulla gemeinsam mit dem Abgesandten des Königreichs Pontos an die Seite gedrängt Platz nehmen mußte, als er zwecks der Aufnahme diplomatischer Beziehungen in Verhandlungen mit dem römischen Statthalter der Provinz Kilikien, eben Sulla, treten sollte9 – im übrigen das erste offizielle Zusammentreffen beider Großmächte im Jahre 92 v. Chr. Der parthische Herrscher Mithridates II. war wenig erbaut über dieses deutliche Zeichen der Herabsetzung und ließ seinen Abgesandten Orobazos, der es gestattet hatte, daß die Würde des Arsakidenhauses derart geschmälert wurde, konsequenterweise hinrichten. In Rom allerdings sollen durchaus Stimmen vernehmbar gewesen sein, die die Deutlichkeit lobten, mit der man den ,Barbaren‘ gegenüber aufgetreten war.10 Cicero führte die Vorstellungen eines übermächtigen Rom auf einen neuen Höhepunkt. Zu diversen Gelegenheiten formulierte er explizit die in Rom fraglos populären Thesen, Rom sei berufen, die

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App. civ. 1,11,45: Ρ !"« « # !  )    « λ κ !κ «   « % # #!  «  

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7

Liv. 1,16,7.

18 19 10

Cic. div. 1,45: pulcherrime auguratum est rem Romanam publicam summam fore. Plut. Sulla 5. Plut. Sulla 5 berichtet allerdings von geteilten Meinungen.

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Welt zu beherrschen und habe dieses Ziel bereits erreicht. Erst in späten theoretischen Schriften changiert die Perspektive, und es zeigt sich, daß der vormals die Glorie römischer Allherrschaft beschwörende Politiker nunmehr der Ausgestaltung der römischen Macht kritischer gegenübersteht. Zunächst soll jedoch der politische Kontext der affirmativen ciceronischen Äußerungen, also der 60er und 50er Jahre des 1. vorchristlichen Jahrhunderts beleuchtet werden. Ein erheblicher, ja womöglich der entscheidende Schritt in der Entwicklung des römischen Selbstverständnisses erfolgte mit dem Aufstieg des Gnaeus Pompeius. Zunächst noch Anführer einer privaten Miliz, machte dieser als Gefolgsmann des Dictators Sulla rasch Karriere und vermochte aufgrund früher militärischer Erfolge einen dem Dictator nahezu gleichwertigen Rang in der Hierarchie des römischen Gemeinwesens einzunehmen – dies, ohne jemals die Ämterlaufbahn anzutreten, die herkömmlich den Aufstieg ambitionierter Männer bedingte. Auch nach dem Rückzug Sullas aus der Politik und dessen Tod blieb Pompeius eine feste Größe in Rom und konnte weitere militärische Erfolge verbuchen, die ihm schließlich ein in Ressourcen und Ausdehnung kaum mehr begrenztes Kommando gegen die Rom bedrohenden Seeräuber und anschließend den östlichen Erzfeind Mithridates VI. von Pontos eintrugen. Die Resultate waren erneut beeindruckend, und der heimkehrende Feldherr verbrachte viele Monate damit, seinen Triumphzug so vorzubereiten, daß er nicht allein ein glanzvolles Spektakel werden, sondern alles bisher Dagewesene in den Schatten stellen sollte. Der schließlich im September 61 v. Chr. stattfindende Triumph erstreckte sich über zwei Tage, und dennoch konnte nur ein Bruchteil der Beutestücke gezeigt werden.11 Schon früher hatte Pompeius stets versucht, als eine Art Reinkarnation Alexanders des Großen zu erscheinen – so ließ er sich Pompeius Magnus nennen, trat als Städtegründer in Erscheinung, ließ seine Feldzugsberichte mit Topoi versehen, die sie dem Alexanderzug gleichen ließen –, nun zeigte er sich in einer Chlamys (Feldherrnmantel), die vorgeblich die des legendären makedonischen Welteroberers gewesen war.12 Der Triumph wurde zudem nicht allein als sogenannter triumphus triplex über drei verschiedene Erdteile begangen und war so bereits etwas Einmaliges;13 Cassius Dio berichtet auch von einer besonderen Trophäe, die als Höhepunkt des Zuges zuletzt aufgeführt wurde und die Aufschrift trug: Ρ «   « (Cass. Dio 37,21,2) „über die bewohnte Welt“

Damit war die Weltherrschaft ein offiziell benanntes und gewissermaßen staatlich reklamiertes Faktum. Wie groß die Strahlkraft dieser Erfolge gewesen sein muß, zeigen die Anstrengungen der beiden stärksten Konkurrenten des Pompeius, die sich noch im Jahr 60 im sogenannten 1. Triumvirat mit ihm verbunden hatten. Gaius Iulius Caesar mühte sich ebenso um militärisch erworbenen Erobererglanz wie Marcus Licinius Crassus, beide mit sehr unterschiedlichem Erfolg. Während Caesar mit seiner blutigen Unterwerfung Galliens die Basis schuf, in puncto Prestige und Geldmitteln zu Pompeius aufzuschließen, ging das Heer des Crassus bei dessen so ambitionierten wie mangelhaft vorbereiteten Projekten in Parthien unter, im Jahr 53 v. Chr. bei Carrhae. Der Anspruch beider aber, in militärischer Hinsicht nicht hinter Pompeius zurückzustehen, war offensichtlich.14 11 12

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Plin. nat. 7,98; App. Mithr. 116,568; Plut. Pompeius 45; Vell. 2,40,3; Cass. Dio 37,21. App. Mithr. 117,577; Nachweise etwa bei Weippert (1972) 65ff.

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Plut. Pompeius 45. Baltrusch (2011) 61 u. 85.

Die Erhöhung Caesars nach seinen Siegen im Bürgerkrieg gegen Pompeius erreichte ein bis dato ungekanntes Ausmaß. In unserem Kontext besonders auff ällig ist die beschlossene Ehrung, auf dem Capitol eine Bronzestatue des Dictators zu errichten, die auf einer Weltkugel stehen sollte; zudem sollte im Tempel des Quirinus Caesars Statue mit der Widmung deo invicto – „dem unbesiegten Gott“ – aufgestellt werden. Christian Meier bewertet diese Beschlüsse gewohnt prägnant: „Die Ehren dokumentierten mindestens in der Darstellung Caesars als Weltherrscher, daß seine Dignitas ins Unermeßliche gestiegen war.“15 Vor dem Hintergrund der Bürgerkriege, der Lähmung des republikanischen Staates und der sich immer stärker herauskristallisierenden Alleinherrschaft sind denn auch die kritischen Würdigungen zu verstehen, die Sallust und der späte Cicero der römischen Weltherrschaft widmeten. Für Sallust ist die Weltherrschaft gleichbedeutend mit dem Wegfall einer echten äußeren Bedrohung, und er setzt diese Epochengrenze ins Jahr 146 v. Chr. Mit dem Verschwinden Karthagos und des damit inexistent gewordenen metus hostilis, der Furcht vor dem Feind, setzt Sallust zufolge die Desintegration der Nobilität ein, die sich dem Sittenverfall, der Selbstsucht und dem Parteienhader ergibt.16 Nicht der Erwerb der Weltherrschaft, sondern der verantwortungslose Umgang mit dem erreichten Zustand ist Stoßrichtung der Kritik.17 Ähnlich argumentiert Cicero, wenn er in seinem Werk De officiis Mitte der 40er Jahre feststellt, die Römer herrschten iniuste, also ungerecht, und seien vom ehemals gültigen Modell eines patrocinium orbis terrae, also einer Schutzmacht des Erdkreises, abgekommen.18 Wieviele Adressaten allerdings diesen systemkritischen und dekadenztheoretischen Ansätzen folgen wollten, wissen wir nicht – die offizielle Terminologie blieb weiterhin dem Gedanken an die Beherrschung des orbis terrarum verhaftet. Der hier vertretenen Interpretation zufolge ist die Koinzidenz zwischen immer eindeutigerer Forderung respektive Betonung der Weltherrschaft und dem Aufstieg derjenigen, die nach einer die republikanischen Maßstäbe sprengenden Machtposition strebten, kein Zufall. Die positiv besetzten, noch den Furor des eigenen Aufstiegs atmenden Passagen bei Cicero beziehen sich häufig auf Leistungen eben der herausragenden Einzelpersönlichkeiten, die für Rom den orbis terrarum gewonnen hatten. Teils ist es Absicht des Autors, sich selbst diesen an die Seite zu stellen,19 teils, deren Leistungen zu glorifizieren – die Weltherrschaft wurde also als Errungenschaft Einzelner gefeiert;20 die Legitimation der einmaligen (wenn auch nicht unangefochtenen) Stellung, die diese Politiker innehatten, beruhte nicht zuletzt auf der Garantenfunktion, die etwa von Pompeius auszugehen schien. Das folgende Zitat aus der im Jahr 66 v. Chr. gehaltenen Rede Ciceros über den Oberbefehl des Pompeius unterstreicht diese Vorstellung anschaulich: Effecit ut aliquando vere videremur omnibus gentibus ac nationibus terra marique imperare (Cic. Manil. 56) „Er [Pompeius] hat bewirkt, daß wir endlich wahrhaftig über alle Völker und Stämme zu herrschen scheinen, auf dem Festland wie auf dem Meer.“

Es scheint, als sei in diesem Bezug die Annäherung an Alexander den Großen ein erfolgreiches und politisch verwirklichtes Prinzip geworden: Die Herrschaft des römischen Volkes über die ganze be15 16

Meier (1982) 512. Sall. Iug. 41 und hist. frg. 1,11ff. M; s. auch Heldmann (1993) 110ff.; zu weiteren Tendenzen der Historiographie, sowohl im Hinblick auf Epochengrenzen als auch die Ursachen des sittlichen Verfalls s. Bringmann (1977).

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Krumbein (1985) 101. Cic. off. 2,27; 2,29: iniuste imperanti. Cic. Catil. 3,26. Cic. Balb. 64; Sest. 67; Mur. 22 noch allgemeiner: rei militaris virtus … haec orbem terrarum parere huic imperio coegit.

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Abb. 1 | Vermutlich ist hier eine für Octavian errichtete Statue abgebildet, die – ähnlich wie die vergoldete Reiterstatue auf dem Forum Romanum –21 auf einer Münzserie festgehalten wurde. Sie dürfte nach dem Sieg des Octavian gegen Sextus Pompeius bei Naulochos im Jahr 36 v. Chr. errichtet worden sein. Augenf ällig ist die Parallele zu der oben erwähnten Statue Caesars,22 die in gleicher Pose die Siege über den Erdkreis thematisiert hatte und den Sieger in übermenschliche Sphären erhob.

wohnte Erde wurde von Einzelnen errungen, vollendet und auch verkörpert, die Weltherrschaftsideologie entwickelte sich parallel mit der fortschreitenden Personalisierung römischer Politik.23 So erklärt sich auch, weshalb diese Traditionslinie bis in den Prinzipat fortgesetzt wurde. Gaius Octavius – der spätere Augustus – hatte bereits vor der Schlacht von Actium 31 v. Chr., die Octavius über seinen Konkurrenten Antonius und dessen Verbündete, angeführt von der ägyptischen Königin Kleopatra VII., siegen ließ, Münzen prägen lassen, die seine Sieghaftigkeit ebenso betonten wie seinen Anspruch auf die Weltherrschaft. Das Bauprogramm, das der Sieger in Rom selbst ins Werk setzen ließ, zeugt noch eindeutiger von der Intention, sich in die Nachfolge derer zu stellen, die Roms Weltherrschaft begründet hatten, sowie deren Stilisierung zu übernehmen. Das im Jahr 2 v. Chr. geweihte forum Augustum mit dem bereits im Umfeld der Schlacht von Philippi im Jahr 42 v. Chr. gelobten Tempel für Mars Ultor (Mars den Rächer) war der manifeste Ausdruck, wie sich auch der Prinzipat in diesem Bezug definierte.24 Was den allgemeinen prachtvollen Eindruck des Ensembles auf Augustus hin pointierte, war die vermutlich 2 n. Chr. aufgestellte, zentral positionierte Triumphalquadriga, die vom Princeps gelenkt wurde. Selbst bereits Symbol des „Allsieges“25 (der noch durch weitere Maßnahmen als Herrschermonopol verstetigt wurde), gewann sie ihre herausgehobene Bedeutung durch zwei Statuengalerien, die

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App. civ. 5,130,541f. S. S. 99. Dazu auch Wendt (2008) 108 u. 144f.; ähnlich Wirth (1994), der hingegen stark auf die Ambivalenzen im Handeln der Feldherren abhebt (etwa den Verzicht des Pompeius auf einen Partherkrieg) und ein reales Pro-

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gramm zur Erringung der Weltherrschaft bzw. zur Beherrschung der Oikumene in Rom nicht erkennen mag. Detailliert zum Forum Augustum z.B. Ganzert u. Kokkel (1988). Begriff übernommen von Alföldi (1977) 407.

Abb. 2 | Siegesgöttin Victoria auf einem Globus stehend abgebildet, die das Selbstverständnis des Adoptivsohns Caesars, der sich selbst als divi filius bezeichnen ließ, verbildlicht.

wohl in den flankierenden Säulenhallen – Details sind umstritten – das Forum einrahmten. Dargestellt waren neben den – mythischen und realen – Vorfahren des Augustus die Männer, die, so berichtet Sueton, imperium populi Romani ex minimo maximum reddidissent (Suet. Aug. 31) „die Herrschaft des römischen Volkes aus kleinsten Anf ängen zur größten Größe brachten.“

Diese summi viri (höchste Männer) qualifizierten sich folglich für die ‚Heldengalerie der Republik‘ durch ihre besonderen Verdienste um die Expansion Roms, ergo ihren Beitrag zur Erringung der Herrschaft über den orbis terrarum. Der inmitten der Anlage thronende Princeps erschien so zum einen als Teilhaber der Tradition und Nachfolger besagter summi viri, zum anderen aufgrund seiner gesonderten Stellung auch als Gipfelpunkt der republikanischen Geschichte und als Vollender der Mission, der all die Geehrten gedient hatten.26 In Bezug auf die Weltherrschaft übernahm das neue System folglich die Maximen und Werte der späten Republik und war bemüht, diese gewahrte Tradition auch für die Bürger zu verdeutlichen: Der Princeps war ein summus vir alter Prägung, ja, der primus inter pares nicht allein der aktuellen römischen Elite, sondern auch aller bislang für die römische Größe verantwortlichen Männer.27

26

Itgenshorst (2004) 456; Zanker (1997) 213ff.

27

S. Wendt (2008) 124.

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Abb. 3 | Grundriß des Forum Augustum.

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2. Der Princeps als rector orbis terrarum Der Princeps sollte aber nicht allein Feinde unterwerfen, sondern darüber hinaus dem gewonnenen Erdkreis vorstehen. Die neuartige Position des ersten Römers formuliert Velleius Paterculus mit der Bitte um gute Nachfolger für Tiberius wie folgt: Eos, quorum cervices tam fortiter sustinendo terrarum orbis imperio sufficiant, quam huius suffecisse sensimus (Vell. 2,131,2) „solche, deren Schultern ebenso stark sind, die Herrschaft über den Erdkreis zu tragen, wie wir es bei ihm erlebt haben“

Eine derartige Stellung findet ihren Niederschlag etwa in einem inschriftlich erhaltenen Dekret aus dem heutigen Pisa, das den Princeps als praeses totius orbis terrarum, als den, der dem gesamten Erdkreis vorsteht, bezeichnet.28 Ebenfalls findet sich die Terminologie des rector orbis terrarum, z. B. in einer Inschrift aus Narbo, die um 12 n. Chr. datiert wird.29 Die Fortentwicklung der Rolle des Ersten, nicht mehr allein der Erringende, sondern auch der Gestalter der Weltherrschaft und ihrer Konsequenzen zu sein, spiegelt sich in der zeitgenössischen augusteischen Dichtung, die zur Systemstabilisierung ihren Teil beitrug. Besonders markant sind folgende Verse aus den Metamorphosen des Ovid: Iuppiter arces / temperat aetherias et mundi regna triformis / terra sub Augusto est. pater est et rector uterque. (Ov. met. 15, 858ff.) „Iuppiter lenkt die Höhen des Äthers und das Reich der dreigestaltigen Welt, die Erde ist unter Augustus. Vater und Herrscher ist einer wie der andere.“

Hier wird das Modell des pater patriae auf die gesamte Welt ausgedehnt, in Teilen ist man auch an Ciceros Ideal des rector civitatis bzw. rector rerum publicarum, also eines Lenkers des Gemeinwesens,30 erinnert. Mit dieser Vorstellung geht häufig die Hoffnung auf Augustus als Friedensbringer einher, der der zerrütteten römischen Welt die Pax Augusta zum Geschenk macht und auch aus diesem Grund zum Begründer eines neuen goldenen Zeitalters, einer aurea aetas, wird.31 In diesem Kontext bleibt zu beachten, daß nicht zwangsläufig ein allgemeiner Friedenszustand postuliert wird,32 so daß das häufig bemühte Paradoxon zwischen Friedenspropaganda und Eroberungspolitik ein solches nicht ist. Der Frieden sollte allein dort gelten, wo die geordneten Verhältnisse der direkten römischprinzipalen Herrschaft genossen werden konnten, insbesondere also im von den Bürgerkriegen gebeutelten Reichsgebiet. Daß allerdings Aufgabe des Weltenlenkers auch war, den Widerständen gegen die Pax Augusta sein befriedendes Wirken entgegenzusetzen, dementsprechend fremden, bislang nur mittelbar dem römischen Befehl unterstehenden Völkern nach ihrer Niederwerfung die

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CIL XI,I 1421. CIL XII 4333. Cic. rep. 2,51 u. 5,6. Z.B. Verg. Aen. 1,291ff. u. 6,791ff.; Hor. carm. 4,2,37ff. u. 4,15,4ff.

32

Verg. Aen. 1,287: imperium Oceano, famam qui terminet astris. Hier ist nicht allein die Herrschaft des Augustus als segensbringend bezeichnet, sondern dessen Auftrag zur Expansion durch die im Konjunktiv ausgedrückte Prophezeiung formuliert.

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Abb. 4 | Die Gemma Augustea (s. auch die farbige Abbildung im Kapitelvorblatt).

Segnungen des römischen Reichspatronats angedeihen zu lassen, verstand sich für die Zeitgenossen von selbst, ja, die Expansion konnte geradezu als Bedingung der Befriedung verstanden werden.33 Die Parallele zwischen Iuppiter und Augustus in ihrer Funktion als Herrscher und Lenker der Weltengeschicke wird auch in kunsthandwerklichen Bildnissen thematisiert, die vermutlich aus Produktionen des kaiserlichen Umfelds stammen. Zwei berühmte Beispiele sind in diesem Kontext die sogenannte Gemma Augustea sowie ein Silberbecher aus einer Villa in Boscoreale, in der Nähe von Pompeji. Bei ersterer handelt es sich um einen außergewöhnlich kunstvoll angefertigten Kameo aus zweischichtigem Onyx, der zumeist in die letzten Regierungsjahre des Augustus datiert wird. Darauf ist Augustus in Iuppiter-Pose abgebildet, der, von der personifizierten Oikumene lorbeerbekränzt, seine den 33

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S. Anm. 32; Flor. epist. 2,30; Plin. nat. 3,39; Kienast (1999) 334; Baltrusch (2008) 73f.; die von Münkler (2006) 116 geäußerte Ansicht, die „Relevanz militärischer Macht“ sei mit dem „Überschreiten der augusteischen Schwelle“ erheblich zurückgegangen, ist abwegig, stellte diese doch den Kern der realen prinzipalen Gewalt dar – daher ist Münkler (113f.) ebenfalls nicht

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zuzustimmen, wenn er postuliert: „Aus dem expansiven Kraftzentrum Rom … wurde nun das Imperium Romanum als Garant der pax Romana“ – verwirrenderweise existiert dabei allerdings ein erst durch die Niederlage des Varus gebrochener imperialer „Expansionsdrang nach Nordosten“ (44).

Abb. 5 | Der Silberbecher von Boscoreale.

Sieg heimtragenden Feldherren (wohl Tiberius und Germanicus, auf dem Wagen Victoria) empf ängt, die unter seinen Auspizien den Sieg erfochten haben und ihrem Princeps nun die Siegeszeichen überbringen. Die Szene steht unter dem Symbol des Capricorns, des Geburtszeichens des Princeps, und dies verdeutlicht, in wessen neu begründeter Ära sie spielt. Daß diese eine glückliche und reiche ist, drückt Tellus/Italia, die mit einem Füllhorn angetan ist, aus, und daß diese gottgewollte Ordnung auf militärischem Wege erreicht und bestätigt wird, soll dem Betrachter anhand der Besiegten, vor deren Augen das Siegesmal errichtet wird, nahegebracht werden.34 Der Silberbecher aus Boscoreale, wohl um die gleiche Zeit gefertigt, weist in eine ähnliche Richtung und bedient sich einer deckungsgleichen Bildersprache. Der mittig thronende Augustus erhält von Venus, der angeblichen Stammutter seines Geschlechts, eine Victoria zu der Weltenkugel, die er in der rechten Hand hält. Die Sieghaftigkeit des Herrschers wird ebenso verkörpert (Mars führt Unterworfene zum Thron) wie der Wohlstand und die Ordnung, die unter seiner Ägide vorherrschen (FüllhornSymbolik).35 Die propagierte Stellung als Weltenherrscher ist, wie bereits ausgeführt, die Konsequenz der Genese des Prinzipats, die außenpolitische Erfolge als entscheidende Legitimation für den Rang des Ersten als Voraussetzung hatte.36 Nur so läßt sich die gewaltige Dynamik verstehen, die das Imperium Romanum unter Augustus im außenpolitischen Kontext entfaltete. Die Ambivalenz, daß der Erste unter den Römern bereits die gesamte bewohnte Welt zu lenken und zu regieren hatte, auf der anderen Seite allerdings dem Anspruch nachkommen mußte, den er aus der Republik und deren großen Expansionsbewegungen ererbt hatte, propagator imperii zu sein, also der den römischen Herrschaftsbereich Ausdehnende, geht aus der Verklammerung von Iuppiterrolle und militärischer Aktivität auch aus den Bildnissen hervor. Die militärische Komponente war für den Princeps ein eminent wichtiger Faktor, um 34 35

Zur Gemma Augustea s. etwa Hölscher (1988) 371ff. S. Zanker (1997) 230f.

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seine Stellung im Staat legitimieren zu können. Seine persönliche virtus mußte auch dort erworben werden, wo dies seinen berühmten Vorgängern gelungen war: im Felde. Es ist dabei interessant, wie aktiv das römische Reich nach dem Gewinn der Alleinherrschaft durch Octavian an der Ausdehnung seiner Grenzen und an der Verherrlichung des obersten Heerführers gearbeitet hatte. Nach der Provinzialisierung Ägyptens und später auch Galatiens erfolgten Vorstöße in Nordafrika und Arabien, ebenso wurden die 35 v. Chr. begonnenen Projekte in Illyrien mit Nachdruck fortgesetzt. Parallel mit den Feldzügen in Spanien, die trotz mäßiger Erfolge mit großem Pomp in Rom gefeiert wurden, begann die Eroberung des Alpenraums bereits Mitte der 20er Jahre. Neben die kriegerische Expansion trat auch die Aufnahme von Freundschaftsbeziehungen als Ausdruck der römischen Überlegenheit. Die römische amicitia wurde in eigener Darstellung gewährt, wo Fremde sie erbaten,37 und dies konnte durchaus geschehen, nachdem etwa seitens des Princeps militärischer Druck auf ein Territorium ausgeübt worden war. Somit konnten auch losere Verbindungen als die Provinzialisierung als Unterwerfung eines Gebiets gedeutet werden – entscheidend wurde das Bild des gebietenden Augustus.38 Das bekannteste Beispiel ist in diesem Zusammenhang der Vertrag mit Parthien, der im Jahr 20 v. Chr. die Rückgabe der bei Carrhae verlorenen Feldzeichen zum Inhalt hatte und die Beziehungen zwischen Rom und den Parthern und insbesondere den Status des Streitfalls Armenien friedlich regeln sollte. Augustus stellte diese Übereinkunft, die inhaltlich eine faktische Anerkennung der Souveränität Parthiens war, als ein Diktat dar, demzufolge sich der parthische Herrscher seinem Druck gebeugt und demütig um die römische Freundschaft gebeten habe.39 Mit großem Aufwand wurde das Verhandlungsergebnis auch im offiziellen Gedächtnis als Sieg des Princeps inszeniert,40 so daß der von vielen erwartete Feldzug gegen Parthien, den Caesar nicht mehr zu führen imstande gewesen war, obsolet wurde. Wesentlich war das der Öffentlichkeit präsentierte hierarchische Gef älle zwischen Augustus und Phraates IV., wie wenig dieses auch mit der realpolitischen Situation in Einklang zu bringen war41. Am Beispiel der berühmten Panzerstatue des Augustus, deren marmorne Kopie in der Villa der Livia bei Prima Porta gefunden wurde, ist zu erkennen, wie der Prinzipat das traditionell kriegerische Element mit der neuartigen Geste des Gebietens koppelte. In den politischen Kontext um die Säkularspiele in Rom 17 v. Chr. anzusiedeln, weist die Statue auf die Herrschaft Roms, von den Göttern gewünscht, von den untergebenen Völkern entweder durch freiwillige Unterwerfung angenommen bzw. aufgrund militärischer Siege diesen oktroyiert. Der göttliche Heros Augustus repräsentiert als Krieger die Gewalt Roms, der sich insbesondere die Parther im Jahr 20 v. Chr. zu beugen hatten – auch wenn es sich realiter um einen Friedensvertrag gehandelt hatte. Das Gewähren der erbetenen römischen Freundschaft (amicitia) wird, wenn auch nicht als Sinnbild militärischer virtus, so doch dem Sieg gleichwertig an die Seite gestellt.42 Das Imperium war unter Augustus also zu keinem Zeitpunkt ein außenpolitisch inaktives Gebilde, vielmehr wurden Gebietsgewinne erzielt, wie sie Rom unter einem Feldherrn noch nicht erlebt hatte. Der Princeps trieb die verschiedenen Projekte ohne längere Ruhephasen voran und betonte mit der fortschreitenden Verherrlichung einen Aspekt seiner Legitimation. 37 38 39 40

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Etwa R. Gest. div. Aug. 32: amicitiam nostram per liberorum suorum pignora petens. Wendt (2008) 175f. R. Gest. div. Aug. 29; s. dazu jetzt Wiesehöfer (2010) bes. 187f. Errichtung eines Triumphbogens: Cass. Dio 54,8,3; s. auch das carmen saeculare des Horaz, insb. 53ff.

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Zu dieser Dichotomie Bringmann (1977) 47f., der – wenn auch moderat – den „Stellenwert“ der Ideologie innerhalb der Legitimationskonstruktion des Augustus betont. Zur Prima-Porta-Statue s. Zanker (1997) 192f.

Abb. 6 | Die Panzerstatue von Prima Porta.

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Abb. 7 | Brustpanzer der Statue von Prima Porta.

Daher f ällt es schwer, mit Jochen Bleicken festzustellen: „Die Idee der Weltherrschaft aber ergab sich aus den in der Vergangenheit bereits erbrachten Leistungen, hat nicht umgekehrt Taten zur Eroberung der Welt in Gang gesetzt.“43 Im Gegenteil ist es die Wertigkeit des Weltherrschaftsgedankens innerhalb des prinzipalen Systems, die es dem Princeps fast zwingend auferlegte, expansiv tätig zu werden. Augustus war die personale Verkörperung der römischen Sieges- und Herrschaftsvorstellung; diese Rolle aktiv auszufüllen war ein entscheidender Pfeiler seiner Machtstellung,44 zumal seine Truppen auch weiterhin beschäftigt werden mußten, um als Garanten ihres Patrons präsent zu bleiben.

3. Germanien im römischen Focus Der Verlust einer Legion unter dem Statthalter Marcus Lollius im Jahr 16 v. Chr. im Kampf gegen auf linksrheinischem Gebiet marodierende Sugambrer, Tenkterer und Usipeter darf als Auslöser für die gesonderte Aufmerksamkeit des Princeps gesehen werden, die von da an dem Gebiet Germanien galt. Augustus begab sich nach Gallien, um die Situation höchstselbst zu ordnen, und blieb knapp drei Jahre vor Ort, etwa um Verwaltungsstrukturen zu schaffen. Jedoch konnte dieser Auftritt des ersten Römers

43 44

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Bleicken (1998) 567. Gruen (1996) 197; Schmitt (1997) 16f.; Isaac (1990) 416; etwas widersprüchlich Kehne (2002): 300 wird eine Welt-

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herrschaftsvorstellung als „eher ideologisch als pragmatisch“ charakterisiert, 318f. aber Germanien als materia gloriae für das Kaiserhaus erkannt.

kaum allein als Versuch der Schadensbegrenzung gelten. Das Zeichen, das Augustus in sein Herrschaftsgebiet sandte, indem er sich selbst an den Ort des Geschehens begab, ließ mehr erwarten. Die im Zusammenhang mit der Statue von Prima Porta bereits angesprochenen Säkularfeiern, die nach der Wiedergewinnung der Feldzeichen von den Parthern und der propagierten Unterwerfung des großen Gegners den Anbruch eines neuen Zeitalters offiziell sichtbar machen sollten, waren vor kurzem abgehalten worden, als eben die Nachricht des Verlusts einer Legion gegen germanische Stämme eintraf. Vor dem Hintergrund der bis hierhin ausgeführten Parallele von Weltherrschaftsideologie und der Stellung des Princeps kann es nur schwerlich überzeugen, die im Jahr 12 v. Chr. beginnenden Offensiven im römisch-germanischen Grenzgebiet ausschließlich als strategisch motivierte Präventivschläge zu verstehen, die den aggressiven, unruhigen rechtsrheinischen Stämmen Einhalt gebieten sollten. Sicher ist der Aspekt der diffusen Furcht, die in Rom angesichts der Völker aus dem Norden geherrscht haben mochte, nicht allgemein von der Hand zu weisen. Die noch von Lukan evozierten Schreckensbilder des furor Teutonicus (der teutonischen Raserei),45 die Erinnerungen an den Kelteneinfall von 387 v. Chr., an die Kämpfe gegen die Cimbern und Teutonen – insbesondere an die verheerende Niederlage bei Arausio im Jahr 105 v. Chr. mit dem Verlust von bis zu 80000 Mann46 – sind einschlägige Belege für die Vorstellungen, die man von alters her mit den Stammesbewegungen aus dem Norden verband.47 Auf der anderen Seite ist nicht auszuschließen, daß seit den Vorstößen Iulius Caesars nach Gallien und der schließlichen Unterwerfung bzw. in Einzelf ällen gar der fast vollständigen Vernichtung der dort ansässigen Stammesgemeinschaften das Movens der Furcht zumindest in Teilen relativiert worden war. Die Berichte, die Caesar über Lebensgewohnheiten der Gallier und der Germanen in Rom publik gemacht hatte, waren sicher nicht dazu angetan, sonderliches Vertrauen in eine friedliche oder gar fruchtbare Koexistenz zu erzeugen; dies war auch in keiner Weise ihre Absicht. Als geheimnisvolle Menschen mit übernatürlichen Kräften48 jedoch mußten die Völker des Nordens nicht mehr zwangsläufig erscheinen. Caesar argumentierte – etwa in seiner Darstellung des Konflikts mit Ariovist49 – durchaus noch mit der Gefahr, die selbst Rom noch drohen mochte, schritte man nicht gegen mißliebige Entwicklungen ein, er stellte jedoch ebenso dar, daß Römer ohne Zweifel in der Lage seien, eben diesen Bedrohungen im Kampf angemessen zu begegnen;50 Cicero pries bereits den Zustand der absoluten Sicherheit Roms.51 Die in die Tat umgesetzten großangelegten Operationen der Jahre seit 12 v. Chr. sind kaum auf mögliche Urängste in Rom zurückzuführen. Um von einer strafenden Reaktion auf die Lollius-Niederlage auszugehen, sind die mobilisierten Kräfte zu massiv – in den Jahren 16 bis 13 wurden 6 Legionen aus dem Hinterland am Rhein massiert, stationiert in Stützpunkten wie Xanten und Nijmegen; Kastelle wurden angelegt, ambitionierte Infrastrukturprojekte ins Werk gesetzt, ein Flottenbauprogramm aufgelegt.52 Der Focus des Imperiums war aber allein durch Augustus’ Anwesenheit auf das Grenzgebiet gerichtet worden; sollten nun hier lediglich geordnete Verhältnisse geschaffen werden, um die gehaltene Rheinlinie gegen erneute Unruhen zu verteidigen, und somit letzten Endes doch auf die germanische Bedrohung reagiert werden? Waren die Vorstöße des Drusus ab 12 v. Chr. anf änglich nur, wie Karl-Wilhelm Welwei meint, Teil eines Konzepts, „ein rechts45 46 47

Lucan. 1,255f. Liv. per. 67. Dazu grundlegend Bellen (1985); Kremer (1994) 62–68; anders Trzaska-Richter (1991) 66, die davon ausgeht, die Angst vor den wandernden Völkern habe sich erst nach Arausio konstituiert.

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Die Topik ist etwa noch bei Plutarch zu erkennen, Marius 23; Caesar muß eigener Schilderung zufolge gegen eine angebliche Überlegenheit der Germanen ankämpfen, Gall. 1,39. Caes. Gall. 1,33. Caes. Gall. 1,40. Cic. prov. 34. Kienast (1999) 360f.; Wolters (2008) 39.

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rheinisches Glacis zu schaffen und hierdurch aggressive Stämme und Gefolgschaftsverbände unter Kontrolle zu bekommen“?53 Unplausibel klingt dies zunächst nicht. Die Bedeutung Germaniens für Rom und den Princeps war allerdings vielschichtiger, als es in einer bloß militärstrategischen oder situativen Perspektive zu erörtern wäre. Caesars Vorstöße in das von ihm selbst Germania getaufte Gebiet hatten ein Tor aufgestoßen, das er selbst nicht mehr nachdrücklich zu durchschreiten vermochte54. Er hatte allerdings gezeigt, daß der Rhein nicht die natürliche Grenze des römischen Reichs sein sollte, und dieser Anspruch verknüpfte sich mit der Darlegung, daß rechtsrheinisch Stämme siedelten, die potentielle Gegner Roms waren, ja, unter Umständen gar zur Bedrohung werden konnten. Damit setzte er seinen erklärten Nachfolger unter einen gewissen Zugzwang, des großen Caesars Werk außenpolitisch zu vollenden. Ähnlich verhielt es sich mit Britannien, das nach Caesars kaum erfolgreichen Expeditionen ebenfalls der Unterwerfung harrte. Einige Hinweise zeigen uns, daß eine Britannieninvasion durchaus eine Option auf der prinzipalen Agenda war.55 Angesichts des zu erwartenden Aufwands dürfte es Augustus jedoch zupaß gekommen sein, daß es ihm gelang, die Problematik auf anderen Wegen zu lösen. Das offizielle Freundschaftsgesuch britannischer Stammesführer, das einer freiwilligen Unterordnung unter die römische Vorherrschaft gleichkam,56 erlaubte es dem Princeps, in diesem Bezug seine Eignung zum rector orbis terrarum zu unterstreichen. Germanien hingegen war ein den Römern – wenn auch nur vage – bekanntes Gebiet, das reichlich offensichtlich nicht unterworfen war und auch nicht in der Lage gewesen wäre, sich geschlossen in die römische amicitia zu begeben: Zuviele einzelne Stämme waren bereits bekannt, so daß nicht wie in Britannien Abgesandte eines oder zweier Stämme als Vertreter aller Germanen hätten gelten können. Augustus konnte sich demnach nur im Falle einer militärisch erzwungenen Kontrolle als rector orbis terrarum in Germanien behaupten, ein Aspekt, der, wie ausgeführt, essentiell für seine Legitimation war. Folglich muß das Konzept einer flächigen Eroberung oder immerhin einer Besetzung, die ausreichend war, der römischen Bevölkerung eben die Beherrschung des Gebiets Germanien zu suggerieren, spätestens seit dem Jahr 16 v. Chr., also seit der Herausforderung römischer Autorität durch einzelne germanische Stämme, ein Motiv der prinzipalen Außenpolitik gewesen sein. Die Einzelheiten römischer Militärpräsenz in Germanien sollen hier nicht näher ausgeführt werden. Dessenungeachtet ist zu betonen, daß nicht nur die ersten drei Jahre bis 9 v. Chr. eine Abfolge von Unternehmungen mit erheblichem Erfolg waren, die in der Unterwerfung verschiedener Stammesverbände ebenso zum Ausdruck kamen wie in der Anlage von vorgeschobenen Militärbasen oder der Einrichtung der ara Ubiorum zu Köln als zentraler Kultstätte und Leuchtturm der Romanisierung.57 Der ausgreifende Zug bis an die Elbe – an deren Überquerung der legendären Überlieferung zufolge Drusus von einer geheimnisvollen Frauengestalt gehindert wurde58 – bezeugt die Ambitionen, das Territorium zumindest augenscheinlich in Besitz zu nehmen. Auch die Drusus in Rom erwiesenen Ehrungen (ovatio und Triumphalinsignien 11 v. Chr.) weisen auf die Wertsetzung, die der Prinzipat mit diesen Siegesmeldungen verband. Von der Lollius-Niederlage dürfte jedenfalls in Rom kaum mehr jemand gesprochen haben.

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Welwei (2004) 128. S. dazu auch K.-P. Johne im vorliegenden Band mit anders gewichteten Schlußfolgerungen. Cass. Dio 49,38 u. 53,22,5 u. 53,25,2; Verg. ecl. 1,66 u. georg. 3,25; Hor. carm. 1,21,15 u. 1,35,29 u. 3,5,2ff.; Prop. 2,27,5; zur Stimmung in Rom Tac. Agr. 13.

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R. Gest. div. Aug. 32; Strab. 4,5,3; die genaue Datierung und die Identifizierung der Fürsten sind problembehaftet, s. allg. Hübner (1897) 866f. Tac. ann. 1,57,2; s. Kienast (1999) 250. Cass. Dio 55,1,3.

Nach dem Tod des Drusus übernahm Tiberius den Oberbefehl und nahm nach kurzer Zeit die Unterwerfung aller germanischen Stämme zwischen Rhein und Elbe entgegen; Velleius zufolge war Germanien nahezu in den Status einer tributpflichtigen Provinz geraten.59 Auch diese Erfolge, untermauert z.B. durch die Umsiedlung vieler zehntausender Sugambrer auf linksrheinisches Gebiet,60 wurden in Rom besonders gefeiert, mittels eines prachtvollen Triumphs des Tiberius sowie der Erweiterung des pomerium – dies war ein Ritual, das allein nach erfolgreicher Reichserweiterung gestattet war.61 Nach diesen Vorgängen hören wir wenig aus Germanien, etwa von der erfolgreichen Elbüberquerung durch Lucius Domitius Ahenobarbus im Vorfeld des Jahres 1 n. Chr.,62 allerdings auch von einem bald ausbrechenden Aufstand vieler Stämme, dessen Konsequenzen erst durch den aus seinem rhodischen Exil zurückgekehrten Tiberius wieder endgültig unter Kontrolle gerieten.63 Gesondert sei auf den Umstand hingewiesen, daß sich die römischen Aktivitäten seit 16 v. Chr. keinesfalls auf Germanien beschränkten. Hier seien nur die Eroberungen im Alpenraum (16/15) und in Illyrien (12–9) angeführt. Ob diese Feldzüge und Vorstöße Teil einer umfassenden Strategie waren, ist heute nicht mehr zu klären, maximal zu vermuten.64 Die Konsequenz allerdings, mit der die Territorien nördlich des Imperium Romanum gewissermaßen ‚abgearbeitet‘ wurden, ist erstaunlich. Und da den Bewegungen zumindest parallele Planungen zugrundelagen, ist davon auszugehen, daß die Außenpolitik des Reichs immerhin großräumiger orientiert war als ausschließlich an der Region Germanien und auf größere Gewinne zielte. Die Erfolgskette zieht sich bis ins Jahr 6 n. Chr. Velleius Paterculus spricht davon, daß es nichts mehr außer dem markomannischen Reich des Maroboduus zu erobern gab;65 auch dieser mögliche Unruhestifter, der über eine beachtliche Machtposition und Truppenstärke verfügte, sollte direkt niedergeworfen werden. Insgesamt 12 Legionen waren aufgeboten, um das Marbodreich in einer zweiflügligen Angriffsbewegung in die Zange zu nehmen.66 In diese Vorbereitungen hinein jedoch platzte die Nachricht einer massiven Erhebung in Pannonien, die zu einem Flächenbrand zu werden drohte. Umgehend wurden die bereits mobilisierten Truppen von ihrem ursprünglichen Einsatzziel abgezogen und ein rascher Friedensvertrag mit Maroboduus ausgehandelt. Das Reich stellte einen Großteil seiner militärischen Kraft in den Dienst der Niederschlagung des pannonischen Aufstands, eines Unternehmens, das Sueton als größte Anstrengung seit den Punischen Kriegen charakterisiert. 10 Legionen, 10000 Veteranen und viele Auxiliarkräfte – davon eine Abteilung möglicherweise von Arminius dem Cherusker geführt – mußten aufgeboten werden, um der Situation binnen drei Jahren und unter hohen Verlusten Herr zu werden.67 An eine direkte Wiederaufnahme der Pläne gegen Maroboduus war unter diesen Voraussetzungen kaum mehr zu denken. Welche genauen Ziele die Feldzüge von 12 v. Chr. an leiteten – die Meinungen bewegen sich zwischen der Sicherung von Grenzverläufen bis hin zur Realisierung eines lange geplanten Ausgriffs weit über die Elbe hinaus68 –, festzuhalten ist: Germanien fügt sich in die römische Außenpolitik unter Augustus ein und stellt zunächst keinerlei Sonderfall dar – insbesondere die Tatsache, daß die massiven 59 60 61 62 63 64

Vell. 2,97,4. Suet. Tib. 9 u. Aug. 21. Tac. ann. 12,23; Gell. 13,14,3; Cass. Dio 55,6,6. Cass. Dio 55,10a,2. Zum sog. immensum bellum s. etwa Wolters (2008) 56ff. Exponenten einer derartigen Annahme sind z.B. Kraft (1973) 190ff.; Wells (1972) 12; dagegen markant Kehne (2002) 299; zur Forschungsdiskussion siehe Deininger (2000).

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Vell. 2,108,1. Wolters (2006) 39. Vell. 2,113,1; Suet. Tib. 16. Vgl. Deininger (2000) 758ff.; Johne (2006) 109–113 mit einem ausgewogenen Forschungsüberblick und der eigenen Tendenz, nicht von einem vorgefaßten Eroberungsplan auszugehen; ders. im vorliegenden Band.

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Vorstöße unter Drusus parallel zu anderen Großprojekten geplant und ausgeführt wurden, veranschaulicht, daß Germanien eine ähnliche Aufmerksamkeit erfuhr wie der Donauraum oder zuvor das Alpenvorland. Die Lollius-Niederlage mochte der Auslöser für die konsequente Umsetzung bereits früher existenter Planungen gewesen sein, de facto wäre das Imperium Romanum zu einem früheren Zeitpunkt auch kaum in der Lage gewesen, rechtsrheinisch großräumig aktiv zu werden. Daß allerdings der Princeps in seiner Rolle als Weltherrscher herausgefordert worden war, machte eine Berichtigung des Zustands unumgänglich, die weit über Reparaturmaßnahmen hinausreichen mußte. Vor diesem Hintergrund gewinnt denn auch die Varusschlacht ihre besondere Relevanz. Der Untergang dreier Legionen, welcher Mannschaftsstärke auch immer, war solange keine bloße Episode, wie die Scharte nicht ausgewetzt war – so hatte es sich mit allen größeren Niederlagen Roms verhalten. Der Verlust an Kampfkraft bzw. der punktuelle Rückzug an die Militärbasen des Rheins waren sicherlich nicht der entscheidende Faktor für das schließliche Mißlingen der Bemühungen, Germanien dauerhaft unter römische Kontrolle zu bringen. Die einzelne Begebenheit schien schmerzhaft, aber reparabel.69 Die potenzierte Gef ährdung aber, die durch die Situation in Pannonien entstanden war, und die daher zwingend zurückgestellte Offensive gegen das Marbodreich schufen ein Klima der Stagnation, das erst die Niederlage des Varus als so schweren Rückschlag erscheinen ließ. Der Nachweis war geführt, daß auch der weltbeherrschende Princeps nicht an mehreren Fronten zugleich stetig erfolgreich sein konnte. In dieser spezifischen Situation des Jahres 9 n. Chr. liegt daher begründet, weshalb der Kern der römischen Welt getroffen worden war. Die Legitimation des Prinzipats war beschädigt worden, und dieser Prestigeverlust hätte einen inakzeptablen Zustand zur Folge gehabt. Dies erklärt, weshalb die folgenden Jahre verstärkte militärische Aktivität sahen – die Aufstockung der rheinischen Legionen auf acht, unter der Führung der ranghöchsten Offiziere, die der Princeps entsenden konnte, seinen designierten Nachfolgern Tiberius und Germanicus: Germanien hatte die ungeteilte Aufmerksamkeit des prinzipalen Rom.

4. Testamentarische Ratschläge Daß nicht unmittelbar nach der Varuskatastrophe ein großangelegter Gegenschlag erfolgte, hat dazu geführt, daß bis heute über eine mögliche Strategieänderung seitens des Princeps spekuliert wird, die in der Philosophie bestanden habe, das Gehaltene weitestmöglich abzusichern und sich mit der gegenwärtigen Ausdehnung des Reichs zu bescheiden.70 Diese Ansicht gewinnt an Substanz, sobald als Indiz für die prinzipale Resignation eine testamentarische Denkschrift des Augustus ins Feld geführt wird. Tiberius ließ die betreffenden Dokumente nach seiner Machtübernahme 14 n. Chr. vor dem Senat verlesen bzw. tat dies selbst, und folgender postumer Ratschlag war Tacitus zufolge darin zu finden: consilium coercendi intra terminos imperii (Tac. ann. 1,11,4) „der Ratschlag, sich auf die Grenzen des Reichs zu beschränken“

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In diese Richtung etwa Heuß (1998) 309; Wolters (2008) 125f.; Moosbauer (2009) 71; anders z.B. Bringmann (2007) 193.

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Cass. Dio 56,33,5; s. dazu Kienast (1999) 373ff.

Es ist, wie viele Interpreten zurecht bemerkt haben, aus diesen wenigen Worten kaum zu ermessen, welche exakte Bedeutung sie haben sollten. Ob sie sich auf alle Grenzen bzw. Begrenzungen des Imperiums bezogen, ob sie den Rhein oder die Elbe im germanischen Kontext als Grenze anvisierten, ob sie bewußt zweideutig formuliert waren – all dies ist zu spekulieren und bei allen möglichen weiteren Anhaltspunkten dennoch nie zu belegen.71 Da an mehreren Fronten des Reichs die Situation ungeklärt war und drängende Probleme der Verwaltung gelöst werden mußten, war die Aufgabe für den Nachfolger des Augustus nicht von vornherein angenehm. Dazu kam, daß Tiberius all seiner militärischen Erfolge zum Trotz wenig populär war und erst als Nachfolger designiert und adoptiert worden war, als alle weiteren Hoffnungsträger des Augustus verstorben waren. Weder mit Vertrauensvorschuß noch mit glänzender persönlicher Wirkung versehen, lag womöglich für Tiberius nichts näher, als sich zunächst durch die Weisung des göttlichen Augustus vom ärgsten Druck zu befreien, möglichst bald expansive Erfolge zu verbuchen. Auch aufgrund der noch im Vorjahr von Augustus verwandten Terminologie in seinem Tatenbericht wirkt die Wortwahl intra terminos imperii wenig authentisch – im Praescript der Res Gestae wird der orbis terrarum als unterworfen dargestellt.72 Daher bleibt die Frage, inwieweit ein solches testamentarisches consilium des Herrschers überhaupt als historisch akzeptiert werden kann. 73 Die Vermutung des Tacitus, möglicherweise sei es aus Mißgunst dem Tiberius gegenüber ergangen, 74 ist wohl eher der allgemeinen Antipathie des Autors für den zweiten Kaiser geschuldet. Für Tiberius hingegen dürfte das Testament – ob es echt war oder gut gef älscht – eine willkommene Gelegenheit gewesen sein, mangelnde Erfolge der Zukunft quasi im Vorgriff zu rechtfertigen, indem sie als Vorsicht im Sinne des großen Augustus dargestellt werden konnten. Im Verhältnis des Imperium Romanum zu Germanien veränderte sich zunächst nicht viel: Die mit Sicherheit lange vorbereiteten Feldzüge des Germanicus begannen im Jahr 14 und hatten offensichtlich nicht das Motiv, die Niederlagen und Rückzüge des Jahres 9 n. Chr. als status quo zu akzeptieren. Der Anspruch des weltbeherrschenden Rom, auch Germanien zur Botmäßigkeit zu zwingen, bestand noch nach der Varus-Niederlage. Spätere Entwicklungen der Jahre 16 und 17 n. Chr. sind von derart vielen Unklarheiten überlagert, daß sie hier unerforscht in der Schwebe belassen werden sollen.

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73

74

Dazu Ober (1982); Hänger (2001) 230–233 verwirft diesen Gedanken kategorisch und sieht den Gedanken der Raumordnung (als Gegenprinzip zur Weltherrschaft) am Wirken. Tac. ann. 1,11,4.

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CHRISTIAN WENDT

Ernst Baltrusch P. Quinctilius Varus und die bella Variana

Abb. 1 | Münzportrait des P. Quinctilius Varus (Achulla).

I ‚Varusschlacht‘? Ungewöhnlich ist es schon, im Titel unseres Jubiläums-Buches zur ‚Varusschlacht‘ nicht den siegreichen Germanen Arminius, sondern den unterlegenen Römer Varus zu verewigen,1 aber keineswegs beispiellos. Schon der berühmte Caelius-Grabstein (Abb. vor Kap. I) spricht bekanntlich vom bellum Varianum, was auch für antike Verhältnisse nicht üblich war.2 Und es gab ein zweites bellum Varianum, von einem jüdischen Text genauso benannt, nämlich in Judäa. Die Semantik dieser Verbindung – und die moderne Diskussion darüber3 – verweist nachdrücklich auf die Rolle des römischen Feldherrn in zwei Erhebungen gegen Rom, der jüdischen im Jahre 4 v. Chr. und der germanischen im Jahre 9 n. Chr. Welchen Anteil also hatte Varus an dem Aufstand, an der Niederlage, der clades Variana? Das ist die zentrale Frage, und von ihrer Beantwortung hängt viel für die Bewertung des Ereignisses ab. Varus hatte, so viel steht fest, eine verantwortungsvolle Stellung inne, auch wenn die für das Reich bedrohlichen Gefahrenherde eigentlich woanders zu liegen schienen: Immerhin unterstanden ihm drei Legionen (nämlich die legiones XVII, XVIII und XIX) zuzüglich der Hilfstruppen. Und wahrscheinlich lautete sein Auftrag nicht bloß: ‚abwarten‘. Nun ist das antike Urteil über Varus und seine Leistungen als Statthalter in Germanien vernichtend, doch stammt es durchweg aus späterer Zeit. Als erster war es der Offizier und Historiograph Velleius Paterculus, der etwa 20 Jahre später ein wenig schmei1 2

Vgl. dazu auch Wiegels (2006). Jetzt auch Timpe (2012). CIL XIII 2,2,8648: [ce]cidit bello Variano.

3

Vgl. dazu Schillinger-Häfele (1983) („Krieg der Germanen gegen Varus“) und Benario (1986) (bellum Vari).

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chelhaftes Urteil über den römischen Feldherrn Varus f ällte.4 Wenn man die Urteile von Velleius und anderen römischen Autoren über Varus bewerten will, so sind zuvörderst drei Punkte zu berücksichtigen: 1. Varus stammte als Verwandter des Augustus aus dem engsten römischen Führungszirkel; er brachte damit ein wesentliches Qualifikationsmerkmal automatisch mit. 2. Ein Großteil seiner ‚Untertanen‘ – und solche waren die Germanen in jedem Falle, ganz gleich, ob Varus eine Provinz Germanien erst noch einrichten sollte oder ob eine solche bereits eingerichtet worden war5 – erhob sich gegen ihren Statthalter, und diese Erhebung traf ihn offenkundig, darin stimmen alle Quellen überein, vollkommen unvorbereitet. 3. Varus erlitt eine katastrophale Niederlage mit dem gewaltigen Verlust der drei ihm unterstellten Legionen. Dies sind drei nicht wegzudiskutierende Tatsachen, und daran mussten sich a priori im Prinzipat, also in einer monarchischen Ordnung, die Beurteilungen ausrichten: Zu Lebzeiten des Augustus konnte es nur eine, wenn überhaupt, zurückhaltende bzw. versteckte Kritik an der Person des Varus geben. Denn die Berufung des Statthalters durch Augustus selbst entzog sich einer kritischen Bewertung, zumal dann, wenn sie den Zwängen familienpolitischer Überlegungen unterworfen war. Dass Augustus immer nur die Qualität der Bewerber zum Maßstab seiner Postenbesetzung gemacht hätte, wäre neu; Kritik an Varus hätte daher auch Kritik an der Entscheidung des Augustus bedeutet. Diese Rücksichtnahme entfiel nach dem Tode des Augustus. Jetzt konnte scharfe Kritik am römischen Feldherrn, der als Verantwortlicher zwangsläufig Fehler gemacht haben musste, geübt werden. Dass sie unter Tiberius massiv einsetzte, braucht uns daher nicht zu verwundern. In der modernen Forschung hat man sich früher gerne dem Verdikt der Quellen angeschlossen,6 heute dagegen ist das Urteil viel freundlicher.7 Dafür werden verschiedene Gründe angeführt: die bisher erfolgreiche militärische und politische Laufbahn des Varus, die bewusste Entscheidung des Augustus für ihn als Statthalter Germaniens, die (angeblich) tatkräftige Umsetzung seines Auftrages und insbesondere die ‚Leistungen‘, die Varus als Statthalter in Syrien 7/6 bis 4 v. Chr. vollbracht habe. Es geht nun im folgenden um eine erneute Sichtung der Quellen auf die Frage hin, welche Qualifikation Varus für seine germanische Aufgabe mitbrachte. In der Tat ist die Quellenlage zu Varus derart günstig, dass wir uns ein gut begründetes Urteil über seinen Charakter und sein Wirken erlauben können. Zunächst möchte ich deshalb das antike Urteil über Varus im Zusammenhang mit der clades Variana in Erinnerung rufen (II) und dann kurz die bekannten Daten seiner Laufbahn referieren (III), um schließlich auf sein Wirken in Syrien und das andere bellum Varianum in Judäa zu sprechen kommen (IV). Abschließend sollen dann diese Informationen zusammengefasst, bewertet und auf das bellum Varianum in Germanien angewandt werden (V).

4 5 6

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Zur literarischen Strategie des Velleius bei seinem Text über Varus vgl. Schmitzer (2007). Im einzelnen ist das umstritten; vgl. aber positiv Eck (2004a) u. (2004b) u. (2009). Z.B. zitieren Nuber (2009) und Salzmann (2009) einschlägige Passagen von Theodor Mommsen und Victor Gardthausen, die in ihren Verdikten Velleius Paterculus

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7

widerspiegeln; s. zu dieser Frage nun auch Cicekdagi (2012). Vgl. die vorige Anm. und dazu Speidel (2009) 96 und Anm. 48, der Varus als „militärisch erfolgreich“ in Syrien ansieht und jeden Zweifel „an seiner Erfahrung als militärischer Befehlshaber“ leugnet.

II Die Kritiker: Velleius Paterculus, Florus, Cassius Dio8 Velleius Paterculus,9 ein militärischer Fachmann, der Varus möglicherweise persönlich gekannt und seine ‚erzählstrategischen Erwägungen‘ ganz auf seinen Helden Tiberius zugeschnitten hat,10 kritisiert auff ällig scharf Herkunft (inlustri magis quam nobili ortus familia), Laufbahn (otio magis castrorum quam bellicae adsuetus militiae), seine frühere Statthalterschaft in Syrien (Syria … quam pauper divitem ingressus dives pauperem reliquit) und seinen Charakter (ingenio mitis, moribus quietus et corpore et animo immobilior; pecuniae … non contemptor). Sein Wirken in Germanien sei entsprechend fehlgeleitet und durch Defizite geprägt gewesen, denn er habe 1. f älschlicherweise die Barbaren als vernunftgeleitete menschliche Wesen eingeschätzt, 2. dort unpassend mit dem Recht gearbeitet, wo schon die Waffen versagt hätten, folglich 3. wertvolle Zeit mit Jurisdiktion wie unter zivilisierten Menschen vergeudet. Der Verschlagenheit der Germanen (versutissimi natumque mendacio genus) habe er nichts als Trägheit entgegensetzen können, denn segnitia war es, die ihn veranlasst habe, alle Warnungen vor Arminius in den Wind zu schlagen. Das Heer selbst trug keine Schuld, es sei das bestausgebildete und tapferste der gesamten römischen Armee gewesen; vielmehr sei es zerrieben worden durch eine Koalition aus Perfidie des Feindes, Ungerechtigkeit des Schicksals und – Schlaffheit (marcor) seines Feldherrn. Der bei Velleius schon spürbare Widerspruch zwischen allgemeiner Trägheit und Überaktivität des Varus bei der Romanisierung11 wird bei Florus, einem Geschichtsschreiber des 2. Jahrhunderts und Verfasser einer viel gelesenen, kurz gefassten römischen Geschichte bis auf die Zeit des Augustus, noch deutlicher.12 Für ihn scheiterte Varus an der schwierigen Aufgabe, eine bereits von Drusus mit Waffengewalt erworbene Provinz „rechtsstaatlich“ (iure) zu organisieren.13 Gewiss habe das auch an den Germanen gelegen, die römischer Lebensweise ablehnend gegenüberstanden und Krieg und Gewalt dem Recht ohnehin vorzogen, aber Varus habe die Gegensätze mit seinem ausschweifenden und grausamen Hochmut,14 gepaart mit seiner „Vertrauensseligkeit“ (fiducia pacis), die ihn planlos ins Verderben rennen ließ, noch verschärft. Es wird dabei deutlich, wie Florus die Niederlage nicht strukturell an einer falschen römischen Politik festmacht, sondern charakterlich-sittlich zu begründen versucht, ohne dabei auf Konsistenz zu achten: Die Erhebung gegen die Herrschaft muß von einem übermotivierten, grausamen Statthalter, die Niederlage aus Blindheit vor dem, was um ihn herum geschah, erfolgt sein. Cassius Dio,15 Verfasser einer griechischsprachigen Römischen Geschichte in 80 Büchern bis zu den Severern, gehörte bereits einer Zeit größerer Reichsvereinheitlichung an und konnte dementsprechend klarer die ihm bekannten Probleme bei der Einrichtung von Provinzen benennen, als es noch Velleius in der Übergangszeit möglich war. Er musste deshalb auch nicht auf die charakterlichen Schwächen rekurrieren, sondern konnte sich auf die politischen und militärischen Fehlleistungen konzentrieren. Der Bericht ist klar strukturiert und bietet eine umfassende Analyse der Vorgänge von 1. den tieferen Ursachen der Revolte,16 2. den politischen und militärischen Versäumnissen des Varus,17 3. dem

18 19 10 11

Eine abgewogene Darstellung der Quellenberichte, insbesondere des Florus, auch bei Lehmann (1990). Vell. 2,117–119. Schmitzer (2007). Ich möchte auf diesen aktuell so viel diskutierten Begriff nicht eingehen; hier ist er im traditionellen Sinne als Übertragung römischer ‚Sitten‘ auf die Untertanen gemeint.

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Flor. epit. 2,30,21–39. Flor. epit. 2,30,29: Difficilius est provincias optinere quam facere – viribus parantur, iure retinentur. Flor. epit. 2,30,30 stellt die klassische Fehler-Trias libido, superbia, saevitia zusammen. Cass. Dio 56,18,1–24,5. Cass. Dio 56,18,1–3. Cass. Dio 56,18,3–19,5.

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Schlachtverlauf18 und schließlich 4. Reaktionen und Bedeutung der Niederlage.19 Die tiefere Ursache lag in dem noch nicht durchdrungenen Herrschaftsgebiet, dessen Bevölkerung „behutsam“ an die neue Ordnung hätte herangeführt werden müssen,20 solange sie ihre „väterlichen Sitten“ noch gut erinnerte. Und in der Tat: Den allmählichen Weg in die Anpassung an das römisch bestimmte Leben „bemerkten sie kaum“.21 Aber Varus war definitiv der falsche Mann, um diesen Prozess positiv zu begleiten oder gar zu fördern: Er kam für alle deutlich erkennbar als römischer ‚Beamter‘, wollte die Germanen umgehend zu Untertanen machen,22 erlegte ihnen wie Sklaven Abgaben (chre¯mata) auf und trieb diese brutal ein. Das habe bei den Germanen den gegenteiligen Effekt gehabt, die Stammesfürsten hätten ihre alte Machtstellung zurückhaben wollen, das Volk sei unwillig geworden. Damit hätte nun Cassius Dio die Erhebung widerspruchsfreier als seine Vorgänger erklärt, nicht aber die Niederlage selbst, und auch hier kommt Dio auf die trügerische Sicherheit zu sprechen, die Varus umgeben habe, nur, dass Dio dafür nicht charakterliche Mängel, sondern die Strategie der Germanen verantwortlich macht. Sie nahmen, so Dio, Varus auf, führten seine Befehle aus, eskortierten ihn und gaben ihm so das Gefühl, daß Germanen auch ohne direkten militärischen Druck ‚dienen‘ könnten. Diese Strategie sei für die Germanen sicherer gewesen als offener Widerstand, da „(zu) viele Römer am Rhein, (zu) viele in ihrem eigenen Territorium“ stationiert waren. Dazu kommen nach Dio nun die offenkundigen militärischen Versäumnisse des römischen Statthalters: Zuvörderst habe er nicht sein Heer konzentriert, sondern es je nach den Bedürfnissen der Barbaren zersplittert. Dabei waren seine engsten Vertrauten die Hauptverschwörer, nämlich Arminius und Segimer. An sich konnte er dafür nichts, aber, und da tritt persönliche Schuld zutage, er achtete Vorwarnungen gering. So konnte auch der letzte Schritt der Aufständischen gelingen, durch eine Erhebung „weiter entfernt wohnender“ Germanen23 Varus dazu zu bringen, den Zug in das Aufstandsgebiet zu beginnen und damit ihn dem tödlichen Angriff in einer „schwer passierbaren Waldgegend“ auszuliefern. Dann berichtet Dio die Schlacht selbst und die Reaktion des Augustus auf die Niederlage, die von ihrer gewaltigen Bedeutung für die römische Armee, für die Provinzialisierung Germaniens (und Galliens), ja sogar für Italien und den gesamten Prinzipat zeugen. Dio zeigt sich bei dieser Analyse ganz als neutraler, fachkundiger Beobachter bzw. Interpret seiner Quellen. Varus trägt für ihn massive Schuld an dem Debakel, und diese Schuld war die Folge nicht charakterlicher Mängel, sondern militärischer und politischer Fehler, die einem erfahrenen Militär und pragmatischen Politiker nicht hätten passieren dürfen.24

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Cass. Dio 56,20–22: die vier Tage und schließlich die Kapitulation. Cass. Dio 56,23–24. Schön kommt diese Prozesshaftigkeit in den ImperfektFormen  ( *  zum Ausdruck – „sie waren dabei, sich anzupassen“ durch Stadtgründungen (Waldgirmes!), Märkte, Versammlungen – oder   (&   – „sie verlernten nach und nach …“. Auch hier die schöne Formulierung: #& (  "φ« $  .

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22 23 24

So ist zu verstehen: "! " .« $(% "". Dazu Tausend (1997). Vgl. dazu den sehr interessanten Beitrag von Lica (2001) über eine Bemerkung von Cassius Dio, dass den losgekauften Gefangenen der Varusschlacht das Betreten Italiens untersagt worden war. Daran arbeitet er die harte Kritik des Tiberius an Varus heraus, die ganz grundsätzlicher Art (über die Verwaltung von Provinzen, S. 500) gewesen sei.

III Publius Quinctilius Varus: Eine römische Karriere25 Varus entstammte einem patrizischen Adelsgeschlecht, das zuletzt vor mehr als 450 Jahren einen Konsul gestellt hatte.26 Er wurde wahrscheinlich 47/6 v. Chr. als Sohn des Quaestors von 49, Sextus Quinctilius Varus, geboren.27 Sicher ist, dass er 22 v. Chr. Quaestor war und in dieser Eigenschaft im Gefolge des Augustus die griechische Welt bereiste; erhaltene Ehreninschriften bezeugen seine Aktivitäten auf dieser Reise, die insgesamt drei Jahre dauerte.28 Zwischen 19 und 13 v. Chr. hat Varus wohl ein Priesteramt bekleidet,29 und auch andere Ämter sind aus Quellenhinweisen zu erschließen. So könnte Varus in den Jahren 15 und 14 an den Operationen des Tiberius (mit dem gemeinsam er ja auch später das Konsulat bekleiden sollte) sowie Drusus gegen Rätien und Vindelicien teilgenommen haben.30 Dass er hier sich militärisch und politisch weiter qualifizierte, etwa als legatus legionis XIX in den Jahren 16/15 v. Chr. und als Statthalter in Rätien 14 v. Chr.,31 ist sehr wahrscheinlich. Sicher ist er dann im Jahre 13 v. Chr. zusammen mit dem späteren Kaiser Tiberius Konsul geworden, und in dieser Eigenschaft hat er Spiele zur glücklichen Heimkehr des Augustus aus Spanien und Gallien veranstaltet.32 Man geht zu Recht davon aus, dass die Erlangung und der Verlauf dieses Konsulats zusammen mit dem Stiefsohn des Augustus eine Verbindung zum Princeps signalisiert, die Varus auch bei seiner weiteren Karriere massiv geholfen hat. Und diese Verbindung wurde durch eine Heirat noch enger: Im Jahre 12 v. Chr., als Augustus für seinen verstorbenen, eigentlich als Nachfolger vorgesehenen Schwiegersohn und Freund Agrippa die Leichenrede hielt, erscheint Varus als ‚Schwiegersohn‘ des Verstorbenen;33 die Ehefrau ist eine Tochter Agrippas entweder aus der Ehe mit Caecilia Attica oder mit Claudia Marcella maior.34 Der nächste Karriereschritt nach dem Konsulat war ein Prokonsulat in der Provinz Africa, wahrscheinlich 8/7 v. Chr. Dieses Amt, in dem er dem Crassus Frugi nachfolgte, ist uns durch verschiedene Münzen aus den Städten Hadrumetum und Achulla bekannt,35 und so gibt es authentische Bilder von Varus, die zumindest zeigen, wie er sich selbst stilisierte.36 Was er in Africa gemacht hat, wissen wir allerdings nicht.

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Vgl. dazu in erster Linie PIR VII Nr. 30, Wolters (2006) und, wegen seiner ingeniösen Vermutungen, auch Syme (1986) 313–328. Zu den Vorfahren des Varus van Wickevoort Crommelin (1999). Das Geburtsjahr ist eine Vermutung, die darauf beruht, dass Varus Quaestur und Konsulat in ‚seinem Jahr‘ erreicht hat, also in dem jeweiligen frühesten Lebensalter (mit mindestens 25 die Quaestur). Eine Inschrift von Tenos benennt ihn als Quaestor: ILS 8812 = IG XII,5 940 = OGIS 463; weitere Ehreninschriften sind in Athen, Pergamon und auf der Insel Lesbos erhalten geblieben. Wofür die Inschriften gegeben wurden, ist abgesehen von Ehrungsfloskeln („seiner gesamten Tugend wegen“) nicht mehr zu rekonstruieren; wahrscheinlich waren es finanzielle oder juristische Leistungen. Nach Syme (1986) 314f. hat Varus um die Quaestur herum seine erste Frau geheiratet, möglicherweise auch den bei Ios. ant. Iud. 18,288 genannten Sohn gezeugt. Syme (1986) 318; zu ergänzen in ILS 88. So hat ansprechend Nuber (2009) aus dem Inschriftenfund auf einem Bleianhänger in Dangstetten am Oberrhein vermutet.

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So plausibel Nuber (2009), der freilich dann spekulativ von „hervorragenden Leistungen“ und „uneingeschränktem Vertrauen“ des Augustus spricht. Vgl. auch Nuber (2008). ILS 88. Tod des Agrippa und Leichenrede des Augustus: Cass. Dio 54,28,2–4; ferner P. laudatio funebris pro Agrippa ab Augusto 12 (April): P. Köln 1,10 (gener tuus). Reinhold (1972); Syme (1986) 314. RPC 1,776 aus Hadrumetum mit der Legende P. Quintli (sic!) Vari und Bild des Statthalters; RPC 1,798 aus Achulla mit Legende P. Quinctili Vari Achulla mit Bild. Vgl. Syme (1986) 319, der auch vermutet, dass Varus hier das inschriftlich genannte Haus Villa magna Variana erstanden hat. Dazu Salzmann (2009), der auf die Dokumentation der Varus-Münzen bei Capelle (2009) verweist. Bis jetzt sind 19 Achulla-Münzen bekannt. Nur diese haben nach Salzmann ikonographischen Wert, was das Aussehen des Varus betrifft; es sei aber nicht zu sehen, wie Varus wirklich aussah, sondern wie er gesehen werden wollte. „Keinen ikonographischen Quellenwert“ misst den Münzen Zedelius (1983) 473 bei.

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Gut beglaubigt und von all seinen Aktivitäten am ausführlichsten dokumentiert ist seine Stelle als Legatus Augusti pro praetore provinciae Syriae in den Jahren 7 bis 4 v. Chr.37 Da diese Aufgabe uns gleich noch näher beschäftigen wird, mag an dieser Stelle der Hinweis genügen, dass Varus hier wie später auch in Germanien dem C. Sentius Saturninus nachfolgte. Das Aufgabenfeld des syrischen Statthalters umschloss nicht nur die Verwaltung der Provinz, sondern auch die Aufsicht über die benachbarten Klientelfürstentümer. Das größte dieser Reiche war das des Herodes, der die letzten höchst kritischen Jahre seiner langen Regierung mit Varus zusammenarbeiten musste. Als er 4 v. Chr. starb, erwuchs dem syrischen Statthalter geradezu die Rolle eines Interrex und damit eine noch größere Verantwortung für das jüdische Reich, bis der neue König von Augustus bestätigt wurde. Wahrscheinlich hat Varus im Jahre 4 v. Chr. seine dritte Ehe geschlossen und damit die Nähe zu Augustus weiter vertieft:38 Er heiratete Claudia Pulchra, die Tochter einer Nichte des Kaisers, deren viel später (im Jahre 26 n. Chr.) erfolgte Anklage nach der Auffassung der modernen Forschung wohl die Varus-kritische Diskussion eingeleitet hat. Das nächste, das wir von Varus hören, ist dann erst wieder die Statthalterschaft in der provincia paene stipendiaria Germanien39 in den Jahren 6 oder 7 bis 9 n. Chr., die sein Leben im 56. Jahr beenden sollte.40 Angesichts dieser Laufbahn ist das Urteil von Adrian Thurdoch gerechtfertigt: Until the Battle of Teutoburg Forest, he had barely put a foot wrong and had steadily climbed almost to the pinnacle of Roman life.41 Die Karriere ist in jedem Falle kontinuierlich fortgeschritten, und sie wurde durch die erkennbare Unterstützung des Kaisers vorangetrieben. So erklärt sich, dass Varus in Provinzen mit bedeutender militärischer Besetzung geschickt wurde. Gewiss ist er also nicht unerfahren gewesen, weder in politischer noch in militärischer Hinsicht. Aber qualifizierte ihn mehr als seine Verwandtschaft zu Augustus? Dieser Frage können wir nur nachgehen anhand seines Wirkens in Syrien.

IV Varus in Syrien 7 bis 4 v. Chr. Die Hauptquelle für das Wirken des Varus in Syrien ist der jüdische Historiker Flavius Josephus (37 bis nach 100 n. Chr.), dessen Geschichtsauffassung für die Beurteilung des Varus nicht unerheblich ist. Konkret sind von dem Statthalter Syriens zwei Eingriffe in das jüdische Nachbarreich überliefert: 1. beim Prozess des Herodes gegen seinen eigenen Sohn Antipater,42 und 2. anlässlich der Verwicklungen und gewaltsamen Ausbrüche, die auf den Tod des Herodes im Jahre 4 v. Chr. folgten und die ein regelrechtes bellum Varianum nach sich zogen.43 Zu den Aufgaben, die Varus zu Beginn seiner Statthalterschaft mit übernommen hatte, gehörte es auch, die Verbindung mit Jerusalem und seinem König zu pflegen, notfalls zu helfen oder einzugreifen, auch zu kontrollieren und die Zentrale über Entwicklungen zu informieren. Solange Herodes lebte, war die Aufgabe lösbar; denn der König repräsentierte lange Zeit für Rom den ‚idealen‘ Herrscher, auf dessen Loyalität sich der Princeps immer verlassen konnte.44 Allerdings blieb das nicht so. Denn die Verhältnisse in dem Klientelreich des Herodes und 37

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Die zahlreichen Belege findet man PIR VII 1 S. 22. Auch von dieser Statthalterschaft zeugen Münzen, diesmal aus Antiochia und der römischen Kolonie Berytos; dazu Lichtenberger (2009). Die Münzen enthalten keine Varus-Abbildungen. Syme (1986) 315. So Vell. 2,97,4.

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Cass. Dio 56,18,3; Vell. 2,117,2; Tac. ann. 1,58,2. Thurdoch (2006) 50. Ios. ant. Iud. 17,89–133 und bell. Iud. 1,617–640. Ios. ant. Iud. 17,206–303 und bell. Iud. 2,1–83. Die enge Bindung des Königs an Rom ist eine communis opinio der Herodes-Forschung; die Biographie von Richardson (1996) trägt dies wie andere Arbeiten sogar im Titel; s. dazu jetzt Baltrusch (2012) Kap. 2.

seinem Kerngebiet Judäa hatten sich seit 12 v. Chr., dem Todesjahr Agrippas, allmählich verschlechtert. Der inzwischen über 60-jährige König, konfrontiert mit massiver Opposition unter seinen jüdischen Untertanen, aber auch innerhalb seiner eigenen Familie, verlor zunehmend die Kontrolle. Er hatte nach wie vor die Stellung eines „Freundes und Verbündeten des Römischen Volkes“ inne, aber auch die römische Zentrale nahm missmutig zur Kenntnis, dass der früher so erfolgreiche König seiner Aufgabe, für Ruhe und Ordnung zu sorgen, nicht mehr in vollem Umfange gerecht wurde. Nicht einmal seine Familie, insbesondere seine Söhne, hatte Herodes im Griff, erst recht nicht die religiöse Opposition im Judentum, die ihm nicht nur vorwarf, die jüdischen Gesetze zu verletzen, sondern darüber hinaus die finanzielle Auspressung der jüdischen Untertanen und Bevorzugung der nichtjüdischen Teile seines Reiches. Es brodelte, wenn sich auch gewaltsame Aktionen vorerst nur vorsichtig und auch erst, als Herodes bereits erkrankt war, zeigten.45 Aber zum umfassenden Ausbruch kam es erst nach dem Tode des Herrschers, so dass sich Varus zu Anfang auf seine Rolle als Beobachter zurücknehmen konnte. Zur Tätigkeit des Varus liegen uns, wie schon erwähnt, zwei ausführliche Berichte des Flavius Josephus vor, der eine im Bellum Iudaicum wurde in den 70er Jahren des 1. Jahrhunderts n. Chr. verfasst, der andere etwa 20 Jahre später in den Antiquitates Iudaicae. Für den Blick, den diese Werke auf Varus freigeben, sind einige wenige Vorbemerkungen notwendig. Flavius Josephus entstammte einer jüdischen Priesterfamilie, die sich ihrer Verwandtschaft mit dem hasmonäischen Geschlecht rühmte, und war im Verlaufe des Jüdischen Krieges gegen Rom (66–70 n. Chr.) auf die römische Seite übergewechselt, hatte im Stab des Titus die Zerstörung des Tempels mitansehen müssen und wurde nach Beendigung des Krieges freigelassen (daher der Gentilname Flavius) und von der flavischen Kaiserfamilie finanziell in die Lage versetzt, seinen schriftstellerischen Ambitionen nachzugehen. Diese richtete Josephus ganz nach seinem großen ‚Lebensprojekt‘ aus, die Aussöhnung seiner beiden Identitäten, der jüdischen und der römischen, zu betreiben. Für das Zerwürfnis zwischen Juden und Rom, für Antijudaismus, für Aufstände waren weder ‚Römer‘ noch ‚Juden‘, weder der Kaiser mit seinem Stab noch die Priesterschaft in Judäa, sondern einzelne unf ähige, niedere römische Beamte und jüdische Terroristen („Räuber“ nennt sie Josephus immer wieder) verantwortlich. Deshalb waren für ihn z.B. die ritterständischen Prokuratoren und Präfekten schuld an den Verwerfungen, die zum Jüdischen Krieg führten,46 nicht aber der Kaiser und seine hochrangigen Statthalter. Diese Tendenz ist auch in den Berichten zu Varus erkennbar – Varus selbst wird an keiner Stelle offen kritisiert, obwohl es zu blutigen Gewaltexzessen unter seinem Regiment kam, wohl aber sein Prokurator Sabinus. In dieser Linie liegt auch, dass Josephus nichts von der clades Variana im fernen Germanien erwähnt, obwohl er vermutungsweise angesichts seiner sonst demonstrierten guten Kenntnisse über das Imperium Romanum davon wusste.47 Für den modernen Historiker hat das zweifellos den Vorteil, dass er sich ganz unbeeinflusst an den beschriebenen Handlungen in ihren Zusammenhängen, nicht an Wertungen des Autors orientieren muss. Im folgenden geht es um die Politik des Varus bei seinen beiden Aktivitäten in Judäa, von denen Josephus berichtet:

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Z.B. die ‚Adler-Aff äre‘: Ios. ant. Iud. 17,146–167 und bell. Iud. 1,647–655. Stein des Anstoßes war ein goldener Adler am großen Tempeltor, den die noch jugendlichen Judas und Matthias bei hellichtem Tage abschlugen. Die Angelegenheit kann mit großen Schwierigkeiten beruhigt werden, sie wird aber später wiederaufflammen und Varus einbeziehen.

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Vgl. Baltrusch (1998) 215f. Deshalb ist die These von Eshel (2008) 113 verfehlt, dass Josephus, hätte er davon gewusst, diese Niederlage angeführt hätte as a proof of divine retribution for Varus because of his actions in Judaea in 4 BCE.

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a) Bei dem in Jerusalem stattfindenden Prozess gegen den Herodes-Sohn Antipater greift Varus zum ersten Mal für uns erkennbar ein.48 Antipater wurde ein Mordkomplott gegen seinen Vater zur Last gelegt,49 in das die engste Verwandtschaft des Herodes verstrickt war und das bis nach Rom ausstrahlte. Die Einzelheiten können hier auf sich beruhen; gewiss aber gehörte es zu den Pflichten des Varus, in dieser prekären, die politischen Verhältnisse in Jerusalem nahezu lähmenden Angelegenheit darüber zu wachen, daß das römische Interesse an geordneten Verhältnissen nicht unkalkulierbaren Familienkonflikten geopfert würde. Der Bericht des Josephus, in den Antiquitates teilweise überlieferungsgeschichtlich entstellt, zielt eher auf die Figur des Antipater als auf Varus. Den Ablauf kann man wie folgt rekonstruieren: Herodes bittet den ‚zuf ällig‘ in Jerusalem weilenden Varus, an dem Verfahren teilzunehmen; dem Angeklagten Antipater wird ein Tag zur Vorbereitung der Verteidigung eingeräumt. Der eingesetzte Gerichtshof in dieser Angelegenheit besteht aus einem gemeinschaftlichen Vorsitz von Varus und Herodes sowie Verwandten und Freunden des Königs und seiner Schwester Salome, vielleicht auch Antipaters.50 Dazu kommen Ankläger und Zeugen. Den Prozessauftakt macht Herodes mit einer Anklagerede gegen Antipater voller Hass und Kränkung, die er an Varus gerichtet hält.51 Dann hat die Verteidigung das Wort: Antipaters Rede ist dramatisch gestaltet, und sie richtet sich zum einen an seinen Vater, zum anderen an den Römer Varus. Inhaltlich hebt sie darauf ab, dass seine Verurteilung durch das Gericht im Grunde antirömisch wäre, da ja Augustus selbst ihn während seines Aufenthaltes in Rom nicht verurteilt habe und ihn gar „Philopator“ genannt habe.52 Das zielt auf Varus, der sich nach Josephus in der Tat beeindruckt zeigt. Es ist nun die Aufgabe des von Herodes bestimmten Hauptanklägers, Nikolaus von Damaskus, diesen geschickten Schachzug gegen Antipater selbst zu wenden.53 Der Titel „Philopator“ komme, so Nikolaus, Antipater nicht zu, ansonsten richtet sich die Rede aber vornehmlich an Varus, der wie mit Attributen einer Ehreninschrift immer wieder angesprochen wird. Das Schlussplädoyer des Antipater besteht in einer Anrufung der Götter als Zeugen seiner Unschuld; ferner lässt Varus noch das aufgefundene, angeblich für Herodes bestimmte Gift an einem zum Tode Verurteilten erfolgreich ausprobieren, führt geheime Unterredungen mit Herodes und macht sich dann aus dem Staub nach Antiochia, seinem Amtssitz.54 Daraufhin wird Antipater ‚verhaftet‘. Es wird also kein regelrechtes Urteil gesprochen, deshalb spekulieren die Teilnehmer des Verfahrens, was denn in der geheimen Unterredung zwischen Herodes und Varus vereinbart worden sei. Es geht die Vermutung, dass Varus das Vorgehen des Herodes gebilligt habe. Schließlich wird darüber auch der Kaiser informiert.55 Dieser Prozessbericht ist sicher insgesamt fragwürdig. Aber was die Rolle des Varus angeht, so lässt sich folgendes sagen: 1. Varus greift kaum ein – weder scheint er die Initiative zum Prozess ergriffen zu haben, noch äußert er sich, noch wird ein Urteil gef ällt. Die ‚geheime Absprache‘ mit Herodes und die sich daran anschließende Verhaftung des Herodes-Sohnes weist darauf hin, dass Varus in allem dem Wunsch des Herodes entsprach. Varus präsidierte einem von Herodes inszenierten Schauprozess, der die enge Verbundenheit des Königs mit Rom verdeutlichen sollte. 2. Varus reist am nächsten Tag ab,56 48 49 50 51

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Ios. ant. Iud. 17,89–133; bell. Iud. 1,617–640. Dazu und zu der Erzählstrategie des Josephus bei diesem Fall vgl. Günther (2005) 166ff. So jedenfalls bell. Iud. 1,620f., aber nicht nach ant. Iud. 17,93. Bell. Iud. 1,622–628 ist ausführlicher; dreimal spricht Herodes Varus direkt an und fordert ihn auf, den Sohn als „verdorben“ abzurteilen; in verkürzter und indirekter Form bei ant. Iud. 17,94–98.

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Bell. Iud. 1,629–636 gibt die Rede wörtlich wieder; ant. Iud. 17,99–105. Bell. Iud. 1,637f. ist diesmal indirekt gehalten, ant. Iud. 17,107–126 wörtlich. Bell. Iud. 1,639f. und ant. Iud. 17,131f. Ant. Iud. 17,133. Bell. Iud. 1,640:   π  und ant. Iud. 17,132: 9  01«.

d.h. er sieht seine Aufgabe in der Unterstützung des Herodes als beendet an und überlässt alles weitere dem jüdischen Klientelkönig. Das war gewiss Absicht, denn es sollte wohl der Eindruck unbedingten Vertrauens erweckt werden, nämlich dass Herodes alles im Einvernehmen mit Varus unternahm, ohne dass sich die Vormacht zu sehr als bestimmend präsentierte. Die Verhältnisse waren freilich komplizierter, die Spannungen gingen durch alle Gruppen der Gesellschaft; die Nibelungentreue des Varus war, wie sich später zeigen sollte, durchaus fehl am Platze. b) Das zweite Eingreifen des Varus hatte noch weit gewichtigere Dimensionen,57 denn jetzt musste ein politisches Vakuum gefüllt werden, das mit dem Tod des Herodes 4 v. Chr. urplötzlich entstanden war. Jetzt brachen die alten Wunden, die der Prozess bestenfalls oberflächlich gepflastert hatte, wieder auf, und neue kamen dazu. Den Zeitrahmen bilden die jüdischen Feste Pessach und das Wochenfest (‚Pfingsten‘) des Jahres 4, also die Monate April und Mai. An sich gab es ja ein Testament des Verstorbenen, in dem Herodes seinen Sohn Archelaos zum Nachfolger bestimmt hatte, aber dieses Testament wurde in der Familie selbst angefochten, so dass um die frei gewordene Stellung weitere Söhne wie Herodes Antipas und Philipp rivalisierten. Viele Juden wollten überhaupt keinen Nachfolger, sondern wünschten sich vielmehr eine römische Provinz Judäa, unter deren Dach sie autonom und nach ihren väterlichen Gesetzen zu leben hofften. Dazu kamen die Begehrlichkeiten benachbarter Kleinreiche, denen schon lange Herodes und sein Reich zu mächtig geworden waren. Aber bevor es überhaupt zu Debatten über die neue Ordnung kam, machte sich erst einmal die ungeheure Wut über die herodianische Politik der letzten Jahre Luft. Das alles waren Entwicklungen, die Rom nicht gleichgültig lassen konnten, im Gegenteil: Da seit der Neuordnung des Pompeius in den späten 60er Jahren und spätestens seit Augustus58 die abhängigen Fürstentümer als amici et socii zum Imperium Romanum gehörten, mussten die Verhältnisse dort immer von römischen Beamten bewacht werden. Diese Beamten konnten nach Lage der Dinge nur die Provinzstatthalter sein, und so war Varus qua Amt für die Ordnung in Judäa zuständig. Diese Zuständigkeit muss betont werden, wenn wir uns jetzt den Ereignissen des Jahres 4 v. Chr. zuwenden. Das Drama nahm im Grunde mit der Hinrichtung Antipaters seinen Anfang, denn gleichzeitig änderte Herodes sein Testament (nachdem er noch im Herbst 5 v. Chr. Herodes Antipas zum Nachfolger vorgesehen hatte) und setzte nun Archelaos als seinen direkten Nachfolger, Herodes Antipas aber ‚nur‘ als Tetrarchen über Galiläa und Peräa und einen weiteren Sohn Philipp zum Herrn über die Gebiete Gaulanitis, Trachonitis, Batanäa und Panias ein.59 Dann ereilte ihn 5 Tage später im März/April 4 v. Chr. der Tod. Von da an wurde die Situation zunehmend unübersichtlich, obwohl sich Archelaos um Ordnung bemühte; in erster Linie musste es ihm darum gehen, die Bestätigung des Testaments aus Rom zu erhalten. Bereits zuvor war es der Schwester des Herodes gelungen, das Militär auf Archelaos einzuschwören, und als Herodes zu Grabe getragen wurde und Archelaos vor dem Volk die Trauerrede hielt, wurde dieser zwar schon mit Forderungen nach Steuer- und Zollerleichterungen sowie einer Gefangenenamnestie konfrontiert, doch konnte die Situation noch mit dem Verweis auf wohlwollende Prüfung der Forderungen in der Zeit nach dem notwendigen Rombesuch beschwichtigt werden; von einer Anwesenheit des syrischen Statthalters Varus bei der Trauerfeier ist bei Josephus keine Rede.60 Doch dann spitzte sich die Lage zu. Neue Forderungen wurden immer lauter erhoben; jetzt ging es um Rache an den Günstlingen des Herodes, und die Absetzung des Hohepriesters wurde ultimativ gefordert.61 57 58 59

Ant. Iud. 17,206–303; bell. Iud. 2,1–83. Suet. Aug. 48. Ios. bell. Iud. 1,664; ant. Iud. 17,188. Zum Testament und den damit verbundenen Fragen vgl. Günther (2005) 182–187 und Baltrusch (2012).

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Ios. bell. Iud. 1,666–673; 2,1–4; ant. Iud. 17,193–205. Ios. bell. Iud. 2,5–8; Ios. ant. Iud. 17,206–209.

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Das klang bedrohlich, so dass Archelaos nun Vermittler schicken musste, die aber nichts ausrichteten. Als Jerusalem am Pessach-Fest von Juden aus aller Welt angefüllt war, eskalierte die Szenerie. Die Aufwiegler, so Josephus, inszenierten eine aggressive Trauer um die von Herodes kurz vor seinem Tode bestraften Frommen, so dass Archelaos in seiner Situation keine Möglichkeit des Ausgleichs mehr sah und das Problem mit Gewalt zu lösen versuchte; 3000 Tote gab es bei dem Gemetzel. Archelaos zog sich derweil für die Romreisevorbereitungen nach Caesarea zurück.62 Josephus lässt keinen Zweifel daran, dass die Eskalation in Jerusalem zum Kernargument gegen das Königtum des Archelaos gemacht werden würde, und dies nicht etwa wegen der Gewalt, sondern wegen der voreiligen Anmaßung der Königsmacht vor der Bestätigung durch Rom. Dieser Umstand war auch Varus bekannt, als er sich in Caesarea auf „dringende Bitten“ des Archelaos noch vor dessen Abreise einfand. Varus’ Hilfe wurde gegen den kaiserlichen Epitropos, d.h. Prokurator Sabinus benötigt. Dieser ritterständische Beamte hatte sich, so ist zu vermuten,63 um die finanziellen Interessen des Kaisers in Syrien und im Reich des Herodes zu kümmern. Er gehörte möglicherweise zum Stab des Varus, nahm sich aber offenkundig eine gewisse Selbständigkeit heraus, die sich aus seiner kaiserlichen Zuordnung herleitete.64 Für Josephus ist dieser Sabinus verantwortlich für die nun folgenden dramatischen Entwicklungen. Zunächst wollte er gegen den erbitterten Widerstand der Herodianer die festen Plätze und die Schätze des Herodes beschlagnahmen, bis eine kaiserliche Entscheidung gef ällt sein würde; das war angesichts der innerherodianischen Turbulenzen eine durchaus sinnvolle Sicherungsmaßnahme, mit der verhindert werden konnte, dass die Gelder, Besitzungen und militärischen Standorte in falsche Hände gerieten. Varus übte zunächst Druck auf den Prokurator aus, nichts zu unternehmen, und er tat dies auf drängendes Bitten des Archelaos, griff also eindeutig der kaiserlichen Entscheidung vor. Doch als Varus sofort danach wieder abzog – übrigens ohne offenkundig das kurz zuvor angerichtete Blutbad untersuchen zu lassen, wie es wohl seine Aufgabe gewesen wäre –, bemühte sich Sabinus, ganz vorschriftsmäßig, wenigstens darum, eine Aufstellung der militärischen und finanziellen Ressourcen des Reiches zu erhalten, wurde dabei aber vor Ort mit dem Widerstand der jüdischen Festungskommandanten, die sich – ebenfalls voreilig und damit rechtswidrig – allein an neue Anweisungen des Archelaos gebunden fühlten, konfrontiert.65 Hätte sich Varus hinter seinen Prokurator gestellt, wäre womöglich die folgende Eskalation ausgeblieben. Er unterstützte jedoch lieber den für ihn rechtmäßigen König, ohne dass wir erkennen können, dass er sich über die Verhältnisse ein Bild gemacht hätte; er machte es sich bequemer. Wie verworren tatsächlich die Verhältnisse in Jerusalem waren, konnte dem kaiserlichen Gericht in Rom nicht verborgen bleiben;66 die Debatten der Herodianer, die Briefe des Antipas sowie der Römer Sabinus und Varus aus Nahost, die Gesandtschaften, die Reden vor dem Kaiser, wie sie Josephus uns präsentiert, geben hinlänglich Auskunft darüber.67 Es waren mindestens vier Parteien nach Rom gereist:

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Ios. bell. Iud. 2,10–14; ant. Iud. 17,213–219. Zum Amt des Prokurators und seiner Flexibilität vor den Reformen des Kaisers Claudius vgl. Barrett (2009) 293. Im ersten Buch seiner Abhandlung über den Prokonsul hat Ulpian diese Selbständigkeit des kaiserlichen Prokurators ausdrücklich festgestellt: Sane si fiscalis pecuniaria causa sit, quae ad procuratorem principis respicit, melius fecerit (sc. proconsul), si abstineat: Dig. 1,16,9 pr.

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So ist die Sachlage bei Ios. bell. Iud. 2,18f. und ant. Iud. 17,222f. Sabinus geht ganz vorschriftsmäßig vor, während Varus sich voreilig an Archelaos anschließt. Ios. bell. Iud. 2,25 gebraucht den Begriff Synhedrion, zu dem der Kaiser ¹ #   23' 5 geladen hat, z.B. auch seinen Adoptivsohn und Enkel Gaius, ferner weitere ‚Freunde‘. Daraus geht zweifellos die Bedeutung hervor, die Augustus der Angelegenheit beimaß. Die Ereignisse und Reden in Rom werden ausführlich präsentiert bei Ios. bell. Iud. 2,20–38; ant. Iud. 17,224–249.

1. Archelaos mit seiner Mutter Malthake, zu deren engsten Beratern Nikolaus von Damaskus, der alte Freund seines Vaters, gehörte. Sie wollten die Bestätigung des letzten Testamentes des Herodes, das nach der Hinrichtung Antipaters verfasst worden war und eindeutig Archelaos zum Nachfolger bestimmt hatte. 2. Herodes Antipas, sein Bruder. Er war derjenige, der durch die letzte Testamentsänderung von Herodes entmachtet worden war. Ihn unterstützten in Rom auch Salome, die Schwester des Herodes, ferner Ptolemaios, der Bruder des Nikolaus von Damaskus, und Eirenaios, ein herausragender Anwalt und Redner. Offenbar gingen erst während des Verfahrens in Rom viele Verwandte des Herodes zu Antipas über, nicht „weil sie ihm wohlgesinnt waren, sondern aus Feindschaft gegen Archelaos“.68 Viele sahen in ihm das kleinere Übel. 3. Philipp, ebenfalls ein Sohn des Herodes. Offiziell war er, wie zunächst auch die übrigen Verwandten, zur Unterstützung des Archelaos nach Rom gereist; doch vertrat er auf „Anstachelung des Varus“69 auch eigene Ziele. 4. Die Gesandtschaft der Fünfzig, die ebenfalls von Varus genehmigt wurde. Ihr Ziel war es vor allem, die verhassten Herodianer zu entmachten und Judäa direkter römischer Herrschaft zu unterstellen; damit, so meinten sie, lasse sich leichter die angestrebte Autonomie erreichen.70 Vor allem die große Diaspora-Gemeinde in Rom unterstützte diese Partei. 5. Höchstwahrscheinlich gab es darüber hinaus auch eine Gesandtschaft bzw. Gesandtschaften aus griechischen Poleis, die zum Reich des Herodes gehörten. Sie wollten die Autonomie bzw. die Zuordnung zur Provinz Syrien, die sie letzten Endes auch bekamen.71 Diese verworrene Situation machte die Entscheidungsfindung in Rom schwer: Augustus war dem Archelaos zugeneigt, weil er der von Herodes eingesetzte Nachfolger war; das sensible Prinzipatsgefüge musste alles vermeiden, was nach Willkür aussah. Die schwerwiegenden Argumente, die die Partei des Herodes Antipas vorgebracht hatte, nämlich dass Archelaos bereits die Königsherrschaft usurpiert und gewaltsam ausgeübt habe, stellte der Kaiser zurück. Der Prokurator war – nach dem, was er erlebt hatte, ganz folgerichtig – ein scharfer Kritiker des Archelaos,72 weil er sich den kaiserlichen Anordnungen in Judäa bei der Beschlagnahme der herodianischen Festungen und Finanzen widersetzt hatte; er setzte sich also für Herodes Antipas als geeigneten Nachfolger des Herodes ein. Und der Statthalter Syriens, auf dessen Einsichten und Kenntnisse sich das ferne Rom in erster Linie hätte stützen müssen? Varus legte sich nicht fest. Er schickte mehrere Briefe an Augustus, über deren Inhalt wir nichts wissen. Aber von den insgesamt vier oder fünf Gruppen, die sich um eine Regelung in Rom bemühten, hatte er drei sicher mit seiner Unterstützung ausgestattet,73 die griechische dürfte ebenfalls nicht ohne seine Billigung gereist sein; nur Herodes Antipas, den sein Prokurator präferierte, schien von ihm abgelehnt zu werden. Da nun ausgerechnet Sabinus für Herodes Antipas votierte, sich seinem Kaiser persönlich verantwortlich fühlte und ebenfalls Briefe nach Rom über die Verhältnisse sandte, es also keinerlei Abstimmung der beiden römischen ‚Experten‘ gab, konnte Augustus beim besten Willen keine klaren römischen Antworten aus Nahost erhalten. Die Gründe für Varus, Archelaos, Philipp, die Gesandtschaft der Fünfzig und vielleicht die Griechen zu unterstützen, werden von Josephus nicht genau benannt, und

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Ios. ant. Iud. 17,227. Ios. ant. Iud. 17,303; weniger scharf bell. Iud. 2,83. Ios. ant. Iud. 17,300; bell. Iud. 2,82. Die Quellen bei Smallwood (1976) 108 Anm. 16. Es handelte sich um Städte, die Octavian 30 v. Chr. dem Hero-

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des zugeschlagen hatte: Gadara und Hippos von der Dekapolis sowie Gaza. Ios. bell. Iud. 2,23; ant. Iud.17,227: „Brieflich klagte auch Sabinus beim Kaiser den Archelaos an“. Vgl. auch Richardson (1996) 27.

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sie mochten durchaus politisch motiviert gewesen sein; aber eine feste Präferenz für eine Lösung – mehr war definitiv nicht möglich – ist seinem Handeln nicht zu entnehmen. Die gut überlegte Entscheidung des Augustus fiel, angesichts einer derartig verwickelten Situation, erst spät, doch sie fiel nicht überraschend aus:74 Das Testament des Herodes wurde mit Modifikationen angenommen und bestätigt; Archelaos blieb, allerdings zunächst ohne Königstitel und mit weitreichenden Gebietsverlusten, der ranghöchste Nachfolger des Herodes.75 Bevor es aber dazu kam, hatte Varus vor Ort mit gravierenden Problemen zu kämpfen. Die Ereignisse in Judäa spielten sich zeitgleich mit den Beratungen in Rom über das Testament des Herodes ab, und sie beeinflussten diese auch, da Varus den Kaiser brieflich informiert hatte.76 Erzählstrategisch geschickt unterbricht Josephus die Entscheidungsfindung in Rom mit einem ausführlichen Bericht über den Krieg – darum handelte es sich jetzt in der Tat – im Reich des Herodes, ein Krieg, den jüdische Texte ebenfalls als bellum Varianum titulieren,77 um daran anschließend die Verhandlungen in Rom fortzusetzen. Die beiden Berichte des Josephus über diesen „Krieg des Varus“ im Bellum Iudaicum und den Antiquitates strukturieren die Ereignisse in: Erhebung des Volkes (1), die Belagerung des Sabinus in Abwesenheit des Varus (2) und den eigentlichen Krieg des Varus im gesamten Reich (3). Daran schließt dann eine knappe Bewertung an. 1. Unmittelbar nach der Abreise des Archelaos kam es in Jerusalem zu Unruhen, über die Varus sofort die Zentrale in Rom in Kenntnis setzte. Seine eigene Politik zielte nur darauf, die Rädelsführer dingfest zu machen. Als das scheiterte, entschloss er sich, eine Legion in Jerusalem zur Kontrolle der Lage zu stationieren und sich selbst nach Antiochia zu entfernen.78 Eine größere Provokation ist kaum denkbar, da mit der römischen Legion nicht nur die Kaiserbilder in die heilige, selbst von Herodes bildlos gelassene Stadt getragen wurden, sondern die Fremdherrschaft nun konkret und mit Händen greifbar wurde. Dabei reichte vor wenigen Monaten noch der (gar nicht unbedingt spezifisch römische) Adler am großen Tempeltor, daß viele Juden darin das Symbol der Fremdbestimmung gesehen und ihn deshalb abgeschlagen hatten, und jetzt war dieser Adler gleichsam leibhaftig in Jerusalem. Josephus geht über diese Provokation hinweg; für ihn stellt im Einklang mit seiner hinter dem Werk stehenden Konzeption einer jüdisch-römischen Versöhnung nicht die römische Präsenz an sich, sondern ein einzelner habgieriger Beamter den Anlass für die folgenden Krawalle dar, aber der weitere Bericht widerspricht allein durch die Faktenlage dieser gezwungen wirkenden Einschätzung.79 2. Die Ausweitung zum Krieg zunächst in Jerusalem erfolgte also aufgrund einer Entscheidung, aber in Abwesenheit des syrischen Statthalters. Der Bericht des Josephus lässt folgende Rekonstruktion der Ereignisse zu: Sabinus, der Prokurator des Kaisers, setzte im Vertrauen auf die Legion in Jerusalem seine Beschlagnahmung des herodianischen Vermögens und Militärs bis zur endgültigen Entschei74

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Sie ist von Richardson (1996) 26 missverstanden worden und alles andere als ein Zeichen der Unentschlossenheit und Halbherzigkeit (he took a weak course of action). Er übersieht die Orientierung am Recht und am Testament. Ios. bell. Iud. 2,93–97; ant. Iud. 17,317–323. Ios. ant. Iud. 17,250 und bell. Iud. 2,39 werden der Tod der Malthake und der Brief des Varus an Augustus verbunden. Nämlich im Seder Olam 30, einer hebräischen Chronik wahrscheinlich aus dem 2. Jahrhundert n. Chr., mit griechischem Fremdwort als „Krieg des Asveros“ 80 Jahre vor Vespasian datiert. In der Assumptio Mosis, einer textlich entstellten lateinischen Fassung einer von einem hebräischen oder aramäischen Urtext angefertigten grie-

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chischen Übersetzung heißt es (Kap. 6,8f.): In pares eorum mortis venient et occidentes rex potens, quia expugnabit eos, et ducent captivos et partem aedis ipsorum igni incendit, aliquos crucifigit circa coloniam eorum. Die Verba sind, da es sich um eine Prophetie handelt, ins Futur zu übertragen. Der „mächtige König des Okzidents“, der Gefangene machen wird, einen Teil des Tempels anzünden wird, Kreuzigungen vornehmen wird – das ist ohne Zweifel Varus. Ios. bell. Iud. 2,40; ant. Iud. 17,251. So geht es im Verlaufe des Krieges ausdrücklich um Freiheit, um Autonomie (Ios. ant. Iud. 17,267; bell. Iud. 2,53), nicht um Rache an einem Beamten.

dung in Rom über den König fort.80 Dies war seine Aufgabe und geschah auch ordnungsgemäß, auch wenn Josephus hier den Eindruck von „Habgier“ und „Hybris“ des kleinen Beamten verbreitet. Es war jedoch die Präsenz einer ganzen römischen Legion mit ihren Kaiserstandarten im von jüdischen Pilgern überfüllten Jerusalem, die den Krieg auslöste. Man feierte gerade Schawuot, das Wochenfest, 50 Tage nach Pessach im Mai. Juden von überallher waren in der aufgeheizten Stadt. Sie formierten sich in drei Abteilungen und schlossen den Stein des Anstoßes, die römische Legion, ein; sie standen im Süden vom Hippodrom aus, im Norden des Tempels und im Westen am Königspalast. Sabinus schickte daraufhin „Boten über Boten“ an Varus mit der Bitte um sofortige Hilfe.81 Derweil tobte in der Stadt der Krieg, im Tempelbezirk, in den Säulengängen gab es massive Zerstörungen. Zunächst konnte sich die römische kriegstechnische Überlegenheit durchsetzen; der Tempelschatz gelangte in römische Hände, Sabinus konnte 400 Talente vor seinen Soldaten in Sicherheit bringen.82 Damit war aber der Krieg nicht beendet. Vielmehr intensivierte er sich; es ging den Juden jetzt um Freiheit und Autonomie.83 Es war also eindeutig Rom der Gegner, nicht Sabinus. Auch die königlichen Truppen, d.h. die Soldaten, die früher unter Herodes gedient hatten, gingen jetzt zu den jüdischen Aufständischen über; lediglich die judenfeindlichen Sebastener, insgesamt 3000 Mann, wechselten zu den Römern. Doch auch räumlich weitete sich der Krieg aus: Ganz Judäa, Idumäa, dann Galiläa und Peräa standen jetzt in Flammen. Josephus berichtet von messianischen Bewegungen, von immer neuen Königen und Anführern – sie heißen Judas, Simon, Athronges –, und seiner Tendenz entsprechend sieht er diese als (um es modern zu sagen) ‚Terroristen‘, oder in der Quellensprache: „Räuber“.84 Die komplizierten Verhältnisse der jüdischen Gesandtschaften in Rom fanden im ehemaligen Reich des Herodes ihr kriegerisches Spiegelbild. Eine staatliche Ordnung gab es nicht mehr. 3. Der Krieg des Varus. Dies alles fand in Abwesenheit des Varus statt, aber nach zahlreichen Boten und Bittbriefen des Sabinus organisierte Varus nun die römische Gegenoffensive, da er, wie Josephus schreibt, „um die Legion fürchtete“.85 Varus setzte nun die zwei übrigen syrischen Legionen in Marsch, dazu vier Reiterabteilungen und Hilfstruppen je nach Angebot der Klientelfürsten; ferner stellten ihm während des Zuges weitere Städte wie Berytos Hilfen zur Verfügung, und auch der Nabatäerfürst Aretas sah, geleitet von seiner Feindschaft zu Herodes, anlässlich des Feldzuges die Gelegenheit, alte Rechnungen zu begleichen. Von Ptolemais ließ Varus einen Teil seiner Truppen unter der Führung seines Sohnes nach Galiläa einmarschieren, Sepphoris niederbrennen und versklaven,86 während er selbst mit dem Hauptteil über Samaria nach Jerusalem marschierte. Auf diesem Zug wüteten, wie Josephus mitteilt, die Araber, plünderten und raubten mehrere Ortschaften aus, je nachdem, ob diese zu Herodes bzw. seinen Freunden gehörten. Aber auch Varus selbst gab „aus Zorn“ den Befehl, Emmaus zu zerstören, obwohl die Einwohner längst die Stadt geräumt hatten; „mit Brand und Mord war alles erfüllt“, so kommentiert Josephus den Zug des Varus.87 In Jerusalem selbst brachen die Aufständischen die Belagerung ab, als Varus auftauchte, und flohen in die Umgegend; die in Jerusalem verbliebenen Juden entschuldigten sich mit dem Fest, das sie angeblich selbst fast zu Belagerten gemacht hätte. So konnte Varus die belagerte Legion retten, ferner stellten sich ein Neffe des Herodes, Josephus, und die Sebastener unter seinen Schutz, während Sabinus ihm nicht unter die Augen kam.88 Die Belagerung war aufgeho80 81 82

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Ios. bell. Iud. 2,41; ant. Iud. 17,252f. Ios. bell. Iud. 2,45; ant. Iud. 17,256. So müssen Ios. bell. Iud. 2,50; ant. Iud. 17,264 interpretiert werden; Josephus suggeriert, dass Sabinus das Geld für sich nahm, aber er ließ sich hier wie sonst nichts zuschulden kommen. Vgl. Anm. 79.

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Ios. ant. Iud. 17,285. Ios. ant. Iud. 17,286; bell. Iud. 2,66. Ios. ant. Iud. 17,288f. (nur hier die Mitteilung der Übertragung des Oberbefehles an seinen Sohn); bell. Iud. 2,68. Ios. bell. Iud. 2,70f.; ant. Iud. 17,290f. Ios. bell. Iud. 2,72–74; ant. Iud. 17,292–294.

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ben, Varus konnte nun an die Ordnung der Verhältnisse gehen. Josephus berichtet von einigen Maßnahmen:89 1. spürte er den ins Umland geflohenen Aufständischen nach und ließ von ihnen 2000 ans Kreuz schlagen; 2. entließ Varus seine Hilfstruppen, da sie auf ihn nicht gehört hatten und nur ihre eigenen Ziele verfolgten (in dem Bericht zum Bellum Iudaicum werden ausdrücklich die Araber genannt). 3. Weitere 10000 Aufständische (wahrscheinlich in Idumäa) ergaben sich; die Rädelsführer ließ Varus zum Kaiser zur weiteren Untersuchung schicken. Augustus wiederum ließ von diesen nur die Familienangehörigen des Herodes wegen eklatanter Verletzung der Treuepflicht gegen ihren König verurteilen. 4. Die bereits installierte Legion wurde als militärische Besatzung in Jerusalem weiterhin stationiert. Nach diesen Regelungen verließ Varus Jerusalem und reiste nach Antiochia ab. Er mochte es nicht als seine Aufgabe angesehen haben, sich gründlicher mit den Verhältnissen zu befassen, und angesichts der noch ausstehenden Entscheidung des Kaisers mag man Verständnis für dieses Verfahren haben. Insgesamt kann jetzt aber ein Bild vom politischen und militärischen Wirken des Varus während des östlichen bellum Varianum gezeichnet werden. 1. Varus begriff sich als Statthalter Syriens, der sich um ein Verständnis der Verhältnisse im Reich des Herodes nicht kümmern wollte. Weder ließ er das Blutbad des Archelaos untersuchen, noch interessierten ihn die innerherodianischen Querelen, noch hatte er irgendwelche Kenntnisse der jüdischen Religion bzw. der mit dieser zusammenhängenden Befindlichkeiten. Wie sonst hätte er eine militärische Besatzung römischer Soldaten in Jerusalem installieren können? Seine Kriegführung und seine Kriegsbeendigung waren darüber hinaus ausschließlich militärisch und auf die Wahrung römischer Interessen hin angelegt. Um eine Verminderung der Spannungen in Jerusalem war es ihm nicht zu tun; wahrscheinlich hätte er auch gar nicht gewusst, was die Spannungen hätte verringern können. 2. Eine gewisse ‚Kumpanei‘ mit zunächst Herodes (dem er in allem zustimmte), dann mit Archelaos ist deutlich zu erkennen. Gegen den rechtlich einwandfrei handelnden Sabinus setzte er die Interessen des herodianischen Fürsten durch,90 der freilich erst noch die Zustimmung des Kaisers benötigte. Vielleicht hätte das strikte, anfangs wohl auch von Archelaos akzeptierte römische Interregnum, wie es Sabinus intendierte, die Gewaltausbrüche verhindern können. 3. In manchen Handlungen offenbarte Varus auch Unentschlossenheit, die gewiss aus seiner Unkenntnis der Verhältnisse zu erklären ist. Dass er drei oder gar vier Gesandtschaften nach Rom unterstützte, mehrere Situationsberichte verfasste, sich nicht mit dem kaiserlichen Prokurator verständigen konnte und damit die Position des Archelaos vor dem Kaiser schwächte, mochte ihm gar nicht bewusst geworden sein; für ihn zählte das römische Interesse, wie er es interpretierte. Immer wieder versuchte er auch, Entscheidungen nach Rom abzuschieben oder die Verhältnisse einfach sich selbst zu überlassen, indem er sich nach Antiochia zurückzog. Doch förderte diese Unberechenbarkei, gepaart mit Abwesenheit, nicht die Ruhe und Ordnung in der Region, wie man an den Ereignissen ablesen kann. 4. Sein Agieren im Krieg war nicht nur, aber auch von Grausamkeit geprägt, wie die Zerstörung von Emmaus, die Kreuzigung der 2000 Rädelsführer und das zerstörerische Wirken seiner Armee in Samaria hinreichend deutlich machten. Für die Juden blieben diese Maßnahmen in schlimmer Erinnerung, so dass sie das bellum Varianum in eine Reihe mit den Entweihungen des Tempels durch Antiochos IV., Pompeius und mit dem Jüdischen Krieg 66 bis 70 n. Chr. stellten.91

89 90

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Ios. bell. Iud. 2,75–79; ant. Iud. 17,295–298. Wenn Wolf (2005) das „tödliche Vertrauen“ des Varus zu Arminius hervorhebt, so könnte das in gewisser,

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91

allerdings nicht ganz so folgenschwerer Hinsicht auch für Archelaos gelten. Vgl. oben Anm. 77 und noch Ios. c. Ap. 1,34.

5. Die militärischen Fähigkeiten des Varus kann man aus dem Bericht des Josephus schwer beurteilen; immerhin verweist es nicht auf Führungsstärke, dass er wider besseren Wissens die Nabatäer ihre ‚Privatfeindschaft‘ mit Herodes austoben ließ. Varus’ strategy was skilful and effective – so kommentiert Elizabeth M. Smallwood das Wirken des syrischen Statthalters92 – die Untersuchung hat definitiv etwas anderes ergeben.

V Fazit Hanan Eshel konstatiert in seiner Untersuchung zum Wirken des Varus in Syrien, dass die Juden von der Varusschlacht 9 n. Chr. nichts gewusst hätten, sonst hätten sie sich nicht entgehen lassen, darauf hinzuweisen. Das ist unwahrscheinlich und kann sich nur auf das Schweigen des Josephus stützen, der freilich ein Interesse daran hatte, Varus neutral zu behandeln. Aber die Untersuchung der Handlungen lässt uns jetzt ermessen, ob die drei oben behandelten antiken Kritiker der Versäumnisse des Varus im Jahre 9 n. Chr. Recht haben oder nicht. Manches lässt sich nicht überprüfen, wie das Bonmot des Velleius über die Habgier in seiner syrischen Statthalterschaft; Josephus ist erkennbar bemüht, neutral über Varus zu schreiben, so dass über den hochrangigen, kaisernahen Politiker die Taten und (Miss-)Erfolge ein Urteil sprechen mussten, nicht der jüdische Autor in römischen Diensten. Andere Punkte der Kritik entdecken wir auch in Syrien und Judäa wieder: Varus war ein vertrauensseliger, wenig flexibler, bisweilen grausamer, leidlich f ähiger Militär, der seine Untertanen wenig ‚studierte‘ und auf brüske Durchsetzung römischer Interessen pochte. Die Verwandtschaft mit Augustus eröffnete ihm immer neue Karriereschübe. Germanien fiel ihm zu, weil Augustus ihn wollte und er Erfahrungen besaß; ferner schienen ihm die verwickelt bleibenden Verhältnisse in Judäa nicht geschadet zu haben, und außerdem wurde nicht erwartet, daß seine Statthalterschaft tatsächlich die Entscheidung über die Germanienstrategie des römischen Prinzipats bringen würde. Ein großartiger, f ähiger Statthalter aber war Publius Quinctilius Varus nicht, und niemand wusste das besser als Tiberius.93 Velleius Paterculus dürfte mit seinem kritischen Urteil im großen und ganzen Recht haben. Syrien war jedenfalls nicht die Station, auf der sich eine heutige Zuschreibung als ‚f ähiger Statthalter‘ bauen ließe.

92

Smallwood (1976) 112, und sie f ährt fort (113): Thanks to Varus’ military skill and efficiency it (das bellum Varianum) had been brief, though it had affected most parts of the country. The two thousand crosses testify to the serious view which he took of it, while his leniency to those who surrendered in Idumaea acquits him of mere vindictiveness. Für Smallwood ist wie für Josephus Sabinus der Bösewicht.

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Etwas vorsichtiger ist der Beitrag von van Wickevoort Crommelin (1999); Eck (2010) 22 weist dem Varus in Judäa „ein kluges, situationsadäquates Abwägen seiner Entscheidungen“ zu. Lica (2001) 501: Tiberius’ discriminating attitude towards Varus’ former soldiers stands for an eloquent expression of the incrimination of his entire activity in Germany.

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Abb. 2 | Der gescheiterte Varus – 2,40 m hohe und 650 kg schwere Bronzeplastik, aufgestellt in Haltern am See, Kardinal-Graf-vonGalen-Park, ein Werk des Bildhauers Dr. Wilfried Koch. Die Skulptur reflektiert als einzige ihrer Art die Figur des Varus zwischen seiner Niederlage im ‚Teutoburger Wald‘ und seiner Verachtung für den Verräter Arminius und kann in besonders eindringlicher Weise für die Dimension seines Scheiterns stehen.

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ERNST BALTRUSCH

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Siegmar von Schnurbein Augustus in Germanien Archäologie der fehlgeschlagenen Eroberung

Wenn seit einigen Jahren mit guten Gründen angenommen werden darf, dass in der im Aufbau befindlichen römischen Stadt bei Lahnau-Waldgirmes ein lebensgroßes vergoldetes Bronzestandbild des Kaisers Augustus zu Pferde errichtet gewesen ist, mag der etwas reißerisch wirkende Titel meines Beitrags gestattet sein, auch wenn Augustus bei seinen Aufenthalten in Gallien den Rhein nie überquert, Germanien also nie besucht hat. Da in der Antike das Bild eines Menschen aber stets auch dessen Anwesenheit bedeutete, ist der Titel aus antiker Sicht also nicht unangemessen. Nicht Augustus persönlich (Abb. 1,1), so doch die beiden kaiserlichen Prinzen Drusus (12 v. Chr.– 9 v. Chr.) (Abb. 1,2) und Tiberius (8–7 v. Chr., 4–6 n. Chr. u. 10–12 n. Chr.) (Abb. 1,3), der mit der Familie des Augustus durch Heirat verbundene Varus (7–9 n. Chr.) (Abb. 1,5) und auch Germanicus, Sohn des Drusus (14–16 n. Chr.) (Abb. 1,4), waren als Befehlshaber des Germanien-Heeres zwischen Rhein und Elbe im Einsatz. Ich behandle im Folgenden nur den germanischen Raum im engeren Sinne, also jenes Gebiet, in dem die großen Eroberungszüge zwischen Rhein und Elbe stattgefunden haben, und gehe auf die Archäologie im Alpenvorland nicht weiter ein. Die vor allem für verschiedene Phasen des Eroberungsversuchs recht detailreiche schriftliche Überlieferung einerseits und andererseits die ungewöhnlich raschen Veränderungen sowohl der umlaufenden Münzen als auch der beim Heer benutzten Keramikgef äße ermöglichen chronologische Zuordnungen verschiedener Fundplätze mit ganz außerordentlicher Präzision. Dies verführt nicht selten dazu, dass alle Unterschiede im Fundgut und bei verschiedenen Befunden nur chronologisch gedeutet werden, wovor ausdrücklich gewarnt sei! Dendrochronologische Datierungen sichern einige historische Zuordnungen solide ab und können als Orientierungsmarken herangezogen werden. Nach der Unterwerfung Galliens durch Caesar bildete der Rhein die Grenze des Imperium Romanum (Abb. 2), die jedoch von den rechtsrheinischen Germanen, insbesondere im Gebiet des Nieder-

Abb. 1 | Bildnisse des 1. Augustus (63 v.–14 n. Chr.); 2. Drusus (38 v.–9 v. Chr.); 3. Tiberius (42 v. Chr.–37 n. Chr.); 4. Germanicus (15 v.–19 n. Chr.); 5. Varus (47/46 v.–9 n. Chr.).

AUGUSTUS IN GERMANIEN

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Abb. 2 | Römische Fundplätze der augusteischen Zeit in Germanien (Stand 2008).

rheins immer wieder zu Raubzügen überschritten worden ist. Ab 12 v. Chr. hatte Drusus daher den Auftrag, den Grenzbereich zu beruhigen. In kühnem Ausgriff erreichte er bereits 11 v. Chr. die Weser. Es wird berichtet, dass er beim Rückmarsch an den Rhein ein Lager am Zusammenfluss von Lippe und Elison, ein zweites nicht weit vom Rhein bei den Chatten anlegen ließ. Ab 10 v. Chr. verlegte er den Schwerpunkt der Feldzüge an den Mittelrhein, und 9 v. Chr. erreichte er bereits die Elbe; ein unglücklicher Sturz vom Pferd führte zu so schweren Verletzungen, dass er verstarb. In den Jahren 8 bis 7 v. Chr. soll unter Tiberius Germanien bereits eine beinahe tributpflichtige Provinz geworden sein.1 Für die folgenden Jahre sind die Quellen sehr lückenhaft. Domitius Ahenobarbus soll zu einem nicht genauer bekannten Zeitpunkt die Elbe überschritten haben.2 Im Jahr 1 n. Chr. brach – vermutlich im heutigen Nordwestdeutschland – ein „gewaltiger Krieg“ aus,3 den erst der erneut nach Germanien beorderte Tiberius siegreich beenden konnte; im Winter 4/5 n. Chr. ließ er einen Teil des Heeres am Oberlauf der Lippe überwintern,4 im darauf folgenden Sommer wurde erneut die Elbe erreicht. Offenbar war nun ein Zustand erreicht, der dem besten Kenner der Situation in Germanien, Tiberius, geeignet erschien, Augustus zu empfehlen, Varus das Kommando zu übertragen mit dem Auftrag, Germa-

1 2

136

Vell. 2,97,4; s. auch K.-P.-Johne im vorliegenden Band, ebenso für das Folgende. Tac. ann. 4,44.

SIEGMAR VON SCHNURBEIN

3 4

Vell. 2,104,2. Vell. 2,105,3.

nien zur Provinz zu machen. Zur Beurteilung der Lage ist eine Passage bei Cassius Dio wesentlich: „Die Römer besaßen zwar einige Teile dieses Landes, doch kein zusammenhängendes Gebiet, sondern wie sie es gerade zuf ällig erobert hatten; deshalb berichtet auch die geschichtliche Überlieferung darüber nichts. Ihre Soldaten bezogen hier ihre Winterquartiere, Städte wurden gegründet, und die Barbaren passten sich ihrer (d.h. der römischen) Lebensweise an, besuchten Märkte und hielten friedliche Zusammenkünfte ab“.5 Das ungeschickte Verhalten des Varus soll dann dazu geführt haben, dass Arminius sich im Jahr 9 n. Chr. gegen ihn erhob; der Fundplatz bei Kalkriese kann mit guten Gründen dem Desaster zugeordnet werden. Alle römischen Stützpunkte rechts des Rheins gingen verloren, bis auf einen an der Lippe (Aliso), in dem sich die Truppe samt Zivilisten trotz germanischer Umzingelung noch halten konnte, bis Entsatz vom Rhein kam. Dann wurde auch dieser Platz preisgegeben,6 so dass nun im rechtsrheinischen Germanien keine römischen Truppen mehr standen. Wieder wurde Tiberius nach Germanien beordert, der ab 10 n. Chr. Rachefeldzüge führte, bis ab 14 n. Chr. Germanicus erneut großräumige Angriffe unternahm und sich mehrere schwere Schlachten mit Arminius lieferte. Tiberius ließ 16 n. Chr. das ganze Unternehmen beenden und rief Germanicus ab. In diesem Jahr bestand ein Kastell an der Lippe, das zeitweise von Germanen belagert worden ist. Nach dem Ende der Belagerung ließ Germanicus das ganze Gebiet zwischen dem Rhein und dem Kastell Aliso mit neu gebahnten Wegen und Dämmen befestigen.7 Damit sind die wichtigsten in der antiken Literatur genannten Plätze und Ereignisse umrissen, von denen einige mehr oder weniger sicher mit archäologischen Entdeckungen in Verbindung gebracht werden können. Ehe darüber berichtet wird, ist es notwendig, auf eine empfindliche Kenntnislücke hinzuweisen: Bis jetzt ist es nicht gelungen, im Gebiet zwischen Rhein und Elbe eines der germanischen Herrschaftszentren zu finden. Wir haben keinerlei Vorstellung davon, wo und wie die bei den Cheruskern herrschende Sippe des Arminius lebte, wie deren Siedlung beschaffen war. Wurden in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts zahlreiche Ringwallanlagen in den Mittelgebirgen als germanische ‚Volksburgen‘ bezeichnet, so haben sich alle – soweit sie untersucht werden konnten – entweder als wesentlich älter oder als deutlich jünger erwiesen. Nur einzelne ‚Bauernhöfe‘, die sich den Jahrzehnten um Christi Geburt zuweisen lassen, sind verschiedentlich in Westfalen, Niedersachsen und Hessen ausgegraben worden. Einzig bei Sievern, zwischen Weser und Elbe nahe der Nordseeküste gelegen, scheint ein Zentralplatz gefunden zu sein, der auch in der fraglichen Zeit eine Rolle gespielt haben könnte;8 er wird zur Zeit gründlich erforscht. Auch Grabfunde, die auf Grund reicher Beigaben Indizien für Herrschaftszentren geben könnten, weisen wegen der Beigabenarmut, man möchte fast sagen: wegen der ‚archäologiefeindlichen‘ Bestattungssitten, keinen Weg zu den politischen Zentren. Die Quellenlage ist also sowohl in den Texten als auch archäologisch derart einseitig, dass das zu zeichnende Bild ganz und gar die römische Situation und Sicht spiegelt. Überraschend gut ist die archäologische Quellenlage zu den Zügen des Drusus. In BergkamenOberaden (Abb. 3), ca. 80 km östlich des Rheins gelegen, ist dank vorzüglich erhaltener Eichenpfosten der Umwehrung und Eichenbohlen der Brunnenschalungen der Beginn der Errichtung des Lagers im Spätherbst des Jahres 11 v. Chr. gesichert (Abb. 4).9 Was aus numismatischer Sicht, nämlich wegen des Fehlens der nach der Errichtung des Romaund-Augustus-Altars in Lugdunum/Lyon (12 bzw. 10 v. Chr.) geprägten Münzen bereits nahe gelegen 5 6

Cass. Dio 56,18,1. Vell. 2,120,1; Zon. 10,37; Cass. Dio 22,2–4.

7 8 9

Tac. ann. 2,7,1–3. Vgl. Zimmermann (2005). Kühlborn (2009).

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Abb. 3 | Plan des Lagers Bergkamen-Oberaden. 1. Praetorium; 2. Principia; 3a–c. große Wohnhäuser; 4–5. Häuser; 6. Kasernen; 7. Haus an der Porta Praetoria.

Abb. 4 | Dendrochronologisch datierter Brunnen aus Bergkamen-Oberaden.

hatte, ist somit dendrochronologisch untermauert: Es handelt sich um das Lippe-Elison-Kastell des Drusus. Oberaden zeichnet sich u.a. durch einige großzügige, römischen Stadtvillen entsprechende Wohngebäude aus, die, in Holz-Lehm-Fachwerk errichtet, sogar über Gartenhöfe verfügten. Die Truppe wurde bestens mit Wein versorgt, wie die über 40 als Brunnenschalungen wieder verwendeten Weinf ässer zeigen, die z.T. bis über 1000 Liter enthalten haben. Neben mediterranen Gewürzen und Oliven ist sogar Pfeffer aus Arabien oder Indien nachgewiesen! Diese Detailkenntnisse sind den vorzüglichen Erhaltungsbedingungen in den Oberadener Brunnen zu verdanken; die Versorgung der anderen Plätze wie Haltern und Anreppen dürfte kaum weniger gut gewesen sein. Oberaden wurde offenbar durch Tiberius 8 oder 7 v. Chr. aufgelassen. Welche Truppen hier zusammengezogen waren und wohin diese

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Abb. 5 | Plan des römischen Stützpunktes Hedemünden.

kommandiert worden sind, ist nicht bekannt; neben Legionssoldaten sind Auxilien durch Funde nachgewiesen. Das dazu gehörende, etwa 2,5 ha große sog. Uferkastell in Beckinghausen existierte zur selben Zeit wie Oberaden. Der Fundbestand des nur 3 ha großen Stützpunktes von Bad Nauheim-Rödgen gleicht jenem aus Oberaden, während die Innenbauten völlig anderen Charakter haben. Drei große Speichergebäude von 47,2 × 29,5 m, ca. 29,5 × 33 m und 35,5 × 30,7 m bei einer nur etwa 1000 Mann starken Truppe weisen Rödgen als Nachschubstation für das in den Jahren 10 und 9 v. Chr. von Mainz aus zur Weser und Elbe vorstoßende Heer aus. Der Platz lässt sich nicht mit dem unter Drusus errichteten Kastell „nahe vom Rhein bei den Chatten“ identifizieren; dieses ist noch nicht entdeckt. Dass das Wesergebiet tatsächlich erreicht worden ist, bezeugt ein vor wenigen Jahren bei Hedemünden, nahe des Zusammenflusses von Fulda und Werra entdeckter Fundplatz (Abb. 5). Der Ausgräber, Klaus Grote, bezeichnet ihn als ‚Lager‘.10 Die bislang bekannt gewordenen Spuren im Gelände weichen jedoch derart stark von dem ab, was von römischen Truppenstandorten bekannt ist, dass ich meine Skepsis nicht unterdrücken kann. Das Münzspektrum gleicht dem von Oberaden und Rödgen; hinzu treten erstaunliche Mengen von Metallfunden, sowohl Werkzeuge als auch Waffen (Abb. 6), und inzwischen fanden sich auch entlang alter Wege nach Norden und Süden römische Einzelfunde wie Schuhnägel und wiederum Waffen. 10

Grote (2006); (2007).

AUGUSTUS IN GERMANIEN

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Abb. 6 | Werkzeug und Waffen aus Hedemünden.

Sollte sich der Platz hoch über dem Werra-Ufer endgültig als ein Lagerkomplex erweisen, würde damit in mancher Beziehung ein neues Kapitel zu Planung und Architektur römischer Lager der augusteischen Zeit aufgeschlagen. Noch aufregender wäre es indes, wenn es kein ausgebautes Lager gewesen wäre! Selbstverständlich sind zwischen Rhein und Elbe von den vorrückenden Truppen regelmäßig sog. Marschlager angelegt worden, die, je nach Lage, teils nur für eine Nacht, teils wohl auch mehrere Tage genutzt worden sind. In Dorsten-Holsterhausen an der Lippe, rund 40 km, also zwei Tagemärsche vom Rhein entfernt, sind wiederholt solche Lager aufgeschlagen worden; mindestens zehn verschiedene Systeme von Lagergräben lassen dies erkennen, Holz-Erde-Mauern fehlen.11 Sowohl unter Drusus als auch unter den nachfolgenden Feldherren und möglicherweise auch unter Germanicus (14–16 n. Chr.) haben die Truppen dort in Zelten kampiert, ohne dass Lager mit festen Bauten errichtet worden sind. Auch andere verkehrstechnisch wichtige Plätze wird das Heer mehrfach aufgesucht haben, z.B. an Ems, Weser und Lahn. Vielleicht lassen sich die offenbar komplexen Anlagen in Hedemünden einmal in diesem Sinne differenzieren. Spuren nur kurze Zeit genutzter Marschlager sind in Haltern (sog. Feldlager etc.),12 Anreppen,13 Lahnau-Dorlar14 und Marktbreit15 erkannt. Die Anlagen bei Kneblinghausen können augusteisch sein, sind aber nicht sicher zu datieren.16 Ob sich im erst kürzlich entdeckten Barkhausen an der Porta Westfalica ein echtes Lager ergeben wird, bleibt abzuwarten.17 Nach den Münzen ist die kleine Verschanzung der Sparrenberger Egge bei Bielefeld auf jeden Fall der Drusus-Zeit zuzuweisen; solche kleinen Warten müsste es in den Mittelgebirgen in größerer Zahl geben. In der Nähe von Hedemünden scheint eine entdeckt zu sein. Aus der augusteischen Zeit gibt es im Vorfeld von Mainz verschiedene Fundplätze, deren Charakter nicht genauer definiert werden kann, und zwar in Mainz-Kastel, dem Brückenkopf östlich des Rheins, in Wiesbaden, Frankfurt-Höchst und Bad Nauheim. Sie bezeugen, welch strategisch wichtige Aufgabe von Mainz aus wahrgenommen worden ist. Alle diese Plätze scheinen jünger zu sein als 11 12 13 14

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Ebel-Zepezauer (2009). Aßkamp (2010). Kühlborn (2009). Von Schnurbein u. Köhler (1994).

SIEGMAR VON SCHNURBEIN

15 16 17

Pietsch, Timpe u. Wamser (1991); Steidl (2009). Rudnick (2009). Neujahrsgruß (2009).

Abb. 7 | Plan des Lagers Haltern.

die Zeit des Drusus und können bis in die Zeit des Varus oder auch danach (?) genutzt worden sein; ob dauerhaft, steht dahin. Bei Arnsburg könnte ein augusteisches Marschlager liegen. Die Verschanzung bei Oberbrechen ist zwar ihrer Art nach sicher römisch, lässt sich aber innerhalb der frühen Kaiserzeit nicht präziser datieren.18 Der bedeutendste militärische Stützpunkt der Zeit nach Drusus’ Tod ist Haltern an der Lippe, rund 60 km östlich des Rheins gelegen (Abb. 7).19 Dessen Gründungsdatum lässt sich nicht genauer festlegen. Gerade nach den Ergebnissen in Lahnau-Waldgirmes20 besteht aller Grund, den Beginn bald nach Drusus’ Tod zu suchen. Meinen 1981 und 1982 geäußerten Vorschlag, etwa die Jahre 7 bis 5 v. Chr. anzunehmen, halte ich gegen alle Kritik aufrecht. In Haltern gibt es außer den bereits erwähnten Spuren kurzzeitig belegter Lager einen befestigten Flusshafen an der Lippe (sog. Uferkastell), nicht mehr zu deutende fundreiche Komplexe am Lippeufer auf der Flur Wiegel und ein ausgedehntes Gräberfeld, von dem mittlerweile über 100 Bestattungen bekannt sind. Die wichtigste Anlage ist in Haltern das sog. Hauptlager, das zunächst 16,7 ha groß war. Der Platz reichte nicht dazu aus, um neben einer überraschend großen Zahl von Wohn- und Führungsbauten 18

Herrmann (2004).

19 20

Aßkamp (2010). S. unten S. 144.

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(u.a. ein 80 × 44 m großes Lazarett) eine komplette Legion unterzubringen, zumal es auch Indizien für Hilfstruppen gibt. Ein Bleibarren mit einer Inschrift der 19. Legion deutet an, dass hier der Kern dieser Legion gelegen haben könnte. Blei war am Ort erforderlich, da bereits eine Druck-Wasserleitung aus Bleirohren gebaut wurde. Mehr als ein Dutzend Töpferöfen bezeugen eine blühende Keramikproduktion, zu der neben Öllampen auch der Versuch eines Töpfers namens P. Flos … gehörte, Terra Sigillata herzustellen. Zu einem nicht genauer bestimmbaren Zeitpunkt wurde es notwendig, die Fläche des Hauptlagers um 1,6 ha auf 18,3 ha zu vergrößern; man hat dazu die Ostfront um etwa 50 m vorverlegt. Untergebracht wurden im so gewonnenen Bereich jedoch keine Truppen, sondern, soweit das Gebiet untersucht werden konnte, zwei rund 15 × 15 m große Wohngebäude für nicht näher zu charakterisierende Chargen (ziviler Art?) und wahrscheinlich ein etwa 30 × 30 m großes Speichergebäude. Bei gleichbleibender Truppenstärke wurden also im Hauptlager nun zusätzliche Funktionen wahrgenommen, die über die rein militärischen Aufgaben hinausgingen. Zusammen mit der den täglichen Grundbedarf deutlich übersteigenden Keramikproduktion habe ich Haltern 1981 als einen Kristallisationspunkt in der neu zu errichtenden Provinz bezeichnet. Das seither untersuchte Gräberfeld mit seinen z. T. erstaunlichen Grabbeigaben zeigt ebenfalls, wie sicher sich Rom in Germanien fühlte. Die jüngsten der über 3000 in Haltern gefundenen Münzen sind die mit einem Gegenstempel des Varus versehenen Kupferprägungen aus Lugdunum/Lyon. Verschiedene Fundkomplexe lassen sich im Sinne eines einigermaßen geregelten Abzugs der Truppe deuten, so dass es nahe liegt, ihn mit dem Rückzug nach der Niederlage des Varus in Verbindung zu bringen. Letzte Sicherheit ist in dieser Frage nicht zu erreichen, weshalb vor allem verschiedene schwierig zu beurteilende Befunde von Kritikern als Argumente für eine Wiederbesetzung oder sogar eine über 9 n. Chr. hinaus fortdauernde Besetzung des Hauptlagers herangezogen werden. Diese Spuren sind allesamt so gering und kaum eindeutig, dass es sich allenfalls um marginale Vorgänge gehandelt haben dürfte. Wenn als Argument gegen eine Zerstörung des Lagers, das die Germanen nach dem Rückzug der Truppe kaum unberührt gelassen haben dürften, das Fehlen einer „durchgehenden Zerstörungsschicht“ genannt wird, so ist dies vor allem deshalb problematisch, weil nirgendwo die römerzeitliche Oberfläche erhalten ist; eine Zerstörungsschicht wäre also durch Erosion etc. längst verschwunden. In Gruben findet sich indes häufig massiver Brandschutt. Im Gräberfeld wird von einer Überschneidung eines Grabes durch ein später angelegtes weiteres Grab berichtet, was mit einer Wiederbesetzung unter Germanicus in Verbindung gebracht wurde. Das gesamte Gräberfeld wird zur Zeit bearbeitet, und es bleibt abzuwarten, wie der Befund dann interpretiert wird. Wie in vielen Fällen bleibt es bei der Deutung archäologischer Funde und Befunde auch in Haltern bei Wahrscheinlichkeiten, die es abzuwägen gilt. Da es in Haltern also bislang keinerlei handfeste Spuren eines Aufenthalts der Truppen unter Germanicus gibt, sollte man nicht ausschließen, dass er seine Truppe gerade nicht über den Ruinen, sondern an anderer Stelle ein neues Lager bauen ließ. Welche Überraschungen der Boden von Haltern bietet, zeigt das erst 1997, fast einhundert Jahre nach Beginn der Grabungen in Haltern entdeckte sog. Ostlager, das wegen der Spärlichkeit der Funde nur allgemein in die jüngere Phase der Feldzüge zu datieren ist; das Fundgut unterscheidet sich nicht von dem des Hauptlagers. Aber wäre ein deutlicher Unterschied zwischen der Zeit des Varus und der Germanicus-Zeit, abgesehen von den Münzen, bei einem zeitlichen Abstand von nur fünf bis sechs Jahren zwingend zu erwarten? Manche Indizien sprechen dafür, in Haltern den von den Römern 9 n. Chr. bis zuletzt gehaltenen Stützpunkt an der Lippe zu sehen; ein Beweis, dass hier Aliso lag, ist aber nicht möglich.

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Abb. 8 | Plan des Lagers Anreppen.

Als Haltern in voller Blüte stand, wurde am Oberlauf der Lippe, etwa 150 km östlich des Rheins, der etwa 23 ha große Stützpunkt von Anreppen gegründet (Abb. 8).21 Dendrochronologisch ist hier das Jahr 4 n. Chr. für den Bau eines Brunnens gesichert, so dass es der Ort sein dürfte, an dem Tiberius 4/5 n. Chr. einen Teil seines Heeres in Germanien hat überwintern lassen. Da unter den rund 400 Münzen keine ist, die den Gegenstempel des Varus trägt, ist der Platz offensichtlich bereits nach zwei oder drei Jahren wieder geräumt worden. Zusammen mit dem ebenfalls nur etwa drei Jahre existierenden Lager Oberaden ist dies ein weiteres Zeichen für die enorme Beweglichkeit der Truppe und die häufigen Veränderungen der römischen Strategie. Anreppen war noch weniger als Oberaden oder Haltern ein reines Truppenlager. Außer Kasernen, deren Zahl nicht genauer abzuschätzen ist, gibt es mehrere große Magazine, ein Thermengebäude und ein zentrales, 70 × 40 m großes Wohngebäude, das – obgleich es wie alle anderen bisher bekannten römischen Gebäude in den Militärplätzen rechts des Rheins aus Holz-Lehm-Fachwerk bestand – wegen seines Grundrisses als ‚Luxusarchitektur‘ bezeichnet wird. Gewiss darf man annehmen, dass sich in diesem Haus Tiberius zeitweise aufgehalten hat. Bemerkenswert sind Spuren einer germanischen Siedlung ganz in der Nähe von Anreppen, in der römische Funde der augusteischen Zeit gefunden wurden. Ob sie von Kontakten zum großen römischen Stützpunkt rühren oder nach dessen Auflassung dorthin verschleppt wurden, ist nicht geklärt; die Fundstelle verdient es jedenfalls, genauer untersucht zu werden. Historisch schwierig einzuordnen ist das 37 ha große Lager von Marktbreit am Main,22 das in Luftlinie rund 140 km und auf dem Main rund 280 Flusskilometer vom Rhein entfernt ist. Es sind zwar im Zentrum für die Truppenführung in der üblichen Holz-Lehm-Fachwerk-Bauweise die notwendigen Bauten errichtet worden, und auch ein kleines Thermengebäude ähnlich dem in Anreppen wurde entdeckt, doch ist der Bestand an Funden derart gering, dass man nur allgemein vor allem das erste nach21

Kühlborn (2009).

22

Pietsch, Timpe u. Wamser (1991); Steidl (2009).

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Abb. 9 | Plan der Stadtgründung von Lahnau-Waldgirmes unweit von Wetzlar.

christliche Jahrzehnt als Datierung annehmen kann. Offensichtlich ist das Lager nie von der Truppe wirklich bezogen worden, sondern der Bau wurde wohl abrupt abgebrochen. Daher wurde zunächst vorgeschlagen, die Errichtung mit dem 6 n. Chr. von Mainz und Carnuntum aus begonnenen, aber im selben Jahr wegen des Pannonischen Aufstandes beendeten Feldzug gegen Marbod in Verbindung zu bringen. Wahrscheinlicher erscheint, dass hier im dicht besiedelten germanischen Gebiet ein ‚Nachfolger‘ des Legionslagers in Mainz als dauerhafter Stützpunkt errichtet werden sollte, dessen Vollendung und Bezug wegen des politisch-militärischen Rückschlags unterblieb. Die stärksten Veränderungen in der Beurteilung der römischen Herrschaft rechts des Rheins ergaben sich durch die Entdeckungen in Lahnau-Waldgirmes unweit von Wetzlar (Abb. 9).23 Der Ort liegt verkehrsgeographisch in jener Gegend, in der die zwei von der Natur vorgegebenen Wege vom Mittelrhein in Richtung Weser zusammentreffen: Dies sind der Weg von der Moselmündung bei Koblenz entlang der Lahn und die Route von Mainz durch die Wetterau zur Lahn, die den Taunus bei der Butzbacher Senke überquert. In Waldgirmes wurde um 4 v. Chr., dendrochronologisch durch Hölzer aus einem Brunnen gesichert, eine primär zivile Siedlung, eine Stadt gegründet. Zwar wurde sie gewiss vom römischen Heer geplant und weitgehend gebaut, erkennbar an der äußeren Gestalt, die einem Militärlager gleicht: Zwei 23

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Becker u. Rasbach (2003); Becker (2008).

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Gräben und eine Holz-Erde-Mauer umgeben eine rund 7,7 ha große Fläche, die durch eine west-östlich verlaufende und eine vom Zentrum aus nach Süden abzweigende Straße gegliedert wird. Entlang der Straßen waren, wiederum in Holz-Lehm-Fachwerk, vorwiegend Gebäude mit straßenseitigen Portiken errichtet, die Zugang zu offenen Räumen boten. Dieses Bauprinzip entspricht aber mediterranen Tabernen-Gebäuden und war beim römischen Militär jener Zeit nicht üblich. Ferner sind mehrere Atrium-Häuser nachgewiesen, wie sie ähnlich auch in Haltern als Unterkünfte für Chargen nachgewiesen sind. Daneben ist möglicherweise eine einzige Kaserne erkannt. Größere Bereiche scheinen im Nordteil nicht oder nur leicht bebaut gewesen zu sein. Eine Wasserleitung aus Bleirohren zeichnet sich ab. Im Zentrum ist ein rund 45 × 45 m großes Gebäude mit Steinfundamenten nachgewiesen. Es sind bis jetzt die einzigen römischen Steinfundamente rechts des Rheins aus augusteischer Zeit, und zugleich ist es der einzige vollständig erkennbare, dauerhaft konzipierte Gebäudegrundriss jener Zeit in Nordgallien und Germanien. Die Steinfundamente waren etwa 0,5 m hoch und ebenso breit und trugen ein auf Schwellbalken aufgesetztes Fachwerk. Der Bau besteht aus einem 24 × 32 m großen Hof, der von drei 6 m breiten Hallen und der 45 × 12 m großen Basilika umgeben ist. An diese schließen zwei 6 m breite apsidale Räume und ein 10 × 10 m messender quadratischer Raum an. Das Gebäude entspricht damit bestens dem Typ des römischen Forums. Im Hof zeigten sich nebeneinander fünf jeweils 5 × 2,5 m große rechteckige Gruben, in denen zahlreiche zerschlagene Sandsteine lagen, darunter auch zwei große Quader. Die mineralogisch-petrographische Analyse ergab, dass sie aus Steinbrüchen des Moselgebietes nahe Metz stammen. Außerdem fanden sich in diesen Gruben und an vielen Stellen des Stadtgebietes, auch in den Umwehrungsgräben, z.T. winzige, z.T. beachtlich große Fragmente einer – oder mehrerer? – lebensgroßer vergoldeter Bronzestatuen eines Reiters zu Pferde. Daraus lässt sich rekonstruieren, dass im Forumshof die Aufstellung von fünf Reiterstatuen auf Sandsteinsockeln vorgesehen war. Zumindest eine hat es davon auch gegeben, und es kann sich dabei nur um Augustus gehandelt haben. Für die historische Interpretation des Platzes bilden die mit etwa 18 % der Keramikfunde ungewöhnlich zahlreichen Scherben germanischer Gef äße Hinweise auf die Anwesenheit von Germanen, die offensichtlich in der entstehenden römischen Stadt ein- und ausgegangen sind (Abb. 10). Eine silberne germanische Fibel deutet darauf, dass auch hochgestellte Germanen darunter waren. Ganz im Sinne von Cassius Dios eingangs zitierter Bemerkung über den Grad der römischen Herrschaft in Germanien haben wir es in Waldgirmes mit einer entstehenden Stadt zu tun, gekennzeichnet durch ein großes, auf Dauer konzipiertes Forum im Zentrum; die friedlichen Zusammenkünfte spiegeln sich in den zahlreichen germanischen Funden, die in dieser Menge bislang an keinem anderen römischen Platz rechts des Rheins bekannt sind. Dazu passt, dass etwa 20 km von Waldgirmes entfernt bei Niederweimar an der Lahn ein germanisches Gehöft entdeckt werden konnte, in dem römische Keramik auftritt, die der von Waldgirmes gleicht; die Kontakte gingen also in beide Richtungen. Die jüngsten datierbaren römischen Funde sind auch in Waldgirmes die von Varus gegengestempelten Asses. Das Verlassen der Stadt im Zuge der Räumung des rechtsrheinischen Germaniens nach der Katastrophe von 9 n. Chr. lässt sich damit erschließen. Neue Gesichtspunkte zum weiteren Schicksal des Platzes ergaben sich kürzlich durch Entdeckungen im Westteil der Hauptstraße. Hier wurde der Straßengraben auf einer Länge von ca. 60 m mit Bohlen überdeckt, auf die Kies geschüttet worden ist. Unter dem später in den Straßengraben gerutschten Kies lag ein kleines Statuenfragment, was bedeutet, dass die Überdeckung des Straßengrabens erst nach der Zerstörung der Statue(n?) erfolgt ist; bringt man diese mit den Folgen von 9 n. Chr. in Verbindung, dann müssen bald danach neue Baumaßnahmen getroffen worden sein. Man möchte sie nach ihrer Art römischen Bauleuten zuschreiben, die den

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Abb. 10 | Germanische und römische Keramik aus Waldgirmes.

Auftrag hatten, den Platz wieder herzurichten. Dazu passen auch die wiederholt beobachteten, offenbar planmäßigen Einfüllungen von Siedlungsschutt in die Umwehrungsgräben. Wenn diese Interpretation, die Armin Becker, der Ausgräber, mit aller Vorsicht vorschlägt, sich als richtig erweist, dann hätte man hier erstmals rechts des Rheins handfeste archäologische Spuren, die mit den Maßnahmen des Germanicus 14 bis 16. n. Chr. zusammenhängen könnten. Bevor diese Möglichkeiten weiter diskutiert werden, sind die vollständige Bearbeitung der Befunde und die noch zum Abschluss des Forschungsprojektes vorgesehenen Sondagen abzuwarten. In jedem Fall zeichnen sich rechts des Rheins im Bereich der beiden Haupt-Vorstoßrichtungen vom Niederrhein aus ins Lippegebiet und von Mainz aus durch die Wetterau in Richtung Lahn/Weser archäologisch wesentliche Unterschiede ab: Während im Lippegebiet das militärische Element deutlich vorherrscht und nach den Funden nur geringe Kontakte zur einheimischen Bevölkerung ablesbar sind, wurde im Vorfeld von Mainz, rund 100 km von Rhein entfernt, eine regelrechte Stadt gegründet. Diese glich zwar von außen blickend einem Militärlager, war aber im Inneren ganz nach zivilem Muster angelegt. Hier erscheinen zugleich zahlreiche einheimische Funde in römischem Kontext, die die friedlichen Verhältnisse erkennen lassen. Diese friedlichen Verhältnisse scheinen schon zu Beginn der Feldzüge geherrscht zu haben, da das Versorgungslager Rödgen keine starke Schutztruppe benötigte; im weiteren Vorfeld kennt man bislang auch noch keinen größeren militärischen Stützpunkt, der denen des Lippegebietes vergleichbar wäre. Wenn dieses Fundbild die tatsächliche historische Situation spiegelt, dann waren die politischen und militärischen Verhältnisse der beiden Feldzugsgebiete deutlich voneinander verschieden, ein Befund, der sich in dieser Differenzierung den schriftlichen Quellen nicht entnehmen lässt.

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Literatur Allgemein Baatz u. Herrmann (1989) Dietwulf Baatz u. Fritz Rudolf Herrmann, Die Römer in Hessen, 2. Aufl., Stuttgart. Horn (1987) Heinz Günther Horn (Hg.) Die Römer in NordrheinWestfalen, Stuttgart.

Zu den Fundplätzen Anreppen Kühlborn (2009) Johann-Sebastian Kühlborn, Anreppen, Stadt Delbrück, Kreis Paderborn, Römerlager in Westfalen 4, Münster. Barkhausen

Kühlborn (1995) Johann-Sebastian Kühlborn, Germaniam pacavi – Germanien habe ich befriedet. Archäologische Stätten augusteischer Okkupation, Münster.

Neujahrsgruß (2009) Neujahrsgruß 2009 (Jahresbericht 2008 der LWL-Archäologie für Westfalen und der Altertumskommission für Westfalen), Münster, 54–56.

Kühlborn (2008) Johann-Sebastian Kühlborn et al. (Hgg.), Rom auf dem Weg nach Germanien. Geostrategie, Vormarschstraße, Logistik, Mainz.

Dorlar

Märtin (2009) Ralf-Peter Märtin, Die Varusschlacht. Rom und die Germanen, Frankfurt a. M. Meyer (2008) Michael Meyer, Mardorf 23, Lkr. Marburg – Biedenkopf. Archäologische Studien zur Besiedlung des deutschen Mittelgebirgsraumes in den Jahrhunderten um Christi Geburt, Rahden/Westf.

von Schnurbein u. Köhler (1994) Siegmar von Schnurbein u. Heinz-Jürgen Köhler, „Dorlar. Ein augusteisches Römerlager im Lahntal“, Germania 72, 193–203. Dorsten-Holsterhausen Ebel-Zepezauer (2009) Wolfgang Ebel-Zepezauer, Holsterhausen, Stadt Dorsten, Kreis Recklinghausen, Römerlager in Westfalen 2, Münster. Hedemünden

von Schnurbein (1981) Siegmar von Schnurbein, „Untersuchungen zur Geschichte der römischen Militärlager an der Lippe“, Berichte der Römisch-Germanischen Kommission 62, 5–100. von Schnurbein (2003) Siegmar von Schnurbein, Augustus in Germanien. Neue archäologische Forschungen, Amsterdam [englische Version unter dem Titel: „Augustus and his new ‚town‘ at Waldgirmes east oft the Rhine“, JRA 16 (2003), 93–107]. Wiegels (2007) Rainer Wiegels (Hg.), Die Varusschlacht. Wendepunkt der Geschichte?, Stuttgart. Wolters (2008) Reinhard Wolters, Die Schlacht im Teutoburger Wald. Arminius, Varus und das römische Germanien, München.

Grote (2006) Klaus Grote, „Das Römerlager im Werratal bei Hedemünden (Ldkr. Göttingen). Ein neuentdeckter Stützpunkt der augusteischen Okkupationsvorstöße im rechtsrheinischen Germanien“, Germania 84, 27–59. Grote (2007) Klaus Grote, „Das Römerlager in Hedemünden (Werra). Die archäologischen Arbeiten bis Jahresende 2007. 3. Vorbericht“, Göttinger Jahrbuch 55, 5–17. Haltern Aßkamp (2010) Rudolf Aßkamp, Haltern Stadt Haltern am See, Kreis Recklinghausen, Römerlager in Westfalen 5, Münster. Kneblinghausen Rudnick (2009) Bernhard Rudnick, Kneblinghausen, Gemeinde Rüthen, Kreis Soest, Römerlager in Westfalen 1, Münster.

AUGUSTUS IN GERMANIEN

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Marktbreit

Oberbrechen

Pietsch, Timpe u. Wamser (1991) Martin Pietsch, Dieter Timpe u. Ludwig Wamser, „Die augusteischen Truppenlager von Marktbreit“, Berichte der Römisch-Germanischen Kommission 74, 263–324.

Herrmann (2004) Fritz Rudolf Herrmann, „Numismatik und Archäologie. Vorbericht über ein neu entdecktes römisches Lager bei Oberbrechen (Kreis Limburg-Weilburg)“, in: Reiner Cunz (Hg.), Fundamenta Historiae. Geschichte im Spiegel der Numismatik und ihrer Nachbarwissenschaften. Festschrift für Niklot Klüßendorf zum 60 Geburtstag am 10. Februar 2004, Hannover, 435–445.

Steidl (2009) Bernd Steidl, „Nordbayern zur Zeit Marbods“, in: Vladimir Salacˇ u. Jan Bemmann (Hgg.), Mitteleuropa zur Zeit Marbods, Prag u. Bonn, 473–484, bes. 479–482.

Sievern Niederweimar Fiedler, Gütter u. Thiedmann 2002 Lutz Fiedler, Susanne Gütter, Andreas Thiedmann, Frühkaiserzeitliche Siedlungsfunde aus Niederweimar bei Marburg. Germania 80, 2002, 135–168. Oberaden Kühlborn (2009) Johann-Sebastian Kühlborn, Oberaden, Stadt Bergkamen, Kreis Unna und Beckinghausen, Stadt Lünen, Kreis Unna, Römerlager in Westfalen 3, Münster.

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Zimmermann (2005) Wolf Haio Zimmermann, „Sievern“, RGA 28, 368–372. Waldgirmes Becker u. Rasbach (2003) Armin Becker u. Gabriele Rasbach, „Die spätaugusteische Stadtgründung in Lahnau-Waldgirmes“, Germania 81, 147–199. Becker (2008) Armin Becker, „Lahnau-Waldgirmes und die Feldzüge des Germanicus“. Mitteilungen des Oberhessischen Geschichtsvereins 93, 83–89.

III. In situ

Bronzener Pferdekopf aus der römischen Stadtanlage von Lahnau-Waldgirmes.

Michael Meyer hostium aviditas Beute als Motivation germanischer Kriegsführung

Die Überlieferung zur Varusschlacht konfrontiert uns mit dem Phänomen, dass ein germanisches Stammesaufgebot in der Lage gewesen ist, ein Großaufgebot römischen Militärs zu besiegen. Wie konnte es auf germanischer Seite gelingen, eine so große und schlagkräftige Koalition zusammenzubringen? Offensichtlich spielt der Sieg gegen die römische Herrschaft die zentrale Rolle – der Gedanke der Befreiung klingt bei Tacitus1 mit der Bezeichnung liberator Germaniae für Arminius an. Aber für den einfachen Teilnehmer an der Schlacht, für die Anführer kleinerer Einheiten und größerer Verbände, dürfte daneben die Aussicht auf reiche Beute eine wesentliche Motivation dargestellt haben, sich der Streitmacht anzuschließen. Dass der Gedanke an erbeutete Reichtümer die Germanen stark beeinflussen konnte, erfahren wir verschiedentlich aus den Schriftquellen. Cassisus Dio berichtet etwa im Buch 56 seiner Römischen Geschichte über die Aussicht auf Beute, die auch vorsichtige Germanen während der clades Variana dazu brachte, in die Kämpfe einzugreifen.2 Bei der Belagerung des einzigen in römischer Hand gebliebenen Lagers nach der Schlacht „wären alle zugrunde gegangen oder auch in Gefangenschaft geraten, wenn sich die Barbaren nicht zu sehr mit dem Erraffen der Beute aufgehalten hätten“.3 Und Tacitus berichtet in seinen Annalen, wie der im Zuge der Feldzüge des Germanicus in Bedrängnis geratene Caecina während der Schlacht gerettet werden konnte: „Eine Hilfe für uns war die Habgier der Feinde, die das Gemetzel aufgaben und über die Beute herfielen“.4 Aber auch die Archäologie kann hier inzwischen Indizien liefern. Auf dem spätaugusteischen Schlachtfeld von Kalkriese zeigen sich deutliche Hinweise auf Beraubung, und die umliegenden Siedlungen liefern römisches Material, das offensichtlich vom Schlachtfeld aufgelesen wurde.5 Wie groß war aber die potentielle Beute, mit der die Germanen beim Angriff auf das Heer des Varus im Jahr 9 n. Chr. rechnen konnten? Am Beispiel des Eisens soll im Folgenden ein Eindruck vermittelt werden sowohl von ihrem Umfang als auch von der enormen Bedeutung, welche diese Beute für die germanischen Gruppen gehabt haben dürfte. Von welcher Größe des römischen Truppenkontingents wir ausgehen müssen, hat Velleius Paterculus6 exakt überliefert: drei Legionen, drei Alen und sechs Kohorten. Diese Aussage wird durch einige fast nebensächliche Erwähnungen der Varusniederlage von unmittelbar zeitgenössischen Autoren wie Ovid oder Marcus Manilius unterstützt – gerade letzterer erwähnt in seinen um 10 n. Chr. entstandenen Astronomica explizit die drei untergegangenen Legionen des Varus.7 Mit Michael Sommer sind es gerade die flüchtigen Erwähnungen der Varusniederlage, die sehr kurz danach aufgeschrieben wurden, die „jeden Zweifel daran zerstreuen, dass es sich bei der clades Variana tatsächlich um ein veritables

1 2 3

Tac. ann. 2,88,2. Cass. Dio 56,21,4. Cass. Dio 56,22,3; Übersetzung nach Herrmann (1991) 311.

4 5 6 7

Tac. ann. 1,65,6; Übersetzung nach Herrmann (1991) 111. Vgl. z.B. Rost (2008). Vell. 2,117,1. Manil. 1,899f.

HOSTIUM AVIDITAS

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Abb. 1 | Mit einem Schienenpanzer ausgerüsteter römischer Legionär.

Großereignis handelte – und nicht etwa um eine im Nachhinein von der römischen Historiographie rhetorisch aufgebauschte Belanglosigkeit.“8 Wir dürfen also mit großer Wahrscheinlichkeit davon ausgehen, dass tatsächlich drei römische Legionen in dieser Schlacht geschlagen wurden. Die Sollstärke einer Legion dieser Zeit betrug zwischen 5000 und 6000 Mann, die Kohorten und Alen umfassten jeweils 500 Soldaten.9 Es ist allerdings anzunehmen, dass die Legionen nicht in Sollstärke angetreten waren, da Vexillationen aus ihnen an anderen Orten mit unterschiedlichen Aufgaben gebunden gewesen sein dürften.10 Dies macht es schwierig zu sagen, wie stark die Einheiten wirklich besetzt waren: Eine genaue Quantifizierung der realen Truppenstärke ist nicht möglich. Hinzu kommt andererseits, dass der Heereszug des Varus nicht nur aus marschierenden und reitenden Soldaten bestand. „Sie führten auch viele Wagen und Lasttiere mit sich, wie mitten im Frieden. Dazu folgten ihnen nicht wenige Kinder und Frauen sowie der übrige riesige Troß“, berichtet uns Cassius Dio.11 Auch dafür liefert das Schlachtfeld von Kalkriese deutliche archäologische Hinweise. Es ist also unmöglich, die Gesamtmenge an Eisen sicher zu ermitteln, die mitgeführt wurde, da neben der Bewaffnung und Ausrüstung der Soldaten (Abb. 1–2) auch im Tross viele Gegenstände aus Eisen mitgeführt wurden – bis hin zu den eisernen Wagenteilen.

8 9

152

Sommer (2009) 58. Zur Struktur und Ausrüstung der augusteischen Rheinarmee siehe aus der Fülle an Literatur zusammenfassend zuletzt Moosbauer (2009) 9–16.

MICHAEL MEYER

10 11

Moosbauer (2009) 73. Cass. Dio 56,20,2; Übersetzung nach Herrmann (1991) 309.

Abb. 2 | Mit einem Kettenhemd ausgerüsteter römischer Legionär.

Um aber überhaupt eine Vorstellung zu bekommen, soll hier – unter Vernachlässigung des nicht zu kalkulierenden Trosses – von einem Kontingent von 12000 Mann ausgegangen werden. Grundlage der Berechnung ist das Gewicht des Eisens, das Bestandteil ihrer Ausrüstung war. Hierzu hat Junkelmann12 auf der Grundlage nachgearbeiteter Ausstattungen Zahlen vorgelegt. Keine Berücksichtigung findet hier das unterschiedliche Gewicht der Ausrüstung von Reiterei und Hilfstruppen. Objekt

Gesamtgewicht

Caligae

1,3 kg

in etwa enthaltenes Eisen ca, 0,5 kg

Kettenhemd

8,3 kg

ca. 8,3 kg

2 Cingula

1,2 kg

ca. 0,5 kg

Schwert mit Scheide

2,2 kg

ca. 1,8 kg

Dolch mit Scheide

1,1 kg

ca. 1,0 kg

Helm mit Buschen

2,1 kg

ca. 2,0 kg

Schild ohne Überzug

9,7 kg

ca. 1,5 kg

Pilum

1,9 kg

ca. 0,8 kg ca. 16,4 kg

12

Junkelmann (1985) 197.

HOSTIUM AVIDITAS

153

Multipliziert man diese erstaunlich hohe Zahl mit 12000, so erhält man ein Eisen-Gesamtgewicht von 196800 kg Eisen, welches von den Soldaten des Varus durch das römisch besetzte Germanien getragen wurde. Was bedeutete diese Rohstoffmenge für die Germanen? Der Rohstoff Eisen ist in Nordwestdeutschland in großer Menge als sog. ‚Raseneisenerz‘ vorhanden, besonders im westlichen Niedersachsen finden sich zahlreiche Lagerstätten. Es handelt sich dabei um sehr eisenhaltige Konkretionen in grundwasserbeeinflussten Böden, die häufig als Bänke dicht unter der Oberfläche anstehen. Um hieraus schmiedbares Eisen zu gewinnen, ist ein mehrstufiger Produktionsprozess notwendig (Abb. 3). Hier dargestellt ist der Typ des Schachtofens mit Schlackegrube, neben dem Ofen mit Arbeitsgrube der Standardtyp im Barbaricum der Römischen Kaiserzeit.13 Zunächst muss das Roherz in Form von Raseneisenerz in Brocken geborgen (Abb. 3,1) und zur Verhüttungsstelle transportiert werden. Zumeist wird angenommen, dass die Erzbrocken im Feuer ‚geröstet‘ werden (Abb. 3,2), sicherer Bestandteil der chaîne opératoire ist das manuelle Zerkleinern des Erzes (Abb. 3,3). Parallel dazu wird Holz geschlagen und in einfachen Grubenmeilern Holzkohle hergestellt (Abb. 3,4). Für den Rennofen (Abb. 4) wird eine Grube ausgehoben, in die während des Verhüttungsprozesses die Schlacke abfließen kann (Abb. 3,5). Auf den Grubenrand wird der Ofenmantel aus Lehm aufgebaut, im unteren Bereich verbleiben einige Öffnungen für die mit Blasebälgen erzeugte Luftzufuhr. Der Rennofen wird mit Holzkohle und dem zerkleinerten Raseneisenerz beschickt (Abb. 3,6.7); um zu verhindern, dass diese Mischung in die darunterliegende Grube durchrutscht, wird diese mit Stroh oder kleinen Holzscheiten angefüllt. Der Verhüttungsprozess kann einen ganzen Tag dauern und trennt die Verunreinigungen – die als Schlacke abfließen – vom Eisen – der Luppe. Nach dem Brennvorgang wird der Ofenschacht zerschlagen (Abb. 3,8), die Luppe entnommen (Abb. 3,9) und ausgeschmiedet (Abb. 3,10). Eine eigenständige Eisenverhüttung ist in Deutschland seit der frühen Eisenzeit, der Hallstattzeit, belegt. Vor allem Untersuchungen in Südwestdeutschland14 zeigen seit einigen Jahren umfangreiche, zentralisierte Eisenverhüttung der späten Hallstattzeit, so dass jetzt in der älteren Phase der Eisenzeit eine eigenständige Versorgung mit dem neuen und wichtigen Rohstoff nachgewiesen ist. Für Norddeutschland wurde noch Ende der 90er Jahre von einem Import des Eisens nach Norddeutschland in der Vorrömischen Eisenzeit ausgegangen – die hier gegenüber Süddeutschland zeitlich versetzt etwa um 550/500 v. Chr. beginnt.15 Grabungen der letzten Jahre vor allem in Glienick, Lkr. Teltow-Fläming16, konnten inzwischen aber zeigen, dass Eisenverhüttung in großem Umfang auch hier bereits spätestens im 4. Jahrhundert v. Chr. durchgeführt wurde. Eine vergleichbare intensive Eisenverhüttung kennen wir aus der frühen Kaiserzeit – der Zeit der Varusschlacht – jedoch hierzulande nicht mehr. Jetzt dominieren, so weit wir heute wissen, Siedlungen mit einzelnen oder maximal einigen Dutzend Öfen, die eine ‚Vor-Ort-Versorgung‘ zeigen. In Nordwestdeutschland sind Rennöfen in seltenen Fällen für die jüngere Vorrömische Eisenzeit und – häufiger – für die Römische Kaiserzeit belegt. Wie die Kartierung zeigt (Abb. 5), streuen die Nachweise vor allem im Gebiet westlich der mittleren Ems und im Bereich der Unterweser, aber auch der Mittelgebirgssaum zeigt eine Reihe von Befunden. 13 14

154

Vgl. de Rijk (2007) Abb. 64. Vgl. Gassmann u. Wieland (2008); Gassmann, Hauptmann u. Hübner (2005); Gassmann, Rösch u. Wieland (2006).

MICHAEL MEYER

15 16

Jöns (1998). Brumlich u. Meyer (2005); Brumlich (2010).

Abb. 3 | Arbeitsschritte bei der Verhüttung von Raseneisenerz im Schachtofen mit Schlackegrube.

HOSTIUM AVIDITAS

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Abb. 4 | Nachbau eines prähistorischen Rennofens, hier jedoch nicht mit Schlackegrube, sondern mit Arbeitsloch. Rechts und links wird mit Blasebälgen in regelmäßigem Rhythmus Luft in den Brennraum geblasen. Im Vordergrund Hammer und Ambossstein zum ersten Verdichten der Luppe.

Wir können also mit einer flächendeckenden Kenntnis der Verhüttungstechnologie rechnen; das Fundbild spiegelt neben gehäuften Raseneisenerzvorkommen auch den heterogenen archäologischen Forschungsstand. Um die Bedeutung der Eisenmenge des Varusheeres einschätzen zu können, soll im Folgenden versucht werden, den Aufwand zu berechnen, den die Germanen für ihre Produktion hätten betreiben müssen. Die Basis aller Ertragsberechnungen ist dabei das Gewicht der Schlacke, die von einer Rennofenreise übrig ist. Verlässlich ist dies nur bei Ofentypen möglich, in denen sich das Abfallprodukt als Schlackeklotz sammelt. Dies ist bei den Schachtöfen mit Schlackegrube der Fall. Leider liegen aus Nordwestdeutschland kaum Angaben über das Gewicht von Schlackeklötzen vor. Die Gewichtsangaben schwanken zwischen 20 und 83 kg.17 Jöns gibt für seine Untersuchung des spätkaiserzeitlichen Verhüttungsstandortes Joldelund (Nordfriesland) einen Durchschnittswert von 58,5 kg Schlackegewicht bei den 158 archäologisch untersuchten aussagekräftigen Schlackegruben an;18 beschränkt man die Gewichtsangaben auf die mindestens 0,50 m tief erhaltenen Gruben, so erhöht sich das Durchschnittsgewicht auf 68,5 kg. Auf ähnliche Werte weisen die Angaben zu den frühkaiserzeitlichen Rennöfen aus Quedlinburg hin.19 Nikulka hat die Ergebnisse bisheriger Eisenverhüttungsversuche evaluiert und kommt zu einem Zahlenverhältnis von Schlacke : Luppe : Eisen von 100 : 18 : 12.20 100 kg Schlacke stehen nach dieser Berechnung für eine dabei gewonnene Luppe von 18 kg, die sich auf 12 kg schmiedbares Eisen reduziert. 17 18 19

156

De Rijk (2007) 167; Nikulka (2000) 73. Jöns (1997) 127. Steinmann (2006) führt 32 „Rennöfen und verwandte Anlagen“ (15) und ein Gesamtgewicht an Schlacken von

MICHAEL MEYER

20

1813 kg (159) von diesem Fundplatz an. Das höchste Gewicht aller Schlackeklötze beträgt in einem Fall 71,5 kg, weitere Angaben liegen nicht vor. Nikulka (1995).

Abb. 5 | Kartierung von Verhüttungsnachweisen der Vorrömischen Eisen- und Römischen Kaiserzeit in Nordwestdeutschland (Nachweis siehe Fundortnachweis im Textanhang).

Zu abweichenden Ansätzen kommen Jöns21 und Ganzelewski.22 Aus einer Menge von 35 t Schlacke, die in Joldelund geborgen wurden, errechnen sie eine Gesamtmenge von 7,4 t Luppeneisen, die sich beim Schmieden eines Barrens auf 2,6 t reduziert. Weitere 20 % Verlust werden dann bis zum Schmieden eines Gegenstandes berechnet, so dass nur ca. 2 t Eisen übrig bleiben. Das ergibt ein Verhältnis von Schlacke : Luppe : Eisen von 100 : 21 : 7,4/5,7.23 21 22 23

Jöns (1997) 175. Ganzelewski (2000) 64ff. Vgl. hierzu kritisch Bielenin (2000) 254. Sein Hinweis auf die Annahme von 20 kg ungeschmiedetem Eisen auf 100 kg Schlacke durch Voss (1991) widerspricht

allerdings nicht den von Jöns und Ganzelewski vorgetragenen Überlegungen, da er die Reduktion des ungeschmiedeten Eisens durch das Schmieden von Barren und Gegenständen noch nicht berücksichtigt.

HOSTIUM AVIDITAS

157

Bei der Berechnung der Anzahl der Rennöfen liegen so unterschiedliche Angaben vor, dass zwei getrennte Szenarien durchgespielt werden. In beiden Fällen wird das in Joldelund ermittelte Gewicht der Schlackeklötze als Bemessungsgrundlage verwendet. Die fast 200000 kg Eisen, die wir dem Truppenkontingent des Varus zurechnen, würden also folgendem germanischem Produktionsaufwand entsprechen: Legen wir die Angaben Nikulkas zugrunde, so ergeben sich: 200000

kg

Eisen

300000

kg

Luppe

1666666

kg

Schlacke

24331

Rennöfen (68,5 kg)

Nach Jöns und Ganzelewski errechnen sich folgende Zahlen: 200000

kg

Eisen

736800

kg

Luppe

3508000

kg

Schlacke

51212

Rennöfen (68,5 kg)

Welche der Berechnungen man auch immer zugrunde legt: Es ergibt sich eine erstaunlich hohe Anzahl von Rennöfen mit dem jeweils zugehörigen Arbeitsprozess vom Brechen des Raseneisenerzes über die Errichtung des Rennofens bis zum vielstündigen Verhüttungsprozess selber. Auch der Holzbedarf für den Verhüttungsprozess lässt sich quantifizieren. Spazier24 geht von einem Verhältnis von Holzkohle zu Erz von 1,5 : 1 aus, auf 1 kg zu verhüttendes Erz kommen also bei der Beschickung des Ofens 1,5 kg Holzkohle. Andere Schätzungen kommen zu wesentlich größeren Holzkohlemengen, allerdings weist Spazier darauf hin, dass der Einsatz größerer Holzkohlemengen das Resultat nicht verbessert.25 Aus 2 kg ungeröstetem Erz bleibt als Abfallprodukt 1 kg Schlacke übrig,26 wobei sich durch Rösten das Gewicht des eingesetzten Erzes erheblich reduzieren kann. Auch zur Berechnung der Holzmenge, die für die Herstellung der Holzkohle benötigt wird, liefert Spazier Berechnungen.27 1 m3 (= Festmeter) Holz – nach den Holzartenbestimmungen aus Wolkenberg Hartlaub- und Weichholz im Verhältnis von 70 : 30 – wiegen 700 kg und ergeben 84 kg Holzkohle; für die Herstellung von 1 kg Holzkohle benötigt man also 8,3 kg Holz. Etwa 200 fm Holz wachsen nach Nicke28 auf einem ha Waldfläche. Nach Spazier und den Werten Nikulkas (links) bzw. Jöns und Ganzelewskis (rechts) errechnet sich demnach folgender Holzverbrauch:

24 25 26

158

Spazier (2005/2006) 150. Spazier (2005/2006) 150. Spazier (2005/2006) 150 mit Hinweis auf abweichende Kalkulationen.

MICHAEL MEYER

27 28

Spazier (2005/2006) 150f. Nicke (2005/2006).

Werte nach Nikulka

Werte nach Jöns/Ganzelewski

200000

kg

Eisen

200000

3508000

kg

Schlacke

1666666

7016000

kg

ungeröstetes Erz

3333332

10524000

kg

Holzkohle

5000000

87349200

kg

Holz

41500000

124785

fm

Holz

59286

624

ha

Wald

296

6,24

qkm

Wald

2,96

Die Bäume von ca. 3 bzw. 6 km2 Wald hätten also gef ällt, in Grubenmeilern zu Holzkohle geköhlert und zu den Verhüttungsplätzen transportiert werden müssen. Diese beachtlichen Zahlen, die einen enormen Arbeitsaufwand spiegeln, lassen unschwer erkennen, wie attraktiv die Beute, die sich durch einen siegreichen Angriff auf das Heer des Varus erzielen ließ, für die germanischen Kämpfer gewesen sein muss. In den letzten Jahren wurde bei der Diskussion germanischer Sozialstrukturen verstärkt die Rolle klientelärer Verbindungen in den Vordergrund gerückt29 und die Bedeutung der von ihnen ausgehenden Gewalt betont.30 Das in der Vergangenheit oft überbetonte Modell der Gefolgschaft31 wird dadurch aus neuer Perspektive beleuchtet. Es ist der Sieg bei kriegerischen Auseinandersetzungen, der das Prestige für die Stabilisierung der sozialen Position des Gefolgschaftsführers mit sich bringt, und es sind die dabei erbeuteten Reichtümer, die es erlauben, die Gefolgschaft auszuhalten und gegebenenfalls zu erweitern. Mit Blick auf rezente warlords konnte Burmeister32 zeigen, dass ein solches Modell auch heute noch funktioniert. Wie weit solche warlords dann aber tatsächlich die gesamte germanische Gesellschaftsstruktur und ihre wirtschaftliche Organisation bestimmten, wie nachhaltig ihr Einfluss gewesen ist, das bedarf allerdings noch der Diskussion.33 Der Befund der Varusschlacht mit seiner großen Koalition auf germanischer Seite bleibt über lange Zeit ein Sonderfall. Die dabei zu erzielende Beute war nicht nur für den einzelnen Krieger eine große Motivation: Sie konnte vielmehr auch für die Anführer dazu dienen, ihre soziale Stellung zu festigen oder sogar auszubauen. Wie viel zu erbeuten war, wird in aller Klarheit erst dann deutlich, wenn man es – wie im Fall des Eisens – damit kontrastiert, wie hoch der Produktionsaufwand für die Germanen gewesen wäre.

29 30 31 32

Vgl. Veit (2009) 331. Vgl. Steuer (2003). Vgl. Landolt, Timpe u. Steuer (1998) 537–546. Burmeister (2009).

33

Vgl. hier etwa Sommer (2009) 136f., der die historische Sondersituation in der post-oppida-Periode mit der „ökonomischen wie moralischen Notlage einer krisengeschüttelten Gesellschaft“ betont.

HOSTIUM AVIDITAS

159

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160

MICHAEL MEYER

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Veit (2009) Ulrich Veit, „Bauern – Häuptlinge – Fürsten. Kulturanthropologische Modelle archaischer Herrschaftssysteme und die Archäologie der frühen Germanen“, in: 2000 Jahre Varusschlacht. Konflikt (Katalog zur Ausstellung der Varusschlacht im Osnabrücker Land GmbH in Museum und Park Kalkriese, 16. Mai – 25. Oktober 2009), Stuttgart, 326–333. Voss (1991) Olfert Voss, „Jernproduktionen i Danmark i perioden 0–550 e.Kr.“, in: Charlotte Fabech u. Jytte Ringtved (Hgg.), Samfundsorganisation og Regional Varation. Norden i romersk jernalder og folkevandringstid, Århus, 171–186.

Fundortnachweis zu Abb. 5 Verhüttungsstandorte der Übergangszeit und der Römischen Kaiserzeit in Nordwestdeutschland (Abb. 5). Die Nummerierung bezieht sich auf Nikulka (2000) 96–102: 41. (Bohlenweg im Wittemoor) EZ – Dendro 129 BC; 45. (Holtland; 19 Öfen) – RKZ (Datierung wenige Keramikfragmente); 56. (Gristede; 15 Öfen) – um Chr. Geb.; 1. Jh. n. Chr.; 2./3. Jh. n. Chr.; 1. Jh. – 500 n. Chr.; 6./7. Jh. n. Chr; RKZ; 65. (Dötlingen; 17 Öfen) – RKZ; 67. (Dötlingen, ‚Im Stühe‘; min. 50 Öfen) – 1. Jh. v./1. Jh. n. Chr.(Dat: wenige Scherbenprofile); 70. (Streekermoor; 55 Öfen) – um Chr. Geb; 25+/-35 n. Chr.; 1. Jh. n. Chr.; 85. (Darme) – RKZ/VWZ; 89. (Gleesen) EZ–VEZ (1 Ofensau und Scherben, vermutlich der vorrömischen Eisenzeit); 111. (Delmenhorst-Blutkamp; 31 Öfen) – 1. Jh. n. Chr. (nach Zoller 1977 kaiserzeitlich) NEU: 14C-Datum 2135 +/– 50 BP für drei Öfen (F. Both, Die Römische Kaiserzeit und Völkerwanderungszeit im Weser-EmsGebiet. Archäologische Denkmäler zwischen Weser und Ems (Oldenburg 2000) 80–95; hier: 93; 113. (Grasdorf; 43 Öfen) – RKZ; VWZ; 114. (Laar; 14 Öfen) – RKZ; 116. (Wengsel) – RKZ; 123. (Stolzenau) – ältere RKZ; 131. (Ochtrup) EZ – latènezeitlich (als Lesefunde Schlacken, Reste eines möglichen Rennofens und wohl latènezeitliche Schmiedewerkzeuge); 140. (Lahde; 35 Öfen) – um Chr. Geb.–jüngere RKZ; 156. (Oetinghausen) – 4./5. Jh. n. Chr.; 159. (Oetinghausen, ‚Auf dem Hagen‘) – mittlere RKZ; späte RKZ; 170. (Heek-Nienborg) – jüngere VEZ–jüngere RKZ; 176. (Wichum) – späte RKZ; 206. (Herzebrock-Clarholz) – EZ/RKZ; 230. (Haltern) – RKZ; 266. (Thüle) – ältere RKZ; 1. Jh. n. Chr.; 273. (Daseburg) – frühe RKZ; ältere RKZ; 283. (Oespel) – 3./4. Jh. n. Chr.; 284. (Langendreer) – 1. u. 2. Jh. n. Chr.; 1./3. Jh. n. Chr.; Helstorf, Stadt Neustadt am Rübenberge: ca. sieben Rennöfen, nach erster Funddurchsicht ältere RKZ (Nachrichten aus Niedersachsens Urgeschichte, Beiheft 9, 2002, 86ff.). Folgende von Nikulka (2000) angeführten Öfen wurden hier nicht berücksichtigt: 54. Borbeck: Datierung unsicher, ‚Luppen‘ vermutlich Fehlansprache; 212. Jöllenbeck: Datierung 12. Jh. n. Chr.; 253. Atteln; min. 19 Öfen: Datierung 6./7. bzw. 13./14. Jh. n. Chr.

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Achim Rost und Susanne Wilbers-Rost Kalkriese – Archäologische Spuren einer römischen Niederlage1

Einleitung Jahrhundertelang haben die schriftlichen Überlieferungen zur Varusschlacht, wie sie durch antike Autoren tradiert auf uns gekommen sind, die Vorstellungen von diesem Ereignis der mitteleuropäischen Frühgeschichte bestimmt. Sie haben nicht nur eine Vielfalt von Vermutungen ausgelöst, wo sich diese Schlacht zugetragen haben könnte, sondern prägen bis heute auch die Erwartungen, die an einen möglichen archäologischen Nachweis gerichtet werden. Die Berichte über diese Niederlage aus römischer Hand scheinen dabei gelegentlich als eine Art ‚Bestellkatalog‘ aufgefasst zu werden, dem die Archäologie nachzukommen hat. Insofern ist es nicht erstaunlich, dass die öffentliche Wahrnehmung der archäologischen Forschungen in Kalkriese weitgehend von einer historischen Blickrichtung geprägt ist. Das sich daraus ergebende Spannungsverhältnis zwischen historischen Sichtweisen einerseits und archäologischen Beobachtungen andererseits führt, verknüpft mit lokalpatriotischem Nachdruck, zwar schnell zu einem medienwirksamen Streit; dieser sollte jedoch nicht an die Stelle konstruktiver wissenschaftlicher Diskussion treten. Erstaunlich ist nicht nur die lange Tradition, die die Auseinandersetzung um den Fundplatz Barenau/Kalkriese und seine Interpretation besitzt, sondern auch die Art und Weise, wie diese bisweilen geführt wurde und wird. So resümiert Mommsen2 in seiner Einleitung zum Aufsatz über die Örtlichkeit der Varusschlacht: „… und zu wünschen wäre wohl, wenn auch kaum zu hoffen, dass die deutschen Localforscher, statt mit den beliebten patriotischtopographischen Zänkereien die kleinen und grossen Klatschblätter zu füllen und durch Kirchthurmscontroversen die unbefangenen Zuschauer zu erheitern, eine solche Gesammtarbeit (gemeint ist „die umfassende Verzeichnung und Ordnung der ausserhalb der römischen Grenzen auf deutschem Gebiet gemachten Funde römischer Münzen“) in Angriff nähmen und jeder für seinen Theil sie förderten.“

1

Der Althistoriker Theodor Mommsen vermerkt in seiner Abhandlung „Die Örtlichkeit der Varusschlacht“ (1906) 239: „In der That haben alle diejenigen, die mit offenen Augen aus der Nähe von diesen Funden (d.h. den „Münzmassen“ aus der Gegend von Barenau; die Fundortangabe „Barenau“ bei Mommsen ist weitgehend identisch mit der heutigen Bezeichnung ‚Kalkriese‘ für die ausgedehnte Fundregion) Kenntniss genommen haben, wie Justus Möser, Stüve, Hartmann,

2

darin den Nachlass einer geschlagenen und theilweise oder völlig zu Grunde gerichteten Armee erkannt. Seltsamer Weise haben aber die Gelehrten, welche der Localmeinung die Richtung gegeben haben, seit Jahrhunderten die richtige Wahrnehmung auf eine Armee (d. h. die des Germanicus) bezogen, die eben nicht zu Grunde ging und von deren Nachlass also überall nicht gesprochen werden darf.“ Mommsen (1906) 202.

KALKRIESE – ARCHÄOLOGISCHE SPUREN EINER RÖMISCHEN NIEDERLAGE

163

Abb. 1 | Das Untersuchungsgebiet ,Kalkriese‘ zwischen Wiehengebirge und Großem Moor.

Archäologische Funde und Befunde in Kalkriese. Die Wallanlage auf dem Oberesch Der Überblick Mommsens3 über die damals bekannten römischen Münzen aus der Gegend von Barenau und ihre Fundorte bildete auch die Ausgangsbasis für die Geländeprospektionen, mit der das heutige Forschungsprojekt ‚Kalkriese‘ vor gut 20 Jahren seinen Anfang nahm.4 1987 entdeckte der Amateurarchäologe Major Tony Clunn in Kalkriese einen Schatzfund römischer Münzen; einige Monate später kamen dann erste römische Militaria zutage, die zusammen mit weiteren Beobachtungen allmählich zu der Erkenntnis führten, dass am Nordhang des Wiehengebirges ein ausgedehntes Schlachtfeld aus augusteischer Zeit erschlossen werden kann. Bis heute andauernde interdisziplinäre Untersuchungen in der Kalkrieser-Niewedder Senke, zwischen Wiehengebirge und Großem Moor, ergeben inzwischen ein detailliertes Bild von diesem Kampfgeschehen; dennoch sind weiterhin viele Fragen zum Ablauf des Ereignisses zu klären. Immer deutlicher wurde jedoch ein Zusammenhang der Funde und Befunde mit der Varusschlacht im Jahre 9 n. Chr. Wir kennen heute ein ausgedehntes Fundareal mit zahlreichen Fundstellen, das annähernd von der Hase im Westen bis zur Hunte im Osten reicht und eine Fläche von etwa 30 km2 einnimmt (Abb. 1). 3

164

Mommsen (1906) 212–228.

ACHIM ROST UND SUSANNE WILBERS-ROST

4

Zur Forschungsgeschichte vgl. Schlüter (1993) 14ff. Zu den Münzfunden einschließlich der Altfunde vgl. Berger (1996).

Abb. 2 | Die Fundstelle ,Oberesch‘ in Kalkriese mit Grabungsschnitten und den wichtigsten Befunden der Schlacht (Stand: 2009).

Im Zentrum liegt der Oberesch, wo sich heute der Park des Museums Kalkriese befindet. Hier begann 1989 die erste Grabung, und bis heute steht dieser Platz im Mittelpunkt der Untersuchungen.5 Offenbar haben wir es mit einem zentralen Platz im Areal der Schlacht zu tun, bei der es sich nicht um einen Stellungskampf, sondern um ein sich über mehr als 10 km in Ost-West-Richtung erstreckendes Defileegefecht handelt. Wichtigster Befund ist eine Wallanlage, die als befestigter germanischer Hinterhalt zu interpretieren ist (Abb. 2). Inzwischen hat sich bei weiteren Grabungen an anderen Fundstellen herausgestellt, dass es – anders als anfangs erwartet – offenbar keine vergleichbaren Anlagen im Arbeitsgebiet gibt. Der Wall auf dem Oberesch war etwa 400 m lang und mehrfach geschwungen; nach strategischen Überlegungen geplant, verlief er wahrscheinlich in einer Entfernung von etwa 50 bis 70 m begleitend zu einem Weg am Unterhang des Kalkrieser Berges. Wenn auch nicht als Wegesperre konzipiert, war er als Hinterhalt gegen vorbeiziehende römische Truppen dennoch äußerst wirkungsvoll. Beim Wall ist die Anwendung verschiedener Techniken und eine relativ uneinheitliche Bauweise zu beobachten; dies ist vermutlich u.a. darauf zurückzuführen, dass in nächster Nähe verfügbares und damit kleinräumig unterschiedliches Baumaterial genutzt wurde. Außerdem bestanden die ‚Bautrupps‘ wahrscheinlich teils aus Angehörigen der römisch trainierten Hilfstruppen, teils aus germanischen Stammeskriegern, die über unterschiedliche Kenntnisse und Techniken verfügten. Zumindest im mittleren Abschnitt besaß die aus Sand und Grassoden in unterschiedlicher Zusammensetzung errichtete Anlage offenbar eine Brustwehr (Abb. 3). An der Innenseite fanden sich Gruben

5

Eine detaillierte Beschreibung und Interpretation der archäologischen Befunde findet sich bei Wilbers-Rost (2007).

KALKRIESE – ARCHÄOLOGISCHE SPUREN EINER RÖMISCHEN NIEDERLAGE

165

Abb. 3 | Oberesch, Schnitt 7: Bei den Grabungsarbeiten zeichneten sich Drainagegruben (links) und Pfosten einer Brustwehr (Bildmitte) im anstehenden Sand deutlich ab.

bzw. Grabenabschnitte, die auf einen Drainagegraben zurückzuführen sind; dieser orientierte sich an der Geländesituation und wurde nur dort ausgehoben, wo Wasser hinter dem Wall wegen des dort anstehenden Festgesteins mit Lehmüberdeckung nicht versickern konnte. Ein vorgelagerter Graben ist bis auf kurze Abschnitte an den Wallenden nicht entdeckt worden. Nachgewiesen sind auch mehrere Durchlässe, von denen mindestens einer durch eine Torkonstruktion gesichert war. Sie ermöglichten sowohl Ausf älle wie Rückzug seitens der Germanen, die vom Wall aus römische Truppen angreifen wollten. Der Verlauf der Wallanlage mit mehreren bastionsartigen Vorsprüngen, seine Konzeption als Abschnittswall und nicht als geschlossene Anlage sowie die zahlreichen Durchlässe deuten darauf hin, dass die Befestigung nicht so sehr defensive Funktion besessen hat als vielmehr auf Vorteile beim Angriff ausgerichtet war. Eine Interpretation als von Römern angelegtes Wall-/Grabensystem zum Schutz gegen feindliche Angriffe scheidet damit als Erklärung aus.6 Die Germanen hingegen hatten mit diesem Wall im Süden, zwei Bachläufen im Osten und Westen und der Feuchtsenke im Norden die Möglichkeit, römische Truppenteile, die diesen befestigten Hinterhalt erreichten, nach Bedarf durchzulassen oder einzukesseln und zu attackieren – eine Situation, die den Römern kaum eine Chance zum Aufbau einer erfolgreichen Kampfformation oder zur Flucht bot. 6

166

Ausführlicher zur Interpretation der Wallanlage vgl. Wilbers-Rost (2007) 74–84.

ACHIM ROST UND SUSANNE WILBERS-ROST

Abb. 4 | Eiserne römische Waffen vom Oberesch: Lanzenspitze (links), Lanzenschuh (rechts) und Geschützbolzen.

Abb. 5 | Ausrüstungsteile von Pferden und Maultieren aus dem römischen Tross.

Funde Das Fundmaterial in Kalkriese erscheint auf den ersten Blick spärlich, wenn man bedenkt, dass zumindest die beteiligten Römer7 große Mengen an Metallausrüstung mit sich geführt haben. Auff ällig ist jedoch die Vielfalt der nachgewiesenen Fragmente: Neben der Ausrüstung der kämpfenden Truppen (Abb. 4) kamen Ausrüstungsteile von Reit-, Zug- und Tragtieren (Abb. 5), persönliche Ausstattung wie Fibeln und Fingerringe, aber auch Bronze- und Silbergef äßfragmente sowie Glasgef äßscherben zutage. Man kann davon ausgehen, dass die Truppen von einem umfangreichen Tross begleitet wurden.8 Darauf deuten auch die auf dem Oberesch entdeckten Knochen und Skelette von Maultieren hin. 7

Die Anzahl der Gefallenen lässt sich bisher anhand der Funde nicht ermitteln. Die für die Varusschlacht aufgrund der schriftlichen Überlieferung geschätzte Zahl von etwa 20000 Beteiligten auf Seiten der Römer dürfte allerdings zu hoch gegriffen sein. Gechter (2007) 92;

8

zur Berechnung der Eisenmengen s. M. Meyer im vorliegenden Band. Kataloge des Fundmaterials aus den Schnitten 1–39 (vgl. Abb. 2) liegen vor: Harnecker (2008) u. (2011).

KALKRIESE – ARCHÄOLOGISCHE SPUREN EINER RÖMISCHEN NIEDERLAGE

167

Abb. 6 | Oberesch, Schnitt 24: Grube mit Knochenresten von Menschen und Equiden.

Knochen Trotz ungünstiger Überlieferungsbedingungen im Sandboden waren auf dem Oberesch Knochen erhalten.9 Die meisten Relikte, sowohl von Menschen als auch von Maultieren und einzelnen Pferden, lagen in Gruben. In den derzeit acht Knochengruben (Abb. 6) fanden sich neben Tierknochen Überreste von Gefallenen, wahrscheinlich von Römern; allerdings waren sie nicht unmittelbar nach der Schlacht, sondern erst einige Jahre später bestattet worden.10 Die Untersuchungen an diesem überwiegend sehr schlecht erhaltenen Knochenmaterial haben gezeigt, dass die Toten vor der Deponierung einige Jahre auf der Oberfläche liegen geblieben waren; Weichteile und Sehnen waren vergangen und die Skelettverbände völlig aufgelöst, so dass lediglich letzte Überreste der Skelette in die Gruben gelangten. Diese ‚Bestattungen‘ können mit dem Bericht des Tacitus über den Besuch der Truppen des Germanicus auf dem Varus-Schlachtfeld im Jahr 15 n. Chr. in Verbindung gebracht werden.11 In den Gruben überwiegen menschliche Überreste gegenüber den Knochen von Equiden. Offenbar sind Menschenknochen vordringlich gesammelt worden; einige von ihnen lassen zudem eine gewisse Fürsorge bei der Niederlegung erkennen. In allen Fällen sind Reste mehrerer Toter in die Gruben verbracht worden. Wir haben es demnach mit einer Art von Massengräbern zu tun, wenn auch nicht im eigentlichen Sinne, da nie vollständige Skelette vorliegen. Diese ‚Bestattungen‘ sind ein weiterer Hinweis auf den Ort der Varusschlacht, in deren Zusammenhang überliefert ist, dass Gefallene erst mehrere Jahre später bestattet wurden. 19 10

168

Uerpmann u. Uerpmann (2007); Großkopf (2007). Ausführlicher zur Interpretation dieser Gruben Rost u. Wilbers-Rost (in Vorbereitung).

ACHIM ROST UND SUSANNE WILBERS-ROST

11

Tac. ann. 1,60–62.

Abb. 7 | Zahlreiche Blechfragmente aus Bronze und Silber, die meistens verbogen oder mehrfach gefaltet sind, deuten auf Plünderungen durch die Germanen hin.

Zur Rekonstruktion des Wallverfalles Außer den in den Gruben niedergelegten Knochen fanden sich auf dem Oberesch größere Knochenensembles in unmittelbarer Nähe zum Wall. Diese Befunde erlauben ebenso wie Verteilung und Zustand der Metallfunde in dieser Zone die Untersuchung des Wallverfalls, der, verglichen mit unseren inzwischen recht guten Kenntnissen zu Verlauf und Funktion der Anlage, bisher wenig erschlossen ist. Wie beispielsweise ein komplett erhaltenes Maultier und andere größere Fundkomplexe zeigen, müssen einige Abschnitte bereits bei den Kampfhandlungen stark beschädigt worden sein, da diese Ensembles nur durch eine sofortige Überdeckung mit Wallmaterial vor Plünderern und Wildtieren geschützt waren. Im einzelnen ist noch zu klären, wo wir am Wall Zerstörungsspuren durch die eigentlichen Kampfhandlungen, im Zuge der anschließenden Plünderungen oder durch Erosionsprozesse fassen können. Anhand von stratigraphischen Fundkartierungen im Wallbereich wird versucht, dies zu analysieren. Dabei ist insbesondere der Zustand der Fundstücke zu berücksichtigen, d.h. ob sie z.B. Spuren von Plünderung, Verschrottung oder Materialsortierung zeigen. Bei näherer Betrachtung des Fundmaterials wird die extreme Fragmentierung deutlich. Wir haben es nur mit wenigen größeren oder gar vollständigen Objekten zu tun; zu Hunderten kamen Nägel zutage, aber auch zahllose Blechreste unterschiedlicher Größe, die vermutlich von organischen Trägern gelöst, dann gebogen, gefaltet oder geknüllt und so für einen leichteren Abtransport vorbereitet worden waren (Abb. 7).

KALKRIESE – ARCHÄOLOGISCHE SPUREN EINER RÖMISCHEN NIEDERLAGE

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Mit dem Beutemachen und Fleddern der Leichen, das in Kalkriese nachzuweisen ist,12 war offenbar eine Phase systematischen Verschrottens verbunden, und wir haben Hinweise darauf, dass dieser Prozess verstärkt in der näheren Umgebung des Walles ablief, wo zahlreiche Stücke mit Verschrottungsspuren entdeckt wurden. Gerade solche Beobachtungen machen deutlich, dass die Forschungen selbst auf dem besonders intensiv untersuchten Oberesch noch nicht abgeschlossen sind und dass die sich jetzt abzeichnenden Fragen nur mit Hilfe weiterer zielgerichteter Ausgrabungen und Analysen beantwortet werden können.

Mommsens Schlussfolgerungen Obwohl sich, wie dieser kurze Überblick zeigt, der heutige Stand der archäologischen Forschungen in Kalkriese eigentlich nicht mehr mit dem Mommsens vergleichen lässt, bietet seine Arbeit „Die Örtlichkeit der Varusschlacht“ auch heute noch interessante Anknüpfungspunkte. Bemerkenswerterweise nahm Mommsen bereits im ausgehenden 19. Jahrhundert eine letztlich archäologische Bewertung der Fundstelle Barenau vor; er bezog das damals vorhandene Fundmaterial, die bei Barenau entdeckten Münzen, keineswegs nur unter chronologischen, sondern auch unter quantitativen Gesichtspunkten in seine Überlegungen ein. Mit Verweis auf Arbeiten von Vorgängern kam er zu dem Schluss, dass die große Menge der bei Barenau gefundenen republikanischen bis augusteischen Münzen auf die weitgehende Vernichtung eines römischen Heeres zurückzuführen sei, und folgerte daraus weiter, dass die Funde nicht mit den Kampfhandlungen des Germanicus, sondern mit der Vernichtung des Varusheeres im Jahre 9 n. Chr. in Verbindung zu bringen sind.13 Vor allem zwei Phänomene trugen allerdings dazu bei, dass diese These Mommsens nur begrenzte Beachtung erfuhr: Es waren ausschließlich Münzen zutage gekommen, und zudem blieben nach dem Erscheinen seiner Veröffentlichung Neufunde weitgehend aus. In der Rückschau ist heute jedoch nachvollziehbar, warum Mommsen bzw. dem von ihm beauftragten Numismatiker Menadier bei ihrer Aufnahme fast ausschließlich Silber- und einige Goldmünzen zur Verfügung standen: Sie konnten lediglich auf das von Landwirten bei der Bewirtschaftung der Felder entdeckte Fundmaterial zurückgreifen, was zwangsläufig zu einer Beschränkung auf von Laien als wertvoll erfasste und meistens bei der Familie von Bar abgegebene Objekte führte. Kupfermünzen und erst recht Fragmente römischer Militärausrüstung, die, wie das heutige Fundspektrum zeigt, ohnehin meistens sehr unscheinbar sind, waren bei den Feldarbeiten nicht erkannt worden und standen somit für eine wissenschaftliche Beurteilung nicht zur Verfügung. Derartig selektive Wahrnehmung als Ursache für eine einseitige archäologische Quellenlage erschließt sich oft erst im Nachhinein, und auch die Seltenheit von Fundmeldungen in den auf Mommsens Publikation folgenden Jahrzehnten ist inzwischen gut mit der Umstellung der Düngung erklärbar; die Eschwirtschaft wurde ersetzt durch die Verwendung von Kunstdünger, bei der die Landwirte weniger direkten Kontakt zu den im Boden erhaltenen Artefakten haben. Vor diesem Hintergrund erscheint Mommsens Auffassung, aus der Menge der Funde, den beim damaligen Forschungsstand etwa 200 vorhandenen oder erwähnten römischen Münzen, direkte Rückschlüsse auf die Kampfhandlungen ziehen zu können, um so beachtenswerter. Sie fordert eine eingehende Prüfung geradezu heraus und macht zugleich deutlich, wie eng die heutige Analyse des Fund12

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S. unten S. 173f.

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Vgl. Anm. 1.

materials aus Kalkriese forschungsgeschichtlich verknüpft ist mit den frühen Versuchen, diese Fundstelle zu bewerten. Mitunter hat Mommsen in seiner Argumentation archäologische Aspekte stärker berücksichtigt, als gemeinhin wahrgenommen.

Faktoren einer archäologisch-quellenkritischen Analyse von Schlachtfeldern Die Annahme, dass von der Fundmenge direkt auf die Art des militärischen Ereignisses geschlossen werden kann, wovon offensichtlich auch Mommsen ausgegangen ist, erscheint zwar zunächst verlockend, birgt jedoch bei näherer Betrachtung das Risiko erheblicher Fehleinschätzung. Die Forschungen in Kalkriese, die erstmals die archäologische Untersuchung der Hinterlassenschaften einer antiken Feldschlacht ermöglichen, haben in dieser Hinsicht zu einem Lernprozess geführt und wichtige methodische Einsichten erbracht.14 Mehr noch als bei Stellungsgefechten oder Belagerungen mit ihren oft umfangreichen Schanzungen, wie z.B. dem Einschluss des gallischen Oppidums Alesia durch Caesar 52 v. Chr.15, vermitteln bei Feldschlachten in erster Linie die Funde und ihre Verteilung Anhaltspunkte für eine Rekonstruktion der militärischen Ereignisse.16 Die Fülle der Funde und Befunde auf dem Oberesch führte zunächst zu der Erwartung, dass ähnliche Anlagen auch in der Umgebung zu finden sein müssten, und nährte zugleich die Vorstellung, dass Menge und Art der Funde Auskunft über die Intensität der Kämpfe an verschiedenen Stellen des weitläufigen Kampfareals geben können. Die weiteren Untersuchungen ergaben allerdings, dass die römischen Militaria zwar am Fuß des Kalkrieser Berges im Engpass zwischen Großem Moor und Berg über ein Gebiet von fast 30 km2 streuen, der Großteil der Funde aber auf der Flur Oberesch zutage kam.17 Da außerdem jenseits dieser Fundstelle keine weiteren Wallstrukturen nachgewiesen werden konnten,18 lag die Folgerung nahe, dass die Kämpfe sich weitgehend auf den Oberesch konzentriert haben mussten. Unberücksichtigt blieben bei diesem Interpretationsversuch allerdings jene überwiegend erst nach den eigentlichen Kampfhandlungen einsetzenden Prozesse, welche die archäologische Überlieferung eines Schlachtfeldes erheblich beeinflussen: insbesondere die unterschiedlichen Abläufe des Bergens und Plünderns.19 Derartige Verhaltensweisen sind von vielen Schlachtfeldern der Antike bis in die Neuzeit überliefert; auch für den uns interessierenden Zeitraum der Jahrzehnte um Christi Geburt finden sich dafür in den antiken Schriftquellen konkrete Hinweise. So ist das Beutemachen als Motivation für die Germanen, sich an den Kämpfen zu beteiligen, aus Cassius Dio zu erschließen,20 während sich aus den Annalen des Tacitus am Beispiel von Schilderungen der Kampfhandlungen Caecinas mit den Germanen ergibt, wie sehr das römische Heer darauf trainiert war, Verwundete zu bergen und den 14 15 16

17

Ausführlicher zu quellenkritischen Überlegungen Rost (2008; 2009). von Schnurbein (2008). Befunde wie die Wallanlage auf dem Oberesch sind bei offenen Feldschlachten eher die Ausnahme und verbessern im übrigen allenfalls kleinräumig die Überlieferungschancen. Die durch Grabungen erschlossenen Flächen außerhalb des Oberesches haben zusammen zwar ungef ähr den gleichen Umfang wie die Grabungsschnitte auf der Hauptfundstelle, d.h. etwa 10000 m2, es wurden jedoch nur etwa 10 % der Funde entdeckt.

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Weitere vermeintliche Wallabschnitte auf den Fluren Sommerfrüchte und Hagenbreite, die unmittelbar an den Oberesch angrenzen, stellten sich im Rahmen der Auswertung als Fehlinterpretation heraus. Harnecker u. Tolksdorf-Lienemann (2004) 30; 38; 64; 68; 111f. Nicht näher eingegangen wird hier auf die Auswirkungen späterer landwirtschaftlicher Aktivitäten, die alle Fundstellenkategorien betreffen und keineswegs schlachtfeldspezifisch sind. Cass. Dio 56,21,4; s. dazu M. Meyer im vorliegenden Band.

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Tross zu sichern.21 Diese auf die Kämpfe folgenden Prozesse des ‚Aufräumens‘ im weitesten Sinne sind daher grundsätzlich in Erklärungsversuche für Fundverteilungen auf Schlachtfeldern einzubeziehen.22

Interpretationsmodell für das Fundareal von Kalkriese Vergegenwärtigt man sich darüber hinaus, dass die Funde römischer Militaria, die im Verlauf des Engpasses zwischen Moor im Norden und Kalkrieser Berg im Süden über eine Strecke von mehr als 10 km streuen (vgl. Abb. 1), als Spuren eines langgezogenen Defileegefechts zu interpretieren sind, ergibt sich ein durchaus schlüssiges Gesamtbild. Bei einer Entwicklung der Kampfhandlungen von Ost nach West, d.h. ersten Angriffen der Germanen im Osten, wären dort nicht allzu viele Funde zu erwarten, da ein römisches Heer, auch das des Varus, zunächst wohl in der Lage war, die Angriffe erfolgreich zu erwidern. Im Verlauf wiederholter Attacken dürfte es erste Verwundete auf römischer Seite gegeben haben. Diese werden aber medizinisch versorgt23 und im noch weitgehend intakten römischen Heeresverband mitgenommen worden sein. Daher wäre selbst an Stellen intensiver Angriffe seitens der Germanen, die im übrigen einfach aus Waldkanten heraus – ohne aufwendige Schanzungen – erfolgreich attackieren konnten, nicht automatisch ein entsprechender Niederschlag im heutigen archäologischen Fundmaterial zu erwarten. Die zwar vorhandene, aber sehr viel geringere Anzahl von Funden römischer Militaria östlich vom Oberesch wird auf diese Weise verständlich. Die Bergung, Versorgung und Mitnahme von Verletzten, möglicherweise auch von Gefallenen, dürfte allerdings eine zusätzliche Belastung für das auf dem Marsch befindliche römische Heer dargestellt haben. An Plätzen wie dem Oberesch, wo mit der Anlage eines Walles zusätzliche Vorkehrungen für erfolgreiche Angriffe auf die Vorbeiziehenden getroffen worden waren, dürfte es den Germanen dann aber um so leichter möglich gewesen sein, erhebliche Teile dieser in endloser Folge in vergleichsweise kleinen Einheiten eintreffenden römischen Truppen aufzureiben. In Zonen, in denen die Armee erheblich in Mitleidenschaft gezogen wurde und die gesamte Logistik kollabierte, brachen auch Versorgung und Transport der Verwundeten zusammen. Damit waren aber weitab von römisch kontrollierten Gebieten ohne Aussicht auf schnellen Entsatz die Voraussetzungen geschaffen, dass Verwundete und Tote der Willkür der siegreichen Germanen ausgeliefert waren. Wie auch von anderen Schlachtfeldern unterschiedlicher Zeitstellung bekannt, kann es unter bestimmten politischen, sozialen, kulturellen

21 22

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Tac. ann. 1,64,4. Hinweise auf die Auswirkungen des Aufräumens eines Schlachtfeldes finden sich im übrigen schon bei Mommsen (1906) 234: „Allerdings muss eingeräumt werden, dass militärische Katastrophen dieser Art regelmässig einen solchen Nachlass nicht ergeben haben noch ergeben können. Das Aufräumen des Schlachtfeldes und insbesondere die Besitznahme des in den Kassen oder bei den Einzelnen vorhandenen baaren Geldes wird in alter wie in neuer Zeit in der Regel mit solcher Energie betrieben, dass späteren Geschlechtern hier nicht viel zu finden bleibt. Aber die Katastrophe des Varus hat wohl eine Ausnahme machen können.“ Es folgen Überlegungen zu den Ursachen für die Häufigkeit von Münzfunden und zum Fehlen von „Bronzegeräth“ der römischen Armee in der Umgebung von Barenau. Die Chance der

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23

„Auffindung von Geräth und besonders von Waffen in der Weise, dass die Identificierung mit einiger Sicherheit stattfinden kann, ist nicht … unmöglich, aber auch nicht eben wahrscheinlich“ urteilt Mommsen (1885) 201; zur Diskussion um eventuelle Einflüsse von kultischen Handlungen seitens der Germanen, die ebenfalls bei Tacitus (ann. 1,61,2–3) für die Varusschlacht beschrieben sind, auf die Fundüberlieferung des Schlachtfeldes vgl. Rost (2009b) 73–76. Knochenheber und Skalpellgriff vom Oberesch (Harnecker [2008] 21 Taf. 22) sowie ein Behälter zum Aufbewahren von medizinischem Gerät von der Fundstelle Kalkriese-Dröge (Harnecker u. Tolksdorf-Lienemann [2004] Taf. 3) belegen die Anwesenheit von Sanitätern und Ärzten. Zu weiteren Indizien für medizinische Versorgung im Fundareal von Kalkriese vgl. Rost (2009c).

Abb. 8 | Römischer Legionär mit Ausrüstung (Schienenpanzer) aus der Zeit um Christi Geburt. Rot eingetragen sind die Fragmente, die in Kalkriese entdeckt wurden.

oder auch kultischen Rahmenbedingungen zu brutalen Plünderungen kommen.24 Die große Zahl oft kleiner Fragmente der Legionärsausrüstung (Abb. 8), die auf dem Oberesch entdeckt wurde, wird so plausibel, zumal am Ort einer endgültigen militärischen Vernichtung auch diejenigen zurückbleiben und ausgeplündert werden, die bei vorhergehenden Kämpfen verletzt, aber zunächst noch geborgen und medizinisch versorgt, bis an den Platz der endgültigen Niederlage gelangten. Plünderungen bewirken – insbesondere, wenn sie mit Leichenfledderei verbunden sind – geradezu eine Produktion von Bruchstücken der am Körper fixierten Ausrüstung, da bei den gewaltsamen Vorgängen Kleinteile wie Schnallen oder Scharniere häufiger abreißen können, ins Gras fallen und dann beim weiteren Einsammeln leichter zu übersehen sind.25 24

25

So z.B. bei der Schlacht zwischen Indianern und den Truppen des General Custer am Little Big Horn 1876 (ausführlicher Rost [2009a]). Die schwere Nachweisbarkeit insbesondere antiker Schlachtfelder hat ihre Ursache u.a. darin, dass Funde nicht so sehr bei den Kämpfen selbst verloren gegangen sind, sondern erst bei den Plünderungen ‚produziert‘

wurden. Fand keine Leichenfledderei statt, sondern wurde auch den Unterlegenen die Möglichkeit gegeben, ihre Verwundeten und Toten zu bergen, und wurde die übrige Bewaffnung und Ausrüstung im Sinne des Aufräumens vom Schlachtfeld eingesammelt, blieb weniger zurück als bei brutalem Fleddern.

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Die Seltenheit germanischer Waffen selbst in einem derartigen Brennpunkt der Kampfhandlungen, in denen sicherlich auch germanische Krieger getötet wurden, ist wiederum nicht verwunderlich, da die Germanen als Sieger im eigenen Territorium in der Lage gewesen sein dürften, ihre Verwundeten und Gefallenen mitsamt deren Ausrüstung zu bergen und die Toten abseits des Schlachtfeldes, ihren Sitten entsprechend, zu bestatten.26 Die westlich und nordwestlich an den Oberesch anschließenden Fundstreuungen zeigen wieder andere Besonderheiten. Die Zahl der Funde nimmt insgesamt deutlich ab, doch fallen einige Stücke durch ihren hohen Materialwert auf. Ansammlungen von Silbermünzen, insbesondere aber die weitgehend vollständigen Silberbeschläge einer Schwertscheide in dieser Zone wurden als Indizien für eine verstärkte Einbindung von Offizieren in die dortigen Kampfhandlungen erwogen.27 Bezieht man in die Interpretationsmodelle jedoch auch hier die Einwirkung von Plünderungsprozessen auf das heutige Überlieferungsbild mit ein und fasst man die Fundstücke nicht automatisch als direkte Widerspiegelung des eigentlichen Kampfgeschehens auf, ergeben sich andere Erklärungen. Bei einem langgezogenen Defileegefecht ist von Zonen der Flucht und nachsetzenden Gefechten auszugehen, die auf Areale zentraler Kampfhandlungen folgten. Bis hierher durchgekommene römische Soldaten könnten bei der Flucht hinderliche Ausrüstungsteile weggeworfen oder vor einer sich abzeichnenden Gefangennahme wertvolle Gegenstände versteckt haben, bevor diese dem Gegner in die Hände fallen konnten. So vereinzelt, könnten beispielsweise in einem Lederbeutel verwahrte Barschaften oder auch eine silberne Schwertscheide in diesen Abschnitten des Schlachtfeldes den nachfolgenden Plünderungen eher einmal entgangen sein. In Hauptkampfzonen mit vielen Verwundeten und Toten, wie z.B. auf dem Oberesch, wären Geldbörsen ebenso wie wertvolle Schwertscheiden nach den Kämpfen aber meistens noch mit ihren Besitzern verbunden und daher beim systematischen Plündern kaum zu übersehen gewesen.

Fazit Als Teil eines komplexen Defileegefechtes aufgefasst, wird die Fundkonzentration auf dem Oberesch besser verständlich, und es wird nachvollziehbar, dass für einen erfolgreichen Überfall bereits die Errichtung von Schanzungen in wenigen ausgewählten Abschnitten genügte. Vor allem auf dem Oberesch, an der engsten Stelle des Hinterhalts, war eine stärkere Sicherung vorteilhaft, um das römische Heer endgültig aufzureiben, nachdem es zuvor schon durch wiederholte Flankenangriffe aus Waldkanten heraus erheblich in Mitleidenschaft gezogen worden war. Solche Attacken dürften nicht nur die Marschordnung beeinträchtigt, sondern auch den wegen seiner Größe ohnehin schwerf älligen Tross durch den Transport von Verwundeten zusätzlich stark behindert haben.

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Die germanischen Bestattungssitten sind in der Region Kalkriese aufgrund der hier üblichen Leichenverbrennung und der eher unscheinbaren Grabformen für einen archäologischen Nachweis äußerst ungünstig, so dass wir nicht erwarten können, auf entsprechende Gräber zu stoßen. Als weiterer Grund für die Spärlichkeit germanischer Funde – bisher wurde lediglich ein Reitersporn als eindeutig germanisch identifiziert – ist anzuführen, dass bei der Varusschlacht auf germanischer

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27

Seite auch römische Bewaffnung tragende Auxiliareinheiten gekämpft haben; zudem war bei den an den Kämpfen beteiligten germanischen Stammeskriegern die militärische Ausrüstung insgesamt weniger metallreich, d.h. archäologisch ohnehin weniger gut nachweisbar. Darüber hinaus dürfte die Zahl der Verluste bei den Germanen geringer gewesen sein als bei den Römern. Schlüter (1999) 49.

Auf welche Weise sich die großräumige, sehr unterschiedlich ausgeprägte Verteilung römischer Militaria im Fundareal Kalkriese in eine Gesamtinterpretation einbinden lässt, macht die Skizzierung des Zusammenwirkens unterschiedlicher Handlungsabläufe während und vor allem nach der Schlacht deutlich. Ein grundsätzlicher Widerspruch zwischen diesem auf archäologischen Quellen und ihrer kritischen Würdigung basierenden Modell einerseits und den historischen Überlieferungen zur Varusschlacht andererseits ergibt sich daraus keineswegs.28 Die detaillierte Auswertung der Militaria und ihrer Verteilung nicht nur auf der Hauptfundstelle Oberesch, sondern im ausgedehnten Kampfareal insgesamt bleibt abzuwarten, bevor weitergehende Schlussfolgerungen gezogen werden können. Ein Aspekt lässt sich jedoch schon beim derzeitigen Stand der Arbeiten hervorheben: Die bisher nachgewiesene Fundverteilung mit ihren Indizien für Leichenfledderei im Bereich der heutigen Flur Oberesch spricht in Verbindung mit der weiträumigen Verteilung römischer Artefakte im Engpass zwischen Berg und Moor für Defileegefechte, die für die römischen Truppen mit einer weitgehenden Vernichtung endeten. Auch die Knochengruben zeigen, wie umfassend dieser Zusammenbruch des römischen Heeres gewesen sein muss; die Römer hatten offensichtlich während mehrerer Jahre keine Möglichkeit, der Verpflichtung nachzukommen, die Toten zu bergen oder zumindest unter die Erde zu bringen. Auf der Grundlage des inzwischen sehr viel umfassenderen archäologischen Fundmaterials, verbunden mit einer differenzierten quellenkritischen Würdigung, ist es heute möglich, Mommsens über 120 Jahre zurückliegendes Fazit wieder aufzugreifen, dass in den Funden von Kalkriese/Barenau der „Nachlass einer geschlagenen und … zu Grunde gerichteten Armee erkannt“ werden kann und damit eine Lokalisierung der Varusschlacht in Kalkriese zunehmend wahrscheinlich wird.

Literatur Berger (1996) Frank Berger, Kalkriese 1. Die römischen Fundmünzen, Mainz.

Harnecker (2008) Joachim Harnecker, Kalkriese 4. Katalog der römischen Funde vom Oberesch. Die Schnitte 1–22, Mainz.

Gechter (2007) Michael Gechter, „Die Militärgeschichte am Niederrhein von Caesar bis Traian“, in: Gabriele Uelsberg (Hg.), Krieg und Frieden – Kelten, Römer, Germanen, Bonn, 89–96.

Harnecker (2011) Joachim Harnecker, Kalkriese 5. Die römischen Funde vom Oberesch. Die Schnitte 23 bis 39, Darmstadt u. Mainz.

Großkopf (2007) Birgit Großkopf, „Die menschlichen Überreste vom Oberesch in Kalkriese“, in: Susanne Wilbers-Rost, Hans-Peter Uerpmann, Margarethe Uerpmann, Birgit Großkopf u. Eva Tolksdorf-Lienemann, Kalkriese 3. Interdisziplinäre Untersuchungen auf dem Oberesch in Kalkriese. Archäologische Befunde und naturwissenschaftliche Begleituntersuchungen, Mainz, 157–178.

28

Wolters (2008) 165 bezieht sich im Zusammenhang mit seiner Feststellung, „dass die literarischen Angaben zum Verlauf der Varuskatastrophe einen anderen archäologischen Befund erwarten lassen, als man ihn bislang in Kalkriese angetroffen hat“ und der daraus abgeleiteten Diskrepanz zwischen archäologischen Untersuchungs-

Harnecker u. Tolksdorf-Lienemann (2004) Joachim Harnecker u. Eva Tolksdorf-Lienemann, Kalkriese 2. Sondierungen in der Kalkrieser-Niewedder Senke. Archäologie und Bodenkunde, Mainz. Horn (1987) Heinz Günter Horn (Hg.), Die Römer in NordrheinWestfalen, Stuttgart.

ergebnissen und historischer Überlieferung bedauerlicherweise nur auf den Forschungsstand bis 2004 (u.a. Harnecker u. Tolksdorf-Lienemann [2004]); die im vorliegenden Beitrag zusammengefassten quellenkritischen Arbeiten (u.a. Rost [2007] u. [2008]) fanden bei ihm jedoch keine Berücksichtigung.

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Mommsen (1906) Theodor Mommsen, „Die Örtlichkeit der Varusschlacht“, in: ders., Gesammelte Schriften, Bd. 4,1, Berlin, 202–246 [zuerst in: Sitzungsberichte der Preußischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 1885, 63–92]. Rost (2007) Achim Rost, „Characteristics of Ancient Battlefields: Battle of Varus (9 AD)“; in: Douglas Scott, Lawrence Babits u. Charles Haecker (Hgg.), Fields of Conflict. Battlefield Archaeology from the Roman Empire to the Korean War. Volume 1. Searching for War in the Ancient and Early Modern World, Westport, 50–57. Rost (2008) Achim Rost, „Quellenkritische Überlegungen zur archäologischen Untersuchung von Schlachtfeldern am Beispiel von Kalkriese“, in: Michel Reddé u. Siegmar von Schnurbein (Hgg.), Alésia et la bataille du Teutoburg. Un parallèle critique des sources, Ostfildern, 303–313. Rost (2009a) Achim Rost, „Alesia, Kalkriese, Little Big Horn. Das neue Forschungsgebiet der Schlachtfeldarchäologie“, in: Varusschlacht im Osnabrücker Land (Katalog zur Dauerausstellung der Varusschlacht im Osnabrücker Land GmbH im Museum und Park Kalkriese), Mainz, 100–117. Rost (2009b) Achim Rost, „Das Schlachtfeld von Kalkriese: Eine archäologische Quelle für die Konfliktforschung“, in: 2000 Jahre Varusschlacht. Konflikt (Katalog zur Ausstellung der Varusschlacht im Osnabrücker Land GmbH in Museum und Park Kalkriese, 16. Mai – 25. Oktober 2009), Stuttgart, 68–76. Rost (2009c) Achim Rost, „Verwundet und versorgt. Indizien für Sanitätswesen auf dem Schlachtfeld von Kalkriese?“, in: Alexandra W. Busch u. Hans-Joachim Schalles (Hgg.), Waffen in Aktion. Akten der 16. Internationalen Roman Military Equipment Conference (ROMEC), Xanten, 13.–16. Juni 2007, Mainz, 99–106. Rost u. Wilbers-Rost (in Vorbereitung) Achim Rost u. Susanne Wilbers-Rost, „They fought and died – but were covered with earth only years later: ‚Mass graves‘ on the ancient battlefield of Kalkriese“, in: John Pearce u. Jake Weekes (Hgg.), Death as a Process: Funerals in the Roman World, Oxford.

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Schlüter (1993) Wolfgang Schlüter, „Die archäologischen Untersuchungen in der Kalkrieser-Niewedder Senke“, in: Wolfgang Schlüter (Hg.), Kalkriese – Römer im Osnabrücker Land. Archäologische Forschungen zur Varusschlacht, Bramsche, 13–51. Schlüter (1999) Wolfgang Schlüter, „Zum Stand der archäologischen Erforschung der Kalkrieser-Niewedder Senke“, in: ders. u. Rainer Wiegels (Hgg.), Rom, Germanien und die Ausgrabungen in Kalkriese, Osnabrück, 13–60. von Schnurbein (2008) Siegmar von Schnurbein, „Alise-Sainte-Reine. Die Spuren der Belagerungswerke“, in: Michel Reddé u. Siegmar von Schnurbein (Hgg.), Alésia et la bataille du Teutoburg. Un parallèle critique des sources, Ostfildern, 195–208. Uerpmann u. Uerpmann (2007) Hans-Peter Uerpmann u. Margarethe Uerpmann, „Knochenfunde aus den Grabungen bis 2002 auf dem Oberesch in Kalkriese“, in: Susanne Wilbers-Rost, Hans-Peter Uerpmann, Margarethe Uerpmann, Birgit Großkopf u. Eva Tolksdorf-Lienemann, Kalkriese 3. Interdisziplinäre Untersuchungen auf dem Oberesch in Kalkriese. Archäologische Befunde und naturwissenschaftliche Begleituntersuchungen, Mainz, 108–156. Wilbers-Rost (2007) Susanne Wilbers-Rost, „Die archäologischen Befunde“, in: Susanne Wilbers-Rost, Hans-Peter Uerpmann, Margarethe Uerpmann, Birgit Großkopf u. Eva Tolksdorf-Lienemann, Kalkriese 3. Interdisziplinäre Untersuchungen auf dem Oberesch in Kalkriese. Archäologische Befunde und naturwissenschaftliche Begleituntersuchungen, Mainz, 1–107. Wolters (2008) Reinhard Wolters, Die Schlacht im Teutoburger Wald. Arminius, Varus und das römische Germanien, München.

Morten Hegewisch Von Leese nach Kalkriese? Ein Deutungsversuch zur Geschichte zweier linearer Erdwerke

Einführung und zeitliche Einordnung In diesem Beitrag sollen der sog. ‚Angrivarierwall‘, der Wall bei Kalkriese sowie weitere germanische Anlagen im Mittelpunkt der Betrachtungen stehen. Da im vorliegenden Band im Wesentlichen dem ‚Krieg des Varus‘ 9. n. Chr., der historischen Gestalt des Arminius und der Forschungsrezeption Raum gewährt wird, werden sich die Betrachtungen zur Thematik auch in dieser Periode als grober zeitlicher Klammer bewegen. In relativchronologischer Hinsicht befinden wir uns mit der in den historischen Schriftquellen dokumentierten Person des Arminius in einem Zeitraum, der die frühe Römische Kaiserzeit mit den Stufen Eggers A und B1 umfasst, also in etwa von der zweiten Hälfte des ersten vorchristlichen Jahrhunderts bis zur ersten Jahrhunderthälfte nach Christi Geburt reicht.1 Einleitend ist jedoch festzustellen, dass es nicht das Ziel des folgenden Beitrags ist, einen archäologischen Befund an das in den römischen Schriftquellen überlieferte Ethnos zu binden. Die Problematik der ‚ethnischen Ansprache‘ archäologischer Funde und Befunde ist in den letzten Jahren umfassend thematisiert worden und bedarf durch den Verfasser keiner weiteren Ergänzung.2 Da aber für den hier im Mittelpunkt stehenden Befund eine Ansprache in dieser Richtung seit der in den 20er Jahren erfolgten Erstpublikation bereits besteht, lässt sich dies auch nicht umgehen. Aus ethnographischer Sicht gehören die germanischen Protagonisten zu den Stämmen der Cherusker und der Angrivarier. Auf Seiten der Cherusker sind zahlreiche Akteure bekannt, die im wesentlichen zum untereinander konkurrierenden Stammesadel und Familienkreis des Arminius zählen. Für die Angrivarier werden keine handelnden Personen erwähnt, doch tauchen diese zu unterschiedlichen Gegebenheiten immer wieder auf und werden prominent als Gegner der römischen Seite beschrieben, die im Verlauf unterschiedlicher Aktionen erfolgreich niedergerungen werden konnten. In der Regel werden die Cherusker zu beiden Seiten der mittleren Weser und der Leine verortet. Bereits Caesar vermerkte im ersten vorchristlichen Jahrhundert, dass jene von den im Maingebiet siedelnden Sueben durch einen breiten Grenzgürtel – die Bacenis Silva – getrennt lebten.3 Plinius wies die Cherusker den ‚Herminonen‘ zu, die im Flussgebiet der Weser siedelten,4 und auch Vibius Sequester, ein römischer Geograph, der wohl Ende des 4. Jahrhunderts wirkte und noch auf eine Reihe heute verloren gegangener Quellen zurückgreifen konnte, verortete diese an beiden Ufern der Weser.

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Hinsichtlich der Lebensdaten des Arminius kann angenommen werden, dass dieser um das Jahr 18 v. Chr. geboren wurde, seine Verwandten ermordeten ihn 19 n. Chr. im Alter von 37 Jahren (Tac. ann. 2,88). Zur Vertiefung hinsichtlich einer Kritik an ethnischen Deutungen siehe Brather (2004). Wer sich unabhängig mit der Ethnogenese der Cherusker auseinandersetzen

3 4

möchte, dem sei das erst jüngst erschienene Werk von E. Cosack zum Scheiterhaufengräberfeld Sorsum, Stadt Hildesheim, empfohlen, in dem sich Peter Kehne mit der Thematik – gegenläufig zu Brather – befasst: Kehne (2011). Caes. Gall. 6,10. Plin. nat. 4,100.

VON LEESE NACH KALKRIESE?

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Abb. 1 | Der Norden nach der Beschreibung von Ptolemaios. Seite der Ausgabe aus dem Jahr 1466 von Nicolaus Germanus.

Nach Süden wurden die Siedlungsräume der Cherusker durch jene der Chatten im Flussgebiet von Fulda und Lahn begrenzt.5 Im Norden der cheruskischen Stammesgebiete und ebenso an der Weser folgten die Angrivarier, die wiederum im Norden die Stammesgebiete der Chauken berührten und von diesen schließlich in der zweiten Hälfte des 1. Jahrhunderts aus ihren Siedlungsgebieten vertrieben wurden.6 Mitte des 2. Jahrhunderts erstellte der Geograph Klaudios Ptolemaios das Werk Geographische Anleitung (zum Zeichnen von Erd- und Länderkarten), nach dessen Koordinaten und Angaben unterschiedliche Weltkarten angefertigt wurden, denen geographische Informationen wie Städtenamen, aber auch die Verortung einzelner Stämme zu entnehmen sind. Die Angrivarier finden sich dabei als Eintrag im Raum rechts des Visurgis – der Weser – wieder (Abb. 1), und hier etwa in Höhe der antiken Stadt Tulifurdum. Aus archäologischer Sicht lassen sich die Stämme der Angrivarier und Cherusker den sog. ‚RheinWeser-Germanen‘ zuweisen. Bei diesen handelt es sich um germanische Gruppen, die mit Hilfe einer Reihe von Merkmalen beschrieben werden. Dazu rechnen spezifische Bestattungssitten und auch archäologisches Fundgut – vor allem eine sehr klar definierte Keramik. Den Begriff ‚Rhein-WeserGermanen‘ führte Rafael von Uslar 1938 in die Forschung ein. Er untersuchte den archäologischen 5

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Berlekamp (1976) 400.

MORTEN HEGEWISCH

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Berlekamp (1976) 400.

Fundniederschlag zwischen Mittel- und Westdeutschland.7 Diese Arbeit zählt zu den Standardwerken über archäologische Kulturen in Mitteleuropa und hat ihre Bedeutung in terminologischer wie typologischer Hinsicht auch sieben Jahrzehnte nach der Erstpublikation nicht verloren. Rafael von Uslar war hinsichtlich der ethnischen Zuweisung der Rhein-Weser-Germanen vergleichsweise vorsichtig, dennoch konnte auch er sich dem Zug der Zeit und dem Stand damaliger Forschung nicht völlig entziehen und sprach einige seiner Formengruppen als „cheruskisch“ oder „nichtcheruskisch“ an.8 Abgesehen davon, dass seine Vorsicht offensichtlich dem Naturell jenes Forschers entsprach, ist dies für eine Zeit umso bemerkenswerter, in der archäologische Funde allzu rasch einem ethnischen Hintergrund zugewiesen wurden, was allerdings nicht nur für den deutschen Kulturraum gilt. Aus archäologischer Sicht sind also die Cherusker und die Angrivarier Rhein-Weser-Germanen.

Die Angrivarier und der sog. Angrivarierwall Tacitus berichtet an zwei Stellen von den Angrivariern. Sie treten als Stamm in den Quellen während der Feldzüge des Germanicus hervor, die den germanischen Aufständischen galten. Da abgesehen von den Cheruskern keine weiteren Stammesgruppierungen benannt werden, die am Kampf gegen Varus teilnahmen, werden die im Verlaufe der Feldzüge des Germanicus unterworfenen Stämme im Rückblick von der althistorischen Forschung als Teilnehmer an der clades Variana angesehen: „Daraus ergibt sich, dass im Jahre 9 n. Chr. vor allem die Cherusker, die Marser und die Brukterer sowie vielleicht die Angrivarier als Träger des Widerstandes gegen die römischen Legionen auftraten.“9 Hinsichtlich der Angrivarier wird außerdem z.T. spekuliert, dass es sich bei Ihnen um jenen Stamm gehandelt haben könnte, der den inszenierten Aufstand gegen Varus begann und ihn so zu seinem bekanntermaßen verhängnisvollen Umweg verleitete.10 Tacitus vermerkt: „Als der Caesar das Lager abstecken ließ, wurde der Abfall der Angrivarier im Rücken der Römer gemeldet. Sofort wurde Stertinius mit Reiterei und Leichtbewaffneten abgeschickt und rächte mit Feuer und Blutbad die Treulosigkeit.“11 Im weiteren Verlauf berichtet Tacitus über eine große Schlacht zwischen Germanicus und den Cheruskern, die im Jahre 16 n. Chr. stattgefunden hat. Als Ort der Schlacht benennt er den Campus Idistaviso, entsprechend wird die Schlacht als die ‚Schlacht auf den Idistavisischen Feldern‘ oder als ‚Schlacht von Idistaviso‘ bezeichnet. Beschrieben wird die Örtlichkeit folgendermaßen: „Diese liegt in der Mitte zwischen dem Visurgis und den Hügeln und zieht sich in ungleichen Krümmungen hin, je nachdem die Ufer des Flusses zurücktreten oder Bergvorsprünge sich vorschieben. Im Rücken der Germanen zog sich an einer Anhöhe ein Wald hinauf mit hohen Baumkronen, während zwischen den Stämmen nackter Boden war“.12 Nach dem für die Römer erfolgreichen Kampfgeschehen verlagert sich dieses an einen anderen Platz, den Tacitus folgendermaßen beschreibt: „Zuletzt suchten sie sich einen Kampfplatz aus, der vom Fluss und Wald umschlossen war, und in dem sich eine schmale sumpfige Fläche befand. Auch um das

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von Uslar (1938). Etwa die keramische Formengruppe Uslar I. von Uslar (1938) 180 Anm. 43a. Tausend (2009) 25. Dort auch weitere Literaturhinweise zu den Stammeskoalitionen. Siehe ferner Johne (2006) 193.

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Tausend (2009) 25. Übersetzung nach Wolters (2008) 240. Tac. ann. 2,16.

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Waldgebiet zog sich ein tiefer Sumpf, nur eine Seite hatten die Angrivarier durch einen breiten Damm erhöht, der die Grenzlinie zu den Cheruskern bilden sollte“.13 Aus dieser etwas mageren Textstelle lassen sich dennoch viererlei Informationen herauslesen: 1. Zwischen dem Stamm der Angrivarier und den Cheruskern gab es einen breiten Wall oder Damm, der in der älteren Forschung als ‚Angrivarierwall‘ bezeichnet wurde. 2. Errichtet hatten diesen Wall die Angrivarier. 3. Der Wall stellte eine Grenzlinie gegen die Cherusker dar. 4. Die Anlage schloss sich an ein Sumpf- und ein Waldgebiet an, wobei der Sumpf wohl als natürliche Grenze und damit Verlängerung des Walls anzusehen ist. Dem Sieg der Römer in Idistaviso sowie anschließend am Angrivarierwall folgte die Errichtung eines Tropaions durch Aufschichtung der erbeuteten Waffen und eine Siegesinschrift: „Der Caesar lobte vor versammelter Mannschaft die Sieger und ließ eine Waffenpyramide errichten mit der stolzen Aufschrift: ‚Nach Niederkämpfung der Völkerschaften zwischen Rhein und Elbe hat das Heer des Tiberius Caesar dieses Erinnerungsmal dem Mars und Jupiter und Augustus geweiht.‘ … Dann übertrug er die Kriegsführung gegen die Angrivarier dem Stertinius für den Fall, dass sie sich nicht beschleunigt unterwerfen würden. Da sie demütig baten und sich mit allen Bedingungen einverstanden erklärten, wurde ihnen auch alles verziehen“.14 Am 26. Mai 17 durfte Germanicus dann in Rom den Sieg über die Cherusker, Chatten und auch die Angrivarier sowie andere ungenannte Stämme feiern, die bis zur Elbe wohnten: „Unter dem Konsulat des C. Caelius und L. Pomponius triumphierte Germanicus Caesar am 26. Mai über die Cherusker, Chatten und Angrivarier und die anderen Völkerschaften, die bis zur Elbe wohnen. Mitgeführt wurden erbeutete Waffen, Gefangene, Bilder von Bergen, Flüssen und Schlachten“.15

Die Suche nach dem Wall Von zahlreichen Heimatforschern wie auch von Archäologenseite wurde dieser angrivarisch-cheruskische Grenzwall gesucht und in mehreren Regionen ‚gefunden‘. Die höchste Wahrscheinlichkeit gilt dabei bis heute der Region zwischen Weser und Steinhuder Meer. Mit Carl Schuchhardt sprach sich ein durchaus prominenter Befürworter für einen Befund in und bei der Ortschaft Leese aus, die auf halbem Wege zwischen der Weser und dem Steinhuder Meer liegt (Abb. 2). Schuchhardt wurde 1924 von Georg Heimbs, einem Fabrikanten, auf eine Wallanlage in der Ortschaft Leese, heute Nienburg (Weser), aufmerksam gemacht. Heimbs veröffentlichte 1925 einen entsprechenden Artikel in der Praehistorischen Zeitschrift16 und hatte mit seiner Argumentation wohl bei Schuchhardt nachhaltigen Eindruck hinterlassen. Heimbs beschrieb einen Wall von ehemals etwa 1800 m Länge (Abb. 3–4), der östlich der Ortschaft Leese in einem Sumpfgebiet seinen Anfang nimmt, durch Leese zieht und sich westlich dann in einem sanften Bogen in Richtung einer Weserschleife erstreckt. Nördlich und südlich von Leese sind in dieser Zeit noch ausgedehnte Marsch- und Geestflächen vorhanden, wenige hundert Meter weiter östlich mäandriert die Weser. Zu Heimbs’ Zeiten befanden 13

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Tac. ann. 2,19. Zur möglichen Verortung weiterer Ereignisse im Rahmen der Feldzüge des Germanicus siehe Wolters (2008). Da Wolters aber auf das in diesem Artikel behandelte Schlachtenereignis am Angrivarierwall nicht explizit eingeht, werden seine Deutungen hier nicht weiter behandelt.

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14 15 16

Tac. ann. 2,22; vgl. Johne (1998) 408. Tac. ann. 2,41,2. Siehe zur Begründung der Feierlichkeiten Johne (1998) 401ff. und im vorliegenden Band. Heimbs (1925).

Abb. 2 | Kartierung eisen-/kaiserzeitlicher Fundplätze mit Wallanlagen.

sich dort „ständig mit Wasser gefüllte Teiche, kleine Tümpel, ein Wasserlauf, der sich durch verschiedene Kolke und Niederungen ungef ähr 2 km nördlich hinzieht.“17 Die Vermutung, hier den Angrivarierwall zu erkennen, ergibt sich aus der bei Tacitus beschriebenen Topographie, einerseits im Westen die von Germanicus überschrittene Weser, die sich „in ungleichen Krümmungen hin[zieht], je nachdem die Ufer des Flusses zurücktreten“,18 dann eine Fläche, die von „Fluss und Wald umschlossen war und in dem sich eine schmale sumpfige Fläche befand“, ferner ein vom Sumpf umgebenes Waldgebiet und zuletzt ein breiter Damm. Tatsächlich erinnert die Leeser Topographie an die Beschreibung: die stark mäandrierende Weser im Westen, eine schmale Stelle zwischen einem nördlichen und einem südlichen Geestgebiet und zuletzt ein breiter Wall. Im Juni 1926 ließ C. Schuchhardt Ausgrabungen am Wall durchführen, deren Ergebnisse er als Beweis für die benannte Verortung ansah. Die Grabungsleitung übernahm G. Bersu. Der Grabungsbericht erschien dann 1926 in der Praehistorischen Zeitschrift und wurde gemeinsam mit G. Bersu, G. Heimbs und H. Lange unter dem Titel: „Der Angrivarisch-Cheruskische Grenzwall und die beiden Schlachten des Jahres 16 nach Chr. zwischen Arminius und Germanicus“ veröffentlicht. C. Schuchhardt begann seine Einleitung mit dem bemerkenswert überzeugten Satz: „Die Vermutung des Herrn Georg Heimbs vom Jahre 1924, dass ‚dat ohle Hoop‘ in Leese ein Rest der alten Grenzwehr der Angrivarier gegen die Cherusker sei, hat sich bestätigt und damit als eine regelrechte Entdeckung erwiesen.“19

17

Heimbs (1925) 61.

18 19

Tac. ann. 2,16. Schuchhardt, Bersu, Heimbs u. Lange (1926) 100.

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Abb. 3 | Fotografie des Wallverlaufs in Leese auf dem Hof von Luise Hüpohl.

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Abb. 4 | Verlauf der Wallanlage nach Schuchhardt (1926) Abb. 1.

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Es fanden vom 21. bis 25. Juni Grabungen statt, die für den ‚Ohle Hoop‘ in drei Wallschnitten eine Reihe von Befunden und wenigen Funden zu Tage förderten. Die Länge der Schnitte variierte von 2 bis 3 m bis zu 16 m bei einer Breite von ebenso 2 bis 3 m (Abb. 5–6). Den Grabungsbericht verfasste G. Bersu in einem nüchternen Stil, in dem er den Befund und den Aufbau der Anlage schilderte. Bersu grub den ,Ohle Hoop‘ an drei Stellen an, zweimal östlich von Leese (davon einmal auf dem Hof der Luise Hüpohl) sowie im Westen Leeses auf dem Hof des Bauern Plönges. Er konnte an drei unterschiedlichen Stellen (Abb. 6) im vom Ackerbau breit verzogenen Wall drei Schichten feststellen: Zuoberst dokumentierte Bersu eine moderne Humusschicht ‚A‘, darunter folgte ein „humoser brauner Boden ohne klare Struktur B“ und zuunterst fand er eine Humusschicht ‚C‘, die durch eine Ortsteinschicht gegen B abgetrennt war.20 ‚C‘ stellt dabei die alte Oberfläche dar, ‚A‘ und ‚B‘ sind jüngere Bildungen. Bersu überprüfte diesen Aufbau an unterschiedlichen Stellen und konnte auch die Möglichkeit verneinen, dass es sich bei dem Befund um eine alte Düne handelte. Am südlichen Wallabfall entdeckte er kreisrunde Pfostenlöcher, die einen Durchmesser von 70 cm aufwiesen, bei einem Abstand von jeweils 1,30 m zueinander. Bei dieser Seite handelte es sich dementsprechend um die Frontseite, auf der gegenüberliegenden Seite – der Innenseite – konnte er keine Pfostenreihen feststellen. Auch einen Graben entdeckte Bersu nicht. Nach Bersus Deutung wurde kein reiner Mutterboden aus vorgelagerten Gräben zur Aufschüttung der Wallanlage verwendet, sondern Rasen- oder Heideboden abgehoben – ‚abgeplaggt‘ – und hinter der Pfostenreihe aufgetürmt. Die Höhe des Walls vermochte Bersu nicht sicher zu deuten, er ging aber aufgrund des breit auseinandergeflossenen Walls von einer 10 m breiten und 2,5 m hohen Konstruktion aus.21 Eine weitere Grabung nahm Bersu am in der Nähe gelegenen sog. ‚Marschberg‘ vor. In einem Ackerverzeichnis aus dem Jahre 1685, welches Heimbs 1925 in der Praehistorischen Zeitschrift erwähnte, wurde der Marschberg noch als ‚Marßberg‘ bezeichnet, was natürlich Assoziationen weckte hinsichtlich einer möglichen Benennung der Stelle nach dem römischen Kriegsgott Mars und evtl. einer Verbindung zum Tropaion des Germanicus. Die eigentliche Marsch soll in diesem Verzeichnis als ‚Marsch‘ bezeichnet worden sein, so dass es nach Heimbs Ansicht nicht möglich war, ‚Marß‘ und ‚Marsch‘ zu verwechseln, der Marsberg nichts mit der Marsch zu tun habe, sondern mit Mars.22 Entsprechend hoch war die Erwartungshaltung der Ausgräber. Die Grabungen Bersus erbrachten für die oberste Schicht eine den Funden nach frühmittelalterliche Datierung, wobei er das Scherbenmaterial als karolingerzeitlich ansprach23 bzw. dieses in das „10. oder 11. Jahrhundert“ datierte.24 Unterhalb dieses Befundes wurden jedoch Kleinfunde geborgen, die Hans Lange, der die Fundstücke der Grabung in der Praehistorischen Zeitschrift vorlegte, als Überreste einer germanischen Siedlung der Zeitenwende deutete.25 Wall und Graben des Marschberges erwiesen sich nach Bersu jedenfalls aufgrund stratigraphischer Hinweise als frühmittelalterlich, ein Zusammenhang zur oben beschriebenen Wallkonstruktion wurde damit ausgeschlossen.

20 21 22 23

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Bersu (1926) 102. Bersu (1926) 125. Heimbs (1925) 64. Bersu (1926) 105f.

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24 25

Bersu (1926) 106. Dazu rechnete H. Lange grobe Keramik, ferner gebrannten Hüttenlehm.

Abb. 5 | Plan der Grabungsschnitte in Leese.

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Abb. 6 | Wallschnitte und Befunde der Grabung in Leese.

In der mit Kulturboden vermischten obersten Humusschicht ‚A‘ fand Bersu neuzeitliche Scherben. ‚Prähistorische Scherben‘ wurden vor dem Wall gefunden – verblieben aber unpubliziert –, die Hauptmasse an Funden stammt jedoch aus dem Marschbergbefund. Will man nun ein Bild der tatsächlichen Lage gewinnen, so muss man auch weitere Grabungen mit einbeziehen, die in dieser Zeit in und um Leese herum durchgeführt wurden.

Die Funde Die in Leese geborgenen Funde befinden sich heute in der Sammlung des niedersächsischen Landesmuseums in Hannover. Dazu gehören neben jenen aus den Grabungen Bersus (1926) auch zahlreiche Lesefunde, die von Heimbs eingeliefert wurden. Weitere Scherbenkomplexe lassen sich vorangehenden und nachfolgenden Grabungen zuweisen. Solche Ausgrabungen führte etwa K. H. Jacob-Friesen

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(1924, 1931) oder Hans Gummel am Zappenberg (andere Benennung: Zapfenberg) durch. Dieser befindet sich etwa 1000 m nordwestlich von Leese und birgt eine Siedlungsstelle, die Hans Gummel ab 1927 ergrub. Es handelt sich dabei um einen Hügel, der durch eine am Ort vorbeiführende Bahntrasse geschnitten wird. Die hier geborgenen Funde nehmen einen erheblichen Umfang ein und setzen sich zum überwiegenden Anteil aus Keramikscherben zusammen. Zum weiteren Fundgut zählt ein fragmentiertes, wohl kegelförmiges Webgewicht, ein halbierter Spinnwirtel, undefinierte verrostete Eisenklumpen sowie einige Fließschlacken, außerdem große Fragmente von Wandverputz mit Abdrücken von Flechtwerk. Weitere Metallfunde wie Fibeln, Nadeln, Gürteltracht etc. fanden sich nicht, so dass für jegliche Datierungsfragen ausschließlich Keramikreste herangezogen werden können. Zu dieser gehören zahlreiche Randstücke unterschiedlichster Gestaltung, etwa gewellte Ränder mit Fingernageleindrücken (Abb. 7,11), weitere mit kolbenförmiger Verdickung (Abb. 7,5.7), andere sind inwandig unterschnitten (Abb. 7,7.21) oder auch einfach bis mehrfach facettiert (Abb. 7,2). Einige Scherben sind kammstrichverziert, andere weisen Fingerkniff auf, weitere zeigen rundliche Eintiefungen, wie sie identisch vom Marschberg stammen. Es finden sich variantenreiche Gef äßformen (Abb. 7), zahlreiche Vorratsgef äße, einige stark zerscherbte große Formen, viele kleine kugelbauchige Gef äße, solche mit einbiegenden Mündungen oder weitmundige Schalen mit und ohne abgesetztem Boden, die ebenso in relevanter Anzahl vorliegen, steilhalsige Gef äße mit auf der Innenseite kolbenförmig verdickten Rändern, eiförmige Töpfe mit weit ausladenden Rändern und andere Formen mehr. Die Gef äßwandungen sind häufig flächig oder zonenweise geschlickert bzw. geraut, die Magerungen gelegentlich fein, regelhaft jedoch eher grob bis sehr grob. Die Gef äße können als schlichte Zweckformen angesprochen werden, wobei man den Eindruck gewinnt, dass die Töpfer wenig Mühe für die Herstellung der Gef äße aufgewendet haben. Entsprechend sind die Oberflächen und Ränder wellig, die Oberflächen oft sandig und rau, es finden sich jedoch auch viele Scherben mit geglätteten, also verdichteten Oberflächen, Polituren treten keine auf. Die Gef äßfarben changieren fleckenweise von rötlichen Brauntönen bis zu Dunkelbraun und Schwarz. Damit dürfte die Masse der Gef äße im Meilerbrand bei unkontrollierten, stellenweise oxidierenden wie auch reduzierenden Bedingungen gebrannt worden sein. Zu den jüngsten Funden zählen einige charakteristische Scherben, die sich z.T. deutlich dem Rhein-Weser-germanischen Spektrum der Römischen Kaiserzeit zuweisen lassen. Eines der Gef äße wäre nach Rafael von Uslar der Form Uslar II zuzuweisen. Mit Dörte Walter lässt sich diese Keramik als ‚Schulterabsatzgef äß‘ ansprechen (Abb. 7,23).26 Die zweite sicher kaiserzeitliche Form ist typologisch nicht so scharf zu fassen (Abb. 7,24). Nach von Uslar hätten wir hier eine Übergangsform vor uns, was Uslar I/II entspräche. Nach Dörte Walter wären dies ,Schulterknickgef äße‘, aber auch in diese Gruppierung lässt sich unsere Form aufgrund z.T. abweichender Profilierungsmerkmale nicht sicher einordnen, wenngleich bestimmte Merkmale übereinstimmen, wie etwa der scharfe Schulterknick. Zuletzt hat sich Michael Meyer intensiv mit diesen Gef äßgattungen auseinandergesetzt.27 Dabei datiert er klassische Schulterabsatzgef äße zwischen 70 n. Chr. bis etwa 250 n. Chr. Aufgrund des sonstigen Typenspektrums ist für unsere Form auch seiner Ansicht nach eher mit einem Zeitansatz um bzw. eher nach 100 n. Chr. zu rechnen, also im entwickelten B2. Das zweite Gef äß (Abb. 7,24) ist vergleichsweise unsicher zu fassen, wobei seine Verzierungen jedoch einen guten Hinweis liefern. Dabei handelt es sich um mehr oder minder geordnete Reihen von verzierenden Eintiefungen, was nach Meyer ein Fin26

Walter (2000) 21f.

27

Meyer (2008) 110ff.

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Abb. 7 | Keramikfunde der Ausgrabungen auf dem Zappenberg.

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gerzeig auf eine jüngere Zeitstellung ist, die chronologisch vorausgehenden Verzierungen treten tendenziell eher ungeordnet auf. Entsprechend mag die Form vergleichbar datieren wie das erstbenannte Schulterabsatzgef äß.28 Damit dürfte also eine Belegung des Zappenbergs erkennbar sein, die wenigstens vom 1. Jh. v. Chr. bis in das 2. Jh. n. Chr. reicht. Die weiter unten folgend besprochene Terra Sigillata aus dem Leeser Umfeld datiert zum Teil vergleichbar. Bei der am Marschberg geborgenen Keramik (Auswahl: Abb. 8) handelt es sich vor allem um Wandungs- und Randscherben. Auch ein sternförmiger Spinnwirtel (Abb. 8,8) konnte geborgen werden. Bei den Gef äßformen liegen weitmundige Schalen, S-förmig profilierte Schüsseln, bauchige Vorratsgef äße, eiförmige Töpfe mit ausladenden Rändern und Schalen vor. Unterschiedliche Randformen finden sich. Dazu gehören etwa gewellte Ränder mit eingedrückten Fingernägeln, kolbenförmig verdickte Ränder, außerdem einfach und mehrfach facettierte Ränder. Die Wandfragmente weisen ein schmales Verzierungsspektrum auf, z.T. handelt es sich auch nur um funktional bedingte Oberflächengestaltungen (Auswahl Abb. 8 unten). Es zeigen sich Wandungen mit Kammstrich sowie solche mit Fingerkniff bzw. rundlichen Eintiefungen. Der Anteil facettierter Keramik (etwa Abb. 8,4–6) scheint höher zu sein, als es am Zappenberg der Fall ist, was auf eine jüngere, kaiserzeitliche Zeitstellung hindeuten mag. Weitere Formen scheinen ebenso in die Kaiserzeit zu datieren (etwa Abb. 8,22), zu der es aus der Siedlung Mardorf, Lkr. Marburg-Biedenkopf, eine Parallele gibt.29 In der Grube Befund 616 fand sich neben Keramik auch eine Fibel Almgren 22, so dass der Befund in die spätaugusteisch-frühtiberische Zeit datiert werden kann.30 Die geborgene Keramik stimmt damit überein. Die auf dem Zappenberg geborgenen Funde gleichen weitestgehend in Form, Machart und Zier den am Marschberg geborgenen Keramiken. Dies lässt darauf schließen, dass der Marsch- und Zappenberg wohl in die gleiche Zeitstufe gehören oder sich zumindest chronologisch überschnitten. Die unterschiedlichen Fundmengen lassen jedoch keine Schlüsse auf differierende Größen der Siedlungsstellen zu; die Grabung Bersus fand nur anteilig auf dem Marschberg statt, war kurzfristig und kleinräumig, die Grabungen Gummels jedoch widmeten sich ausschließlich dem Zappenberg, was sich in den Fundmengen erkennbar niederschlug. Anzunehmen ist, dass es sich in und um Leese herum um eine oder mehrere Siedlungsstellen handelt, denen vermutlich mehrere Höfe entlang der Weser zugewiesen werden können. Wie weit Siedlungsstellen aufgegeben oder verlagert wurden, lässt sich anhand der erhaltenen Funde nicht mehr sicher sagen. Die Fundstellen Marsch- und Zappenberg liegen voneinander etwa 1,5 bis 2 km entfernt, dabei jeweils in etwa vergleichbarer Entfernung zur Wallanlage. Dies lässt sich jedoch nicht chronologisch verwerten, schon gar nicht bezogen auf den Wall. Die beschriebenen Merkmale, sowohl hinsichtlich der Gef äßprofile als auch der Verzierungen, datieren die Fundstellen mehr oder minder deutlich in einen Zeitraum ab der Vorrömischen Eisenzeit (evtl. der frühen) bis in die jüngere Römische Kaiserzeit. Der Schwerpunkt der geborgenen Funde datiert vorchristlich, die facettierten Randscherben dürften in und um die Zeitenwende datieren, sicher ist auch das nicht, wenngleich Studien wie jene Daniel Berengers dem auch nicht widersprechen. Die anderen benannten Verzierungen sind chronologisch jedoch wenig exakt zu fassen. Fingerkniff etwa findet sich mindestens von der Vorrömischen Eisenzeit bis in die Völkerwanderungszeit. Meist handelt es sich dabei um bestimmte Gef äßformen wie etwa Kümpfe oder andere Gef äße mit ein28 29

Meyer (2008) 114ff., insbes. Abb. 80. Meyer (2008) Taf. 65,616.1.

30

Meyer (2008) 115.

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Abb. 8 | Keramikfunde der Ausgrabungen auf dem Marschberg (oben) und Keramikoberflächen sowie Verzierungen der Fundstellen Zappenberg und Marschberg.

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Abb. 9 | Zweischiffiges Haus aus Kalkriese, Fundstellen 105 und 126.

biegendem Rand, so dass man von einem funktionalen, aber keinem chronologischen Wert bestimmter ‚Verzierungen‘ ausgehen kann.31 Insgesamt wird deutlich, dass sich unter dem Marschberg eine germanische Siedlung befindet, die in die Vorrömische Eisenzeit bis in augusteische Zeit zu datieren ist. Die vom Fundplatz Leese geborgene Keramik lässt sich teilweise mit jener aus Kalkriese parallelisieren, wie sie etwa aus einem Hausbefund vorliegt, der sicher in den uns interessierenden Zeitraum datiert.32 Das anzuführende Haus gehört zu einer Siedlung der Zeitstellung in Kalkriese und wurde neben zahlreichen weiteren Funden und Befunden 2004 von Joachim Harnecker und Eva TolksdorfLienemann vorgelegt.33 Dabei handelt es sich um die Fundstellen 105 und 126, das ehemalige Gartenland des Hofs ‚Dröge‘ und eine unmittelbar benachbarte Weide.34 Die Siedlung wurde nur in einigen Schnitten ergraben, liegt also nicht vollständig vor. Zur Siedlung rechnen mindestens drei Häuser, von denen eines mit einer Längswand und ein weiteres nur an-

31

Möglicherweise wird sich die Besiedlung der Region zukünftig besser verstehen lassen, befindet sich doch eine Promotion zu einem entsprechend datierenden, bei Leese ergrabenen Gräberfeld durch S. Kriesch, Göttingen, in Bearbeitung, dem ich an dieser Stelle für frdl. Hinweise herzlich danken möchte. Kriesch sieht, ohne seiner Arbeit allzu weit vorzugreifen, große Ähnlichkeiten zwischen Keramikfunden des Zappenbergs und solchen des von ihm bearbeiteten Gräberfelds. Dazu rechnet er bestimmte T-förmige Randformen, Schalen mit nach innen gebogenen und/oder innen verdickten Rändern wie auch durchlochte Schalen, die als typisch für die Nienburger Gruppe gelten. Andere Gef äße des

32 33 34

Marschbergs mit stark ausbiegendem Rand würde er mit Nortmann (1983) als ab der mittleren Vorrömischen Eisenzeit datierend ansehen. Weitere Funde wie kurz ausbiegende oder facettierte Ränder datierte er eher kaiser- denn eisenzeitlich. Wie weit es chronologische Überschneidungen vom Gräberfeld zu den unterschiedlichen Siedlungsstellen gibt, wird sich erst nach Vorlage seiner Untersuchung entscheiden lassen. Stadt Bramsche, Gem. Kalkriese. Harnecker u. Tolksdorf-Lienemann (2004) 16. Harnecker u. Tolksdorf-Lienemann (2004) 51ff. Harnecker u. Tolksdorf-Lienemann (2004) 51.

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geschnitten wurde. Nahezu vollständig liegt jedoch ein zweischiffiges Haus vor, das eine Länge von maximal 15 m aufgewiesen haben dürfte (Abb. 9).35 Es wird dem Typ ‚Soest-Ardey‘ oder ‚Haps‘ zuzuweisen sein; Harnecker u. Tolksdorf-Lienemann plädieren für den Typ ‚Haps‘.36 Hauslandschaften des Typs Soest-Ardey zeichnen sich durch zweischiffige Konstruktionen aus, wie eine solche hier vorliegt. Interessant an diesem Haus ist, dass dort zahlreiche Funde römischer Herkunft geborgen werden konnten, die direkt mit dem ehemaligen Schlachtgeschehen zu verbinden sind. Zu den unterschiedlichen Funden römischer Provenienz (Abb. 10) gehören Münzen (Lugdunum-Asse37), Militaria wie ein Helmbuschträger, eine Pilumspitze oder eine Panzerschließe; aus einem Grubenbefund stammt ferner eine typisch römische Soldatenfibel, eine Aucissa-Fibel.38 Der Fund ist ein deutlicher Beleg, dass an diesem Ort Material verarbeitet wurde, das beim Schlachtenereignis angefallen, später abgesammelt und u.a. am benannten Fundplatz verarbeitet wurde. Über die tatsächliche Siedlungsstruktur vor Ort ist wenig zu sagen, da der Fundplatz nur zum Teil ergraben ist. Zur Keramik der Fundstellen 105/126 zählen zum Leeser Fundspektrum vergleichbare Gef äßformen – Schüsseln, Schalen, Töpfe, ferner facettierte Randscherben, gewellte Ränder mit Fingernagelkerben, also jene Ware, die in den hier benannten Zeithorizont zu datieren scheint. Im Zusammenhang mit Kalkriese und dem tatsächlichen Fundniederschlag eines Schlachtenereignisses erscheint es sinnvoll, die römischen Fundstücke aus Leese und dem weiteren Umfeld anzusprechen. Bei den Grabungen am Marschberg und am Wall selbst wurden keine römischen Fundstücke gefunden, geringe Spuren fanden sich jedoch im weiter unten beschriebenen Grabenwerk. Die in und bei Leese (möglicherweise) entdeckten römischen Artefakte – allesamt Einzelfunde – werden im Corpus der römischen Funde im Barbaricum, Band Hansestadt Bremen und Bundesland Niedersachsen behandelt.39 Dazu rechnen Münzen, Glasperlen und Sigillaten. Unter den Münzen aus dem Stadtgebiet finden sich als ‚Hortfund‘ acht Denare. Dazu rechnen ein Vitellius (69), ein Vespasian (69/79), ein Domitian (81/96), ein Nerva (96/98), ein Trajan (98/117) sowie drei Hadrian (117/138).40 Bei zwei Münzen handelt es sich um die Einzelfunde eines Trajan (98/117) sowie um ein unbestimmtes AE (3.–5. Jh.).41 In Leese fanden sich fünf jüngerkaiserzeitliche „verschmolzene Glasperlen“, evtl. Reste eines Glasbechers,42 und vom Zapfenberg stammen Lesefunde, die ein „Herr Hamster aus dem Bereich einer kztl. Siedlung auf dem Zapfenberg“ 1931 geborgen haben will, darunter eine Glasperle des kaiserzeitlich datierenden Typus TM 362h.43 Der Terra Sigillata lassen sich fünf Rand- und Wandfragmente von verschiedenen Gef äßen zurechnen: „Darunter befinden sich ein Randfragment einer Barbotine-verz. Schale Drag. 36 (2. Jh.), ein Wandfragment einer reliefverz. Bilderschüssel Drag. 37 (2. H. 2.–1. H. 3. Jh.) u. ein Wandfragment einer reliefverz. Bilderschüssel Drag. 29 (1. Jh.). Die beiden übrigen Fragmente sind nicht näher bestimmbar.“44 Aus einer Kiesgrube südwestlich von Leese stammt eine vollständig erhaltene Bilderschüssel Drag. 37, die als Urne verwendet worden sein soll.45 „Das Inventarbuch des LM Hannover zählt die aufgeführ35

36 37

38

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Da die westliche Abschlusswand im Befundplan nicht zu erkennen ist, ist auch dieses Haus nur unvollständig ergraben. Harnecker u. Tolksdorf-Lienemann (2004) 16. Als Lugdunum-Asse bezeichnen die Verfasser Asse der 1. Altarserie (RIC 229–230). Harnecker u. Tolksdorf-Lienemann (2004) 29. Harnecker u. Tolksdorf-Lienemann (2004) 53, Abb. 29; Taf. 7,802.

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Erdrich (2002). Erdrich (2002) 94; XX-07–6/2.1. Erdrich (2002) 94; XX-07–6/3.1. Erdrich (2002) 94; XX-07–6/1.3. Erdrich (2002) 95; XX-07–6/5.1. Erdrich (2002) 94. Erdrich (2002) 94; XX-07–6/1.1.

Abb. 10 | Metallfunde aus den Fundstellen 105 und 126.

ten Beigaben auf. Bei dem ‚verzierten Knochenfragment‘ handelt es sich um das Wandfragment des Firnisbechers. Die übrigen Beigaben waren bei der Materialaufnahme nicht auffindbar.“46 Die als Ware des COMITIALIS bestimmte Schale datiert nach 160 bis 190. Beim angesprochenen Wandfragment einer Firnisware handelt es sich um einen weißtonigen „Firnisbecher mit mattgrauem Überzug u. eingedrehter Kerbe, verm. Niederbieber 30/32.“47 Die Bearbeiter des Corpus der römischen Funde im Barbaricum kommen ob dieser Fundzusammenstellung zu folgender Einschätzung: „Die Sigillaten wie auch die mit ihnen aufbewahrten Flint- u. Knochenfragmente sollen nach dem Kat. des LM Hannover aus Leese stammen, was jedoch angesichts der 46

Erdrich (2002) 94; XX-07–6/1.1.

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Erdrich (2002) 94; XX-07–6/1.2.

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typolog. u. chronolog. Zusammenstellung der Sigillaten sehr unwahrscheinl. ist. Die Erhaltung eines Knochenfragmentes in einer kalkarmen, sandigen Landschaft wie auch das Fehlen entsprechender Verwitterungsspuren auf den Sigillaten verstärken den Verdacht der Unterschiebung.“48 Dazu ist allerdings zu vermerken, dass vom eisenzeitlichen Gräberfeld bei Leese Knochenreste in erheblichen Quantitäten in gutem Erhaltungszustand vorhanden sind und auch die einheimische Keramik der unterschiedlichen Grabungen keine über das Übliche hinausgehenden Verwitterungsspuren zeigt. Zuletzt liegt ein an K. H. Jacob-Friesen gerichteter Brief des Lehrers Heinrich Sölter vor, der ob immer wieder entdeckter Neufunde zu Erstgenanntem in einem häufigen Briefkontakt stand und durchaus als vertrauenswürdig gilt. In diesem Brief werden die Fundumstände der Schale Drag. 37 näher beleuchtet, und auch aus dem weiteren Briefkontext geht hervor, dass ihm eher keine Fundunterschiebung zuzutrauen ist.49 Dies ist allerdings nur eine punktuelle Ansprache, wie es sich um die anderen von M. Erdrich benannten Funde verhält – insbesondere bezüglich des Münzspektrums –, bleibt hier unbeantwortet. Auch ohne diese Mutmaßungen zur vermutlichen Unterschiebung erwiesen sich die besprochenen römischen Funde insgesamt als jünger, so dass sie für das hier thematisierte eigentliche Ereignis zudem nicht zur Verfügung stehen. Der Wall selbst ist nur vage durch Funde datiert. Eine mittelalterliche/karolingische Datierung des linearen Erdwerks schließt sich jedoch mit der Befundbeschreibung nach Bersu aus. In dieser Hinsicht ist auch kein Widerspruch zu kritischen Anmerkungen Kurt Tackenbergs zu sehen, die jener 1978 veröffentlichte, und die an dieser Stelle nicht unerwähnt bleiben sollen, wie auch ähnliche Anmerkungen Gerhard Mildenbergers zur Fundstelle.50 Tackenberg berief sich in dem zweiseitigen Unterkapitel einer Artikelsammlung auf ein Gespräch, das er mit Walter Nowothnig einige Monate vor dessen Tod geführt hatte. Dabei berichtete ihm Nowothnig, er habe vor Ort eine kleine Nachuntersuchung vorgenommen: „Das Erdwerk sei auf einer germanischen Siedlung aus der Zeit um Chr. Geb. errichtet. Karolingische Scherben fanden sich in allen Auftragsschichten. Die Erbauung könnte karolingisch sein. Eventuell käme ein noch späterer Zeitansatz in Frage. Die Worte habe ich gleich nach der Unterredung aufnotiert.“51 Es ergab sich nun jedoch, dass im damals zuständigen Institut für Denkmalpflege in Hannover keinerlei Dokumentation zu dieser Grabung vorlag, und ferner auch trotz tätiger Mithilfe der Witwe Nowothnigs sich kein Hinweis in dessen Privatunterlagen fand. Tackenberg nahm daher an, dass Nowothnig vermutlich aufgrund seiner Krankheit bedauerlicherweise nicht mehr dazu gekommen sei, einen Grabungsbericht zu verfassen.52 Ungünstig ist es nun, sich auf eine Grabung zu beziehen, für die weder ein Datum vorliegt noch eine Dokumentation. Doch selbst wenn man annimmt, dass diese Grabung stattgefunden hat, sie aber aus diversen Gründen nicht aktenkundig wurde, so widerspricht Nowothnigs Befund nicht den von 48 49

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Erdrich (2002) 94; Unterschiebung/Terra Sigillata XX-07–6/4.1. Brief vom 28. 10. 1931 von H. Sölter an K. H. Jacob Friesen. Niedersächsisches Landesdenkmalamt. Den Brief hat mir S. Kriesch kenntlich gemacht, wofür ihm auch an dieser Stelle zu danken ist. H. Sölter schrieb dort u.a.: „Nun hätte ich eine Bitte. Sie waren früher immer so freundlich und schrieben einen kurzen Grabungsbericht, der dann hier zu den Schulakten gelegt wurde. Ich möchte Sie nun bitten, mir einen Bericht von der letzten Grabung zu senden, den ich ev. auch dem Stolzenauer Wochenblatt zum Abdruck geben könnte. Man interessiert auf diese Weise die Leute, die dann bei Erdarbeiten mehr die Augen offen halten. So wurde mir diese Tage

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50 51 52

eine Schale gebracht, die beim Sandgraben in der Sandkuhle gefunden wurde, die Leute hatten sie schon mit auf den Wagen geworfen, doch einer hat sie wieder heruntergeholt und gemeint, er könne sie als Hühnernapf gebrauchen. Ich hörte am nächsten Tage davon und habe sie mir gesichert. Es ist eine flache Schale mit Fuß, genau rund gearbeitet, mit reicher Verzierung. Sie sieht rot aus, wie rote Fliesen und ist ganz hart, ist mit Erde und Knochenresten gefüllt; ich halte sie für römisch. Sie ist so schön, daß ich sie nie hergeben möchte.“ Tackenberg (1978) 62; Mildenberger (1978) 146f. Tackenberg (1978) 63. Tackenberg (1978) 63.

Schuchhardt, Bersu, Heimbs und Lange vorgelegten Ausgrabungen, sondern bestätigt diese, was für die Grabungen der 20er Jahre durchaus als Gütebeweis anzusehen ist. Denn Bersu als Schuchhardts Grabungsleiter belegt, dass das Erdwerk des Marschbergs auf einer germanischen Siedlung der Zeitenwende errichtet wurde, wobei er die im Erdwerk gefundene Keramik wie später Nowothnig (laut Tackenberg) karolingerzeitlich bzw. in das „10. oder 11. Jahrhundert“53 datiert. Auch Nowothnig spricht von einem „Erdwerk […] auf einer germanischen Siedlung aus der Zeit um Chr. Geb.“54 Nowothnig dürfte also, sofern diese Grabung überhaupt stattfand, ebenso den Marschberg untersucht haben, nicht aber das lineare Erdwerk, in dem in drei Wallschnitten Bersus keine entsprechenden frühmittelalterlichen Funde zu Tage kamen.55 Mit einem genauen Blick in die publizierten Unterlagen hätte Kurt Tackenberg also das Missverständnis zur Örtlichkeit der Untersuchungen Nowothnigs erkennen können. Dies erfolgte jedoch leider nicht.56 Zu erwähnen sei abschließend noch, dass sich in den in Hannover verwahrten Fundkomplexen keine Keramik frühmittelalterlicher Zeitstellung fand. Entweder sind, was eher unwahrscheinlich sein dürfte, diese Funde verschollen. Oder aber es handelt sich um eine Fehldatierung einiger eisenzeitlicher Scherben, die an frühmittelalterliche Ware erinnert. Dafür kämen etwa eher kugelbauchige Vorratsgef äße bzw. Töpfchen in Frage, die im Material der Vorrömischen Eisenzeit absolut nicht auffallen, jedoch als Einzelstücke durchaus an Kugeltöpfe des Mittelalters erinnern können. Wie in diesem Zusammenhang fehlender Grabungsunterlagen das ebensolche Fehlen der vermeintlich karolingisch datierten Keramik im Hannoveraner Fundarchiv zu deuten ist, lässt sich schwer sagen, es fügt sich jedoch in das Bild. Mildenberger beschäftigte sich in seiner Studie über germanische Burgen auch mit Langwällen. 57 Er sprach im entsprechenden Kapitel die komplizierte Befund- und schwierige Datierungslage an und deutete den Wall aufgrund der breiten Pfostenabstände als Holz-Erde-Konstruktion, deren Zwischenräume durch eine Holzwand ausgefüllt gewesen sei. Dabei vermerkte er: „Die historische Überlieferung ließe eine Lokalisierung des Angrivarierwalls im Raume von Leese durchaus zu; auch die Bauweise würde in die Zeit um oder kurz vor Christi Geburt passen, in der der Wall ja errichtet worden sein müßte.“ 58 Allerdings wollte er auch eine mittelalterliche Datierung nicht ausschließen, dies natürlich eingedenk der mittelalterlichen Funde des Marschberges.59 Die Fundarmut am eigentlichen Wall sah er nicht als Hindernis an, da „ein solcher Erdwall außerhalb der Siedlungen liegt und Funde bei ihm nicht zu erwarten sind.“60 Als Kontrapunkt sah er jedoch die Nähe der germanischen Siedlung zum Wall (500 m südlich des Walles), denn aus seiner Sicht wäre eine Siedlung im Vorfeld des Walles nicht zu erwarten. An diesem Punkt jedoch schweigen die Befunde – denn dokumentiert sind seitens der Ausgräber nur die Funde, aber keine Befunde. Letztlich ist auch hier zu sagen, dass zu wenig über den Charakter dieser Anlagen bekannt ist.61 Dänische Befunde zu Wallanlagen lassen jedoch auch einen Handel über solche Grenzanlagen hinweg möglich erscheinen. Auch hier dürfte eine neuerliche Grabung zu eindeutigen Ergebnissen führen. 53 54 55 56

57 58 59

Bersu (1926) 106. Tackenberg (1978) 63. Funde aus dem Wall sind auch nicht unbedingt zu erwarten. Auf Tackenbergs Hinweis baut übrigens inzwischen eine breit gef ächerte Diskussion im Internet, die von eher unbedarften Heimatforschern geführt wird und nicht mit Hinweisen auf eine scheinbar blinde Archäologen- und Althistorikerwelt geizt. Mildenberger (1978) 146ff. Mildenberger (1978) 146. Mildenberger (1978) 146.

60 61

Mildenberger (1978) 146. Aus Sicht der vom Kalten Krieg geprägten späten 1970er Jahre mochte eine solche Grenzanlage nur als starres Bollwerk zu deuten sein, insbesondere für einen ‚Republikflüchtling‘ wie Gerhard Mildenberger, der in den 1960er Jahren aus der DDR nach Westdeutschland aussiedeln musste, und daher bewusst oder unbewusst möglicherweise eher die ehemalige innerdeutsche Grenze und die Mauer im Sinn hatte. Umgekehrt mag dies natürlich auch für den Verfasser in einem Europa der kaum merklichen Grenzen gelten. Mante (2007) 142.

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Abb. 11 | Wallanlagen auf der Halbinsel Jütland, im Süden die Fundstellen Kalkriese (Mitte), Leese (rechts) und Heek-Wichum (links) (schematisch).

Weitere lineare Sperranlagen Die Beschreibung des Angrivarierwalls als Monument zur Trennung des von den Angrivariern besiedelten Gebietes von jenem der Cherusker dürfte unabhängig von der Einordnung des Leeser Befunds auf Fakten basieren, die sich auch archäologisch andernorts sicher nachweisen lassen: Überraschend zahlreiche und variantenreiche Sperranlagen finden sich etwa auf der Halbinsel Jütland mit Wallanlagen, die mindestens von der Vorrömischen Eisenzeit an bis in das hohe Mittelalter errichtet und erhalten wurden (Abb. 11). Für Jütland sind 28 Wallanlagen dokumentiert,62 die den natürlichen geographischen Bedingungen folgend einzelne Siedlungsräume wirksam von anderen trennen. An bekanntesten dürfte dabei das sog. ‚Danewerk‘ sein. Dabei handelt es sich um ein System linearer Erdwerke auf der Landenge zwischen Treene und Schlei, das mit einer Gesamtlänge von mehr als 35 km das längste nordeuropäische Bauwerk schlechthin darstellt und somit von der Arbeitsleistung zu

62

196

Tiefenbach, Steuer u. Kehne (1999) 7.

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Abb. 12 | Lage und ungef ähre Ausrichtung der Wallanlagen Olgerdiget, Æ Vold und Trældiget.

seiner Errichtung her wohl nur mit dem römischen Limes zu vergleichen ist. Als Sperrwerk zur Blockierung der Passage entlang der Halbinsel Jütland wurde das Danewerk im späten 7. Jahrhundert errichtet, es folgten mehrere Ausbauphasen, die letztlich sogar bis in die Zeit des Zweiten Weltkriegs reichten.63 Vermutungen, dass das Bauwerk aus einem völkerwanderungszeitlichen Kern entstand, ließen sich über 14C- und dendrochronologische Untersuchungen nicht erhärten.64 Weitere kleine Wallanlagen sind aus England bekannt. Sie datieren vornehmlich völkerwanderungszeitlich und jünger, sind also nicht exakt chronologisch zu fassen; zu den größeren Anlagen zählen Wälle wie ‚Offas Dyke‘, der Ende des 8. Jahrhunderts errichtet wurde und England von Wales schied.65 In einem zusammenfassenden Beitrag stellte zuletzt Anne Nørgard Jørgensen Befestigungsanlagen und Verkehrskontrollen auf dem Land- und Wasserweg in der Vorrömischen Eisenzeit und der Römischen Kaiserzeit zusammen. Sie zeigte ein überraschend umfangreiches Spektrum an Kontrollmöglichkeiten, das von der Blockade kompletter Fjorde durch Seesperren bis zu den Langwällen reichte.66 Für den uns interessierenden Zeitraum sind im Wesentlichen drei dänische Wallanlagen anzuführen, nämlich der ‚Olgerdiget‘, der ‚Æ Vold‘ und evtl. der ‚Trældiget‘ (Abb. 12). Der Olgerdiget (Abb. 12–13) weist eine Länge von 7,5 km auf, verbunden mit 12 km Moorstrecken sind es jedoch insgesamt beeindruckende 20 km. Es lassen sich zwischen drei und fünf Palisadenrei63 64

Dobat (2009) 137. Dobat (2009) 141.

65 66

Neumann (1982) 135. Jørgensen (2003).

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Abb. 13 | Ausschnitt eines Grabungsplans des Olgerdiget und Rekonstruktion der Befestigung.

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Abb. 14 | Schematisierter Schnitt durch den Æ Vold.

hen nachweisen, ferner ein vorgelagerter Graben und eine Wallanlage.67 Dendrochronologische Untersuchungen stützen eine Datierung in die Römische Kaiserzeit, wobei diese noch zusätzlich durch 14C-Daten fundamentiert werden. Für den Olgerdiget liegen 14C- und Dendrodaten vor. Insgesamt wurden zehn Pfostenproben gezogen, mit denen 14C- und dendrochronologische Untersuchungen der Palisadenhölzer durchgeführt wurden. Die ermittelten Daten schwankten zwischen 60 v. und 200 n. Chr. Für die Palisade wurden folgende Werte ermittelt: Palisade 2 – 123 n. Chr.; Palisade 3 – 140 n. Chr.; Palisade 1 – 201 n. Chr.68 Ein weiteres Stück Holz, geborgen aus einer Schicht unterhalb des Grabens, datierte diesen in einen Zeitraum zwischen 300 und 500 n. Chr. Eine weitere solche Konstruktion ist der Æ Vold, Øster Løgum sogn, Sønderjyllands amt (Abb. 14).69 Dieser ist auf einer Strecke von 400 m unter Schutz gestellt, lässt sich aber nach Archivunterlagen noch über eine Länge von mindestens 2 km nachweisen. Die Anlage ist archäologisch mit 30 Grabungsschnitten sehr gut untersucht.70 Zur Befestigung gehörte eine vorgelagerte Palisadenreihe, ein 4,5 m breiter und 1,5 m tiefer Graben sowie im Anschluss daran und in einer Entfernung von 3 bis 6 m ein heute noch etwa 1 m hoch erhaltener Wall.71 „Der Wall verbindet eine Reihe größerer Moorflächen und sperrt die enge Passage an der Wasserscheide, die in der Frühzeit eine bedeutende Rolle im Nord-Süd-Verkehr gespielt haben dürfte.“72 Der Æ Vold datiert in die jüngere Römische Kaiserzeit, wie dies dendrochronologische Untersuchungen ergaben (Fälldatum des Holzes 278 n. Chr.),73 hinsichtlich seiner Struktur lassen sich Übereinstimmungen zum Olgerdiget erkennen. S. W. Andersen datiert den Wall in das 3. Jahrhundert.74 Die dritte und letzte hier zu benennende Anlage ist der übereinstimmend konstruierte Trældiget, Anst sogn, Ribe amt,75 für den allerdings außer der Konstruktionsübereinstimmung keinerlei naturwissenschaftliche Datenreihen vorliegen. Er wird nur über den Vergleich zum Æ Vold und dem Olgerdiget kaiserzeitlich datiert. Der nahezu völlig eingeebnete, N-S verlaufende Trældiget weist eine Länge von 10 bis 15 km auf, eine Grabenbreite von 2 bis 3 m und eine Grabentiefe von etwa 2 m. Der von einer Pa67 68 69 70 71

Neumann (2003) 131ff. Neumann (2003) 136. Neumann (2003) 136. Jørgensen (2003) 205. Andersen (1993) 23.

72 73 74 75

Andersen (1993) 23. Jørgensen (2003) 205. Andersen (1993) 23. Neumann (2003) 50.

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lisade begleitete Wall soll einstmals 3 m hoch gewesen sein.76 Die jüngsten Ausgrabungen fanden dort 1994 statt. Eine Errichtung während der Vorrömischen Eisenzeit kann für die Anlage nicht ausgeschlossen werden, sie soll bis in die jüngere Römische Kaiserzeit laufen.77 Mehrere Deutungsvarianten werden für die benannten Wallanlagen erwogen. Zweifellos handelte es sich bei den Wällen um gut sichtbare Geländemarken, die vielerlei Funktionen erfüllt haben mögen. Zum einen werden sie, wie für den Angrivarierwall von Tacitus beschrieben, unterschiedliche Stämme oder Gruppen voneinander getrennt haben. Gleiches wird etwa für den Olgerdiget angenommen, der die Angeln von den nördlich davon siedelnden Stämmen der Jüten trennte.78 Hinsichtlich des in das dritte Jahrhundert datierenden Æ Vold nahm S. W. Andersen 1993 einen Zusammenhang zu solchen kriegerischen Ereignissen an, wie sie sich „in den Waffenopfermoorfunden aus dem Thorsberger Moor in Angeln, Nydam auf Sundeved und Ejsbøl bei Haderslev widerspiegeln.“79 Jørgensen sah 2003 im Æ Vold „den Bestandteil einer Sperre quer über den schmalen Verkehrskorridor der jütländischen Halbinsel …, den der Nord-Süd-Verkehr zu passieren hatte.“80 Neben der Funktion als Territorialgrenzen könnten diese Wälle also aufgrund ihrer zentralen Lage zur Kontrolle ein- und ausgehenden Verkehrs gedient haben, möglicherweise ist auch an einen solche Grenzen überschreitenden Handel zu denken, der damit ebenso kontrolliert worden wäre. Aus dem deutschen Raum sind ebenso eine Reihe von befestigten Konstruktionen bekannt, zu denen Wallanlagen wie auch befestigte Siedlungen/‚Burgen‘ rechnen.81 Eine sicher in die uns interessierende Zeit datierende Wallanlage ist der Wall von Kalkriese in der Flur ‚Oberesch‘. Susanne Wilbers-Rost beschrieb 2003 den Befund des Kalkrieser Walls eingehend. Zuerst einmal ist festzustellen, dass es sich beim Kalkrieser Wall um einen Abschnittswall handelt, also keine vollständig geschlossene Anlage vorliegt. Parallel zum Wallverlauf auf der Wallrückseite konnten mehrere lang gestreckte Gruben entdeckt werden, die eine Breite von 1 bis 1,5 m aufwiesen und wohl als Drainagegruben dienten, um Wallunterspülungen bei starken Regenf ällen zu verhindern.82 Quer zu den Drainagegruben fanden sich weitere Grubeneintiefungen, die nach Ansicht der Verfasserin das hinter dem Wall gesammelte Wasser weiter nach außen ableiten sollten, was die Anlage vor vorzeitiger Erosion schützte.83 Ob diese Gruben offen lagen oder mit Reisig verfüllt waren, „um die Germanen, die den Wall von der Innenseite her ersteigen mussten, nicht zu behindern“, ist unbekannt.84 „Das Vorfeld des Walles dürfte hingegen durch das Abstechen der Grassoden teilweise aufgewühlt gewesen sein.“85 Im Wall wurden ferner Durchbrüche entdeckt, die möglicherweise „als Durchlass für Ausbrüche oder für den Rückzug vom Schlachtfeld“ dienten.86 Parallel zum Wallverlauf verliefen – nachgewiesen auf einer bisher 20 m langen Strecke – Pfostengruben in etwa 1,2 m Abstand zueinander, mit einem Durchmesser von 0,25 m, in denen evtl. die angekohlten Pfosten einer Brustwehr steckten. Einige dieser Pfosten ergaben die Rekonstruktion einer eindeutigen Toranlage.87 Die Breite des Wallfußes gibt Wilbers-Rost mit 4 bis 5 m an, die erhaltene Höhe des Walles liegt noch zwischen 0,10 bis 0,40 m. Hinsichtlich der ehemaligen Höhe ist WilbersRost zurückhaltend und mutmaßt etwa 1,5 m bei einer relativ steilen Außenfront. Die Innenseite des Walles verlief flacher, um ein Besteigen des Walles zu erleichtern.88 76 77 78 79 80 81

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Jørgensen (2003) 205. Knudsen u. Rindel (1994). Neumann (2003) 140. Andersen (1993) 24. Jørgensen (2003) 205. Mildenberger (1978).

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82 83 84 85 86 87 88

Wilbers-Rost (2003) 125. Wilbers-Rost (2003) 126. Wilbers-Rost (2003) 126. Wilbers-Rost (2003) 126. Wilbers-Rost (2003) 126. Wilbers-Rost (2003) 128. Wilbers-Rost (2003) 128.

An einigen Stellen wurden weniger Rasensoden, dafür höhere Anteile Sand verwendet.89 Feuchte, vermutlich schwer zu überwindende Senken wurden offenbar ausgespart, wie breite Unterbrechungen an den östlichen Enden beider Wallabschnitte erkennen lassen.90 Damit und auch in der Nutzung natürlicher Sandrippen bezogen die Errichter der Anlage topographische Geländegegebenheiten mit ein.91 S. Wilbers-Rost vermerkt: „Durch die Grabungen der letzten Jahre hat sich ein erstes Gesamtbild von Verlauf und Ausdehnung der Wallanlage gewinnen lassen […]. Sie erstreckte sich mit einer Länge von etwa 400 m über den heutigen ‚Oberesch‘ und endete an beiden Seiten an noch heute Wasser führenden, z.T. tief eingeschnittenen Bachläufen. Unerwartet war die Form der Enden, denn sie verliefen sehr geradlinig, beinahe parallel zum Bach, nach Nordosten bzw. Nordwesten. Zwar konnte die direkte Anbindung an den Bach noch nicht nachgewiesen werden, doch ist anzunehmen, dass diese beiden Riegel das Gelände des heutigen ‚Oberesch‘ als wichtige Kampfzone eingrenzen sollten, um den Römern den Durchbruch hinter den Wall zu verwehren.“92 Deutlich wird also, dass man es bei der Kalkrieser Wallanlage mit einer sorgsam geplanten, linearen Konstruktion zu tun hat, die sowohl topographische Gegebenheiten einbezog wie auch taktischen Erwägungen Folge leistete, den Schlachtraum einengte, den Germanen maximalen Schutz und den römischen Angreifern minimale Verteidigungs- oder Angriffsmöglichkeiten bot.

Aufwand zur Errichtung einer Wallanlage und Bevölkerungszahlen Der Aufwand zur Errichtung der Wallanlage in Leese ist auf den ersten Blick schwer abzuschätzen, da eine Reihe von wichtigen Kenngrößen unbekannt sind. Dazu fehlen für Leese Angaben wie Bodeneigenschaften, Fläche und Länge des Walls, ferner sekundäre Erkenntnisse zu Methoden der Wallerrichtung (Nutzung von Holzschaufeln, Hacken etc.).93 Für Kalkriese könnten diese Werte vermutlich errechnet werden. Der Aufwand zur Errichtung eines solchen Walls dürfte allerdings nicht allzu groß gewesen sein. Als Analogie sei auf die befestigte dänische Siedlung Priorsløkke verwiesen, die um 200 n. Chr. eine 220 m lange Palisade erhielt, an die sich ein 121 m langer Wall sowie ein 3 m breiter und 1,5 m tiefer Wallgraben anschloß.94 Auf experimentalarchäologischem Weg ergab sich, dass „die Palisade von Priorsløkke von 40 Männern im Vier-Schicht-Betrieb innerhalb einer Woche errichtet werden [konnte.]“95 Für die hier angeführten recht kurzen deutschen Wallanlagen dürfte dies sich nicht viel anders dargestellt haben, wobei auch die Bevölkerungszahlen der beteiligten germanischen Gruppen – also die verfügbaren Arbeitskräfte – dem nicht entgegenstehen. Eine Schätzung der Bevölkerungszahl der Cherusker und der Angrivarier wie auch weiterer Stämme unternahm jüngst Günter Stangl in einer Schrift von Klaus Tausend zu den Beziehungen zwischen den germanischen Stämmen vom 1. Jahrhundert v. Chr. bis zum 2. Jahrhundert n. Chr.96 Er stellte verschiedene Berechnungsverfahren vor und kam hinsichtlich der Cherusker auf eine geschätzte 89 90 91 92

Wilbers-Rost (2003) 129. Wilbers-Rost (2003) 129. Wilbers-Rost (2003) 130 Rost (2003) 131; sehr gut vergleichbar ist die Situation in Heek-Wichum, Lkr. Borken, wo eine Holz-Erde-Mauer eine Straße sperrte und dabei Moor- und Gewässerflächen einbezog: Finke (1960) 149ff.

93 94 95 96

Für freundl. Hinweise in dieser Richtung sei hiermit Dr. T. Kerig, London, herzlich gedankt. Jørgensen (2003) 208. Jørgensen (2003) 208. Stangl (2009) 232ff.

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Bevölkerung von 20000 bis 80000 Menschen, die ein Territorium besiedelten, das nach den unterschiedlichen Berechnungsgrundlagen zwischen 10300 und 22000 km2 groß war. Als militärisches Aufgebot errechnete er zwischen minimal 4000 und maximal 16000 Kriegern. Hinsichtlich der Angrivarier kam Stangl auf eine geschätzte Bevölkerung von 22000 bis 25000 Menschen, einem Territorium von 7400 bis 8000 km2 und einem Gesamtaufgebot von 7500 Kriegern. Trotz der erheblichen Schwankungsbreite und der Frage, wie realistisch solche Schätzungen sind, vermittelt dies dennoch eine Richtung, mit welchen Menschenmengen und eben auch Aufgebotsgrößen zu rechnen ist. Für Kalkriese zeigt sich jedenfalls – sofern man die Daten zur Errichtung der befestigten Siedlung Priorsløkke hier übertragen darf –, dass eine solche Befestigung auch von wenigen Menschen in einem kurzen Zeitraum zu errichten ist. Befestigte Siedlungen sind dabei keine Spezialität des skandinavischen Raums. Aus Deutschland sind eine Reihe befestigter Siedlungen bekannt, die z.T. in der Eisenzeit errichtet wurden. Späterhin kam es zur Um- oder Neunutzung solcher Anlagen, so dass oftmals der chronologische Kern der Strukturen nicht zu erkennen ist. Zu den bekanntesten Anlagen zählt etwa die Heidenschanze bei Sievern, Lkr. Cuxhaven, eine etwa 2 ha große umwallte Befestigung. Sie datiert „eventuell vom 2. Jahrhundert v. Chr., sicherlich jedoch vom 1. Jahrhundert v. Chr. bis in das 2. Jahrhundert n. Chr., eine dendrochronologische Datierung aus der jüngsten Walluntersuchung datiert dementsprechend in das Jahr 79 n. Chr.“97 Als eine befestigte Konstruktion der hier behandelten Zeitstellung und Region ist die Düsselburg nahe Rehburg in Niedersachsen anzuführen, die sich etwa auf halber Strecke zwischen Leese und dem Steinhuder Meer befindet. Bei ihr handelt es sich um eine frühmittelalterliche Ringwallanlage des 8. bis 10. Jahrhunderts. Gerhard Mildenberger stellte jedoch 1978 die Ähnlichkeit der Anlage zu ovalen Ringwällen der Vorrömischen Eisenzeit heraus und verwies auf das hier gefundene Scherbenmaterial der jüngeren Vorrömischen Eisenzeit, das auch eine Datierung für einen Kern in diese Zeit zuläßt.98 Hinsichtlich der Überformung in jüngerer Zeit erinnert dies durchaus an den Marschbergbefund. Dass es im Rhein-Weser-Germanischen Raum eine große Zahl von mehr oder minder großen befestigten Anlagen gab, beschrieb Mildenberger.99 Er bemerkte, dass in jenen Regionen insgesamt die höchste Anzahl vorrömischer Burgen nachgewiesen werden konnte, die zu einem gewissen Anteil auch in Römischer Zeit noch genutzt wurden. Hinweise auf befestigte Siedlungen oder Burganlagen lassen sich indirekt auch bei Tacitus nachlesen, der die Belagerung des Stammsitzes von Segestes beschreibt: Segestes hatte seine Tochter gewaltsam ‚heimgeholt‘ und wurde nun von gegnerischen Landsleuten belagert. Allzu eng oder gewalttätig kann die Belagerung nicht gewesen sein, denn es gelang Gesandten und einem Sohn des Segestes – Segimundus, der einst Priester der ara Ubiorum im Oppidum Ubiorum, dem heutigen Köln war – diese zu durchbrechen, zu Germanicus vorzudringen und ihn um Hilfe zu bitten. Es folgte die freundliche Aufnahme des Segimundus durch die Römer, die Befreiung der Belagerten, die Unterwerfung des Segestes, die Gefangennahme und Deportierung der schwangeren Thusnelda sowie die Zusicherung eines Wohnsitzes in der römischen Provinz für Segestes und seine Angehörigen.100 All dies befeuerte die kommenden Ereignisse zusätzlich. Unabhängig von der Hintergrundgeschichte zeigt sich zusammenfassend, dass der oder ein Teil des Stammesadels mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit in befestigten Anlagen lebte, man es also nicht mit offenen Siedlungen zu tun hat, und sich in diesen auch Gefolgsleute und weitere Familienangehörige befanden, mithin also die Oberschicht der Cherusker. Ob dies für die gesamte cheruskische 97 98

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Scheschkewitz (2009) 189. Mildenberger (1978).

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199 Mildenberger (1978) 67ff. 100 Tac. ann. 1,58.

Elite gilt, lässt sich nicht sagen, partiell – wie im Fall des Segestes – scheint dies jedoch der Fall zu sein. Die sichere Verknüpfung kaiserzeitlicher Befestigungen mit der bei Tacitus beschriebenen Geschichte ist bisher jedoch weder versucht worden noch lässt sich erkennen, wie dies erfolgen könnte.

Weitere Ausgrabungen im Umfeld Georg Heimbs, der ‚Entdecker‘ des Walls, kann im besten Sinne als Lokalpatriot beschrieben werden. Daher war auch nach den Grabungen Schuchhardts und Bersus und der Veröffentlichung der Ergebnisse in der Praehistorischen Zeitschrift 1926 sein Forscherdrang noch lange nicht befriedigt. Auch weiterhin führte Heimbs mit Bersu vom Frankfurter Archäologischen Institut des Deutschen Reiches einen regen Briefkontakt und lud diesen vielfach wieder nach Leese ein. In der Regel ließ sich dies jedoch nicht bewerkstelligen. Briefkontakte gab es auch zu Schuchhardt, ferner mit K. H. Jacob-Friesen, dem ersten Direktor des Provinzial-Museums und Landesarchäologen zu Hannover. Heimbs drängte dem Schriftverkehr zufolge alle Schriftpartner zu weiteren Grabungen. Dabei stellte sich für alle Beteiligten das Problem, Heimbs‘ großen Enthusiasmus in akzeptable Bahnen zu lenken, die nicht zugleich in ausufernde Deutungen und Verknüpfungen mit den taciteischen Schilderungen endeten. Dies zeigt sich im Schriftverkehr Bersus mit Heimbs: „Ich finde immer wieder, dass die Verquickung von Bodenforschung und Schriftstellerdeutung bisher mehr hemmend als förderlich gewesen ist. Beides sind getrennte Aufgabengebiete, und erst wenn beide aufgearbeitet sind, darf man eigentlich an den Versuch herantreten, die Ergebnisse zur Deckung zu bringen. Aber so weit sind wir noch lange nicht“.101 Dies hinderte Heimbs aber nicht daran, selbsttätig kleinere Ausgrabungen vorzunehmen, deren Dokumentationen in der Regel erhalten geblieben sind, wenn solche angefertigt wurden. Heimbs versuchte immer wieder aufs Neue, die Schriften des Tacitus mit den Grabungsbefunden zu verbinden und bezog dabei auch Funde anderer Stellen mit ein. Dabei wurde er jedoch ein ums andere Mal enttäuscht. So führte er beispielsweise einen von Adolf Schulten 1917 in den Bonner Jahrbüchern veröffentlichten Bleibarren an, der die Inschrift L·FLA sowie L·F·VE trägt und den Schulten einem Bergwerkspächter mit dem Namen ‚L. Flavius Ve(tu?)‘ zuweist.102 Heimbs dachte hier natürlich an Flavus, den Bruder des Arminius. Bersu jedoch musste Heimbs wie so häufig enttäuschen und datierte den Barren „mit größter Wahrscheinlichkeit auf die Zeit nach 70 n. Chr.“103 Von Heimbs freudig angeführte römische Terra Sigillata datierte Bersu in die Zeit „zwischen 170 und 200 n. Chr.“ und wies sie einer seiner Ansicht nach noch unentdeckten, vermutlich nordostgallischen Fabrik zu.104 Dennoch ließ Heimbs sich trotz dieser stets zu jungen Funde nicht entmutigen und suchte stetig weiter. Im Unterschied zu anderen historisch interessierten Sammlern suchte er jedoch stets den Kontakt zu Wissenschaftlern und Behörden und lieferte seine Funde ab. 101 Bersu an Heimbs vom 19. 4. 1929, Blatt-Nr. 1529/29D. 102 Schulten (1917) 88ff. Es handelte sich hier um das Fragment eines augusteischen römischen Bleibarrens, der als Lesefund in Bad Sassendorf-Heppen, Lkr. Soest, Westfalen, geborgen werden konnte. Verbunden wird dieses Stück mit dem Fund weiterer 99 Barren aus einem Schiffswrack bei Stes. Maries-de-la-Mer an der Mündung der Rhône: „Acht von ihnen sind mit FLAVI VERUCLAE PLVMB GERM beschriftet …, die 91 übrigen Barren mit L·FL·VER und L·FL·VE. Die Kürzel auf

dem Hauptteil der Barren benennen denselben Produduzenten wie die acht anderen Barren. Fast alle Bleibarren sind mit IMP CAES markiert und gingen folglich in den Besitz des Kaisers über.“ Bode (2008) 110. 103 Bersu an Heimbs vom 7. 5. 1929, Blatt-Nr. 1973/29D. 104 Bersu an Heimbs vom 25. 11. 1931, Blatt-Nr. 6471/31 B/G. Dabei kann es sich nur um eine als Urne verwendete Bilderschüssel Drag. 37 handeln, die weiter oben behandelt wurde. Siehe dazu Erdrich (2002) 94; XX-07–6/1.1.

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Das Frankfurter Archäologische Institut des Deutschen Reiches unterstützte die Grabungen in und bei Leese daher auch weiterhin finanziell, wobei es sich um eher kleinere Summen handelte. Auf der Kommissionssitzung vom 2. Mai 1931 etwa wurde – trotz laut Bersu klammer Finanzlage seiner Institution – die Finanzierung einer einwöchigen Grabung nördlich von Leese mit zwei Arbeitern und Vermessungsarbeiten durch Hannoveraner Vermessungsbeamte übernommen.105 Interessanterweise durfte Jacob-Friesen von der Ausgrabungsfinanzierung jedoch nicht wissen, da Bersu mehrere Finanzierungsbitten Jacob-Friesens für andere Ausgrabungen abgelehnt hatte.106 Jacob-Friesen wiederum war von den in und um Leese herum geborgenen Funden und Befunden eher enttäuscht und sah nur wenig Sinn darin, Gräben, Wälle und mit magerem Fundgut ausgestattete Siedlungsplätze zu ergraben. Zu den Ausgrabungen Jacob-Friesens gehörten etwa die 1927 auf dem nahe gelegenen „Klütberg“ durchgeführten Ausgrabungen (Abb. 15). Hier entdeckte er zwei „ursprünglich vielleicht ovale Grabensysteme, die konzentrisch ineinander lagen.“ Weiter vermerkte er: „unser Staunen war groß, als wir durch sie Querschnitte legten und sie als typische ‚Spitzgräben‘ (im Gegensatz zu den sonst üblichen Sohlgräben) erkannten. Der Querschnitt eines solchen Spitzgrabens ist der eines spitzen Winkels und hatte an der Oberfläche eine Breite von etwa 1,50 Meter und eine Wandtiefe von 1,20 Meter. Die Gesamttiefe betrug ungef ähr 95 cm.“ Geborgen werden konnte zwar keine typisch römische Keramik, jedoch fand man „den zerdrückten Rest eines tonnenförmigen Gef äßes … das mit seiner Facettierung an der Innenseite des Randes auf augusteische Zeit hinweist. Diese Zeitbestimmung deckt sich nun mit der allgemein üblichen Annahme, dass die Spitzgräben in die römische Kaiserzeit zu verweisen sind.“ Von einem dieser Querschnitte ist eine Profilzeichnung erhalten geblieben, in der sowohl Wall, Graben als auch das Gef äß eingezeichnet sind (Abb. 15A). Dieser Befund führte Ende 1930 und 1931 zu erneuten Ausgrabungen durch Heimbs, die – wie vorangehend beschrieben – von Frankfurt aus finanziell unterstützt wurden, da das Faktum der Spitzgräben auch hier als eindeutig römisches Signal gewertet wurde. Heimbs schloss seine Grabungen am 18. Mai 1931 an jene Jacob-Friesens an und grub alle 50 m in insgesamt 49 Schnitten quasi dem WallGrabensystem hinterher (Abb. 15).107 Kurt Tackenberg übernahm die Vermessung. In einem Schnitt (37) fand er „urgeschichtliche Scherben“, in einem anderen Schnitt, der allerdings das Wall-Grabensytem verließ, Reste eines „Rauhtopfes vom Harpstedter Typ“ (Garten des H. Höltje). Der Graben lief dabei in einigen Schnitten in eine spitze Sohle zu (Schnitte 19, 20, 45–47, 15). Am vielleicht eindruckvollsten ist dabei ein Schnitt der Grabung Jacob-Friesen von 1927 (Abb. 16B,1), der gut erkennen läßt, weshalb man an römische Spitzgräben erinnert war. Die Funktion dieses im Osten 340 m langen Wall-Grabensystems verbleibt mangels ausreichender Funde unklar, wenngleich auch Bersu den Spitzgrabenbefund mit einem solchen des Lagers von Kneblinghausen verglich, der in seiner „Füllung genau so aus[sieht], wie der Spitzgraben in Leese.“108 Im Unterschied zu den römischen Gräben sind die von Heimbs ergrabenen jedoch nicht sehr tief, so dass es sich bei ihnen kaum um Gebilde mit fortifikatorischer Funktion handeln dürfte. Die Spitzgräben der Grabung Heimbs sind maximal 1 m tief erhalten (Abb. 16B,4), ebenso mindestens ein Graben der Ausgrabung von Jacob-Friesen (Abb. 16B,1). Einige der Gräben sind außerdem nicht spitz, sondern eher muldenförmig. Laut der Ortsakten des LDA lässt sich der Verlauf des insgesamt nach Heimbs 105 Bersu an Heimbs vom 15. 6. 1931, Blatt-Nr. 2555/31 B/G. 106 Bersu an Heimbs vom 15. 6. 1931, Blatt-Nr. 3062/31 B/G. 107 Grabungsbericht Heimbs, undatiert, drei Blätter, ohne Nr.

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108 Bersu an Heimbs vom 22. 4. 1932, Blatt-Nr. 22219/32 B/G.

Abb. 15 | Die Grabungen G. Heimbs und K. H. Jacob-Friesens im Norden von Leese 1930 und 1931.

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Abb. 16 | A. Schematisierter Schnitt durch den Klütberg, Grabung Jacob-Friesen 1927. B. Schnitte der Grabung Jacob-Friesen 1927 und Heimbs. 1. Grabung Jacob-Friesen, Schnitt vom 14. 7. 1927; 2–8 Grabung Heimbs. 2. Schnitt 2; 3. Schnitt 13; 4. Schnitt 20; 5. Schnitt 22; 6. Schnitt 21, Profile Nord- und Südseite des Weges; 6. Schnitt 7; 8. Schnitt 10.

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800 m langen Grabens heute nur noch im NW exakt angeben. Zu den Gräben wird dort ferner festgestellt: „Da Jacob-Friesen nicht ausschloss, dass der Graben neuzeitlich sein könnte, ließ er sich 1929 vom Katasteramt Stolzenau einen Plan mit den Wegen und Parzellengrenzen … schicken. Auf diesem Plan ist ein Weg mit Wall und beidseitigen Plänen verzeichnet, der genau in der Linienführung des von Heimbs festgestellten Grabenzuges verläuft“ (Abb. 15,3; 16B,6).109 Damit handelt es sich in diesem Teilbereich entlang eines alten Forstweges wohl eher um Entwässerungsgräben oder solchen unbekannter Funktion. Für sie scheint also in weiten Bereichen eine neuzeitliche Zeitstellung sicher, römisch sind sie jedoch nicht. Vorangehend wurden diese Grabungen auch deshalb eingehend beschrieben, weil es zeigt, wie kompliziert die Befundlage in und um Leese herum ist, und wie der Wunsch, hier etwa ein römisches Lager zu entdecken, Untersuchungen in eine falsche Richtung lenken kann. Vermengt wurde in der Deutung dieser Spitzgräben durch Heimbs – aber auch durch Jacob-Friesen – die Existenz einer Reihe von wohl eisenzeitlichen Brandgrubengräbern im Umfeld und direkt am Klütberg.

Zusammenfassung Zusammenfassend zeigt sich, dass der Ohle Hoop durchaus Merkmale aufweist, die mit eisenzeitlichen Anlagen verglichen werden können – Bersu schätzte die Anlage auf 2,5 m Höhe, vergleichbares wird für den Trældiget beschrieben. Wie in Kalkriese auch, wurde der Langwall aus Plaggenesch errichtet – ‚aufgeplaggt‘.110 Palisadenreihen werden ebenso für alle benannten Anlagen beschrieben, und auch eine Verbindung zu sumpfigen Abschnitten scheint bei Wallanlagen wie dieser die Regel darzustellen. In die entsprechende Zeitstufe um die Zeitenwende datierende Funde finden sich im Umfeld der Konstruktion. Entsprechend mag es sich beim Ohle Hoop im Kern um einen eisenzeitlichen Langwall gehandelt haben, sicher ist dies jedoch nicht. Auch hinsichtlich der germanischerseits gewählten Stelle für den Kampf gegen Germanicus mag man mit der Leeser Topographie durchaus Parallelen zu Kalkriese erkennen – Engstellen, Sümpfe, dünne Flussläufe, ein Wall. Andererseits ist jedoch hinsichtlich Kalkriese zu fragen, woher das Wissen um die Konstruktion einer solchen Anlage stammte, die ja innerhalb eines recht kurzen Zeitraums errichtet worden sein muss. Würde es sich beim etwa 60 km – also etwa drei Tagesmärsche – entfernten Abschnittswall ‚Ohle Hoop‘ tatsächlich um eine eisenzeitliche Wallanlage handeln – egal ob ,Angrivarierwall‘ oder nicht –, so mag hier durchaus das Vorbild für Kalkriese zu suchen sein. Einzelne Details stimmen überraschend überein, wie das Aufplaggen des Walls auf eine alte Oberfläche, die bis auf 10 cm übereinstimmenden Abstände der Pfosten, das Fehlen eines Grabens hier wie dort (und auch im Unterschied zu den skandinavischen Langwällen), das Einbeziehen topographischer Gegebenheiten, sumpfige, schwer überwindliche Streckenabschnitte bzw. entsprechende Bachläufe sowie eine sich so herausbildende Schmalstelle. Kalkriese wäre damit quasi die Wiederholung des Leeser Befundes, und die ‚Bauherren‘ dann möglicherweise auch jene, die sich mit der Instandhaltung der Leeser Anlage auskannten.

109 Bearbeiterin H. Nelson, Identifikationsnr. 256/ 3650.00172-F. 110 Harnecker u. Tolksdorf-Lienemann (2004) 9 definieren dies folgendermaßen: „… Plaggen sind flach abgesto-

chene, durchwurzelte Soden … die Plaggenesche der Kalkrieser-Niewedder Senke sind braune Plaggenesche unterschiedlicher Mächtigkeit aus schwach lehmigen oder schwach schluffigen Sanden.“

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Eine mittelalterliche Zeitstellung des Walles erscheint dem Verfasser nicht zuzutreffen, fehlen doch die entsprechenden Funde. Anders sieht dies möglicherweise für den Marschberg aus. Auch der Hinweis auf ähnliche Wallanlagen aus den Zeiten des Dreißigjährigen Krieges trifft nach Ansicht des Verfassers nicht, da sich über die Zeiten gerade einfach konstruierte Erdwälle gleichen. Die Parallelen zu Kalkriese oder den skandinavischen, insbesondere dänischen Anlagen, erscheinen hier treffender. Vor dem Hintergrund der zahlreichen Nennungen der Angrivarier als Verbündete der Cherusker, als möglicherweise erste Aufständische, gegen die Varus zog, als erneut Aufständische unter Germanicus und als einer jener raren Stämme, die explizit beim Triumph des Germanicus in Rom benannt wurden, entfaltet die These der Verbindung beider linearer Anlagen (unabhängig von der tatsächlichen Deutung der Leeser Anlage) eine gewisse Wahrscheinlichkeit. Letztlich muss diese Vermutung, also die ‚Bauherrenschaft‘ oder zumindest die Vermittlung des Wissens um eine solche Konstruktion jedoch von archäologischer Seite her spekulativ bleiben, da im Leeser Wallbereich bzw. in dessen Nähe zwar Scherben der Vorrömischen Eisenzeit wie auch mit einem kräftigen Signal solche augusteischer Zeitstellung neben germanischen Siedlungsreste gefunden wurden, jedoch für die von Schuchhardt veranlassten Grabungen vor dem Hintergrund heutiger Anforderungen naturwissenschaftliche Daten fehlen. Benötigt würden zur letztendlichen Klärung der Situation weitere Wallschnitte, ferner parallel zum Wall verlaufende Schnittführungen, naturwissenschaftliche Untersuchungen hinsichtlich der Gewinnung von 14C-Daten und – sofern Hölzer geborgen würden, die dies ermöglichten – dendrochronologische Analysen. Auch eine Ausgrabung der germanischen Siedlung auf bzw. unter dem Marschberg, sofern sich hier überhaupt noch Grabungen durchführen lassen, dürfte von Interesse sein.

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IV. Cura posterior

Frühes Marketing: Arminius-Kaffeemühle.

Klaus Kösters Endlose Hermannsschlachten …

Über die Varusschlacht 9 n. Chr. und den Sieg der Germanen unter ihrem Heerführer Arminius würde heute niemand mehr reden, wenn nicht die Erinnerung an das historische Ereignis – symbolisch und emotional aufgeladen – Teil des kollektiven Gedächtnisses der Deutschen geworden wäre. Es ist also eine klassische Mythenbildung, die hier stattgefunden hat: Das historische Ereignis und sein Protagonist wurden aus der historischen Zeit herausgelöst und in Form einer heroischen Erzählung und in freiem Umgang mit den historischen Fakten auf die jeweils tagespolitisch aktuellen Bedürfnisse der Mythenerzähler zurechtgeschnitten. Diese Bedürfnisse sind aber wandelbar, so dass sich im Laufe der Zeit auch die Interpretationen des Mythos wandelten, wie die ununterbrochene Kette von fiktiven Hermannsschlachten zeigt, die sich in der Literatur, der bildenden Kunst und Musik niedergeschlagen haben – dieser Beitrag nimmt das 16. bis 18. Jahrhundert in den Blick. Im Kern geht es dabei um zwei Themen: ein-

Abb. 1 | Schlussbild der Kleistschen Hermannsschlacht in der Bochumer Peymann-Aufführung von 1982: Der Schatten Hermanns wächst und wächst …

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Abb. 2 | Tacitus’ Germania. Kommentierte Ausgabe des Humanisten Andreas Althamer, 1580.

mal um das Selbstbild, das sich die Deutschen gemacht haben, nachdem die Germania des Tacitus und wenig später die Geschichte der Germanenkriege mit Arminius wiederentdeckt wurden. Zum anderen – sozusagen als Gegenspiegel – geht es um die kurze europäische Karriere des Arminius und der freien Germanen, die im 17. Jahrhundert begann und dann abrupt mit den napoleonischen Kriegen endete.

Die Germanen des Tacitus Der römische Historiker Tacitus (um 58–nach 116 n. Chr.) schildert die Germanen als eigenständig lebendes, unvermischtes Volk: „Die Germanen selbst sind meiner Meinung nach wohl Ureinwohner und haben sich keineswegs mit anderen Völkern vermischt, die gewaltsam eindrangen oder gastliche Aufnahme fanden.“1 Alle fremdsprachlichen Zitate erscheinen hier in deutscher Übersetzung und stammen, wenn nicht anders vermerkt, vom Verfasser, Tacitus-Stellen aus der Übersetzung von Curt Woyte, Stuttgart 1959.

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Tac. Germ. 2.

Tacitus wollte wohl in den Germanen ein unverf älschtes Urvolk sehen, das er den Alt-Römern in der Absicht annäherte, in ihnen ein positives Spiegelbild verlorener altrömischer Tugenden zu zeichnen. Unabhängig von der wissenschaftlichen Frage, ob diese römische Benennung ‚Germanen‘ überhaupt historisch gerechtfertigt ist, ging Tacitus von einer einigermaßen homogenen Volksgruppe aus, die er mit gemeinsamen Merkmalen belegte: „Deshalb ist auch die äußere Erscheinung, trotz der so großen Menschenzahl, bei allen die gleiche: trotzige blaue Augen, rotblondes Haar und hoher Wuchs.“2 Die Germanen des Tacitus sind von Natur aus stattlich und von kräftigem Körperbau, ausgesprochen freiheitsliebend, tapfer und wehrtüchtig, ein einfaches Kriegervolk, deren wildes und aggressives Verhalten Tacitus nicht ausschließlich als barbarisch herabstuft. Wildheit und Aggressivität kann man auch im Zusammenhang mit den römischen Tugenden von Tapferkeit und militärischer Stärke sehen. Denn Tacitus betont immer wieder die virtus der Germanen, die er mehr positiv als männliche Tugend und kriegerische Tüchtigkeit interpretiert. Und eine weitere altrömische Tugend spricht Tacitus den Germanen zu: ihre simplicitas, ihr einfaches und ungekünsteltes Wesen, das man zweifach verstehen kann, als Primitivität oder sittliche Reinheit und Tugend. Dieser Einfachheit sind dann weitere Tugenden zugeordnet, wie z.B. Offenherzigkeit, Biederkeit, Respekt vor den althergebrachten Sitten und Traditionen, vor Sippe und Familie, persönliche Treuebindung zum Gefolgsmann, Achtung der Frauen, Ablehnung von Geld und Gold. Tacitus spart nicht mit Kritik, wenn er die germanische simplicitas auch als Einfalt und Rohheit schildert. Als Vertreter eines gebildeten und zivilisierten Volkes sieht er nicht über die germanische Primitivität in Handel und Bewaffnung, in Kleidung und Ernährung hinweg. Aber entscheidender sind für ihn die positiven Eigenschaften der Germanen. Er sieht in den germanischen Stämmen vieles, was früher einmal die Züge des Römertums waren, bevor das römische Kaisertum mit seinen unberechenbaren, tyrannischen Herrschern diesen alten republikanischen Tugenden den Garaus machte. So überrascht es nicht, wenn er die germanische Welt positiver schildert, als sie es wohl in Wirklichkeit war.

Die Wiederentdeckung der Germania des Tacitus Im Mittelalter war die Germania des Tacitus so gut wie vergessen. Eine neue Situation trat ein, als sich im Italien des 14. und dann vor allem des 15. Jahrhunderts humanistisch gebildete Gelehrte und Literaten aufmachten, in Klosterbibliotheken nach Abschriften antiker Texte zu suchen. Um 1455 gelangte der heute verlorene Codex Hersfeldensis nach Rom, also die karolingische Abschrift der kleineren Werke des Tacitus mit der Germania. Wer wann und wie dafür verantwortlich war, dass aus dem Kloster Hersfeld oder Fulda Abschriften der taciteischen Schriften nach Italien gelangten, ist umstritten und wohl nicht mehr zu klären. Die Handschriften wurden kopiert und seit den 1470er Jahren immer wieder neu gedruckt. Einer der ersten, der die Germania in die Hand bekam, war Enea Silvio Piccolomini (1405–1464), der spätere Papst Pius II. Und er wusste daraus auf eine besondere Weise Gewinn zu schlagen. Gerade hatten die deutschen Bischöfe und Fürsten in den Gravamina Germaniae Nationis Klage über die unmäßigen Geldforderungen und das Pfründenwesen Roms geführt. In seiner Erwiderung von 1558 benutzte Enea Silvio seine frischen Kenntnisse aus der Germania, um gegenüber dem von Tacitus dargestellten einfachen 2

Tac. Germ. 4.

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Abb. 3 | Enea Silvio Piccolomini, Papst Pius II. Kupferstich von Johann Benjamin Brühl (1691–1763).

und primitiven Leben der Germanen auf den aktuellen Wohlstand und die Kultiviertheit der Deutschen hinzuweisen: Die natio Germanorum sei dank der römischen Kirche aus dem Stande der Barbarei, wie Caesar und Tacitus sie überlieferten, zu nunmehr höchstem Wohlstand und christlicher Lebensführung gelangt. Über die Germanen schrieb er: „In dieser Zeit unterschieden sich Deine Vorfahren kaum von den wilden Tieren, alles war grauenhaft, alles abscheuerregend, wild, barbarisch, oder um die Dinge bei ihrem Namen zu nennen, bestialisch und menschenunwürdig.“3 Enea Silvios Argumentation war nicht ungeschickt. Außerdem hatte er 23 Jahre in Deutschland verbracht und konnte für sich in Anspruch nehmen, Land und Leute gut zu kennen.4 Die Germania diente ihm als Beweismittel für die ursprüngliche Primitivität der Deutschen, sozusagen als Hintergrundfolie, um – nicht ohne finanziell-politische Interessen – das neue kultivierte und wohlhabende Deutschland umso besser loben zu können. Enea Silvios Schriften wurden in Deutschland erst gegen Ende des Jahrhunderts bekannt, aber sie boten den deutschen Humanisten eine willkommene Argumentationshilfe, denn er zeichnete Deutsch-

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Enea Silvio Piccolomini, De ritu, situ, moribus et conditione Theutoniae descriptio, Leipzig 1496, Buch 2, Kap. 4. S. auch Ridé (1977) 174, Münkler, Grünberger u. Mayer (1998) 167; Krebs (2005) 145.

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Er kam 1432 zum Baseler Konzil nach Deutschland und beendete 1455 seine Tätigkeit in der Kanzlei Kaiser Friedrichs III.

land als sprachliche, kulturelle, ethnische und geographische Einheit und gab so den deutschen Humanisten einen Denkanstoß, den sie später mit der Idee einer deutschen ‚Nation‘ weiterentwickeln konnten.5 Bei Enea lasen sie auch, sie seien ein besonderes Volk, das kraft eigener Leistung und Kriegstüchtigkeit die Reichsgewalt übertragen bekommen hatte, er diagnostizierte also den Übergang des römischen Kaisertums auf das Heilige Römische Reich deutscher Nation. Diese Feststellung war umso tröstlicher, als der französische König seinen Anspruch auf die Kaiserkrone anmeldete.6 Enea Silvio Piccolomini führte die deutschen Humanisten zur Germania des Tacitus. Er hatte gezeigt, wie man mit historischen Quellen tagespolitisch argumentieren kann. Und auch hierin folgten ihm die deutschen Humanisten, indem sie die Aussagen des Tacitus wörtlich auf ihre Gegenwart übertrugen: Die alten Germanen erklärten sie zu den Vorfahren der Deutschen. Durch Tacitus beglaubigt, bekamen die Deutschen eine Ursprungsgeschichte, die durchaus gleichwertig mit dem italienischen Trojanermythos war.7 Jetzt war der Weg offen, die von Tacitus beschriebenen Tugenden als allzeit gültige Eigenschaften aller Deutschen zu bestimmen. Tacitus’ Germania war aber nur bedingt geeignet, den Ursprung der Deutschen herauszustellen; zu vage waren die Angaben über die Herkunft der Germanen. Tacitus erwähnt zwar, dass die Germanen in ihren Liedern „Tuisto, einen erdgeborenen Gott“ verehrten.8 Aber diese Genealogie hing gewissermaßen in der Luft, ließ sich an keine der bereits bekannten anschließen. Zugleich betonte Tacitus mehrfach die autochthone Herkunft der Germanen. Für die humanistischen Gelehrten stellte sich damit die Aufgabe, eine lückenlose Genealogie der Deutschen aufzustellen, die an die bekannten biblischen und antiken Geschlechterfolgen anknüpfte. Auf der anderen Seite bot die Ureinwohner-Theorie die Chance, den Deutschen ein seit altersher bestimmtes Territorium zuzuweisen. Die kaiserliche Publizistik unter dem Habsburger Maximilian I. (1459–1519) stellte gerade dieses Argument in der Abwehr französischer Ansprüche und innerer Auseinandersetzungen besonders heraus.9 1498 erschien ein Buch des Dominikanermönchs Annius von Viterbo (1432–1502), das für die humanistischen Gelehrten Deutschlands wohl wie ein lang ersehntes Geschenk auf dem Weg der nationalen Selbstfindung gewesen sein muss. Annius untersuchte in seinem Werk die Herkunft aller bekannten Völker. Als Autoritäten führte er neben den bekannten biblischen und antiken Quellen einen chaldäischen Priester und Geschichtsschreiber ‚Berosus‘ ein, der als Bindeglied zwischen den biblischen Berichten und den antiken Autoren fungierte. So konnte Annius eine lückenlose Geschlechterfolge vom Stammvater Noah bis zu den verschiedensten Völkern Europas, Asiens und Afrikas konstruieren.10 Annius argumentierte folgendermaßen: Noah und sein Geschlecht überlebten als einzige die Sintflut. Seine drei Söhne Sem, Ham und Japhet wurden die Stammväter der Völker Asiens, Afrikas und Europas. Japhet wurde zum Urahn der Spanier, Italer und Kelten. Für die germanischen und sarmati-

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Müller (2001) 257. Streng genommen kann der Begriff ‚deutsche Nation‘ erst auf die Verhältnisse nach der Französischen Revolution angewendet werden. Wenn hier dennoch von ‚Nation‘ und ‚Nationalbewusstsein‘ gesprochen wird, dann im Sinne von Vorläufern oder Frühformen. Dazu ausführlich: Münkler, Grünberger u. Mayer (1998) 175–209. In Vergils Aeneis konnte man lesen, dass Rom durch den aus dem brennenden Troja geflohenen Aeneas gegründet

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wurde. Ähnliche auf Troja bezogene Ursprungsmythen gab es auch in Deutschland, Frankreich und England. Tac. Germ. 2. Münkler, Grünberger u. Mayer (1998) 236 u. 243. Annius de Viterbo (Giovanni Annius, auch genannt: Pseudo-Berosus), Antiquitatum variarum volumina. Auctores vetustissimi, Rom 1498. S. auch Münkler, Grünberger u. Mayer (1998) 243f.; Ridé (1977) 1065–1075; Hutter (2000) 36–54. Eine Ausgabe zusammen mit der Germania des Tacitus erfolgte 1511.

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schen Völker11 erfand Annius aber eine andere Geschlechterfolge: Den bei Tacitus erwähnten Gott Tuisco (Tuisto) führte er direkt auf Noah zurück, den er in sein Geschlecht aufnahm. Da der römische Schriftsteller diesen als Stammvater der Germanen ansah, konnte Annius die konstruierte Abkunft der Deutschen von Noah nicht nur durch den römischen Schriftsteller beglaubigen, sondern dessen Aussagen durch ‚alte‘ Quellen bestätigen lassen. Wenn Tuisco als Stammvater der Germanen direkt auf Noah zurückgeführt werden konnte, so ließ sich daraus in den Augen der deutschen Humanisten auch eine besondere Würde und Auszeichnung der Deutschen folgern, da sie älter als die anderen Völker seien. Franciscus Irenicus (1494/ 95–1553), protestantischer Theologe und Verfasser historischer Werke, leitete aus dem hohen Alter der Deutschen deren Höherwertigkeit gegenüber allen anderen Völkern ab: „Uns aber wird von anderen Nationen bezeugt, dass das Herkommen der Germanen lauter und rein gewesen, also auch nicht aus einer Vermischung mit anderen Stämmen entstanden sei. Die Germanen sind unvermischt geblieben, wie Tacitus, Sabellicus und andere bezeugen. Aber allein Berosus hat dargelegt, dass wir bedeutender sind als alle übrigen Stämme Europas, wenn man Herkunft und Alter als Maßstab nehmen will.“12 Deutsche Krieger, so Irenicus weiter, sind aufgrund ihrer außergewöhnlichen Tapferkeit und Kriegskunst auf allen Kriegsschauplätzen der antiken Welt anzutreffen gewesen, wo sie Entscheidendes geleistet haben. Einmal in die Welt gesetzt, sollte dieser Gedanke von der Besonderheit der Deutschen Karriere machen. Da half es auch nicht, wenn der elsässische Gelehrte Beatus Rhenanus (1485–1547) das Werk des Annius in die Welt der Märchenerzähler verwies.13 Die Germania des Tacitus und die Schrift des Annius von Viterbo regten die humanistischen Autoren in Deutschland an, eine Vielzahl von Kommentaren über die Herkunft der Deutschen und ihre besonderen Eigenschaften zu verfassen. Einer der ersten war der Erzhumanist Konrad Celtis (1459–1508), der in seiner Germania Generalis gerade der simplicitas der Germanen Vorbildcharakter zusprach: „Ein unbesiegbares Volk, wohlbekannt in der ganzen Welt, lebt von jeher dort, wo sich die Erde, in ihrer Kugelgestalt gekrümmt, herabneigt zum Nordpol. Geduldig erträgt es Sommerhitze, Kälte und harte Arbeit; Müßiggang eines trägen Lebens zu erdulden leidet es nicht. Es ist ein Volk von Ureinwohnern, das seinen Ursprung nicht von einem anderen Geschlecht herleitet.“14 Auch Heinrich Bebel (1472–1518), Professor für Poesie und Rhetorik an der Universität Tübingen, stützte sich in seiner kleinen Schrift Beweis, dass die Germanen autochthon sind auf Tacitus als Gewährsmann: „Die Germanen sind autochthon, d.h. eingeboren, was unter anderen Cornelius Tacitus bekräftigt.“15 Ihre kulturelle Entwicklung, so Bebels Argumentation, haben die Deutschen sich selbst zu verdanken. Kein römischer Eroberer hat ihre freiheitliche Entwicklung unterdrückt, und keine römische Kirche war notwendig, um die Deutschen zu einem zivilisierten Volk zu machen, wie dies Enea Silvio behauptete. Sie sind, so Bebel, seit alters her sich immer treu geblieben, keinem verderblichen Einfluss fremder Stämme und Völker ausgesetzt gewesen: „Wir aber sind beinahe die einzigen unter allen Na11

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Sarmatien: nach Annius die Polen, Goten/Schweden, Russen und Dacier (Münkler, Grünberger u. Mayer [1998] 246). Franciscus Irenicus, Germaniae Exegesos volumina duodecim, Basel 1567, Buch 3, Kap. 1–2 (105–106). Übersetzung nach: Münkler, Grünberger u. Mayer (1998) 252f. (Beatus Rhenanus), Beati Rhenani Selestadiensis Rervm GermaniCarvm Libri Tres Adiecta Est In Calce Epistola Ad D. Philippu Puchaimeru …, Basel 1531; Zitat bei Münkler,

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Grünberger u. Mayer (1998) 248. S. auch Mertens (2004) 92. Conrad Celtis, De situ et moribus Germaniae additiones (erschienen um 1500 in Wien), Übersetzung nach Müller (2001) 91. Heinrich Bebel, Germani sunt indigenae (nach 1500), in: Opera Bebeliana sequentia …, Pforzheim 1509 (http:// www.uni-mannheim.de/mateo/camena/bebel2/jpg/ s147.html [Stand: Nov. 2009]).

Abb. 4 | Epitome Rerum Germanicarum von Johannes Wimpheling, Titelblatt, 1562.

tionen des Erdkreises, die ohne Vermischung mit Einwanderern regieren und seit altersher ohne ein von Außen auferlegtes Joch herrschen.“16 Uralte Abstammung und Tugend, Tapferkeit und Unabhängigkeit – das sind also für Bebel die herausragenden Eigenschaften der germanischen Vorfahren und jetzigen Deutschen, Eigenschaften, die mit ihrer Ureinwohnerschaft in einem geschlossenen Territorium auf das Engste verbunden sind. So gibt es für Bebel keinen Zweifel, dass nur auf sie das römische Kaisertum übertragen werden konnte. Der elsässische Gelehrte Jakob Wimpheling (1450–1528) erzählte in seiner Epitome17 die Geschichte Deutschlands, wobei er mit den Kimbern und Teutonen beginnt und immer wieder die germanische/ deutsche Tapferkeit und Kriegstüchtigkeit herausstellt. „Es gereicht uns zur Ehre, von den alten Germanen abzustammen“, schreibt er im Vorwort und wird nicht müde, die Heldentaten der alten Krieger zu preisen: „Ich sage, wie ich es denke, die Deutschen haben alle Völker besiegt.“18 In dem Kapitel über die „Tapferkeit der Deutschen“ nennt er die Deutschen „mutig, großzügig und erfindungsreich“.19 Zu ihren Tugenden gehören neben der militärischen Überlegenheit auch und in Anlehnung an Tacitus Keuschheit, Gastfreundlichkeit, Treue und Gottesfurcht sowie Redlichkeit, Freiheitsliebe und Beständigkeit. 16 17

Bebel, Germani (http://www.uni-mannheim.de/mateo/ camena/bebel2/jpg/s147.html). Jakob Wimpheling, Epitome rerum Germanicarum usque ad nostra tempora, 1505. Übersetzung nach der 1562 in Marburg bei Colbius erschienenen Ausgabe.

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Wimpheling, Epitome, Kap. 54. S. auch Ridé (1977) 311 und 1148. Wimpheling, Epitome, Kap. 54 – ein Zitat von Filippo Beroaldo, das Wimpheling übernimmt. Ridé (1977) 314; s. auch Krapf (1979) 104f.

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Die Hochpreisung der Germanen-Deutschen durch die bisher vorgestellten patriotisch entflammten Autoren konstruiert das Bild eines allen anderen Völkern politisch, militärisch, moralisch und kulturell überlegenen Volkes. Dieses zeichnet sich nicht nur durch Tugenden aus, die von Tacitus ausgehend immer ausführlicher und breiter dargestellt werden, sondern auch durch ein gegenüber den anderen Völkern höheres Alter sowie eine ethnische Reinheit und Siedlungskontinuität in einem fest umrissenen Territorium. Damit hatte das Germanen- und Deutschlandbild dieser Autoren feste Konturen gewonnen und konnte die Einbildungskraft aller zukünftigen Patrioten nachhaltig inspirieren. Aus einem Dilemma kamen die deutschen Humanisten allerdings nicht heraus: Alle Nachrichten über die Germanen stammten aus römischer Feder, da jene kaum die Schrift geschweige denn Schriftsteller oder Chronisten besaßen. Also doch Barbaren, wie dies die Italiener und Franzosen behaupteten? Die Lösung fand der Humanist Franciscus Irenicus: „Es sei nicht die Art der Germanen, mit großen Worten zu tönen, denn mehr als Worte sprechen die Taten.“20 Damit war der endgültige Ausweg gefunden: Die germanischen Analphabeten sind durch ihren Charakter und ihre Taten geadelt, was Irenicus um 1515 sofort in einen Katalog der berühmten Männer (Catalogus virorum illustrium) verarbeitete.

Arminius wird entdeckt Aber all diesen Lobpreisungen fehlte noch der Held, auf den sich all die guten Eigenschaften projizieren ließen. Der wurde gefunden, als man 1508/09 die Annalen des Tacitus und 1515 die Römische Geschichte des Velleius Paterculus (um 20 v. Chr.–30 n. Chr.) entdeckte. Beide Texte führten Arminius als siegreichen Heerführer der Germanen in die Geschichte ein. Tacitus nannte ihn den „Befreier Germaniens“ und großen patriotischen Führer – ein Urteil ausgerechnet von einem römischen Schriftsteller, das keinen deutschen Humanisten ruhig lassen konnte. Sie bemühten sich, den Germanen zum ersten Helden der Deutschen und strahlenden Führer eines deutsch-germanischen Freiheitskampfes zu machen, der sich in der Gegenwart fortsetzt. Denn der Freiheitskampf der Germanen gegen Rom konnte auch als Beginn einer Auseinandersetzung interpretiert werden, die man im 16. Jahrhundert gegen die Selbstsucht der römischen Kirche führte. Und für die deutschen Humanisten war es nur zu leicht, die ausbeuterischen Steuern, welche die römische Kirche in Deutschland erhob, mit den Raubzügen und Plünderungen der römischen Armee in Germanien in Verbindung zu bringen.21 Wie die Germania zuvor konnten jetzt auch die anderen antiken Schriften in den Dienst der ‚nationalen‘ Selbsterhebung gestellt werden. Die Varusschlacht wurde zu einem großen Ereignis der deutschen Geschichte, und man konnte die Denkmalserhebung des Arminius gezielt angehen. Den spektakulärsten Versuch dieser Denkmalserhebung unternahm der humanistische Dichter und Papstkritiker Ulrich von Hutten (1488–1523). 1520 verfasste er im Stil der Totengespräche des altgriechischen Dichters Lukian (um 120–180) seinen Arminius Dialogus, mit dem er den Arminius-Kult in Deutschland begründete.22

20 21 22

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Irenicus, Germaniae Exegesos II, 34 (75–76), zitiert nach: Münkler, Grünberger u. Mayer (1998) 226. Ridé (1977) 520. Die erste gedruckte Ausgabe des lateinischen Textes erschien 1529, dann 1538 und 1557 in Wittenberg, möglicherweise auf Anregung oder Mitwirkung von Philipp

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Melanchthon, schließlich zwei weitere im 17. Jahrhundert. Die erste deutsche Übersetzung kam 1814 heraus. Huttens Argumentation und sein Urteil nehmen vieles vorweg, was später immer wieder über den germanischen Heerführer geschrieben, aufgeführt, vertont und gemalt wurde.

Abb. 5 | Die erste Darstellung des Arminius auf der Holzschnittbordüre des Titelblatts der Historia Romana von Velleius Paterculus, 1520.

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Abb. 6 | Zeichnung des Arminius im Stile der damaligen Herkules-Darstellungen von einem unbekannten Künstler des 16. Jahrhunderts auf einer Seite des Arminius-Dialoges von Hutten, 1557.

Huttens kleine Geschichte spielt in einem himmlischen Gerichtssaal. Der Vorsitzende, der kretische König Minos, hat sein Urteil verkündet, wer die besten Feldherren aller Zeiten gewesen seien. Die erste Wahl fiel auf Alexander den Großen, dann folgten der Römer Scipio und als dritter Hannibal von Karthago. Doch es gibt einen Einspruch durch den Germanen Arminius. Er beschwert sich, dass man ihn bei der Urteilsfindung nicht berücksichtigt habe. Als noch Tacitus hinzukommt und Arminius kräftig lobt, fordert Minos ihn auf, seine Argumente vorzutragen, die er in einem langen, hier stark gekürzten Monolog darlegt: „Durch meinen Sieg habe ich das im Innersten niedergetretene und zerrissene Deutschland in kurzer Zeit wiederhergestellt. Als du vor Rom standst, Hannibal, hast du nicht bewirkt, dass die Römer mit Angst und Verwirrung reagierten. Ich habe dem römischen Staat ein solches Maß an Verzweiflung zugefügt, dass selbst Kaiser Augustus mit dem Kopf gegen die Tür stieß und an den Toren Posten und auswärts Schutztruppen aufstellen ließ.“23 Minos muss die militärisch-politischen Verdienste des Arminius anerkennen und verleiht ihm den ersten Rang unter den Vaterlandsbefreiern, womit die Geschichte schließt. Hutten macht Arminius zum Vorkämpfer der deutschen Freiheit, ein Vorbild im Kampf gegen den aktuellen Feind der Deutschen: das Rom der Päpste. Und er gab den Takt vor, der die zukünftige Arminius-Rezeption begleiten wird: Der deutsche Freiheitsheld wird zur Allzweckwaffe, die man immer dann mobilisieren kann, wenn Deutschland in der Krise steckt, eine Art Nothelfer in deutscher Bedrängnis. Die Einigung der ger23

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(Ulrich von Hutten), Germania Cornelii Taciti, Vocabula regionum enerrata, et ad recentes adpellationes accomodata. Harminius Ulrici Hutteni. Dialogus, cui Titulus est Iulius,

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Recens edita a Philippo Melanthone, Wittenberg 1557. Übersetzung nach Roloff (2003) 211–238.

manischen Stämme im Kampf gegen Rom und vor allem der spektakuläre Sieg über die Römer ließen sich problemlos auf die aktuelle Situation und die gegenwärtigen Feinde der Deutschen übertragen. Das war im 16. Jahrhundert in den Augen vieler deutscher Patrioten und Reformatoren die römische Kirche, aber auch schon zunehmend Frankreich, das mit den Habsburger Kaisern im Dauerkonflikt stand. Um politische Wirksamkeit zu erreichen, musste Arminius allerdings noch populärer werden. Das besorgten weitere Schriften, die ihn zum ersten deutschen Freiheits- und Siegeshelden beförderten. Die Bayrische Geschichte des Johannes Turmair, genannt Aventin (1524/34), ist wohl das erste deutschsprachige Buch, welches die Taten des Arminius rühmt, den der Autor Erman nennt. Die Namensgebung Hermann geht wohl auf ihn zurück. Martin Luther aber macht Arminius erst als Hermann bekannt. So sagt er in den Tischreden: „Wenn ich ein Dichter wäre, so wollte ich [Arminius] verherrlichen: Ich habe ihn von Herzen lieb. Er hat Herzog Hermann geheißen und ist Herr über den Harz gewesen … Wenn ich jetzt einen Arminius hätte und er einen Doktor Martinus, so wollten wir den Türken suchen.“24 Dennoch, die protestantischen Theologen taten sich schwer, den Aufstand des Germanenführers wirklich zu bejahen. Georg Spalatin (1484–1545), ein vertrauter Freund Luthers, veröffentlichte 1535 eine kleine Schrift über den Deudschen Fürsten Arminio. Seine Leistungen werden anerkannt, er ist ein „Fuerst und Helt, der gantz Deudsche Nation errettet und befreiet het.“25 Aber Arminius führte die Germanen zum Aufruhr. Für Spalatin haben die Germanen „glauben, frid und trew gebrochen“ und Arminius sei ein „listiger mensch, der bey den Römern inn kriegen erzogen und auffkommen [etwa: Gebräuche], bey inen auch erlich gehalten war worden.“26 Folgerichtig beurteilt Spalatin, „die guten Deudschen, als verschlagene leute“,27 weshalb er in den folgenden Kapiteln den Rachefeldzug des Germanicus schildert – weniger als römische Revanche, sondern eher als Gottes Strafe, wie Spalatin dies ausdrückt: „Doch hat Gott die Deudschen der selben landart, widerümb folgend hart gestrafft, denn wie Strabo im siebenden buch schreibt, so haben sie alle iren werd und straff darnach, unter dem jungen Germanico, dafur geliden.“28 In der lutherischen Perspektive Spalatins lässt die Gerechtigkeit Gottes eben keine Untat – und dazu zählt eben auch der Aufruhr gegen die Obrigkeit – unbestraft.29 Aber dennoch: der Faszination des germanischen Heerführers, des Siegers über Rom, konnte sich kein protestantischer Theologe entziehen. Für Andreas Althamer (1500–1539) war Arminius der Befreier in der Person Martin Luthers wiedergeboren, der jetzt gegen die neuen Feinde der Deutschen kämpft, gegen das päpstliche Rom.30

Arminius wird Stammvater der Deutschen Das kleine Buch Ursprung und Herkommen der zwölff ersten König und Fürsten deutscher Nation von 1543 zeigt erstmals eine mythische Erz-Königsreihe, die mit dem bei Tacitus erwähnten Tuisco beginnt und mit Ariovist, Arminius sowie Karl dem Großen endet. Die Anlehnung an die Zwölf Cäsaren Suetons 24

25

26

Martin Luther, Ausgewählte Werke, Ergänzungsreihe, Bd. 3: Tischreden, hg. v. Hans H. Borcherdt, 3. Aufl., München 1963, 198f. (Georg Spalatin), Von dem thewern Deudschen Fürsten Arminio. Ein kurtzer auszug aus glaubwirdigen latinischen Historien durch Georgium Spalatinum zusamengetragen und verdeutscht, Wittenberg 1535, fol. A III a/A II b. S. auch: Ridé (1977) 888ff.; Münkler, Grünberger u. Mayer (1998) 293ff. Spalatin, Arminio, fol. A III b und IV a.

27 28 29 30

Spalatin, Arminio, fol. B III b. Spalatin, Arminio, fol. B III b. Ridé (1977) 895. (Andreas Althamer), Commentaria Germaniae In P. Cornelij Taciti Equitis Rom. libellum de situ, moribus, & populis Germanorvm ad magnanimos Principes D. Georgivm & D. Albrechtvm iuniorem Marchiones Brandenburgeñ & c. Andreae Althameri diligentia … elucubrata, Nürnberg 1536, S. 123. S. auch: Münkler, Grünberger u. Mayer (1998) 286.

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Abb. 7 | Burkhard Waldis: Arminius ein Fürst zu Sachssen. Gedicht und Holzschnitt von 1543.

(verfasst um 120 n. Chr.) ist offenkundig und diente den humanistischen Bemühungen, der italienischen Ahnenreihe eine eigene, deutsche entgegenzustellen. Arminius wird in dem Buch als Verteidiger Germaniens gegen die römische Expansion vorgestellt. Der Holzschnitt zeigt ihn in Rüstung mit dem blutenden Haupt des Varus in der Hand – in Anlehnung an das biblische David und Goliath-Motiv. Der Dichter und spätere lutherische Pastor Burkhard Waldis (1490/95–1566/67) verfasste die deutschsprachigen Reimgedichte zu den einzelnen Königsabbildungen. Das Gedicht über Arminius zählt dessen Heldentaten auf und endet: „Da wardt geschwecht der Römer macht Der gleichen vormals nie gedacht Damit Arminius erlangt Das im das gantze Deutschland danckt Und wardt sein lob bey alt und jungen Hernach vil hundert Jar gesungen.“31 31

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Burkhard Waldis, Ursprung vnd Herkummen der zwoelff ersten alten Koenig vnd Fuersten Deutscher Nation wie vnd zu welchen zeyten jr yeder Regiert hat, Nürnberg 1543,

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Blatt „Arminius ein Fürst zu Sachssen“; s. auch Hutter (2000).

Das Buch richtete sich an einen großen deutschsprachigen Leserkreis auch außerhalb der humanistischen Zirkel und erfuhr bis zu Beginn des Dreißigjährigen Krieges mehrere Auflagen, wobei nur die Holzschneider und damit die Darstellungen der Königsreihe wechselten. Arminius und die anderen mythischen und historischen Erz-Könige werden in eine genealogische Abfolge gebracht, die vom Pseudo-Berosus des Annius von Viterbo inspiriert ist und eine deutsche Heldengeschichte propagiert. Dessen konstruierte germanische Stammlinie hat sich hier durchgesetzt und soll den Ständen Deutschlands das Gefühl vermitteln, das erste und älteste Volk Europas zu sein. Und der Abschluss der Reihe mit Karl dem Großen macht allen Lesern noch einmal deutlich, dass nur den Deutschen die Kaiserwürde übertragen worden war, niemandem sonst – ein Appell an den Zusammenhalt und die Einheit der Deutschen angesichts der das Reich bedrohenden Mächte. Da war natürlich Arminius als Sieger über Rom unverzichtbar. Mit Huttens Arminius traten die Germanen und ihr Heerführer in die Literatur ein. Waldis setzte dies fort, indem er jetzt eine deutschsprachige Plattform schaffte, die dem entstehenden Arminius-Kult eine große Leserschaft öffnete.32 Zum Erfolg des Buches trug auch bei, dass Waldis Büchlein seit 1566 an die populäre Bayrische Geschichte Aventins angehängt wurde, die in vielen Auflagen verbreitet war.

Römische Dekadenz gegen germanische Tugend In der Germania des Tacitus lasen die deutschen Humanisten von den Tugenden ihrer Vorfahren, die sie eilfertig aufgriffen, um eine Art deutschen ‚Nationalcharakter‘ zu konstruieren. Dabei geriet die Beschreibung der germanischen Vorfahren oft zur Idylle, welche die negativen Eigenschaften, die Tacitus nicht verschweigt, aber zum Positiven wendet. So interpretiert Konrad Celtis die von Tacitus kritisierten germanischen Kriegs- und Raubzüge als Zeichen männlich-tugendhafter Gesinnung: „Daher erklärt sich auch ihre Bereitschaft, wagemutig Risiken einzugehen, nicht träge und nicht furchtsam zu sein, zu sterben und das rosenfarbene Blut im Kampf für Vaterland und die lieben Freunde auszugießen, zu jeder Bluttat bereit, wenn sie irgendein Unrecht verletzt hat. Ein jeder wahrt die Treue mit frommem und standhaftem Sinn, liebt die Religion und verehrt die Himmlischen und alles Gute und Anständige. Die Gesinnung, beharrlich im Wahren und Gerechten, ist im Einklang mit den Lippen und flieht Lügen und Erfindungen einer gef ärbten Zunge.“33 Die Germanen des Celtis sind ein unvermischtes, fruchtbares, kräftiges, männliches und tugendhaftes Volk, das sich durch eine natürliche und einfache Lebensweise auszeichnet, so ähnlich, wie man im 18. Jahrhundert die ‚edlen Wilden‘ Amerikas sah.34 Den Barbarenvorwurf der italienischen Humanisten pariert Celtis geschickt, indem er zwar die rauhe Muttersprache und den Hang zu Raubzügen nicht übergeht, dies aber im Grunde als hochzuschätzende männlich-kriegerische Gesinnung und militärische Tugend darstellt. Damit greift er auf die Argumentation von Enea Silvio Piccolomini zurück, der gerade diese beiden Eigenschaften als aus der Barbarenzeit übrig gebliebene Merkmale der jetzigen Deutschen ansah.35 Wenn für Celtis aber die positiven Eigenschaften des Volkes überwogen, dann erfolgte dies in dem Bemühen, eine kulturelle und moralische Kontinuität zwischen Germanen und Deutschen aufzuzeigen.36 32 33

Waldis „war der erste, der das nationale Altertum in deutschen Versen besang“ (Ridé [1977] 945 u. 1113ff.). Konrad Celtis, Germania Generalis, Kap. „De situ Germaniae et moribus“. Übersetzung nach Müller (2001) 95ff.

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Ridé (1977) 233. Müller (2001) 409ff. Ridé (1977) 247.

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Die nachfolgenden Humanisten griffen diese Gedanken auf. In der Gegenüberstellung von Germanen und Römern verteidigten sie nicht ohne aktuelle Verweise die germanische Einfachheit gegenüber dem römischen Luxus sowie die germanische Freiheit gegenüber dem römischen Machtstreben. In den Berichten der römischen Autoren fanden sie auch in der Person des Varus ein negatives Gegenbild, das sie problemlos auf alle Römer und dann auf die aktuellen Reichsfeinde übertragen konnten. Velleius Paterculus, Florus und Cassius Dio hatten in ihren Schriften Varus als unf ähigen und geldgierigen römischen Statthalter beschrieben37 – und ihr Urteil ging in die deutsche Humanistenliteratur ein. Aventin schreibt in seiner Bayrischen Geschichte: „Zu derselben zeit … setzt Keyser Augustus unden an den Rheyn an die Elb den Teutschen (so wol uberwunden aber noch nicht gedempfft waren) einen Hauptmann genannt Quintilius Varus der nam miet un gab [etwa: nahm ungerechtfertigte Geschenke und Abgaben], war stoltz, geitzig, eigennützig, geil un unverschampt mit den Weibsbildern, deß mochten die Teutsche, so sunst zu Krieg lust hetten, und derselben sich sunst freuweten, nicht leiden noch dulden.“38 Ähnlich argumentierte auch Spalatin,39 so dass Varus zur Verkörperung aller schlechten Eigenschaften der Römer wurde. Damit ist dessen Charakter-Bild fixiert und der Grund des Krieges moralisch legitimiert. Man brauchte also nur noch den Römer durch die aktuellen Feinde des Reiches zu ersetzen, und die moralische Disqualifizierung der jeweils neuen Gegner war perfekt. Ulrich von Hutten wandte sich gegen die Misswirtschaft der Papstkirche. In seiner Schrift De statu Romano bekämpfte er mit scharfen Worten römischen Luxus und Korruption.40 Wie seinerzeit Arminius sollen die Deutschen sich nun erheben, um das römische Joch abzuschütteln. Und mit Blick auf Arminius, der vom Himmel herunter auf die Deutschen schaut, schreibt er: „Derhalben derselbig unser Erloeser [Arminius], was meint er was hält er jetzt in jener Welt, wenn er sicht [sieht], weil er die vesten [starken] Römer und Herrn der Welt hie nit hat lassen herrschen und regieren, uns sicht den verzagten Pfaffen und weibischen Bischoffen dienstbar und unterthänig sein? Sollt er sich nit seiner Nachkommen schämen?“41 Und für den Elsässer Jakob Wimpheling waren die Reichsfeinde die Franzosen, die seine Heimat bedrohten. In seinen Schriften weist er die französischen Ansprüche auf das Imperium scharf zurück und bekämpft alle Versuche, Kaiser Karl zu einem französischen König zu machen: „Guten Muts also können wir den Stamm Karls für uns in Anspruch nehmen und wir lassen nicht zu, dass die hoff ärtigen Franzosen für sich in Beschlag nehmen, was unser ist … Richtet sich doch der französische Hochmut und Dünkel gegen alles menschliche Gesetz und missbraucht die göttliche Rechtsordnung.“42 Wimpheling schafft ein neues Feindbild, gegen das die vereinten Germanen-Deutschen kämpfen sollen und das die zukünftige Arminius-Rezeption bestimmen wird. Und das jetzt entstandene Gegensatzpaar ‚germanische Einfachheit‘ versus ‚römisch-welsche Dekadenz‘ wird das Selbstbild der Deutschen in den folgenden Jahrhunderten immer wieder neu prägen.

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Kösters (2009) 24f. Johannis Aventinus, Des Hochgelerten weitberümbten beyerischen Geschichtschreibers Chronica. Darinn nit allein deß gar alten Hauß Beyern, Keiser, Könige, Hertzogen, Fürsten, Graffen, Freyherrn Geschlechte, Herkommen, Stamm u. Geschichte, sondern auch d. uralten teutschen Ursprung, Herkommen, Sitten, Gebreuch, Religion …, Frankfurt a. M. 1566, S. 126 r. Spalatin, Arminio, fol. A IV a. (Ulrich von Hutten), Ulrichi De Hutten Ad Crotum Rubianum De Statu Romano Epigrammata Ex Urbe Missa (1514) (online: http://www.uni-mannheim.de/mateo/camena/ hutten1/huttenopera.html).

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(Ulrich von Hutten), „Die verteutschet Klag Ulrichs von Hutten an Herzogen Friedrich von Sachsen“, in: Des teutschen Ritters Ulrich von Hutten sämmtliche Werke, Gesammelt, und mit den erforderlichen Einleitungen, Anmerkungen und Zusätzen herausgegeben von Ernst Joseph Herman Münch. Fünfter Theil, Leipzig 1825, 15. Auch: Münkler, Grünberger u. Mayer (1998) 270f. (online: http://books.google.com/books?id=6KRJAAAAMAAJ&hl=de). Wimpheling, Epitome, Kap. 22. Übersetzung nach Münkler, Grünberger u. Mayer (1998) 190.

Abb. 8 | Germanisches Paar in der Adam und Eva-Nachfolge. Kupferstich aus Philipp Clüvers Germania Antiqua libri tres, 1616.

Philipp Clüvers (1580–1632) nackte und tugendsame Germanen gehören zu diesem über viele Generationen gültigen Germanenbild. Sein Buch verrät ein Interesse an der Lebensweise der Germanen, aber es ist ein genrehafter Blick: Die einfache und tugendhafte Lebensweise der Germanen wird durch Nacktheit und dürftige Fellbekleidung gekennzeichnet.

Barocke Heldenverehrung Im 16. Jahrhundert wurden, wie in den vorhergehenden Kapiteln dargestellt, Arminius, die Varusschlacht und die tugendhaften Germanen entdeckt und in die Literatur eingeführt. Zur Zeit des Dreißigjährigen Krieges erschienen nur wenige Schriften zum Thema.43 Ende des 17. Jahrhunderts begann eine zweite Welle der Arminiusliteratur. Den Auftakt machte der in den siebziger und achtziger Jahren des 17. Jahrhunderts verfasste Arminiusroman des Breslauer Juristen und Bühnenautors Caspar Daniel von Lohenstein (1635–1683). Dieses Buch ist alles in einem: ein etwa 3000 Seiten langer Liebes- und Abenteuerroman, ein komplettes Lexikon des gesamten Wissens am Ende des 17. Jahrhunderts, ein Erziehungsbuch für angehende Fürsten und ein Schlüsselroman, der vordergründig die Kämpfe zwi43

Beispiele bei Kösters (2009) 74–84.

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schen Römern und Germanen schildert, aber gleichzeitig die antike und jüngste europäische Geschichte bis zur Zeit Lohensteins rekapituliert. „Ihr Römer steckt die Waffen ein; Tiber laß deinen Zorn verschwinden; Wer Deutschland meint zu überwinden / Weiß nicht: daß Donau und der Rhein Der Röm’schen Siege Gränz-Maal seyn.“44

Der vorangestellte Gedichtausschnitt aus dem Roman ist voller Zeitbezüge: Die Warnung an die Adresse der Römer, nicht den Rhein zu überschreiten, meint eigentlich den französischen König Ludwig XIV. Dieser hatte, wie auch der habsburgische Kaiser Leopold I., eine der spanischen Erbtöchter Philipps IV. geheiratet, sein Bruder, der Herzog von Orléans, die pf älzische Herzogin Elisabeth Charlotte. Ein neuer Streit der Großmächte um Erbansprüche zur Vergrößerung ihrer Reiche war zu erwarten. Ludwig XIV. begann in den Jahren nach dem Pyrenäenfrieden 1659 mit einer zielstrebigen Eroberungspolitik in Richtung Rheingrenze. Der habsburgisch-französische Konflikt trat in eine neue Phase ein. In dieser Situation schwankten die deutschen Fürsten vor allem am Rhein zwischen der Unterstützung Habsburgs oder Frankreichs. Lohenstein, der die Habsburger Karte spielte, rief die deutschen Fürsten zur Einheit unter der Führung des habsburgischen Kaisers auf und appellierte an ihr deutsches (nationales) Empfinden. Wieder einmal dienten die Siege des Arminius und der Kampf gegen die Römer als effizientes Vorbild deutscher Gegenwehr und Einheitsbemühungen. Aber die politische Wirklichkeit, die Lohenstein erlebte, war eine andere: Wechselnde Koalitionen mit und gegen Frankreich waren vom machtpolitischen Gewinn diktiert und nicht von einer utopischen Reichssolidarität. Lohensteins Friedens- und Solidaritätsappell an die deutschen Fürsten verhallte ungehört. Der Titelkupfer des Graphikers und Malers Joachim von Sandrart (1606–1688) führt mitten hinein in die im Buch geschilderten Auseinandersetzungen zwischen Römern und Germanen. Inmitten einer bunten Mischung von Kriegern unterschiedlicher Herkunft schlägt im Vordergrund Arminius einen Angreifer mit dem blanken Schwert zurück, während die auf dem Thron sitzende Thusnelda ein Joch – Sinnbild der römischen Unterdrückung – überreicht bekommt. Ein Ehren-Getichte von Christian Gryphius (1616–1664) zu Beginn des ersten Bandes fasst die patriotische Botschaft des Romans zusammen: „Auf Deutschland! kanst du noch der fremden Schmach vertragen? Fällt dir Qvintilius und Drusus noch zu schwer? Ist das verhaßte Joch noch nicht entzwey geschlagen? Auf Deutschland! rüste doch ein auserleßnes Heer. Darf denn ein stoltzer Feind dir Haar und Kleider rauben? Gibt man den Freyheits-Ring so undedachtsam hin? Auf Deutschland! wafne dich; sonst muß ich sicher glauben / Daß ich in Sybariß und nicht in Deutschland bin.“45 44

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(Daniel Caspar von Lohenstein), Daniel Caspers von Lohenstein Großmüthiger Feldherr Arminius oder Herrmann, Als ein tapfferer Beschirmer der deutschen Freyheit / Nebst seiner Durchlauchtigen Thusnelde In einer sinnreichen Staats- Liebes und Heldengeschichte Dem Vaterlande zu Liebe Dem deutschen Adel aber zu Ehren und rühmlichen Nachfolge In zwey Theilen vorgestellet Und mit annehmlichen Kupfern gezieret, Leipzig 1689–1690, Bd. 1, 1361b.

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Lohenstein, Großmüthiger Feldherr I, „Ehrengetichte. Vorstellung des Kupffer-Tituls“, o. S. Sybaris: Der sprichwörtliche Reichtum und das Wohlleben der Bewohner Sybaris am Golf von Tarent führte zu ihrem Untergang.

Abb. 9 | Titelkupfer von Lohensteins Arminius, Kupferstich von Joachim von Sandrart.

Im sechsten Buch zählt Lohenstein in komprimierter Form die Leistungen der Deutschen auf. Die dem zweiten Band nachgestellten Anmerckungen des Verlegers bringen es auf den Punkt: Obwohl Arminius und sein Personenkreis im Zentrum des Geschehens stehen, sei dessen Geschichte eigentlich nur ein Vorwand, um die Leistungen der Deutschen zu preisen. Am Ende steht ein Geschichtsbild, das besagt, „daß die Römer / insonderheit aber Caesar / Pompeius / Antonius / Augustus nicht weniger die Griechen / vornemlich Alexander der Grosse / ingleichen der sieghafte Hannibal mit seinen Mohren / die Amazonen / Samniter / Lusitanier und fast die gesamte Welt nichts wichtiges ohne der Teutschen Rath und Hülffe ausgeführet hätten / und also die Dienste der tapfferen Teutschen gleichsam allenthalben das Postament gewesen wären, auf welchem die berühmtesten Europäer / Asiaten und Africaner ihre Siege gegründet hätten und daraus aus mittelmäßigen Zwärgen zu ungeheuren Riesen erwachsen wären.“46 46

Lohenstein, Großmüthiger Feldherr II, „Anmerckungen“, 5.

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Lohenstein schreibt die antike Geschichte zugunsten deutscher Heldentaten um, was wohl auch den Verfasser der Anmerckungen mit leisen Zweifeln befallen hat, denn er beeilt sich festzustellen, dass man dies bei einem Geschichtsschreiber so wohl nicht durchgehen lassen würde, aber dies sei schließlich ein Roman „als welcher / eben so wohl als Mahler und Poeten / Macht hat / aus schwartz weiß / und aus weiß schwartz zu machen.“47 Und das hat Lohenstein gründlich getan. Aber nicht ohne Logik: Denn sein ‚Lob der Deutschen‘ ergibt sich konsequent aus dem schon bei Tacitus angelegten Tugendkatalog der Germanen. Natürliche Tugendhaftigkeit, Einfalt des Herzens und Freiheitsliebe werden ebenso hervorgehoben wie Tapferkeit und Heldenmut. Insgesamt malt Lohenstein ein goldenes Zeitalter alter deutscher Größe und moralischer Festigkeit, das sich – eben schwarz-weiß – von der Dekadenz der überzivilisierten, lasterhaften und eroberungssüchtigen Römer abhebt.48 Die deutsche Freiheitsliebe ist die höchste Tugend, die in der Bedürfnislosigkeit eines glücklichen Naturzustandes von selbst gedeiht: „Wir Deutschen wußten nichts von güldener Freyheit, und konnten die Laster nicht nenen, die wir itzt den Römern nachthun; als wir auf Rasen Tisch hielten, und in Strohhütten wohneten, da wir die Eingeweide unserer Gebürge nicht durchwühleten, noch die geitzigen Frembden in den Adern Gold zu suchen veranlaßten, und da wir nur bey Entzündung unserer Wölder Erzt gefunden hatten.“49 Sittenreinheit und Kulturlosigkeit gehen hier eine Verbindung ein, die auf das Ideal eines bildungsfernen, glückseligen Daseins der germanischen Naturvölker hinausläuft. Diese These war selbst zu Lohensteins Zeiten kaum haltbar, und er selbst hat ja gerade nicht auf die Unkenntnis und Bildungslosigkeit seiner Zeitgenossen gesetzt, sonst hätte er nicht einen solchen voluminösen Bildungsroman geschrieben. Aber dieses Bild eines glücklichen, von Zwietracht, Zivilisation und Wissenschaft unberührten Naturvolkes war einfach zu berauschend, um nicht im Sinne einer gegenwärtigen Kulturkritik für ein kraftvoll-farbiges Tableau urgeschichtlicher Glückseligkeit benutzt zu werden. Lohenstein war da in guter Gesellschaft, wie die Analyse der Germanenrezeption immer wieder zeigt. Lohensteins Quellen, aus denen er schöpft, sind nicht ausschließlich auf die deutsche Arminiusliteratur bezogen. Tacitus bot ihm den Grundriss für die eigentliche Romanhandlung, doch der eigentliche literarische Impuls dieses überlangen Romans kam aus Frankreich.

Französische Adelstugenden und der Freiheitskampf der Germanen 1642 wurde die Tragikomödie Arminius ou les frères ennemis von Georges de Scudéry (1601–1667) in Paris uraufgeführt. Aber was hatte den französischen Edelmann veranlasst, den bislang den deutschen Humanisten vorbehaltenen Arminius-Stoff auf die Pariser Bühne zu bringen? Im Gegensatz zu den griechisch-römischen Heroen war Arminius in Frankreich eine weitgehend unbekannte Gestalt.50 Scudérys Theaterstück hat die persönlichen Konflikte und Gefühle seiner Protagonisten zum Thema: Hercinie (Thusnelda) liebt Arminius, ist aber gleichzeitig zum Gehorsam gegenüber dem Vater Segeste ver47 48 49 50

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Lohenstein, Großmüthiger Feldherr II, 6. Wucherpfennig (1973) 206–290 nimmt dazu ausführlich Stellung. Lohenstein, Großmüthiger Feldherr I, 14. In einem 1616 erschienenen Buch über tragische historische Persönlichkeiten werden zwar die Feldzüge des Germanicus gegen die Germanen erwähnt, aber Armi-

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nius erscheint als geschlagener und in der Schlacht gefallener Führer der Germanen ([Pierre Boitel], Les Tragiques Accidents des Hommes illvstres, et autres personnes signalées de l’Vniuers, depuis le premier siecle iusques à present. Recherchez dans les plus rares Bibliotecques de la France, par P. Boitel Parisien, Paris 1616, S. 333).

Abb. 10 | Georges de Scudéry. Kupferstich von 1667.

pflichtet, der sie dem römerfreundlichen Bruder des Arminius, Flavus, zur Frau geben will. Dieser hat sich in Hercinie unsterblich verliebt und seine Verlobte und sein Volk verlassen. Der Konflikt löst sich am Ende auf, und Flavus erkennt seine Schuld. Viel wichtiger ist aber die hinter dieser Liebesrivalität aufscheinende Moral des Stückes. Eine Textstelle in dem Moment, als Arminius in das Lager des Germanicus kommt, ist beachtenswert. Segeste hatte dem Römer seine Tochter als Gefangene übergeben, da sie zu Arminius geflohen war. Dieser bittet Germanicus um ihre Freilassung und appelliert an seine adlige Ehre: „Wir sind sowohl Ehrenmänner, gleichwohl Feinde, / Wir werden niemals das tun, was keinesfalls erlaubt ist; / Mit den Waffen in der Hand, wissen wir uns zu verteidigen, / Aber wir ergreifen sie nur, wenn wir sie nehmen müssen: / Wir kämpfen für die Ehre, und für das Vaterland, / Wir kämpfen ohne Hinterhalt, und ohne Abscheu.“51 Aber eine Freilassung Hercinies darf Germanicus aus Staatsinteressen nicht veranlassen. Arminius hält ihm vor, dass Segeste nur aus Hass handelt, welcher nur der Lehrmeister der Tyrannen sei. Angesichts dieser Argumente bleibt Germanicus nichts anderes übrig als auf Tiberius zu verweisen, der eine so großzügige Handlung wie die Freilassung Hercinies seinem Feldherrn nicht verzeihen würde: „Und um Euch alles zu sagen, ein strenger Imperator, / der will, dass man ihn ebenso fürchtet wie verehrt, / dessen Geist argwöhnisch ist, misstrauisch und grausam, / beobachtet mich mit aller 51

(Georges de Scudéry), Arminius ou Les frères ennemis, Tragi-comédie par M. de Scudéry, Paris 1644, S. 16

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Strenge, mit beständiger Sorge, / der weiß, dass mein Rang mich dem Thron annähert, / der glaubt, dass sein Tod billig ist, und dass ich ihn ersehne.“52 Germanicus erkennt die außergewöhnlichen Tugenden des Arminius an, aber eine Freilassung Hercinies würde nicht nur den römischen Interessen zuwiderlaufen. Germanicus müsste seinen Verbündeten Segeste verraten und würde den Argwohn des Tiberius provozieren, auch wenn beide nur von Hass und Misstrauen geleitet werden. Es ist der adlige Ehrenkodex der Zeit, der hinter diesen Worten aufscheint. Denn die Helden Scudérys sind Ausnahmemenschen, große und starke Persönlichkeiten, welche die alten adligen Tugenden von mutiger Entschlossenheit, Großherzigkeit, Opferbereitschaft und der Suche nach der idealen Liebe verkörpern – Tugenden, die im Frankreich des 17. Jahrhunderts um so mehr gepriesen wurden, je mehr der alte Adel durch das alle Macht an sich reißende französische Königtum in die Defensive geriet. Wir werden auf diesen Aspekt noch ausführlicher zurückkommen. 1658 vollendete der Edelmann Gautier de Coste, Chevalier de la Calprenède (um 1610/14–1663) sein sich über zwölf Bücher erstreckendes Romanwerk Cléopâtre. La Calprenède war, so betonte dies Voltaire (1694–1778), der Erfinder der langen Romane, die damals gerade in Mode waren.53 Die ganze Handlung hier zu erzählen ist angesichts der Vielzahl der Personen und Einzelhandlungen unmöglich, wir konzentrieren uns auf die letzten beiden Bücher, in denen Arminius auftritt. Die Titelgestalt ist die Tochter von Kleopatra, die Handlung spielt in Alexandria zur Zeit des Augustus, wo mehrere fürstliche Paare der unterworfenen oder bündnistreuen Staaten unter Roms Oberherrschaft zusammenkommen. Das elfte Buch beginnt in der Arena von Alexandria, wo vor dem Kaiser Augustus, Kleopatra und dem Hofstaat ein blonder Gladiator auftritt, der alle seine Feinde besiegt. Doch als ihm ein weiterer Kämpfer gegenübergestellt wird, umarmen sich beide und verweigern den Kampf. Der blonde Kämpfer – es ist niemand anderer als Arminius – war wie sein germanischer Kampfgef ährte in römische Gefangenschaft geraten. Er wendet sich stolz an den Kaiser und macht ihm den Vorwurf, Edelleute als Gladiatoren zu missbrauchen und damit ihre Ehre zu verletzen. „Caesar, sagte er ihm voller edlem Stolz, dein Ruhm ist groß, deinen Gladiatoren und wilden Tieren Prinzen auszusetzen, die durch keine Handlung dieses Los verdienen und dir gegenüber weder an Rang noch Geburt noch Tugend geringer sind. Beende, beende deine Grausamkeit und lass diejenigen hinrichten, die nach all der Schande, die du ihnen auferlegt hast, nicht mehr am Leben bleiben wollen.“54 Die Worte sind die eines Edelmannes des 17. Jahrhunderts und entsprechen einem adligen Verhaltenskodex, nach dem ein couragiertes Ehrgefühl und kriegerischer Ruhm als höchste aristokratische Tugenden gelten. Der Appell an seine Ehre setzt Augustus unter Zugzwang. Die beiden gefangengenommenen germanischen Prinzen sind als Sklaven verkauft und so entehrt worden. Er setzt sie in ihren Stand wieder ein. Und dann folgt eine lange Romanhandlung, in der die Geschichte des Arminius in Rückblenden erzählt wird. Arminius wird als junger Kriegsheld in die Geschichte eingeführt, und auch hier entsprechen seine Eigenschaften dem damaligen aristokratischen Idealbild: „Es war vor allem der Krieg, der alle seine Gedanken beherrschte, und mit der Sorgfalt, ihn alle die Dinge lernen zu lassen, die einen Prinzen ausmachen, widmete er sich mit größerer Zuneigung den körperlichen Übungen als der Kenntnis der Wissenschaften, obwohl man sagen muss, dass er die notwendigsten 52 53

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Scudéry, Arminius, S. 75. (Voltaire), Œuvres de Voltaire avec Préfaces, Avertissements, Notes, etc. par M. Beuichot, Tome XIX, Siècle de Louis XIV – Tome 1er, Paris 1830, 73. Lohensteins Arminius-Roman hat den von La Calprenède zum Vorbild.

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Gaustier de Coste, chevalier de La Calprenède, Cléopâtre. Onzième Partie et Douzième Partie, Dediée à Monseigneur Le Prince, Paris 1658, Bd. 11, S. 261 (Unveränderter Nachdruck: Slatkine Reprints, Genf, 1979).

[dennoch] beherrschte, vor allem die der Sprachen, die er ganz gut erlernte; aber letzten Endes gab er sich weniger leidenschaftlich der Lektüre hin als zu reiten und mit Waffen umzugehen, und alle, die ihn sahen, urteilten, dass alle seine Bestrebungen martialisch waren.“55 In Alexandria trifft Arminius auf Ismenie (Thusnelda), und nach einigen Verwicklungen der komplizierten Romanhandlung können sie am Ende mit den anderen Paaren heiraten – nicht ohne dass noch einmal das Thema der verletzten Ehre angesprochen wird: „Caesar, trotz seiner Parteinahme [ für die römische Sache], behandelte sie, wie es ihnen aufgrund ihrer Geburt und Bedeutung zukam, und unterwies ihnen so viel Ehre, wie er glaubte ihnen erweisen zu müssen, um dadurch zum Teil die Schändlichkeit zu reparieren, die sie erlitten hatten, und auch die schimpfliche Lustbarkeit, zu der sie am Vortag herhalten mussten. Er entschuldigte sich bei ihnen, dass er um ihren Rang nicht wusste, und die beiden Prinzen antworteten ihm auf diese Worte nur mit der Röte in ihrem Gesicht, woraus der Kaiser schloss, dass sie nur mühsam die Erinnerung daran verlieren würden.“56 La Calprenède hatte mit seinen ritterlichen Helden Erfolg und lockte seine Leser in eine turbulente Welt voller Abenteuer, die im europäischen Ritterroman des Mittelalters wurzelt. Beide Autoren, Scudéry und La Calprenède, gerieten in Vergessenheit und sind heute auch in einschlägigen französischen Literaturgeschichten kaum noch zu finden. Ihre geradlinigen Heldengestalten kennen keine Entwicklung oder persönliche Konflikte. Sie sind nur Helden, im Sinne der neustoischen Philosophie der Zeit von sich selbst und davon überzeugt, alle Widrigkeiten des Lebens und alle menschlichen Schwächen aus eigener Kraft überwinden zu können, wie dies auch den Helden des französischen Dramatikers Corneille zu eigen ist.57 Interessant erscheint in unserem Zusammenhang aber die Frage, warum Scudéry und La Calprenède sich ausgerechnet die Geschichte der Germanenkämpfe und des Arminius ausgesucht hatten. Direkte Hinweise dazu scheint es bei beiden Autoren nicht zu geben. Aber bezeichnend sind bei beiden die Textstellen, in denen es um die Zurückweisung der Despotie und die Aufrechterhaltung eines althergebrachten aristokratischen Standesideals geht. Segeste und Tiberius verkörpern bei Scudéry die misstrauischen, über Leichen gehenden Tyrannen, die gegen die Verhaltensregeln ihres eigenen adligen Standes verstoßen. Und auch der Arminius von La Calprenède wird nicht müde, gegenüber dem Kaiser Augustus zu betonen, wie schändlich er entgegen seinem Rang behandelt wurde. Hinter diesem Adelsstolz zeigt sich ein aristokratischer Ehrenkodex, der schon damals angesichts des sich formierenden absolutistischen Staats bedroht war. Für den alten Adel galt, sich gegenüber sich selbst und dem eigenen Stand als würdig zu erweisen, die eigene Größe zu manifestieren und alle halbherzigen Taten und alles Vulgäre zu verachten. Im Kontakt mit der Antike und ihrem Menschenbild modernisierten sich die alten Adelstugenden dergestalt, dass nun die Größe der menschlichen Tatkraft im Typus des Adligen verherrlicht wird. Der französische Literaturhistoriker Paul Bénichou, dessen Buch dieser Gedankengang entnommen ist, hatte zwar vorwiegend das Theater von Pierre Corneille im Blick, aber diese Aussagen lassen sich ebenso gut auch auf unsere Autoren übertragen, die ja beide dem Stand der Edelleute zugehörig waren.58 So schreibt Bénichou weiter: „Man bemerkt leicht, dass eine Moral wie die von Corneille [und hier muss man hinzufügen, wie die auch unserer Autoren], welche auf dem Stolz und der ruhmreichen Größe beruht, nicht anders konnte, als den Protest der Aristokratie gegen die Unterwerfungsbestrebungen der Könige zu unterstützen.“59

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La Calprenède, Cléopâtre XI, 277f. La Calprenède, Cléopâtre XI, 433.

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Galle (1991) 10ff. Bénichou (1948) 20f. Bénichou (1948) 70.

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Georges de Scudéry sympathisierte mit der Fronde60 und war der Schützling ihres Anführers, Louis II. de Bourbon, Prince de Condé (1621–1686). Deswegen war er gezwungen, Paris 1654 zu verlassen. Und auch La Calprenède verteidigte in seinen Büchern die alten heroischen Adelstugenden – verbunden mit einem Schuss Feminismus und unter dem Einfluss der preziösen Milieus.61 Und vielleicht liegt hier der tiefere Grund, weshalb der Arminius, der zeitgleich in Deutschland als Befreier von der römischen Despotie gefeiert wurde, in den Blick unserer Autoren geriet. Tacitus hatte ihn als Befreier eingeführt,62 und dies konnte auch den adligen französischen Schriftstellern nicht entgangen sein. Dass sein Kampf gegen die Römer hier mit der aristokratischen Opposition gegen den sich formierenden absoluten Staat in Verbindung gebracht wird, überrascht, hatte aber noch weitere Konsequenzen. Um diese Hintergründe besser auszuleuchten, ist es sinnvoll, die ‚französische Karriere‘ des Arminius weiter zu verfolgen. Jean Galbert de Campistron (1656–1723), ein Schüler Racines, schrieb die folgenreichste ArminiusTragödie der europäischen Bühnenliteratur: Arminius. Im Mittelpunkt stehen die Liebesbeziehungen der handelnden Personen: Ismenie (Thusnelda) liebt Arminius, soll aber nach dem Willen ihres Vaters Segeste Varus heiraten, um das Bündnis mit den Römern zu festigen. Varus gesteht ihr seine Liebe, Arminius auch, und Ismenie weiß nicht, was sie tun soll, ihrem Vater gehorchen oder ihren Gefühlen folgen. Arminius erscheint dagegen als leidenschaftlicher Liebhaber und ist fest entschlossen, alle Widersacher aus dem Weg zu räumen. Eine Entführung verbietet die bienséance, die auch auf der Bühne geltenden gesellschaftlichen Anstandsregeln. Also trotzt er aller Gefahr und kommt auf die Burg von Segeste, der ihn verhaften lässt. Die Szene zwischen beiden gibt Gelegenheit, die politischen Beweggründe beider Kontrahenten darzulegen. Segeste spricht sich gegen den Krieg aus, der Zerstörung, Tod und Leid mit sich bringt. Arminius hält dagegen, dass ein Frieden mit dem tyrannischen Rom nicht möglich ist: „Und unter dem Namen Freunde oder Verbündete, / unterdrückt Rom die Könige und tritt sie mit Füßen.“63 Rom nimmt Kinder als Geiseln, es herrschen Misstrauen und Überwachung; Rom kennt keine Gnade, sondern nur Rache: „Ah! Der Frieden unter den Gesetzen Roms ist Verderben bringendes Glück, / es macht mir Angst, und das Volk hasst es. / Die Germanen fliehen vor der Eitelkeit materiellen Reichtums, / sie sind, mein Herr, mit ihrer Freiheit viel reicher gesegnet.“64 Das sind die bekannten Warnungen vor der Tyrannis und Unterdrückung, wobei hier in Anlehnung an Tacitus auch das einfache Leben der Germanen gegenüber der materiellen Gier Roms ins Feld gebracht wird, ein Argument, das bisher den deutschen Autoren vorbehalten war.

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Adelsaufstand gegen die absolutistischen Bestrebungen des französischen Königtums 1648–1653. Die preziösen Salons waren in den ersten Jahrzehnten des 17. Jahrhunderts literarisch-kulturelle, elitäre Zentren, in denen sich unter maßgeblicher Beteiligung adliger Damen eine neue Form der Etikette und des gebildeten Umgangs miteinander entwickelte, die der Frau einen neuen Stellenwert in der Gesellschaft verschaffte. Die Schwester von Georges de Scudéry, Madeleine, hat in ihren Romanen (Grand Cyrus) diese Zirkel beschrieben. La Calprenède wie auch Georges de Scudéry standen diesen preziösen Milieus nahe und haben die Idee der femme forte, der starken, heroisch-militärischer Taten f ähigen Frau, übernommen. Diese Konzeption beruhte auf den alten Adelstugenden und stand im Widerspruch zu der sich nach der Jahrhundertmitte ausbildenden Hofgesellschaft unter einem absoluten König. Nach der

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Jahrhundertmitte verschwand dieser militärische Aspekt weiblich-heroischer Tugenden zunehmend. Das gilt auch für die letzten Bücher der sich über 12 Jahre hinstreckenden Publikation von Cléopâtre (dazu Bannister [2005]). Tac. ann. 2,88,2–3: „Er war ohne Zweifel der Befreier Germaniens, der nicht wie andere Könige und Heerführer das römische Volk in seinen Anf ängen, sondern ein Reich in seiner ganzen Blüte herausgefordert und in den Schlachten mit wechselndem Erfolg (gekämpft hatte), im Krieg aber unbesiegt (geblieben war)“ (Übersetzung Hans-Werner Goetz und Karl-Wilhelm Welwei). Jean Galbert de Campistron, Arminius. Tragédie, in: Oeuvres de M. de Campistron, de l’Académie Françoise, Nouvelle Edition, Tome I, Amsterdam 1722, Akt II, Szene 4 (S. 96). Campistron, Arminius, II,4 (97).

Als Varus von der Verhaftung des Arminius erf ährt, reagiert er gemäß dem altadligen, ritterlichen Verhaltenskodex. Die Staatsräson gebietet, ihn als Feind zu betrachten, aber als Rivale in der Liebe kann und darf er ihn nicht mit politischen Machtmitteln besiegen: „Als Haupt der Römer muss ich dich verurteilen, / aber als dein Rivale möchte ich dich schonen. / Um meinen Ruhm zu sichern und nicht mit Begierde zu vermengen, / welche mich anklagen könnte, dir nach dem Leben zu trachten.“65 Arminius warnt ihn vor seiner Großzügigkeit und zeigt sich dabei ebenso großmütig: „Beschleunige meinen Tod, wenn du glücklich sein willst.“66 Durch Segestes’ Parteinahme für die Römer und Wahl des Varus als zukünftigen Schwiegersohn nimmt die Liebe zwischen Arminius und Ismenie einen tragischen Verlauf. Diese Tragik wird gespiegelt durch die unglückliche Liebe zwischen Sigismond, dem Bruder Ismenies, und Polixène, der Schwester des Arminius. Segeste will aus politischem Kalkül die Liebenden trennen, aber Sigismond ergreift Partei für Arminius und verteidigt sich gegenüber seinem Vater mit dem Hinweis auf die Tugenden des Arminius und die Liebe zu seinem Vaterland. Das Thema Vaterlandsliebe, das hier anklingt, ist aber nur sehr verhalten angesprochen. Im Vordergrund stehen die persönlichen Beziehungen und das ehrenvolle eigene Verhalten, ganz in Sinne der alten aristokratischen Standesmoral. Am Ende, nachdem Varus gefallen ist, kommt das happy end der Tragödie. Großzügig vergibt Arminius Segeste alle seine Missetaten und resümiert noch einmal die politisch-aristokratische Moral des Stückes: „Aber wenn wir auch, mein Herr, für das Vaterland umkommen müssten, / wenn wir das Leben verlieren sollten, werden wir wenigsten frei sterben: / Ein glanzvolles Unglück ist immer ruhmvoll, / Stärken wir unseren Ruhm, und lassen wir die Götter handeln.“67 Arminius hat sein Vaterland gerettet und gleichzeitig seine Braut befreit. Sein Ruhm für die Nachwelt ist nicht nur ein kriegerischer, sondern beruht ganz nach der Doktrin des honnête homme, des adligen Leitbilds der Zeit, auf seiner moralischen Überlegenheit. Die Tragödie preist das, was der französische Dichter Jean Desmarets de Saint-Sorlin (1595–1676) „die Verherrlichung der adlig/edlen Eigenschaften des Menschen“ nannte.68 Die alten Helden der Ritterromane hatten zur Zeit Ludwigs XIV. eigentlich schon abgedankt, als aristokratisches Leitbild lebten sie aber weiter – und das Publikum applaudierte ihnen. Campistron gehörte zum engsten Kreis des französischen Generals Louis II. Joseph de Bourbon, Duc de Vendôme (1654–1712), der es vorzog, fern von der Hofgesellschaft in Versailles seinen eigenen Lebensstil zu pflegen. Der Historiker Ernest Moret schreibt über ihn: „Vendôme hatte die Unzufriedenheit mit den politischen Verhältnissen69 von seinem Onkel, dem Herzog von Beaufort. Er hätte nicht, wie jener, mit der Waffe in der Hand den König angegriffen …, die Zeiten hatten sich geändert; aber er verschoss gerne einige spitze Pfeile gegen die Minister oder gegen die Regierung in Versailles. Dieser Hang, alles zu sagen, alles zu machen, die Liebe zur Freiheit, der Hass auf die höfische Etikette entfernten ihn vom Hof. Die majestätischen Gebärden des großen Königs, die Feierlichkeit seines Auftretens, die Korrektheit der Sprache, der Ernst des Tons, störten Vendôme.“70 Campistron galt als treuer und ergebener Begleiter des Herzogs, dem er überall hin folgte.71 Hatte er in seinem Arminius ein Spiegelbild des Herzogs gegeben, so wie er ihn sah? Der Gedanke ist nicht ganz von der Hand zu weisen. Auff ällig ist, dass das Thema der aristokratischen Moral und der Freiheit 65 66 67 68

Campistron, Arminius, II,7 (102). Campistron, Arminius, II,7 (102). Campistron, Arminius, V,5 (137). Jean Desmarets de Saint-Sorlin, Les Délices de l’Esprit. Dialogues, Paris 1658 (zitiert nach Bénichou [1948] 106).

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Im Original: l’humeur frondeuse. Moret (1859) 242. Moret (1859) 244.

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gegenüber jeglicher Unterdrückung vierzig Jahre nach dem Scheitern der Fronde wieder bühnenwirksam wird. Es ist aber auch die Zeit, in der sich das Königtum Ludwigs XIV. dem Ende zuneigte und die Unzufriedenheit im Lande mit dem verschwenderischen, selbstherrlichen Regiment des alternden Monarchen wuchs.72 Campistron, obwohl ein Schüler und Nachfolger Racines, hatte nicht den Geist von Port-Royal,73 der sein großes Vorbild Racine prägte, in seine Theaterstücke eingebunden: dieses Misstrauen in die menschliche Vernunft, diese Fragwürdigkeit des Heroismus und die Unmöglichkeit, seine Leidenschaften zu beherrschen. Die Welt Campistrons ist – wie bei den anderen beiden hier behandelten Autoren – die des Adels, der heroischen Taten und auch der Leidenschaften, eine Theaterwelt, die zwar vom Publikum immer noch geliebt wurde, aber nicht mehr ganz dem Zeitgeist entsprach. Campistron hatte für kurze Zeit Erfolg und sein Stück, zusammen mit denen von Scudéry und La Calprenède, machten den Arminius-Stoff außerhalb von Deutschland bekannt. Nicht die patriotische Übertreibung der deutschen Heldentaten steht bei den französischen Autoren im Vordergrund, auch nicht der Stolz auf eine ruhmreiche vaterländische Vergangenheit, die sich gegen neue Feinde richten konnte, sondern sie hatten zu Recht erkannt, welch ein dramatisches Potential die Arminius-Geschichte in sich birgt, welche Tragik der handelnden Personen – verbunden mit der Verherrlichung altadlig-heroischer Tugenden und Despotismus-Kritik. Und nachdem Campistron in seine Tragödie zwei Liebespaare mit gleichartiger Dramatik eingeführt hatte, wurde der Arminius-Stoff reif für die europäische Opernbühne.

Arminius als Opernheld Arminius als ‚Befreier Germaniens‘ – das Urteil des Tacitus, das so viele patriotisch und national gestimmte deutsche Autoren zu literarischen Bearbeitungen inspirierte, machte auch in der barocken Opernwelt Karriere. Im 18. Jahrhundert entstanden mindestens 37 Opern, die das Thema Arminius, Thusnelda oder Germanicus aufgriffen.74 Vorbildlich waren hier die französischen Schriftsteller, vor allem Campistron, die den Stoff aus dem deutsch-patriotischen Umfeld herausgeholt und die dramatischen Qualitäten der Geschichte erkannt hatten, vor allem die tragische Liebesgeschichte zwischen Hermann und Thusnelda. Aber dass sie den Arminiusstoff nicht ganz so unpolitisch auffassten, hatte ihre Parteinahme für die althergebrachten Freiheitsrechte gezeigt. In der italienischen Oper, welche im Barock die Opernhäuser ganz Europas dominierte, wurde der Stoff nun vollends aller politischen Hintergründe entkleidet und auf die affektiven Konflikte der Hauptpersonen reduziert. Aber was war der Grund, von den zahllosen Tondichtungen mit Stoffen aus der griechischen Mythologie abzurücken, diese hinten anzustellen und jetzt die musikalischen Zelte im germanischen Wald aufzuschlagen? Den italienischen Librettisten war sicherlich jeglicher deutscher Patriotismus fern, das sollte später den deutschen Opern-bearbeitungen vorbehalten bleiben. Die Antwort geht wieder auf die französischen Bearbeiter des Stoffes zurück, welche die Hauptpersonen in den tragischen Konflikt zwischen ihrem Wunsch nach persönlicher Liebeserfüllung und der Pflicht zu standesgemäßem oder staatspolitischem 72 73

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Dazu: Croix u. Quénart (1997) 427f. Das Kloster Port-Royal bei Versailles war im 17. Jahrhundert die Hochburg des Jansenismus, einer religiösen Reformbewegung, die ein pessimistisches Menschenbild vertrat: Der einzelne habe keinen Einfluss auf seine

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Erlösung, auch nicht durch gerechte Werke. Der französische Philosoph Blaise Pascal (1623–1662) war zutiefst von Geist des Jansenismus geprägt. Angaben nach: Barbon u. Plachta (2003) 266.

Abb. 11 | Gabriel de Saint Aubin (1724–1780), Bühnenszene, 2. Drittel des 18. Jahrhunderts.

Handeln stellten. Genau hier setzen auch die Opernhandlungen an: Thusnelda ist hin- und hergerissen zwischen dem Gehorsam gegenüber ihrem Vater Segestes und ihrer Liebe zu Arminius, dieser zwischen seiner Liebe zu Thusnelda und dem von ihm erwarteten politischen Handeln. Dazu kommen parallel laufende Nebenhandlungen, die den Grundkonflikt widerspiegeln, bis dann zum Schluss alles in ein glückliches Ende überführt wird. Der italienische Opernlibrettist Antonio Salvi (1664–1724), im Hauptberuf Arzt am Hof in Florenz, war im 18. Jahrhundert ein erfolgreicher Bühnenautor. Sein Libretto für eine Arminio-Oper wurde von Scarlatti, Hasse, Händel, Rinaldi u.a. vertont. Grundlage des Textes ist das Drama von Campistron. Dessen doppelte Liebesgeschichte zwischen Ismenie und Arminius sowie Sigismond und Polixène kam den Bedürfnissen der opera seria mit ihren festgelegten Rollen entgegen.75 In seinem Libretto finden sich kaum noch Hinweise auf den politischen Konflikt zwischen Germanen und Römern, alles ist auf die persönliche Ebene der Affekte verlagert. Arminius ist vorbildhaft nicht wegen seiner militärischen Leistungen, sondern aufgrund seines tugendhaften Verhaltens. In Salvis Libretto reicht Arminio am 75

Forchert (1975) 48. Forchert verfolgt in einer ausführlichen Analyse die Entwicklung des Salvi-Librettos in den verschiedenen Opernbearbeitungen, worauf wir hier verweisen. Verwiesen wird auch auf den Aufsatz

von Barbon u. Plachta (2003), wo das andere, ebenfalls erfolgreiche Opernlibretto von Giovanni Claudio Pasquini untersucht wird, das u.a. auch von dem Komponisten Johann Adolf Hasse benutzt wurde.

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Ende großmütig Segeste die Hand und erweist sich als der wahre Fürst, dessen großherzige Milde auch dem verblendeten Segeste hilft, seine Verfehlungen einzusehen und zu bereuen. So löst sich der Konflikt zum Schluss in Wohlgefallen auf. Damit siegt die clemenza, das fürstliche Tugendideal, welches immer wieder auf der Barockbühne als devotes Herrscherlob der regierenden Fürsten besungen wurde.76 Die strengen Regeln der opera seria und die Aufführungspraxis im Rahmen fürstlichen Mäzenatentums bedingten denn auch die holzschnittartige Formung der Charaktere, wie dies gerade der Vergleich mit dem Vorbild des Arminius von Campistron deutlich macht. Arminius und die Varusschlacht – das Thema war einfach zu ‚deutsch‘, um es der italienischen Oper allein überlassen zu können. Schon 1697 verfasste Christoph Adam Negelein (1656–1701) eine Oper, deren Musik wohl verlorengegangen ist. Das Stück hält sich eng an die Vorlage von Campistron, ausgiebig angereichert mit patriotischem Pathos. So erfolgt zum Schluss der Siegesgesang der Germanen-Deutschen nach der Schlacht, diesmal mit einem eindeutig formulierten Anspruch auf das deutsche Kaisertum, welches die Deutschen aufgrund ihrer Verdienste von den Römern übernommen haben. Und auch hier dient der Verweis auf die Kaiserwürde als versteckter Appell an die deutschen Fürsten, sich gegenüber den Bedrohungen durch Frankreich und die Türken einig zu zeigen. „Der wütende Römer erlag mit Schanden! ihr trotziger Feldherr ist nimmer vorhanden! Kommt! Last ihm / dem Himmel, mit Opfern uns danken! auch unserem Siegs Glück erweitern die Schranken! Ach! wollte der Himmel / wonach wir nun streben / uns redlichen Teutschen der Römer Reich geben! auch solches erhalten / durch unsere Hände / bis alles vergehet – bis an der Welt Ende.“77

Ähnlich klingt es auch in dem um 1749 verfassten Singspiel Thusnelde von Johann Adolph Scheibe (1708–1776). Scheibe war ein Schüler Johann Christoph Gottscheds (1700–1766). Dieser hatte schon in seiner Critischen Dichtkunst von 1730 die gängigen Opernaufführungen mit ihren unwirklichen Handlungen scharf kritisiert.78 Scheibe konzentriert die Handlung auf den Gegensatz zwischen Arminius und Segest, der die Negativrolle bekommt. Ansonsten übernimmt er die beiden Liebespaare von Campistron, deren Heirat die starre Haltung des Segest verhindert. Am Ende, nach dem Sieg über die Römer, bereut Segest den Verrat an seinen Landsleuten, und die Paare heiraten. Und nun kann die Oberpriesterin verkünden, dass die Tugendhaftigkeit der Germanen den Sieg in der Schlacht davongetragen hat und die Germanen-Deutschen dazu bef ähigt, zukünftig die Weltherrschaft anzutreten: „Rom selbst wird noch von euren Söhnen Die Helden später Zeit bekrönen. Man sieht alsdann die römischen Lorbeerreiser Auf Scheiteln deutscher Kaiser.

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1734 schrieb der berühmteste Librettist der opera seria, Pietro Metastasio, das Buch zu der sehr erfolgreichen Oper La clemenza di Tito, die 1734 vor Karl VI. in Wien und 1791 zur Krönung Leopolds II. aufgeführt wurde. Die clemenza als vornehmste Herrschertugend fand noch in Mozarts gleichnamiger Oper ein spätes Echo. (Barbon u. Plachta [2003] 278f.).

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(Christoph Adam Negelein), Arminius. Der Teutschen Erz-Held. In einer Opera aufgeführet, und Der Königlich Kayserlichen Majestät Leopold dem Grossen allerunterthänigst gewiedmet und zugeeignet von Christof Adam Negelein, Kayserlicher gekrönten Poeten, und des lobl. Gekrönten Blumen-Ordens benannten Celadon, Nürnberg 1697, S. 72. Barbon u. Plachta (2003) 281ff.

Cheruskens Stamm wird noch Europens größten Theil, Ja, fast die halbe Welt regieren. Es wird, zu vieler Völker Heil, Den weitgestreckten Zepter führen.“79

Da ist sie also wieder, die Verknüpfung von moralischer Überlegenheit und Weltherrschaftsanspruch, der schon die deutschen Humanisten umtrieb. Auch Scheibe versucht durch ein Übermaß an patriotischer Gesinnung den kulturellen Defiziten des barocken Deutschlands entgegenzuwirken und eine deutsche Nationaloper zu begründen. Als moralische Institution soll sie die Deutschen in ihrem durch Kleinstaaten zersplitterten Vaterland zur Einigkeit aufrufen, weshalb ganz zum Schluss der Oper die Götterbotin sich an das Publikum wendet und das deutsche Volk ermahnt: „… Sey einig, tugendhaft; So bleibst du frey und groß, gefürchtet, voller Kraft.“80

Johann Elias Schlegels Herrmann und Jean Grégoire Bauvins Les Chérusques Die Reduzierung des in Deutschland patriotisch verstandenen Hermann-Stoffes auf eine reine OpernLiebesgeschichte stieß auch bei anderen Autoren auf zunehmende Kritik. Der Dichter Johann Elias Schlegel (1719–1749) hatte 1743 seine Tragödie Herrmann veröffentlicht. Es war der Versuch, ein deutsches Nationaldrama zu verfassen. So heißt es in der Nachricht von der Eröffnung des Neuen Theaters in Leipzig von 1766: „Die Wahl des Stückes aber gab ihm [Schlegel] Gelegenheit, den Nationalcharakter der alten Deutschen zu entwerfen, und besonders diejenigen Züge zu zeichnen, die der Nation Ehre machen: Uneigennützigkeit, Edelmuth, Tapferkeit, Liebe fürs Vaterland und unverletzte Treue gegen den Fürsten. Dieß war vormals, und dieß wird immer der Charakter der Deutschen überhaupt, und unserer Nation insbesondere seyn.“81 Schlegels Stück beginnt denn auch mit dem Lobgesang auf die Vorzüge der Deutschen, wobei er sich kräftig bei dem taciteischen Tugendkatalog der Germania bedient, den die Humanisten des 16. Jahrhunderts immer differenzierter ausgebreitet hatten:82 „Hier prangt Thuiskons Bild, hier Mannus Ehrenmaal. In diesen ist zuerst der deutsche Muth entglommen; Durch sie sind Großmuth, Treu und Rum auf uns gekommen. Der Trieb, der Falschheit flieht, nicht weiche Sitten liebt, Nichts von Gesetzen weis, und doch die Tugend übt; Der Ehrgeiz, frey zu seyn, und nie verkauft zu leben, Ist uns von ihnen her, in unsre Brust gegeben.“83

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(Johann Adolph Scheibe), Thusnelde – ein Singspiel in vier Aufzügen. Mit einem Vorbericht von der Möglichkeit und Beschaffenheit guter Singspiele begleitet von Johann Adolph Scheiben, Königlich Dänischer Kapellmeister, Leipzig 1749, S. 164. Scheibe, Thusnelde, S. 166. Nachricht von der Eröffnung des Neuen Theaters in Leipzig, 1766, Vorwort, S. V. Schlegels Herrmann war das erste Stück, das auf dieser neuen Bühne gespielt wurde.

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Kösters (2009) 33–73. (Johann Elias Schlegel), Joh. Elias Schlegels Werke. Erster Theil: Herrmann, herausgegeben von Johann Heinrich Schlegeln, Kopenhagen u. Leipzig 1761, Akt I, Szene 1 (S. 314). Die Erstveröffentlichung des Herrmann war 1743 in der Dramensammlung Die deutsche Schaubühne des Schriftstellers und Literaturtheoretikers Johann Christoph Gottsched (1700–1766).

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Als neu gewählter Fürst soll Herrmann sein Volk vor der Unterdrückung durch die Römer bewahren und Varus in die Schranken weisen, der römisches Recht in Germanien durchsetzen will. Und die Römer sind – und auch hier bedient Schlegel wieder die üblichen Klischees – das krasse Gegenbild der tugendsamen Germanen: Rom ist zutiefst verderbt, eine Gefahr für die Lebensweise der Germanen, wie Sigmar seinem Sohn Herrmann verkündet. Dessen Bruder Flavius steht zwischen den beiden Welten. Damit ist der politisch-dramatische Grundkonflikt vorgegeben. Flavius, der Römerfreund, erkennt die kulturelle Überlegenheit Roms an. Er preist die Vorzüge des urbanen Lebens, während Sigmar, sein Vater, nur römische Machtgier und Laster erkennt: Flavius: „So soll der Deutsche stets in schlechten Hütten wohnen?“ Darauf Sigmar: „Hier frey seyn, gilt mir mehr, als in Pallästen tronen.“84 Neben dieser politischen Argumentationsebene gibt es in dem Stück noch eine zweite, eine private. Schlegel kannte die französischen Dramen und übernahm aus dem Werk von Georges de Scudéry die Liebesrivalität zwischen Arminius und Flavius, allerdings ist sie stark eingeschränkt. Bei Schlegel kämpft Herrmann ausschließlich für die Wiedergewinnung der von den Römern unterdrückten germanischen Freiheit und nicht für die Liebe zu seiner Braut. Der eigentliche Gegenspieler des Herrmann ist nicht Varus, nicht der Römerfreund Segest, Thusneldas Vater, sondern Flavius. Auch er ist leidenschaftlich in Thusnelda verliebt und lässt sich von seiner Liebe zu ihr völlig beherrschen. Seine Haltung widerspricht der germanischen Auffassung von Pflichterfüllung und Einsatz für Volk und Vaterland. Diese verkörpert Herrmann, der heldenmütig auf seine Liebe verzichtet, um seine historische Mission nicht zu gef ährden. Am Ende erscheint Flavius dennoch geläutert, da er seine römischen Neigungen zugunsten der Solidarität mit seinem Volk aufgibt. Herrmann zeigt sich großmütig und verzeiht ihm seine Schwäche. Und auch der Verräter Segest darf auf Vergebung hoffen. Und als dann noch die in der Schlacht verschollene Thusnelda wieder auftaucht, kennt das allgemeine Siegesglück keine Grenzen mehr. Herrmanns heroischer Verzicht auf die Liebe zugunsten der ihm auferlegten Pflicht hätte auch hundert Jahre früher im französischen heroischen Drama oder Roman Bestand gehabt. Corneille hatte in seinen Tragödien immer wieder die Beherrschung der Leidenschaften zugunsten der Staatsräson zum zentralen Thema gemacht. In seinen Tragödien strebt der Held kraftvoll über sich hinaus, aber immer nach Zielen, die würdig sind, mit dem moralisch Guten verbunden. Nur so kann er Ruhm (gloire) und Tugendhaftigkeit (vertu) erlangen.85 Der Herrmann von Schlegel ist nicht so weit von ihnen entfernt.86 Er ist von Anfang an ein gefestigter und tugendhafter Held, der unbeirrt und standhaft den einmal eingeschlagenen Weg weiterverfolgt. Wie die Helden Corneilles besitzt er kriegerischen Heldenmut und moralische Standfestigkeit – ganz im Gegensatz zu seinem Bruder Flavius, der an seiner unehrenhaften Liebe verzweifelt und in völliger Apathie versinkt.87 Auch Thusnelda ist nicht so weit von den starken heroischen Frauen Corneilles entfernt, welche die Pflicht und die Vaterlandsliebe an die erste Stelle setzen. Aber trotz der engen Anlehnung Schlegels an die französische Literatur,88 es ist ein deutsches Heldendrama. In der Deutschen Schaubühne, in der Schlegels Stück 1743 erstmals veröffentlicht wurde, vergleicht der Herausgeber Johann Christoph Gottsched es mit der französischen Arminius-Bearbeitung

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Schlegel, Herrmann, I,2 (320). Dazu ausführlich: Bénichou (1948) 31ff. G. von Essen vergleicht die neustoizistische Haltung des Arminius, wo römisch-stoische und höfisch-französische Haltungen zusammenkommen, mit Corneilles Rodrigo aus dem Cid (von Essen [1998] 80).

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„Mein Trieb herrscht über mich, und heißt mich, was ich meide. / Ich selber thue nichts, ich folge nur und leide“ sagt er in II,4 zu Marcus (Schlegel, Herrmann, 226). S. auch von Essen (1998) 73. Hierzu gehört auch das Versmaß des Alexandriners.

von Campistron: „Allein wer dies Stück mit unseren deutschen gegeneinander halten will, der wird ohne mein Erinnern wahrnehmen, daß beyde, außer der nothwendigen Geschichte, die den Stoff zu beyden an die Hand gegeben, nicht das geringste gemein haben. Ueberhaupt wird man auch sehen, daß ein Franzos die wahre Größe eines deutschen Helden, bey weitem nicht so natürlich vorzustellen gewußt, als ein deutscher Dichter, der selbst ein deutsches Blut in den Adern, und die Neigung zur deutschen Freyheit im Herzen, mit der Gabe des poetischen Witzes verbunden hat.“89 Anschließend bringt Gottsched – wohl über Schlegels eigene Interpretation weit hinausgehend – die Eroberungspolitik der Römer mit den Feldzügen Ludwigs XIV. in Verbindung und verleiht dem Stück eine ausgesprochen antifranzösische Bedeutung: „Wer indessen auf die Ähnlichkeit der Stadt Rom zu Augusts Zeiten mit dem heutigen Paris; und die Herrschsucht der Römer, mit der französischen, in Gedanken zusammenhält: der wird bey Durchlesung dieses Herrmanns, oder bey der Aufführung desselben, ein doppeltes Vergnügen empfinden.“90 Schlegels Herrmann wurde 1772 als erstes deutsches Stück in Paris auf der Bühne der Comédie Française aufgeführt, adaptiert von Jean Grégoire Bauvin (1714–1778), Rechtsanwalt und Mitarbeiter literarischer Zeitungen.91 Es war sehr ungewöhnlich, dass ein deutsches Theaterstück für die französische Bühne adaptiert wurde – ungewöhnlich, weil die deutsche Literatur zu dieser Zeit in Frankreich noch völlig unbekannt war. Aber Bauvin hatte das Stück nicht einfach nur ins Französische übertragen, sondern der eigenen Theatertradition angepasst. In seinem Vorwort schreibt er, dass er dieses Stück schon vorher unter anderen Titeln publiziert hatte: zunächst als La Défaite de Varus, 1767, dann zwei Jahre später unter dem Titel Arminius, schließlich mit dem Titel Les Chérusques. Und er versichert dem Leser, dass dies der Titel sei, „der allein [zum Stück] passt, denn die Freiheit dieses Volkes ist das allgemeine Thema dieser Tragödie und nicht Arminius, der darin nur eine der Hauptpersonen ist.“92 Bauvin führt neu die Person der Adelinde ein, die hier den Segest ersetzt, aber ansonsten all seine schlechten Eigenschaften und seine Römerfreundlichkeit geerbt hat. Ihr Plan ist es, rücksichtslos und mit allen Mitteln ihren Sohn Sigismond zum König zu machen und ihre Tochter Thusnelde mit dem schwankenden, die Römer bewundernden Flavius, dem Bruder des Arminius, zu verheiraten. Politisch brisant war damals das Freiheitsthema, das sich wie ein roter Faden durch das ganze Stück zieht. In Frankreich, wo verschiedene Schriftsteller die Entwicklung der Monarchie zu immer mehr Absolutismus besorgt verfolgten, musste die Darstellung der früheren Freiheit der germanischen Stämme einer Erinnerung an die verlorene eigene Freiheit gleichkommen.93 So wird im Stück neben der römischen Dekadenz, die wir schon aus anderen Bearbeitungen kennen, das Thema der Unterdrückung und Tyrannis immer wieder thematisiert. Verteidige die Werte deiner Vorfahren, fordert Ségismar Flavius auf, und diese Werte sind auf der Freiheit gegründet.94 Die Freiheit ist den Germanen von

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Schlegel, Herrmann, 226. Schlegel, Herrmann, 226. Er war Mitarbeiter des aufklärerischen Autors und Historikers Jean-François Marmontel (1723–1799) und veröffentlichte in dessen literarischen Zeitungen L’Observateur littéraire und Mercure de France. Die Anecdotes Dramatiques von 1775 (S. 34f.) machen weitere Angaben über den sonst eher unbekannten Autor: Er war Lehrer an der königlichen Militärschule in Arras und Mitglied der dortigen Literarischen Gesellschaft. Seine Tragödie Les Chérusques war das einzige Theaterstück, das er schrieb.

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93 94

(Jean Grégoire Bauvin), Arminius ou les Chérusques, Tragédie tirée du théâtre allemand, par M. Bauvin, de la Société Littéraire d’Arras, Représentée pour la première fois, par les Comédiens François Ordinaires du Roi, le 26 septembre 1772, Paris 1773, S. II. Wir folgen hier der Argumentation von Krebs (2003) 306. (Jean Grégoire Bauvin), Arminius ou les Chérusques. Tragédie tirée du théâtre allemand, par M. Bauvin, de la Société Littéraire d’Arras, Paris 1772, S. 25; in der Ausgabe von 1773 (s. Anm. 92) S. 28. Die Ausgabe von 1772 ist vor der Umarbeitung für die Bühne entstanden und in manchen Dialogen politisch direkter und ausführlicher als die Bühnenfassung von 1773.

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ihren Göttern übertragen worden, wird Ségismar wenig später zu Arminius sagen und ihn zum Kampf gegen die Unterdrückung durch die Römer begeistern.95 Und diese Freiheitsliebe ist der höchste Wert, gegen den jeder andere zurückstehen muss.96 Die Gegenspielerin der freiheitsliebenden Germanen ist Adelinde. Sie will über ihren Sohn nach der absoluten Macht greifen, wofür sie die Römer braucht. Der Aufstieg ihres Sohnes, so kalkuliert sie, bedeutet das Ende der alten germanischen Freiheit. Ihr Einsatz ist sehr hoch, doch am Ende hat sie ihn verspielt. Die Heiratspläne ihrer Tochter mit Flavius zerschlagen sich, dieser kehrt reumütig zu den Seinen zurück und bittet um Verzeihung. Auch Sigismond weist das Ränkespiel seiner Mutter zurück und kämpft heldenhaft gegen die Römer, wobei er tödlich verwundet wird. So bleibt ihr nur noch der Freitod. Am Ende ist also die germanische Freiheit gesichert, und Arminius kann den Göttern für den Sieg danken: „Ihr Götter! Euer Volk ist frei und nicht länger erniedrigt. Die Hoffnung, die es geschöpft hat, habt ihr erfüllt. Haltet für immer von Germanien fern Alle die Übel, welche die Tyrannei hinter sich herzieht.“97

Interessant ist in diesem Zusammenhang eine Textstelle, die sich in Schlegels Text nicht findet und die Bauvin eingefügt hat. Ségismar verweist im Gespräch mit Flavius auf die alten republikanischen Werte Roms, die allerdings nicht so genannt werden: „Rom hat lange Zeit die Sitten geliebt, die du verurteilst. Seine prachtvollen Paläste waren nichts anderes als Hütten. Wir sind jetzt was es einst war; Wir besitzen [ jetzt] diese Tugenden, fürchten wir seine Schätze.“98

Der Hinweis auf die alten römischen Tugenden ist in zweifacher Hinsicht bemerkenswert. Einerseits hatte Tacitus ja selbst in seiner Germania die germanische Lebensweise indirekt mit der römisch-republikanischen Zeit verglichen und an ihr Züge des von ihm so hochgeschätzten alten Römertums wiederentdeckt. Andererseits war der indirekte Verweis auf republikanische Tugenden nicht frei von aktuellen Bezügen, die der Erläuterung bedürfen. Das absolutistische Frankreich war kein vollendeter zentralistischer Staat. Der kontinuierliche Ausbau der Königsmacht unter Ludwig XIV. (1643–1715) und Ludwig XV. (1715–1774) stieß auf den teilweise erbitterten Widerstand der regionalen parlements,99 die aufgrund ihrer Zusammensetzung feudale und aristokratische Interessen verfolgten. Je mehr das absolutistische Königtum mit seinen Ministern versuchte, die Privilegien und Sonderrechte der zwischen König und Volk stehenden mittleren (intermediären) Körperschaften einzugrenzen, umso heftiger wurde die Gegenwehr. Um 1770, als Bauvin sein Stück veröffentlichte, war die Auseinandersetzung zwischen der königlichen Zentralverwaltung und den aristokratisch orientierten Regionalverwaltungen in einer besonders 95 96 97 98 99

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Bauvin, Arminius, II,2 in beiden Ausgaben. So Arminius zu Flavius am Ende von II,3. Bauvin, Arminius (1772), 40; (1773), 43. Bauvin, Arminius (1772), 23; (1773), 26. Die parlements setzten sich vor allem aus der Noblesse de Robe, dem Amtsadel zusammen und hatten weitgehende juristische und administrative Kompetenzen. Ämter waren im Frankreich des Ancien Régime käuflich,

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weshalb es dem König unmöglich war, unbequeme Amtsinhaber abzusetzen. Erblichkeit der Ämter war üblich, so dass sich eine neue Adelschicht bildete, die durch Heirat mit dem alten Schwertadel verschmolz. Die Politik der Parlamente war aus diesen Gründen auf die Erhaltung der Adelsprivilegien gerichtet. Ihre Gegenspieler waren die königlichen Intendanten, die in den Provinzen die Zentralmacht vertraten.

Abb. 12 | Titelbild von Bauvins Les Chérusques, 1773.

kritischen Phase. Die Finanzkrise des Staates verlangte eine Besteuerung des Landbesitzes, wogegen sich der in den parlements vertretene Adel vehement zur Wehr setzte. 1771 setzte sich der Staat durch und entmachtete weitgehend die parlements, allerdings nur kurze Zeit, da sie von Ludwig XVI. rehabilitiert wurden. Auch die Heimatprovinz von Bauvin, das Artois, stand in der Auseinandersetzung mit der Krone, um die althergebrachten Privilegien zu bewahren. Zur gleichen Zeit setzte sich die Kritik der Philosophen am bestehenden politischen System immer mehr durch. Eine Fülle von weniger bekannten Schriftstellern popularisierte die neuen Ideen von Voltaire, Diderot und Rousseau. Die Forderung nach Freiheit war in aller Munde: individuelle Freiheit, ökonomische Freiheit und vor allem Freiheit des Glaubens, verbunden mit der Toleranz.100 Bauvin hatte selbst in den Zeitschriften von Jean François Marmontel (1723–1799) veröffentlicht. Dieser war ein enger Wegbegleiter Voltaires und selbst Mitarbeiter an der Encyclopédie. Die Akzentuierung der Chérusques auf die altgermanische Freiheit ist sicherlich in diesem politischen Kontext zu suchen. Das Titelbild der Ausgabe von 1773 spielt darauf an: Ségismar hat seinen Sohn Arminius vor die Götterbilder der beiden sagenhaften altgermanischen Könige Thuiston und Mannus geführt. Das Bild bezieht sich auf die 2. Szene des II. Aktes: „Alle beide haben uns die Freiheit gebracht Den Schauder vor Weichlichkeit und Falschheit … Sei frei, gerecht, wahrhaftig, großherzig wie sie.“101 100 Soboul (1962) 70–75.

101

Bauvin, Arminius (1772), 26; (1773), 26.

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In seinem Vorwort verwehrt sich Bauvin allerdings dagegen, seine Personen und sein Stück seien von republikanischer Gesinnung, wie es in einer Rezension des Mercure de France vom Oktober 1772 zu lesen war.102 Ségismar und Arminius stellten sich nicht über Könige, versichert er, aber gleichzeitig gibt er dennoch sein Staatsideal preis, und das ist eben nicht absolutistisch: „Die Menschen sind nicht weniger frei unter einem Monarchen als unter Magistratspersonen, die Freiheit hängt von der Achtung der Gesetze ab, und nicht von der Regierungsform.“103 Bauvin vertritt, so kann man vermuten, eine auch von Aufklärern und Magistraten vertretene Meinung, dass die Macht des Königs durch übergeordnete moralische und traditionelle Gesetze beschränkt sei und weist damit jegliche absolutistische Interpretation zurück, die den Staat als Eigentum des Monarchen sieht – so wie das Ludwig XIV. pointiert ausgedrückt hatte: Der Staat bin ich! Dennoch argumentiert unser Autor mit großer politischer Vorsicht, wenn er jeglichen ‚republikanischen‘ Tenor seines Stückes zurückweist.

Montesquieu und die germanische Freiheit Das Thema der Freiheit der Germanen war politisch nicht neutral und seit der berühmten Veröffentlichung Vom Geist der Gesetze des Baron de Montesquieu (1689–1755) von 1748 Teil des europäischen politischen Diskurses geworden.104 Montesquieu betrachtet in seinem berühmten Werk die Entstehungsbedingungen der verschiedenen Staatsverfassungen und Gesetze und bezieht sich dabei auf die antike Klimatheorie: Die Völker des Nordens besäßen mehr Tatkraft, mehr Tugend und Freiheitsliebe, während die des Südens der Trägheit des Körpers und Geistes sowie ‚römischer‘ Knechtschaft anheimgefallen seien. Er gesteht auf der Grundlage klimatologischer, verfassungsorientierter und kultureller Faktoren jeder Gesellschaftsform eine individuelle Eigenberechtigung zu. Diese Theorie bot erstmalig die Chance, von einer aus den Wurzeln der eigenen Lebens-, Kultur- und Sprachgemeinschaft gewachsenen Dichtung eine nationale Blüte zu erwarten.105 Montesquieu hatte damit den Deutschen den Weg geöffnet, die eigene staatliche Existenzform anzuerkennen, ohne ständig auf Nachbarländer wie Frankreich zu schauen und sich mit ihnen zu vergleichen. Im sechsten Kapitel des elften Buchs kommt er auf die englische Verfassung zu sprechen, die für ihn vorbildlich ist. Dort findet sich der berühmte Satz, dass die englische Verfassung auf germanischen Ursprüngen beruht: „Wenn man das bewundernswerte Werk des Tacitus über die Sitten der Germanen liest, dann wird man sehen, dass die Engländer die Idee ihres politischen Regiments von ihnen übernommen haben. Dieses schöne Lehrgebäude wurde in den Wäldern gefunden.“106 Um seine Feststellung zu untermauern, führt Montesquieu eine Textstelle aus der Germania des Tacitus an: „Über kleinere Dinge gehen die Fürsten zu Rat, über größere alle, so jedoch, dass auch das, worüber die Entscheidung beim Volke liegt, bei den Fürsten vorausbehandelt wird.“107 102 L’Année Littéraire 1772, 264. 103 Bauvin, Arminius (1773), „Préface“, III. S. auch Krebs (2003) 306. 104 Hier in unserem Zusammenhang ist vor allem das 11. Buch interessant, in dem es um die englische Verfassung geht. 105 Stauf (2003) 315f.

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106 Charles de Secondat, Baron de Montesquieu, De l’esprit des loix, ou du rapport que les loix doivent avoir avec la constitution de chaque gouvernement, les mœurs, le climat, la religion, le commerce, & à quoi l’auteur a ajouté des recherches nouvelles, sur les loix romaines touchant les successions, sur les loix françoises, & sur les loix féodales, Nouvelle édition, corrigée par l’auteur, Genf 1750, Buch 6, Kap. 6, S. 323. 107 Textstelle nach Tac. Germ. 11. Lateinisches Zitat bei Montesquieu, De l’esprit des loix, 323.

Abb. 13 | „Herman¯ löset nach dem Sieg über die Römer, der bis dahin gefesselten Germania die Ketten …“ Titelkupfer von Johann Christoph Sysang (1703–1757) des Heldengedichtes Hermann oder das befreyte Deutschland von Christoph Otto von Schönaich (1727–1807) in der Ausgabe von 1751.

Die Feststellung, dass die damals freiheitlichste Verfassung Europas germanischen Ursprungs ist, rehabilitierte die von Italienern und Franzosen immer noch als Barbaren eingestuften Deutschen und sollte dem aufkeimenden deutschen Patriotismus einen gewaltigen Schub verleihen. In Montesquieus Satire Persische Briefe von 1721 heißt es über die Monarchie, dass sie einen Gewaltzustand repräsentiert, der immer in den Despotismus entartet.108 Dabei hatte er das Frankreich Ludwigs XIV. im Auge, der durch die gewaltsame Zentralisierung die regulierenden mittleren Autoritäten des Königreichs abschaffte. Damit gab es keine Institution mehr, die sich seiner Willkürherrschaft entgegenstellen konnte: „Schafft in einer Monarchie die Vorrechte der Feudalherren, der Geistlichkeit, des Adels und der Städte ab, so habt ihr gar bald einen Volksstaat oder sogar einen despotischen Staat.“109 Zwischen dem Machtanspruch des Staates und dem des aufsteigenden Bürgertums sieht er den dritten Weg nur im Rückgriff auf die Tradition, auf die Ursprünge der französischen Monarchie, auf die fränkische Reichsverfassung und Karl den Großen. Montesquieu sieht in seiner eigenen Zeit eine Allianz zwischen Monarchie und Bürgertum gegeben, die sich gegen den Adel richtet. Er ist davon überzeugt, dass die gesetzgeberische Gewalt der mittleren Ebene, die in den Parlamenten verkörpert ist, die Freiheit sichert. Damit stellt sich Montesquieu hinter den Adel und die feudale Staatsverfassung, die 108 Montesquieu, Lettres Persanes, hg. v. Paul Vernière, Paris 1963 (102. Brief).

109 Montesquieu, De l’esprit des loix II, 4.

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durch den absolutistischen Ausbau des französischen Staates bedroht war. So wendet er sich gegen die Entmachtung der Parlamente, deren Mitglied und Präsident er selbst gewesen war. Die alte germanische Freiheit als ein Gleichgewichtszustand der Kräfte, der aufs Beste in der englischen Verfassung zum Tragen kommt – das ist, kurz gesagt, die Essenz der unser Thema betreffenden Gedanken Montesquieus. Und damit wird auch verständlich, dass Bauvins Tragödie nicht ganz so unpolitisch war, wie es der Autor offiziell verkündete. Wir hatten schon bei der Betrachtung der früheren Arminius-Stücke von Scudéry, La Calprenède und Campistron gesehen, wie sehr die Verherrlichung der alten heroischen Adelstugenden mit einer auf die aktuelle politische Situation zielenden Despotismuskritik verbunden war – in einer historischen Situation, in der sich das absolute Königtum anschickte, den Adel zu entmachten. Auch bei Montesquieu geht es um die Stärkung des Adels gegenüber dem absoluten Königtum – wie letztlich auch bei Bauvin, der die Freiheitsthematik in seinen Chérusques in den Vordergrund stellt. Die Themen Varusschlacht und germanischer Freiheitskampf bildeten bis zur Französischen Revolution die historisch weit entfernte (und damit eine politisch ungef ährlichere) Hintergrundfolie, über die man sich politisch äußern konnte, ohne direkt die Monarchie anzugreifen. Und dass Montesquieus Werk in Europa kursierte und zahlreiche Anhänger fand, beförderte die germanische Libertät auf eine internationale Rezeptionsebene.

Jean Jacques Rousseau und der Naturzustand des Menschen 1750 beantwortete Jean Jacques Rousseau (1712–1778) die Preisfrage der Akademie von Dijon „Ob der Fortschritt der Wissenschaften und Künste zur Läuterung der Sitten beigetragen habe“ mit seinem berühmt gewordenen ‚Nein‘. Entgegen allen Erwartungen eines fortschrittsoptimistischen Jahrhunderts kommt er zu dem Schluss, dass die Wissenschaften und Künste viel mehr Schaden als Nutzen gehabt hätten.110 Rousseau schildert den Verfall der antiken Reiche bis nach China, um dann den Naturzustand der einfachen Völker zu preisen: „Vergleichen wir nun mit diesen Bildern das Bild, das die Sitten der wenigen Völker bieten, die von dieser Ansteckung mit eitlen Kenntnissen verschont geblieben, durch ihre Tugend ihr Glück gegründet haben und für die anderen Völker ein Vorbild waren. So waren die frühen Perser … So waren die Skythen … So waren die Germanen, deren Einfachheit, Unschuld und Tugend zu schildern einem Schriftsteller wohltat, der es leid war, die Verbrechen und Gemeinheiten eines gebildeten, reichen und genussfreudigen Volkes aufzuzeichnen. So war selbst Rom in den Zeiten seiner Armut und Unwissenheit.“111 Diese Schilderung der germanischen Völker bezieht sich auf Tacitus und beschreibt den Zustand der Menschen in einer Art vormodernen Gesellschaftsordnung, in welcher der autarke Naturmensch schon aus seiner Isolation herausgetreten ist und Gemeinschaften zur besseren Bewältigung der Lebensaufgaben gebildet hat, nach Rousseau das Zeitalter der Hirtenvölker. Wir wollen es bei diesem idyllischen Bild der alten Germanen und anderen alten Völker belassen und auf die Wirkung eingehen, die Rousseau mit diesem Vergleich erzielte. Das ganze 18. Jahrhundert hatte die edlen Wilden in zahlreichen Werken gerühmt.112 Rousseau hatte den Naturmenschen zwar 110 111

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Jean Jacques Rousseau, Du Contrat Social et autres œuvres politiques, hg. v. Jean Erhard, Paris 1975, 11. Rousseau, Contrat Social, 8.

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Z.B. Nicolas Gueudeville, Dialogues et Entretiens entre un Sauvage et le Baron de La Houtan (1704), Delisle de la Drevetière, L’Arlequin Sauvage (1721). Hierzu zählen auch die Reiseberichte von Louis Antoine de Bougainville in der Südsee von 1771 und andere.

Abb. 14 | Titelblatt der Erstausgabe von Justus Mösers Arminius, 1749.

nicht idealisiert, dazu war seine Argumentation zu differenziert, aber rehabilitiert und aller Primitivität entkleidet. Dieser gedankliche Ansatz wurde von anderen allzu gern aufgegriffen und entsprach einer allgemeinen Stimmung, die Deslisle de la Drevetière (1682–1756) in seinem Arlequin Sauvage auf den Punkt brachte, als er schrieb: „Tausendfach glücklich die Wilden! die einfach den Gesetzen der Natur folgen … Möge es dem Himmel gefallen, dass ich unter ihnen geboren wäre, [dann] wäre ich nicht all den Übeln ausgesetzt, die mich verfolgen.“113

Justus Möser und die Ehrenrettung der Germanen Aber trotz Rousseaus ‚edlen Wilden‘, die Geringschätzung der Deutschen und besonders der deutschen Kultur hatte in Frankreich eine lange Tradition. Für einen Deutschen gehalten zu werden war für einen Franzosen eine schwer zu überbietende Beleidigung.114 Und zahlreiche Schriftsteller hatten sich ab113

Delisle, L’Arlequin Sauvage, III, 2, zitiert nach: Grusemann (1939) 17.

114

Leiner (1989) 45.

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schätzig über die Deutschen und den deutschen Nationalcharakter ausgelassen und damit in der deutschen literarischen Intelligenz einen traumatischen Minderwertigkeitskomplex ausgelöst.115 Die deutschen Intellektuellen bemühten sich unermüdlich, die den Germanen seit Tacitus attestierte Kulturlosigkeit zu überwinden – durch ein Übermaß an Patriotismus. Denn was die deutschen Patrioten besonders schmerzlich vermissten, war ein früheres goldenes Zeitalter deutscher Kultur, wie es die Griechen und Römer aufzuweisen hatten, eine Hochkultur, die zum Ausgangspunkt der nationalen Identität werden konnte. Voltaire (1694–1778) hatte den Finger in die nationale Wunde gelegt, als er den Barbarenvorwurf des Tacitus aufgriff und geschickt mit seiner persönlichen Geringschätzung in Verbindung brachte: Die Deutschen und besonders die Westfalen sind eben seit alters her Barbaren geblieben. In seinem berühmten Roman Candide ist dann dieses ironische Westfalen-Deutschland-Bild Weltliteratur geworden. In seinem Essay über die allgemeine Geschichte und die Sitten und den Geist der Nationen von 1754/56 schreibt er: „Die Familien aller dieser Barbaren hatten in Germanien als einzigen Schlupfwinkel Hütten, wo auf der einen Seite der Vater, die Mutter, die Schwestern, die Brüder und die Kinder nackt auf Stroh schliefen, und auf der anderen Seite befanden sich die Haustiere … Tacitus gesteht selbst, inmitten seiner Lobpreisungen, dass jeder wusste, dass die Germanen lieber vom Raub lebten als den Erdboden zu bestellen; und nachdem sie ihre Nachbarn ausgeraubt hatten, kehrten sie heim, um zu essen und zu schlafen.“116 Der Osnabrücker Jurist und Schriftsteller Justus Möser (1720–1794) hatte sich gegen Voltaire gewandt und 1749 ein Arminius-Drama geschrieben, in dem er das negative Germanenbild des Tacitus revidieren wollte, um die deutschen Vorfahren vom Vorwurf der Barbarei zu entlasten. In der Vorrede zum Arminius-Drama schreibt er: „Eine gegründete Vermuthung hat mir auch ferner erlaubet, die Rauhigkeit und Einfalt, welche Tacitus, wenn er die Deutschen den Römern entgegen stellet, ihnen beygeleget hat, nicht überall anzunehmen. Ich habe vielmehr Gelegenheit genommen, mich davon in Darstellung ihrer Gesinnungen, so viel als möglich zu entfernen, indem ich nicht der Meinung bin, daß unsere Vorfahren solche Klötze gewesen, als man sich gemeiniglich, bey dem ersten Anblick des Tacitus einzubilden pfleget.“117 Das Bild eines von der Kultur unberührten Naturvolkes hielt er für eine Legende. In Wirklichkeit, so Möser, besaßen die Germanen alle Vorteile einer entwickelten Lebenskultur, ohne dass dies ihrer natürlichen Sittlichkeit Abbruch getan hätte. Und ein Germanien, das schon damals kultiviert war, musste auch die deutsche Kultur des 18. Jahrhunderts in einem ganz anderen Lichte erscheinen lassen. Für sein Arminius-Stück wählte er nicht die Schlacht, sondern den Tod Hermanns. Dadurch gerät die auf dem Schlachtfeld gesicherte Freiheit von fremder Unterdrückung in den Hintergrund, und ein anderer, hochaktueller Konflikt tut sich auf: Es geht um das Problem der inneren Regierungsform der germanischen Stämme, um ihre eigene politische Verfassung, die wiederum die politische Konstitution des Reiches zwischen kaiserlich-zentralen und fürstlich-partikularen Interessen widerspiegelt. Zwei Parteien stehen sich in der Tragödie gegenüber: Die Verfechter der vererbten germanischen Freiheit (Sigest und Sigismund), die sich der Einführung eines aufgeklärten Königtums widersetzen, und Hermanns Bemühen, die Einheit der deutschen Stämme herbeizuführen. Sigest handelt im Namen der von den Vätern ererbten Freiheit: 115 116

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Stauf (1991) 41. (Voltaire), Essai sur l’Histoire générale et sur les mœurs et l’esprit des nations depuis Charlemagne jusqu’à Louis XIII. Par Voltaire, Tome Second, Paris 1804, „Préface“, o. S.

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(Justus Möser), Arminius. Ein Trauerspiel von J[ustus] Möser, Hannover u. Göttingen 1749, „Vorrede“, S. 5.

„Die angestorbne Pflicht, das Vaterland zu schützen, Der Freyheit Gott zu seyn; Der Unschuld Recht zu stützen, Ist der geheiligte, mit Blut gelegte Grund, Worauf das Wohl des Staates und unsrer Väter stund.“118

Alleinherrschaft mündet in die Tyrannis – so könnte man auf eine Kurzformel den Vorwurf der Fürsten gegen Arminius bringen. Mit dem Mord an Arminius siegt in Mösers Augen das alte Prinzip der teutschen Libertät, also der eingeschränkten Reichsgewalt, über einen modernen Reichseinheitsgedanken. Möser sympathisiert mit Arminius, doch auch seine Gegner kommen mit starken Argumenten zu Wort. Mit dem Scheitern des Arminius hat sich der deutsche Partikularismus als die stärkere Kraft erwiesen – so wie es die kaiserliche Zentralgewalt nicht vermochte, sich gegen die partikularistischen Interessen souveräner Einzelstaaten durchzusetzen. Mösers späteres Eintreten für die kleinstaatliche Lösung deutet sich hier schon in der Person von Sigismund an.119 Mösers Theaterstück entfernt sich von dem traditionellen Barock-Helden. Ihm geht es um die deutsche Verfassungsproblematik. Darin folgt er Montesquieu und seiner Feststellung, dass jede Nation auf die Verfassung Anspruch hat, die ihrer geographischen, historischen, ethischen Eigenart entspricht. So sind seine Protagonisten kühle, mit Verfassungsfragen befasste politische Strategen.120 Ihm geht es auch um die jüngste Vergangenheit, als die Schlesischen Erbfolgekriege – Bürgerkriege für die Anhänger einer einheitlichen deutschen Nation – die unvereinbaren Interessen der deutschen Einzelstaaten wieder vor Augen führten. Die Überwindung des Barbarenvorwurfs war Mösers Ausgangspunkt. In seinen historischen Schriften verfolgte er diese kulturelle Aufwertung der alten Germanen-Deutschen weiter, umso mehr, als sich in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts die öffentliche Meinung der gebildeten Kreise immer mehr der Griechenbegeisterung zuwandte. Die Hochkultur des klassischen Griechenlands war über jeden Zweifel erhaben. Die Germanen mussten erst noch kulturell emanzipiert werden. So konnte Möser nur hoffen, dass der deutsche Zuschauer seinem Arminius „vor einem Griechen oder Römer gewogen sein werde“, wie er in seiner Vorrede zum Stück schrieb.121

Klopstocks ‚Hermann‘ und die neue Germanenbegeisterung Für die weitere Arminius-Rezeption wurde der Dichter Friedrich Gottlieb Klopstock (1724–1803) wichtig, da er zwischen 1769 und 1787 drei Dichtungen über Arminius schrieb, die er in Anlehnung an die Gesänge der keltisch-germanischen Barden ‚Bardieten‘ nannte.122 In der Hermanns Schlacht ist der Schauplatz ein Felsen hoch über dem Kampfgeschehen im Tal, auf dem sich vor einem Altar Wodans Druiden und Barden versammelt haben und den Schlachtverlauf mit ihren Gesängen lenken. Zu ihnen gelangen im Verlauf des Stückes verschiedene Personen, welche die Handlung weiterführen. Die Gesänge der Barden schallen zu den Kämpfenden im Tal herunter und feuern ihren Kampfgeist an. Sie sind wesentlicher Teil der Kriegführung und maßgeblich am Sieg beteiligt: 118 119

Möser, Arminius, IV,6 (59). Ebenso in seiner „Vorrede“ zur Osnabrückischen Geschichte, in der er die Territorialhoheit kleinerer Staaten dem Despotismus der zentralstaatlichen Lösung gegenüberstellt (in: Justus Möser, Sämtliche Werke, 3. Abt.: Osnabrückische Geschichte und historische Einzelschriften,

bearb. v. Paul Göttsching, Flensburg, Oldenburg u. Hamburg 1964, 34). 120 Stauf (1991) 67f. und (2003) 313. 121 Möser, Arminius, „Vorrede“, 3. 122 Hermanns Schlacht (1769); Hermann und die Fürsten (1784); Hermanns Tod (1787).

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Abb. 15 | Titelgraphik von Julius Schnoor von Carolsfeld (1794–1872) zur Ausgabe der Hermanns Schlacht Klopstocks von 1829.

„Wodan! unbeleidigt von uns, Fielen sie bei deinen Altären uns an! Wodan! unbeleidigt von uns, Erhoben sie ihr Beil gegen dein freies Volk!“123

Die Germanen der Hermanns Schlacht, so heißt es zwischen den Zeilen, kämpfen einen gerechten Krieg, der nach der antiken bellum iustum-Theorie zur Abwehr von Aggression und Rache für erlittenes Unrecht gerechtfertigt und erlaubt war.124 Die Götter sind auf Seiten der Germanen, auf Seiten des gerechten Krieges. Segests Plädoyer für einen Frieden mit den römischen Eroberern weist der Druide Brenno scharf zurück: „Die Götter sind mit uns. Die Römer arbeiten vergebens, vorzudringen … Dein ganzes Volk will Freyheit! und du willst Sclaverey!“125

Erst am Ende des Stückes, in der elften Szene, tritt Hermann auf. Thusnelda empf ängt ihn als Sieger, der ihnen die Freiheit bewahrte. Großmütig verhindert Hermann den Tod aller gefangenen Römer und erweist sich als ‚gerechter Krieger‘ – Klopstock geht hier sehr frei mit den antiken Berichten um, nach denen die Gefangenen geopfert wurden, aber so trifft Hermann wenigstens kein Makel.

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Friedrich Gottlieb Klopstock, Hermanns Schlacht, ein Bardiet für die Schaubühne, Hamburg u. Bremen 1769, Szene 2 (S. 20). Zu dem Thema des gerechten Krieges in der Hermanns Schlacht hat G. von Essen ausführlich Stellung genom-

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125

men (von Essen [1998] 102ff.). Klopstock selbst charakterisierte den römischen Angriff auf Germanien als „Krieg der Herrschsucht und nicht der Gerechtigkeit“ (Hermanns Schlacht, 1 [10]). Klopstock, Hermanns Schlacht, 4 (46).

Klopstock zeigt den Befreiungskampf der Germanen als Kampf gegen eine eroberungssüchtige, rücksichtslose Weltmacht. Zwei Wertsysteme prallen hier unversöhnlich aufeinander: hier die naturverbundene, einfache, moralische und solidarische Stammesgesellschaft der Germanen, die schon Rousseau gepriesen hatte – dort die ehr- und herrschsüchtigen, menschenverachtenden und tyrannischen Römer. In den feudalen Staaten Deutschlands mit ihrer höfischen, auf den absoluten Souverän hin orientierten Kultur konnte ein solch altgermanischer Freiheitskampf kaum anders als politisch, als antiabsolutistisch und antihöfisch gedeutet werden. Klopstocks Germanen sind das unschuldige Jäger- und Hirtenvolk, das seit Tacitus immer wieder beschworen wurde und in den ‚edlen Wilden‘ der neu entdeckten Welt ein zeitgenössisches Pendant fand. Die alten und neuen Naturvölker hielten im 18. Jahrhundert Einzug in die Literatur126 und warfen ein zivilisationskritisches Spiegelbild auf die überfeinerte, amoralische höfische Gesellschaft. Klopstocks naturverbundene Germanen gehören in diese Traditionslinie und knüpfen an die bekannten germanisch-deutschen Klischees an. Als Leitbilder bei der deutsch-bürgerlichen Identitätssuche in (leiser) Opposition zu den absolutistischen Herrschaften waren sie, weil historisch weit entfernt, gut zu gebrauchen. Klopstocks Betonung der altgermanischen Freiheit entsprach einem Geschichtsbild, das die spätere Entwicklung als Weg zu Unfreiheit und Tyrannei deutete, ähnlich wie dies auch in den aufklärerischen Schriften von Rousseau und den Enzyklopädisten gesehen wurde. Ausgangspunkt war im Sinne der Naturrechtslehre der frei geborene Mensch, in dessen Namen gesellschaftliche Veränderungen gefordert wurden. So war es nur folgerichtig, dass 1789, als die Französische Revolution die europäische Staatenwelt erschütterte, Klopstock mitgerissen wurde: „Hätt ich hundert Stimmen; ich feyerte Galliens Freyheit“.127 Der Dichter hatte hohe Erwartungen an die Revolution und feierte sie als eine des Geistes, die einen neuen Menschen, einen neuen Zeitgeist schafft, der von Frieden und Freiheit geprägt ist. Als aber der Verteidigungskrieg der Revolutionstruppen sich in einen Angriffskrieg wandelte, änderte Klopstock seine Meinung und ging auf Distanz.

Kulturnation und patriotische Mythen Es ist schon erstaunlich, welch große Resonanz Klopstocks Dichtungen in diesem Deutschland der Spätaufklärung fanden. Die deutsche Kulturnation – die noch lange nicht zu einer politischen Einheit gefunden hatte – definierte sich über eine gemeinsame Sprache und Kultur. Um sich als eine – wenn auch nur gedachte oder erwünschte – Einheit zu konstituieren, bedurfte es der patriotischen Mythen, um sich die eigene Nationalität auch im Licht der Geschichte bewusst zu machen. Klopstock hatte dies richtig erkannt, und sein Versuch, die nordische Geschichte und Mythologie dem deutschen Publikum nahezubringen, wandte sich gegen den kulturellen mainstream, also der von Johann Joachim Winckelmann (1717–1768) initiierten Begeisterung für die klassische Antike, besonders Griechenlands. Johann Gottfried Herder (1744–1803) hatte sich ebenfalls der nordischen Geschichte zugewandt. Der germanische Abwehrkampf gegen Rom war für ihn gleichbedeutend mit einer Verteidigung der ‚germanischen Freiheit‘, wodurch die Eigenart der Nationen erhalten werden konnte. Die Anlehnung an Montesquieu ist unübersehbar, und auch für Herder liefert die Geschichte den Schlüssel zum Ver126 U. a.: Bougainville, Voyage autour du monde (1771); Montesquieu, Lettres Persanes (1721), Voltaire, L’Ingénu (1767) etc.

127

Friedrich Gottlieb Klopstock, „Ode: Sie und nicht wir. An la Rochefoucauld“ (1790), in: Klopstocks Werke. Erster und Zweyter Band: Oden, Leipzig 1798, Bd. 2, 142.

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ständnis der Gegenwart. Das alte Reich der Deutschen ist für ihn von einem „wilden Freiheitsgeist und dienendem Heldenmuth“, von einem „Geist der Treue und Enthaltsamkeit“ geprägt, womit er wiederum auf den schon bekannten Tugendkatalog des Tacitus zurückgriff.128 Gegen den Despotismus der absoluten Fürsten, gegen die papierne Gelehrsamkeit seiner Zeit fordert er eine Erneuerung von Kunst und Wissenschaft im Geist der nationalen Frühgeschichte, da die Tugenden der alten Germanen „die Grundvesten der Cultur, Freiheit und Sicherheit Europas“ sind.129 Volksdichtung ist hier das Stichwort, welche das geschichtliche Erbe der altgermanischen Kultur antreten soll, aber diese Dichtung soll nicht kopieren, sondern auf dem Boden ihrer eigenen gesellschaftlichen Realität stehen: „Eben der Barde, der seine Welt so groß und eigen besang, sollte uns lehren, die unsrige ebenso gern und wahr zu besingen – nicht zu rauben! nicht einem fremden Jahrhundert zu fröhnen.“130 Herder hatte mit seiner Forderung nach Wertschätzung und Erneuerung der deutschen Volksdichtung den Nerv der Zeit getroffen, so wie dies Klopstock mit seinen Bardengesängen ebenfalls tat. Aber die Anhänger der nordischen Dichtung, Geschichte und Mythologie waren eine kulturelle Minderheit. Arminius hatte einen schweren Stand gegen die Vielzahl der klassisch-griechischen und römischen Heroen, welche Literatur, Theater, Oper und Kunst fest im Griff hielten.

Hermann als Held der Französischen Revolution Die Wertschätzung der germanischen Freiheit und ihres Freiheitskampfes inspirierte auch die Anhänger der Französischen Revolution. Der dänische Dichter Jens Baggesen (1764–1826) deutete 1801 den Hermannmythos sogar kosmopolitisch als Ursprung einer übernationalen Menschheitsversöhnung, von der die Freiheit Europas ihren Ausgang nahm und sich nach 1789 fortsetzte: „Ich sah in Hermanns Andenken die Geburt der Freyheit Europa’s … Jetzt brach sie mit doppeltem Glanze aus Frankreichs Europa in Bestürzung setzenden Reichstage hervor. / Ich war nun nicht länger Nationalsclav – Ich war Deutscher, ich war Franke, ich war Britte, ich war Belgier, ich war Schweizer, ich war Skandinavier! Mein Herz schlug gleich laut für den Bruder hier, und für den Bruder dort.“131 Und der Universitätsprofessor Carl Friedrich Cramer (1752–1807), der als deutscher Jakobiner fliehen musste, hatte sich in Paris als Verleger niedergelassen und wollte die Klopstockschen HermannBardieten ins Französische übersetzen, um sie dem Pariser Publikum nahe zu bringen. 1800 erschien die französische Hermanns Schlacht im Druck, der Cramer ein umfangreiches Vorwort beigegeben hatte, um in das Werk einzuführen. In seinem Vorwort zieht Cramer eine bemerkenswerte Parallele zwischen Arminius und Napoleon, indem er Hermann als „Bonaparte Germaniens“ bezeichnet: „Dieses Werk, welches übrigens schon aufgrund seines Themas würdig erscheint, die Aufmerksamkeit der kriegerischen Söhne der Gallier und Franken zu erringen, denn es feiert einen früheren Buonaparte Germaniens, behandelt die Schlacht des Arminius oder Hermann, ein Drama des vornehmsten epischen Poeten Deutschlands, von Klopstock.“132

128

Johann Gottfried Herder, Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit, 4. Theil (1785), in: Herders sämmtliche Werke, 33 Bde., hg. v. Bernhard Suphan, Berlin 1877–1913, Bd. 14, 270f. S. auch Zimmermann (1987) 138–148; Niedermeier (2002) 29f. 129 Herder, Ideen, 277. 130 Zitat in: Herders sämmtliche Werke V, 333.

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131

132

Jens Baggesen, Humoristische Reisen durch Dänemark, Deutschland und die Schweiz, Band 4, Mainz u. Hamburg 1801, S. 191f. (zitiert nach von Essen [1998] 15). (Friedrich Gottlieb Klopstock u. Carl Friedrich Cramer), La Bataille d’Hermann. Bardit de Klopstock, Éditeur Charles Frédéric Cramer, Paris 1800, „Discours Préliminaire“, XII.

Abb. 16 | Titelblatt von Cramers französischer Klopstockübersetzung von 1801.

Und dann folgt eine an die antiken Schriftsteller angelehnte Geschichte der Varusschlacht, in der Arminius als strahlender junger Held vorgestellt wird.133 Bemerkenswert ist Cramers Versuch, die Bardengesänge in Klopstocks Hermanns Schlacht den Kriegsliedern der französischen Revolutionstruppen anzunähern.134 Sein Vorwort gipfelt in dem Aufruf an die deutschen Revolutionäre, ihren Landsleuten den Weg zu weisen, um nach dem Vorbild der Franzosen den Despotismus zu überwinden und sich so ihrer Abstammung von Luther und Arminius würdig zu erweisen.135 Die Cramersche Übersetzung, die in enger Abstimmung und Mitwirkung Klopstocks geschah, sollte einschließlich Vorwort und Anmerkungen in drei Bänden erscheinen. Der schlechte Absatz der ersten Ausgabe brachte das ganze Unternehmen ins Stocken. So gab Cramer die nicht verkauften Exemplare, mit einem neuen Titelblatt versehen, 1801 erneut heraus. Jetzt wird die Gleichsetzung Arminius-Napoleon auch an prominenter Stelle im Titel vermerkt: Das Bild eines Helden oder das als Drama erzählte Leben des Bonaparte der Germanen. Cramer begründet diesen neuen Titel: „Ich habe es gewagt, 133

Klopstock u. Cramer, Bataille, LIV.

134 135

Klopstock u. Cramer, Bataille, CLI–CLII. Klopstock u. Cramer, Bataille, CLII.

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ein ideales poetisches Porträt auf den lebenden Arminius des 19. Jahrhunderts zu beziehen.“136 Klopstock habe, so Cramer, die Taten des neuen Arminius mit seinen Bardieten vorgezeichnet. Und dann folgt eine Lobeshymne auf Napoleon, dessen revolutionäre Tugenden Cramer nicht müde wird zu preisen. Cramers Gleichsetzung des Arminius mit Napoleon fand kaum den Beifall Klopstocks, der sich schon in seiner Ode An die rheinischen Republikaner kritisch mit dem Korsen auseinandersetzte und ihm vorwarf, die Freiheit der Völker in den Staub zu treten.137 Jedenfalls brachte Cramer eine dritte Ausgabe heraus, in der er die Anspielung auf Napoleon im Titel wieder zurücknehmen musste.138 Cramers verlegerisches Bemühen blieb dennoch erfolglos: Hermann und die Fürsten konnte er gerade noch übersetzen, aber an eine Herausgabe des ganzen Werkes oder sogar an eine Aufführung auf einer Pariser Opernbühne war mangels Geldes nicht mehr zu denken. So bleibt nur der einzigartige Versuch Cramers, Hermann als Vorgänger Napoleons in die französische Revolutionsrhetorik einzuführen. Cramers Übersetzung war vielleicht der letzte Versuch, den germanischen Befreiungskampf unter Arminius in die allgemeine europäische Diskussion um die Menschenrechte und die Freiheit der Völker einzubringen.139 Aber nach der Niederlage Österreichs und dem Zusammenbruch Preußens änderte sich das politische Klima. Napoleon herrschte in großen Teilen Deutschlands, und der Wunsch der deutschen Patrioten nach Wiederherstellung der politischen Selbständigkeit wuchs, jetzt aber verbunden mit Vorstellungen von nationaler Einheit in einem auch politisch geeinten Vaterland. Hermann der Cherusker und der Befreiungskampf der Germanen wurden vom aufsteigenden deutschen Nationalismus okkupiert und die Hermannsschlacht von Heinrich von Kleist (1777–1811), Ernst Moritz Arndt (1769–1860) und anderen als leuchtendes Vorbild für die geplante Volkserhebung gegen die napoleonische Unterdrückung gepriesen. Hermann und die viel beschworene Freiheit der Germanen – sie werden mit dem Aufkommen des Nationalismus zu einer nur noch deutschen Angelegenheit: „‚Hermann! Freyheit!‘ schallt es laut, ‚Vom fremden Joche Freyheit, deutsches Recht!‘“140

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137

138

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(Friedrich Gottlieb Klopstock u. Carl Friedrich Cramer), Le Tableau d’un Héros ou Vie Dramatisée du Bonaparte des Germains, traduit de l’Allemand de Fréderic-Théophile Klopstock, Citoyen Français, 2. Aufl., Paris 1801, „Préface de la seconde édition“, III. „Wie schwach sind eines Kriegers Bewunderer, / Der sie, die schönste Schöpfung der späten Welt, / Die Freiheit in den Staub tritt, andre / Bildung des Staates, als ihr wählt, gebietend!“ (Ode „An die rheinischen Republikaner“, Ausschnitt, in: Friedrich Gottlieb Klopstock, Ausgewählte Werke, hg. v. Karl August Schleiden, München 1962, 165). (Friedrich Gottlieb Klopstock u. Carl Friedrich Cramer), Le Tableau d’un Héros ou Vie Dramatisée d’Herman, traduit de l’Allemand de Frédéric-Théophile Klopstock, Citoyen Français, et Associé étranger de l’Institut National, 3. Aufl.,

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Paris 1803; Dank an Mark Emmanuel Amtstätter, Hamburg, für Hintergrundinformationen zu den Cramerschen Klopstockausgaben. 139 Das 1804 erschienene Drama Arminio von Ippolito Pindemonte (1753–1828) wird hier nur am Rande erwähnt, weil es in zeitlichem Abstand eine Problematik aufgreift, die in der älteren französischen und deutschen Literatur schon ausgiebig behandelt wurde: den Konflikt zwischen der Freiheit der Germanen und dem nach der absoluten Macht strebenden Arminio. Der dramatische Konflikt wird hier allerdings weniger politisch als auf einer menschlichen Ebene ausgetragen (Balduino [1990] 1245f.). 140 (Friedrich Rambach), Hermann von F. E. R., Erster Theil: Die Teutoburger Schlacht, Riga 1813, S. 24.

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Uwe Puschner „Hermann, der erste Deutsche“ oder: Germanenfürst mit politischem Auftrag Der Arminius-Mythos im 19. und 20. Jahrhundert

Seit zweihundert Jahren läßt Arminius die Deutschen nicht los. Seit dem Beginn des 19. Jahrhunderts behauptet er seinen Platz im historischen Gedächtnis der Deutschen. In der deutschsprachigen Abteilung des internationalen Famous People Index finden wir ihn aktuell unter seinem volkstümlichen Namen ‚Hermann der Cherusker‘ – mit Kurzbiographie und sachlicher Würdigung –, alphabetisch eingeordnet zwischen Werner Heisenberg und Alfred Herrhausen.1 Die Beschäftigung mit dem römisch sozialisierten Cheruskerfürsten und die Ursprünge seiner Mythisierung reichen über das 19. Jahrhundert bis zum Beginn des 16. Jahrhunderts zurück. Zu seiner folgenreichen politischen Entfaltung gelangte der variantenreiche und damit unterschiedlichen zeitgenössischen Anforderungen sich anverwandelnde Arminius-Mythos jedoch erst drei Jahrhunderte später, und zwar in der napoleonischen Ära zu Beginn des 19. Jahrhunderts. Jetzt stieg Arminius zum Nationalheros empor. Als „Römerbesieger“ und „erste[r] bekannte[r] große[r] Teutsche[r]“ erhielt er 1842 einen zweifachen Ehrenplatz in der Walhalla: Mit diesem Parthenon auf dem Hochufer der Donau unweit Regensburgs wollte der bayerische König Ludwig I. „rühmlich ausgezeichneten Teutschen“ ein Denkmal errichten, aus dem – so sein Wunsch – „teutscher der Teutsche … trete, besser, als er gekommen“.2 Im Innern des Ruhmestempels führt Arminius die Phalanx von Walhalla’s Genossen an.3 Zusätzlich wurde im nördlichen Giebelfeld der kampfbereite Arminius im Zentrum der Varusschlacht dargestellt, die mit einer allegorischen Darstellung auf Deutschlands Befreiung im Jahr 1814 und den ersten alliierten Sieg über das napoleonische Frankreich im Südgiebel korrespondiert.4 Die Indienstnahme von Arminius und der Varusschlacht als Chiffren für den bedingungslosen Freiheitskampf gegen feindliche Invasoren und gegen Fremdherrschaft entsprang – wie Ludwigs I. Walhalla-Idee – dem unmittelbaren Eindruck der politischen Umbrüche und der folgenreichen Niederlage Preußens in der Schlacht von Jena und Auerstedt in den Jahren 1806/07. Wenige Wochen nach der vernichtenden Schlacht schrieb Heinrich von Kleist, von den Ereignissen seelisch und körperlich geschwächt, Ende Oktober 1806 in einem Brief an seine Schwester: „Wir [Deutsche] sind die unterjochten Völker der Römer.“5 Zwei Jahre später schuf er mit dem Drama Die Hermannsschlacht ein literarisches Manifest, das diesem Selbstverständnis verpflichtet war; es wurde allerdings erst posthum 1821 veröffentlicht und erst weitere vierzig Jahre später, bezeichnenderweise am Jahrestag der Leipziger Völkerschlacht am 18. Oktober 1860 – im Breslauer Stadttheater – uraufgeführt. Wenn der Text von Kleists Hermannsschlacht auch unverändert blieb, die Inszenierungen waren es nicht: In der von zunehmendem Nationalismus geprägten Stimmung von der zweiten Jahrhunderthälfte

1 2

3

www.german-way.com/famindex.html (letzter Zugriff: 22. 2. 2011). Walhalla’s Genossen, geschildert durch Ludwig den Ersten von Bayern, den Gründer Walhalla’s, München, 2. Aufl. 1847, Zit. VII. Walhalla’s Genossen, 1f.

4 5

Traeger (1987) 84f. Kleist an Ulrike von Kleist, 24. 10. 1806, in: Heinrich von Kleist. Sämtliche Werke und Briefe in vier Bänden, Bd. 4: Briefe von und an Heinrich von Kleist 1793–1811, hg. v. Klaus Müller-Salget u. Stefan Ormanns, München 1997, 363f., Zit. 364.

„HERMANN, DER ERSTE DEUTSCHE“ ODER: GERMANENFÜRST MIT POLITISCHEM AUFTRAG

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Abb. 1 | Die ,Hermannsschlacht‘ von Ludwig Schwanthaler im nördlichen Giebelfeld der Walhalla; die Marmorausführung entstand zwischen 1837 und 1841.

Abb. 2 | Arminius-Figur aus Schwanthalers Hermannsschlacht-Gruppe.

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Abb. 3 | Die Photographie zeigt Hermann mit den Fürsten in einer Szene aus der Inszenierung von Kleists Hermannsschlacht auf dem Harzer Bergtheater im Jahr 1909.

an bis ins 20. Jahrhundert hinein wurde Die Hermannsschlacht als antifranzösisches Propagandaspektakel und nationales, die Opferbereitschaft beschwörendes Weihestück inszeniert – 1863 in Leipzig anläßlich des 50. Jahrestages der Völkerschlacht, 1880 in Königsberg zum zehnten Jahrestag der Schlacht von Sedan, 1913 in Leipzig zur Einweihung des Völkerschlachtdenkmals oder im Herbst 1914 im Berliner Schiller-Theater, wo, wie der damalige Hermann-Darsteller erinnert, „die Wogen der Begeisterung hoch[gingen]. Wie oft wurde damals nach der Vorstellung von der Bühne herab irgendein großer Waffengang verkündet! Dann kam es wohl vor, daß alle im Theater stehend das Deutschlandlied sangen.“6 Kleist hatte Die Hermannsschlacht, wie er einem Freund gegenüber 1809 bekannte, „einzig und allein auf diesen Augenblick berechnet“:7 Sie sollte ein an die politischen, militärischen und gesellschaftlichen Eliten adressierter Appell sein, den Volkskrieg auszurufen und gegen die Fremdherrschaft zu mobilisieren, wie es in Spanien bereits seit 1808 der Fall war.8 Der aktuellen politischen und militärischen Kräfteverteilung entsprechend setzte Kleist seine Hoffnungen im bevorstehenden Kampf gegen die französische Vorherrschaft nicht auf den ‚Preußen‘ Hermann, sondern auf das von dem Suebenfürsten Maroboduus personifizierte Österreich, wobei der historische Suebenfürst im Jahr 9 n. Chr. gerade nicht auf der Seite von Arminius stand.

6

Zit. n. Bendikowski (2008) 186; Hinweise auf die Aufführungen bei von See (2003) 75.

7 8

Kleist an Heinrich Joseph von Collin, 20. u. 23. 4. 1809, in: Briefe IV, 431f., Zit. 432. Dörner (1996) 103f.

„HERMANN, DER ERSTE DEUTSCHE“ ODER: GERMANENFÜRST MIT POLITISCHEM AUFTRAG

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Abb. 4 | Karl Russ, Hermann zersprengt die Ketten von Germania, Leipzig 1813. Die Darstellung ist eine unmittelbare Reaktion auf die Leipziger Völkerschlacht vom Oktober 1813 und die Niederlage der napoleonischen Armee.

In und mit den Freiheitskriegen 1813/14 avancierte Arminius endgültig zur nationalen Identifikationsfigur für den bevorstehenden Befreiungskampf. In einem Aufruf an die Deutschen hieß es 1813: „Europa ruft in diesem Augenblick: Ist kein Hermann da? – kein neuer Hermann, der die neuen Adler vor sich in die Flucht jagt? Auf, Deutsche! Euer Hermann muß sich finden.“9 Und Ernst Moritz Arndt, gemeinsam mit dem Philosophen Johann Gottlieb Fichte und dem ‚Turnvater‘ Friedrich Ludwig Jahn Wortführer des zeitgenössischen deutschen Nationalismus, mahnte in seiner prophetischen Friedensrede eines Deutschen: „Deutsche, vergesset Hermann nicht; flehet die Vorsehung an um einen solchen Mann und Befreier, weist eure Mitwelt und Nachwelt darauf hin, und er wird kommen, und ihr werdet ein Volk sein und ein freies, starkes Volk.“10 Nicht ein Mann, auch nicht die Freiwilligen, sondern eine europäische Koalition erfocht in der Leipziger Völkerschlacht den Sieg über Frankreich. In einer plakativen Ra-

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Zit. n. Wiegels (2008) 37.

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Ernst Moritz Arndt, Geist der Zeit, Teil 2, in: Arndts Werke, Bd. 7, hg. v. August Leffson u. Wilhelm Steffens, Berlin u.a. o.J., 94.

dierung von 1813 wurde dennoch Hermann gezeigt, der die gefesselte und dem Himmel dankende Germania von ihren Ketten befreit und die Feldzeichen der Besiegten zertritt.11 Ganz in diesem Sinne wurde 1814 der erste Jahrestag der Schlacht von den selbsternannten ,Enkeln Hermanns‘ als nationales Fest, als ,Zweite Herrmannsschlacht‘ gefeiert.12 Unter dem Eindruck der französischen Vorherrschaft waren Arminius und die Varusschlacht ins Zentrum der in erster Linie literarischen und besonders lyrischen politischen Propaganda und eines aufkeimenden nationalen Selbstverständnisses gerückt. Die Schlüsselelemente des Arminius-Mythos wurden in diesen knapp acht Jahren zwischen den Schlachten von Jena und Auerstedt und Leipzig und Waterloo formuliert: Arminius firmierte danach erstens als Symbolfigur und Vorbild für jeden Patrioten in seiner Bereitschaft zum Kampf gegen äußere Bedrohung und Fremdherrschaft. In dieser Absicht wurde zweitens an die Varusschlacht erinnert, die als Hermannsschlacht von den Freiheitskriegen an bis ins 20. Jahrhundert hinein zum deutschen Topos des Kampfes gegen Frankreich und gegen andere vermeintliche innere und äußere Feinde Deutschlands und der Deutschen begriffen wurde. Diese Deutung der Varusschlacht verweist auf ein drittes Element: auf das in der Gleichung ‚Germanisch = Deutsch‘ verdichtete Kontinuitätsparadigma, das das deutsche Geschichtsbild bis in die Gegenwart prägt. Danach gelten die Germanen als die unmittelbaren Vorfahren der Deutschen der Neuzeit. Arminius wird – wie bei Ludwig I. von Bayern bis hin zu Hjalmar (eigentl. Hermann) Kutzlebs Geschichtsroman von 1934 – zum „ersten Deutschen“ und die Varusschlacht zum „sakralisierten Gründungsakt“ einer germanisch-deutschen Nation,13 deren Kennzeichen eine gemeinsame Geschichte, Sprache und Kultur sind und die seit dem Übergang zum 20. Jahrhundert zusehends rassenideologisch begründet wird. Ernst Moritz Arndt hatte dieses im 19. Jahrhundert vorherrschende Denken einer durch die Sprache begründeten germanisch-deutschen Kultur- und Geschichtsgemeinschaft 1813 pointiert zusammengefaßt: „An der Schlacht im Teutoburger Wald hing das Schicksal der Welt, darum ist Hermann Weltname geworden; er ist nicht bloß etwas Poetisches für uns, etwas bloß durch das graue Altertum und den Wahn der wachsenden Zeitenlänge Geheiligtes, nein er ist etwas Ewiges und Wirkliches, weil wir noch durch ihn sind, weil ohne ihn vielleicht seit sechzehnhundert Jahren hier kein Deutsch mehr gesprochen sein würde.“14 Nach den Freiheitskriegen fand der Arminius-Mythos durch Gemälde, Grafiken und insbesondere durch eine umfangreiche literarische Produktion weite Verbreitung. Am bekanntesten ist – neben Heinrich von Kleists Drama und Heinrich Heines spöttischen Versen (Caput XI) in Deutschland. Ein Wintermärchen (1844) – Christian Dietrich Grabbes Mitte der 1830er Jahre entstandenes, 1838 posthum veröffentlichtes, aber erst 1938 uraufgeführtes Drama Hermannschlacht, in dem es, was es für den Nationalsozialismus attraktiv machte, „um das Verhältnis von Führer und Volk … als gewachsene, verpflichtende Lebens- und Schicksalsgemeinschaft“ geht.15 11 12 13

S. Kösters (2009) 198. Zit. n. Wolters (2008) 186f. Wiegels (2008) 37; Hjalmar Kutzleb, Der erste Deutsche. Roman Hermann des Cheruskers, Braunschweig u.a. 1934. S. in diesem Zusammenhang mit Bezug auf die Gegenwart Wiegels (2007) 15: „Die Frage nach der Varusschlacht als Wendepunkt der Geschichte ist … aktueller denn je, seit das Deutsche Historische Museum in Berlin in seiner Dauerausstellung den Beginn der Deutschen Geschichte – den ‚Urknall‘, entsprechend einer Formulierung des verantwortlichen Leiters – historisch in der Varusschlacht verortet. Mit dieser gleichsam offi-

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ziösen Fixierung wird einmal mehr die unreflektierte und unhaltbare Gleichsetzung zwischen ‚germanisch‘ und ‚deutsch‘ fortgeschrieben und damit zugleich ein territorial ausgerichtetes, neuzeitliches Nationaldenken zum Kriterium genommen. Die Abweisung dieser Gleichsetzung bedeutet aber zugleich, dass die Varusschlacht nicht nur kein ‚Urknall‘ der ‚deutschen‘ Geschichte ist, sondern auch kein Wendepunkt innerhalb einer solchen sein kann.“ Arndt, Geist der Zeit 2, 93f. Von See (2003) 75.

„HERMANN, DER ERSTE DEUTSCHE“ ODER: GERMANENFÜRST MIT POLITISCHEM AUFTRAG

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Abb. 5 | Hermann-Darstellung von Katharina Sattler aus dem dritten Band der von ihr illustrierten vier Gedichtbände Ludwigs I. von Bayern, nach 1839.

Ein Massenpublikum erreichte der Mythos jedoch vor allem durch das Hermannsdenkmal. Mit dessen Standort auf der bei Detmold gelegenen Grotenburg, einer, wie sich später herausstellen sollte, Ringwallanlage aus der Latènezeit, erhielt auch der Mythos einen festen Ort. Für seine Wahl war die exponierte Lage als höchste Erhebung in der waldreichen Region um Detmold ausschlaggebend, obwohl der Ort nicht erst seit den Funden bei Kalkriese umstritten ist.16 An annähernd 700 Orten wurde die Varusschlacht seit dem 19. Jahrhundert von Wissenschaftlern, lokalpatriotischen Laienforschern und völkischen Ideologen lokalisiert.17 Bereits im Jahr der Grundsteinlegung des Denkmals 1838 machte sich Karl Leberecht Immermann in seinem satirischen Zeitroman Münchhausen (erschienen 1838/39) über die zeitgenössische Germanomanie und die Suche nach dem Schauplatz der Varusschlacht lustig: Die 16

17

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Zu den Auseinandersetzungen um den Ort der Varusschlacht seit dem 19. Jahrhundert s. Schlüter (1995), Kösters (2009) 255–258, Derks (2009) bes. 53–55 sowie Moosbauer u. Wilbers-Rost (2009). Derks (2009) 54. Als Beispiel für die bis weit ins 20. Jahrhundert reichende, ideologisch geleitete Bestimmung des Schlachtenortes s. Otto Höfler, Siegfried,

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Arminius und die Symbolik. Mit einem historischen Anhang über die Varusschlacht, Heidelberg 1961, bes. 122–161. Zur Verbindung von Siegfried und Arminius im 19. Jahrhundert u. besonders nach dem Ersten Weltkrieg s. die Hinweise bei von See (2006) bes. 122–127, Kösters (2009) 289–291 u. 293 sowie Hardt (2009) bes. 229–231.

Abb. 6 | Entwurf für ein Hermannsdenkmal von Friedrich Karl Schinkel und Christian Rauch, 1839.

ganze Gegend sei „besetzt und verstopft gewesen von Cheruskern, Katten und Sikambrern“, läßt er einen ‚Sammler‘ ausrufen, und ein ‚Mann vom Lande‘ habe eine Stelle auf einem Feld nahe Arnsberg gezeigt, „wo Knochen in ungeheurer Zahl zwischen Sand und Kies aufgeschichtet seien“. Der enthusiastische ‚Sammler‘ wird aber bald enttäuscht, denn sein Germanen-Knochen entpuppt sich als KuhGebein, worauf ein Bauer lapidar feststellt: „Herr Schmitz, Sie sind auf einen Schindanger gestoßen und nicht auf das Teutoburger Schlachtfeld.“18 Mehr noch als der seit nunmehr annähernd zweihundert Jahren imaginierte Ort der Varusschlacht steht das Hermannsdenkmal, dem Thomas Nipperdey den Charakter eines nationalen Bergheiligtums im mythisierten „Wald als der eigentlichen deutschen Seelenlandschaft“ zuweist (was sinnf ällig nicht zuletzt die Hermannsfeier des 1923 gegründeten Vereins ‚Deutscher Wald – Bund zur Wehr und Weihe des Waldes‘ 1925 bestätigt),19 für ein wichtiges Element des Arminius-Mythos, das insbesondere die Jahrzehnte vor der Reichsgründung beherrschte: die deutsche Einheit als die Einheit aller Deutschen. Nach dem Ende der napoleonischen Ära wurde Arminius nicht mehr nur gegen äußere Bedrohung eingesetzt – obwohl der Mythos diese Funktion keineswegs verlor (wie mit Rheinwasser und Rheinwein 18

Karl Immermann, Werke in fünf Bänden, hg. v. Benno von Wiese, Bd. 3, Frankfurt a. M. 1972, 148f.

19

Nipperdey (1976) 161; s. auch Nipperdey (1975). Zum unter der Schirmherrschaft Paul von Hindenburgs stehenden ‚Deutschen Wald e.V. – Bund zur Wehr und Weihe des Waldes‘ u. zur Hermannsfeier s. Zechner (2009) 180f.

„HERMANN, DER ERSTE DEUTSCHE“ ODER: GERMANENFÜRST MIT POLITISCHEM AUFTRAG

263

Abb. 7 | Entwurf zum Hermannsdenkmal nach einer Zeichnung von Carl Schlickum, 1840.

gefüllte, 1841 und unmittelbar nach der Rheinkrise in den Grundstein eingelassene Flaschen veranschaulichen) –, sondern wurde von dem aufkommenden bürgerlichen Liberalismus und Nationalismus zum Symbol ihrer Forderungen nach politischer Geschlossenheit und staatlicher Einigung der Deutschen. An diese Forderung erinnert bis heute eine am Grundstein des Bandelschen Hermannsdenkmals angebrachte Tafel, auf der die Deutschen zur Einheit gemahnt werden: „Hermann dem Befreier Deutschlands gründen dies Denkmal Deutschlands Fürsten und Volksstämme in Eintracht verbunden. Er bleibe und daure, der Sinn der Eintracht, welcher dies Denkmal schuf, und getilgt sei der Fluch der Zwietracht, den der Zorn des Überwundenen an der Wiege unseres Volkes aussprach.“20 Als das Hermannsdenkmal bei Detmold, Ernst Bandels Lebenswerk, nach vier Jahrzehnten Planungs- und (immer wieder unterbrochener) Bauarbeit und in der Schlußphase mit finanzieller Unter20

264

Zit. n. Nipperdey (1976) 160.

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Abb. 8 | Ernst Bandel neben einem Modell des Hermannsdenkmals, 1909.

stützung des Reichstages und des Hauses Hohenzollern fertig gestellt und 1875 eingeweiht wurde, war der deutsche Nationalstaat bereits vier Jahre Realität und die Mahnung schien hinf ällig zu sein.21 Das Denkmal erfuhr nun gewissermaßen eine geistige Umwidmung: In Bezugnahme auf die gegen Frankreich erfolgte Reichseinigung ‚von oben‘ wurde das Hermannsdenkmal zum reichsdeutschen Siegesmal und zu einem „dezidiert antifranzösischen Monument“:22 Hermann mit dem nach dem Kampf triumphierend erhobenen Schwert blickt nach Westen. Beide Elemente – die Reichseinigung durch die Hohenzollern und die Bezugnahme auf den deutsch-französischen Krieg von 1870/71 – dokumentiert ein in einer Sockelnische des Denkmals angebrachtes Bronzerelief Wilhelms I., „das nach einem Modell Bandels aus dem Material einer bei dem [lothringischen] Gravelotte eroberten Kanone gegossen wurde“ und auf dem in einem Eichenkranz die Namen der im deutsch-französischen Krieg gewonnenen Schlachten genannt werden.23 Unter dem Relief ist eine Kupferplatte mit dem Text angebracht: „Der lange getrennte Stämme vereint mit starker Hand, Der welsche Macht und Tücke überwand, Der längst verlorne Söhne heimführt zum deutschen Reich Armin, dem Retter ist er gleich.“24

Dieser Vers führt nicht nur die seit den Freiheitskriegen geläufigen Arminius-Mythologeme zusammen, sondern er stellt auch den Versuch einer ‚Mythenkoppelung‘ dar, indem Arminius mit Wilhelm I. (wie nach 1918 mit Hindenburg und dann 1933 mit Hitler) verbunden wird:25 Wilhelm I. als wiederkeh21 22

Zur Einweihungsfeier s. Tacke (1995) 216–229 u. Mellies (2009b). Wolters (2008) 188.

23 24 25

Dörner (1995) 179. Zit. n. Dörner (1995) 179. Münkler (2009) 175; zur Koppelung von Arminius mit Hindenburg und Hitler s. Kösters (2009) 292.

„HERMANN, DER ERSTE DEUTSCHE“ ODER: GERMANENFÜRST MIT POLITISCHEM AUFTRAG

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Abb. 9 | Karikatur Kaiser Wilhelms I. als Arminius in der englischen Satirezeitschrift Punch vom 11. 3. 1871.

render Arminius war der Sieg über den äußeren Feind und die Einigung des Reiches gelungen. „Sieh, er lebt, Arminius Wilhelmus lebet“,26 heißt es in einem zur Einweihungsfeier des Hermannsdenkmals entstandenen Gedicht. Bereits vier Jahre zuvor hatte sich das englische Satireblatt Punch in der Ausgabe vom 11. März 1871 dieses Bildes bedient und Wilhelm I. im Germanenkostüm mit Flügelhelm über einen am Boden liegenden Gegner hinwegreitend dargestellt.27 Dieser ‚Mythenkoppelung‘ bediente sich auch die deutsche Karikatur: Aus Anlaß der Detmolder Denkmalseinweihung erschien in der Satirezeitschrift Kladderadatsch vom 15. August 1875 eine Zeichnung, die die preußisch-protestantischen, anti-römischen und anti-romanischen Affekte zusammenführte und sich damit gegen das antike Reich der Römer ebenso wie gegen die zeitgenössischen ‚romanischen‘ Franzosen, gegen den – in der Epoche des preußischen Kulturkampfes – römischen Papst und zeitgenössischen politischen Katholizismus richtete und das verwendete Mythenpotential zusammenführte: Vor dem Hintergrund des Petersdoms in Rom werden Arminius und Luther im vereinten Kampf gegen Rom gezeigt – Arminius in Siegerpose und Luther mit der revolutionären Parole: „Ich werde siegen!“28

26 27

266

Zit. n. Losemann (2008) 108. S. hierzu Wolters (2008) 189.

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28

Kösters (2009) 245; die beschriebene Karikatur ist im Beitrag von H. Barmeyer im vorliegenden Band abgedruckt; s. dort Abb. 7, S. 300.

Der Arminius-Mythos tritt jetzt unter Rückgriff auf ein geläufiges Motiv der Reformation in einer neuen Variante auf, mit der nicht nur der äußere Feind der Deutschen ins Visier genommen wird, sondern auch der vermeintliche Feind im Innern: die sogenannten Reichsfeinde. In diesem Sinne instrumentalisieren der erwähnte Kladderadatsch-Cartoon oder eine Darstellung von Bismarck als ‚neuem Arminius‘ den Hermann-Mythos von protestantischer Seite für den Kulturkampf.29 In Reden bei der preußisch-protestantisch grundierten Einweihungsfeier des Denkmals wie vor allem in der ‚Begleitpublizistik‘ hieß es beispielsweise:30 „Die römischen Hierarchien verkennen unser Volk“, so ein Bericht über die Feier des Berliner Tageblatts in Kulturkampf-Rhetorik, „wenn sie sich einbilden, es jetzt, nachdem es in so glorreichen Kämpfen seine Einheit errungen, nochmals untereinander verfeinden zu können … Aber wir wollen auch Herren sein auf unserer angestammten Erde und weder materielle noch geistige Knechtschaft über uns ergehen lassen. Hermann der Cherusker war es, der einstmals jene abgewehrt, unser Kaiser ist es, der uns gegen diese vertheidigt. Armin und Wilhelm – und ob fast zwei Jahrtausende zwischen ihnen liegen, unser Volk sieht sie wie Brüder beisammen stehen und streiten für ein und dasselbe Heiligthum, das deutsche Vaterland.“31 Auf dieser nationalen Klaviatur spielten auch die sich wiederholt am Hermannsdenkmal versammelnden Antisemiten.32 Wie die ‚Kulturkämpfer‘, so bediente sich der zeitgleich aufflammende Antisemitismus des Topos von der inneren Bedrohung: Der Hermann auf dem Denkmal wird in einer antisemitischen Karikatur durch eine mit antisemitischen Stereotypen ausgestattete Figur ersetzt, der ‚deutsche Wald‘ (um das Denkmal) als konstitutives Element deutschnationalen Selbstverständnisses ist abgeholzt.33 Das Jahr 1875 stellt einen neuerlichen Wendepunkt für den Arminius-Mythos dar, der fortan mit der Reichsgründung und einem daraus erwachsenden und in den folgenden Jahrzehnten stetig zunehmenden nationalen Selbstbewußtsein verbunden ist. Turnvereine und Burschenschaften und selbst einige Freimaurerlogen brachten ihr nationales Bekenntnis zum Ausdruck, indem sie sich nach Arminius benannten. Armin und Hermann wurden zu beliebten Vornamen, wie das Beispiel des als Ford Hermann Madox Hueffer geborenen britischen Schriftstellers mit deutschen Wurzeln veranschaulicht, der sich allerdings während des Ersten Weltkrieges seiner deutschen Namensbestandteile entledigte, die englischen verdoppelte und als Ford Madox Ford zu Bekanntheit gelangte.34 Die Wogen der Arminius-Begeisterung schlugen bis nach Nordamerika über. Der 1840 in New York gegründete, logenartige, karitativ orientierte ‚Orden der Hermannssöhne‘, eine Vereinigung amerikanischer Bürger deutscher Abstammung, die bis in die Gegenwart (nun als Versicherungsgesellschaft) existiert, initiierte die Errichtung eines Hermannsdenkmals. Es wurde am 25. September 1897 in New Ulm/Minnesota eingeweiht und besteht in einer verkleinerten Kopie des Detmolder Denkmals. Mit diesem Hermannsdenkmal brachten die deutschen Auswanderer und Bürger der nordamerikanischen Provinzstadt New Ulm „ihr Bekenntnis … zur deutschen Abstammungsgemeinschaft“ zum Ausdruck – doch nicht nur das:35 Herman the German in New Ulm ziert im Gegensatz zu seinem großen 29 30 31 32

Kösters (2009) 289; s. in diesem Zusammenhang auch Knauer (2007). Losemann (2008) 108. Zit. n. Doyé (2001) 598. Beispielweise versammelten sich Antisemiten 1893 am Hermannsdenkmal; Festprogramm und Lieder zur allgemeinen Zusammenkunft der Antisemiten Deutschlands am Hermanns-Denkmal, Pfingstmontag, den 22. Mai 1893, StA

33

34 35

Bielefeld, Westermann-Sammlung, Lippe-Detmold II, Bd. 28. Jeiteles Teutonicus. Harfenklänge aus dem vermauschelten Deutschland von Marr dem Zweiten, Bern 1879. S. auch die antisemitisch konnotierte Karikatur auf den Eulenburg-Skandal im Kladderadatsch 60 (1907), Nr. 44. Kemp (2010) 35–41. Wolters (2008) 189.

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Abb. 10a | Karikatur auf den ‚Kulturkämpfer‘ Bismarck aus dem Kladderadatsch vom 30. 6. 1872.

Abb. 10b | Illustration von Eduard Daelen aus Bismarck. Eine Vision, 1882.

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Abb. 12 | Antisemitische Karikatur auf den Eulenburg-Skandal aus der Kladderadatsch-Ausgabe Nr. 44 von 1907

Abb. 11 | Antisemitisches Pamphlet aus dem Jahr 1879.

Bruder in Detmold ein kräftiger ‚Demokratenbart‘, wie ihn damals viele Deutschamerikaner sowohl als Rückbezug auf demokratische Traditionen der deutschen Revolution von 1848/49 als auch zur Abgrenzung von den überwiegend glattrasierten Amerikanern englischer Abstammung trugen.36 Das New Ulmer Hermannsdenkmal ließ die skandinavischen Siedler in Minnesota nicht ruhen. Nicht ganz zuf ällig, aber rechtzeitig wurde in Kensington unweit von Minneapolis ein Runenstein ‚gefunden‘, der eine Expedition skandinavischer Wikinger ins heutige Minnesota im Jahr 1362 und damit eine vorkolumbische Entdeckung Amerikas zu beweisen schien.37 Der bald als Fälschung entlarvte Runenstein in Minneapolis gelangte ins Museum, Herman schwingt wie 1897 bis in die Gegenwart his Teutonic battle sword over New Ulm.38 Das Hermannsdenkmal wurde nach seiner Einweihung zum „Wallfahrtsort aller Patrioten“;39 der Hermann-Mythos war fortan fest mit dem Denkmal und seinem Standort verbunden. Auch nach 1875 verloren – gegenteiligen Behauptungen zum Trotz – „Arminius als nationale Integrationsfigur und die Varusschlacht als eine die Gegenwart verpflichtende Tat“ nichts von ihrer Bedeutung.40 Die „‚Fieber-

36 37 38

Von See (2003) 89. S. hierzu von See (2003) 89. www.roadsideamerica.com/story/11260 (letzter Zugriff: 16. 2. 2009). Zur anglo-amerikanischen Hermann-Re-

39 40

zeption s. den Beitrag von H. Holsten im vorliegenden Band. Bemman (2002) 234. Wiegels (2008) 45.

„HERMANN, DER ERSTE DEUTSCHE“ ODER: GERMANENFÜRST MIT POLITISCHEM AUFTRAG

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Abb. 13 | Hermannsdenkmal in New Ulm (Minnesota).

kurve‘ der Arminius-Begeisterung“ stieg in den folgenden Jahrzehnten an und „erreichte ihren höchsten Ausschlag“ im Jahr 1909.41 In Detmold wurde die 1900-Jahr-Feier der Schlacht mit einem großen Volksfest in der Manier der nationalen Feierkultur des 19. Jahrhunderts begangen, bei dem jedoch im Gegensatz zu der Denkmalseinweihung von 1875 – die unter Federführung Preußens durch Wilhelm I. als „Übergabe des Hermannsdenkmals an das deutsche Volk“ konzipiert gewesen war42 – das deutsche Volk unter sich und die Monarchen fernblieben. 41

270

Losemann (1995) 420.

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42

Von See (2003) 85.

Abb. 14 | Detail des Hermannsdenkmals in New Ulm (Minnesota).

Mehrere zehntausend Besucher – unter ihnen wie schon 1875 eine Abordnung des nordamerikanischen ‚Ordens der Hermannssöhne‘ – nahmen an den Veranstaltungen in der Festwoche Mitte August 1909 teil, die – außer dem zentralen Festakt mit dem für Lokalpatrioten und Germanenverehrer enttäuschenden Festredner, dem besonnenen freikonservativen Berliner Historiker Hans Delbrück – zahlreiche Attraktionen zu bieten hatte. Hauptattraktionen waren das unter freiem Himmel in der erwähnten Ringwall-Anlage aufgeführte Festspiel Hermann der Cherusker und der Germanenzug. Dieser Germanenzug bildete den eigentlichen Höhepunkt des Festes und thematisierte die „siegreiche Heimkehr der Deutschen“ nach der Hermannsschlacht. Sie wurde den Zuschauern mit Hilfe von an-

„HERMANN, DER ERSTE DEUTSCHE“ ODER: GERMANENFÜRST MIT POLITISCHEM AUFTRAG

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Abb. 15 | Hermannsdenkmal in Hermann (Missouri).

nähernd tausend Komparsen in der Rolle von „wackeren Helden und minniglichen Frauen des germanischen Altertums in realistischer Anschauung vor Augen“ geführt, wie der Düsseldorfer Generalanzeiger berichtete.43 Mit der Detmolder Festwoche wollten die Verantwortlichen unter Rückgriff auf das Mythen-Repertoire aus der Zeit der Freiheitskriege Arminius’ Bedeutung für die deutsche Geschichte würdigen und die nationale Begeisterung fördern: Denn Arminius sei „die erste Rettung unserer deutschen Art, unserer Sprache und unseres Volkstums“ zu verdanken. Die Feier sollte insofern „mehr sein … als schnell verrauschter Festesjubel, … die Persönlichkeit des ersten Helden unserer Geschichte [sollte] in den Geistern lebendig [werden], [auf ] daß wir einen Hauch seines Wesens und Wollens spüren und im Anschauen seiner Größe selber wachsen in opferfreudiger Liebe zur Heimat und zum deutschen Volk und Wesen.“44 Die ‚Völkischen‘, die Anhänger eines rassistischen und antisemitischen hybriden Nationalismus, dessen Basis seit den 1890er Jahren sprunghaft anwuchs, teilten diese Überzeugungen. Den Detmolder Festtagen begegneten sie dennoch mit Skepsis. Schenkt man der völkischen Presse Glauben, hielten sich die nationalistischen Organisationen den Feiern überwiegend fern. Auch wenn es, wie ein völkischer Berichterstatter resümiert, im „Ganze[n] … ein schönes, echt deutsches Volks-Fest“ war, störte er sich an der Inszenierung und Vermarktung der ‚Gedächtnis‘-Feier: 43

272

Zit. n. Tacke (1995) 235f., hier auch 228–244 zur 1900-Jahr-Feier, sowie Kösters (2009) 248–254 u. Mellies (2009a) bes. 263–265.

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44

Heinrich Schwanold, Arminius, Die Varusschlacht und das Hermannsdenkmal. Festschrift zur Neunzehnhundertjahrfeier der Schlacht im Teutoburger Wald, Detmold 1909, 7 u. 3.

Abb. 16 | Programmatische Titelillustration zu Adolf Bartels Aufsatz Rassenzucht, 1908.

„Viele Verschmückungs-Gegenstände waren der Gesittung unserer Ahnen vom Jahre 9 n. Kr. angepaßt. Schädel von Pferden und Rindern, Hörner und Nachbildungen von alten Waffen hingen zwischen Eichen- und Tannen-Gewinden. Die Trink- und Obstbuden waren mit Strohdächern versehen, um so alt-germanische Bauten vorzutäuschen … Sogar Germanen-Butterbrote und Hermanns-Würstchen wurden angeboten, wahrscheinlich um ihren Verzehrern außergewöhnliche, siegfriedhafte Kräfte zu verleihen.“ Doch mehr als diese „Geschmacklosigkeiten“ erfuhr die Veranstaltung „einen bedenklichen, geradezu schmerzhaften Unterton“ durch die „polnischen Landarbeiterinnen, die aus der nahen Umgebung gekommen waren, um ebenfalls am deutschen Siegesfeste teilzunehmen. Kündigen sich damit gerade auf der Höhe unseres Lebens unsere künftigen Verdränger und Erben an?“45 Es sind die Alldeutschen und vor allem die Völkischen, die Arminius und die Germanomanie um eine folgenreiche „ideologische Facette“ bereichern, die vor allem nach dem Ersten Weltkrieg „verheerende Wirkungen entfalten sollte“.46 Von der fanatischen Überzeugung durchdrungen, Angehörige einer auserwählten und allen anderen überlegenen Rasse zu sein, galten ihnen Arminius und die Germanen als Vorfahren im biologischen Sinne. Die Völkischen sahen sich, wie der Hinweis auf die polnischen Landarbeiterinnen zeigt, in einem Rassenkampf auf Leben und Tod, sie führten in ihrem Verständnis eine neue Hermannsschlacht gegen äußere und innere Feinde, gegen Romanen, Slawen, Juden, Katholiken, Liberale, Sozialisten etc., und sie führten ihre ‚Hermannsschlacht‘ zur Erringung der Weltherrschaft.

45

Franz Winterstein, „Deutschlands Befreier und die Teutoburger Schlacht“, in: Heimdall. Zeitschrift für reines Deutschtum und All-Deutschtum 14 (1909), 123–126, Zit. 125; s. auch die Beiträge „19. Jahrhunderts-Feier der Armins-Schlacht im Teutoburger Walde“ u. „Armin, der Befreier Deutschlands“, beide in: Heimdall 14 (1909), 17 u. 73f., sowie Hermann Ehrhard, „Am Hermannsdenk-

46

mal“, u. Paul Langhans, „Hermann der Cherusker, ein Mahner zu reinem Deutschtum. Hermannsrede des Bundeswartes am Hermanndenkmal bei Detmold am 25. Mai 1909“, beide in: Deutschbund-Blätter 14 (1909), 10f. u. 49–52. Ulbricht (2004) 142; s. auch Losemann (2008) 111–115.

„HERMANN, DER ERSTE DEUTSCHE“ ODER: GERMANENFÜRST MIT POLITISCHEM AUFTRAG

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Abb. 17 | Agitationspostkarte des 1894 gegründeten Bundes der Deutschen in Böhmen, die Arminius an der Elbe Wache haltend zeigt, vor 1914.

Der völkische Barde Felix Dahn setzte diese Überzeugungen 1909 in seinem Siegesgesang nach der Varusschlacht, „vertont für gemischte Chöre und für Schulchöre“, in die holprigen Verse: „Heil dem Helden Armin! Auf den Schild hebet ihn, Zeigt ihn den unsterblichen Ahnen: Solche Führer wie der Gieb uns, Wodan, mehr, – Und die Welt, sie gehört den Germanen!“47

Die Varusschlacht hatte einen festen Platz im völkischen Festkalender, der Gedenktag wurde – entgegen der auf den bayerischen Geschichtsschreiber Aventinus zurückgehenden Datierung der Varusschlacht auf den 2. August und der im 19. Jahrhundert geläufigen auf den 9. September48 – am 10. September mit der Mahnung begangen, sich „in entsprechender Weise dieser volklichen Geschehnisse“ zu erinnern.49

47 48

274

Felix Dahn, Armin der Cherusker. Erinnerungen an die Varus-Schlacht 9 n. Chr., München 1909, 45f. Johannes Turmair’s genannt Aventinus Annales Ducum Boiariae, Buch 1, Kap. 1, in: Johannes Turmair’s Sämmtliche Werke, Bd. 2,1, hg. v. Siegmund Riezler, München

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49

1881, 127. Zur Datierung der Varusschlacht s. Buchinger (2010) 25f. „Deutschvolkliche Gedenktage [im September]“, in: Iro’s Deutschvölkischer Zeitweiser auf das Jahr 1911, Wien 1911, unpag.

Abb. 18 | Titelblatt zu Felix Dahns aus Anlaß der 1900-Jahr-Feier veröffentlichten Geschichte der Varusschlacht, 1909.

Ein Teil der Völkischen, namentlich diejenigen aus dem neuheidnischen Flügel, kam dieser Aufforderung nach und richtete ihre Zeitrechnung nach dem Jahr der Schlacht im Teutoburger Wald aus – wie etwa die in Deutschland und Österreich heute noch bestehende Deutschgläubige Gemeinschaft.50 Vor diesem Hintergrund wird verständlich, daß die Grotenburg und das Hermannsdenkmal vom wilhelminischen Kaiserreich bis zur Weimarer Republik Treffpunkt, Versammlungs- und Weiheort für viele radikalnationalistische Vereinigungen war, die dort ihre ideologischen Überzeugungen demonstrierten.51 Einer von diesen war der ‚Deutschbund‘, eine Schlüsselorganisation der völkischen Bewegung, der von 1895 bis in die 1930er Jahre wiederholt seine Bundestage und sogenannten Hermannsfeste in Detmold und am Hermannsdenkmal veranstaltete.52 1903 wurde am Denkmal mit dem ‚Deutschreligiösen Bund‘ die erste völkischreligiöse Gemeinschaft gegründet.53 50 51

52

Puschner (2001) 42. Wie bereits die Antisemiten vor der Jahrhundertwende nutzten auch die Alldeutschen seit Beginn des 20. Jahrhunderts den Ort für ideologische Demonstrationen, etwa Pfingsten 1901 anläßlich einer Burenkundgebung; A. G., „Burenkundgebung bei dem Hermannsdenkmal“, in: Alldeutsche Blätter 11 (1901), 282f. S. hierzu beispielhaft die Rede von Friedrich Lange, „Deutschbundarbeit ist Befreiungswerk. Am Hermanns-Denkmal im Teutoburger Wald. 9. Juni 1895“, in: Deutsche Worte. Blüten und Früchte deutschnationaler Weltanschauung, hg. v. Hermann Ehrhard, Berlin 1907,

53

47–53, bes. 53. Die Bedeutung von Hermann für den Deutschbund bezeugen die jährlichen ‚Hermannsfeste‘ ebenso wie die ‚Weihrede‘ Hermann Kraegers anläßlich des fünfzigjährigen Jubiläums der Enthüllung des Hermannsdenkmals 1925; Heinrich Kraeger, „Arminius [Teil 1]“, in: Deutscher Volkswart 7 (1925), 293–298, u. Teil 2, in: Deutschbund-Blätter 30 (1925), 28f. Puschner (2001) 222f. S. in diesem Zusammenhang auch die Deutschbund-Broschüre Brauchtum des Deutschbundes (Melsungen o.J., 9f.) in der SD-Akte über den Deutschbund, in: Bundesarchiv Berlin-Lichterfelde/ West R 58/6060.

„HERMANN, DER ERSTE DEUTSCHE“ ODER: GERMANENFÜRST MIT POLITISCHEM AUFTRAG

275

Abb. 19 | Agitationspostkarte bei Ausbruch des Ersten Weltkrieges.

In den Jahren zwischen 1920 und 1932 fanden 45 größere Kundgebungen verschiedener nationaler, deutschnationaler und völkischer Vereinigungen auf der Grotenburg statt, davon allein neun im Jahr 1925, dem 50. Jahrestag der Denkmalseinweihung.54 Der sternförmige ‚Hermannslauf der Deutschen Turnerschaft‘ zum Denkmal, an dem sich 120000 Teilnehmer aus „allen Gauen“ beteiligten und der mit einer Großkundgebung am 16. August 1925 in Anwesenheit von mehreren tausend Teilnehmern – darunter neben den Turnern vor allem Mitglieder der ‚Vaterländischen Verbände‘ (insbesondere des ‚Stahlhelm‘ und des ‚Jungdeutschen Ordens‘) – zu Ende ging, war die „letzte große Manifestation des Arminius-Kultes“,55 mit der der Veranstalter daran erinnern wollte, „daß wir Söhne eines Vaterlan54 55

276

Mellies (2004b) u. (2009a) 263–268; Kösters (2009) 294–305. Ulbricht (2004) 144; s. auch „Hermannslauf der Deutschen Turnerschaft“, in: Deutsche Turn-Zeitung 1925,

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Nr. 25, 185–187. 1959 knüpften regionale lippische Turnund Sportvereine am 17. Juni an diese Tradition an; Wolfrum (1999) 167.

Abb. 20 | Aufmarsch des Jungdeutschen Ordens am Hermannsdenkmal 1925.

des sind und daß wir nur dann Gegenwart und Zukunft meistern können, wenn wir einig sind und treu.“56 Die hoch erscheinende Zahl von Veranstaltungen am Hermannsdenkmal darf nicht darüber hinwegtäuschen, daß der „große gefühlsmäßige ‚Schwung‘ der Arminiusbegeisterung nach dem Zusammenbruch des Deutschen Reiches 1918 ‚gebrochen‘ (Harald von Petrikovits)“ war.57 Jetzt rückte wieder der seit der Zeit der Freiheitskriege geläufige Mythos des Befreiers und Retters in den Vordergrund – und zwar vor dem Hintergrund der deutschen Niederlage im Ersten Weltkrieg, dem Versailler Vertrag und nicht zuletzt der französischen Besetzung des Saarlandes und Ruhrgebiets.58 56 57

Zit. n. Doyé (2001) 600. Losemann (1995) 422. S. hierzu den Tagebucheintrag vom 10. 11. 1924 von Harry Graf Kessler, in: Harry Graf Kessler. Das Tagebuch, hg. v. Angela Reinthal, Günter Rieder u. Jörg Schuster, Bd. 8: 1923–1926, Stuttgart 2009, 530: „Vormittags von Detmold hinauf. Ergreifend schöne, tiefe deutsche Waldeinsamkeit. Der grosse, grünpatinierte Hermann macht sich in ihr nicht zu übel. Er hat einen gewissen Stil: den Stil der Wagner Zeit. Er ist eine parallele Ausgeburt zum ‚Ring‘; könnte Siegmund darstellen, einen etwas behäbigen Heldentenor, der gerade das hohe C hinlegt. Der gänzliche Mangel an Humor der Heldenpose gegenüber, an dem die 40er bis 90er Jahre litten, … wirkt heute allerdings drollig spiessig. Dass man einen etwas dicken, älteren Herren in Wichs mit geschwungenem Schwert einer so erhabenen Waldlandschaft wie dem Teutoburger Wald

58

gegenüberstellen könnte, ohne einen Schatten von Komik zu empfinden, würde heute nur noch ein Kriegervereins Vorsitzender für möglich halten.“ Beispielhaft hierfür steht der erste, 1924 in Detmold uraufgeführte Hermannsschlacht-Film: Kolbe (2007); als DVD: Die Hermannsschlacht. Ein Stummfilm in fünf Akten aus dem Jahr 1924 (= Westfalen in historischen Filmen). Eine Produktion des LWL-Medienzentrums Westfalen, 2009. Der Stoff wurde noch zweimal verfilmt, zunächst 1967 der ‚Sandalenfilm‘ Hermann der Cherusker. Die Schlacht im Teutoburger Wald, eine deutsch-italienische Co-Produktion, die auch unter den Titeln Arminius the Terrible und Massacre in the Black Forest lief, u. 1993/96 die Persiflage Die Hermannsschlacht. Deutschland im Jahre 9 (DVD 2005); Weitere Verfilmungen befinden sich derzeit in Produktion.

„HERMANN, DER ERSTE DEUTSCHE“ ODER: GERMANENFÜRST MIT POLITISCHEM AUFTRAG

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Abb. 21 | Ludwig Fahrenkrog: Germania, es kommt dein Tag!

Der Malerdichter und Gründer der völkischreligiösen ‚Germanischen Glaubens-Gemeinschaft‘ Ludwig Fahrenkrog hat dieser antifranzösischen und revanchistischen, vom radikalnationalistischen Lager forcierten Vorstellung in einem Gemälde aus den frühen 1920er Jahren Gestalt gegeben, das die Sakralisierung des Arminius-Mythos unübersehbar macht: Eine knieende Germania streckt ihre zusammengeketteten Hände dem von einer Gloriole hell umstrahlten Arminius in Gestalt des DenkmalHermanns entgegen. Aus demselben Mythenfundus wie Fahrenkrog schöpften die Apologeten der Machtübernahme Hitlers 1933, die zum „Triumph des Armindeutschtums über das Rassenchaos und über die [in Anspielung auf den romtreuen Bruder von Arminius] Flavusdeutschen, denen ihre Menschheitsziele höher stehen als unser Volkstum“, stilisiert wurde.59 Arminius, oder richtiger: der Hermann des Denkmals war vor 1933 zwar Bestandteil der nationalsozialistischen Wahlpropaganda und Agitation, der Arminius-Hitler-Transfer blieb jedoch eine Episode des Epochenjahres.60 Ein wichtiger Grund dafür war, daß Hitler der völkischen Germanenschwärmerei ablehnend gegenüberstand und seine völkisch sozialisierten Paladine Himmler und Rosenberg mit Kaiser Hein59

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Heinrich Wolf, Angewandte Geschichte, Bd. 5: Angewandte Rassenkunde (Weltgeschichte auf biologischer Grundlage), 3. Aufl., Berlin-Schöneberg 1943 (1. Aufl. 1927), 412.

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60

Vgl. Siegfried Bergengruen, Männer machen die Geschichte. Retter aus deutscher Not von Hermann dem Cherusker bis Adolf Hitler (= Deutsches Volksbuch, Bd. 2), Berlin 1933, bes. 4f. u. 127. S. auch Mellies (2004b) 362–364 u. (2009a) 269; Kösters (2009) 303–305.

Abb. 22 | Doppelpostkarte aus dem Volkswarte Verlag von Erich Ludendorff aus den frühen 1930er Jahren.

Abb. 23 | Werbekarte der SA, nach 1933.

„HERMANN, DER ERSTE DEUTSCHE“ ODER: GERMANENFÜRST MIT POLITISCHEM AUFTRAG

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Abb. 24 | Den Wandel im Umgang mit dem Arminius-Mythos im 20. Jahrhundert dokumentieren drei Spielfilme: Der in den Krisenjahren 1922/23 entstandene Stummfilm Die Hermannsschlacht unterliegt noch vollkommen den Befreiungs- und Einigkeitsparadigmen in einer Bedrohungssituation, die den Arminius-Mythos seit dem frühen 19. Jahrhundert charakterisieren. Davon ist 65 Jahre später nichts mehr geblieben, als Hermann der Cherusker zum Titelhelden eines gleichnamigen deutsch-italienischen Sandalenfilms aus dem Jahr 1967 avanciert, der bezeichnenderweise im Ausland unter dem Titel Arminius the Terrible oder Massacre in the Black Forest in den Kinos lief. Die noch einmal drei Jahrzehnte später gedrehte Persiflage Die Hermannsschlacht. Deutschland im Jahre 9 (1993/96) ist hingegen in erster Linie eine Auseinandersetzung mit dem Arminius-Mythos des 19. Jahrhunderts.

rich I. und mit Widekind andere Mythologeme bevorzugten. Zudem galten in den 1930er Jahren „außenpolitische Rücksichten“ gegenüber dem faschistischen Italien, das sich von der unübersehbaren Römer-Germanen-Konstellation des Arminius-Mythos hätte beleidigt fühlen können – so mußte eine Besichtigung des Hermannsdenkmals anläßlich von Mussolinis Staatsbesuch in Deutschland 1936 auf Anweisung der Reichskanzlei aus dem offiziellen Besuchsprogramm gestrichen werden.61 Die Randständigkeit von Arminius in der nationalsozialistischen Geschichtsideologie dokumentiert das betreffende Lemma im ideologiekonformen Brockhaus von 1936, das knapp und faktenbezogen gehalten ist und auf Wertungen verzichtet. Es weist jedoch darauf hin, daß die Namensübertragung Arminius in Hermann falsch sei.62 Nach 1945 war der Arminius-Mythos in der deutschen Gesellschaft diskreditiert. Weder seine Befreiungsvariante noch seine antifranzösische bzw. antiromanische Ausrichtung, ganz zu schweigen von der rassistischen völkischen Version waren entfernt mit der politischen Situation Deutschlands und dem Willen der Deutschen vereinbar, in den Kreis der Völkergemeinschaft zurückzukehren. Bestrebungen einer neuen „Sinnstiftung setzten [in der Bundesrepublik] am Beginn der fünfziger Jahre am Ort des Hermannsdenkmals und in der Literatur mit der Forderung nach der Wiedervereinigung ein“.63 Sie blieben ebenso Episode wie ein Versuch seitens der DDR, mit einer Neuinszenierung von Kleists Hermannsschlacht im Jahr 1957, ausgerechnet auf dem Harzer Bergtheater, das 1903 als Freilichtbühne mit völkischem Auftrag gegründet worden war und wo das Drama regelmäßig aufgeführt wurde, gegen den Westen zu agitieren. „Der Konzeption der Aufführung lag“, wie der Regisseur Anfang der 1960er Jahre erklärte, „ausschließlich der Gedanke der Einigung aller nationalen Kräfte zur Befreiung Germaniens von den römischen Eroberern zugrunde. Gewisse Parallelen zum gegenwärtigen Westdeutschland unter der Herrschaft der Nato-Imperialisten verliehen der Inszenierung eine bestimmte 61 62

280

Losemann (1995) 424f.; von See (2003) 93f. u. Doyé (2001) 600. „Arminius“, in: Der Neue Brockhaus. Allbuch in vier Bänden und einem Atlas, Bd. 1, Leipzig 1936, 138; s. auch Mellies (2004a) u. (2009a) 269f.

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63

Losemann (1995) 428; Mellies (2009a) 270–272; Wolfrum (1999) 124–131.

Abb. 25 | Hermann und Zwermann, Aufn. 2009.

Aktualität“ – und sie brachten ihr den Beifall des Staatsratsvorsitzenden Walter Ulbricht ein, der die Premiere besuchte.64 Der politische Mythos Hermann-Arminius scheint heute der Vergangenheit anzugehören, sieht man vom rechtsextremen und neovölkischen Umfeld ab. Dort wird er in seinem nationalistischen Gewand des 19. Jahrhunderts und mit seinen Varianten bis in die Gegenwart zur Agitation eingesetzt. Unter der Überschrift „2000 Jahre Freiheitskampf“ verbreitete die NPD 2009 die Legende von „der Geburtsstunde der deutschen Nation“ auf dem Schlachtfeld im Teutoburger Wald, um anschließend wie die Völkischen an der Wende zum 20. Jahrhundert vor dem Hintergrund eines nebulös bleibenden Bedrohungs- und fatalistischen Untergangsszenariums zu appellieren, geeint für die Befreiung zu kämpfen: „Heute findet wieder eine Landnahme unseres Bodens statt. Wir Deutschen werden uns auch gegen diese Eroberungspolitik wehren müssen wie EIN Mann. Ansonsten können wir 2000 Jahre nach Hermann das Kapitel ‚Deutsches Volk‘ im Buch der Geschichte wieder schließen.“65 Diese vor dem Hintergrund des heutigen, von Archäologie und Geschichtswissenschaften gesicherten Erkenntnisstandes absurd ahistorische Behauptung einer Kontinuität zwischen Germanenstämmen des Jahres 9 und den Deutschen und ihrer behaupteten Bedrohung im Jahr 2009 ist nur ein weiterer Fall von politisch-agitatorischem Mißbrauch des immer wieder instrumentalisierten Hermann-Mythos – er ist aber eine Mindermeinung. Für die überwiegende Mehrheit der Deutschen stellt Arminius heute keine Identifikationsfigur dar. Das Hermannsdenkmal ist schon seit vielen Jahrzehnten keine nationale Wallfahrtsstätte mehr, sondern bloße Touristenattraktion (von vielf ältigem Unterhaltungswert). 64

Curt Trepte (Hg.), Harzer Bergtheater. Tradition und Gegenwart. Zum 60-jährigen Bestehen des Harzer Bergtheaters zu Thale, Berlin 1963, Zit. 48; Rolf Thieme, Deutsche Festspiele 1957. Harzer Bergtheater zu Thale. Kleist Die Hermannsschlacht, o. O. u. J. (1957); das Programmheft enthält eine Fülle von Beiträgen zur Vereinnahmung des Stückes in die DDR-Kulturpolitik. S. auch Benidowski (2008) 204–208.

65

„2000 Jahre Freiheitskampf“, in: Flugblatt Jetzt reicht’s! npd.de, undat. [2009], 2. Zur rechtsradikalen Vereinnahmung von Arminius s. z.B. die Webseiten www.npdniedersachsen.de (Suchbegriff: Hermannsschlacht), www.hermannsschlacht.net, www.kehrusker.net, http://de.metapedia.org/wiki/Armin_der_Cherusker, www.volksdeutsche-stimme.de/bewegung/armin_ 021109de.htm u. http://www.youtube.com/user/ npdosnabrueck (letzter Zugriff: 4. 3. 2011).

„HERMANN, DER ERSTE DEUTSCHE“ ODER: GERMANENFÜRST MIT POLITISCHEM AUFTRAG

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Abb. 26 | Werbeprospekt für ein lippisches Brotprodukt.

Proteste blieben daher aus, als – wie vor hundert Jahren – in Detmold und an den anderen Orten der Jubiläumsveranstaltungen 2009 wie schon zuvor die „Mythologie … auf die Speisekarte“ wanderte und das als „lippisches Kraftpaket“ angepriesene Vollkornbrot ‚Hermannicus‘, ‚Varus-Leberwurst‘ oder ‚Thusneldamarmelade‘ im Angebot standen.66 Woher rührt dann aber die außerordentliche Aufmerksamkeit, die Arminius und der Varusschlacht in den Medien und in der Öffentlichkeit seit dem Herbst 2008 zuteil wurde? Der ArminiusMythos zählt wohl zu jenen Geschichtsbildern, die im 19. Jahrhundert für die Gründung der Nationen im Sinne von Benedict Andersons invented traditions konstruiert wurden und die in der deutschen Meistererzählung, im deutschen Geschichtsverständnis immer noch einen Platz haben.67

66

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Dörner (1995) 368.

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67

Anderson (1993); s. in diesem Zusammenhang auch Engelhardt (2008).

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„HERMANN, DER ERSTE DEUTSCHE“ ODER: GERMANENFÜRST MIT POLITISCHEM AUFTRAG

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Heide Barmeyer Denkmalbau und Nationalbewegung Das Beispiel des Hermannsdenkmals

In Jahr 2009 wurde medienwirksam unter der Schirmherrschaft der Bundeskanzlerin mit einer großen Gemeinschaftsausstellung an die zweitausendste Wiederkehr des Datums der sogenannten ‚Varusschlacht‘ erinnert. Um jedem Interpretationskonflikt oder einer wie auch immer gef ärbten Konkurrenz um den Ort der Varusschlacht von vornherein aus dem Weg zu gehen, wurden unter der Überschrift ‚Imperium – Konflikt – Mythos‘ in Haltern, Kalkriese und Detmold unterschiedliche Aspekte der facettenreichen Thematik behandelt, die mit dem Datum 9 n. Chr. verbunden sind. Eine Fülle von Publikationen und Presseartikeln erschien, und auch die Ringvorlesung, aus der diese Publikation hervorging, gehört in diesen Zusammenhang. Die zugrundeliegende Thematik ist so vielschichtig, dass nicht ein wissenschaftlicher Zugriff, sondern nur das Zusammengehen bzw. der Austausch mehrerer historischer Disziplinen ihre Wirkungsgeschichte erfassen können. Aus der Sicht der Neuzeithistorikerin soll im Folgenden untersucht werden, wie im 19. Jahrhundert der Wunsch entstand, dem zum Nationalhelden avancierten Arminius oder Hermann im Teutoburger Wald ein Denkmal zu errichten, den Nationalmythos also aus der Erzählung, die sich seit dem 18. Jahrhundert literarisch vielf ältig niedergeschlagen hatte und populär geworden war, ins Gegenständliche zu transponieren und sozusagen monumental zu verewigen. Die Untersuchung soll zeigen, wie sich diese Vorstellung im Laufe einer wechselnden nationalen Politik und Geschichte entwickelte und wandelte. Es geht also um einen mentalitätsgeschichtlichen Ausschnitt aus der Wirkungsgeschichte des nationalen Mythos Hermann/Arminius. Herfried Münkler hat in seinem großartigen Buch über Die Deutschen und ihre Mythen Grundsätzliches über das prinzipielle Phänomen politischer Mythen gesagt.1 Auf seine Überlegungen soll zurückgegriffen werden, wenn die Frage nach der Einordnung des Phänomens in die Problematik des politischen Mythos aufgegriffen wird. Zuvor aber soll das Thema konkret und quellennah dargestellt werden, um diese Ausführungen nicht gleich zu Beginn mit zu vielen theoretischen Überlegungen zu überlasten.

Interpretationsansatz und Gliederung Das Hermannsdenkmal ist eine besonders prägnante Ausprägung des Denkmalstyps, durch den im politisch-sozialen Raum2 der bürgerlichen Öffentlichkeit deutsches Nationalbewusstsein seinen symbolisch-personifizierten Ausdruck fand. Seinem Wandel zwischen dem Aufkommen der Denkmalidee um 1800, ihrer Entwicklung, Umsetzung und Vollendung bis 1875 und ihrer weiteren politischen bzw. parteipolitischen Indienstnahme bis ins 21. Jahrhundert hinein soll im Folgenden nachgegangen werden.

1

Münkler (2009).

2

Tacke (1995).

DENKMALBAU UND NATIONALBEWEGUNG

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Abb. 1 | Das Hermannsdenkmal bei Detmold.

Für das 19. Jahrhundert f ällt dabei auf, dass – nicht zuf ällig – der Wandel des Nationalbewusstseins seine genaue Entsprechung in den Bauphasen des Hermannsdenkmals findet. Dieses Phänomen lässt sich erklären, wenn man die Denkmalgeschichte in den politisch-sozialen Raum einordnet, was wiederum belegt, dass der gewählte methodische Zugang zur Mentalitätsgeschichte sinnvoll ist. Für das 20. Jahrhundert wird die weitere Entwicklung des Nationalmythos am Beispiel von Jubiläumsfeiern am Denkmal unter verschiedenen Staatsformen – Wilhelminisches Kaiserreich, Weimarer Republik, NSZeit und Nachkriegszeit – untersucht. Dem Wandel des modernen Nationalbewusstseins in Deutschland zwischen dem Ende des Heiligen Römischen Reiches deutscher Nation und der kleindeutschen Reichsgründung sowie seiner weiteren Entwicklung im 20. Jahrhundert wird nicht im Einzelnen nachgegangen, sondern dieser wird als bekannt vorausgesetzt. Grob vereinfachend, wird der ideologische Hintergrund mit dem Hinweis auf

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die einschlägigen Darstellungen von Thomas Nipperdey,3 Hagen Schulze4 und Heinrich August Winkler5 als eine Entwicklung bezeichnet, die anfangs breit angelegt war, international-völkerverständigend und revolutionär geprägt war und eher politisch ‚links‘ eingeordnet werden kann, dann jedoch sich zunehmend verengte zu einem sich immer exklusiver gebärdenden ‚rechten‘ und aggressiven Nationalismus. In Wellen war dieser in Deutschland mal stärker, mal schwächer pro oder contra Frankreich bzw. den äußeren Feind und die Ideen der Französischen Revolution akzentuiert. Nach der Reichsgründung erfuhr er eine Wendung nach innen gegen alle die, die angeblich der inneren Einheit entgegenstanden; das konnten Katholiken sein, denen man unterstellte, national nicht zuverlässig zu sein, sondern einer ‚ultramontanen‘ Bindung an Rom und den Papst stärker verpflichtet zu sein, der Internationale verbundene Sozialisten und Kommunisten oder schließlich aus der Sicht einer rassisch definierten Nation ‚Artfremde‘. Wenn das schillernde Phänomen des Nationalismus so typologisierend-plakativ charakterisiert wird, kann damit nur grob tendenziell die große Entwicklungslinie erfasst werden. Die Betrachtung des konkreten Einzelfalles wird dann zeigen, dass die Wirklichkeit vielschichtiger war. Aus den genannten Prämissen ergibt sich für den Untersuchungsgang ein exemplarisches Vorgehen nach sozialen Generationen und Staatsformen im Umgang mit dem Hermannsdenkmal. Die Gliederung folgt in sechs Schritten der chronologischen Abfolge der Generationen:6 1. die Gründergeneration der um 1800 Geborenen: Als Beispiel dient die Feier anlässlich der Schließung des Grundsteingewölbes 1841, 2. die Generation der Reichsgründung: Hier geht es um die Einweihungsfeier des Hermannsdenkmals 1875. Diese beiden ersten Punkte werden besonders ausführlich behandelt, soll an ihnen doch die eingangs formulierte These von der Parallelität zwischen den Bauphasen des Hermannsdenkmals und den Phasen der Nationalbewegung dargelegt werden. Die weiteren kürzeren Punkte folgen dem Gedanken des Denkmals im sozialen Raum unter besonderer Berücksichtigung verschiedener Staatsformen: 3. also die Generation des imperialen Wilhelminismus, erfasst am Beispiel der 1900-Jahrfeier der Varusschlacht 1909, 4. die Nachkriegsgeneration in der Republik – 1925 das 50-jährige Jubiläum des Hermannsdenkmals, 5. die parteipolitische Indienstnahme des Germanen-Mythos durch völkische und nationalsozialistische Gruppen bis 1933, und schließlich wird 6. zur Abrundung ein kurzer Blick auf die Schwierigkeiten geworfen, die die Nachkriegsgeneration nach 1945 mit Nationalsymbolen hatte: 1950 75 Jahre Hermannsdenkmal, 1975 100 Jahre Hermannsdenkmal, 2000 125 Jahre Hermannsdenkmal, 2009 ‚2000 Jahre Varusschlacht. Konflikt – Imperium – Mythos‘.

3 4 5

Nipperdey (1972). Schulze (1985). Winkler (2000).

6

Der Begriff der Generation wird in Anlehnung an Karl Mannheim (1928) als soziale Generation verstanden, die durch gemeinsamen Erfahrungsraum und Erwartungshorizont geprägt ist; ergänzend dazu Koselleck (1979).

DENKMALBAU UND NATIONALBEWEGUNG

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1. Die Gründergeneration der um 1800 Geborenen: von der Idee über Entwürfe und den Baubeginn bis zur Schließung des Grundsteingewölbes 1841 Als der 19-jährige Kunststudent Ernst von Bandel (1800–1876)7 1819 seine ersten Ideen für ein deutsches Nationaldenkmal entwickelt, steht er unter dem Eindruck des Napoleonischen Zeitalters und der Freiheitskriege. Er hat Verbindungen zu aktiven Burschenschaftern, zu den Turnern um Friedrich Ludwig Jahn und zu Teilnehmern des Wartburgfestes.8 ‚Hermann‘ oder ‚Arminius‘ war nach Jahrhunderten des Vergessens von den Humanisten zu Beginn des 16. Jahrhunderts wieder entdeckt und zum mythischen Stammvater der Deutschen, zum nationalen Symbol erklärt worden.9 Seit Ende des 18. Jahrhunderts wurde er als literarischer Stoff mehrfach bearbeitet10 – Klopstock,11 Kleist12 und Grabbe13 seien stellvertretend für das populär werdende Thema genannt; auch bildende Künstler14 stellten Szenen seines Lebens dar, auf der Opernbühne15 machte er Karriere, und nicht nur Bandel trug sich mit Denkmalplänen, sondern auch Rauch und Schinkel16 versuchten sich daran.17 Der Gegenstand war um 1800 populär, und Denkmalpläne lagen sozusagen in der Luft. Bandel, als Künstler von eher durchschnittlichem Rang, ist gerade darin das typische Sprachrohr seiner sozialen Generation und ihrer nationalen Vorstellungen.

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Zur Biographie Ernst von Bandels siehe Meier (2000). Zu den engsten Freunden Bandels zählte Hans Ferdinand Maßmann (1797–1874), Germanist, Dichter und Sportpädagoge, Lieblingsschüler Jahns. Heinrich Heine nannte ihn in seinem Wintermärchen, Caput XI spöttisch „Marcus Tullius Maßmanus“. ,National‘ hier im Sinne des frühneuzeitlich-vorrevolutionären Verständnisses. Im Folgenden stütze ich mich auf die materialreiche Darstellung von Kösters (2009), in der die Entstehung des Mythos über Jahrhunderte zuverlässig und umfassend aufgearbeitet ist. Friedrich Gottlieb Klopstocks Hermann-Trilogie erschien 1769, 1784 und 1787, also noch vor dem Ausbruch der Französischen Revolution; vgl. Kösters (2009) 154–160. Heinrich von Kleist schrieb seine Hermannsschlacht 1808 in einer scharf napoleonfeindlichen, antifranzösischen Stimmung; vgl. Kösters (2009) 184–194. Christian Dietrich Grabbes Hermannsschlacht wurde erst 1838, zwei Jahre nach Grabbes Tod, vollendet; aufgeführt wurde das Stück erstmals 1934 (!) und fand vor allem in völkischen und nationalsozialistischen Kreisen Anerkennung, die das Stück im Sinne völkischen Sendungsbewusstseins interpretierten. Das Lippische Landestheater Detmold hat 2009 in seiner Schauspielreihe eine Auseinandersetzung mit Grabbe herausgebracht unter dem Titel: Die Hermanns Schlacht. Eine deutsche Betrachtung mit Texten von Christian Dietrich Grabbe u.a. Zu Grabbes Hermannsschlacht siehe Kösters (2009) 213–220. Kösters (2009) 163–170 („Die Hermanns Schlacht in der bildenden Kunst“) nennt als Beispiele Johann Heinrich Tischbein und Angelika Kauffmann und für die spätere Zeit der Befreiungs- und Freiheitskriege Caspar David Friedrich (201–206); s. dazu auch den Beitrag von W. Beyrodt im vorliegenden Band.

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Auch Opern entstanden auf der Grundlage des Arminius/Hermann-Stoffes, vgl. Kösters (2009) 99–105. 1691/92 komponierte Heinrich Franz Ignaz Biber die Oper Arminio – Qui la dure la vince, und kein Geringerer als Georg Friedrich Händel schrieb 1736 in England die Oper Arminio. Zur Einweihung des Denkmals 1875 komponierte Max Bruch ein Arminius-Oratorium, das dann allerdings erst später uraufgeführt wurde und in diesem Jahr wieder mehrfach aufgeführt und für CD eingespielt wurde. Die Musikwissenschaftlerin Barbara Eichner, die sich in ihrer Doktorarbeit mit der Frage „Was ist deutsch?“ und musikalischen ‚Lösungen‘ dafür zwischen 1848 und um 1900 beschäftigte (Eichner [2005]), hielt im Rahmen der diesjährigen Veranstaltungen zur ,Mythos‘-Ausstellung in Detmold einen Vortrag zu dem Thema: „Der erste (singende) Deutsche – Hermann der Cherusker in der Musik“. Zahlreiche Denkmalentwürfe entstanden: Im Landschaftsgarten des Grafen Brühl im Seifersdorfer Tal bei Dresden wurde 1792 eine ‚Hermannseiche‘ errichtet. Der Detmolder Archivar Johann Ludwig Knoch entwarf um 1790 eine ‚Hermanns- oder Irminsäule‘! Karl Friedrich Schinkel beschäftigte sich 1814/1815 mit dem Plan eines Denkmals, Arminius zu Pferde, einen römischen Legionär mit der Lanze niederstoßend, womit eine Analogie zum Drachenkampf des Heiligen Georg hergestellt wurde; vgl. Unverfehrt (1975) 138. Weitere Entwürfe 1838 von Schinkel und Rauch, Arminius mit gesenktem Schwert; auch der lippische Landbaumeister Wilhelm Tappe trug sich mit Denkmalplänen, siehe Kösters (2009) 234. Zur Entstehung des Gedankens, dem Cherusker Arminius ein Denkmal zu setzen, vgl. Sandow (1975) und Unverfehrt (1975).

Der seit Tacitus im Teutoburger Wald lokalisierte Schlachtort18 führt Bandel 1836 auf der Suche nach einem geeigneten Ort nach Detmold, wo ein Freund aus Münchner Akademietagen19 ihm wichtige gesellschaftliche Kontakte vermittelt. Diese sind für die Realisierung des Projekts von größter Bedeutung, können doch viele finanzielle und organisatorische Fragen nicht vom Künstler gelöst werden, sondern bedürfen einer breiten Unterstützung. Bandels wichtigster Partner in Detmold wird sein Generationsgenosse Moritz Leopold Petri (1802–1873).20 Er stammte aus angesehener lippischer Beamtenfamilie, gehörte als Student der Jenaer Burschenschaft an, trat nach Abschluss des Studiums 1824 aber in den fürstlich-lippischen Staatsdienst ein. Wie kaum ein anderer ist er Repräsentant des liberalen Bildungsbürgertums und der vormärzlichen Vereinsbewegung in Lippe. In den 1830er/40er Jahren, der Hochzeit von Vereinsgründungen, gibt es in Lippe kaum einen Verein, dem Petri nicht an maßgeblicher Stelle angehört. Und auch das andere moderne Medium, die Presse, weiß Petri für seine Ideen zu nutzen. Er gründet das Lippische Magazin für vaterländische Cultur und Gemeinwohl, das lange auch die Funktion eines historischen Vereins wahrnimmt. Damit stehen ihm die beiden Institutionen, Verein21 und Presse, zur Verfügung, die in den nächsten Jahren eingesetzt werden, um die Hermannsdenkmal-Begeisterung in das Denkmalunternehmen einfließen zu lassen. Hier entsteht das soziale und kommunikative Netz, welches das Projekt aus dem regionalen Raum auf die gesamtdeutsche Ebene als ein nationales Unternehmen zu heben vermag. Jugendbewegt nationaler Enthusiasmus und Bereitschaft zu Engagement aus Optimismus in Bezug auf Gestaltungs- und Reformmöglichkeiten der neuen Zeit verbinden sich bei Petri mit guten dienstlichen und gesellschaftlichen Kontakten zum Landesherrn – eine günstige Konstellation. Im Jahre 1838 wird es mit dem Denkmalbau ernst: Ende 1837 war im Einklang mit Bandels Wünschen von Petri eine Kabinettsvorlage ausgearbeitet worden, um von Fürst Leopold II. die Genehmigung für die Errichtung des Denkmals auf dem Gelände an der Grotenburg zu erhalten. Nachdem diese erfolgt war und fürstliches Wohlwollen auch hinsichtlich einer finanziellen Unterstützung ausgesprochen war, wurde 1838 unter Federführung leitender Vertreter des Kabinetts und der Regierung22 in Detmold ein Verein für das Hermannsdenkmal gegründet.23 Dieser trat im März 1838 mit einem Spendenaufruf für den Denkmalbau an die Öffentlichkeit.24 Darin heißt es u.a.: „Zur Aufstellung des Denkmals wurde die Grotenburg erwählt, als derjenige Theil des Teutoburger Waldes, welcher durch die Schönheit der Landschaft und durch den Reichthum von geschichtlichen Erinnerungen vor allem 18

Bis heute ist die Frage des Ortes der sog. ‚Varusschlacht‘ ein wissenschaftlich ungeklärtes und heiß umstrittenes, teilweise regional- oder lokalpatriotisch aufgeladenes Problem. Im vorliegenden Band wird aus der Sicht der Archäologen und Numismatiker dazu Stellung bezogen. Die Ausstellung 2009 ‚Imperium – Konflikt – Mythos‘ folgt bewusst einer diesen Streit ausklammernden Strategie. Die Lokalisierungssuche brachte seit dem 16. Jahrhundert mehr als 700 (!) Orte ins Gespräch für die sogenannte Schlacht. Dabei muss berücksichtigt werden, dass der heute ‚Teutoburger Wald‘ genannte Höhenzug bis ins 16. Jahrhundert den Namen ‚Osning‘ trug und erst danach seine heutige Bezeichnung erhielt. Vgl. Kösters (2009) 207ff. Eng verbunden mit der Mythos-Thematik ist zu Beginn des 19. Jahrhunderts der Detmolder Archivar Christian Gottlieb Clostermeier, der 1822 die Schrift veröffentlichte: Wo Hermann den Varus schlug. Clostermeier wurde der Schwiegervater Grabbes!

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Wilhelm Tegeler (1793–1864). Eine Briefauswahl aus der Korrespondenz zwischen Bandel und Tegeler zum Thema des Hermannsdenkmals wurde 1975 von der Lippischen Landesbibliothek herausgegeben. Zu Petri und seinen kulturpolitischen Aktivitäten in Lippe siehe Barmeyer (1985) und Süvern (1974). Zur Bedeutung der Organisationsform Verein s. Nipperdey (1972). In seinem Festvortrag von 1975 sprach Nipperdey in Bezug auf die vereinsgetragene Denkmalbewegung vom „revolutionäre(n) Strukturprinzip der modernen staatsbürgerlichen Öffentlichkeit“, Nipperdey (1975) 22. Es handelt sich um die Herren Ballhorn-Rosen, Eschenburg, v. Funck, Petri und Rohdewald. Vgl. Schmidt (1975) 152. Lippisches Magazin 4, 1838, Nr. 1, Sp. 1–6.

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Abb. 2 | Spendenaufruf im Lippischen Magazin für Vaterländische Cultur und Gemeinwohl, 1838.

hervor leuchtet, und der auf seinem, das Schlachtfeld und die umgebenden Länder weithin beherrschenden Bergrücken ein von der Natur selbst gebildetes Fußgestell zu einem Gebäude dieser Art darbietet.“ Am 18. Oktober 1838, dem Jahrestag der Völkerschlacht von Leipzig, wird der Grundstein gelegt und mit dem Bau begonnen. Für die Burschenschafter-Generation stellt dieses Datum die Verbindung des Hermann-Mythos zum Befreiungs- oder besser aus ihrer Sicht zum Freiheitskampf gegen Napoleon her; aus den Römern von 9 n. Chr. werden Franzosen. Höhepunkt der ersten Bauphase ist 1841. Am 8. September 1841 wird anlässlich der Schließung des Grundsteingewölbes eine Feier veranstaltet, auf der Petri die Festrede hält.25 Diese ist ein rhetorisch 25

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Im Folgenden zitiert nach Lippisches Magazin 7, 1841, Sp. 407–418.

HEIDE BARMEYER

Abb. 3 | Spendenliste der Professoren an der Universität Leipzig.

glanzvolles Beispiel für vormärzlich kulturnationalen Patriotismus. Die Schlacht im Teutoburger Wald bedeutet für Petri die Verteidigung deutscher Sprache, Sitte und Freiheit. Hermann ist für Petri „der Befreier unseres Volkes“, durch den „des Deutschen Volkes Name, Sprache, Sitte und Freiheit gerettet und für Jahrtausende der Weltgeschichte erhalten wurde“. Die „Weltsendung“26 Hermanns des Cheruskers – um sich einer Wendung Nipperdeys zu bedienen – gilt für alle Völker, deren Recht auf freie Entfaltung ihrer Eigentümlichkeit respektiert, unterstützt und verteidigt werden muss. Für Petri geht es in seinem Verständnis von Freiheit darum, dass in der Schlacht im Teutoburger Wald eine Freiheit erkämpft wurde, „welche den Unterschied getilgt hat zwischen Herren und Sklaven …, welche dem fremden Rechte die nämliche Achtung zollt, die sie für das eigene fordert … um den Kern Germanischer Bildung und Gesittung haben sich im freien Verbande gelagert die übrigen Völker der Erde. Auch sie wurden frei durch den Teutoburger Sieg, … der zum ersten Male lehrte, dass auch das Volk dem Volke gegenüber Rechte hat, die nicht ungestraft verletzt werden. Völker und Völker sehen wir seitdem, im freien, friedlichen Verkehre mit einander, ein Jedes sein eigenthümliches Wesen entfalten, und alle sich wechselseitig dem Ziele entgegengetragen, das dem Menschen gesteckt ist.“ Hier schwingt noch der vor-politische Begriff der deutschen Kulturnation mit. Politisch soll das Denkmal gleichzeitig erinnern und mahnen; erinnern an eine im Jahre 9 n. Chr. einsetzende Tradition und mahnen, innere Zwietracht zu überwinden, um so zu deutscher Einheit zu gelangen. Petri hält den Deutschen vor, sie müssten sich durch das Mahnmal fragen lassen: „Ob noch in ihnen wohnt die alte, reine Sitte, noch in ihnen wohnt das alte Gefühl, die alte Begeisterung für Freiheit. Nicht für jene Frei26

Nipperdey (1975) 18.

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Abb. 4 | Auszug aus der Festrede, gehalten bei der Schließung des Grundsteingewölbes des Hermannsdenkmals am 8. September 1841.

heit, die ihre Wurzeln treibt, und die wuchert in dem Moder der Selbstsucht; sondern für die Freiheit, die da sitzt auf dem Throne der Ordnung und des Rechts. Ob noch in ihnen lebt die alte Treue … Ob noch in ihnen lebt und wirkt die alte Liebe, der kein Opfer zu groß ist, die das Eigenste und Beste dahin giebt für Volk und Vaterland. Ob sie neben der Achtung fremder Sitte, fremden Rechtes, fremder Freiheit ungekränkt zu bewahren und zu schützen wissen die eigene Sitte, das eigene Recht, die eigene Freiheit.“ Die Festrede endet mit einem Anklang an Ernst Moritz Arndt mit den Worten: „Das Deutsche Vaterland … so weit die deutsche Zunge klingt und Gott im Himmel Lieder singt, soll leben hoch.“ Im

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Abb. 5 | Gedicht von O. Frhr. V. E., geschrieben anlässlich der Schließung des Grundsteingewölbes des Hermannsdenkmals am 8. September 1841.

Anschluss an die Rede wird von den Teilnehmern der Feier das Lied Was ist des Deutschen Vaterland gesungen. Viele Wendungen bei Petri bestätigen Nipperdeys Interpretation von der „Weltsendung Armins“ und der „Internationale der Nationen“, von der man vor 1848 geträumt habe,27 von der ersehnten ‚Einheit in Freiheit‘ für alle Nationen. Dennoch lässt sich zu Beginn des 21. Jahrhunderts nicht überhören, dass auch bei Arndt und der ersten napoleonischen Phase der deutschen Nationalbewegung schon ein stark antifranzösischer Akzent mitklang. Vor allem die vielen Einlagen in den Grundstein bekräftigen die antifranzösische Einstellung vieler Zeitgenossen: Eine Bronze-Tafel vom Hannoverschen Verein für das Hermannsdenkmal trägt die Inschrift: „Deutschlands Befreier aus Römerketten, und seinem Heer, ihren Ahnen, weihen in angestammter Liebe der Deutschen Freiheit, welche sie durch zehnjährigen Kampf gegen Welsches Joch sieg27

Nipperdey (1975) 19.

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reich behauptet, dieses Bild, mit anderen Deutschen Stämmen, ihren Brüdern, die Völker der Weser, Aller, Ems und Elbe, jetzt im Königreich Hannover vereinigt, im Jahre der Teutoburger Schlacht 1830.“ Eine von Bandel selbst eingelegte Rolle lobt die Deutsche Legion für ihren „zwölfjährigen Kampf gegen Napoleon Bonaparte, den Weltbedrücker“. Die damaligen Klischees emphatisch miteinander verbindend und Römer und Franzosen in eins setzend, lautet die Inschrift auf der Steintafel des Bremer Hermannsdenkmal-Vereins: „Zur Errichtung einer Denk- und Ehrensäule Armins des Cheruskers, der, an der Spitze einmüthiger Germanenstämme, die durch List und Gewalt in das Herz des Vaterlandes gedrungene, von den Völkern dreier Welttheile geduldig ertragene Römermacht zwischen den Waldthalen dieser Gebirge in drei blutigen Tagen vernichtet, und damit den Nachkommen das erste ewig geltende Beispiel unerbittlicher Strafe für jede von außen her versuchte Unterjochung gab: vereinigten sich, nachdem auch sie eine weithin bevestigte Fremdherrschaft, das dem Vestlande Europas auferlegte Joch Napoleons, Kaisers der Franzosen, in ruhmreichen Feldzügen der Jahre 1813, 1814 und 1815 mit Gott im Bunde brechen halfen, zum Gefühl brüderlicher Eintracht und unselbstsüchtiger Gesammtwehr neuverbunden, in Jahren langes, segensreiches Friedens kriegerischer Erinnerungen froh, und eingedenk, dass durch den Sieg im Teutoburger Forst sie selbst eine ursprüngliche urfreie in frei eigenthümlicher Bildung gegründete Nation geblieben, alle Deutschen.“ Mehrere Denkmünzen erinnern an Blücher, Leipzig und Waterloo und an Ernst Moritz Arndt. Und – die Rheinkrise von 1840 liegt in frischer Erinnerung – Flaschen mit Rheinwasser und Rheinwein tragen eine bezeichnende Eingravierung: „An Arminius. Über den Rhein hast du einst Roms Legionen getrieben, / Und Germanien dankt dir, dass es heute noch ist. / Schwinge auch ferner dein Schwert, wenn Frankreichs plündernde Horden / gierig lechzend des Rheins heimische Gauen bedrohn.“ Das klingt nicht völkerverständigend kosmopolitisch, war aber offenbar populär. Populär sicher auch deshalb, weil die deutsch-französische Rheinkrise antifranzösischen Emotionen erneut Auftrieb gegeben hatte, die in zahlreichen Rheinliedern ihren Ausdruck gefunden hatte. Auch eine Festschrift28 erscheint 1841, die den genannten Elementen des kulturnationalen Patriotismus der Festrede Petris das Motiv des Barbarossa-Mythos hinzufügt. Hier äußert sich in nostalgischer Verklärung des Mittelalters die Hoffnung auf einen glanzvollen Wiederaufstieg Deutschlands zu Macht und Einheit. Diese ‚Mythenkoppelung‘,29 die den anti-imperialen, aufrührerischen ArminiusMythos mit dem vieldeutigen Barbarossa-Mythos verbindet, taucht später während der Reichsgründungszeit erneut auf, als Wilhelm I. sowohl mit Arminius/Hermann als auch mit Barbarossa verglichen wird. So bleibt festzuhalten: Schon die Mythos-Inszenierung im Vormärz ist alles andere als eindeutig, sondern janusköpfig und schillernd.

Exkurs: Überlegungen zu methodisch-quellenkritischen Problemen bei Aussagen des Historikers über den Zeitgeist Hier deutet sich ein methodisches Problem für den Historiker an, das an dieser Stelle wenigstens angeschnitten werden soll, wenn es auch nicht abschließend beantworten werden kann. Es ist die Frage nach repräsentativen Quellen für den sogenannten ‚Zeitgeist‘. Es ist fraglich, ob die Festrede eines Ver28

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Hg. von F. J. Schwanke; vgl. Kösters (2009) 238f.

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Zur ‚Mythenkoppelung‘ s. Münkler (2009) 37ff. und 175.

treters der Bildungsschicht, die vielleicht nur wenige Festteilnehmer akustisch und intellektuell verstanden, dafür als Beleg heranzuziehen ist, oder ob es nicht die schwerer zu fassenden Volksfest-Elemente sind, die die Masse der Zeitgenossen begeisterten. Angewandt auf einen schillernden und sich wandelnden Begriff wie den der ,Nation‘, ist dies Problem besonders heikel. Was man unter ,Nation‘ versteht und wie man dem Ausdruck verleiht, ist sicher damals wie heute nach Inhalt und Form schichten- und bildungsspezifisch unterschiedlich. Was darüber hinaus in der Menge ankommt und die allgemeine öffentliche politische Stimmung beeinflusst, ist nur von Fall zu Fall zu entscheiden. Soweit diese methodischen Bemerkungen in Parenthese und zur Vorsicht gegenüber verallgemeinernden Bemerkungen, die die Stimmung jeweils einer Generation charakterisieren sollen.

2. Die Generation der Reichsgründung: Vollendung und Einweihung des Denkmals im Zeichen der kleindeutschen Reichsgründung 1875 Nach den Erfahrungen der in nationaler Hinsicht gescheiterten 1848er Revolution erschien die Vormärz-Einstellung der friedlich geeinten und vereinten Nationen politisch naiv und blauäugig. In den 1850er Jahren griff Desillusionierung um sich, man zog sich ins Private und auf beruflich-wirtschaftlichen Erfolg zurück, und in Diskreditierung vormärzlicher Politikorientierung wurde der Begriff der ‚Realpolitik‘30 geprägt. Wie auf politischer Ebene im Deutschen Bund ging es in den 1850er Jahren auch beim Denkmalbau nicht weiter. Querelen und Streitigkeiten zwischen Künstler und Verein hatten 1846 zur Bauunterbrechung geführt. Bandel verließ Detmold und zog Ende der 1850er nach Hannover. Zu Beginn der 1860er Jahre aber ändern sich die allgemeinen politischen Rahmenbedingungen zugunsten eines Wiederauflebens des Nationalgedankens. Die europäische Konstellation nach dem Krimkrieg, die italienische Entwicklung und das innerdeutsche Verhältnis, insbesondere zwischen Österreich und Preußen, verschieben sich. So erhält auch der Denkmalbau neue Schubkraft. 1859 feiert man Schillers 100. Geburtstag und meint damit den Freiheitsdichter des Wilhelm Tell – ein Akt indirekter politischer Kritik am Fortbestehen repressiver Zensurpolitik in den Staaten des Deutschen Bundes. Bandel hat inzwischen in Hannover seine Denkmalpläne im Stillen weiter verfolgt. 1862 nimmt er die Arbeiten energisch wieder auf31 und gründet dort einen Hermannsdenkmal-Verein. Nach zwei siegreichen Kriegen 1864 und 1866 besucht der preußische König Wilhelm I. Bandel 1869 in seiner Werkstatt in Hannover32 – ein Zeichen für die bewusst propagandistisch inszenierte ‚deutsche Sendung‘ Preußens nach dem ‚deutschen Bruderkrieg‘? Schon bald nach der Reichsgründung debattiert und genehmigt der Deutsche Reichstag 1871 eine Petition des Hannoverschen Vereins für das Hermannsdenkmal zwecks Bewilligung einer 10000-Taler-Spende zur Vollendung des Denkmals,33 und der Kaiser legt 1874 noch 9000 Taler dazu. So kann das Denkmal vollendet werden.

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Ludwig August von Rochau (1810–1873) veröffentlichte 1853 sein bekanntestes Werk über die Grundsätze der Realpolitik. 1862–1866 Fertigstellung des Kopfes mit dem Helm, des rechten Armes mit dem Schwert, des linken Armes und der beiden Füße bis zur Wade. 1863 Einrichtung

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einer Werkstatt zum Schmieden. Seit 1870 lebt Bandel zeitweilig in der dann nach ihm genannten Hütte am Denkmal. 14. Juni 1869. Reichstagsdebatte vom 5. Mai 1871 (Sten. Ber. über die Verhh. des Dt. RT, S. 561ff.).

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Abb. 6 | Festversammlung zur Einweihung des Hermannsdenkmals am 16. 08. 1875.

Am 16. August 1875 erfolgt die feierliche Einweihung des Hermannsdenkmals in Gegenwart von Kaiser, Kronprinz, anderen deutschen Prinzen und vielen Fürsten und hochgestellten Militärs.34 Vergleicht man diese Feier mit der von 1841, so ist zum einen die gegenüber dem Vormärz völlig veränderte Situation zu berücksichtigen. Der lang gehegte Traum einer nationalstaatlichen Einigung hat sich erfüllt, wenn auch mit erheblichen Abstrichen gegenüber den kulturnationalen Vorstellungen der Vormärz-Generation. Denn das neue kleindeutsche Reich umfasst nicht alle Gebiete und Menschen, ‚so weit die deutsche Zunge klingt‘, und das süddeutsch-katholische Kulturmilieu ist mit dem Ausscheiden Österreichs geschwächt. Und vor allem die drei ‚Bruderkriege‘ Bismarcks – so der Sprachgebrauch der Zeit – passen nicht zur Hoffnung der Liberalen, Einheit in Freiheit zu erreichen. Auf der Woge der nationalen Begeisterung aber trösten sie sich mit der Aussicht, nach der Einheit auch die Freiheit im größeren Ganzen durchsetzen zu können. Für die Selbstdarstellung der geeinten und nicht mehr sich traumatisch als ‚verspätet‘35 empfindenden Nation ist als unmittelbarer Erfahrungshintergrund im Jahr 1875 wichtig, dass für die Außenbeziehungen mit der Krieg-in-Sicht-Krise die Konfrontation mit dem zum ‚Erbfeind‘ avancierten Frankreich im Bewusstsein präsent bleibt. Innenpolitisch ist von Bedeutung, dass seit Beginn des Kulturkampfes Katholiken es zunehmend als schwierig empfinden, sich im protestantisch-kleindeutschen Reich als gleichberechtigte Staatsbürger zu fühlen und nicht als ‚innere Reichsfeinde‘ abgestempelt zu werden. Theodor Schieder hat daher die Frage aufgeworfen, ob nach der erfolgten äußeren Reichsgründung die innere noch nachzuholen gewesen sei.36 34

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Für das Folgende ist insbesondere auf den Aufsatz von Veddeler (1975) zu verweisen, ferner Nockemann (1975). Vgl. auch Carl Schierenbergs Erinnerungen Aus vergangenen Tagen, erschienen 1927, und der einschlägige Tagebuchbericht des damals 17-jährigen. Der Begriff der ‚Verspätung‘ geht auf Helmuth Plessners im Groninger Exil entstandene Schrift Das Schicksal des deutschen Geistes im Ausgang seiner bürgerlichen Epoche (1935) zurück. Diese erlangte später unter dem Titel Die verspätete Nation. Über die politische Verführbarkeit bürgerlichen Geistes (1959) Berühmtheit.

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Aus der Rückschau des Historikers lag es nahe, die Ursachen der katastrophalen politischen Entwicklung Deutschlands im 20. Jahrhundert im Scheitern der inneren Reichsgründung, in der inneren Zerrissenheit zwischen Klassen, Konfessionen, Weltanschauungen und Parteien zu sehen. Diese These aber wirft zahlreiche Fragen auf, u.a. die, was unter ‚innerer Reichsgründung‘ zu verstehen sei. Steht dahinter die nicht unproblematische politische Leit- und Wunschvorstellung einer inneren Homogenität der Nation?

Die Festveranstaltungen zur Einweihung des Denkmals 1875 erstreckten sich über mehrere Tage. Die Ankunft und Begrüßung der hochgestellten Gäste sorgten für Aufregung und freudige Erregung. Viele Besucher aus dem In- und Ausland mussten untergebracht werden: Abordnungen von Vereinen, Sängern, Turnern, Korporationen, der Deutschen aus dem Ausland, zahlreiche Pressevertreter renommierter Tageszeitungen und gern gelesener Familienzeitschriften wie der Gartenlaube oder Über Land und Meer, aber auch der ausländischen Zeitungen wie der Times und des New York Herald. Glückwunschadressen von Deutschen aus Rom, den Siebenbürger Sachsen und den Deutschen aus China trafen ein.37 Den Auftakt der Feierlichkeiten bildete am 14. August die Einweihung eines Kriegerdenkmals für die Gefallenen des Deutsch-Französischen Krieges.38 Nach einer militärischen Parade auf dem Schlossplatz in Detmold erfolgte die Enthüllung des Denkmals bei der Grotenburg im Teutoburger Wald mit Hoch auf Kaiser und Landesfürsten.39 Am 15. August traf der Kaiser ein und wurde mit einem Fackelzug begrüßt. Der 16. August war der eigentliche Höhepunkt mit reichhaltigem Programm.40 Eine Menschenmenge von 20000 bis 30000 erwartete am Denkmal den Festzug aus Detmold und den Kaiser. Dort sprach zuerst der lippische Generalsuperintendent Adolf Koppen.41 Er stellte seine Ansprache unter das alttestamentliche Bibelwort: „Mit uns aber ist der Herr, unser Gott, und der Herr helfe uns und führe unseren Streit.“42 Er schloss mit den Worten: „Gott sei es geklagt, dass es noch Deutsche gibt, denen die Herrlichkeit des Deutschen Reiches ein Dorn im Auge ist und die mit aller Macht dem deutschen Geiste entgegenarbeiten.“ Diese Worte, im Kulturkampf gesprochen,43 wurden vermutlich gegen als national unzuverlässig geltende, da Rom-hörige Katholiken verstanden und fügten sich in einen preußisch-protestantisch verengten Begriff von Nation; aber auch Sozialdemokraten konnten gemeint sein, die häufig verdächtigt wurden, sogenanntem ‚deutschem Geist‘ entgegenzuarbeiten und die Internationale vor die Nation zu stellen. Dieser kulturkämpferische Akzent lässt sich auch in der Presse nachweisen. So erschien im Kladderadatsch eine Karikatur mit der Unterschrift „Gegen Rom!“44 Gezeigt wurde auf ihr links der Bandelsche Hermann, auf seinem Schild als Sieger über die Römer die Aufschrift „Vici!“ („Ich habe gesiegt!“), rechts Luther, eine Bibel in der Hand haltend mit der Aufschrift: „Vincam!“ („Ich werde siegen!“), an37 38

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Dazu Veddeler (1975) und Nockemann (1975). Dazu Veddeler (1975) 171 und Nockemann (1975) 46. Das preußische Infanterieregiment Graf Bülow von Dennewitz (6. Westf älisches) Nr. 55 galt als lippisches Regiment. Sein Stab und das 3. Bataillon waren in Detmold stationiert. Am 14. August 1870 (!) hatte dieses Regiment vor Metz einen kriegsentscheidenden Sieg errungen. Das Denkmal wurde in Gegenwart der Hofgesellschaft, von Detmolder Schulklassen und Kriegervereinen nach Ansprachen des Kommandeurs des 7. Armeekorps und des Detmolder Bürgermeisters und einem Hoch auf Kaiser und lippischen Landesfürsten enthüllt. Weiß gekleidete Ehrendamen bekränzten das Denkmal, und eine Batterie mehrerer Schüsse wurde abgegeben. Nach Veddeler (1975) 171f. umfasste das Programm des Festtages: Vortrag patriotischer Lieder auf dem Marktplatz, Wecken durch Militärmusik, Abnahme der Parade des 6. Westf älischen Infanterieregiments Nr. 55 auf dem Schlossplatz durch Kaiser Wilhelm, um 9 Uhr Aufstellung des Festzuges, der, angekündigt durch Kanonensalut, durch die geschmückten Straßen, vorbei an

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Ehrenpforten, in Richtung Denkmal zog und gegen 11 Uhr auf der Grotenburg ankam. Dort hatte sich inzwischen eine Menge von 20000 bis 30000 Menschen versammelt, die auf den Kaiser wartete, der den Festplatz gegen 12 Uhr im Wagen erreichte. General-Superintendent Koppen hielt die Weiherede unter Zugrundelegung eines Textes aus dem 2. Buch der Chronik (32,8). Er knüpfte an die Worte des Kaisers: „Welch eine Wendung durch Gottes Fügung!“, die in dem Telegramm nach der Sedanschlacht enthalten waren, an und wies darauf hin, wie Gott stets den deutschen Heeren in den letzten ruhmvollen Jahren seinen Schutz habe angedeihen lassen, weil die glorreichen Heerführer, wie das Heer selbst, von gleicher Gottesfurcht beseelt gewesen seien. So nach Nr. 33 der Provinzial-Correspondenz 13. Jg. vom 18. August 1875. 2 Chr 32,8. Tacke (1995) 217 spricht davon, mit Kaiser und Generalsuperintendent habe der Kulturkampf Einzug in das Fest gehalten. Kösters (2009) 245.

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Abb. 7 | Hermann und Luther im Kladderadatsch.

gesichts drohender Gewitterwolken über der Kuppel des Petersdoms seinen Sieg über den Katholizismus ankündigend. Die eigentliche Festrede des Geheimen Regierungsrates Otto Preuß (1816–1892)45 zeugte vom Stolz der geeinten Nation. Er führte in seiner – offenbar zu langen – Rede46 u.a. aus: „Wir stehen wieder da, geehrt und gefürchtet im Rate der Völker, ihnen nicht bloß ein Volk der Dichter und Denker, sondern auch wehrbereit und waffengewaltig, ein Volk der selbstbewussten Tatkraft … unser neu erstandenes Reich, … jetzt unter Kaiser Wilhelms ruhmreichem Scepter … seinen schützenden Arm ausbreitend über jeden Deutschen auf dem Erdenrund, frei im Innern und kraftvoll nach Außen, fest verbunden … durch das starke Band der im gemeinsamen opfervollen Kampfe erprobten Einigkeit der deutschen Stämme und ihrer Fürsten … Ja, die Träume unserer Jugend … haben sich verwirklicht … wir sind wieder ein Volk und wollen es bleiben mit Gottes Hilfe von nun an immerdar.“47 Preuß bewegt sich hier ganz auf der Bismarckschen auf außenpolitische Wirkung ausgerichteten Deutungslinie einer Saturiertheit des jungen Reiches, das nicht länger als europäischer Unruheherd empfunden werden sollte. Allerdings erfolgt dieser Auftritt nun in der selbstbewussten Pose der Stärke dessen, den man nicht ungestraft angreift. Nach der Rede wurde die schwarz-weiß-rote – nicht die schwarz-rot-goldene! – Fahne unter Salut gehisst, ein dreifaches Hoch auf Deutschland, Kaiser und Reich ausgebracht und dann als zweifellos emotionaler Höhepunkt die Ehrung Ernst von Bandels durch den Kaiser auf dessen Tribüne vorgenommen. Große Rührung des Erbauers, der als einer der letzten der Gründergeneration ein Jahr vor seinem Tod noch die Vollendung seines Lebenswerkes erleben konnte. Moritz Leopold Petri war schon 1873 ge45 46

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Leiter der fürstlichen Bibliothek und Erforscher der lippischen Geschichte. Durch Schlussrufe und Lärmen der ermüdeten Menge unterbrochen, so Veddeler (1975) 172 nach dem Bericht

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der Weser-Zeitung aus Bremen in ihrer Abendsausgabe vom 19. August 1875. Veddeler (1975) 172 nach der Königsberger Hartungschen Zeitung vom 19. August 1875, Abendausgabe.

Abb. 8 | Der Kaiser und der Künstler, Wilhelm I. und Ernst von Bandel.

storben, und ob die selbstbewusste Siegesfeier in seinem Sinn gewesen wäre, muss offen bleiben. Bandel selbst hatte dem Detmolder Bürgermeister geschrieben,48 er wünsche für das Fest der Übergabe an das deutsche Volk „nicht“ einen „Tag irgend eines Sieges über Fremde“, sondern „in guter Jahreszeit“.49 Andererseits aber hatte das Denkmal durch verschiedene Inschriften während der letzten Bauphase auch durch ihn einen stark antifranzösischen und aggressiven Akzent erhalten. Auf dem Schwert stand: „Deutsche Einigkeit meine Stärke. Meine Stärke Deutschlands Macht“. Auf dem Schild: „Treufest“. In den Nischen: „Tacitus, Annales II,88: Arminius liberator haud dubie Germaniae … bello non victus“; und auf dem Relief Kaiser Wilhelms I. stand: „Der lang getrennte Stämme vereinigt mit starker Hand, der welsche Macht und Tücke siegreich überwand, der längst verlorene Söhne heimgeführt zum

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Veddeler (1975) 170. Brief Bandels vom 28. November 1874 an den Detmolder Bürgermeister Dr. Heldman: „Ich schlage vor: in guter Jahreszeit – nicht an einem Tage irgendeines Sieges über Fremde, werde eine ganze oder halbe Woche festgesetzt, in der das vollendete Denkmal dem Deutschen Volke übergeben werde, es möge es dann selbst übernehmen und die Übernahme durch selbst gewählte Handlungen bekunden …“. Eine Verknüpfung mit dem Deutsch-Französischen Krieg und der Schlacht bei Sedan (2. September 1870)

fand schon vor Vollendung des Hermannsdenkmals statt: Erstmals wurde am 2. September 1871 hier ein Sedanfest gefeiert. „Die Sedanfeierlichkeiten blieben bis weit in die Zeit der Weimarer Republik ein fester Bestandteil der am Denkmal stattfindenden nationalen Festkultur“, so Mellies (2009b) 225, damit Dörner (1995) 243 folgend. Auch die Einweihungsfeier 1875 hatte ursprünglich am Sedantag stattfinden sollen, dem aber Bandel mit Erfolg widersprochen hatte.

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Deutschen Reich, Armin, dem Retter, ist er gleich“. Wilhelm I. wurde nun immer häufiger mit Hermann/Arminius gleichgesetzt, und an die Stelle der Römer waren die Franzosen getreten. Auch die Volksstimmung, so weit sie sich in der Presse und in anonymen Veröffentlichungen niederschlug, war stark antifranzösisch gef ärbt. So hieß es in einem Gedicht in der Weser-Zeitung vom 18. August 1875: „Am Teutoberge steht das hohe Standbild des Helden Hermann … Wie der CheruskerFürst die Väter führte, so ziehet Kaiser Wilhelm uns voran; … Ob röm’sche Pfaffen sich in Herrschsucht wiegten … Wir gehen sicher nach Canossa nicht … Nicht woll’n wir Römer, sondern Deutsche sein!“50 Auf der Gegenseite sparte auch die französische Presse nicht mit anti-deutschen Klischees in chauvinistischen Artikeln.51 Die Gegnerschaft der Erbfeinde erhitzte die Gemüter auf beiden Seiten des Rheins. Um auf das vorstehend angeschnittene Problem des Zeitgeistes zurückzukommen: Gut getroffen hat die allgemeine Stimmung wohl ein Bandel gewidmetes Gedicht eines Literaten aus Detmold.52 Darin heißt es: „… Ein einig Deutschland groß und gleich Ein Segen bringend mächtig Reich Wo Fürst und Volk ein Band umschlingt. … Wie einst vor achtzehnhundert Jahr … So sei uns Deutschland Einigkeit Ein Schutz und Schein für alle Zeit. … Drum hoch dem echten deutschen Reis! Dir Kaiser ‚Wilhelm‘ Lob und Preis, Der du ein zweiter ‚Armin‘ gleich Erschafft ein neues Deutsches Reich, Und hoch, dir Meister, der in Pracht, im Wald erbaut die ‚Deutsche Wacht‘! … Gleich wie auf hohem Felsgestein, ‚Steht fest und treu die Wacht am Rhein‘, So kling vom Teutoburger Wald In Deutschland dass es wiederhallt: ‚Seit Deutsche unserem ‚Hermann‘ gleich: Gott, schütze Kaiser und das Reich!‘“

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Veddeler (1975) 170. – Bismarcks berühmt-berüchtigte ‚Canossa-Rede‘ wurde im Mai 1872 im Reichstag gehalten. Viele Karikaturisten nahmen das Bild auf. Veddeler (1975) 169 führt als einen Beleg die Pariser Correspondance Universelle an. Dort hieß es: „Der Arminius ist ungeheuerlich. Bandel hat seinem Arminius dicke Lippen, wilde nach Westen gerichtete Augen, einen grausamen Zug und das Ansehen einer Rothaut mit einem Kinnbart gegeben … die Preußen können diesen Barbaren aus anderen Gründen als einen der Ihrigen in Anspruch nehmen … Varus war der größte General und hervorragendste Politiker seiner Zeit. Ihm war es zu danken, dass die Künste, Wissenschaften, die liebens-

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würdigen und milden Sitten der Latiner, mit einem Worte die römische Höflichkeit an der Grenze eines Landes blühte, in welchem Alles trübe und rau ist, der Charakter, die Sprache, das Klima, die Wälder …“. Auch hier also eine Argumentation mit nationalen Klischees! Es trägt den Titel „Seiner Hochwohlgeboren Herrn Ernst von Bandel Ritter pp dem Schöpfer des ‚Hermann‘ Denkmals in Liebe und inniger Verehrung gewidmet von Hermann Weber, Literat. Detmold 20. August 1875“, abgedruckt im Ausstellungskatalog Ernst von Bandel der Schöpfer des Hermannsdenkmals in seiner Zeit der Lippischen Landesbibliothek von 1975, H. 2, 53f.

Als Résumé zur Einweihungsfeier 1875 lässt sich festhalten: Das Denkmal war nicht mehr wie 1841 Erinnerung an die Befreiung Germaniens von römischer bzw. französischer Herrschaft und Mahnung zu innerer Einheit, sondern Symbol des Sieges über Frankreich, den ‚Erbfeind‘, Symbol deutscher Einheit und Stärke.53 Stolz sprach man den Willen aus, diese Einheit „wehrhaft und waffengewaltig“ gegen äußere – „welsche Tücke“ – und innere Feinde – Katholiken und Sozialdemokraten – zu verteidigen. Protestantisch-kulturkämpferisch wurde Arminius zum Symbol gegen Frankreich, das neue Rom.

3. Die Generation des imperialen Wilhelminismus – das Beispiel der 1900-Jahrfeier der Varusschlacht 1909 Die Generation, die 1909 eine Festwoche ‚1900 Jahre Varusschlacht‘ inszenierte, war im Unterschied zur Reichsgründungsgeneration ganz selbstverständlich in einem Nationalstaat aufgewachsen, der wirtschaftlich prosperierte, mit den Weltmächten gleichzog und auf der Weltbühne einen ‚Platz an der Sonne‘54 beanspruchte. Wilhelm II. als Repräsentant dieser Generation verstand sich im Unterschied zu Wilhelm I., seinem Großvater, voll und ganz als deutscher Kaiser und nicht wie dieser in erster Linie als preußischer König. Zwar blieb sein großsprecherisches Bramabarsieren auch in Deutschland nicht ohne Kritik – so vor allem nach der Daily-Telegraph-Aff äre von 1908 –, und Joachim Radkaus Charakterisierung dieser Jahre als „Zeitalter der Nervosität“55 trifft sicher neuralgische Punkte. Aber das Gros der Deutschen glaubte in einer heilen Welt zu leben und sah optimistisch in die Zukunft. Vom Beginn des 21. Jahrhunderts her gesehen erscheinen uns zwar die Zeichen überdeutlich. Die meisten Zeitgenossen aber hätten damals vermutlich voller Stolz vermerkt, Deutschland habe erfolgreich seinen eigenen Weg in die technologisch-wirtschaftliche Moderne gefunden. Die Festwoche vom 14. bis 22. August braucht hier nicht mit allen Programmpunkten dargestellt zu werden.56 Aus der Vielzahl der Aktivitäten seien hier jedoch drei herausgegriffen, an denen die Bandbreite des Dargebotenen deutlich wird. Am Haupttag, Sonntag dem 15. August, fand ein ‚Großer Germanenzug‘ statt, der „in seinem ersten Teile den Siegeszug der Deutschen nach der Schlacht im Teutoburger Wald darstellen, im zweiten ein anschauliches Bild des Lebens der alten Germanen und ihrer Kultur geben“ sollte.57 900 Personen gingen im Zug mit, und 200 Pferde und Zugtiere wurden aufgeboten. Die Germanentümelei war naivunkritisch und wirkt vor dem Hintergrund unserer Kenntnis späterer völkischer Fehlentwicklungen problematisch. Für die Zuschauer damals aber war das Spektakel sicher unterhaltsam – und heutiger touristischer Kitsch ist nicht geschmackvoller. Um mit modernsten technischen Mitteln möglichst viele Menschen teilnehmen zu lassen, wurde der Germanenzug gefilmt. Es handelt sich um die zweitältes53 54

Kösters (2009) 240. Die Wortprägung vom ‚Platz an der Sonne‘ geht zurück auf eine Äußerung des deutschen Staatssekretärs im Auswärtigen Amt und späteren Reichskanzlers Bernhard von Bülow in einer Reichtagsdebatte am 6. Dezember 1897. Im Zusammenhang mit der deutschen Kolonialpolitik formulierte er: „Mit einem Worte: wir wollen niemand in den Schatten stellen, aber wir verlangen auch unseren Platz an der Sonne.“ Später prägte sich die Wendung als eingängige Formel für deutsches Weltmachtstreben in der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg ein, als die Bismarcksche Bündnispolitik aufgegeben wurde und wilhelminische Außenpolitik zum Flottenwettrüs-

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ten mit Großbritannien führte, und wurde zum geflügelten Wort. Radkau (1998) und Ullrich (1997). Veddeler (1975) 173–176 und Nockemann (1975) 52–56. Zitiert nach Nockemann (1975) 54. Veddeler (1975) 174f. führt nach der Festschrift von 1909 die Liste der uns komisch anmutenden Formationen der „Germanischen Spitzenreiter“ des Umzuges an. Kösters (2009) 248–254 bringt Fotos vom Festzug. Er weist darauf hin, dass auch Bayreuther Inszenierungen des Wagnerschen Ring 1876 ähnliche Germanenvorstellungen auf die Opernbühne gebracht hatten.

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Abb. 9 | Plakat zur 1900-Jahr-Feier in Detmold.

ten Filmaufnahmen aus Lippe.58 Wir beobachten an diesem Beispiel die zeittypische und für das Deutsche Reich und Wilhelm II. persönlich bezeichnende Verbindung hochmoderner technischer Mittel mit rückwärtsgewandten Vorstellungen. Die eigentliche Festrede hielt der angesehene Historiker Hans Delbrück.59 Auf hohem Niveau und fern von imperialer Großsprecherei erteilte er einseitiger Germanenverherrlichung eine eindeutige Absage. Stattdessen kam er zu dem Schluss, „die deutsche Kultur [sei] erst durch die Synthese von germanischem Geist, römischer Kultur und christlichem Denken“60 entstanden. Für 4000 Schüler gab es am 18. August eine Veranstaltung auf der Grotenburg. Die dort gehaltene Rede eines Lehrers aus Lage, offenbar eines Verehrers Bismarcks, sah in diesem die Verkörperung des Hermannsgeistes, und er nannte Bismarck den größten Deutschen nach Hermann.61 Vielleicht sprach aus der Bismarckbegeisterung, die nach dem Tod des ersten Reichskanzlers verstärkt aufgekommen war, auch ein Stück Kritik am Kaiser und Distanzierung gegenüber Wilhelm II.

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Die ersten Filmaufnahmen waren 1907 anlässlich der ‚Einholung‘ des Fürsten Leopold IV. nach der Beilegung des lippischen Thronfolgestreites gemacht worden und waren nicht für die breite Öffentlichkeit bestimmt. Müller (1996) 8 schreibt: „Sie dienten dem neuen Fürstenhaus als Mittel der Selbstvergewisserung und zum

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Festhalten des größten Triumphs – nach all den Aufregungen und Investitionen gleichsam ein internes, auf Zelluloid gebanntes ‚Es ist erreicht‘“. Textauszug bei Veddeler (1975) 176. Veddeler (1975) 176. Nach Nockemann (1975) 56.

Abb. 10 | Germanenumzug zur 1900-Jahr-Feier in Detmold.

Die Feiern insgesamt, ohne Kaiser62 und hohe Fürstlichkeiten wie noch 1875, waren trotz der großen Rede Delbrücks Teile eines überwiegend entpolitisierten, unterhaltenden Volksfestes von regionaler Bedeutung.

4. Die Nachkriegsgeneration in der Weimarer Republik: Das Jubiläum 50 Jahre Hermannsdenkmal 1925 Als man 1925 das 50-jährige Jubiläum des Denkmals feierte, war die Welt für die Deutschen grundlegend verändert gegenüber der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg. Kein imperiales Hochgefühl, kein kraftstrotzender Optimismus, keine wirtschaftliche Aufstiegsdynamik. Vor dem Hintergrund des Traumas des verlorenen Krieges und des ‚Diktats von Versailles‘, der wirtschaftlichen, sozialen und politischen Krisen der Inflationszeit, des Ruhrkampfes, der harten Politik Poincarés und des Separatismus war die Festwoche politisch ausgesprochen schwarz-weiß-rot gef ärbt. Der wenige Monate vorher gewählte

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Mellies (2009a) 264: Im Vorfeld der Festvorbereitungen hatte das lippische Fürstenhaus dafür gesorgt, dass we-

gen des lippischen Thronfolgestreits (1895–1905) der Kaiser nicht eingeladen wurde.

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Reichspräsident von Hindenburg63 sowie zahlreiche führende Politiker wie Reichskanzler Luther,64 Außenminister Stresemann65 und der lippische Landespräsident Drake66 schickten Grußworte, die der Hoffnung auf Konsolidierung und Wiederaufstieg Deutschlands Ausdruck verliehen. An den Veranstaltungen aber nahmen sie nicht teil. Die Festveranstaltungen zogen sich über fast drei Wochen hin.67 Teile des Festprogramms waren seit Jahren etabliert und ritualisiert. Es gab Kundgebungen von Vereinen und Verbänden, Konzerte,68 Theateraufführungen,69 einen Festumzug von Sängern, Turnern und vaterländischen Verbänden, Wanderungen, einen Fackelzug, ein Feuerwerk und sportliche Wettkämpfe. Auf einen einheitlichen Nenner lassen sich diese Veranstaltungen nicht bringen; vielmehr spiegelt sich in ihnen das Nebeneinander politischer Teilkulturen70 und die innere Zerrissenheit der Deutschen. Neu war, dass neben einem evangelischen auch ein katholischer Feldgottesdienst71 stattfand. Aufsehen und überregionale Aufmerksamkeit erregte ein großer Hermannslauf der Deutschen Turnerschaft.72 Die eigentliche Festrede hielt der deutschnationale Reichstagsabgeordnete Gottfried Reinhold Treviranus. Die Predigt des lippischen Landessuperintendenten August Wessel (1901–1930) war in ihrer politischen Ausrichtung gegen den französischen ‚Erbfeind‘ gerichtet und traf damit vermutlich die Stimmung seiner Zuhörer. Am Fuße der Grotenburg beschwor er den „vaterländischen Gedanken“. Sein Wunsch war, der „Tag innerer Einkehr“ solle „zugleich innerer Erhebung“ dienen. Und er nannte den Festtag einen „Tag, an dem Einigkeit und Recht und Freiheit als des Glückes Unterpfand einem von welschem Übermut bedrückten, aber nicht zerknickten Volke von neuem geschenkt wird … Wir ballen auch heute wieder die Faust gegen den Erbfeind, der seit 1000 Jahren der Störenfried Europas ist und uns das Schlimmste anfügen möchte.“ Dagegen argumentierte der deutschnationale Politiker Gottfried Reinhold Treviranus (1891–1971) in seiner Festansprache weniger kämpferisch als der Geistliche, war auf innere Versöhnung ausgerichtet und verteidigte die Parteiendemokratie. Er wandte sich „gegen Parteienhader …, gegen Bruderzwist und Vetternneid, gegen das Erbübel der Zwietracht“ und betonte: „Gegensätze der Parteien können das Staatsleben beschwingen, wenn vaterländisches Wollen sie beseelt.“ Und er beschwor die Zuhörer: „Bannt aber den Unfrieden, wenn es um Land und Volk gegen das Übelwollen ringsum, gegen den 63

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Reichspräsident von Hindenburg schrieb: „Das Denkmal des Cheruskers auf der Grotenburg ist ein Nationalgut des deutschen Volkes geworden. Möge es eine Mahnung sein für jeden Deutschen, seine ganze Kraft einzusetzen zum Wiederaufbau unseres schwer geprüften Vaterlandes; und möge es uns auch daran erinnern, dass wir dies Ziel nur durch Einigkeit erreichen können!“ Dieses und die drei folgenden Zitate nach der Jubiläumsschrift (1975). Reichskanzler Hans Luther sprach vom „Wahrzeichen deutscher Einheit und deutscher Freiheit“. Reichsaußenminister Gustav Stresemann schrieb: „Verstandespolitik ohne vaterländisches Gefühl wird dauernd nie das deutsche Volk befriedigen.“ – Für die Entwicklung des Mythos im 20. Jahrhundert wäre eine Beschäftigung mit der politischen Rolle Hindenburgs von besonderem Interesse. Ausgestattet mit der Autorität des Siegers von Tannenberg hatte er 1919 vor dem Untersuchungsausschuss des Deutschen Reichstages zur Kriegsschuldfrage mit Überzeugung die sogenannte ‚Dolchstoßlegende‘ vertreten. In ihr erfolgt eine – nach Münkler – ‚Mythenkoppelung‘ zwischen Hermann/Arminius und Siegfried, die in den 20er Jahren eine breite Wirksamkeit entfaltete.

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Der lippische Landespräsident Heinrich Drake rief auf „zur Förderung der Wohlfahrt und der inneren Geschlossenheit unseres schwer geprüften deutschen Volkes … und … dass uns nicht schale Äußerlichkeiten, sondern innere Verbundenheit mit allem Wahren, Guten und Schönen ziemen.“ Zu den Ereignissen vom 1. bis 19. August 1925 vgl. Veddeler (1975) 176–180, Nockemann (1975) 56–60 und Mellies (2004) 335–373. Dem patriotisch-heroischen Politikverständnis scheinbar entsprechend erklangen der Schlusschor aus Wagners Meistersingern und aus Beethovens 9. Symphonie. Kleists Hermannsschlacht wurde aufgeführt. Grabbes Schauspiel harrte noch seiner Uraufführung während des Dritten Reiches. Müller (1996) 172. Die Kulturkampfzeit der 70er Jahre des 19. Jahrhunderts lag weit zurück, und das Zentrum war längst zur republik-tragenden Partei geworden, die in Wahlen auf ein relativ konstantes Wählermilieu zurückgreifen konnte und in fast allen Kabinetten Weimars vertreten war. Nockemann (1975) 107.

Abb. 11 | Werbepostkarte des Jungdeutschen Ordens, 1921.

Geist der Nation geht“. Schließlich richtete er den Blick auf die Zukunft, in der Deutschland „Selbstbestimmungsrecht und Gleichberechtigung als Recht fordern“ werde. Treviranus schloss seine Rede mit an Luthers Sprache erinnerndem Pathos: „Das Reich muss uns doch bleiben. Im Leben und Sterben: Es lebe unser heiliges, unteilbares deutsches Vaterland. Du musst bleiben, Land, wir vergehn!“73 Eindrucksvoller als diese Festrede war zweifellos für die meisten Teilnehmer des Festes der große Turnerlauf.74 Die Turner verstanden sich im Sinne ihres Turnvaters Jahn als ‚Geburtshelfer des Hermannsdenkmals‘, hatte dieser doch in Hermann seinen Lieblingshelden gesehen, ihn einen ‚Volksheiland‘ genannt, und sein enger Mitarbeiter Hans Ferdinand Maßmann75 hatte mit Liedern, Büchern und Geldsammlungen unermüdlich Bandels Pläne unterstützt.76 Nun veranstalteten die Turner symbolträchtig den größten Staffellauf in der Geschichte der Deutschen Turnerschaft. Er war dem Stern-Eilbotenlauf nachempfunden, der 1913 zur Einweihung des Völkerschlachtdenkmals in Leipzig stattgefunden hatte. Nun kamen in 16 Hauptläufen und 52 Nebenläufen von Grenzorten des Reiches – „von der Maas bis an die Memel, von der Etsch bis an den Belt!“ – Grüße der Auslandsdeutschen, der Grenzgaue, 73

Bei solchen politischen Überzeugungen nimmt es nicht Wunder, dass Treviranus die DNVP verließ, als unter Hugenberg ab 1928 ein scharf reaktionärer Kurs eingeschlagen wurde. Sein eigener Versuch einer Parteigründung für einen moderaten Konservatismus – der Volkskonservativen Vereinigung – scheiterte 1930.

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Müller (1996) 148–184. Hans Ferdinand Maßmann, Armins’s-Lieder. Nebst einem Anhang anderer Gedichte, München 1839; Arminius-Bücher etc., vgl. Kösters (2009) 212 und Tacke (1995) 97 u. Anm 313, 92. Müller (1996) 152.

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Abb. 12 | Karte zum Hermannslauf der deutschen Turnerschaft zum 50. Jahrestag der Einweihung des Hermannsdenkmals.

der Turnfeststädte und des Reichspräsidenten. Am Hermannsdenkmal wurden von den Schlussläufern an die 80 Urkunden überreicht. Diese kamen u.a. von Turnvereinen aus Nord- und Süddeutschland, Afrika, Dänemark, Holland und Spanien.77 Die Urkunden der 16 Staffelläufer übernahm der Lippische Turngau an den Landesgrenzen Lippes. Außer den Turnern waren am Denkmal rechte Organisationen zahlreich vertretenen: der Jungdeutsche Orden mit seinem Redner Artur Mahraun, der ,Stahlhelm. Bund deutscher Frontsoldaten‘; überwiegend schwarz-weiß-rote Fahnen gaben der Festwoche ihren ins Auge springenden konservativantirepublikanischen politischen Akzent. Die Stimmung war überwiegend monarchistisch und vergangenheitsorientiert. Der Nährboden für eine Mythologisierung des in die Rolle des Ersatzmonarchen hineinwachsenden Reichspräsidenten zu Hermann oder Siegfried war bereitet.

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Nockemann (1975) 107.

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Abb. 13 | Wahlhelfer der NSDAP in SA-Uniform vor dem Hermannsdenkmal, 1933.

5. Parteipolitische Indienstnahme des Germanen-Mythos durch völkische und nationalsozialistische Gruppen bis 193378 Seit dem Ersten Weltkrieg war nicht mehr zu übersehen, dass das Denkmal zunehmend nicht nur politisch, sondern auch parteipolitisch instrumentalisiert wurde. Das Denkmal war in doppelter Stoßrichtung eingesetzt worden: nach innen im Sinne des Burgfriedens – Wilhelm II. 1914: „Ich kenne keine Parteien, ich kenne nur Deutsche!“ –, nach außen gegen die Feinde Frankreich und Italien. Nach dem Krieg wurde der Germanen-Mythos gegen den Versailler Vertrag mobilisiert: ‚Germania in Ketten‘ war ein beliebtes Motiv. Das Denkmal wurde zunehmend Treffpunkt völkischer Gruppen. Die Grotenburg avancierte zur nationalen Wallfahrtsstätte und wurde neben den Externsteinen zum Ort von Wintersonnenwendfeiern, beliebt bei Völkischen und Germanenbegeisterten um Wilhelm Teudt.79 78 79

Mellies (2004). Der ausgebildete Theologe und selbst ernannte Germanenforscher Wilhelm Teudt (1860–1942) lebte seit 1921 in Detmold und versammelte in den 20er Jahren im Lippischen völkische, neuheidnische und esoterische Kreise um sich. Zeitweise von den Nationalsozialisten

vereinnahmt bzw. mit diesen zusammenarbeitend, zerfiel auch dies Bündnis rasch. Seine Thesen wurden von der seriösen Wissenschaft nie anerkannt. Derzeit ist erneut der politische Streit darüber entflammt, ob ihm die Ehrenbürgerschaft der Stadt Detmold entzogen werden solle.

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Abb. 14 | Wahlplakat der NSDAP zur lippischen Landtagswahl.

Auch wurde sie zum beliebten Ausflugsziel für die ‚alte Garde‘ der NSDAP. Im Unterschied zur Deutung durch konservative Kreise, die vorwiegend rückwärtsgewandt die germanische Vorzeit beschworen hatten, richtete sich die Erwartung der Nationalsozialisten auf einen zukünftigen neuen Führer, der wie Arminius zu Einheit und Stärke führen solle. Anlässlich des Reichstagswahlkampfes im Sommer 1932 veranstaltete die NSDAP eine Großkundgebung am Hermannsdenkmal, und der kurze lippische Landtagswahlkampf zur berühmt-berüchtigten Wahl vom 15. Januar 1933 wurde als ‚Zweite Schlacht im Teutoburger Wald‘ bezeichnet und unter der Parole geführt: ‚Macht frei das Hermannsland!‘

6. Schwierigkeiten der Nachkriegsgeneration mit Nationalsymbolen nach 1945. 1950: 75 Jahre Hermannsdenkmal, 1975: 100 Jahre Hermannsdenkmal, 2000: 125 Jahre Hermannsdenkmal und 2009: 2000 Jahre Varusschlacht80 Nach dem Zweiten Weltkrieg war alles Nationale verpönt, und eine Fortsetzung der Hermannsdenkmal-Feiern im überkommenen Stil war undenkbar; offiziell fürchtete man jede Politisierung. Die Distanzierung der Deutschen von allem Nationalen führte dazu, dass das Hermannsdenkmal heute fast ausschließlich nur noch als regionales Identifikationsmerkmal dient, das touristisch vermarktet wird für Lippe als ‚Land des Hermann‘. 1950 entschloss man sich anlässlich von 75 Jahren Hermannsdenkmal, das Programm bewusst unpolitisch zu halten: Modenschauen, Kochwettbewerbe, Sportveranstaltungen, eine Gedächtnisaus80

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stellung für Ernst von Bandel und andere politisch unverf ängliche touristische Attraktionen ohne Bezug zu Hermann oder Arminius oder zur Varusschlacht wurden angeboten.81 Nur eine einzige Großkundgebung der Ostvertriebenen sprengte diesen Rahmen. Ein Gedenkstein mit der Aufschrift: „Deutsche Frauen und Männer bekennen sich anlässlich des 75-jährigen Bestehens des Hermannsdenkmals einmütig zur Einigung der Völker durch den Frieden“ ließ für patriotische Revisions- und Territorialforderungen keinen Raum. 1975 beging man einhundert Jahre Hermannsdenkmal. Die unmittelbare Nachkriegszeit war vorbei, die Bundesrepublik befand sich in einer günstigen Situation. Am traditionellen Datum, dem 16. August, gab es eine offizielle Feier mit dem Bundesinnenminister Werner Maihofer und einer Festrede von Thomas Nipperdey zum Thema: „Hermannsdenkmal und nationale Tradition“. Eine Ausstellung im Lippischen Landesmuseum ‚Germanen und Römer‘ und eine in der Lippischen Landesbibliothek zu Ernst von Bandel sowie eine Vortragsreihe zeigen den gewählten kritisch-wissenschaftlichen Zugang zum Thema ‚Denkmal‘. Dieser Linie folgte auch das verantwortliche Kuratorium, der Lippische Landesverband, im Jahr 2000, als man das 125-jährige Jubiläum des Denkmals mit einem wissenschaftlichen Symposium beging. In Jahr 2009 nun wurde in einer großen Verbundausstellung zum Thema ‚Imperium – Konflikt – Mythos‘ in Haltern, Kalkriese und Detmold des Ereignisses 9 n. Chr. gedacht. War die Tendenz im 20. Jahrhundert eher gewesen, vom gesamt-deutschen Rahmen sich immer mehr auf die Region Lippe zurückzuziehen, so war dies 2009 anders. Das Hermannsdenkmal und damit der Germanen-Mythos standen nicht allein, sondern wurden mit Kalkriese und Haltern eingebunden in die römische Geschichte und die wissenschaftlichen Kontroversen um den Ort der Schlacht. Durch die Schirmherrschaft der Bundeskanzlerin erhielt die Ausstellung wieder überregionalen, gesamtstaatlichen Charakter. Insgesamt bemühte man sich darum, ohne Indoktrination auf dem derzeitigen Stand wissenschaftlicher Erkenntnis zu informieren. Durch die drei miteinander kooperierenden Ausstellungsstandorte wurde außerwissenschaftlich begründetes regionales Konkurrenzdenken zurückgedrängt. In den Eröffnungsansprachen klang in Abgrenzung von überholtem und gef ährlichem Nationalismus Mut zu einem unverkrampften Patriotismus an. Ob unser Umgang mit nationalen Mythen wieder unbefangener wird, wie die weitere wissenschaftliche Auseinandersetzung mit den anstehenden Fragen erfolgen wird, ob politischer Einfluss oder touristische Interessen sich doch noch durchsetzen – das können wir abschließend heute noch nicht sagen. Aber unsere rechtsstaatlich gesicherte Meinungsfreiheit und Meinungsvielfalt begründet die Hoffnung, dass Arminius in Zukunft nicht, wie in der Vergangenheit mehrfach geschehen, zu neo-nationalistischen Zwecken missbraucht wird, auch wenn man andererseits durchaus ein Fragezeichen hinter die häufig positiv gewertete mythenpolitische Abstinenz und Symbolarmut deutscher Politik setzen kann.

Überlegungen zur Problematik nationaler Mythen in Deutschland An diese letzte Feststellung seien abschließend einige grundsätzliche Überlegungen zu Bedeutung und Funktion politischer Mythen angeschlossen. Zur allgemeinen Problematik hat Herfried Münkler in seinem schon erwähnten Buch erhellende analytische Deutungen angestellt, die nun hier abschließend in Bezug auf das Hermannsdenkmal herangezogen werden sollen. 81

Nockemann (1975) 62f.

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Das Hermannsdenkmal im Teutoburger Wald ist ein besonders gutes Beispiel für einen politischen Mythos. Mythos wird verstanden als kollektive Erinnerung, die für die Identitätsbildung einer politischen Gemeinschaft von Bedeutung ist. Losgelöst von historischer Faktizität wird er unter Gegenwartsbezug von jeder sozialen Generation neu erzählt und dadurch verändert und kann so seine handlungsleitende und orientierende Funktion gemäß den aktuellen Herausforderungen erfüllen. Auf diese Weise wandelt er sich fortlaufend entsprechend dem Erfahrungsraum und Erwartungshorizont der jeweiligen sozialen Generation. Neben der narrativen Form, der Erzählung, kann er auch in ikonischer Verdichtung und durch rituelle Inszenierung Wirkung entfalten. Am Beispiel des Hermannsdenkmals haben wir die ikonische Verdichtung – also den eher statischen Aspekt – des Mythos vor uns, der dann jedoch seine generationenspezifische Auslegung und Funktionalisierung durch die Inszenierung politischer Feste erf ährt. Diesem Grundgedanken folgte die Darstellung der Geschichte des Hermannsdenkmals von seiner Konzeptionierung bis zu seiner Vermarktung zu Beginn des 21. Jahrhunderts. Im Vordergrund stand dabei das 19. Jahrhundert, weil Deutschland, das ,verspätet‘ zu moderner Nationalstaatsbildung gelangte, kompensatorisch eine ‚Denkmalswut‘ entwickelte – wie kritische Zeitgenossen formulierten. Münkler spricht davon, das Bildungsbürgertum habe bis 1871 seine nationalen Erwartungen und Anstrengungen als Ersatz für politische Partizipation auf das Feld des Symbolischen werfen müssen. Es bediente sich dabei verstärkt seit dem Vormärz der neuen Artikulationsformen Verein, Presse und Denkmalbau, die bis dahin obrigkeitlich okkupiert gewesen waren; also schon dies ein Akt politischer Emanzipation, wenn auch in realistischer Rücksicht auf Erfolgsmöglichkeiten in seinem revolutionärem Potential dadurch entschärft, dass man mit den überkommenen Obrigkeiten zusammen ging. Mit der Bismarckschen kleindeutschen Reichsgründung wandelte sich die dem nationalen Mythos zugrundeliegende Funktion: Die anfangs noch fortwirkenden kulturnationalen und völkerverbindenden Elemente traten immer mehr zurück, und die Staatsnation verstand sich zunehmend nationalistisch-aggressiv in Konfrontation mit der gegnerischen Nation Frankreich, das zum ‚Erbfeind‘ avancierte. Spätere Generationen, denen die staatliche nationale Einheit zur Selbstverständlichkeit geworden war, wandten den Mythos von Einheit und Stärke nach innen und beschworen ihn gegenüber sogenannten inneren ‚Reichsfeinden‘, wenn es galt, diese als politisch unzuverlässig oder später als ‚artfremd‘ zu diffamieren. Diese Fehlentwicklung und Perversion während des 20. Jahrhunderts hat dazu geführt, dass die Bundesrepublik auf politische Mythen verzichtete oder höchstens Konsummythen zuließ. Ob diese Abstinenz für große Gemeinschaften, ihren Zusammenhalt, ihre politische Orientierung und Handlungsf ähigkeit auf Dauer tragf ähig ist, darüber zu spekulieren ist nicht Aufgabe der Historikerin. Auch hierzu sei auf die philosophisch-politologischen Anregungen Münklers zustimmend verwiesen.

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Süvern (1974) Wilhelm Süvern, Lippisches Magazin. Die Geschichte einer Heimatzeitschrift, Detmold. Tacke (1995) Charlotte Tacke, Denkmal im sozialen Raum. Nationale Symbole in Deutschland und Frankreich im 19. Jahrhundert, Göttingen. Ullrich (1997) Volker Ullrich, Die nervöse Großmacht. Aufstieg und Untergang des deutschen Kaiserreichs 1871–1918. Frankfurt a. M. Unverfehrt (1975) Gerd Unverfehrt, „Ernst von Bandels Hermannsdenkmal – Ein ikonographischer Vergleich“, in: Günther Engelbert (Hg.), Ein Jahrhundert Hermannsdenkmal 1875–1975, Detmold, 129–151. Veddeler (1975) Peter Veddeler, „Nationale Feiern am Hermannsdenkmal in früherer Zeit“, in: Günther Engelbert (Hg.), Ein Jahrhundert Hermannsdenkmal 1875–1975, Detmold, 167–183. Winkler (2000) Heinrich August Winkler, Der lange Weg nach Westen, 2 Bde., München.

Henning Holsten Arminius the Anglo-Saxon Hermannsmythos und politischer Germanismus in England und den USA

Als im August 1875 Ernst von Bandel in einem pompösen Festakt dem deutschen Volk das Hermannsdenkmal auf der Grotenburg übergab, kam nicht nur ein ungewöhnliches Bauprojekt zu einem späten Abschluss. Jahrzehntelang hatte der Bildhauer an dem Monument gearbeitet, um dessen Finanzierung gekämpft und seinen Symbolgehalt von deutscher Einigkeit und Freiheit den wechselnden nationalpolitischen Konjunkturen angepasst.1 38 Jahre nach der Grundsteinlegung feierte nun die im Teutoburger Wald versammelte vieltausendköpfige Festgemeinschaft nicht nur die Vollendung eines künstlerischen Lebenswerkes, sondern auch die Verwirklichung des dahinter stehenden patriotischen Traumes: die Gründung eines deutschen Nationalstaats. Mit Bezug auf die vermeintlichen Einigungsbestrebungen des im Denkmal verewigten Germanenfürsten Arminius wurde die Reichsgründung von 1871 zum finalen Triumph in einem Jahrhunderte währenden Kampf um nationale Einheit und Selbständigkeit erhoben, die Vernichtung der römischen Legionen mit dem Sieg über den französischen ‚Erbfeind‘ bei Sedan verglichen und der ‚ewige Kampf gegen Rom‘ bis in den gegenwärtigen konfessionspolitischen Konflikt im Kulturkampf hineinprojiziert.2 Mit seinem hoch erhobenen Schwert symbolisierte der monumentale Hermann die innere Einheit und den äußeren Machtanspruch des deutschen Kaiserreiches. Auch im Ausland nahm die Presse durch eine intensive Berichterstattung und Kommentierung Anteil an dieser symbolpolitischen Demonstration deutscher Einigkeit und Stärke.3 Schon im Vorfeld hatte die britische und amerikanische Tagespresse ihren Lesern das Bandelsche Lebenswerk als eighth wonder of the world angekündigt.4 Bei der Enthüllung des Denkmals saßen Korrespondenten von mindestens drei englischsprachigen Zeitungen – dem Manchester Guardian, der Londoner Daily News und dem New York Herald – auf der Pressetribüne und telegrafierten umfangreiche Festberichte an ihre Redaktionen.5 Allgemein zeigte man sich in der angelsächsischen Presse stark beeindruckt von der Monumentalität des Kunstwerks und der patriotischen Begeisterung der deutschen Bevölkerung. Der im Denkmal verewigte national hero Arminius wurde zumeist in Anlehnung an Tacitus als Liberator of Germany oder Deliverer of Germany from the Roman yoke vorgestellt.6 Britische Kommentatoren warnten allerdings auch davor, den liberator Germaniae zum Vorkämpfer eines ewigen Rassenkampfes zwischen Romanen und Germanen zu stilisieren: There is at least a danger, 1 2

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Zur Baugeschichte siehe Tacke (1995) und Ritzmann (2006). Zu den Einweihungsfeiern siehe Dörner (1996) und Mellies (2009). Zum Gipfel der literarischen Arminiusbegeisterung in dieser Zeit siehe Hansen (1974). Eine Untersuchung zum Einweihungsfest als transnationales Medienereignis steht noch aus. Erste Hinweise zu internationalen Pressestimmen liefert Schmidt (1975) 18, 27f. und 47f. Times vom 27. 5. 1875, zitiert in New York Times vom 7. 6. 1875, Boston Journal vom 11. 6. 1875 und Chicago Tribune vom 13. 6. 1875. In den Festberichten wurde das Denkmal auch häufig mit dem Koloss von Rhodos ver-

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glichen – siehe Times vom 18. 8. 1875, Northern Echo (Darlington) vom 17. 8. 1875 und Galveston Daily News (Houston) vom 25. 8. 1875. Siehe Guardian vom 20. 8. 1875, Daily News vom 17 u. 18. 8. 1875 und New York Herald vom 16. 8. 1875. Schmidt (1975) 27 nennt auch einen Korrespondenten der Times, doch findet sich in der Zeitung kein eigener Korrespondentenbeitrag aus Detmold, nur ein Bericht der Nachrichtenagentur Reuters am 17. 8. 1875. Boston Journal vom 11. 8. 1875 und Karl Blind, „Armin, the Liberator of Germany“, in: Fraser’s Magazine 12 (1875), 243; vgl. auch The Academy 172 (1875), 204f. und Chicago Tribune vom 19. 8. 1875.

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mahnte die Londoner Times, that Hermann should be accepted as the symbol of war instead of as the forerunner of liberty.7 Hintergrund dieser Ermahnung war die noch frische Erinnerung an die gerade erst überstandene ‚Krieg-in-Sicht‘-Krise vom Frühjahr 1875, in der ein möglicher deutscher Präventivschlag gegen das wiedererstarkte Frankreich nur durch eine entschiedene diplomatische Intervention Russlands und Englands verhindert worden war.8 Die auftrumpfende Siegerpose des Denkmalshelden sowie der militant-antifranzösische Tenor einiger Festreden und deutscher Pressestimmen weckten die Befürchtung, der gerade abgewendete Konflikt könnte wieder eskalieren. Entschieden wandten sich einige englische Kommentare gegen diesen neuen German Chauvinism und die Instrumentalisierung des Hermannsmythos für machtpolitische Zwecke.9 Unbefangener kommentierte hingegen die amerikanische Presse das Hermannsfest im Teutoburger Wald. Insbesondere deutschsprachige Kommentatoren priesen Arminius als den ersten „Vorkämpfer“ und „Märtyrer deutscher Nationaleinheit“, der durch seine „Unabhängigkeitserklärung der That“ das Beispiel für die Reichsgründung gegeben habe.10 Aber auch die englischsprachige Presse feierte den germanischen Helden als Washington of ancient Germany oder gar als greatest patriot that ever lived and conquered for liberty.11 Mit Blick auf die bevorstehende Hundertjahrfeier der Declaration of Independence sahen amerikanische Zeitungen das Hermannsdenkmal als Vorbild für das seit Jahren stockende Projekt eines Washington Memorials.12 Ein englischer Spötter schlug gar vor, das für europäische Verhältnisse völlig überdimensionierte Denkmal über den Atlantik zu schicken, Hermann zum amerikanischen Revolutionsgeneral umzukleiden und in Bunker Hill aufzustellen.13 Ganz ernsthaft wurde die Parallelisierung von germanischem und amerikanischem Unabhängigkeitskampf hingegen in einem Leitartikel der New York Times gezogen, der den Monopolanspruch des reichsdeutschen Hermannskultes offen in Frage stellte und den darling hero of German folk-lore kurzerhand zum Urvater der amerikanischen Verfassung erklärte: Hermann sei nicht nur ein hero whom all Teutonic folks may fitly honor, sondern zuallererst ein angelsächsischer Held und letztendlich der Begründer der genesis of American freedom.14 Arminius als teutonischer Gründervater der Vereinigten Staaten und die Varusschlacht als Urknall der amerikanischen Geschichte? Was auf den ersten Blick bizarr anmutet, steht tatsächlich in einer längeren, von der deutschen Forschung allerdings bisher wenig beachteten angelsächsischen Tradition. Während die Bedeutung Hermanns als zentrale Symbolfigur der deutschen Germanenideologie bereits oft und detailliert herausgearbeitet wurde, existiert bis heute keine vergleichbare Untersuchung für den englischen Sprachraum.15 An dieser Stelle soll deshalb der Kult um Herman the German in einen breiteren, transnationalen Zusammenhang gestellt werden. Anknüpfend an die häufig zitierten, aber bis heute kaum weiterver17

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Times vom 17. 8. 1875. Das Times-Editorial wurde von zahlreichen Zeitungen nachgedruckt, so z.B. von der Manchester Times vom 21. 8. 1875, Lloyd’s Weekly Newspaper vom 22. 8. 1875 und dem walisischen Baner ac Amserau Cymru vom 1. 9. 1875. Ähnlich kritisch kommentierte die Pall Mall Gazette vom 17. 8. 1875. Siehe hierzu neuerdings und umfassend Janorschke (2010). „German Chauvinism“, Economist vom 21. 8. 1875, und Saturday Review 40 (21. 8. 1875), 223f. Siehe Illinois Staats-Zeitung (Chicago) vom 16. 8. 1875 und Heinrich Armin Rattermann, „Eine Unabhängigkeitserklärung Deutschlands“, in: Der Deutsche Pionier 7 (1875/1876), 236. Zu den spezifisch deutschamerikani-

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schen Aneignungen des Hermannsmythos, die 1897 in der Errichtung eines Paralleldenkmals in New Ulm, Minnesota, kulminierten, siehe bisher nur die ältere Studie von Sandow (1956). Reynolds’s Weekly Newspaper vom 22. 8. 1875 und Baltimore Sun vom 18. 8. 1875. Daily Critic (Washington) vom 19. 8. 1875 und Baltimore Correspondent vom 21. 8. 1875. Manchester Guardian vom 28. 5. 1875. New York Times vom 18. 8. 1875. Siehe zum deutschen Hermannskult Kuehnemund (1966), Unverfehrt (1981), Wiegels (2007), Münkler (2009), Kösters (2009) und den Ausstellungsband Mythos (2009).

folgten Überlegungen Heinz Gollwitzers zum internationalen Phänomen des politischen Germanismus wird untersucht, wie englische und amerikanische Autoren im 18. und 19. Jahrhundert den antiken Cheruskerfürsten zum Zwecke der nationalen Identitäts- und politischen Legitimitätsstiftung instrumentalisierten.16 Anhand eines breiten Spektrums von literarischen, wissenschaftlichen und publizistischen Quellen soll gezeigt werden, dass die Rückführung politischer Institutionen und nationaler Charaktereigenschaften auf ein idealisiertes Germanentum keineswegs Ausdruck eines deutschen Sonderweges war, sondern Teil eines transatlantischen Diskurses über die primordialen Wurzeln der modernen Zivilisation.

Frühe Dramatisierungen der Arminiuserzählung in England Am Anfang der Rückbesinnung auf die germanische Abstammung stand in England wie in Deutschland ein römischer Historiker. Die Wiederentdeckung der Germania und der Annalen des Tacitus zu Beginn der Frühen Neuzeit hatte für das europäische Geschichtsbewusstsein langfristig kaum zu überschätzende Auswirkungen, die bereits Alexander von Humboldt mit der Entdeckung Amerikas durch Kolumbus verglichen hat.17 Insbesondere Tacitus’ Sittengemälde der germanischen Stämme eröffnete den Blick in eine neue Welt einer Antike, die weder römisch noch christlich war und dadurch neue Möglichkeiten der Konstruktion historischer Traditionen bot. Seine Beschreibungen der kriegerischen Auseinandersetzungen zwischen Römern und Germanen lieferten zudem vielf ältige Anknüpfungspunkte für eine geschichtspolitische Aufladung gegenwärtiger Konflikte. So verwiesen zunächst italienische Gelehrte und Kirchenvertreter auf Tacitus, um das Kulturgef älle zwischen dem barbarischen Norden und dem zivilisierten Italien zu belegen. Deutsche Humanisten und Reformatoren hingegen beriefen sich in ihrem Kampf gegen die korrupte katholische Kirche auf die einfachen, aber sittenreinen und freiheitsliebenden Germanen und stellten den römischen Caesaren ihren siegreichen Kriegsfürsten Arminius gegenüber, den sie in Hermann umtauften.18 Im 17. Jahrhunderts legitimierten französische Adlige ihre Privilegien gegenüber Volk und König mit ihrer Abstammung von den germanischen Eroberern der vorchristlichen Zeit, während in England die immemorial tradition der angelsächsischen Freiheitsrechte gegen die Vorrechte des Adels und den Herrschaftsanspruch der katholischen Dynastie der Stuarts ins Feld geführt wurde.19 Diese politische Tradition – und nicht die deutschen Zustände – hatte auch Montesquieu vor Augen, als er 1748 in seiner berühmten Schrift vom Esprit des lois die freiheitlichen Prinzipien der englischen Verfassung auf die von Tacitus beschriebenen Stammesgemeinschaften ,in Germaniens Wäldern‘ zurückführte.20 Ebenso wenig wie die politischen Aneignungen der Germanenideologie blieben die literarischen Verarbeitungen des Hermannsmythos auf den deutschen Sprachraum beschränkt. Es waren vielmehr die Franzosen Georges de Scudéry und Jean Galbert de Campistron, die dem „teutschen Ertz-Helden“21 erstmals auf die Bühne verhalfen. Sie lieferten damit die Vorlagen für dutzende Arminius-Opern, die im Barockzeitalter vorwiegend von damals europaweit tonangebenden italienischen Librettisten 16 17 18 19

Siehe Gollwitzer (1971). Siehe Pralle (1952) 9. Vgl. Thom (1995). Siehe Fuhrmann (1982), Kloft (1990), Kösters (2009) und Münkler (2009). Vgl. die älteren Standardwerke von Hölzle (1925), Kliger (1952) und Hill (1965).

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Charles de Montesquieu, Vom Geist der Gesetze, Görlitz 1804, Bd. 1, 306. Als 1782 die erste deutsche Übersetzung erschien, waren in London bereits sieben englische Ausgaben veröffentlicht worden. Vgl. Kösters (2009) 135 zur deutschen Rezeption. Christoph Adam Negelein, Arminius. Der Teutschen ErtzHeld, Nürnberg 1697.

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stammten.22 Keineswegs zuf ällig handelt es sich deshalb bei dem wohl bedeutendsten Werk dieses Themas, Georg Friedrich Händels 1737 im Londoner Covent Garden uraufgeführtem Arminio, um eine europäische Koproduktion: Die Vorlage für das Libretto des deutschstämmigen Komponisten lieferte der Florentiner Antonio Salvi, der sich seinerseits an Campistrons stilprägender tragédie amoureuse von 1685 orientiert hatte.23 Den Konventionen der barocken opera seria entsprechend steht im Zentrum der Handlung nicht der kriegerische Konflikt zwischen Römern und Germanen, sondern der ritterliche Wettstreit zwischen Arminius und Varus um die Liebe Thusneldas. Am Ende triumphiert der germanische Held über seinen römischen Nebenbuhler und versöhnt sich durch eine generöse Geste des Vergebens auch mit seinem intriganten Schwiegervater Segestes. Dabei verkörpern die Protagonisten weniger nationale Gegensätze oder politische Prinzipien, sondern stehen für fürstliche Tugendideale gemäß dem zeitgenössischen aristokratischen Ehrenkodex. Doch auch Händels Arminio ist keineswegs frei von nationalpolitischen Konnotationen. So lässt sich schon die Wahl des Stoffes als Parteinahme werten, denn obwohl der Höhepunkt der Whig-Agitation zur Verteidigung der aus Germanien stammenden Gothic liberties bereits überschritten war, galt auch im England des frühen 18. Jahrhunderts bereits eine Beschäftigung mit germanischen Stoffen als parteipolitisches Bekenntnis.24 Noch direkter und politisch brisanter war der Bezug auf das regierende Königshaus Hannover. Bereits George I., der erste Hannoveraner auf dem britischen Thron, war zu seiner Krönung 1714 mit der Aufführung einer Arminius-Oper im Haymarket Theatre begrüßt worden.25 George II., der seit 1727 regierende Nachfolger, hatte seine Herrschaft, anders als sein Vater, nicht nur vor den verbliebenen Anhängern der Stuart-Dynastie zu legitimieren, sondern auch gegenüber einer radikalen WhigOpposition, die die gemäßigte Regierung des königstreuen Premierministers Robert Walpole der Korruption und der Beschneidung traditioneller englischer Freiheitsrechte beschuldigte. Politischer Schutzherr und Förderer dieser Patriot Opposition war der Prince of Wales und designierte Thronfolger Frederick, der sich mit seinem Vater überworfen hatte und schließlich in offene Konfrontation mit dem Königshof geriet.26 Ausgetragen wurde der Streit der Hofparteien nicht nur in Literatur und Presse, sondern auch auf den Londoner Opernbühnen: Während Händels Royal Academy vom König protegiert wurde, versammelte sich die Opposition in der 1733 von der Kronprinzenpartei gegründeten Opera of the Nobility. Händels Aufgreifen des Arminiusstoffes, inszeniert als germanischer Familienkonflikt, der am Ende mit der glücklichen Versöhnung von Arminius und Segestes aufgelöst wird, kann deshalb als ein Vermittlungsversuch interpretiert werden, mit dem der Komponist nicht zuletzt auch den durch die politische Rivalität angeheizten ruinösen Wettbewerb der Opernhäuser zu entschärfen suchte.27

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Siehe Forchert (1975), Barbon u. Plachta (1995) und Köster (2009) 88–99. Georg Friedrich Händel, Arminius. An Opera; as it is Perform’d at the Theatre Royal in Covent Garden, London 1737. Siehe auch zum Folgenden Kösters (2009) 102–105, und Ketterer (2009) 142–149. Siehe Kliger (1952), Hill (1965), Gerrard (1994) und Geyken (2002) 223. Arminius. An Opera, London 1714. Laut Busby (1819) I, 423 besuchten im Oktober 1714 kurz hintereinander der wenige Tage zuvor gekrönte König und der Kronprinz mit ihrem Gefolge die Vorführung. Zum Inhalt und der bis heute ungeklärten Verfasserfrage siehe Ketterer

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(2009) 140–142. Eine weitere, stellenweise identische Fassung erschien unter dem Titel Arminio. Dramma per musica 1760 in London. Siehe für einen Überblick Goldgar (1976) und Gerrard (1994). Vgl. Ketterer (2009) 147f. Laut einer Notiz im Londoner Daily Gazetteer vom 13. 1. 1737 besuchte der Kronprinz Händels Oper am 12. 1. 1737. Wie weit die Identifikation Fredericks mit seinen vermeintlichen germanischen Vorfahren ging, verdeutlicht sein Plan, in Kew Gardens eine Arminius-Statue aufzustellen – siehe Rorschach (1989/1990) 30f.

Wieviel politischen Sprengstoff das Thema barg, zeigte sich, als drei Jahre später William Patersons Tragödie Arminius der Zensur zum Opfer fiel.28 Paterson war ein Freund und Mitarbeiter James Thomsons, eines der berühmtesten Patriot Poets aus dem Lager des Kronprinzen.29 Frederick selbst war seit Ende 1737 offiziell vom königlichen Hof verbannt worden, und im selben Jahr hatte sich die Regierung mit dem Licensing Act ein wirksames Instrument geschaffen, um den oppositionellen Umtrieben auf den Londoner Bühnen Einhalt zu gebieten. Als eines der ersten Stücke wurde 1739 Thomsons dem Prince of Wales gewidmetes Drama Edward and Eleonora verboten.30 Vermutlich um seinem Arminius ein ähnliches Schicksal zu ersparen, pries Paterson wenige Monate später in seiner Widmung Prinz William, dem vom König bevorzugten Konkurrenten Fredericks um die Thronfolge, den Cheruskerfürsten als Vorfahr und Vorbild an: That young Hero, besides his illustrious Descent, was the truest Friend, the noblest Ornament of his Country: and every good Man rejoices in the Hope that your Highness will, one day, prove equally useful and ornamental to Great Britain. If Tradition immemoriable errs not, your August Family is allied to him by Blood.31

Doch auch diese Demutsgeste gegenüber dem Königshaus konnte das Verbot nicht verhindern. Immerhin verhalf die durch den Zensurskandal verursachte öffentliche Erregung der subskribierten Druckfassung des Dramas zu einer stattlichen Auflage.32 Dass Patersons Arminius im Gegensatz zu Händels Arminio solchen Anstoß erregte, lag jedoch nicht nur an den unterschiedlichen persönlichen Beziehungen der beiden Autoren zu den verfeindeten Hofparteien. Auch inhaltlich ist Patersons Stück deutlich stärker auf Polarisierung und Konfrontation ausgerichtet. Zwar orientiert sich auch seine dramaturgische Grundstruktur an der Vorlage Campistrons, doch anders als bei Händel führt die großmütige Vergebungsgeste des siegreichen Arminius gegenüber dem gescheiterten Römerfreund Segestes am Ende nicht zur allseitigen Versöhnung, sondern zur moralischen Demütigung des bloßgestellten Verräters. Auch stehen sich Römer und Germanen nicht als gleichwertige Gegner gegenüber. Scharf wird die überzivilisierte, verweichlichte Dekadenz Roms mit der einfachen, aber unverdorbenen und mannhaften Tugend des germanischen Helden kontrastiert: Arminius: What is her wisdom? Poor Deceit and Cunning. Her Elegance of Life? luxurious poison. And what her Virtues all but splendid Crimes? Give me, ye Gods! the plain unconquer’d German, Rich in hard Toil, and opulent in Freedom; Unpolish’d into Vice, and void of Guile, Of rough, but kind and hospitable Heart.33

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Arminius. A Tragedy. As it was to have been acted at the Theatre-Royal in Drury-Lane, London 1740. Die Forschungsliteratur zu Paterson und seinem einzigen literarischen Werk beschäftigt sich vorwiegend mit den Gründen des Verbots. Siehe auch zum Folgenden Grant (1951) 191, McKillop (1958) 452, Loftis (1963) 150, Scouten (1965) liii, Conolly (1976) 59–62, Gerrard (1994) 115f. und Kinservik (2002) 105. Siehe Grant (1951) 191 u. 261.

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Siehe McKillop (1958), Conolly (1976) 57ff. und Kinservik (2002) 104f. Paterson, Arminius, S. iiif. McKillop (1958) 452 spricht von 400 fine und 2000 common Exemplaren. Zur öffentlichen Debatte siehe London Evening Post vom 8. 1. 1740, Daily Post vom 11. 1. 1740, The Champion 1 (1740), 185, Gentleman’s Magazine 10 (1740), 32, Scots Magazine 2 (1740), 40. Paterson, Arminius, S. 19.

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In pathetischen Versen proklamiert Patersons Arminius die zentralen politischen Ideale der Patriot Poets: unkorrumpierbare Tugend und männlichen Kampfgeist, überschwänglichen Patriotismus und Freiheitsliebe, die sich in dem unbezwingbaren Willen to crush the Tyrant vereinen.34 Seinen historischen Ort findet der das Stück durchwehende Geist der Freiheit nicht mehr in dem von allen republikanischen Tugenden verlassenen degenerate Rome der Kaiserzeit, sondern auf den guiltless uncorrupted Plains des rugged North.35 Damit war nicht nur ein nationaler Überlegenheitsanspruch gegenüber dem Süden verbunden, sondern auch eine innenpolitische Frontstellung – denn unter einem König, der sich stolz ‚Augustus‘ nannte und damit seiner Epoche den Namen gab, barg ein betont anticäsarisches Geschichtsbild ein beträchtliches oppositionelles Potential.36 Patersons im Prolog verkündete Moral seines Stücks How nobler, kinder far / Than a false treacherous Peace is open War lässt sich zudem als tagespolitische Kritik an der Walpole-Regierung interpretieren, die den von der Opposition vehement geforderten, im Oktober 1739 begonnenen Krieg gegen Spanien nur widerwillig und halbherzig und mit entsprechend bescheidenem Erfolg führte.37

Arminius in der englischen Herrschaftspanegyrik des 18. Jahrhunderts Wie eng Freiheitspathos und Kriegsbegeisterung, dynastische Tradition und Nationalstolz im Arminius-Stoff verbunden und aktualisiert werden konnten, zeigte sich zwei Dekaden später im Siebenjährigen Krieg. Die antifranzösische Allianz mit Preußen hatte bereits 1758 einen amerikanischen Kolonisten in Maryland dazu verführt, den protestant champion Friedrich II. als Royal Comet zu verherrlichen, dessen Schweif bis weit in die gemeinsame germanische Frühzeit reiche: In Woden’s bold figure, three thousand years past, O’er ancient Germania it’s lustre is cast: Next, wearing Arminius thy form, it return’d; And, fatal to Rome’s blasted legions, it burn’d. Now, attended with all the thunders of war, Our Prussia’s great Frederick is that Blazing Star!38

Zwei Jahre später war es Ferdinand von Braunschweig-Lüneburg, der Sieger der Schlacht von Minden, der in der englischen Presse in eine Traditionslinie mit dem Sieger der Varusschlacht gestellt wurde.39 Nachdem der von Paterson 1740 noch mit so hohen Erwartungen beladene Prinz William vor dem fran34 35

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Paterson, Arminius, S. 36. Paterson, Arminius, S. v. Ähnlich bereits James Ralph, The Loss of Liberty; or Fall of Rome, London 1733, und Thomsons berühmtes Versepos Liberty, London 1735 /1736. Siehe zur Vorstellung einer translatio libertatis von den Römern zu den germanischen Völkern des Nordens ausführlich Müllenbrock (1974) 240ff. Siehe zur dangerous equation of King and Caesar, Augustus and George Augustus bei Thomson, Paterson u.a. Oppositionsliteraten der augusteischen Zeit Gerrard (1994) 113–116. Vgl. Weinbrot (1978). Paterson, Arminius, S. v. Vgl. Conolly (1976) 61 und Goldgar (1976) 179–185. James Sterling, „The Royal Comet“, in: American Magazine & Monthly Chronicle 1 (1758), 550. Vergleichbare Parallelisierungen der Heldentaten Friedrichs und Her-

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manns finden sich in der deutschen Literatur erst zwanzig Jahre später – siehe Paul von Hofmann-Wellenhof, Zur Geschichte des Arminius-Cultes in der deutschen Literatur, 3 Bde., Graz 1887/1888, Bd. 3, 30f. Sehr viel verbreiteter war jedoch auch in der umfangreichen englischen Friedrich-Panegyrik der Vergleich mit Julius Caesar und Alexander dem Großen – siehe Schlenke (1963) 347–370. „A Parallel between Prince Ferdinand of Brunswick and Arminius“, in: British Magazine 1 (1760), 113–115. Nachgedruckt wurde diese anonyme Eloge u.a. am 1. 3. 1760 im Universal Chronicle and Westminster Journal und, Jahrzehnte später, in Elisa Rogers, The Lives of the twelve Caesars, Bd. 2, London 1811, 21–26.

zösischen Invasionsheer schmählich kapituliert hatte, brachte 1759 der Sieg der norddeutsch-britischen Allianz bei Minden, unweit des Teutoburger Waldes, eine entscheidende Wende im schon verloren geglaubten Krieg.40 Der mit dem englischen Königshaus verschwägerte Herzog Ferdinand stand zwar im Dienste Preußens, doch wurde er auch in London umstandslos zum Nationalhelden erklärt und als Reinkarnation des Cheruskers Arminius gefeiert, des undaunted assertor of German Freedom against the tyrannous encroachments of Roman power.41 Überall sah man Parallelen zwischen dem Germanenfürsten und dem braunschweigischen General: They were of the same country, the same family, the same age, the same accomplishments, the same talents, the same virtues, engaged in the same cause, at the head of the same people, against nearly the same confederacy of their own countrymen; acted on the very same ground, and were favoured by heaven with the same glorious success.42

Noch direkter wurde die Herkunft der englischen Nation und ihres Königshauses aus den germanischen Wäldern schließlich 1763 von Philip Doyne postuliert. In einem Huldigungsgedicht anlässlich der Geburt des späteren Königs George IV. kürte er Prince Arminius, den firm champion of Germanick liberty und Saxon hero [who] crush’d tyrannick power and set his country free,43 zum Stammvater der Angelsachsen und der Hannoveraner Dynastie: From him the godlike race decends, And o’er Germania’s states extends; … Remov’d from Weser’s streams, To the more glorious banks of the Thames, Behold the virtues of the Brunswick soul, Run like those floods, augmenting as they roll; Fair race arise, with grateful smiles, Bless this queen of ocean’s isles, Ascend the throne of liberty, And rule, the only subjects that are free.44

Derartige Abstammungsmythen waren in der englischen Panegyrik des 18. Jahrhundert nicht unüblich. Schon Wilhelm von Oranien war 1702 als Vertreter einer Godlike Race, in deren Adern germanisches Blut floss, gefeiert worden, und George I. wurde 1718 als Erneuerer der Royal Race einer old Saxon Line willkommen geheißen.45 Da auch das englische Volk von Saxon Ancestors abstammte, konnte die Thronfolge eines deutschen Königs so als Wiedervereinigung zweier stammverwandter Völker under the Protection and Influence of the same common Parent legitimiert werden.46 Der Bezug auf Arminius lag auch deshalb nahe, weil man annahm, dass auf hannoveranischem Boden bereits die Cherusker gesie-

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Siehe McLynn (2004) 254ff. British Magazine 1 (1760), 114. Betont wurden auch his incorruptible patriotism, and his enthusiastic love of liberty. British Magazine 1 (1760), 115. Vgl. für eine spätere Übernahme des Vergleichs in der Geschichtsschreibung Philip Henry Stanhope, History of England from the Peace of Utrecht to the Peace of Paris, Bd. 4, London 1844, 342. Philip Doyne, The Triumph of Parnassus. A Poem. On the Birth of His Royal Highness the Prince of Wales, Dublin 1763, 12 u. 19.

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Doyne, Triumph, 20. John Hughes, The House of Nassau, London 1702, 1 und The Illustrious Modern, London 1718, 1. Mit betont prodeutscher und antifranzösischer Stoßrichtung auch Samuel Wesley, Marlborough; or, The Fate of Europe, London 1705, und A Poem on the Anniversary of the Birth-Day of His Majesty King George, London 1717. Bischof Edmund Gibson in seiner „Dedication“ zur zweiten Auflage von William Cambdens Britannica, London 1722, i. Siehe für weitere Beispiele Gerrard (1994) 117–121.

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delt und womöglich auch ihre Schlachten gegen die Römer ausgefochten hatten.47 Problematisch für eine derartige Geschichtskonstruktion waren jedoch nicht nur die genealogischen Fakten48 oder die bekannte Vorliebe des Königshauses für den Beinamen Augustus,49 sondern auch gewisse Grundelemente der historischen Arminiuserzählung, die mit dem Anspruch einer harmonischen Vereinigung von dynastischer, nationaler und freiheitlicher Tradition kollidierten.

Kritische Variationen des Arminiusthemas Wie bei Tacitus nachzulesen war, endete die Geschichte des Arminius nicht mit dem Triumph im Teutoburger Wald. In den Feldzügen des Germanicus hatte sich der cheruskische Heerführer als militärisch keineswegs unbesiegbar erwiesen. Seine Rolle in den folgenden innergermanischen Stammeskriegen und seine Ermordung durch die eigene Verwandtschaft belegen zudem, dass er sich nicht einmal der Gefolgschaft seiner engsten Verbündeten, geschweige denn der aller germanischen Völker sicher sein konnte. Insbesondere sein schmähliches Ende disqualifizierte Arminius nicht nur als dynastischen Ahnherrn, sondern ließ sich auch grundsätzlich gegen die monarchische Herrschaft als solche ausdeuten. Etabliert wurde diese republikanische Lesart bereits Ende des 17. Jahrhunderts durch Algernon Sidney, der 1683 auf Befehl Charles II. enthauptet wurde. Seine posthum veröffentlichten Discourses Concerning Government gelten als Klassiker der modernen Monarchiekritik und fanden insbesondere unter den späteren amerikanischen Revolutionären begeisterte Leser.50 Arminius wird von Sidney einerseits als Retter der angelsächsischen Freiheiten anerkannt; andererseits bewies sich die Freiheitsliebe der germanischen Vorväter aber gerade darin, dass sie ihren Helden erschlugen, als dieser selbst nach der Alleinherrschaft strebte: The Germans had then no King: The brave Arminius had bin lately kill’d for aiming at a Crown. When he had blemish’d all his Vertues by that attempt, they forgot his former Services … His Valor was a crime deserving death, when he sought to make a prey of his Country, which he had so bravely defended, and to enslave those who with him had fought for the public liberty.51

Diese historische Rechtfertigung des Tyrannenmordes wurde 70 Jahre nach ihrer ersten Publikation vom schottischen Radical Whig Gilbert Stuart wiederbelebt.52 Wie Sidney lobt auch Stuart die Tugenden des Freiheitskämpfers Arminius im Kampf gegen die römischen Unterdrücker. Mit seiner Missachtung 47

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Siehe Guy Miège, The Present State of His Majesty’s Dominions in Germany, London 1722, 15 und Henry Rimius, Memoirs of the House of Brunswick from the most early Accounts of that Illustrious Family to the End of the Reign of King George the First, London 1750, 27ff. Das Haus Hannover stand in der Nachfolge der Welfen, die in männlicher Linie ihre Ursprünge im römischen Adelsgeschlecht d’Este haben. Auch der von Doyne als Arminius’ Nachkomme gefeierte Thronfolger hieß mit vollem Namen George Augustus Frederick; vgl. Weinbrot (1978). Algernon Sidney, Discourses Concerning Government, London 1698. Bis 1805 erschienen in Großbritannien und Amerika acht weitere Auflagen. Deutsche Überset-

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zungen erschienen unter dem Titel Betrachtungen über die Regierungsformen 1793 in Leipzig und 1795 in Erfurt. Siehe zum Inhalt und zur Wirkungsgeschichte Houston (1991) und Nelson (1993). Zitiert nach der zweiten Auflage, London 1704, 276. Ähnlich auch 347: but when he himself endeavour’d to usurp a power over the Liberty of his Country which he had so bravely defended, he was kill’d by those he would have opprest. Gilbert Stuart, An Historical Dissertation concerning the Antiquity of the English Constitution, Edinburgh 1768. Eine deutsche Übersetzung erschien 1779 in Lübeck. Vgl. Kidd (1993) 239–246.

des free and limited mode of government53 seines Volkes habe der Deliverer of Germany jedoch sein eigenes Todesurteil gesprochen: Yet his nation, too much in love with freedom to be dazzled by his virtues, or his services, declared him an enemy, and a traitor … So strong an aversion did the Germans entertain to tyranny!54

Ähnliche Vorstellungen einer demokratischen altgermanischen Verfassung, die nicht nur gegen römische Invasoren, sondern auch gegen Usurpatoren aus den eigenen Reihen verteidigt werden musste, waren in den 1770er Jahren weit verbreitet und spielten eine nicht unbedeutende Rolle für die Legitimation des amerikanischen Unabhängigkeitskampfes.55 Ein 1771 anonym publizierter Historical Essay on the English Constitution behauptete: Our Saxon forefathers founded their government upon the common rights of mankind. They made the elective power of the people the first principle of our constitution.56 Ähnliche Rückprojektionen republikanischer Ideale finden sich auch wenige Jahre später in den Political Disquisitions des radikalen Reformpolitikers James Burgh.57 Die Ermordung von Arminius durch seine eigenen Stammesbrüder wird dort als legitime Notwehr gerechtfertigt: Those brave savages would have no master, not even an illustrious or a gentle one.58 Für diese Vertreter der radikalen Whig-Tradition und ihre amerikanischen Rezipienten begründete der Arminiusmythos nicht länger die dynastische Herrschaftstradition des englischen Königs, sondern das Widerstandsrecht des free-born Englishman gegen ebendiesen König. Neben dem Widerstreit von Volk und Herrscher gab es noch ein zweites in den Mythos eingeschriebenes Element, das einer positiven Identifikation mit dem germanischen Heerführer im Wege stand. In grellen Farben hatten manche antike Autoren die Hinterlist des römischen Ritters Arminius und die grausamen Exzesse der siegreichen Germanen gegenüber den besiegten Gegnern im Teutoburger Wald beschrieben. Insbesondere Tacitus’ detailreiche Schilderung des Schlachtfeldes, wie es Germanicus sechs Jahre später bei seiner ersten Expedition ins Cheruskerland vorfand,59 fesselte die Imagination englischer Autoren um die Wende zum 19. Jahrhundert. Mit dazu beigetragen hatte ein Ereignis aus der Zeit des Siebenjährigen Krieges, das in den Augen mancher Zeitgenossen ebenso deutliche Parallelen zur Varusschlacht und ihren Folgen aufwies wie der Sieg des Herzogs Ferdinand bei Minden. Die Schlacht von Monongahela am 9. Juli 1755 zählt zu den schwersten militärischen Niederlagen der britischen Kolonialgeschichte.60 Trotz zahlenmäßiger und ausrüstungstechnischer Überlegenheit des von General Edward Braddock geführten Expeditionskorps gelang es französischen Truppen und ihren indianischen Verbündeten, die Engländer durch einen Überraschungsangriff im unwegsamen Gelände vernichtend zu schlagen. Zu den mehr als 700 Opfern auf englischer Seite zählte neben dem 53

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Zitiert nach der zweiten Auflage, London 1770, 43. Stuart lässt keinen Zweifel daran, dass in dieser germanischen Regierungsform auch die Wurzeln der englischen Verfassung liegen (76 u. 246). Stuart, Historical Dissertation, 45f. Siehe auch zum Folgenden Colbourn (1965), Bailyn (1967), Kramnick (1992) und Kidd (1999) 261–279. [Obadiah Hulme,] An Historical Essay on the English Constitution: or, An Impartial Inquiry into the Elective Power of the People, from the first Establishment of the Saxons in this Kingdom, London 1771, 6. Eine amerikanische Ausgabe erschien 1776 in Philadelphia unter dem Titel The Genuine Principles of the Ancient Saxon, or English Consti-

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tution zusammen mit der ersten Druckausgabe der Declaration of Independence. James Burgh, Political Disquisitions: or, An Enquiry into Public Errors, Defects, and Abuses, 3 Bde., London 1774/ 1775. Eine amerikanische Ausgabe erschien bereits 1775 in Philadelphia. Zu Burgh und der Wirkungsgeschichte seines Hauptwerks siehe Hay (1979) und Kramnick (1992). Burgh, Political Disquisitions III, 313. Siehe Pagán (1999). McLynn (2004) 35. Siehe zur Schlacht selbst, ihren Hintergründen und Folgen Kopperman (1977), Anderson (2000) und Borneman (2006).

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Oberkommandierenden auch der Großteil seiner Offiziere. Die schockierte britische Öffentlichkeit sprach von einem feigen Hinterhalt und einem blutrünstigen Massaker. Bestärkt wurde das Bild eines ‚barbarischen‘ Sieges 1758 durch die Entdeckung, dass die Franzosen ihre gefallenen Gegner unbeerdigt in der Wildnis liegen gelassen hatten.61 Die Beschreibungen von Braddock’s Field, dem mit Knochen und Leichenteilen übersäten Schlachtfeld, evozierten bei Beteiligten und Kommentatoren Erinnerungen an die von Tacitus geschilderten Überreste der varianischen Legionen im Teutoburger Wald. In voller Länge druckten amerikanische und englische Blätter die entsprechenden Passagen aus den Annalen und etablierten damit einen historischen Vergleich, der noch bis weit ins 19. Jahrhundert gezogen wurde.62 Ähnliche Übernahmen der römischen Perspektive auf die Varusschlacht und eine damit verbundene moralische Verurteilung germanischer Barbarei finden sich auch in der fiktionalen Literatur der Jahrhundertwende. Bemerkenswerterweise stammen sämtliche dieser Texte aus der Feder von Frauen. Den Anfang machte 1793 die englische Erfolgsschriftstellerin Ellis Cornelia Knight mit ihrem Briefroman Marcus Flaminius.63 Hauptfigur und Erzähler ist ein römischer Adliger, der als Offizier in der Armee des Quinctilius Varus dient und bei der Schlacht im Teutoburger Wald in cheruskische Gefangenschaft gerät. Eindrücklich schildert er die Hinrichtung der römischen Tribunen und Centurionen auf den germanischen Opferaltären nach der Schlacht (a sight more horrible than imagination can form).64 Nach seiner Flucht stößt Flaminius zu den Truppen des Germanicus und kehrt mit diesen an den Ort des Grauens zurück. Noch einmal führt er, der einzige Überlebende, seinen Kameraden die abscheulichen Schandtaten des barbarous enemy vor Augen.65 Obwohl sich Knight, die eng Tacitus’ Darstellung folgt, auch um eine Würdigung der schlichten Tugenden der germanischen savages und barbarians bemüht, bleibt doch das Gesamturteil über den ‚Verräter‘ Arminius letztlich negativ: His vigilance, activity, and presence of mind, are worthy admiration; and he is perhaps one of the bravest adversaries that ever met our legions in the field … yet, not all his bravery, nor all his patriotism can justify his deceit to which he owes his first advantage … to undermine the greatness of a nation with whom you are at peace, to wear the mask of friendship till a favourable opportunity is offered to annoy them, such a conduct, from whatever motive it may proceed, degrades the hero and deliverer of his country.66

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Siehe z.B. Edinburgh Magazine 3 (1759), 38f. Siehe William Smith, Discourses on several Public Occasions during the War in America, London 1759, 121f., New American Magazine (1759), 324f., und London Chronicle vom 17. 3. 1759. Siehe für spätere Parallelisierungen der englischen mit der römischen Niederlage John Burk, The History of Virginia. From its first Settlement to the present Day, Bd. 1, Petersburg 1804, 237f., William B. Reed, „Romance of Revolution“, in: Raleigh Register vom 14. 1. 1840, Philip Henry Stanhope, History of England from the Peace of Utrecht to the Peace of Paris, Bd. 2, New York 1849, 366, Charles McKnight, Captain Jack, the Scout; or, The Indian Wars about Old Fort Duquesne. An Historical Novel, Philadelphia, New York u. Toronto 1873, 498–501 und Norris Stanley Barratt, Colonial Wars in America, Pennsylvania 1913, 37f.

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Ellis Cornelia Knight, Marcus Flaminius; or, A View of the Military, Political, and Social Life of the Romans in a Series of Letters from a Patrician to a Friend, 2 Bde., London 1792. Deutsche Übersetzungen erschienen 1794 und 1803 in Dresden und Leipzig. Auch die englische Neuauflage von 1808 wurde umgehend ins Deutsche übertragen. Zur Autorin siehe Luttrell (1965). Knight, Marcus Flaminius I, 3–5. Knight, Marcus Flaminius I, 180–186. Knight, Marcus Flaminius I, 162f. Ähnlich auch bereits die Wertung im Vorwort, S. x. Bemerkenswerterweise entschuldigt sich Knight hier quasi für ihre ‚römische‘ Sichtweise auf den Helden der Varusschlacht und betont ausdrücklich, dass die Deutschen a brave and patriotic people und, at present, incapable of a similar act of treachery seien.

Eine ähnliche Übernahme der römischen Perspektive findet sich in Elizabeth Hamiltons biographischem Roman Memoirs of the Life of Agrippina von 1804.67 Hamilton identifiziert sich und ihre Leser zwar mit den ‚barbarischen‘ Gegnern des Germanicus – sie nennt sie our german ancestors und würdigt Arminius als patriotic defender of German liberty, dem alle savage virtues of a hero zugeschrieben werden.68 Dennoch werden die Römer, der überlieferten Ereignisgeschichte folgend, vor allem als Opfer und Rächer germanischer Grausamkeiten beschrieben, die besonders eindringlich bei der Besichtigung des Schlachtfelds im Teutoburger Wald veranschaulicht werden.69 Vor dem modernen Wertehorizont eines aufgeklärten Christentums erscheinen ihr schließlich beide Parteien als Vertreter einer längst überwundenen heidnischen Moral.70 Diesen Widerspruch zwischen christlichen und heidnischen Werten thematisiert auch ein 1808 publiziertes Gedicht der irischen Autorin Mary Leadbeater, das die Besichtigung des Teutoburger Schlachtfeldes durch den noble Roman chief Germanicus beschreibt.71 Angelehnt an Tacitus schildert Leadbeater die scenes of horror, die der Anblick der überall verstreuten bones of slaughter’d Romans und der savage altars, auf denen die stern barbarians ihre Menschenopfer vollstreckten, den entsetzten Römern bot.72 Wie schon bei Knight und Hamilton berichtet ein Überlebender der Schlacht von den grausigen Ereignissen: There the tribunal of Arminius stood: The proud Arminius, red with Roman blood, Harangued his hosts; and there his eyes he fed With Roman pris’ners to vile gibbets led, Our standarts fall’n, our glory laid so low; – Insulting triumph of a barb’rous foe!73

Arminius erscheint hier als blutrünstiger Barbar, der sich nach seinem durch Hinterlist und Verrat errungenen Sieg an den Demütigungen und Qualen seiner besiegten Feinde ergötzt. Leadbeaters eigentliches Anliegen ist jedoch keineswegs die Abwertung des Germanischen durch eine Perpetuierung römischer Gräuelpropaganda, sondern eine allgemeine Verurteilung von Krieg und Machtstreben, wie durch die emphatische Bekräftigung christlich-pazifistischer Werte am Schluss ihres Gedichts nochmals unterstrichen wird: Such are thy trophies, with such stains defil’d, Insatiate War, Ambition’s cruel child! Behold man thirsting for his brother’s blood, Like the fell monsters of the savage wood! – And shall such hatred in those souls reside, For whom our gracious meek Redeemer died? … O for that time when War’s loud voice shall cease, When hopeless slav’ry shall obtain release, And a tumultuous world be hushed in universal peace!74

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Elizabeth Hamilton, Memoirs of the Life of Agrippina, the Wife of Germanicus, 3 Bde., London 1804. Zur Biographie Hamiltons siehe Kelly u. Applegate (1996) 110–123. Hamilton, Agrippina I, 14 u. 22. Hamilton, Agrippina II, 23–26. Hamilton, Agrippina I, 21f.

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Mary Leadbeater, „The Interment of Varus and his Legions by Germanicus. From Tacitus“, in: dies., Poems, Dublin 1808, 149–153. Zur Autorin siehe Hughes (2010). Leadbeater, „Interment“, 150f. Leadbeater, „Interment“, 152. Leadbeater, „Interment“, 152f.

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Verweisen die republikanischen Schriften von Sidney, Stuart und Burgh auf die politischen Schwierigkeiten einer Vereinnahmung des Cheruskerfürsten, so zeigen die Wertungen der Arminiusdarstellungen von Knight, Hamilton und Leadbeater die moralischen Probleme einer Identifikation mit einer mythischen Figur, deren größte historische Leistung weder mit den Geboten christlicher Friedfertigkeit und Nächstenliebe, noch mit dem militärischen Ehrenkodex des 18. Jahrhunderts in Einklang zu bringen war. Die Dramaturgen der ersten Hälfte des Jahrhunderts, die Arminius als edlen Repräsentanten höchster Fürstentugenden vorstellten, hatten diese Widersprüche noch umgangen, indem sie unliebsame Details einfach wegließen und Konflikte durch ein aufgesetztes happy end auflösten. An der Schwelle zum 19. Jahrhundert wurden hingegen andere Ansprüche an die Authentizität und Moralität von dramatischen Bearbeitungen historischer Stoffe gestellt.

Arminiusdramen um 1800 Was die englischen Arminius-Dramen der Jahrhundertwende zuallererst von ihren Vorgängern unterscheidet, ist – ähnlich wie in Deutschland – die Übertragung der römisch-germanischen Frontstellung auf den zeitgenössischen Konflikt mit Frankreich. Die Erfahrung einer existentiellen äußeren Bedrohung ließ die Widersprüche und Ambivalenzen des Arminiusbildes zurücktreten hinter den patriotischen Appell zum vereinten Kampf gegen den gemeinsamen Feind, der zuerst in Gestalt der Revolution, dann in der Person Napoleons auftrat. Arthur Murphy, dessen Name heute nur noch einigen Literaturwissenschaftlern ein Begriff ist, zählte zu den erfolgreichsten englischen Bühnenautoren seiner Zeit.75 Was ihn darüber hinaus für eine dramatische Bearbeitung des Arminiusstoffes qualifizierte, war seine hoch gelobte Tacitus-Übersetzung aus dem Jahre 1793, die er seinem Freund und Mentor Edmund Burke widmete.76 Burkes politische Philosophie bildet denn auch den ideologischen Hintergrund für die 1798 veröffentlichte Tragödie Arminius: or The Champion of Liberty, der Murphy selbst wenig literarischen Wert, aber umso größere politische Bedeutung zumaß.77 In einem außergewöhnlich langen und kämpferischen Vorwort erklärt der Autor seine Intentionen: Die Widerlegung der abstrakten, geschichts- und gottlosen Prinzipien der Französischen Revolution und die Bekämpfung ihrer Sympathisanten in England. Die in zahlreichen Constitutional Clubs und Corresponding Societies organisierten englischen Jakobiner denunziert Murphy als gewissenlose Umstürzler, Atheisten und Vaterlandsverräter.78 Ihren verderbten Lehren of the Rights of Man, of Reform of Parlament, and Universal Suffrage stellt er die in der Verfassung verankerten, geschichtlich bewährten Prinzipien einer mixed limited Monarchy entgegen, deren Ursprung schon Montesquieu in den germanischen Wäldern verortet habe.79 Die dramatische Veranschaulichung dieser Prinzipien soll, wie Murphy hofft, all true Englishmen zum gemeinsamen Kampf against their enemies, wether foreign or domestic, mobilisieren.80 75 76

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Siehe auch zum Folgenden die Biografie von Spector (1979). Arthur Murphy, The Works of Cornelius Tacitus. With an Essay on His Life and Genius, 4 Bde., London 1793. Siehe auch die umfangreichen Rezensionen im Critical Review 8 (1793), 121–140 und im English Review 23 (1794), 1–16. Murphys Übersetzung galt über Jahrzehnte als Standardwerk und wurde bis 1907 in England und Amerika ein gutes Dutzend Mal aufgelegt. Siehe auch das Dankschreiben Edmund Burkes vom 8. 12. 1793 in Marshall u.

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Woods (1968) 500–503. Zum ambivalenten Germanenbild Burkes siehe Buchloh (1951). Arthur Murphy, Arminius: or The Champion of Liberty. A Tragedy, with an Historical Preface, London 1798; Reprint in: Richard B. Schwartz (Hg.), The Plays of Arthur Murphy, Bd. 4, New York u. London 1979. Murphy, Arminius, S. vi–viii u. xx–xxvi. Zum Kontext siehe Cox (1998) 86. Murphy, Arminius, S. vii u. xxvi. Murphy, Arminius, S. xxix.

Im Drama selbst wird die ständige Bedrohung der angestammten Freiheit durch Invasoren von Außen und Verräter im Inneren durch das tragische Ende des Helden veranschaulicht: Arminius stirbt auf dem Teutoburger Schlachtfeld durch einen vergifteten Pfeil, den ein Heckenschütze aus den Reihen der gallischen Hilfstruppen abgeschossen hat. In seinem Schlussmonolog mahnt der sterbende Cheruskerfürst seine Anhänger noch einmal, die einfachen, freien Sitten der Germanen gegen die römischen Eroberungsgelüste zu verteidigen. In einer großen Vision sieht er voraus, dass dies in ferner Zukunft auf dem europäischen Kontinent nicht mehr möglich sein wird und rät zur Übersiedlung nach England, wo Germanen und Briten gemeinsam ein neues Reich geordneter Freiheit begründen werden: Let my friends join in union with the natives. Britons and Saxons there may form one people; And from the woods of Germany import A form of government, a plan of laws Wise, just and equitable; laws of force To guard the gen’ral weal, and on the base Of public liberty, of social order, And equal justice, raise the noblest fabric Of civil union, like their own proud cliffs ’Midst wild commotions still to stand unshaken, And be in time the envy of the world.81

Der sterbende Arminius wird so zum Propheten der künftigen englischen Nationalgeschichte. Nicht nur die Entwicklung der englischen Verfassung, auch den Import einer deutschen Herrscherdynastie 1700 Jahre nach dem Sieg im Teutoburger Wald sagt er voraus, und verpflichtet seine Nachfahren zur ewigen Treue gegenüber dem Königshaus Hannover.82 Vor allem aber warnt er sie vor den Nachkommen der heimtückischen gallischen Heckenschützen, deren Verrat ihn das Leben kosten wird: Another word; it is my warning voice. Let Britons guard their coast against the Gauls, And never, – never let that treach’rous race, Nor their descendants to the latest time, Obtain a footing on their sea-girt isle. Let Britons seize the trident of the main, And plunge th’ invaders in the roaring surge; A band of slaves, who would reduce mankind To their own level, and enslave the world: A hord of savages, freebooters, murderers, Who trample on all laws; who own no gods; Whom in a mass their country disembogues, By depredations to lay waste their neighbours, And spread rebellion, anarchy, ruin.83

Murphys unverhohlene Indienstnahme der germanisch-angelsächsischen Tradition für tagespolitische Parteizwecke erregte in der polarisierten Öffentlichkeit seiner Zeit großes Aufsehen und kontroverse Diskussionen. Ausführlich und meist zustimmend dokumentierten die Rezensionen die polemisch81 82

Murphy, Arminius, S. 87. Murphy, Arminius, S. 88f.

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Murphy, Arminius, S. 88.

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sten Passagen aus dem Vorwort und dem Testament des Arminius.84 Besonders begeistert zeigte sich Robert Bisset im neu gegründeten Anti-Jacobin Review, der in Murphy zurecht einen verwandten gegenrevolutionären Geist entdeckte: At a time when the votaries of atheism, anarchy, and confusion are endeavouring to overwhelm every establishment under the destructive pressure of Jacobinism, the Nestor of letters is not an unobserving spectator of the contest between justice and violence.85 Kritiker aus dem Lager der Radical Press hingegen verteidigten die republikanischen friends of freedom gegen Murphys Polemik und beklagten die Diskreditierung ihrer patriotischen Motive als eine ignorant violation of truth.86 Der publizistische Streit über die politische Botschaft des Dramas schlug dabei auch auf die Einschätzung seines künstlerischen Werts zurück. Der Rezensent des Critical Review urteilte vernichtend: This is another unfortunate attempt to celebrate the German hero, whose fate it has been to meet with the best historian and the worst poets. … The dullness of the poet appears in the drama; and, in a political preface, the virulance of the partisan is equally discernible.87 Grundsätzlich einig war man sich darin, dass die literarische Qualität des Stücks mit den politischen Ambitionen seines Autors nicht Schritt halten konnte.88 Eine ähnliche Diskrepanz zwischen patriotischem Wollen und literarischem Können attestierte die Kritik 1814 auch der Tragödie Arminius, or The Deliverance of Germany von Charles Knight.89 Das Erstlingswerk des jungen Autors, der sich später einen Namen als Verleger und Wissenspopularisierer machen sollte, entstand 1813 als unmittelbare Reaktion auf den Sieg der Koalitionstruppen bei Leipzig und ist geprägt vom patriotischen Überschwang infolge der Erwartung eines nahen Endes der napoleonischen Herrschaft in Europa. Ähnlich wie in der deutschen Literatur der Zeit symbolisierte in England der germanische Kampf gegen Rom nun den nationalen Unabhängigkeitskampf gegen den ‚modernen Caesar‘ Napoleon.90 Knights Arminius, der mit dem Schlachtruf For Freedom and Germania! ins Gefecht zieht, ist ein antiimperialer Freiheitskämpfer.91 Die politisch-moralische Bedeutung seines Sieges liegt in der Mahnung an alle tyrannischen Eroberer, dass ihre Universalmonarchieträume letztlich immer am Selbstbehauptungswillen der freien Völker scheitern werden: Monarchs and thrones may fall, when these are built On lawless power, but never shall a race Of free-born men be fetter’d to the earth For conquerers to bestride. Tyrants may strut Their hour of vanity, but never, never Shall this wide earth hold but one gorgeous throne, Rear’d on the ruins of insulted nations.92 84

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Siehe z.B. British Critic and Quarterly Theological Review 12 (1798), 415ff. und Scientific Magazine & Freemasons’ Repository 11 (1798), 415f. Allgemein wohlwollend gegenüber dem politischen Anliegen des Autors urteilten auch der Monthly Mirror 6 (1798), 163f. und der Oracle and Public Advertiser vom 24. 5. 1798. Anti-Jacobin Review and Magazine 1 (1798), 191. Laut Montluzin (1988) 58 war Bisset one of the most fanatical Jacobinhaters in der englischen Publizistik der Revolutionsära. Analytical Review 28 (1798), 81. Critical Review 24 (1798), 353 u. 356. Siehe etwa die ausgewogene Kritik des Monthly Review 27 (1798), 394–399, die Murphys patriotische Motive würdigt, seine Dramatisierung des Arminiusstoffes aber als deutlichen Rückschritt gegenüber den Hermannsdramen Klopstocks bezeichnet. Charles Knight, Arminius, or The Deliverance of Germany. A Tragedy, Windsor 1814. Der Originaltext des Dramas

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stand mir leider nicht zur Verfügung; die Zitate stammen aus der von Benjamin Dudley Emerson herausgegeben Textsammlung The Academical Speaker. A Selection of Extracts in Prose and Verse, from Ancient and Modern Authors, Boston 1831, und den unten angeführten Rezensionen. Zur Person Knights siehe Gray (2006). Siehe Erbe (1995) und Hausberger (2010) zu den Anleihen Napoleons bei der römischen Herrschertradition und für die deutsche Arminiusbegeisterung zur Zeit der Befreiungskriege Dörner (1996) 63–141. Zitiert nach der Rezension im Monthly Review 75 (1814), 214. Die Moral des Stückes fasst der Rezensent folgendermaßen zusammen: The proudest and most successful conquerer will ultimately be foiled by a people bravely unanimus in the cause of freedom and national independence (213). Aus dem Schlussmonolog des Arminius, zitiert nach der Rezension im British Critic, N.S. 1 (1814), 102f.

Da im modernen Volkskrieg nicht mehr Dynastien, sondern Nationen gegeneinander kämpfen, tritt die Frage nach der Tugendhaftigkeit des Fürsten zurück hinter seine Funktion als Repräsentant des Freiheitswillens seines Volkes. Um ihn als solchen zu legitimieren, lässt Knight Arminius vor den germanischen Kriegerrat treten und für sein Vorhaben werben.93 Nicht seine Geburt, sondern erst die Wahl durch diese quasi-demokratische Versammlung macht ihn zum Anführer. Die in allen Arminiusdramen beschworene Entscheidung ‚Freiheit oder Sklaverei‘ wird so zu einem Kampf um Volkssouveränität oder Fremdherrschaft.94 Die Aufladung der Varusschlacht mit tagespolitischer und universalhistorischer Bedeutung geht allerdings auf Kosten der tragischen Tiefe der Hauptperson. Die zeitgenössische Kritik lobte Knight denn auch für sein Bemühen to express popular sentiment, and excite indignation against invaders, blieb aber skeptisch, was die Bühnentauglichkeit des Werkes betraf.95 Too long and too patriotic, lautete das knappe Urteil des British Critic.96 Manche gingen sogar so weit, dem Arminiusstoff generell die dramatische Qualität abzusprechen. Mit Rückblick auf die ebenfalls nie aufgeführten Dramen von Paterson und Murphy konstatierte ein Rezensent: The simple fact of a hardy people casting off the yoke of an universal conquerer, by one great exertion of natural strength, is, perhaps, defective in those intricate details which the modern drama appears to require; letztlich tauge das Thema deshalb nur as a vehicle for the delivery of impassioned sentiments of public feeling.97 Dieser Befund erscheint insofern symptomatisch, als der unmittelbare propagandistische Effekt der englischen Arminiusdramen in jedem der untersuchten Fälle ihren langfristigen künstlerischen Erfolg bei weitem überstieg. Im Gegensatz zu den im gleichen Zeitraum entstandenen deutschen Hermannsdramen von Schlegel, Klopstock und Kleist fanden die Bearbeitungen von Paterson, Murphy und Knight keine Aufnahme in den nationalen Literaturkanon, wurden weder gespielt noch wieder aufgelegt oder übersetzt, und gerieten schon bald in Vergessenheit. Und während in Deutschland Arminius’ Karriere als Roman- und Theaterheld Anfang des 19. Jahrhundert erst ihren eigentlichen Durchbruch erlebte – allein zwischen 1808 und 1839 entstanden 17 Bühnenbearbeitungen98 – wurde der Stoff im englischen Sprachraum in dieser Zeit nur noch in einer Handvoll Gedichte behandelt.

Arminius in der Dichtung des frühen 19. Jahrhunderts Unter den Poeten, die sich im 19. Jahrhundert des Arminiusthemas annahmen, befinden sich mit William Wordsworth, Walter Scott und Percy Bysshe Shelley drei klangvolle Namen, die ihren festen Platz in jeder englischen Literaturgeschichte haben. Allerdings widmen sich die Dichter der englischen Romantik dem Sieger der Varusschlacht eher en passant, ohne den Charakter des Helden oder sein Handeln im Detail lyrisch auszudeuten. Die Geschichte, die sich mit dem Namen Arminius verbindet, und 93 94 95 96 97

Siehe die in Emersons Academical Speaker (1831), 69–73 zitierten Passagen. Vgl. zur politischen Semantik der Fremdherrschaft Koller (2005). Monthly Review 75 (1814), 213. British Critic, N.S. 1 (1814), 103. European Magazine and London Review 66 (1814), 236f. Ganz ähnlich urteilt Knight im Rückblick selbst: It is one of he usual mistakes of young writers to believe that some

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temporary outburst of popular enthusiasm would ensure success to a poem, and especially to a drama, which, in the very nature of its subject, must be little more than a vehicle for rhetorical display. – Passages of a Working Life during half a Century, Bd. 1, London 1864, 153. Siehe Frenzel (2005) 75f. Nipperdey (1975) 13 schätzt, dass zwischen 1750 und 1850 etwa 200 „Dichtungen und Opern zum Hermannsthema“ entstanden.

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die Bedeutung seiner Taten werden vielmehr als bekannt vorausgesetzt und im Kontext eines aktuellen Freiheitskampfes als vorbildlich und Hoffnung spendend angerufen. Wordsworth verfasste sein Sonett A Prophecy im Februar 1807, zwischen der vernichtenden preußischen Niederlage bei Jena und Auerstedt und dem Frieden von Tilsit, der die Vorherrschaft Napoleons auf dem europäischen Kontinent festschreiben sollte.99 Unverhohlenes Anliegen des germanophilen Dichters ist der Aufruf an das deutsche Volk zum Aufstand gegen seine französischen Unterdrücker und zur Bestrafung der Verräter in den eigenen Reihen. Der Name des Siegers vom Teutoburger Wald wird hierbei zum Schlachtruf und zur Freiheitsparole: High deeds, O Germans, are to come from you! Thus in your Books the record shall be found, ‚A Watchword was pronounced, a potent sound, Arminius! – all the people quaked like dew, Stirred by the breeze – they rose, a Nation, true True to itself – the mighty Germany, She of the Danube and the Northern sea, She rose, – and off at once the yoke she threw.‘100

Ein Jahr später erschien Arminius in Scotts Gedichtzyklus Marmion in ähnlicher Funktion. Der dritte Gesang erinnert an den Tod Herzog Ferdinands von Braunschweig und den seines Nachfolgers, der 1806 in der Schlacht von Jena starb. Den trostlosen Zuständen im besiegten und besetzten Deutschland stellt Scott die Hoffnung auf das Erwachen eines new Arminius entgegen, der in der hour of Germany’s revenge sein Schwert an Brunswick’s tomb wetzen und blutige Rache nehmen werde.101 Arminius erscheint hier ähnlich wie in den zeitgenössischen Schlachtgesängen Ernst Moritz Arndts und Theodor Körners als deutscher Kriegsgott, dessen herbeigesehnte Inkarnation den Sieg über die französischen Besatzungstruppen herbeiführen soll.102 Die Verknüpfung von braunschweigischen und germanischen Geschichtsmythen zeigt dabei die Langlebigkeit der aus der Zeit des Siebenjährigen Krieges stammenden Parallelisierung von Herzog Ferdinand und Arminius. Die historische Figur, die während der antinapoleonischen Kriege der von Scott prophezeiten doppelten Wiedergeburt der Sieger von Minden und dem Teutoburger Wald vielleicht am nächsten kam, war der preußische Husarenmajor und Partisanenführer Ferdinand von Schill, in dem bereits Zeitgenossen in Deutschland wie in England einen „modernen Arminius“ sahen.103 Shelley hingegen beschwört zwölf Jahre später den Sieger der Varusschlacht nicht als nationalen Unabhängigkeitskämpfer, sondern als revolutionären Geist, der das von der Reaktion um den Lohn seines Freiheitskampfes gebrachte deutsche Volk von seinen fürstlichen Tyrannen befreien soll. Sein 199 William Wordsworth, „A Prophecy. February, 1807“, in: Poems in two Volumes, Bd. 1, London 1807, 107. Aufgenommen in zahlreichen weiteren Gedichtsammlungen, z.B. Poems by William Wordsworth, Bd. 2, London 1815, 230, The Miscellaneous Poems of William Wordsworth, Bd. 3, London 1820, 236, The Poetical Works of William Wordsworth, Bd. 2, Boston 1824, 339, oder The Sonnets of William Wordsworth, London 1838, 149. Eine erste deutsche Übersetzung erschien im Deutschen Museum 11 (1861), 940. 100 Wordsworth, „Prophecy“. Die folgenden Zeilen wenden sich gegen die knew-born Kings von Napoleons Gnaden, insb. den mit Frankreich paktierenden bayrischen König – First open Traitor to [Germanias] sacred name!

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Walter Scott, Marmion, a Tale of Flodden Field, Edinburgh 1808, 121. Allein bis 1815 erschienen acht weitere Auflagen. Eine deutsche Übersetzung wurde 1857 in Darmstadt herausgegeben. 102 Vgl. Dörner (1996) 63ff., Kösters (2009) 195ff. und Tatter (2009). 103 Heinrich Laube, Reisenovellen, Bd. 7, 2. Aufl., Mannheim 1847 (1. Aufl. 1837), 107 und „Major Schill“, in: London Magazine 3 (1821), 509–514 und in Spirit of the English Magazines 9 (1821), 289–294. Vgl. zum Schill-Mythos auch Rink u. Velzke (2009).

Arminius ähnelt eher dem „Freiheitsgott im Eichengrab“ der radikalen Studenten Karl Follen und Karl Ludwig Sand, für die der Sieg über Napoleon nur eine Etappe auf dem Weg zur Befreiung Deutschlands und Europas war.104 In der 1820 aus Anlass der Revolutionen in Spanien, Neapel und Sizilien entstandenen Ode to Liberty heißt es in der vierzehnten Strophe: Tomb of Arminius render up thy dead, Till like a standard from a watch tower’s staff, His soul may stream over the tyrant’s head; Thy victory shall be his epitaph, Wild Bacchanal of truth’s mysterious wine, King-deluded Germany, His dead spirit lives in thee.105

Bei Shelley steht der Cheruskerfürst in einer Reihe mit Alfred dem Großen, Luther und Milton für einen geistig-politischen Befreiungskampf, der sowohl nationale Konfliktlinien als auch historische Epochengrenzen transzendiert. Die Revolution, der Arminius als Vorbild dient, ist keine nationale, sondern eine universale. Die Freiheit, für die er kämpft, ist die Freiheit der Menschheit.106 Shelleys Freiheitsode weist damit bereits voraus auf die revolutionären Erhebungen von 1848/49, in denen überall in Europa die gebrochenen Verfassungsversprechen der Befreiungskriege erneut eingefordert wurden. Die englischen Arminiusdichtungen der 1820er und 1830er Jahre haben dagegen weniger appellativen Charakter. Ihr Thema ist nicht der Triumph der Varusschlacht, sondern die Zerrissenheit der Sieger nach der Vernichtung des äußeren Feindes: der innergermanische Bürgerkrieg. Personifiziert wird diese Schattenseite des Arminiusmythos durch Flavus, den Bruder des Helden, der auf Seiten der Römer gegen seine eigenen Verwandten kämpft. Das dramatische Potential dieses Bruderkampfes hatte schon Tacitus erkannt und in seinen Annalen als Dialog inszeniert. Das berühmte Streitgespräch der verfeindeten Brüder über die Weser hinweg inspirierte Anfang des 19. Jahrhunderts mehrere Dichtungen, in denen der Konflikt zwischen Loyalität und Verrat verhandelt wird. Während der römische Historiker jedoch beide Seiten gleichberechtigt ihre Motive darlegen und begründen lässt, ergreifen seine modernen Epigonen einseitig Partei: Ihr Anliegen ist die Glorifizierung des germanischen Patrioten und die Diskreditierung seines romanisierten Bruders.107 Spiegelbildlich zum Nachruhm des Arminius steigert sich die Schande des Flavus, über dem der Fluch des Vaterlandsverrats liegt. Ein Vorläufer dieser patriotischen Lehrstücke erschien bereits 1801 in Matthew Gregory Lewis’ Sagen- und Liedersammlung Tales of Wonder.108 Lewis hatte sich als Verfasser romantischer Schauergeschichten einen Namen gemacht – seine gothic novel The Monk aus dem Jahre 1796 wurde zum euro-

104 Karl Follen, Das große Lied (1815), zitiert nach Mehring (2007) 71. Vgl. das revolutionäre Pamphlet „Conduct of the German Governments“ eines anonymen deutschen Radikalen im Londoner Morning Chronicle vom 1. 1. 1820, in dem auch Bezug auf den Freiheitshelden Arminius genommen wird: We have imitated Hermann (Arminius) our ancestor – we have served the enemy for three years, and yet preserved our love with fidelity in our hearts. Auch in Amerika wurde der Hermannskult der radikalen deutschen Studenten registriert – so im Louisville Public Advertiser vom 13. 3. 1820. 105 Percy Bysshe Shelley, „Ode to Liberty“, in: Prometheus unbound. A lyrical Drama in four Acts with other Poems, London 1820, 218–222; nachgedruckt u.a. in: The Works

of Percy Bysshe Shelley, hg. von Mrs. Shelley, London 1847, 261–263. 106 Vgl. Rabbe (1888) 343f. und Guinn (1969) 76f. 107 Vgl. als Kontrast die ausgewogene, eng an Tacitus angelehnte Darstellung bei Hamilton, Agrippina II, 45–48. 108 Matthew Gregory Lewis, „Sir Hengist“, in: ders., Tales of Wonder, Bd. 1, London 1801, 17–20. Lewis’ romantische Fabelsammlung wurde schnell populär – bereits im gleichen Jahr erschienen weitere Auflagen in London, Dublin, New York und Wien. Zusammen mit dem Folgeband Tales of Terror wurden die Tales of Wonder das ganze 19. Jahrhundert hindurch immer wieder neu aufgelegt. Vgl. Guthke (1979).

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päischen Bestseller und gilt heute als Klassiker des Genres. Die Ballade Sir Hengist, eine Übertragung aus dem Deutschen, erzählt von der unheimlichen Begegnung des gleichnamigen Ritters und seines Sohnes mit dem Geist des Flavus.109 Von Odin verflucht, wandelt das Gespenst des Verräters noch immer durch das Weserland und wäscht in jeder Nacht zur Mitternachtsstunde mit seinen Tränen das Blut von seiner Hand und Lanze. Nachdem die grausige Gestalt durch Odins Raben verjagt ist, nimmt der schwer erschütterte Ritter Hengist seinem Sohn das Versprechen ab, niemals Anlass für ein ähnlich schmachvolles Los zu geben: Now take your sword in hand, And swear with me, each drop of gore, That swells your veins, well pleased to pour To guard your native land!110

Das 1827 entstandene Gedicht Arminius des englischen Politikers und Dichters Winthrop Mackworth Praed schildert hingegen die direkte Konfrontation des Helden mit seinem abtrünnigen Bruder.111 Anders als bei Tacitus kommt Flavus hier überhaupt nicht zu Wort. Das Gedicht besteht einzig aus der Wutrede des Arminius, der sich von seinem Bruder lossagt (No brother thou of mine), ihn im Namen Germaniens, der germanischen Götter und der gemeinsamen Mutter verflucht und ankündigt, ihn in der bevorstehenden Schlacht persönlich zu töten. Zum furiosen Ende dieses leidenschaftlichen Hassgesangs prophezeit er dem Römersklaven ewige Schande noch über den Tod hinaus: The canker of Rome’s guilt shall be Upon his dying name; And as he lived in slavery, So shall he fall in shame.112

Die Gegenüberstellung der Ehre des Patrioten und der Schande des Vaterlandsverräters ist auch das Leitmotiv eines Arminius-Gedichts, das die britisch-kanadische Schriftstellerin Susanna Strickland Moodie erstmals 1835 publizierte.113 Moodie, deren ‚Hinterwäldler-Memoiren‘ Roughing It in the Bush heute als Meilenstein der kanadischen Nationalliteratur gelten, schrieb seit Anfang der 1820er Jahre Kindergeschichten und Gedichte für verschiedene englische und amerikanische Journale. Viele ihrer Texte aus dieser Zeit behandeln Geschichten des klassischen Altertums, die sich in romantisierender Form und belehrender Absicht vorwiegend an ein jugendliches Publikum richten. Arminius wird von Moodie als Inbegriff aller heroischen und patriotischen Tugenden vorgestellt. Sein Glaubensbekenntnis, das er Flavus über die Weser hinweg zuruft, lautet: Rather in freedom’s cause to die, Than live in splen-

109 Das Original findet sich in der von Christian Cay Lorenz Hirschfeld herausgegebenen Anthologie Romanzen der Deutschen, Bd. 2, Leipzig 1778, 175–177. Dort heißt der Ritter nicht Hengist, sondern Horst. Lewis’ Rückgriff auf den Namen des angelsächsischen Heerführers, der im 5. Jahrhundert die Eroberung Britanniens anführte, lässt sich als Anglisierung des ursprünglich deutsch-patriotischen Themas deuten. 110 Lewis, „Hengist“, 20. Im Original lässt der Vater seinen Sohn auf das „deutsche Vaterland“ schwören (s.o.). 111 Winthrop Mackworth Praed, „Arminius“ [1827], in: ders., The Poetical Works, New York 1854, 243–245. Praeds gesammelte Gedichte wurden in England und

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Amerika bis in die 1880er Jahre ein knappes Dutzend mal neu aufgelegt. Arminius galt seit seiner Wiederentdeckung durch Edward Creasy (s.u.) als eines seiner gelungensten Werke und wurde auch im Schulunterricht verwendet – siehe Blackwood’s Sixth Standard Reader, London u. Edinburgh 1885, 193–196. Zum Autor siehe Kraupa (1910) und Hudson (1939). Praed, „Arminius“, 245. Susanna Strickland, „Arminius“, in: North American Magazine 5 (1835), 403–406; nachgedruckt im Literary Garland 2 (1844), 61f. und in Belford’s Monthly Magazine 1 (1877), 37–41. Zur Biografie der Autorin siehe Peterman (1999).

did infamy! 114 Der Dialog der feindlichen Brüder, der sich eng an Tacitus anlehnt, endet ähnlich wie bei Praed mit der Vorwegnahme des Urteils der Nachwelt durch den Helden: My name, my countries proudest boast, For ages yet to be – The war-cry of the charging host, The watch-word of the free: While thou shalt be the curse and scorn Of German heroes yet unborn!115

Die Folgen dieses Fluches für den Verräter hatte Moodie bereits fünf Jahre zuvor in ihrer Erzählung The Son of Arminius literarisch verarbeitet.116 Hauptfigur der Geschichte ist Thumelicus, der in römischer Gefangenschaft geborene Sohn von Arminius und Thusnelda. Nach dem Tod seiner Mutter wird er von seinem Onkel Flavus adoptiert und römisch erzogen. Thumelicus, der als junger Mann ein ausschweifendes Luxusleben führt, hält Flavus für seinen leiblichen Vater, bis dieser als gebrochener Mann von einem Feldzug aus Germanien zurückkehrt. Die Wucht der Schuldvorwürfe, die ihm sein Bruder bei ihrer letzten Begegnung entgegenschleuderte, hat ihn moralisch zerschmettert.117 Auf seinem Sterbebett enthüllt Flavus seinem Adoptivsohn, wer sein wahrer Vater ist, und warnt ihn vor einem ähnlich schmählichen Ende wie dem eigenen: Oh! My son! Never raise your arm against your country; it is plunging a dagger into the bowels of your mother, and imbruing your hands in the blood of her who bore you. If you would not have your last hours resemble mine, endure with firmless slavery, tortures, and an ignominious death, rather than draw your sword in so unhallowed a cause!118

Thumelicus besinnt sich daraufhin auf seine germanischen Wurzeln, kehrt dem dekadenten römischen Leben den Rücken und tritt in das Heer von Arminius ein, ohne jedoch seine Identität preiszugeben. Seite an Seite mit dem champion of liberty kämpft er gegen die Römer und erwirbt sich durch Gehorsam und Tapferkeit die Achtung der germanischen Krieger.119 Der junge Held stirbt schließlich, von einem Pfeil getroffen, in den Armen seines Vaters. Arminius erkennt seinen Sohn an einem Amulett, das er einst Thusnelda schenkte. Stolz tritt er daraufhin vor seine germanischen Krieger: Behold and envy the prize I have gained by this day’s victory – a son who died gloriously for his country!120 Die Opferung des eigenen Lebens auf dem Altar des Vaterlandes als höchstes Ziel, der nationale Verrat des Vaters/Bruders als tiefste Schmach – dies sind die politisch-moralischen Werte, die mit den patriotischen Arminiusdichtungen Praeds und Moodies insbesondere der Jugend in England und Amerika vermittelt wurden. Das abschreckende Schicksal des Verräters Flavus dient dabei derselben nationalpädagogischen Absicht wie die Verherrlichung des Freiheitshelden Arminius: Dem Leben in Schande folgt ein schmachvoller Tod und die Verachtung der Nachwelt, dem selbstlosen Tod auf dem Schlachtfeld hingegen die ruhmreiche Verewigung im nationalen Gedächtnis. Wie der deutsche diente 114 115 116

Zitiert nach Literary Garland 2 (1844), 60. Literary Garland 2 (1844), 61. Susanna Moodie, „The Son of Arminius. A Tale of Ancient Rome“, in: Ackermann’s Juvenile Forget Me Not, London 1830, 241–261; amerikanische Nachdrucke erschienen in: The Juvenile Forget Me Not, Philadelphia 1839, 157–178, im Victoria Magazine 1 (1847), 77–82 und in The Hyacinth, or: Affection’s Gift, Philadelphia 1850, 139–161. Siehe zum Folgenden auch Thurston (1996) 35f.

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The repoaches of the patriot had broken the heart of the betrayer of his country. Zitiert nach der amerikanischen Ausgabe im Juvenile Forget Me Not (1839), 168. 118 Moodie, „Son of Arminius“ (1839), 169f. 119 Moodie, „Son of Arminius“ (1839), 173. 120 Moodie, „Son of Arminius“ (1839), 177.

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der englische Arminiuskult somit der Verankerung der Nation als höchstem Wert, der Gleichsetzung der Freiheit mit der Unabhängigkeit des Vaterlands und der nationalen Mobilisierung gegen den Feind von außen und die Verräter im Inneren.121 Shelleys Anrufung des revolutionären Geistes, der in Arminius’ Gruft und der Erinnerung seiner Nachkommen schlummere, verweist allerdings darauf, dass die Frage, wo die Grenzlinie zwischen Patrioten und Renegaten verlief, nach dem Sieg über den Cäsaren Bonaparte durchaus unterschiedlich beantwortet werden konnte. Murphys antijakobinische Instrumentalisierung von 1798 konnte sich zwanzig Jahre später bereits zum republikanischen Revolutionsaufruf verkehren. Zur Verdeutlichung des obrigkeitskritischen Potentials, das auch im 19. Jahrhundert noch durch die Dramatisierung des Arminiusstoffes freigesetzt werden konnte, sollen im Folgenden zwei ausländische Theaterstücke untersucht werden, die auch in der englischen Öffentlichkeit ihrer Zeit zum Teil beträchtliches Aufsehen erregten, in der Forschungsliteratur jedoch bisher kaum beachtet wurden.

Rezeption ausländischer Arminiusdramen Angesichts der parallel ansteigenden Konjunktur der englischen und deutschen Arminius-Literatur im 18. Jahrhunderts gibt es erstaunlich wenige Hinweise auf wechselseitige Wahrnehmungs- und Austauschprozesse zwischen beiden Nationalkulturen. Während man in Deutschland die englischen Adaptionen des Arminiusmythos anscheinend überhaupt nicht wahrgenommen hat,122 finden sich in der englischen Publizistik nur wenige Bezüge auf die deutschen Hermannsdramen. Anders als in Frankreich wurde in Großbritannien keine der heute kanonisierten Bearbeitungen eines Schlegel, Möser oder Klopstock einer Übersetzung für wert befunden.123 Einzige Ausnahme bildet das epische Heldengedicht des Freiherrn von Schönaich, das 1764 unter dem Titel Arminius: or, Germania freed in London publiziert wurde.124 Allerdings geriet die Übersetzung so unglücklich, dass die Kritiken einhellig negativ ausfielen.125 Der Blick über den Tellerrand der eigenen Nationalliteratur weitete sich erst im 19. Jahrhundert. Doch waren es nicht die bahnbrechenden Hermannsdramen Kleists und Hebbels, die das englische Publikum faszinierten, sondern zwei heute weitgehend unbekannte Bühnenwerke aus Italien und Österreich, die in ihrer Zeit in ganz Europa große Aufmerksamkeit erregten und hitzige Diskussionen aus121 122

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Vgl. Dörner (1996). Einzige mir bekannte Ausnahme ist der Roman von Knight (s. Anm. 63), der mehrfach ins Deutsche übersetzt und von der deutschen Kritik wohlwollend aufgenommen wurde; siehe Allgemeine Literatur-Zeitung (Juli 1795), 78–80. Bemerkenswerterweise war dem Rezensenten aber entgangen, dass es sich bei dem anonym publizierten Werk um eine Übertragung aus dem Englischen handelte. Dies erstaunt insbesondere im Falle Klopstocks, der in England wohl bekannt war und intensiv rezipiert wurde – siehe Stockley (1929) 44–74. Erst Jahrzehnte nach seinem Tod erschien eine kleine Auswahl seiner Hermannbardiette in englischer Übersetzung – siehe „Three Odes“, in: Fraser’s Magazine 1 (1830), 273f., William Taylor, Historic Survey of German Poetry, Bd. 1, London 1830, 294–300, John Oxenford, „German Poems, relating to the Defeats of the Romans in Germany“, in:

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Mirror Monthly Magazine 4 (1848), 444 und Odes of Klopstock, from 1747 to 1780. Translated from the German by William Nind, London 1848, 91f. u. 258–265. Christoph Otto von Schönaich, Hermann, oder, Das befreyte Deutschland. Ein Heldengedicht, Leipzig 1751; Arminius: or, Germania freed, 2 Bde., London 1764. Eine französische Übersetzung erschien 1769 in Paris, eine portugiesische 1791 in Lissabon. Vgl. Kösters (2009) 140–146. Siehe die Besprechungen im Critical Review 18 (1764), 353–360 und Monthly Review 32 (1765), 15–19. Sehr geschadet hat Schönaich auch das mitübersetzte Vorwort seines literarischen Mentors Johann Christoph Gottsched, dessen anmaßender Vergleich des Werks mit der Ilias Homers und Miltons Paradise Lost von den englischen Rezensenten ausgesprochen übel aufgenommen wurde.

lösten. Beiden gemeinsam ist, dass sie nicht den Helden der Varusschlacht in den Mittelpunkt des dramatischen Geschehens stellen, sondern die tragische Figur seines Sohnes Thumelicus. Verhandelt wird in den Stücken von Ippolito Pindemonte und Friedrich Halm weniger die Siegestat des Arminius als vielmehr der Streit um sein Erbe. Pindemontes Tragödie Arminio stammt noch aus der Zeit der französischen Besatzung Italiens und enthält unverkennbare Bezüge auf die zeitgenössischen politischen und militärischen Konflikte. Geschrieben 1797, ein Jahr nach den blutig niedergeschlagenen antijakobinischen Osterunruhen in seiner Heimatstadt Verona, veröffentlicht 1804 im Jahr der Kaiserkrönung Napoleons, wurde das Drama schnell populär und begründete in den folgenden Jahrzehnten Pindemontes Ruhm als einer der angesehensten National- und Freiheitsdichter seiner Generation.126 Als solcher wurde er in den 1820er und 1830er Jahren auch in Großbritannien gewürdigt, wobei mit Vorliebe Passagen aus dem Arminio zitiert wurden.127 Besonders ausführlich widmete sich die Dichterin und Dramatikerin Mary Margaret Busk 1825 in ihrer Artikelserie Horae Italicae dem italienischen Germanendrama,128 und noch um die Jahrhundertmitte dokumentierte Longfellows amerikanische Anthologie The Poets and Poetry of Europe längere Abschnitte aus dem letzten Bardengesang des Schlussaktes.129 Der Chor der Barden war nicht die einzige Innovation in Pindemontes Bearbeitung des Arminiusstoffes. Auch inhaltlich setzte der Italiener neue Akzente, die, wie Busk warnte, diejenigen englischen Leser erstaunen und schockieren mussten, die den Germanenfürsten nur als disinterested and successful champion of German freedom kannten.130 Pindemontes Arminius hingegen ist ein vom römischen Cäsarenwahn infizierter would-be usurper, dem sein Ruhm als Vaterlandsretter so zu Kopf gestiegen ist, dass er die Alleinherrschaft über alle germanischen Stämme anstrebt. In der Schlüsselszene des Dramas erläutert er seinem Sohn Baldur, wie die unter seiner Führung geeinten Germanen das römische Reich erobern könnten. Auch der Selbstmord Baldurs, der seinen Vater vergeblich an die ‚republikanischen‘ Tugenden seines Volkes erinnert, kann Arminius von diesem Plan nicht abbringen. Erst als er in der finalen Entscheidungsschlacht gegen seine ehemaligen Kampfgenossen tödlich verwundet wird, erkennt er den Wahnwitz seines Unterfangens, bittet seinen Kontrahenten, den edelmütigen Thelgastes, um Vergebung und übergibt ihm das Schwert, mit dem er einst die germanische Freiheit gegen die römischen Invasoren verteidigt hat. Mary Busk erkannte in diesem Arminius wohl zurecht das Abbild Napoleons, der sich vom republikanischen General zum Kaiser Europas emporkämpfte, bis er schließlich an der Maßlosigkeit seiner größenwahnsinnigen Ambitionen scheiterte.131 Fünfzig Jahre später verkehrte sich dann der dramatische Vater-Sohn-Konflikt. In Friedrich Halms 1854 in Wien uraufgeführtem Fechter von Ravenna erscheint der in Gefangenschaft aufgewachsene Thu126 Ippolito Pindemonte, Arminio. Tragedia, Verona 1804. Bis in die 1830er Jahre erschienen in ganz Italien mehr als ein dutzend weitere Auflagen. In Wien veröffentlichte Martin Span 1819 eine deutsche Bearbeitung unter dem Titel Hermann der Cherusker. Eine französische Übersetzung erschien 1822 in Paris. Siehe zum Inhalt und zur literaturgeschichtlichen Einordnung Barthouil (1977) sowie Klein (1869) 20–37. 127 Siehe „Italian Tragedy“, in: Quarterly Review 24 (1820), 87; Felicia Heman, „Patriotic Effusions of the Italian Poets“, in: Edinburgh Magazine 83 (1821), 513; „On Contemporary Italian Writers“, in: Knight’s Quarterly Magazine 3 (1824), 406–432; „Critical Sketches“, in: Foreign Quarterly Review 5 (1829), 325–328; und „Maffei’s History of Italian Literature“, in: Foreign Quarterly Review 17

(1836), 233–248. Vgl. zur zeitgenössischen Rezeption und politischen Deutung italienischer Dramatiker in England Saglia (2005). 128 Mary Margaret Busk, „Horae Italicae Vol. I. Arminio by Ippolito Pindemonte“, in: Blackwood’s Edinburgh Magazine 8 (1825), 545–556. 129 Henry Wadsworth Longfellow, The Poets and Poetry of Europe. With Introductions and Biographical Notices, New York u. London 1855, 610–612 (1. Aufl. Philadelphia 1845). Vgl. auch Florence Trail, A History of Italian Literature, Bd. 1, New York 1903, 117f. 130 Busk, „Horae Italicae“, 546. 131 Busk, „Horae Italicae“, 546. Deutlich sind auch die Parallelen zur republikanischen Tyrannenkritik Algernon Sidneys et al. (s.o.).

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melicus als dekadenter Römersklave, der sich lieber seinen neuen Herren zum Vergnügen als Gladiator in der Arena verdingt, als für die Ideale seines längst verstorbenen Heldenvaters zu streiten. Vergeblich erinnert ihn seine Mutter an seine blutsmäßige Abstammung und die patriotische Pflicht, die Bestrebungen des Arminius um die Einheit Germaniens im Kampf gegen Rom weiterzuführen. Hin- und hergerissen zwischen Vaterlands- und Mutterliebe, opfert Thusnelda schließlich ihren Sohn, um zu verhindern, dass sich Thumelicus an einem Schauspiel beteiligt, das der diabolische Caligula zum Zweck der Demütigung Germaniens inszenieren will. Nachdem sie ihren Sohn eigenhändig mit dem Schwert seines Vaters getötet hat, nimmt sich Thusnelda vor den Augen des Cäsaren selbst das Leben, und auch ihr Schwager Flavius stürzt sich in sein Schwert. Caligula rast vor Wut: Alle gefangenen Barbaren sind tot – doch die Ehre Germaniens ist gerettet.132 Halms pathosschwangere Glorifizierung der germanischen Nemesis, die lieber ihren eigenen Sohn erdolcht als zuzulassen, dass er dem Namen seines Vaters Schande bereitet, wurde über die Grenzen des deutschen Sprachraums hinaus zu einem internationalen Bühnenereignis.133 Angeheizt wurde das Publikumsinteresse zunächst durch Spekulationen über den anfangs anonymen Autor, der sich nach seiner Enttarnung zudem einem heiklen Plagiatsprozess stellen musste.134 Politisch brisanter waren jedoch die unverhohlen großdeutschen Appelle im Stück, die nur wenige Jahre nach der gescheiterten Revolution von 1848/49 als direkte Kritik an den Obrigkeiten der deutschen Einzelstaaten gedeutet wurden. Was während der Reaktionsära in Deutschland nur hinter vorgehaltener Hand geäußert werden konnte, sprach die englische Presse offen aus: Mit dem zögerlichen, unpatriotischen Römerfreund Thumelicus sei der preußische König Friedrich Wilhelm IV. gemeint, der sich als willenloses Werkzeug des russischen Zaren missbrauchen lasse, statt seiner Berufung zur Einigung Deutschlands zu folgen.135 Doch Halms Drama bot aus englischer Sicht mehr als nur a severe lesson to the nation, and especially to the King of Prussia.136 Für den Literaturwissenschaftler und Übersetzer Louis Raymond de Vericour steht das Stück als Ausdruck des Germanic genius für den freiheitlichen spirit of opposition and reform der jungen deutschen Literatur und damit in einer Traditionslinie, die er bis auf Schillers Wilhelm Tell zurückführt.137 Das Schicksal des Thumelicus spiegelt aber nicht nur die Trostlosigkeit der politischen 132

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Friedrich Halm, Der Fechter von Ravenna. Trauerspiel in fünf Akten, Wien 1857. Dahinter verbarg sich der Freiherr von Münch-Bellinghausen, der unter dem Pseudonym Halm 1843 bereits das ebenfalls enorm erfolgreiche Barbarendrama Der Sohn der Wildniß verfasst hatte, das unter dem Titel Ingomar, the Barbarian auch in England und Amerika aufgeführt und in verschiedenen Ausgaben publiziert wurde. Eine erste englische Übersetzung von Louis Raymond de Vericour wurde 1859 in London veröffentlicht und in den folgenden Jahren mehrfach neu aufgelegt; eine zweite bereits 1861, ebenfalls in London (nachgedruckt in William Henry Charlton, Poems and Plays, Original and Translated, London 1868), und eine dritte von Sir Thomas Martin 1885 und 1894 in Edinburgh. Eine weitere, ursprünglich für das Londoner Theatre Royal geschriebene Fassung des Journalisten William Jaffray wurde 1865 mit großem Erfolg in Melbourne aufgeführt – siehe The Era (London) vom 17. 9. 1865. In den Vereinigten Staaten wurde das Stück durch die gefeierten Tourneen des Wiener Theaterstars Fanny Janauschek Ende der 1860er Jahre bekannt – siehe z.B. New York Times vom 8. 11. 1867 und Chicago Tribune vom

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25. 2. 1868. Übersetzungen ins Italienische erschienen 1858 in Turin und 1878 in Mailand; ins Dänische 1862 in Kopenhagen; ins Portugiesische 1870 und 1871 in Lissabon; ins Spanische in Madrid 1884 bereits in dritter Auflage. Eine erste französische Fassung druckte die Revue Germanique 1 (1858), 97ff. u. 255ff.; eine weitere erschien 1890 in Paris. Im August 1870 (!) wurde das Stück im Pariser Théâtre de l’Ambigu-Comique aufgeführt. Auch in Stockholm kam das Stück zur Aufführung, während es in Moskau verboten wurde – siehe Manchester Guardian vom 15. 08. 1856. Siehe die Berichte im Londoner Athenaeum vom 27. 1. und 22. 12. 1855, 29. 3., 5. und 26. 4. 1856 sowie Theodore Martins umfangreiche Rezension der ersten deutschen Druckfassung in Frazer’s Magazine 55 (1857), 829–845. Zu den Hintergründen des Plagiatsstreites siehe Petersen (1910) 9–21, und Klein (1995). The Literary Gazette vom 17. 2. 1855, 110. The Literary Gazette, vom 17. 2. 1855, 110. Vericour, „Translator’s Preface“, in: Friedrich Halm, The Gladiator of Ravenna. A Tragedy, London 1859, S. iv. Vgl. auch die Rezension in der Londoner Daily News vom 2. 7. 1859.

Zustände in Deutschland wider, sondern weit darüber hinaus die entmenschlichende Wirkung jeder Form der Sklaverei: skilful corruption, and the system of terror that has made slaves of men among all races, have degraded him so far as to make him bless his servitude, adore his oppressors, pride himself in his disgrace, play cheerfully with his chains.138 Die Botschaft des Stücks ist deshalb eine universale: that personal, political, and mental freedom are the elementary rights of our being.139 So wird Halms Drama zum abolitionistischen Lehrstück für die Widerlegung des despicable argument of inferiority of race, auf das sich insbesondere die Verteidiger der zu dieser Zeit äußerst heftig umstrittenen Negersklaverei in Amerika stützen. Das Beispiel des in römischer Gefangenschaft degenerierten germanischen Fürstensohnes dient Vericour damit letzten Endes zur Bestätigung des antirassistischen Credos: God has made of one blood all the nations of the earth.140 Angesichts der um die Jahrhundertmitte gerade auch in England und Amerika weit verbreiteten rassistischen Germanentümelei erscheint es allerdings höchst fragwürdig, ob diese eigenwillige abolitionistische Deutung die erstaunliche Popularität des Gladiator of Ravenna im britischen Königreich und den Vereinigten Staaten erklären kann.141 Dieser Erfolg beruht vermutlich eher auf zwei anderen Faktoren. Erstens löst Halm das von den Kritikern der englischen Arminiusdramen beklagte Problem der fehlenden tragischen Tiefe eines erfolgreichen Vaterlandsretters und tugendstrotzenden Superpatrioten, indem er, wie bereits Pindemonte fünfzig Jahre zuvor, die Handlung in die Zeit nach dem glorreichen Sieg über Varus und seine Legionen verlegt. Thema ist in beiden Dramen nicht der militärische Erfolg, sondern das politische Scheitern des Arminius, versinnbildlicht im Schicksal seines Sohnes Thumelicus, der sich entweder selbst den Herrschergelüsten seines Vaters opfert oder von seiner Mutter als Verräter gerichtet wird.142 Durch diese (frei erfundenen) dramaturgischen Wendungen wird aus der Arminiusgeschichte ein tragischer Familienkonflikt zwischen Eltern und Sohn, Freiheitsliebe und Machtstreben, Gehorsam und Verrat, Reue und Sühne. Das tragische Ende der cheruskischen Helden und Heldinnen dürfte zweitens auch eher der britisch-amerikanischen Wahrnehmung der machtpolitischen Konstellationen im Europa der 1820er bzw. 1850er Jahre entsprochen haben. Den großen nationalen Erhebungen der Befreiungskriege und der Revolution von 1848/49 folgte auf dem Kontinent der Triumph der Reaktion. Historische Schauspiele, die die Geschichte eines durch Verrat und innere Zwietracht verspielten Sieges erzählten, mussten aus liberaler und republikanischer Perspektive diesen Verhältnissen angemessener erscheinen als dramatische Inszenierungen einer erfolgreichen Mobilisierung gegen einen äußeren Feind. Die englischen Arminiusdramen waren 1740, 1798 und 1813 in Zeiten aktueller kriegerischer Auseinandersetzungen mit den romanischen Mächten Spanien und Frankreich entstanden. Nach der Vernichtung Napoleons existierte keine ernsthafte Bedrohung des expandierenden britischen Weltreiches mehr. Infolgedessen hatten auch patriotische Stücke, die an den erfolgreichen germanischen 138 Vericour, „Preface“, S. viii. 139 Vericour, „Preface“, S. vii. 140 Vericour, „Preface“, S. x. Das Zitat stammt von dem bedeutenden Theologen Nathanael Emmons, einem der Gründerväter der amerikanischen Antisklavereibewegung. Eine Seite zuvor zitiert Vericour bereits den abolitionistischen Klassiker Uncle Tom’s Cabin von Harriet Beecher Stowe. 141 Durchaus in Einklang zu bringen mit der Ideologie des ,angelsächsischen Teutonismus‘ (s.u.) ist hingegen die oft zitierte Prophezeiung aus dem Schlussmonolog Thusneldas, in der sie den Fall Roms und die zukünftige

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germanische Weltherrschaft vorhersagt: Rome, the proud sanguinary Rome, falls in ruin! Million of German voices call out ‚Victory!‘ and I see the earth, the ocean (!), subdued by Germanic swords, and subjected to the ascendancy of Germanic genius (Halm, Gladiator, S. 142). Auch bei Pindemonte ist Thumelicus der eigentliche moralische Gegenspieler seines Vaters. Wie englische und deutsche Kritiker übereinstimmend bemerken, ist die dramatische Handlung mit seinem Selbstmord eigentlich bereits am Ende – siehe Knight’s Quarterly Magazine 3 (1824), 419 und Klein (1869) 30.

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Widerstand gegen die Einverleibung in das römische Imperium erinnerten, ihre politische Funktion verloren. Dass Arminius trotzdem in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zum englischen und amerikanischen Nationalhelden erhoben wurde, war daher nicht das Werk von Dichtern und Literaten, sondern von Historikern und politischen Publizisten, denen wir uns in den folgenden Abschnitten widmen wollen.

Arminius in der Geschichtsschreibung des 18. Jahrhunderts Englische Historiker, die sich mit Arminius und der germanischen Frühgeschichte beschäftigten, schöpften hauptsächlich aus zwei Quellen: den Werken des Tacitus und der deutschen Geschichtsschreibung. Wesentlich erleichtert wurde der Zugang zur germanischen Geschichte Anfang des 18. Jahrhunderts zunächst durch die ersten populären Übertragungen der Annalen und der Germania ins Englische.143 Dass sich mit dem wissenschaftlichen meist auch ein politisches Interesse verband, zeigt insbesondere die Übersetzung des berühmten Whig-Publizisten Thomas Gordon, der sich in den 1720er Jahren als Mitautor der Cato’s Letters einen Namen als radikaler Kritiker politischer Korruption und gesellschaftlicher Dekadenz gemacht hatte.144 So wie Tacitus den politischen Niedergang des Kaiserreiches auf den Verlust klassisch-republikanischer Tugenden zurückführt, die er zumindest teilweise bei den ‚barbarischen‘ Germanen wiederfindet, so verweist Gordon auf das taciteische Rom als warnendes Beispiel für die zersetzenden Wirkungen von verschwenderischem Luxus und persönlichem Machtstreben im zeitgenössischen Großbritannien.145 Für oppositionelle Kräfte verschiedenster politischer Couleur wurden die Annalen so zum Arsenal antiabsolutistischer Herrschaftskritik und die Germania zur Projektionsfläche für die Ideale natürlicher Sittlichkeit und Freiheit. Gordons Bearbeitung blieb über Jahrzehnte die englische Standardübersetzung, bis Arthur Murphy 1793 seine bereits erwähnte Werkausgabe veröffentlichte. In Murphys Widmung an Edmund Burke wird Tacitus bereits explizit als Kronzeuge für die englische Tradition einer gemäßigten Regierungsform auf germanischer Grundlage vorgestellt: In the Manners of the Germans we have the origin of that Constitution which you have so ably defended.146

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Der antiquarischen Übersetzung von Richard Grenewey, The Annales of Cornelius Tacitus. The Description of Germanie, London 1598 (fünf weitere Auflagen bis 1640) folgte zunächst die Gemeinschaftsarbeit The Annals and History of Cornelius Tacitus; his Account of the Ancient Germans, and the Life of Agricola. Made English by several Hands, 3 Bde., London 1698 (Neuauflage 1716). Wirkliche Popularität erlangte aber erst Thomas Gordons The Works of Tacitus. To which are prefixed, Political Discourses upon that Author, 2 Bde., London 1728–1731. Bis 1778 erschienen mindestens sechs weitere Ausgaben von Gordons Übersetzung. Vgl. auch zum Folgenden Benario (1976), Zwicker u. Bywaters (1989) und Weinbrot (1993). 144 Thomas Gordon u. John Trenchard, Cato’s Letters. Essays on Liberty, Civil and Religious, and other Important Subjects, 4 Bde., London 1723/1724. Diese Sammlung politischer Essays, die 1748 bereits in fünfter Auflage er-

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schien, fand ebenso wie Gordons Tacitusübersetzung besonders in den amerikanischen Kolonien weite Verbreitung und zählt zu den Inspirationsquellen der Unabhängigkeitsbewegung. Eine deutsche Übersetzung erschien 1756 in Göttingen. Vgl. Barry (2007). 145 Siehe v.a. Gordons der Übersetzung vorangestellte Political Discourses, die 1742 in Amsterdam erstmals auf Französisch und 1764 in Nürnberg unter dem bezeichnenden Titel Die Ehre der Freyheit der Römer und Britten, nach Herrn Thomas Gordon’s staatsklugen Betrachtungen über den Tacitus auf Deutsch erschienen. 146 Murphy, Tacitus I, viii. Ähnlich präsentistisch urteilte bereits John Aikin im Vorwort seiner Germania-Übersetzung A Treatise on the Situation, Manners, and Inhabitants of Germany, Warrington 1777, vii: the government, policy, and manners of the most civilized parts of the globe … originate from the woods and deserts of Germany.

Ein zweites wichtiges Referenzwerk stand seit 1737 in englischer Übersetzung zur Verfügung. Johann Jakob Mascovs History of the Ancient Germans, im deutschen Original bereits elf Jahre zuvor publiziert, lieferte dem britischen Publikum erstmals das vollständige Narrativ der Lebensgeschichte des Arminius, soweit es uns von den griechischen und römischen Geschichtsschreibern (neben Tacitus sind das Strabon, Florus, Sueton, Velleius Paterculus und Cassius Dio) überliefert ist.147 Arminius wird von Mascov mit patriotischem Stolz als valiant Prince gepriesen, dem die Befreiung seines Vaterlandes wichtiger war als die Ehren eines römischen Ritters.148 Seine Ermordung durch die eigene Verwandtschaft wird nicht auf sein Machtstreben, sondern auf den Neid und Undank seiner Mitwelt zurückgeführt.149 Im Übrigen verzichtet Mascov weitgehend auf eigene Wertungen und verweist, wie die meisten Historiker vor und nach ihm, auf die durch Tacitus etablierte allgemeine Würdigung des Cheruskers als liberator Germaniae, der das römische Imperium auf dem Gipfelpunkt seiner Machtentfaltung besiegte.150 Gegenwartsbezug erhält Mascovs Darstellung durch die unhinterfragte Gleichsetzung von ‚Teutschen‘ und ‚Germanen‘, die in der Übersetzung von Thomas Lediard als Germans bzw. Northern people auftreten. Auf die Bedeutung der germanischen Frühgeschichte für die moderne Entwicklung Englands und Europas verweist bereits der Untertitel der englischen Ausgabe, der eine Geschichte aller Ancient Northern Nations who overthrew the Roman Empire, and established that of the Germans and most of the Kingdoms of Europe verspricht, wo in der Originalfassung nur von einer „Geschichte der Teutschen“ die Rede ist. Noch deutlicher wird die Anglisierung der germanischen Tradition in Lediards Widmung an Robert Walpole, in der er die Ancient Germans als our Great Ancestors bezeichnet, nach deren Vorbild our own Laws, and Ancient Laudable Customs, nay even our Excellent Constitution itself geformt seien.151 Dieser doppelte Brückenschlag zwischen deutscher und englischer Früh- und Zeitgeschichte war um die Mitte des 18. Jahrhunderts keineswegs ungewöhnlich, sondern entsprach der etablierten Whig Interpretation of History, die den Geschichtsprozess als einen teleologisch auf das britische Modell der konstitutionellen Monarchie zusteuernden Fortschritt der Freiheit verstand.152 Damit war bereits der Grundstein für ein Geschichtsbild gelegt, durch das die Varusschlacht als Ausgangspunkt der politi147

Johann Jakob Mascov, Geschichte der Teutschen, Bd. 1, Leipzig 1726, 76–103. Eine zweite Auflage erschien 1750; eine italienische Übersetzung des ersten Bandes 1732 in Venedig. Die englische Ausgabe wurde unmittelbar nach Vollendung des zweiten Bandes 1737/1738 in London und Westminster unter dem Titel The History of the Ancient Germans veröffentlicht und noch im selben Jahr erschien eine zweite Auflage. Die Vorreiterrolle dieses heute weitgehend vergessenen Standardwerks war noch im 19. Jahrhundert unbestritten. Barthold Georg Niebuhr, Vorträge über römische Geschichte, Bd. 1: Von der Entstehung Rom’s bis zum Ausbruch des ersten punischen Krieges, hg. v. M. Isler, Berlin 1846, 33 würdigt Mascov als „den ersten, der eine deutsche Geschichte geschrieben hat“. Von Hofmann-Wellenhof, Geschichte III, 1 nennt Mascovs Werk „die erste würdige, zugleich wissenschaftliche und im Grunde volksthümliche Darstellung der ältesten deutschen Geschichte in deutscher Sprache“. Der englische Historiographie-Historiker Thompson urteilt noch 1942: Because of his use of sources and his impartiality, Mascou’s history, though over two centuries old, is still readable today (Thompson [1942] II, 110). 148 Mascov, History I, 93f. 149 Mascov, History I, 122f. Interessanterweise vergleicht Mascov das tragische Schicksal seines Helden mit dem

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seines römischen Widerparts Germanicus, dem damit eine moralische Gleichwertigkeit zugesprochen wird. Mascov, History I, 123. Mascov, History I (1738), „Dedication“ o.S. Neben der Widmung an den Premierminister enthält der zweite Band eine Subskribentenliste, auf der neben zahlreichen Notabeln auch Prinz William genannt wird, dem Paterson drei Jahre später sein Arminiusdrama widmete. Zu Lediard, der viele Jahre als Diplomat in Deutschland verbrachte und selbst eine Reihe historischer Werke verfasst hat, siehe den biografischen Abriss in Lee (1909) XI, 780. Butterfield (1931). Siehe als prägnantes Beispiel neben der klassischen Studie von Paul Rapin de Thoyras, The History of England, as well Ecclesiastical as Civil. Done into English from the French, with large and useful Notes by N. Tindal, 15 Bde., London 1728–1731 (franz. Original Le Haye 1724–1736, fünfte Auflage der englischen Ausgabe 1759, dt. Übersetzung Halle 1755–1760), auch Samuel Squire, An Enquiry into the Foundation of the English Constitution; or, an Historical Essay upon the Anglo-Saxon Government both in Germany and England, London 1745. Vgl. hierzu auch Trevor-Roper (1987), Okie (1991) und Geyken (2003).

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schen Entwicklung Großbritanniens und der Vereinigten Staaten zum weltgeschichtlichen Schlüsselereignis erhoben wurde. Mascovs Werk wurde von der englischen Kritik positiv aufgenommen und fand Verbreitung bis in die amerikanischen Kolonien.153 Berühmte Historiker wie Gibbon, Turner und Carlyle stützten sich in den kommenden Jahrzehnten auf seine Darstellung.154 Dennoch sollte es noch gut hundert Jahre dauern, bis der Arminiuskult zum integralen Bestandteil der englischen Nationalgeschichtsschreibung erhoben wurde. Stattdessen wurde die Geschichte des Siegers der Varusschlacht und seines tragischen Schicksals in der Historiographie des 18. Jahrhunderts ausschließlich als Episode der Geschichte des römischen Reiches erzählt.155 Diese Darstellungen sind, bedingt durch die Tendenz der römischen Quellen, zumeist eher ambivalent in ihrer Bewertung seines Charakters und der Folgen seiner Tat. In besonders kritischem Licht erscheint Arminius beispielsweise in den Memoirs of the Court of Augustus des schottischen Aufklärers Thomas Blackwell von 1748: Arminius had every Qualification requisite to conduct a conspiracy. Personally brave, indefatigable active, full of Life and Spirits, which sparkled his Eyes and Countenance; he was fertile in Resources, dexterous, cunning, and knew how to seign or dissemble as he pleased. Such a Man was by far an Over-match for Varus.156

Arminius’ Tugenden werden hier in erster Linie auf seine Bef ähigung zur hinterlistigen Verschwörung gegen den arglosen Varus reduziert, während das einzige Verschulden des römischen Statthalters in dem naiven Versuch bestand, die rude and savage manners of an uncivilized People durch Law and Justice zu mildern. Die Schlacht im Teutoburger Wald wird als erfolgreicher Hinterhalt geschildert und die detailliert beschriebenen Grausamkeiten nach dem Sieg dem insolent Barbarian Arminius persönlich zur Last gelegt.157 Unmittelbare Folge der verheerenden Niederlage der varianischen Legionen war der Terror in Rom, der Augustus zu seiner viel zitierten Klage: Restore my Legions, Varus! veranlasste. Mittelbar hingegen wurde der Rhein zur natural Barrier between the Roman Empire and the savage Nations on the other Side of that River.158 Der römisch-germanische Konflikt erscheint typischerweise als Kampf zwischen Zivilisation und Barbarei, und der klassische Philologe Blackwell lässt keinen Zweifel daran, auf welcher Seite seine Sympathien liegen. Das unbestreitbare Zivilisationsgef älle zwischen Römern und Germanen wurde von der Aufklärungshistoriographie der zweiten Jahrhunderthälfte häufig angeführt, um das vorherrschende Ge153

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Siehe die Rezensionen in Present State of the Republick of Letters 8 (1731), 13–17, und History of the Works of the Learned 2 (1737), 52–66. Führende amerikanische Intellektuelle wie Benjamin Franklin und John Quincy Adams besaßen Exemplare des Werks – siehe Wolf u. Hayes (2006) 27 und Morris (1974) 333. Siehe Pocock (2007) 42 und Shine (1951) 103. Siehe z.B. An Universal History, from the earliest Account of Time to the Present. Compiled from original Authors, Bd. 13, London 1745, 460, 463, 532–558 (dt. Übersetzung Halle 1744–1814), The Roman History under the first Triumvirate, and the Reign of Augustus, Bd. 1, London 1748, 365–367, Jean Baptiste Louis Crevier, The History of the Roman Emperors from Augustus to Constantine. Translated from the French by John Mills, Bd. 1, London 1755, 308–323 (franz. Original Paris 1750–1754, dt. Dresden 1756– 1765), William Guthrie, A General History of the World, from the Creation to the Present Time, Bd. 4, London 1764,

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330–332 (dt. Leipzig 1765–1767 und Troppau, Brünn u. Wien 1785–1805), Oliver Goldsmith, The Roman History. From the Foundation of the City of Rome, to the Destruction of the Western Empire, Bd. 2, London 1769, 112 u. 127f. (30. Auflage 1853, dt. Leipzig 1774 u. ö.) und Adam Ferguson, The History of the Progress and Termination of the Roman Republic, Bd. 3, London u. Edinburgh 1783, 475–480 u. 520f. (dt. Leipzig 1784–1786). Thomas Blackwell, Memoirs of the Court of Augustus, Bd. 3, London 1763, 520. Die beiden ersten Bände erschienen bereits 1753–1755 in Edinburgh, weitere Auflagen 1760–1763, 1764 und 1794/1795 in London; eine französische Übersetzung erschien 1759, 1768 und 1781 in Paris, eine italienische 1785 in Venedig. Vgl. Turner (1993) 236ff. Blackwell, Memoirs III, 522 u. 524. Blackwell, Memoirs III, 530 u. 533.

schichtsbild einer ungebrochenen Tradition germanischer Freiheitsrechte in Frage zu stellen. Bereits 1739 erinnerte der den Tories nahe stehende Historiker und Geograph Thomas Salmon seine Whig-Kollegen daran, that they are at present under a much happier constitution than ever the ancient Germans experienc’d. The art of government, as well as other arts, is capable of improvement; and why we should be always appealing to the first rude draughts, and inculcating to the mob that we ought to imitate only the first essays of this nature, that were made when there were no laws to ascertain the Prince’s prerogative, or the people’s rights, in which our great happiness consists, shews a more than ordinary perverseness, or a very great degree of ignorance in the history of the ancients.159

Weniger parteipolemisch, aber umso nachhaltiger demontierte zwei Jahrzehnte später der schottische Historikerphilosoph David Hume in seiner enorm wirkungsmächtigen History of England die zentralen Grundannahmen der Whig-Geschichtsschreibung.160 Seine Charakterisierung der angelsächsischen Vorväter entwirft ein pointiertes Gegenbild zu den taciteischen Idealisierungen germanischer Sittlichkeit: With regard to the manners of the Anglo Saxons we can say little, but that they were in general a rude, uncultivated people, ignorant of letters, unskilled in the mechanical arts, untamed to submission under law and government, addicted to intemperance, riot, and disorder.161

Die hier zum Ausdruck kommende Distanzierung von den barbarischen Ursprüngen der eigenen Kultur ist typisch für das Fortschrittsdenken der Aufklärung, das die Geschichte als einen aufwärts strebenden Zivilisationsprozess from rudeness to refinement begriff.162 Für philosophische Geschichtsschreiber wie Adam Ferguson und William Robertson, die die Entwicklung der Menschheit mittels einer universal vergleichenden Kulturstufentheorie bewerteten, lag deshalb ein Vergleich der von Tacitus beschriebenen germanischen Zustände mit denen der amerikanischen Indianervölker sehr viel näher als ein Analogieschluss zwischen altsächsischen Stammesversammlungen und dem modernen britischen Parlament.163 Die kriegerischen Horden aus den deutschen Urwäldern erscheinen in diesem Geschichtsbild nicht als Verteidiger natürlicher Sittlichkeit und Freiheit, sondern als Bedrohung der auf Besitz und Bildung, Recht und Ordnung gegründeten klassischen Zivilisation.164

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Thomas Salmon, Modern History: or, the Present State of all Nations, Bd. 2, 2. Aufl., London 1739, 35. Salmons insgesamt 31-bändiges Kompendium erschien erstmals 1725–1738 und 1744–1746 bereits in dritter Auflage. Die vier Bände zur History of England (1732–1734) sind explizit als Replik auf Rapin angelegt. Übersetzungen erschienen 1739ff. in französischer, 1740ff. in italienischer und 1732–1752 in deutscher Sprache. Vgl. Okie (1991) 99–108. 160 David Hume, The History of England from the Invasion of Julius Caesar to the Accession of Henry III., Bd. 1, London 1762, insb. 141–163; bis 1797 erschienen 17 Auflagen; vier deutsche Übersetzungen erschienen zwischen 1767 und 1814 in Breslau, Leipzig, Lüneburg und Wien. Zur Wirkungsgeschichte in den USA siehe Wilson (1989). 161 Hume, History I, 163. 162 Siehe exemplarisch Gilbert Stuart, A View of Society in Europe, in its Progress from Rudeness to Refinement, or Inquiries concerning the History of Law, Government and Manners, Edinburgh 1778 (dt. Leipzig 1779). Von einer Entwicklung from barbarism to refinement sprach Wil-

liam Robertson, The History of the Reign of Emperor Charles V., with a View of the Progress of Society in Europe from the Subversion of the Roman Empire, to the Beginning of the Sixteenth Century, Bd. 1, London 1769, 12. 163 Adam Ferguson, An Essay on the History of Civil Society, Edinburgh 1767, 128f. (vier weitere Auflagen bis 1782; dt. Übersetzung Leipzig 1768) und Robertson, History I, 9, 205–212 (14. Auflage 1817, Neuauflagen das ganze 19. Jahrhundert hindurch, auch als Teil von Werkauflagen, allein in Amerika mehr als ein Dutzend; vier deutsche Übersetzungen zwischen 1770 und 1819; Übersetzungen ins Französische, Italienische, Spanische, Russische und Niederländische). Siehe Kontler (1997), Bickham (2005) und Pocock (2005) 269–293. 164 Weinbrot (1997) 952 beschreibt diese beiden Pole des Germanenbildes pointiert: Good Goths are apparently good Whigs – Bad Goths are the brutal killing machines of civilization, liberty, and people. Vgl. zu den politischen Funktionalisierungen im 18. Jahrhundert Geyken (2002) 218–244.

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Nichtsdestotrotz finden sich auch bei den britischen Aufklärungshistorikern Referenzen an die germanische Freiheitstradition. So sah auch ein rationalistischer Moralphilosoph wie Hume seine Gegenwart in einer positiven Kontinuität mit den germanischen Barbaren, die mit der Zertrümmerung des (west)römischen Imperiums die Grundlage für die moderne europäische Staatenbildung schufen: The free constitutions then established, however impaired by the encroachments of succeeding princes, still preserve an air of independance and legal administration which distinguish the European nations; and if that part of the globe maintain sentiments of liberty, honour, equity, and valour superior to the rest of mankind, it owes these advantages chiefly to the seeds implanted by those generous barbarians.165

Eine ähnlich ambivalente Bewertung des Konfliktes zwischen germanischer Barbarei und römischer Zivilisation findet sich auch in Edward Gibbons Meisterwerk The History of the Decline and Fall of the Roman Empire.166 Zwar ist seine Beschreibung der wild barbarians of Germany weit entfernt vom Bild des von der Zivilisation unverdorbenen, edlen Wilden im Sinne Rousseaus; doch zollt auch Gibbon der Freiheitsliebe und den kriegerischen Tugenden der people of military heroes, die in einem signal act of despair Varus und seine Legionen besiegten, seinen Respekt.167 Und obwohl er im klassischen Rom der antoninischen Ära den noch nach 1500 Jahren nicht wieder erreichten ersten Gipfelpunkt menschlicher Zivilisation sieht, erkennt auch der romanophile apostle of rationality,168 im Einklang mit Montesquieu und den whiggistischen Tacitusexegeten, in den germanischen Sitten und Gebräuchen die Ursprünge der modernen englischen Rechtsordnung: The most civilized nations of modern Europe issued from the woods of Germany, and in the rude institutions of those barbarians, we may still distinguish the original principles of our present laws and manners.169

Selbst die kritische Aufklärungshistoriographie war, bei aller Betonung der politisch-sittlichen Distanz zu den barbarischen Vorvätern, offenbar nicht bereit, die Vorstellung einer bis in die Gegenwart reichenden germanischen Freiheitstradition aufzugeben. Insofern war es nur eine Frage der Zeit, bis erstmals auch das Arminiusnarrativ in eine bedeutende englische Nationalgeschichtsdarstellung eingebunden wurde. Sharon Turners in der Übergangszeit zwischen Antiquarismus und Historismus, aufgeklärtem Patriotismus und romantischem Nationalismus geschriebene History of the Anglo-Saxons gilt gemeinhin als erster Versuch einer wissenschaftlichen Darstellung der angelsächsischen Frühgeschichte, der

165 Hume, History I, 141. 166 Edward Gibbon, The History of the Decline and Fall of the Roman Empire, 6 Bde., London 1776–1788. Gibbons Buch gilt bis heute als Meilenstein und meistgelesenes Werk der englischen Geschichtsschreibung. Siehe zu Werk und Wirkung Porter (1988) und Lee (2007). 167 Gibbon, History I, 218 u. 236. Eine weitere beiläufige Erwähnung des Arminius findet sich auf S. 259. Eine ausführliche Darstellung und Würdigung der Varusschlacht fehlt, da Gibbons Narrativ erst um 180 n. Chr. einsetzt. 168 Lee (2007) 118.

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169 Gibbon, History I, 217. An anderer Stelle betont Gibbon die langfristig heilsamen Folgen der Zerschlagung des römischen Imperiums durch die fierce giants of the north: They restored a manly spirit of freedom; and after the revolution of ten centuries, freedom became the happy parent of taste and science (59). Diese Referenzen an das traditionelle Whig-Geschichtsbild werden in Francois Furets Abhandlung „Civilization and Barbarism in Gibbon’s History“ (1977) einfach unterschlagen, da sie offenbar nicht in sein Bild vom konsequenten Zivilisationsapologeten Gibbon passen – siehe insb. 164f. Vgl. dagegen Womersley (1988) 80–88 und Pocock (2007).

einer ganzen Generation englischer Historiker den Weg wies.170 In der Einleitung zum ersten Band von 1799, der großenteils our continental ancestors vor der Invasion Britanniens gewidmet ist, betont er die besondere Bedeutung der Germanen to us, the posterity of the Anglo-Saxons.171 In Umkehrung der von den Aufklärungshistorikern etablierten Dichotomie von Zivilisation und Barbarei sind es bei Turner die Römer, die als brutale, gesetzlose Eroberer geschildert werden: the conquest of the world was the delirious project of Rome, and the myriads of victims which it yearly sacrificed raised not one feeling of sympathy among the citizens of the Tibur; a surname from a new country subdued, outbalanced all the tears of humanity, and the clamours of violated right.172

Gemäß Turner verfolgte Arminius im Gegensatz zu den römischen Feldherrn keine mad schemes of offensive conquest or vengeful devastation, sondern gab sich zufrieden mit dem title of the deliverer of his country. Es war demnach Germanicus, der aus persönlicher Rach- und Ruhmsucht danach strebte, to annihilate the rude liberty of Germany. Und obwohl die germanischen Stämme unter der Führung ihres cheruskischen Helden tapfer Widerstand leisteten, war es letztlich nur der Neid des Imperators Tiberius, der seinen populären Neffen vorzeitig aus Germanien abberief, der die bedrohte Unabhängigkeit Europas bewahrte.173 Die weitreichenden Folgen dieser Entscheidung beschreibt Turner mit Hilfe einer contrafaktischen Geschichtsbetrachtung, die selbst zum Ausgangspunkt einer grundlegenden Neuorientierung der englischen Geschichtswissenschaft werden sollte: the Saxons might have glided off the page of history for ever; but this people was not destined to be entombed by the ambitions of lawless conquerors. The Saxons have survived the fall of the capitol, and have equalled the glory of its masters in pursuits of nobler merit.174 170

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Sharon Turner, The History of the Anglo-Saxons, 4 Bde., London 1799–1805. Turners umfassende Darstellung wurde schon bald zum Standardwerk und bis zur siebten Auflage 1852 regelmäßig neu bearbeitet. Eine erste amerikanische Ausgabe erschien 1841 in Philadelphia. In deutscher Übersetzung erschien 1828 in Hamburg lediglich ein Auszug unter dem Titel Geschichte Alfreds des Grossen. Zur positiven Rezeption der ersten beiden Auflagen vgl. die umfangreichen Rezensionen im European Magazine and London Review 43 (1803), 441–447, British Critic and Quarterly Theological Review 26 (1805), 179–189, Eclectic Review 3,2 (1807), 653–663 u. 775–786 und Annual Review 6 (1808), 219–226. Siehe zu Werk und Person Peardon (1933) 218–233 und Berkhout (1982) 150–166. Turner, History I, iv. Die Ausnahmestellung, die Turners romantischer Anglo-Saxonism anfangs in der englischen Historiografie seiner Zeit einnahm, verdeutlicht noch folgendes Zitat aus Benjamin Disraelis Debütroman Vivian Grey, Bd. 2, London 1826, 163: Sharon Turner, in his solitude, alone seems to have his eye on Prince Posterity; but, as might be expected, the public consequently has not its eye on Sharon Turner. Twenty years hence they may discover that they had a prophet among them, and knew him not. Im Vorwort zur dritten Auflage kann Turner allerdings bereits befriedigt feststellen: When the first volume appeared, the subject of Anglo-Saxon antiquities had been nearly forgotten in Britain; although a large part of what we most love and venerate in our customs, laws, and institutions, originated among our AngloSaxon ancestors … His desire has been fulfilled – a taste for the history and the remains of our Great Ancestors has revived, and is visibly increasing (History I [3. Aufl. 1820], vf.).

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Turner, History I, 43. Es ist wohl kein Zufall, dass diese Zeilen im Jahr des Ägypten-Feldzuges und des Staatsstreichs Napoleon Bonapartes publiziert wurden. Turner, History I, 41–44. Als Beleg für seine Arminiusdarstellung verweist Turner u.a. auf Mascov (s.o.). In der zweiten Auflage erklärt Turner, Germanicus habe seine Strafexpeditionen for the express purpose of human slaughter unternommen (History I [2. Aufl. 1807], 47). In Widerspruch zum betont defensiven Charakter der antirömischen Allianz unter Arminius heißt es in der dritten Auflage: His talents and ambition might have subdued the northwestern coast of Germany into one dominion; but he being killed, and his Cherusci weakened, no similar hero, and no great kingdom, which such a character usually fonds, arose in those parts (History I [3. Aufl. 1820], 151). Arminius’ viel kritisierte ,despotische Ambitionen‘ werden hier bereits positiv als nationales Einheitsstreben gewertet (s.u.). Turner, History I, 44. Überraschenderweise fehlt diese Passage, die die Grundlage des Arminiuskults der späteren Teutonisten à la Arnold, Creasy und Freeman um Jahrzehnte vorwegnimmt, in den folgenden Ausgaben. Stattdessen ersetzt Turner die eher beiläufig eingeflochtene geschichtsphilosophische Spekulation durch eine längere historische Argumentation, die erklärt, wie durch den fortwährenden militärischen Konflikt mit Rom aus den anti-imperialistischen Germanen die Spartans of modern Europe und schließlich die Zerstörer des römischen Imperiums und Begründer der mittelalterlichen Feudalordnung wurden (History I [2. Aufl. 1807], 143–150).

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Die Varusschlacht erhält hiermit ihre entscheidende geschichtsteleologische Aufladung. Turners Vorstellung einer von der Vorsehung bestimmten weltgeschichtlichen Mission der Angelsachsen, die diese nur deshalb erfüllen konnten, weil im ersten Jahrhundert der christlichen Zeitrechnung Arminius’ Heldentaten ihre germanischen Vorfahren vor der drohenden ‚Romanisierung‘ gerettet hatten,175 stand im kommenden Jahrhundert noch eine große Karriere bevor. Damit aus diesem eher unsystematischen und geschichtstheoretisch kaum reflektierten romantischen Ahnenstolz eines der leitenden Paradigmen der englisch-amerikanischen Historiographie werden konnte, bedurfte es allerdings noch einiger grundlegender konzeptioneller Innovationen.176 Die wesentlichen Anregungen für die ‚Verwissenschaftlichung‘ von Germanenideologie und Arminiuskult im 19. Jahrhundert kamen dabei nicht zuf ällig aus dem Land, das sein nationales Selbstverständnis ebenfalls vom mythischen Sieg im Teutoburger Wald herleitete.

Die geschichtswissenschaftliche Konstruktion eines teutonischen Gründervaters Um die Mitte des 19. Jahrhunderts vollzog sich ein so radikaler Wandel im Verhältnis von deutscher und englischer Geschichtswissenschaft, dass man beinahe von einer vollständigen Umkehrung des bisherigen Rezeptionsgef älles sprechen kann.177 Waren es im 18. Jahrhundert die Werke der britischen Historiker, die in Deutschland übersetzt wurden und die Maßstäbe wissenschaftlicher Darstellung wesentlich mitbestimmten, so definierten nun Vertreter des deutschen Historismus wie Leopold von Ranke und Barthold Georg Niebuhr zunehmend auch die grundlegenden methodischen und konzeptionellen Standards der englischen Geschichtsschreibung.178 Damit verbunden war die Übernahme thematischer Setzungen, die auch die gemeinsame germanische Abstammung von Deutschen und Angelsachsen in neue national- und weltgeschichtliche Perspektiven rückten.179 Mit Hilfe des organischen Entwicklungsbegriffs der Historischen Rechtsschule bestätigten deutsche und englische Gelehrte den ‚germanischen Charakter‘ grundlegender englischer Rechtsinstitutionen wie des Common Law, der Geschworenengerichte und Parlamentsrechte.180 Die von den Brüdern Grimm begründete Germanistik 175

Turner, History I, 144: the successes of Arminius kept [Germanien] from being too Romanised. Auch mit dieser Übertragung des aus den Sprachwissenschaften stammenden Romanisierungsbegriffs auf das politisch-historische Phänomen des römisch-germanischen ‚Nationalitätenkonflikts‘ war Turner seiner Zeit weit voraus. 176 Vgl. das Urteil eines autoritativen Referenzwerks des frühen 20. Jahrhunderts: Sharon Turner himself cannot rank as a great historian; and it might, perhaps, be questioned, wether his proper place is among the historians at all. His early volumes are marred by a cumbrous method, a tedious style and an antiquated philology; yet, a survey of their contents suffices to show the breadth of their author’s design and the indefatigable industry expended upon its execution. His place in literature he owes, not to service or circumstance, but to his courage and energy in research, which enabled him, first among English writers, to make his countrymen aware of the elements of future national greatness revealed in the life of their immigrant forefathers. – Adolphus William Ward (Hg.), The Cambridge History of English Literature, Bd. 14, Cambridge 1916, 52–53. Dass in der Pionierstudie von Turner bereits sämtliche Elemente einer expli-

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citly racist interpretation of English history enthalten waren, betont hingegen MacDougall (1982) 92. 177 Siehe Oz-Salzberger (1997) 7ff. 178 Siehe auch zum Folgenden Dockhorn (1950), Messerschmidt (1955), McClelland (1971), Maurer (1987), Stuchtey u. Wende (2000) und Berger, Lambert u. Schumann (2003). 179 Zur geschichtsphilosophischen Aufladung des modernen Germanismus im deutschen Idealismus – namentlich durch Herders ‚Volksgeist‘-Idee, Fichtes ‚Ur-Volk‘Hypothese und Hegels ‚Weltgeist‘-Philosophie – siehe Kipper (2002) 53–62, der hier bereits die Ursprünge des ‚völkischen Denkens‘ verortet. 180 Vgl. die frühen Darstellungen des gebürtigen Engländers George Phillips, Versuch einer Darstellung der Geschichte des Angelsächsischen Rechts, Göttingen 1825 und Francis Palgrave, A History of the Anglo-Saxons, London 1831 (weitere Auflagen 1838 und 1867) mit den Klassikern von Johann Martin Lappenberg, Geschichte von England, 10 Bde., Hamburg 1834–1897 (engl. Übersetzung der ersten Bände unter dem Titel A History of England under the Anglo-Saxon Kings London 1845, vier weitere

ermöglichte es zudem, das Englische der ‚teutonischen‘ Sprachfamilie zuzuordnen, der häufig eine prinzipielle Überlegenheit gegenüber anderen, insbesondere den keltischen und romanischen Sprachgruppen zugeschrieben wurde.181 Verknüpft wurden diese Konzepte durch einen romantischen Nationalismus, der Sprache wie Rechtsinstitutionen als Emanationen eines organisch gewachsenen Volksgeistes betrachtete und die Nation als eine aus eigenen Ursprüngen entwickelte Kultur- und Abstammungsgemeinschaft imaginierte.182 Die von Ranke geprägte metahistorische Kategorie des ,Germanischen‘ als Widerpart des ,Romanischen‘ ermöglichte es dabei, die eigene Nation innerhalb eines epochenübergreifenden abendländischen Geschichtsprozesses zu verorten, der seine Wurzeln in der römisch-germanischen Auseinandersetzung zu Zeiten von Varus und Arminius hatte.183 Ein Indikator dafür, dass die altgermanische Vergangenheit und ihre Deutung durch die deutsche Geschichtswissenschaft beim englischsprachigen Publikum ein verstärktes Interesse fand und mehr als bisher zur Kenntnis genommen wurde, ist die steigende Zahl von englischen Übersetzungen deutscher Geschichtswerke insbesondere in den 1840er Jahren. Darstellungen der römischen, deutschen oder Weltgeschichte, die auch den germanischen Helden Hermann und die Varusschlacht aus deutscher Sicht beleuchteten, erreichten mitunter stattliche Auflagenzahlen.184 Wichtiger für die englische Geschichtswissenschaft war jedoch der persönliche Austausch mit den boomenden deutschen Universitäten. Tausende von britischen und amerikanischen Studenten pilgerten im 19. Jahrhundert nach Deutschland und erlernten ihr akademisches Handwerk in den Seminaren deutscher Professoren.185 Zu den ersten gehörten führende englische Teutonisten wie der einflussreiche Sprach- und Rechtshistoriker John Mitchell Kemble, der in Göttingen bei Jacob Grimm studierte und eine deutsche Professorentochter heiratete, und der Niebuhr-Schüler Thomas Arnold, der mit seiner Antrittsvorlesung als Regius Professor of Modern History in Oxford das Gründungsmanifest der teutonistischen Oxford School liefern sollte.186 Wie stark die Erfahrung des Deutschlandaufenthalts auf die Belebung des germani-

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Auflagen bis 1894), und John Mitchell Kemble, The Saxons in England. A History of the English Commonwealth till the End of the Norman Conquest, 2 Bde., London 1849 (revised edition 1876, dt. Leipzig 1853/1854), die Turners History of the Anglo-Saxons als Standardwerk ablösten. Vgl. Busch (2004) insb. 95–103 und Reimann (1993) zur amerikanischen Rezeption. Siehe bspw. John Mitchell Kemble, History of the English Language, Cambridge 1834, Joseph Bosworth, The Origin of the English, Germanic, and Scandinavian Languages and Nations, London 1848 (zuerst als Einführung zu Bosworths Dictionary of the Anglo-Saxon Language, London 1838) und Robert Gordon Latham, The English Language, London 1841 (5. Auflage 1862) sowie dessen sehr erfolgreiches Lehrbuch A Hand-Book of the English Language, London 1851 (9. Auflage 1875, amerikanische Ausgaben New York 1852, 1864 und 1870). Vgl. Frantzen (1990). Siehe Nipperdey (1990), Colley (1992) und Cubitt (1998). Siehe Leopold von Ranke, Geschichte der lateinischen und germanischen Völker von 1494 bis 1535, Leipzig u. Berlin 1824 (engl. Übersetzung unter dem Titel History of the Latin and the Teutonic Nations, London 1887, Neuauflagen 1909 und 1915) sowie Rankes Englische Geschichte vornehmlich im siebzehnten Jahrhundert, 7 Bde., Berlin 1859–1868 (engl. Oxford 1875). Vgl. zum Zusammenspiel von juristischem, philologischem und historischem Germanismus Gollwitzer (1971) 287–301.

184 Siehe bspw. Barthold Georg Niebuhr, The History of Rome, 3 Bde., Cambridge 1828–1842 (dt. Original Berlin 1811–1845, weitere Auflagen 1844 in London und in Philadelphia) und dessen Lectures on the History of Rome, 3 Bde., London 1849/1850 (dt. Original Berlin 1844, fünf weitere engl. Ausgaben bis 1875); Heinrich Luden, Geschichte des teutschen Volkes, 12 Bde., Gotha 1825–1837 (Übersetzung der Arminius-Passage des ersten Bandes in der Rezension des Monthly Review 11 [1829], 579–581); Charles von Rotteck, General History of the World, 4 Bde., London 1842 (dt. Original Stuttgart 1831–1833, sechs weitere Auflagen bis 1869, erste amerikan. Ausgabe Philadelphia 1840/1841, drei weitere Ausgaben bis 1875); Friedrich Kohlrausch, A History of Germany from the Earliest Period to the Present Time, London 1844 (dt. Original Elberfeld 1816/1817, 14 weitere Auflagen bis 1866); Wolfgang Menzel, The History of Germany, 3 Bde., London 1848/1849 (dt. Original Zürich 1825–1827, fünf weitere engl. Auflagen bis 1889, amerikan. Ausgaben New York 1899 und 1902); Georg Weber, Outlines of Universal History, London 1851 (dt. Original Leipzig 1847, amerikan. Ausgabe Boston 1853, 14 weitere Auflagen bis 1861). 185 Siehe Weber (2008). 186 Siehe zum persönlichen Verhältnis Kembles zu Grimm Wiley (1971), sowie zum ideellen Einfluss Grimms auf Kemble und Rankes und Niebuhrs auf Arnold die detailierten Nachweise bei Dockhorn (1950) 125–140.

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schen Abstammungsbewusstseins angelsächsischer Gelehrter wirken konnte, verdeutlicht Arnolds Tagebucheintrag vom 9. Juni 1828 anlässlich seiner ersten Überquerung des Rheins: Far before us lay the land of our Saxon and Teutonic Forefathers – the land uncorrupted by Roman or any other mixture; the birth-place of the most moral races of men that the world has yet seen – of the soundest laws – the least violent passions, and the fairest domestic and civil virtues. I thought of that memorable defeat of Varus and his three legions, which forever confined the Romans to the western side of the Rhine, and preserved the Teutonic nation, – the regenerating element in modern Europe, – safe and free.187

Das Gefühl, in Deutschland das Land der Vorväter zu betreten und in den deutschen Wäldern des 19. Jahrhunderts noch den Nachklang des Schlachtenlärms von Römern und Germanen vernehmen zu können, teilte Arnold mit vielen angelsächsischen Reisenden nach ihm.188 Bereits die ersten englischen Reiseführer erinnerten Deutschlandtouristen daran, dass sie sich im land of Herman befanden und empfahlen seit 1840 die Besichtigung der Baustelle des Hermannsdenkmals auf der Grotenburg.189 Die durch diese Verörtlichung des Mythos beförderte Germanisierung (im Sinne von Verdeutschung) des angelsächsischen Arminiusbildes zeigte sich auch in der zunehmenden Verwendung des deutschen Namens Hermann anstatt des lateinischen Arminius in den englischsprachigen Darstellungen der Varusschlacht.190 Bestärkt wurde die romantische Germanentümelei junger Gelehrter wie Kemble und Arnold nicht nur durch ihre deutschen Professoren, sondern auch durch die zeitgenössischen Rassentheorien, die zu dieser Zeit in England und den Vereinigten Staaten zum wissenschaftlichen Durchbruch gelangten. Gestützt auf anthropologische und philologische Studien, die von der (vermeintlichen) Kontinuität sprachlicher oder institutioneller Eigenarten eines Volkes auf seinen gleichbleibenden, historisch unveränderbaren ‚Rassencharakter‘ schlossen, wurde die reine teutonische Abstammung zum Kern der nationalen Identität und zur eigentlichen Antriebskraft der angelsächsischen Weltmachtstellung erklärt.191 Arnold selbst postulierte in seiner berühmten Oxforder Antrittsvorlesung 1841:

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The Life and Correspondence of Thomas Arnold, hg. v, Arthur P. Stanley, Bd. 2, London 1844, 362. 188 Siehe z.B. die Artikel „Selections of Notes on Germany. By a Tourist“, Preston Chronicle vom 16. 10. 1841, „Tour on the Rhine“, London Journal 2 (1845), 185, Charles Roach Smith, „Notes from a Journal of a Fortnight’s Tour on the Rhine“, Gentleman’s Magazine 35 (1851), 46 und „A Glimpse at Westphalian Cities“, Saturday Review 20 (1865), 329, die sehr populären Reisebeschreibungen des amerikanischen Rucksacktouristen Bayard Taylor, Views A-Foot: or, Europe Seen with Knapsack and Staff, New York 1846 (24. Auflage 1859), 58f. und By-ways of Europe, New York 1869, 451–470 (Vorabdruck unter dem Titel „In the Teutoburger Forest“ im Atlantic Monthly 23 [1869], 40–49), sowie den historischen Exkurs zur Varusschlacht in Katharine Burton, Our Summer in the Harz Forest, Edinburgh 1865, 172–179. Vgl.

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auch die Beschreibung der ersten Deutschlandreise von Arnolds Schüler E. A. Freeman im Herbst 1865 in Stephens (1895) I, insb. 301. 189 A Hand-Book for Travellers on the Continent, London 1836, 317 und 1840, 361 (19. Auflage 1875). Vgl. zu den englischen Reiseführern des 19. Jahrhunderts Maczak (2004). 190 Auch hier spielte Arnold eine Vorreiterrolle. In seinen unten näher vorgestellten Vorlesungen zur römischen Geschichte spricht er vom young German chief, whose name the Roman writers have corrupted into Arminius, but to whom we may more properly give his true appelation Herman – Thomas Arnold, History of the later Roman Commonwealth, 2. Bde., London 1845, hier Bd. 2, 320. 191 Siehe hierzu die Studien von Horsman (1976 u. 1981), Stocking (1987), Hannaford (1996) und Hall (1997).

Our English race is the German race … We, this great English nation, whose race and language are now overrunning the earth from one end of it to the other, – we were born when the white horse of the Saxons had established its dominion from the Tweed to the Tamar. So far we can trace our blood, our language, the name and actual divisions of our country, the beginnings of some of our institutions. So far our national identity extends, so far our history is modern, for it treats of a life which was then, and is not yet extinguished.192

Wenn die Angelsachsen in England, Amerika und Australien tatsächlich, wie Arnold postulierte, German more or less completely, in race, in language, or in institutions, or in all waren und aus dieser Abstammung ihre Bef ähigung zur Welteroberung abzuleiten war,193 dann musste auch die bereits in der Tagebuchnotiz von 1828 mit so großer Bedeutung aufgeladene Varusschlacht einen welthistorischen Stellenwert erhalten. Möglicherweise hatte Arnold bereits damals die 1818 vom Whighistoriker Henry Hallam formulierte These vor Augen, es gebe in der Geschichte einige wenige battles, of which a contrary event would have essentially varied the drama of the world in all its subsequent scenes.194 In seinen posthum veröffentlichten Vorlesungen zur Geschichte des römischen Kaiserreichs nahm er schließlich Turners Gedankenspiel von 1799 wieder auf und erklärte: Hätten Augustus’ Legionen Germanien besetzt und zivilisiert, dann wären die Teutonic tribes niemals in der Lage gewesen to spread that regenerating influence over the best portion of Europe, to which the excellence of our modern institutions may in great measure be referred. If this be so, the victory of Arminius deserves to be reckoned among those signal deliverances which have affected for centuries the happiness of mankind.195

Die Vorstellung, dass der Verlauf der Weltgeschichte von einigen wenigen militärischen Entscheidungsschlachten bestimmt wird, korrespondierte mit der zeitgleich von Thomas Carlyle formulierten Great Man Theory – der Idee, dass große heroischen Führergestalten ganzen Epochen ihren Stempel aufdrücken und den Gang der Geschichte verändern.196 Zusammengeführt wurden beide Konzepte 1851 in Edward Shepherd Creasys Megabestseller The Fifteen Decisive Battles of the World, der das angel-

192 Thomas Arnold, Introductory Lectures on Modern History, London 1842, zitiert nach der zweiten Auflage von 1843, 26 u. 23f. Arnolds teutonistisches Manifest wurde bis 1885 in sieben Auflagen gedruckt; eine erste amerikanische Ausgabe erschien 1849 in Philadelphia und New York, eine zweite 1857 in New York. 193 Arnold, Lectures (1843), 26. 194 Henry Hallam, View of the State of Europe during the Middle Ages, 2 Bde., London 1818 (zwölf weitere Auflagen allein bis 1868, dt. Übersetzung Leipzig 1820/1821), zitiert nach der 1821 in Philadelphia publizierten ersten amerikanischen Auflage, Bd. 1, 9. Hallams Fußnotennotiz wurde 1851 von Creasy zum Leitgedanken seiner wegweisenden Schlachtengeschichte erhoben (s.u.). 195 Arnold, History II, 317. Die Beschreibung der Varusschlacht selbst und ihrer Folgen 317–325. Weitere Ausgaben erschienen 1849, 1857 und 1882 in London und 1846 in New York. Weitere Verbreitung erfuhr die Arminius-Passage durch den Nachdruck in der Encyclopaedia

Metropolitana, Bd. 10, London 1845 und in William T. Dawsons für den Schulgebrauch bestimmten Heads of an Analysis of Roman History, London 1850 (3. Auflage 1861). 196 Thomas Carlyle, On Heroes and Hero Worship, and the Heroic in History, London 1841. Bis zum Ende des 19. Jahrhunderts erschienen in England und den USA etwa zwei Dutzend weitere Ausgaben; eine erste deutsche Übersetzung erschien zeitgleich mit der ersten amerikanischen Ausgabe 1853 in Berlin und wurde bis zum Ersten Welkrieg ebenfalls ein gutes Dutzend Mal nachgedruckt. Vgl. auch Carlyles History of Friedrich II. of Prussia, called Frederick the Great, 4 Bde., London 1858–1864 (amerikan. Ausgabe New York 1858–1864, dt. Übersetzung Berlin 1858–1869 u. ö.). Zu Carlyles Germanophilie und Anglo-Saxonism siehe Horsman (1981) 63–65, Ashton (2004) und Walker (2004). Zu der von ihm begründeten Great Man Theory siehe Hook (1950) und die Einführung in Segal (2000) 2–37.

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sächsische Geschichtsbild von Arminius und der Varusschlacht in der zweiten Jahrhunderthälfte maßgeblich beeinflussen sollte.197 Creasy war seit 1840 Professor of Modern and Ancient History an der University of London und veröffentlichte in den 1850ern unter anderem auch eine sehr erfolgreiche Verfassungsgeschichte Englands. 1860 wurde er zum Ritter geschlagen und ging als Chief Justice nach Ceylon.198 Seine Begeisterung für den Helden der Varusschlacht geht vermutlich auf seine Studienzeit in Eton zurück, wo er Praeds Arminius-Gedicht las, das sich ihm so tief einprägte, dass er es mehr als zwanzig Jahre später immer noch fehlerfrei aus dem Gedächtnis zitieren konnte.199 Als weitere Inspirationsquellen nennt Creasy außerdem den Franzosen Guizot, den Deutschen Ranke und seinen englischen Freund Robert Gordon Latham, der im selben Jahr eine Germania-Edition veröffentlichte.200 Hauptausgangspunkt für seine Interpretation der Varusschlacht sind jedoch Arnolds Vorlesungen, deren Grundannahmen er vorbehaltlos übernimmt und in pointierter Form auf ein paar einprägsame Formeln bringt. Wie Arnold sieht Creasy in Arminius den great liberator of our German race. Sein Sieg über die römischen Legionen secured once and forever the independence of the Teutonic race und war bereits ein Vorbote der Zeit, when the Germans became the assailants, and carved with their conquering swords the provinces of imperial Rome into the kingdoms of modern Europe. Die Varusschlacht wird damit zum part of our own national history,201 und eine mögliche germanische Niederlage hätte auch für die englische Geschichte schwerwiegende Folgen gehabt: Had Arminius been supine or unsuccessful, our Germanic ancestors would have been enslaved or exterminated in their original seats along the Eyder and the Elbe, this island would never have borne the name of England, and‚ we, this great English nation, whose race and language are now overrunning the earth, from one end of it to the other,‘ would have been utterly cut off from existence.202

Als Retter der nationalen Existenz Englands ist Arminius für Creasy deshalb truly one of our national heroes, denn it was our own primeval fatherland that the brave German rescued. Die Schlacht im Teutoburger Wald ist folgerichtig the victory to which we owe our freedom.203 Bewegt sich Creasy mit dieser Deutung 197 Edward Sheperd Creasy, The Fifteen Decisive Battles of the World. From Marathon to Waterloo, Bd. 1, London 1851, 211–253. Eine erste Fassung des Arminius-Kapitels erschien bereits drei Jahre zuvor in Bentley’s Miscellany 23 (1848), 384–391 und wurde umgehend nachgedruckt im New Yorker Eclectic Magazine of Foreign Literature, Science, and Art 14 (1848), 227–232. Die Buchfassung erlebte allein bis 1886 32 Auflagen, erschien bereits 1851 auch in New York und ist bis heute lieferbar. Das Buch gilt noch immer als populärer Klassiker der Militärgeschichtsschreibung und hat einen eigenen Eintrag auf den englischen Wikipedia-Seiten, der acht weitere überarbeitete oder epigonale Fassungen des Titels auflistet. In diese Reihe gehören auch Christian Friedrich Maurers Entscheidungsschlachten der Weltgeschichte (Leipzig 1882), die ausdrücklich als Ersatz für die 1865 in Stuttgart erschiene deutsche Bearbeitung des britischen Bestsellers auf den Markt gebracht wurden. 198 Creasy, The Rise and Progress of the English Constitution, London 1853 (17. Auflage 1907, mehrere amerikanische Ausgaben ab 1866). Ebenso wie in seiner weniger erfolgreichen History of England from the earliest to the present Time, 2 Bde., London 1869/1870 vertrat Creasy hier

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einen eher gemäßigt teutonistischen Standpunkt. Zur Biographie Creasys gibt es wenig Informationen; siehe aber Walford (1862) 195f. und Cousin (1910) 101. Creasy, Memoirs of Eminent Etonians, London 1850, 498f. Creasy zitiert das Gedicht auch in Battles I, 242ff., zusammen mit einem Bardengesang aus Klopstocks Drama Hermann und die Fürsten von 1784 (251ff.). Das Einflechten literarischer Quellen in die Geschichtserzählung gehört zu den Stilmitteln, die Creasys Darstellungen auch für ein nicht-akademisches Publikum lesbar und verständlich machten. Im Kapitel über die Varusschlacht dienen Lieder und Gedichte darüber hinaus als Beleg für das Weiterleben von Arminius’ Heldentaten in den Gesängen seiner Nachkommen, von dem bereits Tacitus berichtet hatte. Creasy, Battles I, 212, 214 u. 237. Vgl. Robert Gordon Latham, The Germania of Tacitus. With Ethnological Dissertations and Notes, London 1851, insb. seinen Kommentar zur Varusschlacht cxviff., wo er seinerseits auf Creasy verweist. Creasy, Battles I, 242, 236 u. 212. Creasy, Battles I, 212. Creasy, Battles I, 213 u. 251.

noch konsequent auf der Linie der von Arnold aufgezeigten Interpretationspfade, so geht er in einem angehängten Kapitel, das sich speziell der Beziehung Arminius’ zur englischen Nation widmet, noch einen entscheidenden Schritt weiter – denn der cheruskische leader war für ihn nicht nur auch ein englischer Nationalheld, sondern vor allem ein englischer Nationalheld. Creasys originelle These lautet, that an Englishman is entitled to claim a closer degree of relationship with Arminius than can be claimed by any German of modern Germany, und deshalb seien die Engländer noch vor den Deutschen the nearest heirs of the glory of Arminius.204 Arminius the Anglo-Saxon statt Herman the German? Diese hier erstmals explizit aufgeworfene Frage, wem der germanische Held eigentlich gehört, welche Nation sich auf die reinste teutonische Abstammung berufen und das Erbe der von Arminius geretteten Freiheitstradition für sich reklamieren konnte, weist bereits voraus auf die oben geschilderten deutsch-englisch-amerikanischen Deutungskämpfe anlässlich der Hermannsfeiern 1875. Bereits 1851 konnte Creasy mit Blick auf das stilliegende Bauprojekt im Teutoburger Wald darauf verweisen, dass es um die Wertschätzung germanischer Einheit und Freiheit in Deutschland schlecht bestellt sei: The idea of honoring a hero, who belongs to all Germany, is not one which the present rulers of that divided country have any whish to encourage; and the statue may long continue to lie there, and present too true a type on the condition of Germany herself.205

Damit gab Creasy durchaus den vorherrschenden Tenor der öffentlichen Meinung in England wieder. Die britische Presse hatte das deutsche Denkmalsprojekt von Anfang an aufmerksam und durchaus mit Sympathie verfolgt; ebenso wurde allerdings auch das zwischenzeitliche Ende der Bauarbeiten registriert.206 Nicht nur Creasy sah in der Ruine auf der Grotenburg ein Symbol für das traurige Schicksal der deutschen National- und Freiheitsbewegung nach der gescheiterten Revolution von 1848/49. Doch mochten ihm wohl nur die wenigsten seiner Landsleute folgen, wenn er sie dazu aufforderte, das deutschnationale Denkmalsprojekt zu ihrem eigenen zu machen und selbst die Initiative zu seiner Vollendung zu ergreifen: Surely this is an occasion in which English men might well prove, by acts as well as words, that we also rank Arminius among our heros.207

So reizvoll die Spekulation über den veränderten Symbolgehalt eines durch englische Finanzierung und Propaganda vollendeten pangermanischen Hermannsdenkmals wäre, so wenig darf die Kuriosität dieses Appells über seine praktische Folgenlosigkeit hinweg täuschen. Ansonsten war die Reaktion der Öffentlichkeit jedoch überwältigend positiv.208 Grundsätzliche Kritik kam fast ausschließlich von kirchlicher Seite, wenn von einem christlich-pazifistischen Standpunkt aus Bedenken gegenüber Creasys 204 Creasy, Battles I, 236f. Das ethnologische und philologische Beweismaterial, mit dem Creasy auf den folgenden Seiten die direkte Abstammung der Angelsachsen von den Cheruskern nachzuweisen versucht, stammt vorwiegend aus den bereits erwähnten, z.T. erst wenige Jahre alten Standardwerken von Latham, Palgrave und Lappenberg. Ungeachtet der Frage, wie abenteuerlich diese Geschichtskonstruktion aus heutiger Sicht erscheint, bleibt doch festzuhalten, dass Creasy sich 1851 durchaus auf der Höhe des damaligen Forschungsstandes bewegte, was zumindest einen Teil seines beträchtlichen wissenschaftlichen Renommees erklärt. 205 Creasy, Battles I, 212.

206 Siehe bspw. „Monument in Westphalia“, in: Gentleman’s Magazine 16 (1841), 71 und die Notizen im Boston Investigator vom 20. 10. 1841 und im Manchester Guardian vom 4. 1. 1851. 207 Creasy, Battles I, 212. 208 Siehe die Rezensionen in Sartain’s Union Magazine of Literature and Art 10 (1851), 98f., New Englander and Yale Review 10 (1852), 56–63, Dublin University Magazine 39 (1852), 747–756, Methodist Review 34 (1852), 152f., Southern Quarterly Review 21 (1852), 243, Church of England Quarterly Review 34 (1853), 112–127 und Calcutta Review 23 (1854), 96–105.

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Glorifizierung des Krieges als Motor der Weltgeschichte geäußert wurden: It is at least a bloody book, urteilte prägnant der Universalist Quarterly and General Review.209 Doch selbst christliche Blätter übernahmen die Vorstellung, Hermann the Cheruskan sei der lineal ancestor of the Anglo-Saxon race, und sahen in der Varusschlacht bereits the dawn of a new principle of political life aufscheinen.210 In den kommenden Jahrzehnten wurde Creasys Schlachtengeschichte zum Longseller, der auf beiden Seiten des Atlantiks öfter gedruckt, mehr gelesen und häufiger zitiert wurde als jede andere englischsprachige Arminiusdarstellung vor oder nach ihm.

Die Etablierung des teutonistischen Paradigmas in England Mit der rassentheoretischen Aufladung um die Mitte des 19. Jahrhunderts hatte der Mythos der gemeinsamen germanischen Abstammung von Deutschen, Engländern und Amerikanern einen neuen Stellenwert im angelsächsischen Geschichtsdenken erhalten. Zwar teilten nur wenige Zeitgenossen die These des Extremisten Robert Knox, that race is everything in human history,211 doch herrschte in der gebildeten Welt beiderseits des Atlantik ein breiter Konsens über den engen Zusammenhang von Rassenund Nationalcharakter.212 Die von Arnold und Kemble entwickelte Synthese von deutscher und whiggistischer Geschichtsideologie, von romantischer Germanentümelei und rassischem Anglo-Saxonism wurde in der zweiten Jahrhunderthälfte zum Paradigma der sogenannten Teutonic School in der englischen Geschichtswissenschaft. Bekannte Teutonisten wie Charles Kingsley und John Richard Green, Edward August Freeman und William Stubbs prägten durch ihre wissenschaftlichen Werke, öffentlichen Vorträge und politische Publizistik das Geschichtsbild einer ganzen Generation. Bereits 1866 stellte ein Kritiker resigniert fest: There are probably few educated Englishmen living who have not in their infancy been taught that the English nation is a nation of almost pure Teutonic blood, that its political constitution, its social customs, its internal prosperity, the success of its arms, and the number of its colonies have all followed necessarily upon the arrival, in three vessels, of certain German warriors under the command of Hengist and Horsa.213

Verbunden mit dem teutonischen Abstammungsbewusstsein war ein Überlegenheitsgefühl gegenüber anderen, namentlich den keltischen und romanischen Rassen, denen häufig die Entwicklungs- und Zukunftsf ähigkeit abgesprochen wurde.214 Den germanischen Völkern wurde hingegen von Historikern wie dem deutsch-britischen Gelehrten Walter C. Perry eine pre-eminent capacity for development, progress,

209 Universalist Quarterly and General Review 9 (1852), 96. 210 Christian Remembrancer 23 (1852), 213. Einzig das Organ der Philosophical Radicals um John Stuart Mill bezweifelte, dass die Varusschlacht zu den weltgeschichtlichen Wendepunkten gerechnet werden dürfe, da das degenerierte Rom den energies of the German race langfristig sowieso unterlegen wäre – Westminster Review 56 (1851), 72. 211 Robert Knox, The Races of Men, London 1850, 10. Knox trieb die rassistische Erklärung sämtlicher kultureller, nationaler und ethnischer Unterschiede soweit, dass er selbst einem Großteil der zeitgenössischen Deutschen ihre germanische Abstammung absprach (230–235).

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Of the great influence of race in the production of national character, no reasonable inquirer can now doubt urteilte z.B. der programmatische Artikel „The Anglo-Saxons and the Americans: European Races in the United States“ im American Whig Review 1 (1851), 188. Luke Owen Pike, The English and their Origins, London 1866, 15. Zu den besonders krassen Fällen Knox und Freeman siehe Horsman (1976) 406f. und Parker (1981) 832f. u. 839f. Zu den Gegenentwürfen eines politischen Latinismus bzw. Romanismus im bonapartistischen Frankreich siehe Panick (1978).

and dominion zugeschrieben, die sie zum people of the present and the future mache.215 Beflügelt wurden derartige Superioritätsfantasien durch die anhaltende Expansion des britischen Überseeimperiums und die atemberaubende Entwicklung der Vereinigten Staaten auf dem amerikanischen Kontinent. Britisch-imperiales Fortschrittsdenken und amerikanische Manifest Destiny-Ideologie prophezeiten und legitimierten die künftige weltpolitische Führungsrolle der angelsächsischen Nationen.216 Bereits in den 1860er Jahren imaginierte der liberale Rassenimperialist Charles W. Dilke ein kommendes Imperium des greater Saxondom which entails all that is best and wisest in the world,217 und Kingsley erklärte: The welfare of the Teutonic race is the welfare of the world.218 Die große Zukunft, die der teutonischen Rasse vorhergesagt wurde, ließ dabei auch ihre Vergangenheit in einem neuen Glanz erstrahlen. Und mit dem verstärkten Interesse an den Ursprüngen der angelsächsischen race of conquerors in den germanischen Wäldern fand auch der Held der Varusschlacht immer mehr Bewunderer.219 Dabei galt es anfangs durchaus starke Widerstände zu überwinden, denn die Tradition der englischen Aufklärungshistorie wirkte bis weit ins 19. Jahrhundert hinein. Kingsleys Behauptung, die germanischen Vorväter seien keine blutrünstigen Wilden wie die amerikanischen Indianer gewesen, sondern the least cruel people in Europe, stand im deutlichen Gegensatz zu den überlieferten Grausamkeiten nach der Schlacht im Teutoburger Wald.220 Nur wenige Autoren waren wie Perry bereit, die germanischen Exzesse als legitime Notwehr gegen die tyranny of the Roman law offen zu rechtfertigen.221 Häufiger versuchte man, das römisch-germanische Zivilisationsgef älle mithilfe organischer Lebensmetaphern umzudrehen. So betont etwa John George Sheppard in seiner Abhandlung The Fall of Rome, and the Rise of the new Nationalities die superior purity of barbaric life and manners und empört sich über Gibbon, der es gewagt habe, to sneer away the virtues of our Teutonic ancestors.222 Dem hält er eine manichäische Rassendichotomie entgegen, die keinen Platz lässt für moralische Abwägungen und ethische Bedenken: in the one race, we may detect the elements of a vigorous natural life – development, progress, and dominion; in the other, the seeds of national death – corruption, feebleness, decay.223

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Walter Copland Perry, The Franks, from their first Appearance in History to the Death of King Pepin, London 1857, 1 u. 36. Den Engländern schreibt der zwischenzeitlich an der Göttinger Universität lehrende Perry dabei das Glück zu, to be more purely German in our institutions than any other nation (445). 216 Siehe als ein prägnantes Beispiel das Times-Editorial vom 8. 7. 1856 zum 80. Jahrestag der amerikanischen Unabhängigkeit: We Englishmen see in American energy, industry and indomitable spirit the tokens of the Anglo-Saxon blood, and we feel proud of our race. The sight enspires cheerful and animated prophecy, and we see in this master race a powerful and dominant agent in the future history of the world; nachgedruckt unter dem Titel „The Bonds of Friendship between England and America“ in der New York Times vom 4. 8. 1856. Siehe auch zum Folgenden Horseman (1981), Rich (1986), Hannaford (1996) und Bell (2007). 217 Charles Wentworth Dilke, Greater Britain. A Record of Travel in English-speaking Countries during 1866 and 1867, Bd. 2, London 1868, 155f. Eine erste amerikanische Ausgabe erschien 1869 in New York. Betonte Dilke anfangs noch die Verbundenheit mit our German ancestry (338)

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und forderte Solidarität mit our Teutonic brethren in their struggle for unity (544), so reklamierte er im Vorwort der achten Auflage von 1885 die moral dictatorship of the world, by ruling mankind through Saxon institutions and the English tongue allein für die Angelsachsen (viii). Charles Kingsley, The Roman and the Teuton. A Series of Lectures Delivered before the University of Cambridge, Cambridge u. London 1864, 305. Bis 1912 erschienen zwölf weitere Auflagen, 1891 erstmals auch in New York. Edward A. Freeman, A History of Architecture, London 1849, 176. Kingsley, Roman, 8f. Perry (1857) 446f. John George Sheppard, The Fall of Rome, and the Rise of the new Nationalities. A Series of Lectures on the Connection of Ancient and Modern History, London u. New York 1861, 134 u. 172. Eine zweite Auflage erschien 1862. Sheppard beruft sich explizit auf Arnold und Perry. Sheppard, Fall, 172. Bezeichnenderweise wählt Sheppard als Motto seiner Abhandlung das auf dem Titelblatt abgedruckte Schiller-Zitat: „Die Weltgeschichte ist das Weltgericht“.

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Die Schlacht im Teutoburger Wald feiert Sheppard als darkest desaster in the Roman history und a foreboding of what was to come.224 Auf die germanischen Grausamkeiten geht er dabei ebensowenig ein wie auf den Despotismusvorwurf, die zweite große Schwachstelle in der Konstruktion einer auf Arminius zurückgehenden Freiheitstradition. Noch Mitte 1850er Jahre hatte Charles Merival, der wohl bedeutendste englische Romhistoriker des Jahrhunderts, darauf hingewiesen: Arminius, the bulwark of German independence, degenerated in the hour of his triumph from the virtues of a patriot chief, and himself affected the tyranny over his countrymen which he had baffled in Germanicus, and rebuked in Maroboduus. His people retorted upon him the lessons of freedom with which he had inspired them, and after a struggle of some length and many vicissitudes, he was slain by domestic treachery.225

Den wiederentdeckten angelsächsischen Freiheitshelden von diesem Verratsvorwurf reinzuwaschen war eines der Anliegen eines Autors, der schon allein deshalb eine nähere Betrachtung verdient, weil er – von der Forschung bisher vollständig übersehen – die erste und bei weitem umfangreichste monographische Abhandlung der englischen Geschichtsschreibung über den Sieger der Varusschlacht verfasst hat. Thomas Smiths Arminius wurde 1861 posthum von seinem Sohn Francis Smith herausgegeben und behandelt auf knapp 500 Seiten nicht nur die Biographie des Titelhelden, sondern die gesamte germanische Geschichte von Julius Caesar bis zu Karl dem Großen.226 Der eigentlichen Arminius-Geschichte widmet der antiquarische Privatgelehrte knapp 100 Seiten, auf denen er auch ausführlich auf die von Tacitus überlieferte Ermordung des Cheruskerfürsten durch seine eigene Verwandtschaft zu sprechen kommt.227 Anders als Merival, Pindemonte oder die Radical Whigs des 18. Jahrhunderts hält es Smith für ausgeschlossen, dass der liberator Germaniae, dessen Genius allein die Menschheit die Bewahrung der free principles of government verdanke, seinen Idealen untreu geworden sein und nach der Alleinherrschaft gestrebt haben könnte.228 Arminius habe vielmehr das den Germanen heilige right of self-government nie in Frage gestellt und einzig ein Thiudanship angestrebt, ein zeitlich befristetes Wahlkriegsführertum also, das Smith auch schlicht als presidency bezeichnet. Gerade seine beispiellose Beliebtheit beim Volk sei es schließlich gewesen, die ihm einen Teil der cheruskischen Adelings zum Feind gemacht habe, da diese traditionelle Führungsschicht neidisch auf den Ruhm des Varusbezwingers wurde und um ihre Privilegien fürchtete. So wird am Ende der Beweisführung Arminius vom Volksverräter zum Märtyrer der Volksrechte:

224 Sheppard, Fall, 169f. 225 Charles Merivale, History of the Romans under the Empire, 7 Bde., London 1850–1862 (Zitat V, 182f.); vgl. auch seine Darstellung der Varusschlacht in IV, 342–353. Merivales opus magnum erschien erstmals 1863 auch in New York und erlebte beiderseits des Atlantiks bis zur Jahrhundertwende mehr als ein Dutzend Neuauflagen. Erfolgreich war auch sein einbändiges Lehrbuch A General History of Rome from the Foundation of the City to the Fall of Augustulus, das 1875 bereits gleichzeitig in London und in New York publiziert und ebenfalls mehrfach nachgedruckt wurde. 226 Thomas Smith, Arminius: A History of the German People and of their Legal and Constitutional Customs, from the

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Days of Julius Caesar to the Time of Charlemagne, London 1861. Über den Autor ist nicht viel mehr bekannt, als dass er Mitglied der antiquarischen Camden Society war, seit 1838 einige unbedeutende Studien zur altenglischen Geschichte publizierte und für seinen Arminius offenbar langwierige Quellenstudien in Heidelberg unternommen hat. 227 Smith, Arminius, 179–189. Die Menschenopfer und Folterungen nach der Varusschlacht schildert und beklagt Smith auf S. 110, ist aber bemüht, sie nicht als typisch germanisch erscheinen zu lassen: the only excuse is the rudeness of the age and the sanguinary character of all heathen superstitions. 228 Smith, Arminius, 10.

he was supported to the end of his course by the popular favour. It was a contest of Armin and the people against the Adelings and their dependants.229

Diese ebenso umständliche wie spekulative Ehrenrettung des germanischen Freiheitshelden, die in der Wortwahl wie in der gespreizten Detailversessenheit auch stilistisch ihre deutschen Vorbilder erkennen lässt, verdeutlicht nicht zuletzt das Ausmaß ehrfürchtiger Bewunderung und bedingungsloser Identifikation, mit der sich der englische Privatgelehrte seinem Untersuchungsgegenstand nähert. Ihren Höhepunkt erreicht die romantische Arminius-Verklärung schließlich in Smiths Versuch, dem gewaltsamen Ende seines Helden einen tröstlich-versöhnlichen Anstrich zu geben: He appears to us like a shooting star in the distant firmament, suddenly starting into life, and suddenly extinguished, but the whole of his short course glitters with light and glory … Perhaps his early death is scarcely to be lamented. He died in the bloom of life, in the fullness of his strength, in the meridian of his fame, ere stain, disgrace, or weakness had flecked his glory, with the consciousness of his benefits attending him. His work was done; his country delivered; its freedom from foreign thraldom was for ever established. Why should he live longer?230

Die öffentliche Reaktion auf Smiths monumentale Heroengeschichte war gespalten. Während die einen von einer beispielhaften Adaption deutscher Gelehrtentugenden sprachen,231 spotteten andere über ein kurioses Exempel wissenschaftlicher Deutschtümelei: He is so utterly Teutonized he not only thinks like a German, but writes English like a German, verwunderte sich der Rezensent des Saturday Review, der Smith zudem die Übernahme deutscher national prejudices vorwarf und der historischen Figur des Arminius jegliche Bedeutung für die moderne Geschichte absprach.232 Selbst wohlwollende Kritiker bemängelten zudem die nachlässige Edition: Ohne Fußnoten und Index könne die lobenswerte Fleißarbeit dem selbst erhobenen Anspruch eines autoritativen Standardwerkes nicht gerecht werden.233 Ein Universitätshistoriker, der Smiths Arminiusbegeisterung teilte und, wenn möglich, gar übertraf, dabei aber eine ungleich größere öffentliche Wirksamkeit erzielte, war Edward Augustus Freeman, der bis heute als das eigentliche Oberhaupt der teutonistischen Schule in Großbritannien gilt.234 Dieser Ruf gründet sich nicht nur auf seine wissenschaftlichen Werke oder seine führende Rolle bei der Etablierung der Geschichte als akademische Disziplin nach deutschem Vorbild in Oxford. Mehr noch trug er durch seine äußerst rege und kämpferische historisch-politische Publizistik, öffentliche Vorträge und seine Tätigkeit als Verfasser und Herausgeber von viel benutzten Schul- und Lehrbüchern dazu bei, die Glaubenssätze des teutonistischen Dogmas zu popularisieren und in die politischen Debatten einzubringen. 229 Smith, Arminius, 182f. Ein kritischer Rezensent merkte zurecht an, Smiths Versuch, aus Arminius einen barbarian Hampden or Washington zu machen, habe den großen defect of lacking the barest shred of historical evidence … to construct the theory that Arminius died a martyr to popular rights is an achievement which few of the modern school of historians have surpassed. – Saturday Review 11 (1861), 593. 230 Smith, Arminius, 184f. Vgl. die ähnlich elegische Vorstellung des Helden auf S. 101: The name of Arminius has pierced the darkness of almost twenty centuries, and still shines a star in the night of time. Of all the Cheruscan Adelings, he only is unstained by crime or weakness. He stands alone, like no one else in history; for no one in Grecian or Roman times has extorted as he has done, from unwilling and supercilious foes, the meed of such disinterested and glorious

praise. Beide Passagen bestehen großenteils aus z.T. wörtlichen Übersetzungen aus Ludens Geschichte der Teutschen, Bd. 1 (1825), 327. 231 Daily News vom 2. 4. 1861. 232 Saturday Review 11 (1861), 563. Ein anderer Rezensent lobte hingegen die Glorifizierung des greatest and noblest hero that Germany ever produced – London Review and Weekly Journal of Politics, Literature, Art, and Society vom 20. 4. 1861, 447. Ähnlich auch die Daily News (s.o.). 233 Siehe British Quarterly Review 33 (1861), 548, Literary Gazette vom 9. 3. 1861, 230 und Athenaeum vom 27. 4. 1861, 560. 234 Zur Biographie und Ideenwelt des most enthusiastic of Teutomaniacs (Mandler [2006] 92) siehe Parker (1981) und Burrow (1981) 155–228.

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Als Student hatte Freeman Anfang der 1840er Jahre die Vorlesungen Arnolds gehört, den er Zeit seines Lebens als great teacher of historical truth und greater teacher of moral right verehrte.235 Insbesondere Arnolds Lehre von der ungebrochenen, bis in die germanischen Wälder zurück reichenden Kontinuität der englischen Geschichte hinterließ einen bleibenden Eindruck und wurde zum zentralen Glaubenssatz seines teutonistischen Geschichtsverständnisses.236 Bereits 1860 vertrat er die These, das von den angelsächsischen Invasoren eroberte England sei a more purely Teutonic country than even Germany itself gewesen und habe diesen germanischen Kern seiner nationalen Identität bis in die Gegenwart hinein bewahrt.237 No broad gap separates the present from the past, fügte er 1871 hinzu – und gerade in dieser Einheit von Gegenwart und Vergangenheit sah Freeman den distinctive character der englischen Nationalgeschichte begründet.238 Der historiographischen Überbrückung des nach der vorherrschenden Lehrmeinung durch die normannische Eroberung de facto aufgerissenen gap einer rein angelsächsisch geprägten englischen Geschichte widmete Freeman ab 1867 seine sechsbändige History of the Norman Conquest, die bis heute als sein wissenschaftliches Hauptwerk gilt.239 Den narrativen Brückenschlag zur germanischen Geschichte vollzog Freeman erstmals 1869 in seinem sehr erfolgreichen Schulbuch Old English History for Children.240 Da die Engländer in seinen Augen der teutonischen Rasse angehören, beginnt für Freeman ihre eigene nationale Geschichte nicht im keltischen oder römischen Britannien, sondern im Teutoburger Wald. Eindringlich ermahnt er die Schüler to care for Arminius: … for though he did not live in our land, he was our own kinsman, our bone and our flesh. If he had not hindered the Romans from conquering Germany, we should not be talking English; perhaps we should not be a nation at all.241

Im Gegensatz zu Kingsley und Smith gibt sich Freeman keine Mühe, den barbarischen Charakter der germanischen Vorväter zu beschönigen. Im Gegenteil, denn gerade der gnadenlosen Ausrottung der Römer und Kelten durch die angelsächsischen Invasoren verdankten die Engländer ihre rein teutonische Nationalidentität:

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Freeman, The Office of the Historical Professor. An Inaugural Lecture read in the Museum at Oxford, October 15, 1884, London 1884, 8. Auch William Stubbs, Freemans Nachfolger auf dem Oxforder Lehrstuhl für moderne Geschichte, nannte Arnold den prime mover of this generation – Seventeen Lectures on the Study of Medieval and Modern History and kindred Subjects delivered at Oxford 1867–1884, Oxford 1886, 6. 236 Siehe Dockhorn (1950) 142f. 237 Freeman, „Revolutions in English History“, in: Edinburgh Review 112 (1860), 159; nachgedruckt unter dem Titel „The Continuity of English History“ in Freemans Historical Essays, London 1871, 40–52. Ähnlich sprach auch Freemans Freund und Kollege John Richard Green von den Engländern als the one purely German nation that arose on the wreck of Rome – A Short History of the English People, London 1875, 11. 238 Freeman, „Continuity“, 40. 239 Freeman, The History of the Norman Conquest of England, 6 Bde., Oxford 1867–1879 (3. Auflage 1877, amerikan. Ausgabe New York 1873–1876). Als schlimmste Folge (only and wholly evil) der normannischen Eroberung

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sieht Freeman ihre nachhaltige Unterminierung des englischen Nationalbewusstseins, die sich am deutlichsten in der Verklärung des keltischen Sagenkönigs Arthur zum national hero zeige; dagegen sieht Freeman seine Hauptaufgabe darin to make [Englishmen] feel as they ought towards the heroes of their own blood, towards Arminius and Theodoric, towards Hengest and Cerdic and Aethelstan – Freeman, History V, 597. Vgl. Burrow (1981) 213. 240 Freeman, Old English History for Children, London 1869. Das Lehrbuch, das Freeman ursprünglich für seine eigenen Kinder geschrieben hatte, erreichte 1876 bereits die fünfte Auflage, der bis 1901 noch weitere folgten; mehrere Ausgaben erschienen zudem zwischen 1895 und 1911 gleichzeitig in New York. 241 Freeman, Old English History, 22. Vgl. Freeman, „Saalburg and Saarbrücken“, in: Macmillan’s Magazine 27 (1872), 33: The history of the English, no less than the history of the German, people begins with the Teutoburg forest. The future destiny of our race became possible when Arminius smote down the legions of Varus.

Thus you see that our forefathers really became the people of the land in all that part of Britain which they conquered. For they had killed or driven out all the former people, save those whom they kept as mere slaves. Thus they kept their own language, their own manners, and their own religion.242

Wie wichtig dem Historiker und Nationalpädagogen Freeman die Verankerung des Arminiuskultes im englischen Geschichtsbewusstsein war, belegt die häufige Wiederholung seiner Ermahnung to honour the name of the German hero Arminius in zahlreichen Lehrbüchern,243 Vorträgen244 und Überblickswerken245 der 1870er und 1880er Jahre. Wie gegenwärtig ihm persönlich die Varusschlacht gelegentlich war, verdeutlicht sein Bericht von Ausgrabungsarbeiten im hessischen Römerkastell Saalburg aus dem Jahr 1872. Euphorisiert durch den Sieg der Deutschen (our brethren of the mainland) über Frankreich (the Latin-speaking enemy) im Jahr zuvor (the days of vengeance) vermischen sich ihm Gegenwart und Vergangenheit so sehr, dass Freeman in den deutschen Ausgrabungshelfern die Inkarnationen von Arminius’ wilden Kriegern erkennt: I at least never felt more truly that history is one thing, that the struggle of the Dutch and Welsh from the first Caesar onwards is one thing, than when I saw the spot where Arminius had overthrown the fortress of Drusus trodden by men who had themselves played their part in that mighty act of the great drama which has just been wrought beneath our eyes. … It was something to hear the deeds of Arminius told in his own tongue on a spot which had beheld them by men who had their own share in the same work as his after eighteen hundred and sixty years. I could not help saying to myself: ‚This is Geist‘.246

Diesen durch Arminius symbolisierten pangermanischen Geist, der die Schlachten von Sedan mit dem Teutoburger Wald ebenso verband wie die deutsche mit der englischen Nationalgeschichte, beschwor Freeman auch zehn Jahre später auf einer Vortragsreise durch die Vereinigten Staaten. Wie ein Mantra wiederholt er in seinen Reden an die English brethren in der neuen Welt immer wieder den Namen des old Cheruskan hero, um an die geschichtliche Einheit der teutonischen Nationen in Deutschland, Großbritannien und den Vereinigten Staaten zu erinnern, die er als Old, Middle and New England bzw. als die Three Homes der teutonischen Rasse bezeichnet: 242 Freeman, Old English History, 28. Auf den naheliegenden kindlichen Einwand that our forefathers were cruel and wicked men entgegnet Freeman, dass es unfair sei to judge our fathers by the same rules as if they had been either Christians or civilized men … But anyhow it turned out much better in the end that our forefathers did thus kill or drive out nearly all the people whom they found in the land. The English were thus able to grow up as a nation in England, and their laws and manners grew with them, and were not copied from those of other nations. Eine an ein erwachsenes Publikum gerichtete Version dieser Rechtfertigung der Methoden des war of extermination im Rassenkampf bietet die zweite Folge seiner Vorlesungsreihe „The Origin of the English Nation“, gedruckt in: Macmillan’s Magazine 21 (1870), 509–522. Bereits im ersten Band der History of the Norman Conquest of England von 1867 schrieb Freeman: Our forefathers appeared at the Isle of Britain purely as destroyers; nowhere else in Western Europe were the existing men and existing institutions so utterly swept away (20).

243 Freeman, General Sketch of European History (Historical Course for Schools 1), London 1872, 83 (etwa zwei dutzend Auflagen vor dem Ersten Weltkrieg, erste amerikan. Ausgabe New York 1876, fünfte kanadische Auflage Toronto 1877). Siehe auch James Sime, History of Germany, hg. v. E. A. Freeman (Historical Course for Schools 5), London 1874, 13f. 244 Freeman, The Chief Periods of European History. Six Lectures Read in the University of Oxford in Trinity Term, 1885, London u. New York 1886, 64: We have our part in the great deliverance by the wood of Teutoburg; Arminius, ‚liberator Germaniae‘, is but the first of a roll which goes on to Hampden and to Washington. Siehe auch The Methods of Historical Study. Eight Lectures Read in the University of Oxford, London 1886, 33 und Four Oxford Lectures 1887, London 1888, 90. 245 Freeman, The Historical Geography of Europe, London 1881, 69 (3. Auflage 1881). 246 Freeman, „Saalburg“, 35f; nachgedruckt im amerikanischen Living Age 115 (1872), 674–683. Vgl. zu Freemans Franzosenhass und seiner prodeutschen Position von 1871 auch Kleinknecht (1984) und Simmons (1996).

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In the blow by the Teutoburg Wood was the germ of the Declaration of Independence, the germ of the surrender of Yorktown. But for that blow, we should have been civilized before our time, we should have had our national being civilized out of us; or rather we should have been civilized to death before we had reached the stage of having a national being at all. Arminius saved us from this early promotion to a Buddhist paradise; through his act we were left to grow up for some ages in a youthful and healthy barbarism in our oldest home, till the time came when we were to make our voyage to our second home, there to work out for ourselves a civilization of our own, the common possession of our second home and our third.247

Mit Freemans pangermanischer Agitation in den 1870er und 1880er Jahren erreichte der Arminiuskult in der englischen Geschichtswissenschaft seinen unbestreitbaren Höhepunkt. Kein anderer britischer Historiker des 19. Jahrhunderts vertrat die Idee einer Identität von Angelsachsen und Germanen, von antiken und gegenwärtigen Konflikten mit einer derartigen Leidenschaft, ja geradezu Besessenheit wie der renommierte Oxford-Professor. Freemans berühmtes Diktum History is past politics, politics is present history248 spiegelt ein Geschichtsverständnis, das die Entwicklung der teutonischen Völker als eine unaufhörliche Folge von Aktualisierungen einer Grundkonstellation betrachtete, die ihren Ursprung in der Teutoburger Schlacht hatte, sich durch alle folgenden Epochen fortsetzte und noch in der Gegenwart die Unterscheidung von Eigenem und Fremdem, Freund und Feind determinierte. Die halbmythische Heldenfigur Arminius stand dabei nicht nur für die siegreiche Behauptung des eigenen nationalen Wesens, als es noch ursprünglich rein und unverdorben war, sondern auch für einen metapolitischen, nationalstaatliche Grenzen transzendierenden Zusammenhalt aller teutonischer Stämme und Völker, den es in der Gegenwart wieder zu erinnern und neu zu beleben galt. Während Freemans teutonische Verbrüderungsrhetorik jedoch in Deutschland kaum Beachtung fand, fiel sie bei den Angelsachsen in Amerika auf fruchtbaren Boden.

Der Siegeszug des angelsächsischen Teutonismus in den Vereinigten Staaten Da die amerikanische Geschichtswissenschaft um die Jahrhundertmitte von der englischen noch weitaus stärker beeinflusst war als diese von der deutschen, hatten die Angloamerikaner auch das Aufblühen des Teutonismus im alten Mutterland aufmerksam rezipiert und teilweise adaptiert.249 Bereits 1843 hatte der einflussreiche Neuenglandintellektuelle George W. Marsh eine ungebrochene Kontinuität vom germanischen Altertum bis zum amerikanischen Unabhängigkeitskrieg imaginiert: It was the Spirit of the Goth, that guided the May Flower across the trackless ocean; the Blood of the Goth, that flowed at Bunker’s Hill.250 Vier Jahre später behauptete der Journalist James Duncan Nourse: our American liberty had its origin in the German forests und erwähnte bei seiner Beschreibung der rude independence [of ] our ferocious ancestors auch Arminius.251 Dabei wurde die Rolle des Cheruskerfürsten anfangs noch durch247 Freeman, Lectures to American Audiences. I. The English People in its Three Homes. II. The Practical Bearings of General European History, Philadelphia u. London 1882, 116f.; vgl. auch 33, 34, 37, 201 u. 398. 248 Siehe Parker (1981) 826. 249 Siehe auch zum Folgenden Gossett (1963), Higham (1963), Solomon (1972), Horsman (1981), Schulin (1991), Geary (2004), Hall (1997) und Clark (2005). 250 George Perkins Marsh, The Goths in New England, Middlebury 1843, 14. Bemerkenswert ist die anti-briti-

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sche Pointe von Marshs Gothism: Während die puritanischen Aussiedler und amerikanischen Revolutionäre als Bewahrer der germanischen Freiheitstradition figurieren, übernimmt Großbritannien die Rolle des despotischen und korrupten Rom. Siehe Kliger (1946) und Lowenthal (2000). James Duncan Nourse, Remarks on the Past and its Legacies to American Society, Louisville 1847, 73. Siehe Horsman (1981) 168–171.

aus ambivalent betrachtet. In Peter Fredets weit verbreiteter Modern History von 1842 und in der 1853 publizierten History of Liberty von Samuel Eliot wurde Arminius noch wie bei Merrival als Held und Verräter des germanischen Freiheitskampfes geschildert.252 Außerdem tat man sich in der noch stark von puritanischen Wertvorstellungen geprägten neuenglischen Geschichtsschreibung auch schwer mit einer vorbehaltlosen Glorifizierung eines primitiven Freiheitsideals, das Eliot treffend als liberty of bloody hands charakterisierte.253 Erst 1856 popularisierte schließlich der Literaturhistoriker Henry Reed das Bild vom angelsächsischen Gründervater und Nationalhelden Arminius, wie es Arnold und Creasy entworfen hatten, auch in Amerika.254 In der Zeit des sich abzeichnenden Bürgerkrieges wurde der Rassendiskurs in den Vereinigten Staaten jedoch derart von der Sklavereifrage dominiert, dass für Differenzierungen innerhalb der ‚weißen Rasse‘ wenig Raum blieb. Einen neuen Aufschwung für die teutonistische Geschichtsideologie bewirkte 1870/71 der deutsche Sieg über Frankreich, der auch in Teilen der amerikanischen Presse als ein Triumph vitaler, freiheitsliebender Germanen über degenerierte, cäsaristische Keltoromanen gedeutet wurde.255 Zwar kühlte die Begeisterung für die teutonischen Stammesbrüder rasch wieder ab; nachdem der French Caesar Napoleon III. entmachtet war und Bismarcks harte Friedensbedingungen bekannt wurden, entdeckten manche Kommentatoren sogar bereits die „Kosackennatur“ Preußens.256 Doch auch nach der Gründung des deutschen Kaiserreichs überwog bei amerikanischen Anglo-Saxonists die Ansicht, der deutsche Sieg sei ein historischer Schritt auf dem Weg zur teutonischen Weltherrschaft.257 Getragen von diesem panteutonischen Triumphgefühl erinnerte Kingsley auf einer Vortragsreise durch die USA im Jahr 1874, acht Jahre vor Freeman, seine Zuhörer an die historischen Ursprünge ihrer Freiheit: teach your children – that the history and the freedom of America began neither with the War of Independence, nor with the sailing of the Pilgrim Fathers, nor with the settlement of Virginia; but 1500 years and more before, in the days when our common Teutonic ancestors, as free then as this day, knew how In den Deutschen Forsten Wie der Aar zu horsten, when Herman smote the Romans in the Teutoburger-Wald, and the great Caesar wailed in vain to his slain general, ‚Varus, give me back my legions!‘258

252 Peter Fredet, Modern History; from the Coming of Christ and Change of the Roman Republic into an Empire to the Year of the Lord 1842, Baltimore 1842, 19–29 (22. Auflage 1867) und Samuel Eliot, The History of Liberty. Part II: The early Christians, 2 Bde., Boston 1853, 139–141. 253 Eliot, History, 144. 254 Henry Reed, Lectures on English History and Tragic Poetry, as illustrated by Shakespeare, Philadelphia 1855, 87–89 (vier weitere Auflagen bis 1876, englische Ausgabe 1856 in London). Reed war bereits 1849 Herausgeber der amerikanischen Ausgabe von Arnolds Introductory Lectures on Modern History. 255 Siehe z. B. die New York Times-Editorials „The New Leader of Europe“ vom 16. 8. 1870, „Is France on its Deathbed?“ vom 31. 2. 1871 und „The Lesson of Paris“ vom 30. 5. 1871. Zur amerikanischen Perzeption der deutschen Reichseinigung und des frühen Kaiserreichs siehe Moltmann (1991), Krüger (1992), Junker (1995), Mollin (1997) und Nagler (1997).

256 Siehe das Editorial „The Attitude of Prussia“ im New York Herald vom 16. 9. 1870: And this Cossack nature makes itself felt in the name of the great, enlightened, intelligent German people, from whom, since the age of Arminius, the world has heard so much of its aspirations for freedom and brotherhood. Zum Caesaren-Image Napoleons III. siehe auch Gollwitzer (1952). 257 So das New York Times-Editorial „The Leading Races of the World“ vom 7. 4. 1871: During the next decade of centuries it is evidently the English-speaking and Teutonic races which are to lead modern civilization and to govern the world. Ausdrücklich wird in dem Kommentar Bezug genommen auf Darwins Konzept des survival of the fittest. 258 Charles Kingsley, Lectures Delivered in America in 1874, London 1875, 23. Vgl. auch die Fassung im Daily Evening Bulletin (San Francisco) vom 30. 5. 1874. Das deutsche Zitat stammt aus dem populären „Jägerlied“ von Heinrich Joseph Kiefer (1826).

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Die von Kingsley und Freeman propagierte Verknüpfung von deutscher, englischer und amerikanischer Nationalgeschichte im weiteren Rahmen einer nationsübergreifenden history of the teutonic race sollte auch in Amerika bald Schule machen. Insbesondere die teutonistische Variante der englischen Verfassungsgeschichte wurde in den 1870er und 1880er Jahren zum Leitfaden einer ganzen Generation amerikanischer Historiker, die sich um die Herleitung politischer Institutionen wie der freien Gemeindeverwaltung und der parlamentarischen Demokratie aus ihren vermeintlich germanischen Ursprüngen bemühte.259 Die klassische Formulierung dieser heute als Teutonic Germs Theory bekannten Geschichtsideologie stammt von ihrem führenden Vertreter, dem Freeman-Schüler Herbert Baxter Adams: The tree of English liberty certainly roots in German soil … the numerous valleys and forest villages, which are to this day skirted with evergreen forests, dimly suggesting to his fancy the ambuscades into which the Roman legions fell when they penetrated the Teutoburger Wald. In such forests liberty was nurtured. Here dwelt the people Rome never could conquer. In this wild retreats the ancient Teutons met in council upon tribal war and peace. Upon the forest hilltops they worshipped Wodan, the All-Father; in the forest valleys they talked over, in village moot, the lovely affairs of husbandry and the management of their common fields. Here were planted the seeds of Parliamentary or Self-Government, of Commons and Congresses. Here lay the germs of religious reformations and popular revolutions, the ideas which have formed Germany and Holland, England and New England, the United States in the broadest sense of that old Germanic institution.260

Das von den englischen Teutonisten geprägte Schlagwort ‚Arminius‘ bzw. ‚Teutoburger Wald‘ wurde in den folgenden Jahren von einer Reihe einflussreicher amerikanischer Historiker aufgegriffen, um den germanischen Charakter der Herkunft und Bestimmung ihrer Nation zu betonen. Einer von ihnen war der Althistoriker William Francis Allen, der nicht nur amerikanische Ausgaben von Tacitus’ Annalen und der Germania edierte, sondern auch an den zeitgenössischen Diskussionen um den Ort der Varusschlacht teilnahm und in seinen Schriften die von Arminius gerettete mission of the Germanic race … to preserve and develop the habits and capacity of self-government betonte.261 Auch der Historiker und Darwinist John Fiske, der Anfang der 1880er Jahre in seinen sehr populären Reden in Großbritannien und den Vereinigten Staaten die Idee einer angelsächsischen Weltmission predigte, berief sich dabei auf die ungebrochene Kontinuität der amerikanischen Geschichte seit dem germanischen Sieg über die Legio-

259 Zu den wichtigsten Referenzwerken dieser Schule zählen neben den frühen Werken von Kemble (1849) und Creasy (1853) v.a. Edward A. Freeman, The Growth of the English Constitution from the Earliest Times, London 1872 (3. Auflage 1876, ab 1887 fünf weitere Ausgaben London u. New York bis 1898); William Stubbs, The Constitutional History of England in its Origin and Development, 3 Bde., Oxford 1874 (6. Auflage 1897); Henry Sumner Maine, Lectures on the early History of Institutions, London 1875 (6. Auflage 1896, 1. amerikan. Ausgabe New York 1875); und Thomas P. Taswell-Langmead, English Constitutional History. From the Teutonic Conquest to the Present Time, London 1875 (11. Auflage 1960, die 2. Auflage von 1880 erschien bereits gleichzeitig in Boston). Ein frühes Beispiel ihrer Adaption in den Vereinigten Staaten sind die von Henry Adams herausgegebenen Essays in Anglo-

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Saxon Law, Boston u. London 1876. Vgl. Reimann (1997) und Brundage u. Cosgrove (2007). 260 Herbert Baxter Adams, The Germanic Origin of New England Towns, Baltimore 1882, 13. Zu Adams siehe Cunningham (1981). 261 William Francis Allen, „The Place of the Northwest in General History“, in: ders., Essays and Monographs, Boston 1890, 99. Siehe auch Allens Aufsätze „The Primitive Democracy of the Germans“, ebd. 215–230 und „The Locality of the Saltus Teutoburgiensis“, in: Transactions of the American Philological Association 19 (1888), xxxv– xxxvi sowie seine Editionen Tacitus: The Life of Agricola and the Germania, Boston 1881 (drei weitere Auflagen bis 1913) und Tacitus: The Annals, Boston u. London 1890 (zwei weitere Auflagen bis 1899).

nen des Varus.262 Und selbst der spätere US-Präsident Theodore Roosevelt begann 1889 seine epische Nationalgeschichte The Winning of the West mit einem Exkurs über die welthistorische Bedeutung des hero of the Teutoburger fight.263 Während diese Amerikanisierungen des Arminiusmythos vor allem die kulturelle und rassische Einheit der englischsprachigen Nationen hervorhoben und damit das politische Rapprochement zwischen der ehemaligen Kolonie und ihrem einstigen Mutterland anbahnen halfen,264 erlebten auch die deutschen brethren of the mainland seit der Reichsgründung eine erhebliche Aufwertung im amerikanischen Geschichtsbewusstsein. In den 1870er Jahren erschienen mehrere populäre Darstellungen der deutschen Geschichte, in denen sich bereits eine signifikante Akzentverschiebung beobachten lässt: der liberator Germaniae Arminius wird nicht mehr nur als Freiheitsheld, sondern auch als erster Vorkämpfer deutscher Nationaleinheit gewürdigt. Arminius war, so Charlton T. Lewis 1874, the first man who ever conceived the hope of German unity.265 Auch Bayard Taylor, der spätere US-Botschafter in Berlin, vermutete in seiner School History of Germany, Hermann habe nach dem Sieg über Varus eine dauerhafte Vereinigung der germanischen Stämme angestrebt: It was now possible to organize into a nation the tribes which had united to overthrow the Romans, and such seems to have been his intentions.266 Doch sei der Versuch, die bereits erreichte broad, patriotic union in eine national organization nach römischem Vorbild zu überführen, an der notorischen Zerstrittenheit der germanischen Fürsten gescheitert.267 Der von seinen Verwandten erschlagene Arminius erscheint damit nicht länger als Verräter der Freiheit, die er selbst zuvor gerettet hatte, sondern wird als Opfer des deutschen Partikularismus zum ersten Märtyrer deutscher Nationaleinheit. Diese Rückprojektion des modernen Nationalstaatsideals in die germanische Antike spiegelt zum einen die Tendenz der deutschen Vorlagen wider, nach denen Lewis und Taylor ihre Darstellungen geschrieben haben;268 zum anderen spielte der Einheitsgedanke auch im amerikanischen Geschichtsdenken eine bedeutende Rolle, nachdem die Vereinigten Staaten im Bürgerkrieg zwischen Nord- und Südstaaten beinahe zerbrochen wären. Ähnlich wie der ursprünglich nationalpolitisch-oppositionelle deutsche Hermannskult nach 1871 in eine Apologie des bereits Erreichten mündete, so sahen auch angelsächsische Buchautoren im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts in Arminius den Vorkämpfer eines in der Gegenwart erreichten Ideals. Die deutsche Geschichte von Arminius bis zu Kaiser Wilhelm, wie

262 John Fiske, American Political Ideas. Viewed from the Standpoint of Universal History, New York 1885, 7: In the deepest and widest sense, our American history does not begin with the Declaration of Independence, or even with the settlement of Jamestown and Plymouth; but it descends in unbroken continuity from the days when stout Arminius in the forests of northern Germany successfully defied the might of imperial Rome. Bis 1913 erschienen fünf weitere Auflagen, u.a. auch in London. 263 Theodore Roosevelt, The Winning of the West. Part I.: The Spread of English-Speaking Peoples, New York 1889, 18–23. Roosevelts insgesamt vierbändige Saga der Eroberung des Wilden Westens erlebte zur Zeit seiner Präsidentschaft drei Neuauflagen, die auch in England erschienen. Eine deutsche Auswahl erschien unter dem Titel Im Reiche der Hinterwäldler 1907 in Berlin. 264 Siehe zur Bedeutung des Anglo-Saxonism für die amerikanisch-britische Annäherungspolitik um die Jahrhundertwende Gollwitzer (1971) 322–327, Anderson (1981), Martellone (1994) und Kramer (2003).

265 Charlton T. Lewis, A History of Germany, from the earliest Times, New York 1874, 15. Bis 1900 erschienen fünf weitere Auflagen. 266 Bayard Taylor, A School History of Germany. From the Earliest Period to the Establishment of the German Empire in 1871, New York 1874, 26. Zwischen 1882 und 1916 erschienen sieben weitere Auflagen, eine deutsche Übersetzung 1875 in Stuttgart. Zur Biographie Taylors siehe Wermuth (1973). 267 Taylor, School History, 33f. 268 Vorlage für Lewis und Taylor war das Standardlehrbuch von David Müller, Geschichte des deutschen Volkes, Berlin 1864, das noch 1919 in der 21. Auflage erschien und 1884 unter dem Titel A Popular History of Germany auch in New York publiziert wurde. Vgl. auch Wilhelm Zimmermanns A Popular History of Germany. From the earliest Period to the present Day, 4 Bde., New York 1877/1878 (dt. Original Karlsruhe 1847–1853).

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sie beispielsweise das britisch-amerikanische Autorentandem Baring-Gould und Gilman 1886 erzählte, wurde so zum Schulbeispiel des great lesson of unity im Sinne deutscher Nationaleinheit und teutonischer Rassenverwandtschaft:269 it is the history of our blood-relations. On their experience we have built, and to the light of their example we look for guidance; in their triumphs we rejoice; to the grandeur of the genius of their poets and prose writers, of their scientists and theologians, we look with pride and admiration, congratulating ourselves that we, too, are Teutons. We stood with their Hermann, as he said to the Roman Varus, ‚No farther!‘ just as we stood with the barons before King John on the Field of Runnymede.270

Populäre Geschichtsdarstellungen, Lehr- und Schulbücher wie das von Baring-Gould und Gilman trugen in den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhundert das von Arnold und Creasy, Kingsley und Freeman entworfene Geschichtsbild über die akademischen Fachzirkel und germanophilen Bildungseliten hinaus und vermittelten den Mythos vom panteutonischen Nationalhelden Arminius/Hermann einem großen Publikum von Schülern, Studenten und geschichtsinteressierten Laien.271 In England verwies man auf die Magna Charta, in Amerika auf den Unabhängigkeitskrieg, um die geschichtliche Bedeutung der Varusschlacht zu veranschaulichen. Manche Amerikaner stellten den Germanenfürsten sogar mit ihrem nationalen Gründervater auf eine Stufe: Arminius is our first Washington, erklärte 1899 der Literaturwissenschaftler Edward A. Allen,272 und im selben Jahr befand Augusta Hale Gifford in ihrem populärwissenschaftlichen Deutschlandbuch: With no one can he so well be compared as with our Washington, denn Arminius was the first who conceived the idea of a United Germany and a consolidated Fatherland.273 Auch für Gifford sind dabei die vergangenen Heldentaten der embryo tribes which Arminius fought for and died to save mit den großartigen Zukunftsaussichten der teutonischen Nationen in der Gegenwart verbunden:

269 Sabine Baring-Gould u. Arthur Gilman, Germany (The Story of the Nations Series) London 1886, 420 (8. Auflage 1906, 1. amerikan. Ausgabe u.d.T. The Story of Germany, New York 1886, span. Übersetzung Madrid 1892). In dem ihm gewidmetem Kapitel (15–23) wird Arminius the first vision of a united Germany zugeschrieben (20). Vgl. auch bereits Arthur Gilman, Magna Charta Stories. World-famous Struggles for Freedom in former Times. Recounted for Youthful Readers, Boston 1882, 139–155 (weitere Auflagen London 1885 und Boston 1897). 270 Baring-Gould u. Gilman, Germany, iv. Siehe zur Rezeption dieser stilprägenden Darstellung die Rezensionen in Athenaeum vom 6. 10. 1886, 465, Practical Teacher 6 (1886), 378, Time 15 (1886), 506 und die Würdigung der 7. Auflage in Athenaeum vom 25. 8. 1906, 212. 271 Siehe bspw. J. H. Beale (Hg.), Gay’s Standard History of The World’s Great Nations, Bd. 2, New York 1884, 12–15; Hermann Lieb, History of the German People from the Earliest Times to the Accession of Emperor William II., Chicago, New York u. San Francisco 1889, 31–60, Charles Morris, Historical Tales. The Romance of Reality, Bd. 5: German, Philadelphia 1893, 7–18, Ainsworth Rand Spofford, Frank Weitenkampf u. John Porter Lamberton (Hgg.), The Library of Historic Characters and Famous

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Events of All Nations and All Ages, 10 Bde., Philadelphia 1894, 76–82, Edgar Sanderson, John Porter Lamberton u. Charles Morris, Six thousand Years of History, Bd. 1: Ancient and Mediaeval History, Philadelphia, Chicago u. St. Louis 1900, 264–266, Philipp Van Ness Myers, Rome, its Rise and Fall. A Text-Book for High Schools and Colleges, Boston 1900, 322–324, Edward S. Ellis u. Charles F. Horne, The Story of the Greatest Nations, from the Dawn of History to the Twentieth Century, Bd. 2, New York 1901, 508–513, Emily Hawtrey, A Short History of Germany, Detroit 1903, 11–13, John Clark Ridpath, Ridpath’s History of the World, Bd. 3, Cincinnati 1907, 272f. und Franklin James Holzwarth, German Students’ Manual of the Literature, Land, and People of Germany, New York, Cincinnati u. Chicago 1908, 21–24. 272 Edward A. Allen, „The Oratory of Anglo-Saxon Countries“, in: James D. Brewer (Hg.), The World’s Best Orations. From the Earliest Period to the Present Time, St. Louis 1899, xiii. 273 Augusta Hale Gifford, Germany, her People and their Story. A Popular History of the Beginnings, Rise, Development and Progress of the German Empire from Arminius to William II. told for Americans, Boston 1899, 16f.

In these primitive nations the spark lay dormant which kindled the sacred flame now illuminating the republican institutions of our own beloved land, and from the embers have sprung all the contingents of our modern civilization, which furnishes such a glorious example to the peoples of the world.274

Zum Symbol des gemeinsamen germanischen Erbes wurde auch in Amerika das deutsche Hermannsdenkmal. Kaum eine Arminiuserzählung nach 1875 verzichtete auf die Erwähnung des ihm gewidmeten Monuments auf der Grotenburg, auf das auch seine angelsächsischen Nachfahren Grund hätten, stolz zu sein.275 Englischsprachige Reiseführer empfahlen einen Besuch des Denkmals und des vermeintlichen Schlachtfeldes.276 Und während in der englischen Presse längst der Spottname Hermann the German kursierte,277 wanderten amerikanische Reiseschriftsteller wie der presbyterianische Prediger John Henry Barrows noch um die Jahrhundertwende voller Andacht durch die cradle of the liberties of the English-speaking nations im Teutoburger Wald.278 Auch der Altphilologe Myron R. Sanford aus Vermont sah bei seinem Denkmalsbesuch 1895 in Bandels Hermann mehr als nur a worthy ideal of all that is strong and great in German unity and might: Indeed the New Englander and American can never forget how direct and regular is the descent of the liberties he enjoys from the old Teutonic liberties for which Arminius and the Cheruscans so sturdily stood there in the forest nineteen centuries ago.279

Angesichts dieser Popularität des germanischen Ahnenkultes unter gebildeten Amerikanern verwundert es nicht, dass um die Jahrhundertwende auch von politischer Seite versucht wurde, aus dem gemeinsamen teutonischen Abstammungsbewusstsein Kapital zu schlagen. Am 30. November 1899 entwarf der britische Kolonialminister Joseph Chamberlain in seiner berühmten Leicester-Rede die Vision eines deutsch-englisch-amerikanischen Bündnisses: a new triple alliance between the Teutonic race and the two great branches of the Anglo-Saxon race would be a potent influence in the future of the world.280 Bei der Eröffnung des von Kaiser Wilhelm II. gestifteten Germanic Museum in Harvard im November 1903 schwelgten deutsche und amerikanische Festredner in pangermanischer Verbrüderungsrhetorik.281 Und als der einflussreiche amerikanische Staatsrechtler John W. Burgess 1906 seine Antrittsvorlesung als erster Roosevelt-Austauschprofessor in Berlin hielt, nutzte er die Gelegenheit, um erneut die Idee eines „großen germanischen Dreibunds“ zu propagieren, dessen Ziel nichts geringeres sei als „Friede, 274 Gifford, Germany, 584. Deutschland schreibt Gifford daneben die Rolle des arbiter of the destiny of Europe zu, dem es vorherbestimmt sei, a dominant factor in Christianizing the world zu werden. Zur Rezeption siehe die wohlwollenden Rezensionen im American Monthly Review of Reviews 19 (1899), 753, Public Opinion 26 (1899), 603 und National Magazine 11 (1900), 567. 275 Siehe z.B. Baring-Gould u. Gilman, Germany, 20f., Gifford, Germany, 16f. (mit Foto) und Ellis u. Horne, Greatest Nations, 513. 276 Siehe Murrays Handbook for North Germany, London, Paris u. Leipzig 1877, 193 u. 198, Baedekers Northern Germany, as far as the Bavarian and Austrian Frontiers, Leipzig, London u. New York 1890, 93 und Bradshaw’s Illustrated Hand-Book to Germany and Austria, London u.a. 1895, 78. 277 Siehe die Times-Artikel „The National Monument of Germany“ vom 29. 9. 1883 und „The Emperor William“ vom 10. 3. 1888.

278 John Henry Barrows, A World-Pilgrimage, Chicago 1897, 32f. Vgl. auch John L. Stoddard, Stoddard’s Lectures, Suppl. Bd. 5, Boston u. Chicago 1909, 208f. (mit Foto) und die literarische Schilderung eines Denkmalsbesuchs in der Erzählung „An Old Man’s Darling“, in: All the Year round 7 (Januar 1892), 108–114. 279 Myron R. Sanford, „Germany’s Tribute to Arminius“, in: New England Magazine 18 (April 1895), 168f. (mit Fotos). 280 „Mr. Chamberlain at Leicester“, in der Times vom 1. 12. 1899. Vgl. Kennedy (1982) 239. 281 „Kaiser’s Gifts“ im Boston Globe vom 11. 11. 1903. Vgl. auch die pangermanische Vision des Initiators und ersten Museumsleiters Kuno Francke, „Deutsche Kultur in den Vereinigten Staaten und das Germanische Museum der Harvard-Universität“, in: Deutsche Rundschau 28 (1902), 127–145. Siehe zur Gründung des Museums und den politischen Hintergründen Goldman (1989) und Prinz von Preußen (1997) 179–188.

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Fortschritt und Prosperität in der ganzen Welt“.282 So utopisch diese pangermanischen Bündnisvisionen angesichts der machtpolitischen Konflikte zwischen den imperialen Großmächten heute anmuten, so veranschaulichen sie doch die Langlebigkeit und politische Virulenz eines tief im angelsächsischen Geschichtsbewusstsein verankerten Identitätskonstrukts.283 Die Symbolfigur Arminius spielte hingegen in den außenpolitischen Instrumentalisierungen des Germanischen vor dem Ersten Weltkrieg kaum mehr eine Rolle. Anders als 1813 und 1870 fehlte zu Beginn des 20. Jahrhunderts das bonapartistische Feindbild, das einer Aktualisierung des antiken römisch-germanischen Konflikts zumindest einen Anschein von Plausibilität hätte verleihen können. Spätestens mit der britisch-französischen Entente Cordiale von 1904 ließen sich die Fronten der europäischen Politik nicht mehr mit der metapolitischen Kategorie eines bereits in den germanischen Urwäldern ausgefochtenen Rassenkampfes zwischen romanischen und germanischen Völkern beschreiben. Während im deutschen Kaiserreich der Hermannsmythos immer mehr zum Mobilisierungsinstrument völkischer Verbindungen und alldeutscher Propagandisten wurde,284 gewannen erst in England und später auch in Amerika diejenigen kritischen Stimmen die Oberhand, die bereits Jahrzehnte vor dem Weltkrieg im teutonistischen Arminiuskult nichts anderes als eine absurde Geschichtsspekulation und eine gef ährliche Aufstachelung zum Rassenhass gesehen hatten.

Kritik und Krise des teutonistischen Paradigmas Die mit der Vollendung des Bandelschen Denkmals 1875 einhergehende Verörtlichung und inhaltliche Festschreibung des Hermannsmythos als Symbol deutscher Nationaleinheit sollte sich für die angelsächsische Arminiusverehrung als zweischneidiges Schwert erweisen. Auf der einen Seite wurde es von germanophilen Engländern und Amerikanern als sinnf älliger Ausdruck teutonischer Weltmacht und Rasseneinheit gewürdigt. Auf der anderen Seite bot die in Metall gegossene Verknüpfung der pangermanischen Heldenfigur mit dem deutschen Kaiserreich Anknüpfungspunkte für Kritiker, die den Grundannahmen der Teutonisten skeptisch gegenüberstanden oder zumindest das Verhältnis der ‚germanischen Brudernationen‘ Deutschland, Großbritannien und U.S.A. weniger optimistisch bewerteten.285 Bereits kurz nach der Reichsgründung erschienen in der englischen Publizistik erste Warnungen vor einem preußisch dominierten Pan-Teutonism als einer Rechtfertigungsideologie für die Fortsetzung der bismarckschen Eroberungspolitik by blood and iron.286 Insbesondere die ‚abtrünnigen‘ germanischen Kinder der Mighty Mother of all Teutons in Holland, Belgien und der Schweiz galten als potentielle 282 John W. Burgess, „Deutschland, England und die Vereinigten Staaten“, in: Internationale Wochenschrift für Wissenschaft, Kunst und Technik 1 (1907), Sp. 154. Vgl. auch Burgess’ „Germany, Great Britain, and the United States“, in: Political Science Quarterly 19 (März 1904), 1–19 und Germany and the United States. An Address Delivered before the Germanistic Society of America January 24, 1908, New York 1909. Zum Teutonismus von Burgess siehe Gossett (1963) 111–115 und Saveth (1965) 42–51; zum deutsch-amerikanischen Professorenaustausch Brocke (1981). 283 Zum politischen Germanismus und seinen Funktionen im deutsch-britisch-amerikanischen Verhältnis siehe allgemein Gollwitzer (1971) 323–341.

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284 Siehe Tacke (1995) 228–243, Bennhold (1996), Puschner (2001), Kipper (2002), See (2003) und Losemann (2008). 285 Vgl. Kleinknecht (1984) und Simmons (1996). 286 John Wilson, „Bismarck, Prussia, and Pan-Teutonism“, in: Quarterly Review 130 (Januar 1871), 71–92; nachgedruckt in: ders., Studies of Modern Mind and Character at several European Epochs, London 1881, 423–444. Konkret bezieht sich Wilson v.a. auf Wolfgang Menzels alldeutsche Kampfschrift Unsre Grenzen, Stuttgart u. Leipzig 1868.

Opfer.287 Aber auch Engländer glaubten sich gegen Vereinnahmungen deutscher Professoren zur Wehr setzen zu müssen, die ihnen einreden wollten, sie seien no more than an offshoot from the Germans, and therefore bound to respect them … because they stand to us in a quasi-parental relation.288 Selbstbewusst reklamierten dagegen britische Teutonisten die ‚reinere‘ germanische Abstammung und damit die politische Führungsrolle für sich: we claim, that our speech, in right of its Saxon descent, is the elder sister, so are we, on the ground of our Saxon ancestry, the elder brethren, or rather cousins.289

In starkem Kontrast zur panteutonischen Verbrüderungsrhetorik eines Edward Freeman belegen bereits diese frühen kritischen Stimmen, dass die vielbeschworene Stammverwandschaft mit den German cousins auch Konfliktstoff bot. Machtpolitische Interessengegensätze konnten in die Semantik eines innergermanischen Familienstreits transformiert werden. In dem Maße, in dem sich die Spannungen zwischen Kaiserreich und Empire zuspitzten, kamen ab der Jahrhundertwende sozialdarwinistische Interpretationen des teutonischen Rassencharakters auf, die einen kommenden Kampf der beiden führenden germanischen Nationen um die Weltherrschaft prognostizierten.290 History teaches us how constantly Teutonic tribes and nations have destroyed one another, konstatierte 1900 der britische Anthropologe Nottidge Charles MacNamara noch bedauernd, da er in der unity and integrity of the great Teutonic race die beste Gewähr für Fortschritt und Freiheit der Menschheit sah.291 Zwölf Jahre später sahen der amerikanische Militarist Homer Lea und der Alldeutsche Friedrich von Bernhardi einen deutsch-englischen Krieg bereits als unvermeidbar an,292 während englische Aristokraten noch auf die grundlegende Germanisation of Britain und a record of 1,400 years of Anglo-German kinship and friendship als Friedensgaranten verwiesen.293 Treffender als diese hilflosen Appelle an die teutonische Rassensolidarität beschrieb der Historiker John Adam Cramb das Verhältnis von Engländern und Deutschen unmittelbar vor Kriegsausbruch 1914 als das schicksalhafte Ringen zweier germanischer Heldennationen: one can imagine the ancient, mighty deity of all the Teutonic kindred, throned above the clouds, looking serenely down upon that conflict, upon his favorite children, the English and the Germans, locked in a deathstruggle, smiling upon the heroism of that struggle, the heroism of the children of Odin the War-God!294

287 Wilson, „Bismarck“ (1881), 441. Vgl. dagegen die positive Würdigung des deutschen Pangermanismus als Widerpart des russischen Panslawismus bei James Kennedy Patterson, „Panslavism and Panteutonism – Europe’s next War“, in: Louisville Ledger vom 2. 9. 1871; dokumentiert in: Pollitt (1925) 224–227. 288 [Anonym], „Pan-Teutonism“, in: Once a Week 11 (1873), 359–364. 289 [Anonym], „Pan-Teutonism“, 363. Explizit beruft sich der anonyme Autor in seiner sprachgeschichtlichen Argumentation auf Latham und Creasy (s.o.). 290 Siehe zum Topos des German Cousin und seiner Umdeutung zwischen Reichsgründung und Weltkrieg Mander (1974), Firchow (1986) und Dose (1986). Zur Geschichte des Sozialdarwinismus siehe Koch (1973). 291 Nottidge Charles MacNamara, Origin and Character of the British People, London 1900, 223. 292 Friedrich von Bernhardi, Deutschland und der nächste Krieg, Stuttgart u. Berlin 1912. Die erste englische Aus-

gabe erschien noch im selben Jahr in London, die erste amerikanische 1914 in New York. Nach Kriegsausbruch wurden Dutzende von Nachdrucken auf den Markt geworfen. Homer Leas The Day of the Saxon erschien in 1912 in New York und London, fand jedoch nur wenig Beachtung. Die deutsche Übersetzung besorgte 1913 der Alldeutsche Graf Reventlow. Siehe Bridgham (2006). 293 Sir Harry Hamilton Johnston, Views and Reviews from the Outlook of an Anthropologist, London 1912, 100–106 und Lady Florence Phillips, A friendly Germany. Why not?, London 1913, 49. Arminius, der Inbegriff des teutonischen Kriegerideals, spielt in diesen Versuchen, den deutsch-britischen Konflikt zu harmonisieren, naturgemäß keine Rolle. 294 John Adam Cramb, Germany and England, London 1914. Noch im selben Jahr erschienen mindestens neun Nachdrucke und die erste amerikanische Ausgabe.

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Mit dieser Glorifizierung des rassischen Bruderkampfes endete der angelsächsische Pangermanismus als politische Legitimationsideologie in einer Sackgasse. Die Berufung auf eine gemeinsame Tradition der teutonischen Völkerfamilie verlor ihre verbindende Funktion spätestens in dem Moment, wo sich die Gemeinsamkeit ihrer führenden Repräsentanten nur noch in unerbittlicher Feindschaft äußerte. Die Überhöhung germanischer Kriegertugenden offenbarte nun ihr ganzes destruktives Potential, weil sie nicht mehr an eine universale Freiheits- oder Zivilisationsmission gekoppelt war, sondern zum reinen Selbstzweck nationaler Machtpolitik wurde. Zur Mobilisierung im Krieg gegen Deutschland bemühte die englische Propaganda deshalb nicht das Bild der feindlichen germanischen Brüder, sondern das der barbarischen Hunnen – der Germhuns, wie sie Horatio Bottomley in seinen berüchtigten John Bull-Kolumnen nannte.295 Über diesen symbolpolitischen Umweg ließ sich der Gegensatz von Zivilisation und Barbarei wieder aktualisieren, den die Teutonisten mit ihren Lobeshymnen auf den healthy barbarism der gemeinsamen germanischen Vorväter verwischt hatten.296 Die Interpretation der Varusschlacht als ersten Sieges junger, vitaler germanischer Barbaren über ein abgelebtes, überzivilisiertes Römertum war bereits im 19. Jahrhundert nicht ohne Widerspruch geblieben. Schon 1863 stellte ein englischer Bericht über das noch im Bau befindliche Detmolder Hermannsdenkmal in Frage, dass der Triumph des Arminius tatsächlich ein Gewinn für die historische Entwicklung der Germanen gewesen sei: The Teutonic tribes were in those days simply barbarians, who could only gain by an active intercourse with a people building them highways, bridges, decent towns, and fortified places, introducing laws and clothing, and teaching them the alphabet. To exchange all these advantages for a savage independence was the height of folly … Eight centuries of stagnation was the price paid for the gratification of giving a sound thrashing to a people whose presence conferred lasting benefits.297

Auch in den Kommentaren der englischen Presse zur Denkmalseinweihung 1875 finden sich vereinzelte Hinweise, dass der zivilisierende Einfluss Roms den Germanen durchaus nicht geschadet habe.298 Die Kleist-Biographen Francis Lloyd und William Newton gingen sogar so weit zu behaupten, die vermeintliche Sternstunde deutscher Geschichte sei in Wahrheit der Ausgangspunkt einer fatalen Fehlentwicklung gewesen: It is amazing that it has never occured to the numerous narrators of the feats of Hermann in the Teutoburg forest, that all the disasters of German history might with much show of reason be traced to that unlucky victory … the Romans by their repulse were prevented from carrying out a civilizing mission of inestimable value.299

Wie schon die Aufklärungshistoriker des 18. Jahrhunderts bezweifelten diese Kritiker den zivilisatorischen Wert des blutigen Triumphes heidnischer savages und barbarians über die führende Kulturmacht der Antike. Andere wiederum stellten die anthropologischen Grundlagen der teutonistischen Lehre in Frage, indem sie die von Freeman und anderen behauptete unverf älschte rassische Kontinuität von den 295 Siehe Symons (1955) 165 u. 181. 296 Die Formulierung wurde insb. von Freeman verwendet – siehe seine History of the Norman Conquest, Bd. 1, Oxford 1867, 20, „The Origin of the English Nation“, in: Macmillan’s Magazine 22 (1870), 46 und Lectures to American Audiences, Philadelphia u. London 1882, 116. Vgl. auch Max Müller, „Savages“, in: Nineteenth Century 17 (1885), 126.

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297 „Hermann’s Statue and the Fiftieth Anniversary of the Battle of Leipzig“, in: The Reader 2 (1863), 476. 298 Siehe z.B. das bereits erwähnte Times-Editorial vom 17. 8. 1875 (s.o. Anm. 7). 299 Francis Lloyd u. William Newton, Prussia’s Representative Man, London 1875, 68. Vgl. die Replik von Karl Blind im Examiner vom 8. 5. 1875, 524f.

Germanen des Tacitus zu den Engländern der Gegenwart bestritten. Bereits 1870 bezeichnete der berühmte Darwinianer Thomas Huxley in einem Aufsehen erregenden Vortrag die Gleichsetzung von English nationality und Anglo-Saxon als simply absurd:300 Erstens seien die Briten etwa gleichenteils keltischer wie teutonischer Abstammung, und zweitens gebe es außer der Sprachverschiedenheit überhaupt keine ethnologischen Unterschiede zwischen Kelten und Germanen.301 Als sieben Jahre später der Historiker und Ethnologe Henry Hoyle Howorth die bereits von Creasy behauptete direkte Abstammung der English Saxons von den alten Cheruskern widerlegte, geriet ein weiterer wissenschaftlicher Grundpfeiler der behaupteten Traditionslinie von Arminius zu Washington ins Wanken.302 Im selben Jahr musste Freeman zugestehen, dass führende Philologen wie sein Freund Max Müller mittlerweile jeden Zusammenhang zwischen Sprache und Rasse bestritten und damit der teutonistischen Kontinuitätslehre eines ihrer wichtigsten methodischen Werkzeuge abhanden gekommen war.303 Die brüchiger werdende wissenschaftliche Legitimation des teutonistischen Geschichtsbildes tat seiner Popularität bis zum Ende des Jahrhunderts zwar wenig Abbruch, bot aber durchaus bereits Ansatzpunkte für eine Fundamentalkritik auch von akademischer Seite. So prangerte der in New York geborene, in Heidelberg promovierte und in Cambridge lehrende Archäologe Charles Waldstein 1898 den Ethnological Chauvinism der in Deutschland erfundenen und von den Freemans in England verbreiteten Rassentheorien an.304 Die Verknüpfung spekulativer ethnological theories mit aggressiven practical politics kritisierte er als modern version of the old story of national lust of power.305 Als Beispiel für den durch den Rassenwahn inspirierten politischen Irrsinn nennt er den durch die monster statues on the hills of the Rhine and the Teutoburger forest forcierten deutschen Kulturkampf, den er mit dem Ausruf kommentiert: Arminius was, after all, a Pagan!306 Ebenfalls gegen Freeman und die deutschen chief architects of the race theory richtete sich 1895 die Kampfschrift Fallacies of Race Theories as applied to National Characteristics des amerikanischen Juristen William Dalton Babington.307 Zur Begründung seiner zentralen These there is no truth in the ancestral theory of national character widmet er sich eingehend den zeitgenössischen Idealisierungen der antiken Germanen und ihres berühmtesten Feldherrn.308 Arminius’ Aufstand gegen die römischen Besatzer ist für Babington kein Zeichen einer angeblich dem teutonischen Nationalcharakter innewohnenden ineradicable love of freedom, sondern lediglich Ausdruck eines unzivilisierten habit of revolt, den er auf den universal distaste savages exhibit for the restraints of orderly life zurückführt.309 Arminius’ Erfolg war demnach kein Sieg der Freiheit, sondern condemned Germany to unprogressiveness und consigned his 300 Thomas H. Huxley, „The Forefathers and Forerunners of the English People“, in der Pall Mall Gazette vom 10. 1. 1870 und 14. 3. 1870; nachgedruckt im Anthropological Review 8 (1870), 197–204. Dort findet sich auf den folgenden Seiten (205–216) auch ein Teil der kontroversen Debatten um Huxleys Thesen. 301 Als Lehre für die English political ethnology hält Huxley fest that the arguments about the difference between AngloSaxons and Celts are mere sham and delusion – „Forefathers“, 203. 302 Henry H. Howorth, „The Ethnology of Germany. Part I. The Saxons of Nether Saxony“, in: Journal of the Anthropological Institute of Great Britain and Ireland 6 (1877), 364–378. 303 Freeman, „Race and Language“, in: Contemporary Review 29 (1877), 711–741, insb. 722f. Vgl. Max Müller, Biographies of Words and the Home of the Aryas, London 1888, 88–91. Vgl. Parker (1981) 834ff.

304 Charles Waldstein, „The English-Speaking Brotherhood“, in: North American Review 167 (1898), 223–238; nachgedruckt in: ders., The Expansion of Western Ideals and the World’s Peace, New York u. London 1899, 113–193, Zitate 138 u. 141. 305 Waldstein, „Brotherhood“ (1899), 142. 306 Waldstein, „Brotherhood“ (1899), 146. 307 William D. Babington, Fallacies of Race Theories as applied to National Characteristics, London u. New York 1895, 6 u. 183. Siehe die Rezension in den Annals of the American Academy of Political and Social Science 8 (1896), 167–169. 308 Babington, Fallacies, 11. Neben Freeman richtet sich Babingtons Polemik v.a. gegen Theodor Mommsen, dem er eine Abwertung der keltischen gegenüber der germanischen Rasse vorwirft (s. 191–230). 309 Babington, Fallacies, 224–226.

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countrymen to ages of barbarism, from which the unsparing sword of Charlemagne, a man of their own nation, only partially raised them eight centuries subsequently.310 Das zu Ehren des Massakers im Teutoburger Wald errichtete Denkmal bezeichnet Babington deshalb indigniert als unwelcome instance of national vanity und perversion of history.311 Diese antirassistische Kritik teutonistischer Ursprungsmythen nahm bereits einige allgemeine Tendenzen der angelsächsischen Geschichtsschreibung nach der Jahrhundertwende vorweg – namentlich die Ablösung rassischer durch soziologische Erklärungsmuster, die erneute Hinwendung zu den keltischen Ursprüngen und die positive Neubewertung der augusteischen Kaiserzeit im Lichte der eigenen imperialen Erfahrung.312 Letztere spiegelt auch die bereits in einigen der zitierten Kritiken erkennbare Renaissance der Dichotomie von Zivilisation und Barbarei in der Interpretation des germanischrömischen Konflikts. So hatte Babington schon 1895 die prinzipielle Position vertreten, that the conquest of barbarous people by a civilized power may sometime be a duty, that it is in general beneficial to the barbarians themselves, and in that respect it is justifiable.313 Statt mit den rohen Tugenden der edlen Wilden in den germanischen Wäldern identifizierten sich um die Jahrhundertwende immer mehr Briten mit der expansiven imperialen Ordnungsmacht Rom.314 Prägnant formuliert ein Times-Editorial vom September 1898 den Vorbildcharakter der römischen für die britische Zivilisierungsmission: To the Roman Empire alone belongs the credit of having in some measure anticipated the principles on which the British Empire rests – that conquest is but a step to civilization and peace and union among the nations. The Romans were ruthless conquerors … But they were civilizers and administrators as well as conquerors. The ‚Pax Romana‘ gave comparative rest to Europe in the first century, as the ‚Pax Britannica‘ gives to India in the nineteenth.315

Eine solche imperiale Genealogie stand im offenkundigen Widerspruch zu den germanischen Ursprungsmythen der teutonistischen Schule und ihrer Imaginierung eines angelsächsischen Nationalhelden Arminius. Antirömische Rebellen erschienen in dieser Logik als Feinde der imperialen Friedensordnung.316 In der Übertragung der römisch-germanischen Frontstellung auf moderne Kolonialkonflikte offenbarte sich deshalb ein bisher nur am Rande erwähntes Aktualisierungspotential der historischen Erinnerung der Varusschlacht, in der nicht die Engländer, sondern ihre barbarischen Feinde mit den siegreichen Germanen identifiziert wurden. Zum ersten Mal erschien diese Variante des öffentlichen Gebrauchs des Arminiusmythos vermutlich in der zunächst publizistischen, dann geschichtswissenschaftlichen und literarischen Verarbeitung der Braddock-Katastrophe während des Siebenjährigen Krieges. Ein Teilnehmer der Schlacht auf indianisch-französischer Seite war der Ottawa-Häuptling Pontiac, der wenige Jahre später eine große Allianz indianischer Stämme vereinte und während der Belagerung von Detroit den Briten eine weitere Niederlage zufügte. Schon zu Lebzeiten eine Legende, wurde er 1838 von der britischen Schriftstellerin Anna Jameson als wilder hero par excellence mit dem germanischen Helden Arminius verglichen.317 Eine ähnliche Anerkennung erfuhr wenig später auch der berühmte Shawnee-Führer Tecumseh, den der iri310 311 312

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Babington, Fallacies, 203 u. 227. Babington, Fallacies, 202f. Siehe zum Celtic Revival Brown (1996) und zur historiographischen Neubewertung Augustus’ Turner (1993) 257ff. und Vance (1997). Babington, Fallacies, 179. Siehe hierzu neuerdings die umfassende Studie von Parchami (2009) insb. 61–91. Times-Editorial vom 13. 9. 1898.

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Siehe als Beispiel die Darstellung von Arminius’ treachery und der Reaktion des Augustus (worthy of the ‚Father of his country‘) in Arthur Hadrian Allcroft u. John Hampden Haydon, A History of the Reigns of Augustus and Tiberius, London 1900, 42f. u. 73–77. Anna Jameson, Winter Studies and Summer Rambles in Canada, Bd. 2, London 1838, 294. Bereits 1839 erschienen eine amerikanische Ausgabe in New York und eine deutsche Übersetzung in Braunschweig.

sche Amerikareisende John Robert Godley 1844 als a second Arminius bezeichnete.318 Inspiriert wurden diese Würdigungen mutmaßlich durch die erste englische Übersetzung von François Guizots Histoire générale de la civilisation, in der der berühmte französische Historiker einen umfassenden Vergleich der Lebens- und Kampfesweise von altgermanischen und indianischen Stämmen angestellt hatte.319 Dass der Vergleich von modernen mit antiken ‚Barbaren‘ nicht nur dem nostalgischen Rückblick auf längst besiegte Gegner, sondern auch der Warnung vor ganz aktuellen Gefahren dienen konnte, zeigt hingegen ein englischer Zeitschriftenartikel vom Juli 1845.320 Als Reaktion auf den Ausbruch eines britischen Kolonialkrieges gegen neuseeländische Maori-Rebellen erinnert der anonyme Autor an die fatalen Folgen der römischen Besatzungspolitik unter Varus, um gegen das rücksichtslose Vorgehen der vorgeblich Zivilisierten gegen die Unzivilisierten zu protestieren. Der Triumph des germanischen Freiheitskämpfers Arminius wird dabei zum Menetekel für die britische Politik: the philantrophic statesmen, who think it so easy, as well as so proper, to massacre poor savages for defending their native land, might do well to refresh their memories by reading how it fared with the Romans when dealing with the ancient barbarians of Germany.321

Diese Warnung vor einer Wiederholung der Varus-Katastrophe in den britischen Kolonien war mehr als ein moralischer Appell, denn er rief zugleich Erinnerungen an das militärische Desaster des Afghanistan-Feldzugs drei Jahre zuvor wach. Im Winter 1841/42 war ein von General William Elphinstone geführtes britisch-indisches Expeditionsheer beim Rückzug aus Kabul von den Afghanen unter Akbar Khan in einen Hinterhalt gelockt und vollständig vernichtet worden.322 Die verheerende Niederlage wurde in der schockierten englischen Öffentlichkeit umgehend mit dem Untergang der römischen Legionen im Teutoburger Wald assoziiert.323 Der Schriftsteller John Sterling schrieb konsterniert an seinen Vater: here we are dismally injured by mere barbarians, in a War on our part shamefully unjust as well as foolish: a combination of disgrace and calamity that would have shocked Augustus even more than the defeat of Varus.324

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John Robert Godley, Letters from America, Bd. 1, London 1844, 151. Zitiert im Monthly Review 2 (1844), 103, im Bristol Mercury vom 30. 3. 1844 und im Glasgow Herald vom 1. 4. 1844. 319 François Pierre Guillaume Guizot, General History of Civilization in Europe, 3 Bde., London 1837. Das französische Original erschien 1828 in Paris, die erste amerikanische Ausgabe 1838 in New York und eine deutsche Übersetzung 1844 in Stuttgart. Bis Ende des 19. Jahrhunderts erschienen in England und Amerika mindestens zwei Dutzend Neuauflagen. 320 [Anonym], „Armin, or the Civilized Romans and the Barbarians of Germany“, in: Mirror of Literature, Amusement, and Instruction 2 (1845), 7–9. Zu dem heute als Flagstaff War (1845/1846) bekannten Konflikt zwischen Briten und Maori siehe Belich (1990). 321 [Anonym], „Armin“, 7. Die folgende Erzählung der römischen Katastrophe im Teutoburger Wald stützt sich auf die bereits erwähnte Darstellung Heinrich Ludens – siehe Anm. 184.

322 Von den ca. 16500 Teilnehmern des Feldzuges entkam lediglich ein einziger dem Massaker – siehe zum Ereignis und den Folgen Macrory (2002). 323 Siehe „The Disasters in Affghanistan. Curious Parallel“ in der Times vom 20. 4. 1842 und „British Overthrow at Afghanistan“ im Museum of Foreign Literature, Science and Art 45 (1842), 626f. Vgl. auch „Désastres de la puissance Anglaise dans l’Inde“, in: Revue générale, biographique, historique et litteraire 10 (1842), 270f. 324 Brief vom 12. 3. 1842, zitiert nach Thomas Carlyle, The Life of John Sterling, London 1851, 288. In späteren Darstellungen wurde insb. die Reaktion des indischen Gouverneurs Lord Auckland, der beim Empfang der Nachricht von Elphinstones Untergang einen Schlaganfall erlitt, mit den Klagen des römischen Imperators über den Verlust der varianischen Legionen verglichen – siehe Samuel Phillips, „The War in Afghanistan“, Times vom 25. 9. 1852; nachgedruckt in ders., Essays from ‚The Times‘, London 1871, Zitat 264.

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Die Erinnerung an das Massaker von Kabul als disaster unparalleled since the loss of Varus’ legions blieb im britischen Empire das ganze 19. Jahrhundert hindurch lebendig.325 Der Vergleich mit der römischen Niederlage war so fest etabliert, dass er umgekehrt sogar Eingang in geschichtswissenschaftliche Darstellungen der Varusschlacht fand. It was like our own desaster in Affghanistan, befand der Historiker Edward Beesly 1867 in seiner Tiberius-Biographie, und charakterisierte Arminius in Anlehnung an einen berüchtigten indischen Rebellenführer als the Nana Sahib of his day.326 Nicht zuf ällig entstammte deshalb 1885 die originellste und detaillierteste Schilderung der Teutoburger Schlacht seit Creasy und Smith der Feder eines englischen Kolonialoffiziers, der sich zuvor als Teilnehmer und Chronist der britischen Kriege in Afghanistan und Indien einen Namen gemacht hatte.327 Bezeichnend für die römischimperiale Perspektive ist bereits der Titel von Colonel Mallesons Schlachtensammlung: Ambushes and Surprises.328 Eine erneute Aktualisierung erfuhr das imperiale Trauma einer varianischen Niederlage gegen zivilisierungsresistente Barbaren 1879, als südafrikanische Zulus unter König Cetewayo bei Isandlwana ein britisches Invasionsbatallion vernichteten. Wieder erinnerten englische Kommentatoren an das grausame Schicksal der Legionen des Varus at the hand of Hermann in the morasses of ancient Germany und befürchteten den Einfall von thousands of revengeful barbarians in die Kapkolonie.329 Kontrovers diskutierte die Presse die Parallelen zwischen germanischem und afrikanischem Unabhängigkeitskampf. Während die Londoner Daily News im Zulu chieftain keinen zweiten Arminius, sondern nur einen blundering savage sah, bezeichnete das irische Freeman’s Journal König Cetewayo als dusky Arminius, who, if his complexion were only of a lighter tint, would be pronounced by history to be a hero and a patriot who waged a galant struggle pro aris et focis to defend his country from unprovoked aggression.330

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„Whence have come our Dangers?“, Blackwoods Edinburgh Magazine 77 (1855), 124. Der Vergleich mit der Varusschlacht findet sich u.a. auch in „The Outbreak in Cabul and its Causes“, Calcutta Review 14 (1850), 296ff., „Our Indian Policy“, Bentley’s Miscellany 30 (1851), 635, John Lalor, Money and Morals, London 1852, 247, Archibald Alison, History of Europe from the Fall of Napoleon to the Accession of Louis Napoleon, Bd. 8, Edinburgh u. London 1859, 79f., Louis Blanc, Letters on England. Second Series, Bd. 2, London 1867, 210, Rudyard Kipling, „The Lost Legion“, Strand Magazine 3 (1892), 476–483, Charles Lowe, „The Queen’s Army“, English Illustrated Magazine 166 (1897), 390 und James Bryce, „The Roman Empire and the British Empire in India“, in: ders., Studies in History and Jurisprudence, Bd. 1, Oxford 1901, 12. 326 Edward Spencer Beesly, „The Emperor Tiberius“, in: Fortnightly Review 2 (1867), 647, nachgedruckt in Catiline, Clodius, and Tiberius, London 1878, 110. Arminius wird hier als young chieftain von half-tamed savages vorgestellt. Zu Nana Sahib und seiner Rolle in der Indian Mutiny of 1857, die heute offiziell als ‚India’s First War of Independence‘ gewürdigt wird, siehe Shastitko (1980) und Anderson (2007). 327 George Bruce Malleson, Ambushes and Surprises. Being a Description of some of the most famous Instances of the Leading into Ambush and the Surprise of Armies, from the

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Time of Hannibal to the Period of the Indian Mutinity, London 1885, 66–96. Vgl. Colonel Mallesons Augenzeugenbericht The Mutiny of the Bengal Army, London 1857 sowie seine History of Afghanistan, London 1878 und The Decisive Battles of India, London 1883. Zu seiner militärischen und publizistischen Karriere siehe Mittal (1996) II, 237–258. 328 Vgl. die Schilderung des deadly ambush und Hermann’s treachery in Lewis Sergeants The Franks, from their Origin as a Confederacy to the Establishment of the Kingdom of France and the German Empire, New York u. London 1898, 29 und bei John Benjamin Firth, Augustus Cæsar and the Organisation of the Empire of Rome, New York u. London 1903, der die tragic story des Varus mit der tale of the Indian mutiny vergleicht: he trusted Arminius as implicitly as the British colonels trusted their Serpoys (308f.). 329 Newcastle Courant vom 21. 2. 1879. Siehe für einen näheren Vergleich der Varusschlacht mit Isandlwana und Custers last stand am Little Big Horn auch „Modern Barbarians“, St. Louis Globe-Democrat vom 20. 7. 1879. 330 Daily News vom 6. 3. 1879 und Freeman’s Journal (Dublin) vom 10. 6. 1879. Vgl. auch die Verbindung des Mahdi-Aufstandes gegen die britische Kolonialherrschaft mit der antirömischen Erhebung der Germanen unter Arminius in „The Soudan Disaster“, Times vom 10. 12. 1883.

Der Konflikt zwischen imperialer und anti-imperialer Lesart der Lehren des germanischen Unabhängigkeitskampfes spitzte sich noch einmal zu, als zwanzig Jahre später die Buren den Aufstand gegen die britische Kolonialherrschaft in Südafrika wagten. Der langwierige, von beiden Seiten mit brutaler Härte geführte Konflikt polarisierte die europäische und amerikanische Öffentlichkeit vor allem deshalb, weil die rebellischen ‚Barbaren‘ in diesem Fall nicht nur weiße Siedler, sondern in der rassischen Terminologie des 19. Jahrhunderts sogar ‚teutonische Stammesbrüder‘ der Angelsachsen waren. Noch 1896 stritten englische und deutsche Gelehrte öffentlich darüber, welche Nation eine nähere Verwandtschaft (und damit einen politischen Vertretungsanspruch) gegenüber den afrikanischen kinsmen nachweisen könne.331 Als sich der Konflikt zuspitzte, wurden die Buren hingegen von der regierungstreuen englischen Presse als splendid white savages, später sogar als semi-white savages herabgewürdigt,332 während auf der anderen Seite proburische amerikanische Kommentaroren die Aufständischen als Inkarnation der heroischen germanischen Vorfahren glorifizierten: These are the very blood of Hermann, and they have kept it pure through eight generations of propagation in a remote and alien land. They have a history of daring and suffering worthy of the descendants of the conquerors of the Roman legions.333

Der Burenkrieg stürzte den angelsächsischen Teutonismus als Rechtfertigungsideologie zivilisatorischer Sendung und imperialer Ordnung in eine tiefe Krise.334 Die Berufung auf eine historische Freiheitstradition, die ihren Ursprung aus dem mythisch überhöhten Unabhängigkeitskampf eines antiken Stammesführers gegen den Expansionsdrang eines zivilisatorisch weit überlegenen Imperiums ableitete, verlor in diesem Konflikt nicht nur ihre identitätstiftende und mobilisierende Funktion, sondern wurde darüber hinaus zu einem propagandistischen Instrument des politischen Gegners. Im Mai 1901 berichtete die Londoner Times von einer alldeutschen Massendemonstration für den burischen Freiheitskampf zu Füßen des Detmolder Hermannsdenkmals;335 fünf Monate später dokumentierte sie auf ihren Leserbriefseiten einen gelehrten Disput über die Frage, ob die Burengeneräle Botha und De Wet eher mit dem Numider Tacfarinas oder dem Cherusker Arminius zu vergleichen seien und ob Tacitus, der great historian and antagonist of imperial tyranny, bereits ein philo-Teutonic ‚pro-Boer‘ gewesen sei.336 Auch der englisch-kanadische Historiker Goldwin Smith begründete 1902 seine dezidiert antiimperialistische Kritik an dem brutalen Vorgehen der Briten in Südafrika und der Amerikaner auf den Philippinen mit einer originellen Variante der teutonistischen Interpretation der Varusschlacht:

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Siehe die Artikel-Serie „Boers and Germans“ in der Times vom 4., 7., 8., 9., 11., 13. u. 15. 1. 1896. Zur politischen Bedeutung dieser philologisch-ethnologischen Debatte siehe das Editorial „The diplomatic Potentialities of Philology“ vom 13. 1. 1898. Bristol Mercury and Daily Post vom 30. 8. 1894 und Liverpool Mercury vom 6. 3. 1900. Siehe zur Verortung der Buren zwischen Zivilisation und Barbarei auch „The Boer Question“ des Anthropologen Harry H. Johnston im Fortnightly Review 56 (1894), 161–169. Zum Topos der burischen white savages vgl. Gates (1986) 213. „A Race of Warriors“, Morning Oregonian (Portland) vom 19. 1. 1896; ähnlich auch das Editorial „Bravery of the Boers“ in der Washington Post vom 29. 10. 1899.

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Zu den innen- und außenpolitischen Ursachen und Folgen des Krieges siehe Noer (1978), Anderson (1981), Kennedy (1982) u. Kramer (2003). „The War“, Times vom 21. 5. 1901. Siehe zur deutschen Burenagitation zuletzt Bender (2009). „A Historical Parallel“, Times vom 15., 18., 19., 23. und 24. 10. 1901. Ergebnis des Streits war, dass wohl am ehesten der Bataverfürst Civilis als antikes Vorbild der Burenführer in Frage komme. Vgl. die umfassende Ausarbeitung dieser historische Parallele bei R. B. Townsend, „Rome and her Dutch Rebels“, Westminster Review 155 (1901), 386–401.

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Suppose civilization had triumphed on that field and slain in its embryo the nation of Luther, Leibnitz, Lessing, Goethe, von Humboldt, and Bismarck. Who shall say that the uncivilized or half-civilized races now being crushed by predatory powers in different parts of the world, may not have in them the germs of something which, spontaneously developed, would be as noble and worth as much to humanity as any of the powers themselves?337

Diese antiimperialistische Wendung der Teutonic germs theory, die seit Jahrzehnten vorwiegend der Legitimation angelsächsischer Superiorität und Expansion gedient hatte, verdeutlicht zum einen das oppositionelle Potential, das die politische Berufung auf den germanischen Unabhängigkeitskampf noch zu Beginn des 20. Jahrhunderts entfalten konnte. Smiths Hinweis auf den Keim der deutschen Kulturnation in den germanischen Wäldern und die Traditionslinie von Arminius zu Bismarck verweist jedoch zugleich auf die verhängnisvolle Bruchstelle des teutonistischen Identitätskonstruktes. Seit der Jahrhundertwende sank die angelsächsische Arminiusbegeisterung parallel zum Anstieg der deutschbritischen Spannungen. Und als ab August 1914 englische und ab April 1917 auch amerikanische Gelehrte und Publizisten dazu aufriefen, die westliche Zivilisation vor dem Ansturm der barbarischen Germhuns zu retten, gerieten auch der mythische Ursprungsort und der legendäre Gründervater des deutschen Militarismus in das Kreuzfeuer der alliierten Kriegspropaganda.

Das Ende des angelsächsischen Arminiuskults in zwei Weltkriegen Obwohl das Dogma der historischen Einheit von teutonischer Rasse und moderner Zivilisation seit dem Burenkrieg deutliche Auflösungserscheinungen zeigte, blieb das Bewusstsein einer bis Arminius zurückreichenden Abstammungsgemeinschaft von Deutschen, Engländern und Amerikanern bis zum Ausbruch des Weltkrieges tief verwurzelt im angelsächsischen Geschichtsdenken.338 We are allied by the ties of kinship, proklamierte 1913 Arthur William Holland in seiner von der British-German Friendship Society herausgegebenen Short History of Germany und verglich den great German hero Arminius mit der britischen Heldenkönigin Boudicca.339 Andere britische Darstellungen der deutschen Geschichte würdigten die Varusschlacht weiterhin als einen war of liberty und one of the great turning points in the history of Europe.340 Im selben Jahr erinnerte der Publizist Price Collier Engländer und Amerikaner daran, dass die angelsächsische love of independent self-government ihren Ursprung in den germanischen Wäldern habe und die Grundlagen der modernen Welt von teutonischen Barbaren errichtet worden seien: they saved what was best worth saving from the decline and fall of Rome, and made out of it with their vigourous laws a new world, the modern western world.341

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Goldwin Smith, Commonwealth or Empire. A Bystander’s View of the Question, New York u. London 1902, 55. Vgl. auch seine proburische Schrift In the Court of History, Toronto 1902. Zur Biographie von Smith, der sich selbst als anti-Imperialistic to the core beschrieb, siehe Phillips (2002). Vgl. auch zum Folgenden Dose (1986) und Siak (1998). Arthur W. Holland, Germany to the Present Day. A Short History, London 1913. Zitiert nach der noch im selben Jahr publizierten zweiten Auflage, S. 6f. Vgl. auch die Arminiusdarstellungen in Hollands Germany, London 1914, 9–12 und in Florence Astons Schulbuch Stories

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from German History from Ancient Times to the Year 1648, London 1915 (amerikan. Ausgabe New York 1915), 24–26. 340 Henrietta Elizabeth Marshall, A History of Germany, London 1913, 17 u. 21. Das Buch schließt mit einer Betonung des durch und durch friedfertigen Charakters des Deutschen Reiches unter Wilhelm II. (448f.). 341 Price Collier, Germany and the Germans from an American Point of View, New York u. London 1913, 10f. Sowohl die englische wie die amerikanische Ausgabe wurde bis 1914 wiederholt nachgedruckt; im selben Jahr erschien eine deutsche Übersetzung in Berlin.

Die feste Verankerung teutonistischer Ideologeme im amerikanischen Geschichtsbewusstsein vor dem Ersten Weltkrieg zeigt ein Blick in zeitgenössische Schul- und Jugendbücher. Während pazifistische Autoren bereits die Verherrlichung des tremendous holocaust der Teutoburger Schlacht im deutschen Schulunterricht kritisierten,342 priesen amerikanische Lehrbücher noch unverhohlen die rauhen Sitten und kriegerischen Tugenden der fierce barbarians, die Varus’ Legionen niedermetzelten.343 Zwar seien die germanischen Vorväter weniger zivilisiert als Römer und Griechen gewesen, doch they had the fresh vigour, the red blood, and the brains which later made them the leaders of Europe.344 Als jüngste Erben dieser europäischen Freiheitstradition hätten deshalb gerade Amerikaner Grund zum Stolz auf ihre Abstammung von der most wonderful race in the history of the world.345 So formulierte die Jugendbuchautorin Marion Florence Lansing 1911 als Lehre aus ihrer sehr eingängig geschriebenen Biographie der three Teuton boys Hermann, Flavus und Marbod: we who are of Hermann’s own race and blood must rejoice that the victory was on the side of freedom for our ancestors. By his victory the Roman empire was halted at the river Rhine, and on the east of that great river our forefathers were free to develop their systems of law, which preserved and gave to the modern world the chief glory of the Teutons, – the love of independence, which is the foundation of all our law and government.346

Der in diesen Texten dokumentierte ungebrochene teutonische Ahnenstolz macht deutlich, wie hoch die Fallhöhe war, aus der das Image der German cousins in England und Amerika nach dem Kriegsausbruch im August 1914 ins Bodenlose stürzte. Innerhalb weniger Monate prägte die alliierte Kriegspropaganda das bis heute nachwirkende Bild des blutrünstigen deutschen Hunnen, des kriegslüsternen preußischen Barbaren, der über Nacht den dünnen Firnis der Zivilisation abstreift, um mit Säbel und Pickelhaube nach der Weltherrschaft zu greifen.347 German Kultur und Western civilization wurden von beiden Seiten zu unversöhnlichen Gegensätzen stilisiert. Während sich deutsche Professoren und Intellektuelle in einem Überlebenskampf nationaler Eigenart sahen, den nicht nur alldeutsche Fanatiker bis zu Hermann dem Cherusker zurückführten, mobilisierten britische Akademiker zur Verteidigung der modernen Zivilisation gegen einen barbarischen Feind, der schon das römische Imperium in Schutt und Asche gelegt hatte.348 342 O. H. Neland, The Crimson Fist, Boston 1913, 47. Ähnlich kritisch zur militaristischen Indoktrination der deutschen Jugend äußerte sich später John Burnet in Higher Education and the War, London 1917, 8. Dagegen schwärmte der amerikanische Pädagoge Louis Richard Klemm vor dem Krieg von einem deutschen Lehrer, der seinen Schülern von Hermanns Vernichtung der römischen Legionen erzählt: How the boys’ eyes shone with patriotic emotion! – Public Education in Germany and in the United States, Boston 1911, 138. 343 William Lewis Nida, The Dawn of American History in Europe, New York 1912, 1–4. Nidas Darstellung, die mit dem Kapitel „Our German Forefathers“ beginnt und mit einem Ausblick auf die Herrschaft der „Teutonic Anglo-Saxons“ in Amerika endet, war immens erfolgreich und erlebte bis 1917 acht Nachdrucke. Die gründlich von allen teutonistischen Elementen bereinigte Neufassung von 1919 wurde bis 1928 ebenfalls mehrfach nachgedruckt. 344 James Albert Woodburn u. Thomas Francis Moran, Introduction to American History, New York u. Chicago 1916, 103f.; zu Hermann, the great Germanic chieftain

105f. Ähnlich auch Harmon Bay Niver, Old World Steps to American History, Boston u.a. 1915, 140f. 345 Nida, Dawn, 19. Deutlich geringer bewerten den zivilisatorischen Einfluss der Teutonen hingegen Samuel B. u. Margaret S. Harding in ihrem weniger erfolgreichen Konkurrenzprodukt The Story of Europe from the Times of the Ancient Greeks to the Colonization of America, Chicago u. New York 1912, 114. 346 Marion F. Lansing, Patriots and Tyrants, Boston u.a. 1911, 18. In einem kurzen Anhang zitiert die Autorin als Autoritäten Stubbs und Arnold und formuliert als pädagogisches Ziel ihrer germanischen Heldengeschichten: We get from them a sense of the continuity of history and of the essential unity of the race, – that we are indeed all of one blood (175). Vgl Lansings ebenfalls in der Verlagsreihe Medieval Builders of the Modern World erschienene Sammlung Barbarian and Noble, Boston u.a. 1911, insb. 1–9. 347 Siehe auch zum Folgenden Firchow (1986), Buitenhuis (1987), Panayi (1991) und Pulzer (1996). 348 Siehe hierzu Wallace (1988), Stibbe (2001), Hoeres (2004).

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Schützenhilfe bei der totalen Umwertung des teutonistischen Paradigmas bekamen die englischen Feindbildproduzenten von Seiten des französischen Alliierten. Schon seit Generationen daran gewöhnt, das schwierige Verhältnis zu ihren deutschen Nachbarn mit Hilfe des Konstrukts eines romanisch-germanischen Rassengegensatzes zu beschreiben, hatten französische Intellektuelle weniger Probleme als ihre angelsächsischen Kollegen, die historischen Wurzeln des deutschen Zivilisationsrückfalls zu finden.349 Große Beachtung auf beiden Seiten des Atlantiks fand im Oktober 1914 ein offener Brief des berühmten Philosophen Emile Boutroux, der die ideengeschichtlichen Wurzeln eines in Abgrenzung zur griechisch-römischen Zivilisation definierten metaphysischen Germanism in der Philosophie Fichtes verortet.350 Seine moralische Rechtfertigung ziehe dieses nach Weltherrschaft strebende Auserwähltheitsbewusstsein aus einer ewigen Aktualisierung der Hermannsschlacht: The sign of her election is the annihilation of the three legions of Quinctilius Varus, and her eternal task is to revenge herself for the insolence of the Roman General.351 Eine ähnlich fatale Fixierung des deutschen Geistes auf die Varuschlacht betonten auch andere Franzosen, die sich in der englischsprachigen Öffentlichkeit zu Wort meldeten.352 Chauvinistische Scharfmacher wie der Astronom und Science-Fiction-Autor Camille Flammarion hingegen zitierten einfach römische Schilderungen der germanischen Barbaren, um auf einen seit dem Gemetzel im Teutoburger Wald unveränderlichen deutschen Nationalcharakter rückzuschließen: Two thousand years ago those arrogant invaders were the same as today … Its mental attitude has not changed since that time, only its barbarity has become scientific.353

Scheinbare Evidenz bekam die Vorstellung vom ‚ewigen deutschen Barbaren‘ durch das harte Vorgehen der deutschen Truppen gegen die Zivilbevölkerung im widerrechtlich besetzten Belgien, das von der aliierten Propaganda weidlich ausgeschlachtet wurde.354 Mit der Versenkung der Lusitania durch ein deutsches U-Boot im Mai 1915 erfasste die Hunnenhysterie erstmals auch die amerikanische Öffentlichkeit, die sich bis dahin mehrheitlich neutral verhalten hatte. Als bekannt wurde, dass die Torpedierung des amerikanischen Passagierschiffes in Berliner Varietés in militaristischen Spottgesängen gefeiert wurde, fühlte sich selbst die New York Times an die barbarischen Gebräuche von Hermanns wilden Kriegern erinnert:

349 Zum Wechselspiel von deutschen und französischen Nationalstereotypen siehe Panick (1978), Jeismann (1992) und Hüser (2000). 350 Emile Boutroux, „L’Allemagne et la guerre“, in: Revue des deux mondes 23 (1914), 385–401. Englische Übersetzungen erschienen unter dem Titel „Germany’s Civilised Barbarism“, in: New York Times Current History of the European War 1 (1914), 160–169 bzw. „War and Sophistry“ in Boutrouxs Essaysammlung Philosophy & War, London u. New York 1916, 90–108. Vgl. auch zum Folgenden Hanna (1996). 351 Boutroux, „Allemagne“, 163. Eine weitere Fassung dieses Gedankens findet sich in Philosophy & War, 61. Vgl. auch die Wiedergabe von Boutrouxs Ideologiekritik der German conception of the Teutonic idea im Lexington Herald vom 16. 8. 1916. 352 Siehe z.B. Louis Dimier, „Germanity and the Germans“ in der New York Times vom 15. 4. 1915 und Eugene La-

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fleur, „International Law and the present War“ in der Canadian Law Times 35 (1915), 43. Vgl. auch die Herleitung deutscher Gewaltverherrlichung und Rechtsverachtung aus der Hermannsvergötterung bei Jacques Dampierre, German Imperialism and International Law, London 1916, 26f. (franz. Original Paris 1915, amerikan. Ausgabe New York 1917) und Émile Hovelacque, The Deeper Causes of the War, London 1916, 49–51 (franz. Original Paris 1915). Camille Flammarion, „Germany always Ferocious and Cruel in War“, Idaho Statesman vom 1. 6. 1915. Ähnlich lautet auch das Verdikt über Arminius und seine Nachfahren in Jules Toutain, Héros et Bandit. Vercingétorix et Arminius, Paris 1916. Zur symbolpolitischen Konkurrenz der beiden antiken Nationalhelden in Deutschland und Frankreich siehe Tacke (1995), Ungern-Sternberg (2008) sowie C. de Gemeaux im vorliegenden Band. Siehe hierzu Schramm (2007) 377ff.

With such a strain the primeval hairy ancestors of Arminius and William II. may have made the Hercynian forest howl, punctuating the savage chant with drinks of mead from the skulls of their enemies.355

Nachdem der uneingeschränkte deutsche U-Bootkrieg die Vereinigten Staaten im April 1917 zum Kriegseintritt veranlasst hatte, sahen sich auch amerikanische Akademiker veranlasst, ihre Bardenkünste zu beweisen. So rief der ehemalige Leiter des German Department der University of Kansas, William Herbert Carruth, seine Landsleute im Dezember 1917 in einem patriotischen Lied zur fröhlichen Wildschweinjagd im Teutoburger Wald auf: … The boar the hardest is to tame of beasts that roam the field; He can’t be trusted, even tamed, until his tusks are filed; The lust of fight lays hold on him, how fat soe’er he’s stalled; When he thinks of Saxon Hermann in the Teutoburger Wald. … Let the lion roar, the panther yell, the Western eagle scream; And all unite for lasting peace the racked earth to redeem; When soon or late we have the Prussian terror overhauled; We’ll pull his tusk and tame him in the Teutoburger Wald.356

Die Dämonisierung des Kriegsgegners als wilde Bestie aus den Wäldern, in denen man noch wenige Jahre zuvor den Ursprung der eigenen Nationalität verortete, verdeutlicht das Ausmaß der Entwertung der germanischen Freiheitstradition in den Propagandaschlachten des Weltkriegs. Der Teutoburger Wald wurde von der Wiege der westlichen Zivilisation zur Brutstätte ihrer gef ährlichsten Feinde. Die hinterlistige Überrumpelung und erbarmungslose Massakrierung der römischen Legionen wurde zum Inbegriff der rücksichtslosen deutschen Kriegsführung.357 Aus dem panteutonischen Freiheitshelden Arminius wurde der original Hindenburg, das Urbild des preußischen Militarismus.358 In einem Zeitungsartikel vom September 1918 wurde der gemeinsame Stammvater von Deutschen, Engländern und Amerikanern schließlich zu Arminius the Hun, dessen Sieg über Varus die frühe Zivilisierung der deutschen Barbaren verhindert und damit den Keim zur Genese des modernen Weltkriegs gesetzt hatte: if they could have conquered and colonized and governed Germany, that country might today be in the civilized rank of France and England, and would have risen from iron barbarism centuries earlier than it did. But this treacherous ambuscade and massacre satisfied Arminius’ bloodlust, and he made no efforts to establish a free and enlightened people, but kept on with his wild forest and berserker career. Later the Hun was betrayed and murdered by his own relatives. A true Hun trick and Hunnish ending of a lawless career.359 355 356

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„Another Song of Hate“, New York Times vom 4. 8. 1915. „The Boar Hunt in Teutoburger Wald“, Kansas City Star vom 19. 12. 1917 (Nachdruck aus dem San Francisco Bulletin). Siehe z.B. John Selden Wilmore, The Great Crime and its Moral, London u. New York 1917, 265–267 und Samuel Turner, From War to Work, London 1918, der in der Varusschlacht nicht nur den Ursprung von Germany’s method of warfare, sondern auch the beginnings of modern German Real-Politik verortet (96f.). Roland F. Andrews, „Battles which made the World. No. 4 – Arminius’s Slaughter of the Romans“, Atlanta Constitution vom 5. 8. 1917. In umgekehrter Wertung hatte bereits 1916 der prodeutsche Schwede Sven Hedin den

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Helden von Tannenberg mit den old Germans in the Teutoburg forest verglichen: His deeds, like theirs, will live until the end of time, for they have impressed themselves upon the national consciousness as superhuman, and the lore of the people has already woven a shimmer of legend above its hero – zitiert nach: „Sven Hedin on Hindenburg“, San Francisco Chronicle vom 30. 4. 1916. „Arminius, the Hun“, The State (Columbia) vom 8. 9. 1918. In Anlehnung an Walter Scotts Ruf nach einem new Arminius aus dem Jahr 1808 schließt der Artikel: The ‚new Arminius‘, by the million, has come, and he has whetted his sword on the tombs of thousands of murdered Belgian and French women and children.

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Im Gegensatz zu Boutroux und anderen, die den Zivilisationsrückfall des deutschen Geistes aus einer ideengeschichtlichen Fehlentwicklung des 19. Jahrhunderts zu erklären suchten, diagnostizierte die Hunnenpropaganda keine Fehl-, sondern eine Nichtentwicklung der Deutschen seit ihren finsteren germanischen Vorzeiten. It was not modern education which taught the Germans of Arminius their ferocity, behauptete der englische Autor Samuel Turner: The German needed no education to teach him treachery and brutality. They came to him naturally.360 Als Konsequenz aus den offenkundig barbarischen Zügen des deutschen Nationalcharakters folgerte selbst ein liberaler Freidenker wie der britische Parlamentarier John Mackinnon Robertson, that Germans in the State-aggregate are at the moral level of Arminius; and that if European civilisation is to be saved or secured it will only be by rendering Germany impotent for further evil.361

Auch in der angelsächsischen Historikerzunft beschleunigte der Weltkrieg die Ablösung von den einstigen deutschen Vorbildern. Zwar war man im Allgemeinen weit davon entfernt, die rhetorischen Exzesse der Hunnenhysterie zu unterstützen, doch war man deutlich bemüht, die lange gepriesenen teutonischen Wurzeln der modernen Zivilisation herunterzuspielen. Die noch bis zum Kriegsausbruch übliche Bedeutungsaufladung der Varusschlacht als one of the world’s decisive conflicts wurde nun offen in Frage gestellt.362 In einer vielbeachteten Studie unternahmen 1915 die amerikanischen Althistoriker William Oldfather und Howard Canter den Versuch, to destroy a certain glamour which has been attributed to an early period of German history.363 Mit Hilfe akribischer Quellenkritik und Kategorien der modernen Militärstrategie argumentieren sie, dass die Schlacht im Teutoburger Wald alles andere als eine weltgeschichtliche Entscheidungsschlacht, sondern nur ein unbedeutendes Scharmützel an einer unsicheren Frontlinie zwischen dem römischem Imperium und den umliegenden barbarischen Stämmen gewesen sei.364 Weder hätte Augustus die Absicht gehabt, Germanien zu erobern, noch wäre es den unter Arminius geeinten Stämmen möglich gewesen, eine solche Eroberung zu verhindern, hätten die Römer sie ernsthaft angestrebt. Ohne dem Cheruskerfürsten seinen Heroismus zu bestreiten, weisen Oldfather und Canter nüchtern darauf hin, dass Arminius seinen Sieg über Varus allein seiner Überlistung des arglosen und unerfahrenen römischen Generals verdanke und in den darauf folgenden Jahren dreimal von Germanicus besiegt worden sei. Auch wenn die Autoren den Verdacht einer antideutschen Motivation weit von sich weisen,365 so zeigen die kontroversen Rezensionen von deutscher und englischer Seite doch, wie sehr diese fulminante Mythenzertrümmerung als ein längst überf älliger Befreiungs360 Samuel Turner, From War to Work, London 1918, 96f. 361 John M. Robertson, The Germans. I. The Teutonic Gospel of Race. II. The old Germany and the new, London 1916, 278. Zu Arminius’ treacherous ambuscade for which German fatuity has raised him a modern monument siehe 102. Zu Robertsons germanophiler Bildungsgeschichte siehe Dekkers (1998). 362 Hutton Webster, Ancient History, Boston, New York u. Chicago 1913, 443. Siehe auch Library of Universal History and Popular Science, hg. v. George Edwin Rines, Bd. 4, New York u. Chicago 1910, 1389. 363 William Abbott Oldfather u. Howard Vernon Canter, The Defeat of Varus and the German Frontier Policy of Augustus, Chicago 1915, vi. Vgl. auch William Abbott Oldfather, „The Varus Episode“, in: Classical Journal 11 (1916),

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226–236. Anlass für diese Radikalkritik waren die Überhöhungen der Hermannsschlacht anlässlich der 1900Jahrfeiern 1909, die in Deutschland stark von alldeutschen und völkischen Gruppen dominiert wurden. 364 Dabei konnten sie sich auf kritische Studien europäischer Koryphäen stützen, die bereits Jahre zuvor grundsätzliche Zweifel an der Creasy-These geäußert hatten – siehe Eduard Meyer, „Kaiser Augustus“, in: Historische Zeitschrift 91 (1903), 385–431 und Guglielmo Ferrero, The Greatness and Decline of Rome, Bd. 5, London 1909, 325f. (italien. Original Mailand 1902–1907). 365 Oldfather u. Canter, Defeat, vi. Insb. Oldfather, der erst 1908 in München promoviert worden war, galt als ausgesprochen germanophil. Siehe zur Biographie Solberg (2004).

schlag gegenüber den Hegemonialansprüchen von deutscher Wissenschaft und teutonistischer Schule empfunden wurde.366 Nach Ende des Krieges waren die Dogmen der germanischen Kontinuitätslehre in den englischsprachigen Ländern weitgehend wissenschaftlich überholt und politisch diskreditiert.367 Während die Identifikationsfigur Arminius the Anglo-Saxon aus der historischen Erinnerung gelöscht wurde, erlebte das Feindbild Hermann the German jedoch zu Beginn des Zweiten Weltkrieges noch einmal eine Wiederauferstehung, als angelsächsische Historiker, Politiker und Publizisten begannen, sich mit den historischen Wurzeln des Nationalsozialismus zu beschäftigen. Der mit der Machtübernahme Hitlers einhergehende Boom der deutschen Arminius-Literatur wurde von englischen und amerikanischen Rezensenten zunächst eher zurückhaltend bewertet.368 Die Übertragung des faschistischen Führerkultes auf den ‚ersten Deutschen‘, die im Überschwang der siegreichen ‚nationalen Revolution‘ obskure völkische Schriftsteller wie Hjalmar Kutzleb und angesehenene Universitätshistoriker wie Ernst Kornemann gleichermaßen vollzogen, wurde abgeklärt bis sarkastisch kommentiert.369 Most of what has been written upon this topic by generations of misguided enthusiasts is just rubbish, urteilte 1935 der noch junge Ronald Syme über Kornemanns Arminius-Studie, ein Jahr nachdem er selbst in der Cambridge Ancient History ein betont nüchternes Bild des germanischen Helden gezeichnet hatte.370 Auf einen Streit um das Erbe der germanischen Tradition wollten sich die angelsächsischen Historiker offenbar nicht noch einmal einlassen. Dies änderte sich schlagartig, als der deutsche Überfall auf Polen im September 1939 Europa erneut in ein Schlachtfeld verwandelte. Auf der Suche nach den Ursprüngen der deutschen Aggression gelangten insbesondere britische Konservative schon bald auf den durch die Propaganda des Great War vertrauten Pfaden in den Morast des Teutoburger Waldes. So konstatierte der Militärhistoriker John Fuller in seiner Schlachtensammlung Decisive Battles, einem aktualisierten Remake des CreasyKlassikers, dass es ohne den germanischen Sieg über Varus zwar vermutlich keine englische Nation, aber auch kein Franco-German problem geben würde: There would have been no Charlemagne, no Louis XIV., no Napoleon, no Sedan, no World War.371 Als Ausgangspunkt dieser dunklen Genealogie bekam die Varusschlacht erneut den Nimbus eines weltgeschichtlichen Entscheidungskampfes, dessen Folgen bis in die Gegenwart zu spüren waren. Anders als bei Arnold und Creasy galten jedoch nicht mehr Freiheit und Zivilisation, sondern Krieg und Gewaltherrschaft als Wesensmerkmale des germanischen Erbes. Aus der Fortschritts- wurde eine Verhängnisgeschichte. 366 Vgl. die positive bis euphorische Resonanz im English Historical Review 30 (1915), 745f., Classical Weekly 10 (1916), 47f., The Nation 102 (1916), 411f., Classical Philology 12 (1917), 105–107 und Political Science Quarterly 33 (1918), 159 mit der totalen Ablehnung in den deutschen Fachzeitschriften Neue Jahrbücher für das klassische Altertum 35 (1915), 673–678 und Historische Zeitschrift 115 (1916), 601–605. 367 Vgl. Berger u. Lambert (2003), 79ff. 368 Zur nationalsozialistischen Instrumentalisierung von Germanenideologie und Hermannsmythos siehe Lund (1995) und Kösters (2009) 306–323. 369 Siehe Ernst Kornemann, Staaten, Völker, Männer. Aus der Geschichte des Altertums, Leipzig 1934, 117–150, rezensiert in Classical Philology 29 (1934), 354f., und Hjalmar Kutzleb, Der erste Deutsche. Roman Hermann des Cheruskers, Braunschweig u.a. 1934, rezensiert in Books Abroad 9 (1935), 322.

370 Ronald Syme, Rezension Kornemann (s.o.), in: Journal of Roman Studies 25 (1935), 105 und The Cambridge Ancient History, Bd. 10, Cambridge 1934, 374f. Mit seinem opus magnum The Roman Revolution, Oxford 1939, schuf Syme wenige Jahre später einen Klassiker der Romgeschichtsschreibung, der den Aufstieg Octavians zum Caesar Augustus mit deutlichen Anspielungen auf die Machtergreifung der faschistischen Bewegungen in Italien und Deutschland beschreibt. 371 John Frederick Charles Fuller, Decisive Battles. Their Influence upon History and Civilisation, Bd. 1, London 1939, 103. Eine amerikanische Ausgabe erschien 1940 in New York. In der Neuauflage von 1954 endet die zitierte Aufzählung nicht mit Sedan und dem Weltkrieg, sondern mit Wilhelm II. und Hitler (I, 253).

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Breiter entfaltet wurde die schwarze Legende einer durch den Sieg des Barbaren Arminius eingeleiteten weltgeschichtlichen Fehlentwicklung kurz darauf in der Kampfschrift Germany Rampant des britischen Diplomaten Ernest Hambloch. In historical perspective, heißt es dort bereits in der Einleitung, German development appears as a perfectly logical sequence, from the dark days of Arminius to the sinister epoch of Hitler.372 Mit der römischen Niederlage im Teutoburger Wald sei die Chance vertan worden, dem restless atavistic expansion-instinct der Germanen zivilisatorische Zügel anzulegen. Die Varusschlacht ist deshalb für Hambloch die dunkelste Stunde der deutschen Geschichte: The greatest disaster that happened to Germany in the course of her history was the victory of the Gauleiter Arminius over the Roman Consul Varus in the Westphalian forests.373 Der blutrünstige und hinterlistige Barbar Arminius wurde in dieser Perspektive zum prototype of Nazism.374 Die These vom germanischen Protonazi Arminius erhielt schon bald prominente Unterstützer. So meldete sich 1940 der britisch-amerikanische Fliegerheld Harold Evans Hartney mit einem militanten Neuaufguss der Great War-Rhetorik aus dem Ruhestand zu Wort. Seit Arminius the Great die savage Teutonic tribes zum Kampf gegen Rom einte, seien die Deutschen nicht nur als stupidest race on the face of the earth in their dealings with other people, and with themselves bekannt, sondern auch als ständige Bedrohung des Weltfriedens: The Germans have always been, are now and always will be the great disturbers of the world.375 Historisch wurde diese These noch im selben Jahr in der Kampfschrift Germany the Aggressor throughout the Ages des erzkonservativen Mediävisten Fossey Hearnshaw entwickelt. Mit Verweis auf römische Quellen zeigt der ehemalige Präsident der britischen Historical Association, dass die Deutschen schon zu Arminius’ Zeiten foul fighters und infidels with whom no binding agreements could be made gewesen seien: Bottomless treachery as well as merciless ferocity marked all the race.376 In diesem verschlagenen und brutalen germanischen Rassencharakter sieht Hearnshaw letztendlich die Wurzel der modernen Gewaltpolitik Preußen-Deutschlands von Friedrich dem Großen bis Adolf Hitler: Hitlerism is merely the revised, enlarged and more blatant version of the imperialism of William II, the nationalism of Bismark, and the bandrity of Frederick the Great. It is, indeed, only Prussianism in excelsis. And Prussianism … is only the essence of that unscrupulous aggressiveness which has characterized the Teutonic denizens of Central Europe from time immorial.377

Ihren Höhepunkt erreichte die geschichtspolitische Kriegspropaganda der Anti-Teutonisten Anfang 1941 mit der Veröffentlichung von Robert Vansittarts berüchtigtem Black Record, in dem der Chief Diplomatic Adviser der britischen Regierung ein vernichtendes Urteil über die gesamte deutsche Nationalgeschichte f ällte.378 Nachdem Ausbruch und Verlauf des Krieges die unermüdlichen Warnungen des strikten Appeasement-Gegners bestätigt hatten, erklärte der Führer der Hardliner im Foreign Office den

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Ernest Hambloch, Germany Rampant. A Study in Economic Militarism, London 1939, 7. 373 Hambloch, Germany Rampant, 117. 374 Hambloch, Germany Rampant, 70. Vgl. die ablehnende Rezension im Journal of Political Economy 49 (1941), 951. 375 Harold Evans Hartney, Up and at ’em, London 1940, 31 u. 299. 376 Fossey John Cobb Hearnshaw, Germany the Aggressor throughout the Ages, London 1940, 26 (zur Varusschlacht 16f.). Zur Person und Weltanschaung Hearnshaws, der schon im Ersten Weltkrieg als antideutscher Propagandist tätig war, siehe Soffer (2009) 51–85.

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Hearnshaw, Aggressor, 282. Robert Gilbert Vansittart, Black Record. German Past and Present, London 1941. Grundlage des Textes ist eine Serie von Rundfunkansprachen Vansittarts, die die BBC im Spätherbst 1940 ausstrahlte und von der Sunday Times nachgedruckt wurde. Als Broschüre zusammengefasst, wurde sie 1941 in Millionenauflage verbreitet. Siehe auch zum Folgenden Später (2003) und Wolbold (2005) 105–164.

Briten, warum sie nicht nur gegen Hitler, sondern gegen das deutsche Volk zu kämpfen hatten.379 Seit den Tagen des Tacitus waren die Deutschen für Vansittart eine race of hooligans und Hitler deshalb nichts anderes als the natural and continous product of a breed which from the dawn of history has been predatory and bellicose.380 Tatsächlich sei nicht nur der aggressive Charakter, sondern sogar der Name der größten deutschen Schurken derselbe geblieben: It is worth noting that the first German national hero to make himself a name for treachery was Hermann in the year nine. The centuries have rolled by and gave us Hermann Göring.381

Das Geschichtsbild des Black Record war nur wenige Monate nach der siegreich überstandenen Battle of Britain in der englischen Öffentlichkeit ebenso populär wie umstritten. Gegen den Vansittartismus, wie der neue Anti-Teutonismus schon bald getauft wurde, meldeten sich vorwiegend liberale und linke Intellektuelle zu Wort, die Vansittart und seinen Anhängern grobe Vereinfachungen und antideutschen Rassismus vorwarfen, weil sie die modernen Deutschen umstandslos mit den germanischen Barbaren der Antike identifizierten.382 Selten waren hingegen Stimmen, die gegen das Zerrbild des ‚Nazis im Teutoburger Wald‘ protestierten und auf das freiheitliche Erbe der common ancestors von Angelsachsen und Deutschen hinwiesen.383 Während die Nationalsozialisten in England weiterhin eine ‚germanische Insel‘ sahen und noch während des Krieges einen Verständigungsfrieden mit den stammverwandten Angelsachsen anstrebten, diente der Verweis auf eine fortlebende germanische Tradition in Großbritannien der Markierung des unüberbrückbaren Gegensatzes zwischen Zivilisation und Barbarei, für die man zwei Jahrzehnte zuvor noch das Etikett des asiatischen Hunnen gebraucht hatte.384

Resümee Mit Vansittarts Behauptung einer Identität von Hermann dem Cherusker und Hermann Göring vollendete sich ein radikaler Umwertungsprozeß, der aus dem einstigen Vorbild des patriotischen Freiheitsretters schließlich das ultimative Feindbild des kriegslüsternen Urvaters der Nazibarbarei machte. Projektionen waren beide Bilder, moderne Imaginationen eines idealisierten Eigenen bzw. eines dämonisierten Anderen in einen vermeintlich reinen, von der Zivilisation noch unberührten Naturzustand. Zwischen diesen beiden Polen eröffneten sich im Verlauf der zwei Jahrhunderte, über die diese Untersuchung die Konstanten und Transformationen des angelsächsischen Arminiusbildes verfolgt hat, eine Fülle von literarischen Aneignungsmöglichkeiten und politischen Funktionalisierungen der germanischen Tradition und ihrer zentralen Symbolfigur.

379 Biographisch lässt sich Vansittarts antideutsche Grundhaltung über die 30er Jahre und den Ersten Weltkrieg hinaus bis in den Burenkrieg zurückverfolgen. Siehe hierzu Rose (1978) 11. 380 Vansittart, Black Record, 16 u. 20. Vgl. auch Vansittarts Rechtfertigung der Verwendung von Tacituszitaten zur Charakterisierung der Deutschen im Dritten Reich in Bones of Contention, London und New York 1945, 137ff. 381 Vansittart, Black Record, 20. 382 Siehe Später (2003) 136ff. Zur Debatte der deutschen Exilantenkreise über den Vansittartismus siehe Radkau (1970).

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Einzig der wenig bekannte Aubrey Edward DouglasSmith merkte an, Vansittart u. Co. begäben sich on dangerous ground when they trace the vices of the German people to the first Century A.D. or even B.C. For in doing so they are really passing judgement on the common ancestors of English, French, and German alike – Guilty Germans?, London 1942, 26. Zu Arminius als Retter einer primordialen Freiheitsidee siehe 23f. 384 Zur England-Perzeption des Dritten Reiches siehe Strobl (2000). Zum Verhältnis der asymmetrischen Gegenbegriffe Zivilisation und Barbarei siehe Koselleck (1995).

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Zwar hat der Nationalheld Arminius im englischen und amerikanischen Geschichtsbewusstsein nie eine derartige Schlüsselrolle gespielt wie der deutsche Hermannsmythos im Nationalbewusstsein der Deutschen. Doch zeigen die englischen Arminius-Dichtungen des 18. und 19. Jahrhunderts, die wissenschaftlichen Werke der teutonistischen Historikerschule und ihrer Adepten beiderseits des Atlantiks ebenso wie die Dämonisierungen der Weltkriegspropaganda des 20. Jahrhunderts, wie stark auch in den angelsächsischen Ländern die von Tacitus überlieferte Gestalt des liberator Germaniae die Imagination von Schriftstellern und Intellektuellen, von Wissenschaftlern und Journalisten, von Politikern und Militärs zu fesseln und zu inspirieren vermochte. Abgesehen vielleicht von den frühen Opern- und Dramenfassungen verweisen dabei die vielf ältigen Adaptionen der Arminiusgeschichte auf den grundlegend kriegerischen Charakter ihrer Hauptperson. Das Grundmotiv ist in der Regel die militärische Entscheidungssituation, die entweder mit der triumphalen Selbstbehauptung in der Varusschlacht, gelegentlich aber auch mit dem tragischen Scheitern im innergermanischen Konflikt endet. Die Bedeutung des Sieges (oder des Scheiterns) des Helden für die Gegenwart ist in der Regel verknüpft mit einem allgemeinen Geschichtskonstrukt, das die Schlacht im Teutoburger Wald in einen mehr oder minder direkten Zusammenhang mit der germanischen Zerstörung des römischen Reiches und der angelsächsischen Eroberung Britanniens setzt. Erst durch diese kausale Verknüpfung erhält die Vernichtung der varianischen Legionen eine weltgeschichtliche Bedeutung und wird Arminius zum Gründervater einer bis in die Gegenwart reichenden Tradition. Eingeschrieben in diese Grundstruktur des historischen Mythos sind die Figuren des Todfeindes und des Verräters. Kein Arminius ohne Varus oder Germanicus, ohne Segestes oder Flavus. Aus diesem Spannungsverhältnis von wechselseitiger Vernichtungsdrohung und unsicheren Loyalitäten entfaltet die Geschichte ihre Dramaturgie und auch ihre Moralität. Dabei ist durchaus nicht festgeschrieben, dass der militärische auch der moralische Sieger ist. Die Täuschung des römischen Generals macht Arminius einmal zum edlen Retter des (zukünftigen) Vaterlandes, ein andermal zum barbarischen Verhinderer des zivilisatorischen Fortschritts. Genauso kann seine Ermordung durch die eigene Verwandtschaft als Bestrafung für den Verrat an den demokratischen Idealen der Stammesgemeinschaft oder als Martyrium für die künftige nationale Einheit interpretiert werden. In welcher Weise und mit welcher Wertung das mythische Narrativ entfaltet wird, hängt von den zeitgebundenen politischen Absichten und moralischen Maßstäben der jeweiligen Interpreten ab. Spiegeln die frühen Arminiuserzählungen zumeist den Konflikt zwischen guter und schlechter Regierung, zwischen freiheitlicher Selbstbestimmung und despotischer Gewaltherrschaft wider, so tritt seit dem Siebenjährigen Krieg der äußere Konflikt zwischen nationaler Unabhängigkeit und Fremdherrschaft in den Vordergrund. Wichtig ist hier vor allem die Feindschaft gegenüber Frankreich, gegen das der antiimperiale Affekt mobilisiert wird. Postuliert der im 19. Jahrhundert zum Durchbruch kommende politische Teutonismus die Einheit von zivilisatorischem Fortschritt und nationaler Selbstbestimmung, so deutet sich mit der Übertragung auf Kolonialkonflikte außerhalb Europas bereits ein Widerspruch zwischen Zivilisierungsmission und Antiimperialismus an, der dann im Burenkrieg um die Jahrhundertwende offen zu Tage tritt. Der Burenkrieg ist möglicherweise auch die entscheidende Wendemarke in der Zuspitzung eines anderen Konfliktfeldes: dem Verhältnis der angelsächsischen Nationen zu Deutschland. Anfangs geeint im Kampf gegen den gemeinsamen Feind Frankreich, dann zunehmend verbunden durch den massiven Kulturtransfer deutscher Wissenschaft im 19. Jahrhundert, entsteht mit Bismarcks Reichsgründung erstmals eine potentielle machtpolitische Konfliktsituation zwischen den ‚teutonischen Brudernationen‘. Mit der Eskalation dieses Machtkonflikts verliert die Berufung auf eine gemeinsame ger-

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manische Tradition ihre grundlegende identitäts- und friedensstiftende Funktion. Arminius wird schließlich zum Feindbild, zum Symbol des unversöhnlichen Gegensatzes zwischen westlicher Zivilisation und deutscher Barbarei. Spiegeln die angelsächsischen Varianten des politischen Germanismus damit nur die außenpolitische Konfliktlage der genannten Großmächte oder präfigurieren sie die Wahrnehmung dieser Konflikte auf eine Weise, die wiederum das politische Handeln beeinflusst? Wie stark folgen die englischsprachigen Arminiuserzählungen deutschen Vorbildern? Dienen sie womöglich selbst der Bestätigung etablierter oder sogar der Anregung neuer Hermannsbilder in Deutschland? In welchem Verhältnis stehen dabei Literatur und Geschichtsschreibung – folgen die Poeten und Dramatiker den Interpretationen der Historiker oder inspiriert die Dichtung die Historie? Und welche Rolle spielen fremdsprachliche Übersetzungen im Kulturtransfer zwischen den Nationalliteraturen? Diese und ähnliche Fragen nach den Wechselwirkungen zwischen den Mythenproduzenten und -rezipienten unterschiedlicher Länder und Kulturen stellen sich in dem Moment, in dem man die eingetretenen Pfade der nationalen Mythenforschung verlässt und sich nicht damit begnügt, in Hermann the German nur ein Problem der deutschen Nationalgeschichte zu sehen.

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HENNING HOLSTEN

Wolfgang Beyrodt „Steh auf, wenn du Armine bist …“ Ein kunsthistorischer Essay

Ungewöhnlich war er schon, Wilhelm Hansens Beitrag zum Katalog der Ausstellung des Westf älischen Landesmuseums in Münster über ‚Das Malerische und Romantische Westfalen‘ von 1974/1975. Zu Beginn des Jubiläumsjahres der 100-jährigen Wiederkehr der Fertigstellung von Ernst von Bandels Hermannsdenkmal hatte der damalige Leiter des Lippischen Landesmuseums in Detmold zwei „Fieberkurven der Arminiusbegeisterung“ für den Zeitraum von 1700 bis 1950 erstellt, aus denen das jährliche Aufkommen von relevanten Veröffentlichungen hervorgeht, und diese dann in einem lesenswerten Essay kommentiert. Die erste Graphik war der Literatur über Arminius, die Varusschlacht und das Hermannsdenkmal, die zweite dem Thema der Behandlung des Cheruskers in Dichtung und Musik gewidmet. Wenig überraschend ist wohl das starke Ausschlagen beider Fieberkurven nach oben in Jubiläumsjahren. Eine Fortführung dieser Kurven von 1950 bis in die Gegenwart dürfte zu keinem anderen Resultat kommen. Die Jubiläen des Denkmals (1975 und 2000, verbunden mit dem 200. Geburtstag von Bandel) und vor allem der Varusschlacht (2009) führten gleichfalls zu einem beträchtlichen Anstieg von Veröffentlichungen der verschiedensten Art, zu denen vor allem die Resultate der Grabungen in Kalkriese seit 1987 beigetragen haben. Auch als literarische Figur ist Arminius noch lebendig. Was in Hansens Zusammenstellungen jedoch fehlt, sieht man von Publikationen zum Detmolder Denkmal ab, sind Behandlungen des Stoffs in den bildenden Künsten. Die Ikonographie des Arminius wartet kunsthistorisch noch auf ihre Bearbeitung. Einen Schritt in diese Richtung unternahm der innerhalb des Ausstellungszyklus ‚2000 Jahre Varusschlacht‘ erschienene Band Mythos mit seinen beiden Kapiteln „Arminius, ein deutscher Theaterheld“ und „Einheitstraum und Gründungsmythos“. Hier sind ohne Anspruch auf Vollständigkeit Gemälde und Zeichnungen mit diesbezüglichen Themen gesammelt. Auf einige von ihnen, die hier nicht erneut abgebildet werden sollen, sowie auf weitere Behandlungen dieses Motivkreises sei zurückgegriffen und dabei versucht, den Wandel im Bilde des Arminius von Johann Heinrich Tischbein d. Ä. (1722–1789) bis hin zu Anselm Kiefers (*1945) zwischen 1976 und 1980 entstandenem Bildzyklus zu verfolgen. Überlieferungen vom genauen Aussehen des Cheruskerfürsten fehlen. Das antike Rom des Augustus und Varus dagegen war dem deutschen Klassizismus nicht fremd. Archäologisches Wissen etwa über Kleidung und Waffen hatte sich die damalige Historienmalerei erfolgreich zu eigen gemacht und damit Motive der antiken Mythologie und Geschichte im Sinn der Zeit authentisch darstellen können. Es ging ihr dabei aber nicht um die historisch getreue Wiedergabe eines Ereignisses wie der Varusschlacht. Interessant und inspirierend war deren literarische Behandlung geworden; „Arminius, ein deutscher Theaterheld“ heißt es treffend im Detmolder Ausstellungskatalog Mythos von 2009. Nicht gezeigt werden konnten dort die zwei künstlerisch bedeutendsten Behandlungen dieses Bildkreises, die großformatigen Gemälde Johann Heinrich Tischbeins d. Ä. Die Trophäen Hermanns nach seinem Sieg über Varus (285 × 435 cm) von 1772 und Angelika Kauffmanns (1741–1807) Hermann von Thusnelda gekrönt (154 × 216 cm) von 1785. Beide Bildfindungen waren aber in kleineren Fassungen vertreten. Gründliche Studien über beide Hauptvertreter des Klassizismus machten eine schlüssige Interpretation dieses Themenkreises möglich.

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Abb. 1 | Johann Heinrich Tischbein d. Ä. (1722–1789), Die Trophäen Hermanns nach seinem Sieg über Varus, 1758.

Petra Tiegel-Hertfelder widmete in ihrer umfassenden Arbeit über den älteren J. H. Tischbein von 1996 dessen Behandlung des Hermann-Stoffes eine kluge Analyse. Ausgehend von dem sicheren Befund, dass Tischbein das Motiv des siegreichen Cheruskerfürsten 1758 erstmalig (im Format 65 × 83 cm) gestaltet habe, fragt sie nach Unterschieden zu der späteren Fassung von 1772. Die Komposition beider Bilder ist nahezu identisch. Der siegreiche Feldherr steht – etwas isoliert von ihr – inmitten einer vielfigurigen Gruppe vor einer (symbolträchtigen) Eiche. Die Bildidee ist offensichtlich der Schlussszene des 1743 veröffentlichten Dramas Hermann von Johann Elias Schlegel (1719–1749) entlehnt. Dieses Trauerspiel wird in Verbindung zu weiteren Texten der Zeit gesehen, die Arminius und die ihm zugeschriebenen Tugenden wie Mut, Unbestechlichkeit und Milde zum Vorbild eines aufgeklärten und volksnahen Regenten erhoben hatten. Auf die Aktualität solcher Vorstellungen zur Entstehungszeit des Gemäldes während des Siebenjährigen Krieges wird zu Recht verwiesen und in der heute in Bad Pyrmont befindlichen und 2009 in Detmold gezeigten Erstfassung ein Ausdruck persönlicher Friedenssehnsucht des Malers gesehen. Sicher ist dies spekulativ, aber sympathisch. Die monumentale Wiederholung von 1772 dagegen, die sich heute im Schloss Arolsen befindet, kann nur ein Auftrag des damaligen Fürsten Friedrich von Waldeck und Pyrmont (1743–1812) gewesen sein. Seine Züge sind in der Hauptfigur des Bildes, in der des Arminius, identifizierbar und lassen es damit zum portrait d’histoire werden. Eine solche Deutung wird durch dessen manifeste Affinität zu den Idealen der Aufklärung unterstützt. Zu ihnen zählen etwa auch Kontakte zu Friedrich Gottlob Klopstock (1724–1803), dem in seinen Dichtungen wohl einflussreichsten Propagandisten des Hermann-Stoffes neben Johann Elias Schlegel.

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Abb. 2 | Angelika Kauffmann (1741–1807), Hermann von Thusnelda gekrönt, 1785. Das Bild ist von der Schlussszene von Klopstocks Hermanns Schlacht inspiriert.

Auch Angelika Kauffmanns Behandlung des Hermann-Stoffes greift eine Szene aus einem Theaterstück auf. An sie war in Rom im Dezember 1784 der ungewöhnliche Auftrag von Kaiser Joseph II. (1748–1790) ergangen, für ihn zwei Bilder eigener Wahl auszuführen. Die Malerin entschied sich einmal für ein Thema der antiken Mythologie, Pallas Evanders Sohn von Turnus getötet.1 Sodann wählte sie, angeregt von Klopstocks Dichtung Hermanns Schlacht von 1769, die dem Kaiser gewidmet war, die dort beschriebene Schlussszene der Krönung Hermanns durch seine Gattin Thusnelda. Mit diesem Stoff hatte sich auch Tischbein wenig zuvor beschäftigt und sie in einem Gemälde, das sich heute im Hessischen Landesmuseum Darmstadt befindet und auch in Detmold zu sehen war, behandelt. Beide Gemälde unterscheiden sich aber beträchtlich: Die bei Tischbein wiedergegebene Szene erscheint als ruhige Konversation eines sitzenden Paares, Angelika Kauffmanns Gemälde dagegen ist eine überaus bewegte Darstellung voller Affekte der beteiligten Personen. Vielleicht war die Malerin durch Klopstock, mit dem sie in den 1770er Jahren korrespondierte, über Tischbeins Behandlungen des Hermann-Stoffes informiert. Künstlerisch beeinflusst hat sie dieser aber sicher nicht. Erhalten ist Kauffmanns Bildpaar, das 1786 in Wien offensichtlich sehr positiv aufgenommen worden ist, nur in zwei Entwurfsskizzen im Tiroler Landesmuseum Ferdinandeum Innsbruck (Format je 448 × 629 cm). Die endgültige Fassung des Bildpaares erlitt ein trauriges Schicksal. Auf Befehl Hitlers war es 1944 von Wien nach Berlin überführt worden, wo es 1945 im Inferno des Kriegsen1

Der Stoff bei Verg. Aen. 11,60–80.

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des verbrannt sein soll. Angelika Kauffmanns Darstellung des triumphierenden Cheruskers war ebenso wie Tischbeins Arolser Bild als Hommage für aufgeklärtes Regententum konzipiert. Vernichtet wurde es durch die ideologische Inanspruchnahme, für den Endsieg und Triumph eines totalitären Staates zu werben. Eine Umwertung erfuhr der Hermann-Stoff im frühen 19. Jahrhundert. Hierzu trug Heinrich von Kleists (1777–1811) Drama Die Hermannsschlacht, 1808 vollendet, aber erst 1821 veröffentlicht, bei. Es ließ den Titelhelden zur Symbolfigur des Widerstandes gegen die Truppen Napoleons werden. Der sich in den Freiheitskriegen ausbildende Nationalgedanke hatte eine Personifikation gefunden. Wohl prominentestes Beispiel, dieser Vorstellung künstlerisch Ausdruck zu verleihen, war seit 1838 Ernst von Bandels Unternehmung der Errichtung des Hermannsdenkmals. Aber auch die Historienmalerei des Vormärz widmete sich der Gestalt des Arminius. „Einheitstraum und Gründungsmythos“ ist das zweite Kapitel des Detmolder Katalogs betitelt, das sich mit der bildlichen Darstellung des Hermann-Stoffes befasst. Aufgeführt ist hier eine Arbeit von Peter Janssen d. Ä. (1844–1908), die für das Krefelder Rathaus zwischen 1870 und 1873, also nach der Reichsgründung, ausgeführt worden ist. Das gezeigte Gemälde, Thusnelda im Triumphzug des Germanicus, war Teil eines insgesamt neun Szenen aus dem Leben des Arminius umfassenden Zyklus, der den Sitzungssaal schmückte. Die rechtzeitige Auslagerung der Bilder aus dem dann 1943 zerstörten Rathaus verhinderte deren Vernichtung. Über den Auftrag und die Ausführung der in Wachsfarben auf Leinwand gemalten Gemälde informiert Dietrich Bieber in seiner Studie über Peter Janssen als Historienmaler von 1979. Hier wird deutlich, dass Janssens Bildprogramm auch in der Tradition der einflussreichen Düsseldorfer Historienmalerei zu sehen ist, für die ein Diktum Jakob Burckhardts (1818–1897) aus dem Jahr 1842 gilt: „[F]ürs erste genügt es nicht, eine Geschichte gehabt zu haben. Man muss eine Geschichte, ein öffentliches Leben mit leben können, um eine Geschichtsmalerei zu schaffen.“2 Der Hermann-Stoff nun war auch in Düsseldorf lebendig. Erinnert sei hier an ein weiteres Drama, an Christian Dietrich Grabbes (1801–1836) Hermannsschlacht von 1838, die im Umkreis des dort lebenden Karl Immermann (1796–1840) entstanden ist. Janssen nennt sodann Beispiele für die dort erfolgten Bearbeitungen des Hermann-Stoffes, die auf den jährlichen Berliner Akademieausstellungen gezeigt wurden. Als Vorbild für Janssen hervorgehoben wird Josef Fays (1813–1875) Mitarbeit am Freskenfries für das Elberfelder Rathaus, der zwischen 1841 und 1844 entstand und Motive der engeren und weiteren lokalen Geschichte des Bergischen Landes zum Thema hatte, aber schon 1867 zerstört worden ist. Fays Beitrag, von dem keine Abbildungen überliefert sind, war dem Thema „Geschichts- und Lebensbilder des germanischen Volkes bis zur Schlacht im Teutoburger Wald“ gewidmet und zeigte u.a. den Sieg über Varus, der sich selbst den Tod gibt. Vor dem Hintergrund der Rheinkrise mit Frankreich von 1840, die ein beträchtliches öffentliches Echo hatte, kam einer solchen Szene ein hohes propagandistisches Potential zu, Geschichte wurde tatsächlich ‚mit erlebt‘. Und dies scheint auch Janssen für seinen Krefelder Zyklus im Rückblick auf die Reichsgründung von 1871 beansprucht zu haben, für den der Sinnspruch auf dem Schwert von Bandels Hermannsdenkmal sinngemäß ebenfalls gelten kann: „Deutsche Einheit meine Stärke, meine Stärke Deutschlands Macht.

2

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Jakob Burckhardt, „Bericht über die Kunstausstellung zu Berlin im Herbste 1842“, Kunstblatt 24/4 (1843), 13–15, hier 15.

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Abb. 3 | Peter Janssen d. Ä. (1844–1908), Thusnelda im Triumphzug des Germanicus, entstanden zwischen 1870 u. 1873.

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Abb. 4 | Carl Theodor von Piloty (1826–1886), Thusnelda im Triumphzug des Germanicus, 1873.

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Interessant ist der Vergleich von Janssens Krefelder Bild mit Carl Theodor von Pilotys (1826–1886) gleichnamigem Monumentalwerk in der Münchener Neuen Pinakothek (Öl auf Leinwand, Format 490 × 710 cm), das zumindest für die Zeitgenossen zweifellos zu den Hauptwerken der deutschen Historienmalerei des 19. Jahrhunderts zählte. Nach längeren Vorarbeiten war 1869 der offizielle Auftrag des bayerischen Königs an Piloty ergangen, dieses Gemälde auszuführen, um es als deutschen Beitrag auf der Wiener Weltausstellung von 1873 zeigen zu können. Dass Janssen die Komposition des älteren Kollegen während seines Aufenthalts in München 1869 kennengelernt hat, darf sicher angenommen werden. Kompositorische Übernahmen sind zu eindeutig. Dennoch wurde zu Recht auf die unterschiedlichen Konzepte hingewiesen, die mit beiden Gemälden verfolgt wurden. Carl von Piloty ist, wie Claudia Steinhardt-Hirsch 2003 überzeugend gezeigt hat, stark geprägt von der Aufführungspraxis des zeitgenössischen Theaters. Wie damalige Bühnen sei auch der Maler intensiv um historische Authentizität in Kostüm und Ausstattung bemüht. Seine Ambitionen seien aber weitergehend. Ihn hätten Persönlichkeiten, die sich vor der Folie ihrer Zeit als ,tragische Helden‘ präsentierten, fasziniert. Pilotys Thusnelda sei nicht als Opfer zu verstehen, sondern vielmehr als historische Person mit moralisch klar umrissenen Konturen, die an der Korruptheit ihrer Zeit gescheitert sei. Als politischer Appell sei Pilotys ‚Historie‘ daher nicht vorrangig zu verstehen. Arminius als Bildgegenstand kann aber auch ein Thema sein, das sich einer Deutung mit Hilfe von literarischen Quellen und historischen Bezügen entzieht und letztlich rätselhaft bleibt. Dies trifft für zwei Gemälde von Caspar David Friedrich (1774–1840) zu. Die Fassung in der Hamburger Kunsthalle trägt den seltsamen Titel Grabmale alter Helden, Gräber gefallener Freiheitskrieger, Grab des Arminius (Format 49,3 × 69,8 cm), der einer Besprechung des Bildes von 1812 entlehnt ist. Sie soll im Zentrum der folgenden Überlegungen stehen. Thematisch eng verwandt mit diesem Bild ist ein weiteres in der Bremer Kunsthalle mit dem Titel Grabmale alter Helden, Grab des Arminius, Felsental in fast identischem Format. Das Bremer Bild ist seit 1945 schwer beschädigt, beide Bilder sind auf das Jahr 1812, also in die Zeit unmittelbar vor den Freiheitskriegen, datiert. Auf den ersten Blick handelt es sich bei der Hamburger Version um eine reine Landschaftsdarstellung. Der Betrachter nimmt eine Felsschlucht wahr, die sich in ihrer Mitte zu einer Höhle öffnet. Der Vordergrund weist eine spärliche Vegetation auf. Die Landschaft zeigt keinen Himmel. Auf den zweiten Blick entdeckt man jedoch Zeugnisse menschlichen Wirkens. Man erkennt umgestürzte Grabsteine oder einen frisch aufgestellten Obelisken. Und endlich identifiziert man auch zwei menschliche Gestalten in Rückensicht vor der Höhle in der Bildmitte. Das Gemälde ist mit verschiedenen Inschriften versehen, die nicht ganz leicht zu lesen sind. Sie lauten: auf dem eingestürzten Grabdenkmal im Vordergrund in goldenen Buchstaben „Arminius“, auf dem Sarkophag links: „Friede Deiner Gruft – Retter in Noth“, auf dem Obelisken über den gekreuzten Schwertern: „G.A.F.“ (oder G.A.T.), am Sockel: „Edler Jüngling Vaterlandserretter“, auf dem Sarkophag rechts: „Des edel Gefallenen fuer Freiheit und Recht. F.A.K.“ (oder T.A.K.). Bislang ist es noch nicht gelungen, die hier verwandten Initialen aufzulösen. Wahrscheinlich nehmen sie mit den sie jeweils begleitenden Sentenzen Bezug auf Gefallene im Kampf gegen Napoleon. Die ausdrückliche Erwähnung des Arminius, verbunden mit der Grußformel „Friede Deiner Gruft – Retter in Noth“, irritiert, denn sie beinhaltet keinen unmittelbaren Zeitbezug, wie sie die ehemals auf der Bremer Fassung befindliche Inschrift enthielt, die lautete: „Deine Treue und Unüberwindlichkeit als Krieger sey uns immer ein Vorbild.“ Die Interpreten des Bildes haben überwiegend dessen patriotischen Charakter betont. Dies schließt aber keineswegs den Rückgriff auf christliche Symbolik aus. Das offene Grab etwa im Zentrum des Bildes mit den zwei Gestalten davor, in denen französische Soldaten erkannt wurden, lässt assozia-

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Abb. 5 | Caspar David Friedrich (1774–1840), Grabmale alter Helden, Gräber gefallener Freiheitskrieger, Grab des Arminius, 1812.

tiv in der Tat an Christi Auferstehung denken und gibt den Begriffen „Friede“ und „Retter“ eine zusätzliche Sinnschicht. Auch die ikonographische Deutung des gezeigten Landschaftsausschnitts und der da wachsenden Vegetation mag eine derartige Interpretation unterstützen. Die Einbindung des HermannStoffes in eine solche Sehweise bleibt jedoch rätselhaft. Der Blick auf Caspar David Friedrich hat die Chronologie gesprengt, in der die Behandlung des Motivs des Arminius in der deutschen Malerei bisher geschildert wurde. Hierfür kann ein sehr gravierender Grund ins Feld geführt werden. Mit dem Gemälde Varus (Format 200 × 270 cm, Stedelijk Van Abbemuseum, Eindhoven)3 griff Anselm Kiefer 1976 das Thema jener legendären Schlacht im Jahr 9 n. Chr. wieder auf und machte es zum Gegenstand einer zwischen 1976 und 1980 entstandenen Werkgruppe. Zweifellos ist Kiefer ein profunder Kenner der deutschen Geschichte, Literatur und Kunst. Dennoch ist es nicht wahrscheinlich, dass ihm Mitte der 1970er Jahre die malerische Ahnenreihe seiner damaligen Arbeiten zum Thema der Varus-Schlacht bekannt war. Sicher wird er 1975 vom 100-jährigen Jubiläum der Fertigstellung des Hermannsdenkmals bei Detmold gehört haben. Doch war dies nach eigener Erinnerung wohl eher ein Ereignis von regionaler Bedeutung. Ungleich anregender könnte für Kiefer dagegen ein Besuch der im Herbst 1974 von der Hamburger Kunsthalle in ihrem Ausstellungszyklus ‚Kunst um 1800‘ veranstalteten Ausstellung über Caspar David Friedrich gewesen sein. Hier waren erstmalig dessen Werke aus Museen der damaligen DDR und der Sowjetunion gemeinsam 3

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Ansicht des Gemäldes siehe Titelvorblatt des Bandes.

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mit solchen aus Sammlungen der Bundesrepublik zu sehen. Man sprach zu Recht von einem gesamtdeutschen Kunstereignis ersten Rangs. Und es scheint so, als ob sich Kiefer damals wirklich mit den Bildfindungen Friedrichs befasst habe, dessen Name bereits in den Heroischen Sinnbildern von 1969 sowie danach in Deutschlands Geisteshelden von 1973 berücksichtigt ist Sabine Schütz etwa machte 1999 in ihrer Studie Anselm Kiefer – Geschichte als Material auf den Vorbildcharakter von Friedrichs Chasseur im Walde (Format 65,7 × 46,7 cm, Bielefelder Privatbesitz) für das Varus-Bild von 1976 aufmerksam. Dies ist insofern interessant, als der Chasseur in der Ausstellung in unmittelbarer Nähe zu den etwa gleichzeitig entstandenen beiden oben besprochenen Bildern hing. Dies mag ein kleines Indiz dafür sein, dass Kiefer Friedrichs eher unauff ällige Nennung des Arminius registriert und Interesse an einer eigenen Gestaltung dieses Themenkomplexes entwickelt haben könnte. Zu fragen ist weiterhin, ob ihm Friedrichs Vorgehen der Erinnerung und des Dankes an zwei anonyme Gefallene, verbunden mit dem Gruß an Arminius, inspiriert hat, das Opfer der Schlacht, den römischen Militär Quinctilius Varus, und nicht dessen Besieger, den Cheruskerfürsten Arminius, zum Ausgangspunkt seiner Komposition zu machen. Kiefer vollzieht hier einen radikalen Bruch mit der bisherigen Bildtradition, die in seinem Varus zumindest mit der Nennung der Dramatiker Klopstock, von Kleist und Grabbe als Symbolfiguren deutscher Geschichte präsent ist. Kiefer versucht, das historische Ereignis in einer neuen Sichtweise vorzustellen, die nicht mehr nur den triumphierenden Sieger in den Vordergrund stellt.

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Christine de Gemeaux Arminius, Ambiorix und Vercingetorix aus französischer Perspektive ‚Kleine Heimat‘ versus Imperium in Geschichtsschreibung und Comics

Nicht die historischen Persönlichkeiten von Arminius, Ambiorix und Vercingetorix sollen im folgenden im Mittelpunkt stehen, sondern aus französischer Perspektive deren kulturelle und politische Bedeutung in der Geschichtsschreibung und in einschlägigen comics vergleichend betrachtet werden. Die Untersuchung der représentations1 als mentale Modelle, als vererbte Vorstellungswelt der Nationen soll hier über das Geschichtsverständnis, das kulturgeschichtliche Bewusstsein und den jeweiligen politischen Hintergrund Aufschluss geben. Der Fokus wird auf die zeitgebundene Stilisierung der drei mythisierten Feldherren gerichtet, wobei Vercingetorix im Vordergrund stehen wird. Drei besonders bedeutsame Merkmale sind hervorzuheben. 1.) Das Augenmerk auf die Schlachten gegen den römischen Gegner: Sie sind Erinnerungsorte, lieux de mémoire im Sinne von Pierre Nora, d.h. „Augenblicke der Geschichte, die der Bewegung der Geschichte entrissen wurden, ihr aber zurückgegeben werden“.2 In der Gallia Belgica fand die erste Schlacht bei Atuataca, heute Tongern, 15 km nördlich von Lüttich, am 21. Oktober 54 statt. Der eburonische König Ambiorix hatte sich gegen die römische Fremdherrschaft aufgelehnt. Atuataca ist der deutschen und französischen Öffentlichkeit weniger bekannt. Die weiteren Schauplätze sind Gergovia in der Auvergne, wo die römischen Legionen im April 52 vor Chr. besiegt wurden, und Alesia in Burgund, wo den Galliern im September 52 v. Chr. die entscheidende Niederlage bereitet wurde, sowie die nicht mit letzter Gewissheit verortbare Varusschlacht (heute wird Kalkriese favorisiert). Alle vier Schlachten gelten seit dem 19. Jahrhundert als militärische Gründungsakte des nationalen Widerstands und der Nation. So nimmt es nicht Wunder, wenn die europäische Forschung diese drei letztgenannten Orte in einen Zusammenhang bringt3. Auf französischer Seite räumt das Werk Noras Alesia4 einen besonderen Platz ein. Die Schlacht wird zwischen den beiden wichtigsten Erinnerungsorten Lascaux5 und Vézelay6 auf ihre représentations hin analysiert: Alesia mit der darauf folgenden Integration Galliens ins Römische Reich sei ein Wendepunkt der Nationalgeschichte: ein magischer Ort, an dem sich die Lust der Franzosen nach Geschichte verankere.7 In der Hauptstadt der Auvergne, nicht weit vom Schlachtfeld Gergovia, sei diese ‚Lust‘ ebenfalls anzutreffen.8 In dem Asterix-Band Asterix und der Arvernerschild wird dies veranschaulicht, indem Alesia und Gergovia dargestellt werden; in Asterix bei den Belgiern rühmt sich der gallische Chef ständig, bei der Schlacht von Gergovia gekämpft zu haben. Was den deutschen Erinnerungsort angeht, gilt die Varus1

2

Unter représentations werden im Anschluss an Emile Durkheim und in der Verwendung von George Duby, Philippe Ariès oder Pierre Bourdieu Darstellungen verstanden, die dabei helfen, die Wirklichkeit zu interpretieren und zu konstruieren, die bei der Orientierung z.B. im Benehmen helfen, die das Identitätsgefühl herauskristallisieren und sinnstiftend wirken. S. zu den verschiedenen Horizonten des Begriffs und zum Konzept die Ausführungen von Marie-Odile Martin Sanchez in: http://www.serpsy.org/formation_debat/mariodile_5. html (letzter Zugriff 25. 1. 2012). Nora (1992). Für Deutschland s. François u. Schulze (2001).

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Reddé u. von Schnurbein (2008). Buchsenschutz u. Schnapp (1992). Höhle im französischen Département Dordogne, die einige der ältesten bekannten Wandmalereien der Menschheitsgeschichte enthält. In Paris sind eine Metrostation Alésia, die rue d’Alésia, rue de Gergovie und rue Vercingétorix im vierzehnten Arrondissement anzutreffen. Berühmte mittelalterliche Abtei in der Region Burgund. Un espace où s’investit le désir d’histoire des Français (Buchsenschutz u. Schnapp [1992] 273). Dort befindet sich ein Boulevard Gergovia mit Sitz der Fakultät für Geisteswissenschaften.

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Abb. 1 | Reiterstandbild des Vercingetorix von FrédéricAuguste Bartholdi auf der Place de Jaude in Clermont-Ferrand.

schlacht seit dem 19. Jahrhundert als Gründungsakt der deutschen Nation.9 Auf deutscher Seite sind im Vorfeld des Jubiläums und im Jahr 2009 selbst zahlreiche Untersuchungen über die Varusschlacht, ihre Rezeption und ihre Bedeutung als nationaler Gründungsakt erschienen. Rainer Wiegels zufolge sind Alesia in Frankreich und der Teutoburger Wald in Deutschland „beide durch die damit verknüpften Ereignisse in den Protagonisten Vercingetorix und Arminius/Hermann personalisiert und seit der Denkmalkultur im 19. Jahrhundert … monumentalisiert.“10 2.) Neben den Schlachten und ihren Schauplätzen sorgen Denkmäler für die Bündelung und Zuspitzung von représentations. Die Helden sollten im 19. Jahrhundert als symbolisch-personifizierter Ausdruck des Nationalbewusstseins monumentalisiert werden.11 Deutschland (Arminius) und Frankreich (Vercingetorix) haben in dieser Hinsicht offen rivalisiert: Zuerst wurde das Standbild des Arminius errichtet, dann wurde der Plan zu einem monumentalen Vercingetorix-Denkmal auf dem Hochplateau von Gergovia nach dem Vorbild des Detmolder Hermannsdenkmals entworfen. Schließlich entstand ein Reiterstandbild im Zentrum von Clermont-Ferrand auf der Place de Jaude. In Alesia wurde ein weiteres, von Napoleon III. gestiftetes Denkmal errichtet: Es stellt einen sinnenden, besiegten Vercingetorix mit nach unten gerichtetem Schwert dar. Doch tut in Frankreich die Niederlage seinem Ruhm keinen Abbruch. Dasselbe gilt für den besiegten Ambiorix. In der belgischen Stadt Tongern befindet sich das stolze Standbild des lokalen Helden, ein Standbild, mit dem die comic-Figur Asterix größte Ähnlichkeit aufweist. 3.) Seit dem 19. Jahrhundert entwickelte sich eine „Geschichte in Bildern“,12 die bis zu den heutigen comics reicht und wesentlich dazu beitrug, nationale Identitäten zu prägen. Zeugnis davon liefert eine rege Tradition, die in Frankreich um 1820 mit Illustrationen in Reise- oder Geschichtsbüchern beginnt – beispielsweise mit dem Vercingetorix-Bildnis in den Voyages pittoresques de l’ancienne France, den 9

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Le Bohec (2008) 35: Depuis longtemps, les Allemands se sont passionnés pour la ‚bataille‘ du Teutoburg, qui constitue pour eux un acte fondateur de leur nation. Vgl. auch K. Kösters im vorliegenden Band.

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Wiegels (2008) 28. Tacke (1995). Goudineau (2008) 54 (histoire en images).

Abb. 2 | Standbild des Vercingetorix von Aimé Millet in Alesia.

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Abb. 3 | Standbild des Ambiorix von Jules Bertin in Tongern.

Radierungen in der Histoire de France von Henri Martin und in dessen Histoire populaire sowie in seinem Vercingétorix-Buch13 wie ferner in dem erstmals 1877 und bis in die Gegenwart immer wieder aufgelegten populären Schulbuch Le Tour de France par deux enfants:14 Vor dem Hintergrund des Kampfes um die Provinzen Elsass und Lothringen war die Zeit zwischen 1870 und 1914 aus patriotischen Gründen an Bildern der gallischen bzw. germanischen/deutschen Vergangenheit besonders reich. Im 20. Jahrhundert lösten sich dann die Bilder immer mehr vom Text ab und begannen autonome Geschichten zu bilden. Das neue Genre der Bandes dessinées wurde in der Jugendkultur Frankreichs zum Erfolg.15 Es hob die gallische Vergangenheit in den Asterix-Bänden hervor, wobei ein Band sogar Tour de France betitelt ist. 13

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Henri Martin (mit Paul Lacroix), Histoire de France, 19 Bde., Paris 1837–1854; ders., Histoire de France populaire depuis les Temps les plus reculés, Paris 1867–1865; ders., Vercingétorix, Paris 1865. Das didaktische Schulbuch von G. Bruno (Pseudonym von Augustine Fouillée als Verweis auf Giordano Bruno) wurde 1877 in Paris aufgelegt. Es erreichte die beeindruckende Auflage von beinahe neun Millionen Exemplaren und wurde zuletzt 2006 neu veröffentlicht (Édi-

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tions France Loisirs, Paris 2006). Pierre Nora hat es in seine Lieux de mémoire aufgenommen. S. hierzu Stenzel (2012) und die Düsseldorfer Studienarbeit von Röders (2005). Die offizielle Eröffnung 2009 in der Stadt Angoulêmes eines ‚Musée de la bande dessinée‘, das mit dem jährlichen ‚Festival‘ eine Einheit bildet, bestätigte die kulturgeschichtliche Bedeutung der Gattung in Frankreich.

Stellen die Arminius-, Ambiorix- und Vercingetorixbilder antithetische oder konvergierende représentations dar? Kann man am Beispiel von Arminius, Ambiorix und Vercingetorix die Begriffe Integration und Widerstand im historischen Zusammenhang als Konflikt von Heimat und Imperium interpretieren? Inwiefern kann von einer Aktualität der Nationalhelden gesprochen werden, und welche Funktion erfüllen dabei die comics; entwickeln sie Neues, was besagen sie über die politische Gegenwart? Aus französischer Perspektive sei hier insbesondere an zwei bedeutende Historiker des 19. Jahrhunderts, an Louis-Philippe de Ségur16 und Numa Denis Fustel de Coulanges17 und an die aktuellen wissenschaftlichen Arbeiten von Christian Goudineau18 und Yann Le Bohec, aber auch an die berühmten Comicreihen Alix, Asterix und Bob et Bobette mit der Geschichte von Lambiorix roi des Éburons angeknüpft. Die Studien von Nicolas Rouvière19 und Benoît Peeters20 bilden die theoretische Grundlage der comic-Analyse.

1. Antithetische oder konvergierende représentations? Im 19. Jahrhundert entstand in Deutschland wie in Frankreich eine Geschichtsschreibung, die nicht mehr der Geschichte von Dynastien verpflichtet war, sondern der Nationalgeschichte. Deutsche und Franzosen begeisterten sich für die fernste Vergangenheit. Davon zeugen unzählige Zeitschriften, mehr noch Romane und Theaterstücke, welche historischen Themen gewidmet sind. Es geht darum, die Nation in einer weit zurückliegenden Vergangenheit zu verorten. So wird in beiden Ländern ein Kontinuitätsparadigma konstruiert und – westlich des Rheins – die französische Nation als direkte Erbin der gallischen Völker dargestellt: „Frankreich ist das Kind, der Erbe Galliens. Gallisches Blut fließt in den Adern der Franzosen … Dieses Blut erfüllt die Aufgabe, die Geschichte und Frankreich in einer gewissen Anzahl von Helden zu verkörpern. Die Könige, die in dynastischer Ordnung aufeinander folgten, werden von einer der am Aufbau und an der Einheit der Nation beteiligten Figuren ersetzt.“21 Bereits Ariovist, der 58 v. Chr. als Germanenkönig über den Rhein nach Gallien vordrang, wird im Frankreich des 19. Jahrhunderts samt seinen Greueltaten als Paradigma für die germanische Gefahr evoziert. Auch spätere „Kontakte“ mit östlichen Nachbarn konnten in einer ähnlichen Lesart dargestellt werden. 22 In Asterix und die Goten, wo eine Auseinandersetzung zwischen Galliern und Germanen thematisiert wird, bereiten die preußisch-wilhelminische Pickelhauben tragenden Goten eine Invasion Galliens vor. Sie werden als invasionsfreudig und militaristisch dargestellt. Demgegenüber wird in Deutschland – insbesondere nach den napoleonischen Kriegen – Hermann/Arminius stets als Abwehr gegen die ‚nach Osten lechzenden Franzosen‘ stilisiert. Vercingetorix und Arminius dienen zur gegenseitigen Abgrenzung. Die damalige Verehrung der Gallier in Frankreich bzw. der Germanen in

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Graf Louis-Philippe de Ségur – pair de France und Mitglied der französischen Akademie – hat in seiner Histoire de France (1824) der gallischen Vergangenheit einleuchtende Seiten gewidmet. Fustel de Coulanges, Autor so einflussreicher Werke wie La Cité antique (1864) und Histoire des institutions politiques de l’ancienne France (1875–1891), war seinerzeit der berühmteste Historiker an der Sorbonne. Goudineau (2001). Rouvière (2006). Peeters (2003).

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Goudineau (2008) 54: La France est l’enfant, l’héritière de la Gaule. Le sang gaulois coule dans les veines des Français …, c’est à lui que revient d’incarner l’histoire et la France en un certain nombre de héros. On remplace ces rois qui se succédaient selon l’ordre dynastique par une des figures qui ont œuvré à la constitution et à l’unité de la nation. Ségur, Histoire, Introduction XIV: La Gaule pendant longtemps plus tranquille, plus riche, plus florissante que l’Italie, la Gaule inondée par un torrent dévastateur de Goths, de Bourguignons, de Huns, d’Allemands, d’Alains et de Francs.

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Deutschland ist als langwährendes spiegelbildliches Symptom zu verstehen: Gallomanie und Teutomanie beruhen auf dem gleichen Empfinden. Vor dem Hintergrund des Deutsch-Französischen Krieges 1870/71 fungieren die mythischen Helden als nationale Schutzfiguren. In Hinblick auf die Konstruktion der Nation sollten sie antithetisch dargestellt werden: In Deutschland beispielsweise galt Arminius als ‚Urdeutscher‘, Vercingetorix als ‚Welscher‘. „Das Reich, in welches wir eintreten“, schrieb 1871 mit Wilhelm Giesebrecht ein angesehener deutscher Historiker, „ist eine Schöpfung: in ihm ist nichts römisch: alles deutsch“.23 Herfried Münkler zufolge musste sich das Deutsche Reich eine eigene ruhmreiche, auf Kontinuität mit dem Heiligen Römischen Reich und den Germanen beruhende Vergangenheit konstruieren: Einerseits sollte der deutschen Öffentlichkeit der Sieger Arminius in vollem Glanz gezeigt werden, andererseits sollte der besiegte Vercingetorix die Schwäche und die dunkle Nostalgie der Franzosen darstellen. Das deutsche Nationalgefühl war auf den siegreichen Arminius fokussiert, dessen Überlegenheit in Deutschland unumstritten bleiben sollte: „Wenn man an das Schicksal Galliens und Spaniens, an die durchgängige Widerstandsunf ähigkeit junger Völker gegen höhere Kulturstufen denkt, so ist kein Zweifel: Indem Arminius das römische Heer vernichtete, hat er unsere Nationalität gerettet.“24 Mit der historischen Entwicklung des deutschen Blickes auf Vercingetorix und des französischen auf Arminius hat sich jüngst Jürgen von Ungern-Sternberg befasst. Er kommt zu dem Schluss, dass das Interesse an Vercingetorix in Deutschland stets vorhanden gewesen sei, während sich französische Äußerungen über Arminius seltener finden.25 Die französische Geschichtsschreibung im 19. Jahrhundert verfügte gleichwohl über positive Arminius-Schilderungen: 1821 wird der Cherusker als ein junger Krieger beschrieben, der sich durch seine erlauchte Abstammung, seine Stärke, seinen hohen Wuchs und seinen dreisten Mut auszeichnet.26 Fustel de Coulanges, seit 1870 auch als Widersacher Theodor Mommsens in der Polemik über die Rückeingliederung des Elsass in das Deutsche Reich bekannt,27 schrieb im zweiten Band seiner verbreiteten Geschichte der Institutionen des alten Frankreich (1875–1891) über „den ruhmvollen Arminius“: Der Cherusker, Sohn des Segimer, stammte aus königlicher Familie. Er übernahm die Führung eines römischen Bataillons in Dalmatien oder Armenien, erlernte die lateinische Sprache, studierte das römische Recht und die römische Kultur, bis er nach Germanien zurückkehrte und als römischer Verbündeter von Varus eine Verschwörung organisierte und die entscheidende Schlacht lieferte. Er wird in Deutschland als strahlender Held dargestellt. In Louis-Philippe de Ségurs Histoire de France28 und in Amédée Thierrys Histoire des Gaulois29 erscheint Vercingetorix am linken Rheinufer ebenfalls als strahlender junger Krieger, der ähnlich wie sein germanisches Gegenbild ausgesehen haben soll. Er wird in die Ahnenreihe der französischen Helden eingereiht, in die Gesellschaft von Jeanne d’Arc, Louis XI. und den Revolutionssoldaten von Valmy (1792). Im Deutschland des 19. Jahrhunderts verbindet man seinerseits Arminius mit Luther, aber auch mit Friedrich dem Großen und mit Wilhelm I. Die antiken Topoi der Rhetorik, die Gemeinplätze der 23

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Wilhelm Giesebrecht, Leopold von Rankes Schüler und Autor der berühmten Geschichte der deutschen Kaiserzeit (1888). Ulrike Egelhaaf, zit. in: Münkler (2009) 166. Von Ungern-Sternberg (2008). Un jeune guerrier distingué par sa force, par sa haute stature, par son illustre naissance et par son courage audacieux, Louis-Philippe de Ségur, Histoire universelle ancienne et moderne, Bd. 5: Histoire romaine, Paris 1821, 479.

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S. L’Alsace doit-elle être allemande ou française? Lettre à M. Mommsen, Fustel de Coulanges [von nun an, wie in Frankreich üblich, kurz ‚Fustel‘ genannt], Paris, 27. Oktober 1870. Ségur, Histoire 190: L’Auvergne voyait alors briller parmi ses guerriers un jeune Gaulois, illustre par sa naissance, par son crédit, par sa bravoure et par son génie. Amédée Thierry, Histoire des Gaulois, 3 Bde., Paris 1828–1845.

Heldenschilderung werden für alle drei Nationalhelden verwendet, insbesondere wird Vercingetorix’ Rede- und Überzeugungskraft hervorgehoben.30 Die Schilderung des Galliers folgt dabei der Darstellung in Caesars De bello Gallico: Der mächtige Stamm der Arverner soll ruhmvoll gewesen sein. Vercingetorix’ Vater Celtill habe versucht, die Gallier zu einigen und den Königstitel für sich zu beanspruchen. Der Senat seiner Geburtsstadt Gergovia habe ihm dafür die Todesstrafe auferlegt. Ungeachtet dessen visierte sein Sohn Vercingetorix auch das Königtum an. Er sei deshalb aus Gergovia verwiesen worden, aber schließlich wie Arminius in die Heimat zurückgekehrt. Dann sei es ihm gelungen, die einheimischen Sippen um sich zu sammeln und Caesar sechs Monate lang zu trotzen. Das Motiv der Rückkehr spielt in beiden Fällen eine zentrale Rolle; es verleiht der Geschichte den nötigen mythischen, beinahe schon heilig-biblischen Zug. Vercingetorix’ Geschichte wird im Kinderbuch Le Tour de France par deux enfants, dem Spiegelbild der Dritten Republik, laizistisch, aber in moralpädagogischer Absicht mythisch-patriotisch vorgestellt: „Vor bald 2000 Jahren beschloss ein römischer General, der gern die ganze Welt unterworfen hätte, Gallien zu erobern … Ein junger in der Auvergne geborener Gallier fasste den Entschluss, die Römer vom heimatlichen Boden zu vertreiben … [Sie] nannten ihn Vercingetorix, was Chef bedeutet.“31 Wie Arminius die germanischen Stämme gegen die römischen Legionen organisierte, sollen es Vercingetorix und Ambiorix fertiggebracht haben, sich als chefs de guerre 32 bzw. Feldherren durchzusetzen. Wie auch Le Bohec resümiert, beruhte die Macht des Römischen Reiches auf der Armee. Nicht anders war es in Gallien und Germanien. Mit den chefs de guerre war in allen drei Fällen eine Dynamik der nationalen Entwicklung entstanden. Fustel kommt zu dem Schluss, dass Gallien gerade dank des Kampfes gegen das römische Ausland zu einer großen Monarchie geworden sei, auch wenn es schließlich unterliegen musste.33 Eine ‚Blut- und Eisenpolitik‘ gegen das Römische Reich stelle also in der französischen, belgischen und deutschen Nation das auslösende Moment für die nationale Zukunft dar. Die Helden wurden jedoch unterschiedlich instrumentalisiert: Bei der großen Einweihung des Reiterstandbildes in Clermont-Ferrand wurde Vercingetorix als reine Verkörperung der republikanischen Werte zelebriert. Mit ihm feierte die Dritte Republik das Ende des napoleonischen Empire sowie die erwartete Revanche gegen das Deutsche Reich: Der republikanische Geist würde Elsass und Lothringen zurückerobern. In Deutschland dagegen wurde Arminius/Hermann zur nationalen Stifterfigur, zum Urbild des Deutschen, der alles Fremde, Welsche und – im antisemitischen Denken – auch Jüdische verhöhnen sollte. Die Übereinstimmungen in den représentations sind dennoch signifikanter als die Unterschiede. Le Bohec weist darauf hin, dass Arminius seit dem 19. Jahrhundert dieselbe Rolle im Selbstverständnis der Deutschen gespielt hat wie in Frankreich Vercingetorix, dass er in den Schulbüchern vorkommt und dass zwei deutsche Städte gewetteifert haben, um dem Helden ein Denkmal zu errichten.34 Vercinge30

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Il parla si éloquemment de son projet à ses compagnons que tous jurèrent de mourir plutôt que de subir le joug romain („Er sprach so beredt von seinem Plan mit seinen Leuten, dass alle schworen, sie würden eher sterben als sich dem römischen Joch zu beugen“), Bruno, Tour de France, 40. Bruno, Tour de France, 39: Il y a bientôt deux mille ans, un grand général romain qui aurait voulu avoir le monde entier sous sa domination, résolut de conquérir la Gaule … Un jeune Gaulois né dans l’Auvergne résolut alors de chasser les Romains hors du sol de la patrie … [Ils] lui donnèrent le titre de Vercingétorix, qui veut dire chef.

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Le Bohec (2008) 23. Fustel de Coulanges, Histoire des institutions politiques de l’ancienne France [Paris 1875–1891], hg. v. Camille Jullian, 6 Bde., Brüssel 1964, hier Bd. 1: La Gaule romaine, 58–59. Le Bohec (2008) 30: Arminius a joué dans l’imaginaire des Allemands, depuis le XIXe siècle, le rôle qui a été dévolu en France à Vercingétorix, à cette différence près que le Germain a réussi là où le Gaulois a échoué. Il fut et il reste présent dans tous les manuels scolaires d’outre-Rhin. Son importance fut telle que deux villes, Münster et Osnabrück se disputèrent le privilège de lui ériger une statue pour commémorer sa victoire.

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torix, Ambiorix und Arminius sind keine antithetischen, sondern konvergierende, tragisch stilisierte Figuren, die die Heimat bis zuletzt gegen das Imperium verteidigten und eine Selbstglorifizierung der Nation ermöglichten. Sie weisen ähnlich strukturierte Formen der représentations auf, die auf die Topoi des Heldentums in der lateinischen Rhetorik und auf die mentalen Modelle der Widerstands- und Vaterfiguren gegründet sind. In den Karikaturen und in den comics erscheinen die représentations in einem leicht unterschiedlichen, manchmal gar in einem neuen, vielsagenden Licht. Denn comics können Zeugnis von den tradierten Geschichten ablegen: le plus petit (ici la bande dessinée) peut porter témoignage du plus grand (ici la grande histoire).35 Die Varianz der représentations in den französischen und belgischen comics soll hier – wenn auch nur kurz – betrachtet werden. In Belgien halten illustrierte Kinderbücher die Erinnerung an Ambiorix wach. Der Belgier Jacques Martin veröffentlichte seit 1948 eine comics-Reihe, welche die Geschichte eines jungen mutigen GalloRomanen namens Alix erzählt. Ein Alix-Band ist den Germanen, ein anderer Vercingetorix gewidmet,36 und die Reihe Bob et Bobette räumt Ambiorix aus der Provinz Gallia Belgica einen zentralen Platz ein,37 wobei in der Einleitung festgestellt wird, Caesar sei 54 v. Chr. „von den Belgiern, den furchtlosen Kelten mit deutschem Blut, in Schach gehalten worden“.38 In Frankreich stellt Asterix den Höhepunkt einer hintergründigen représentation der gallischen Vergangenheit dar. Die Forschung ist sich darin einig, dass Asterix eine besonders gelungene literarische Form der comics darstellt, in der zumal der Text eine entscheidende Rolle spielt. Der Autor René Goscinny jongliert mit Wortspielen39 und wirft mit den Bewohnern des kleinen gallischen Dorfes die aktuelle Frage auf: Integration der Heimat in das fortschrittliche Reich oder Widerstand gegen das Weltimperium?

2. Widerstand gegen Rom oder Integration in das Römische Reich? Camille Jullian, der große Vercingetorix-Kenner,40 betonte bereits zur vorletzten Jahrhundertwende, dass Vercingetorix der erste französische Widerstandskämpfer gewesen sei. Er sieht in dem Ausdruck ‚gallische Heimat‘ das Schicksal von Vercingetorix und sein Lebenswerk treffend zusammengefasst: Der Arverner sei aus Liebe zur Heimat gestorben. Durch Caesar selbst werde nahegelegt, dass Vercingetorix keinen anderen Grund für sein Handeln gehabt habe als den Patriotismus.41 Dasselbe wird von anderen Autoren für Ambiorix und Arminius behauptet. Diese Interpretation überwiegt auch in den comics. Ambiorix, Vercingetorix und Arminius finden sich in vergleichbarer Situation wieder: Die Heimat wird gedemütigt, organisierter Widerstand tut not. Entsetzt über die Überheblichkeit und Grausamkeit der Römer, bereiten die drei ‚Barbaren‘ den Partisanenkampf vor. Die List wird zu ihrer ersten Waffe. 35 36 37

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Pascal Ory, in: Rouvière (2006) XIII. Jacques Martin, Vercingétorix, Tournai 1985. Willy Vandersteen, Lambiorix roi des Éburons [zuerst niederländisch 1950, französisch 1954], in: ders., Bob et Bobette, Anvers 1987, 1–58. Vandersteen, Lambiorix, 4: L’histoire commence en l’an 54 avant Jésus-Christ, à l’époque où Jules César, le général romain le mieux connu des écoliers était tenu en échec par les Belges! Vous savez bien, ces Celtes avec du sang germain qui n’avaient peur de rien. Peeters (2003) 115 u. 150.

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S. Camille Jullians Artikel „Vercingétorix“, in: La Revue de Paris, 1. April 1901. Dieses Werk wurde zu einem großen Editionserfolg. Als Fustels Schüler gab er dessen Histoire des institutions heraus. En définitive, c’est bien par ce mot de patrie gauloise qu’il faut résumer la rapide existence de Vercingétorix, son caractère et même son œuvre. S’il a combattu, et s’il est mort, c’est uniquement par amour pour cette patrie. Jules César ne nous laisse jamais supposer dans les actes de Vercingétorix un autre mobile que le patriotisme, Jullian, „Vercingétorix“, 636.

Abb. 4 | Umschlag des Alix-Bandes Vercingétorix.

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Ambiorix gelingt es, die Römer von einem kurz bevorstehenden Angriff der Germanen zu überzeugen. Die Legionen ziehen sich deshalb nach dem Südwesten der Provinz zurück. Am 21. Oktober 54 tauchen aber plötzlich Ambiorix’ Truppen auf. Wie bei der Varusschlacht greifen sie in der Moorlandschaft eines engen Tals die römischen Legionen an, die sie – wie später die Germanen Varus’ Soldaten – vernichten. Caesar schildert den Eburonen als hervorragenden, aber skrupellosen Taktiker. Amédée Thierry konstatiert: Das Vorbild des Ambiorix und der Eburonen 54 v. Chr. habe die Gallier gelehrt, dass auch unterworfene Völker in der List eine letzte unfehlbare Abhilfe finden können. Das Motiv des legitimen Verrats der Heimat zuliebe ist den drei Helden gemeinsam. Ambiorix, Arminius und Vercingetorix sind der Allianz mit Rom untreu geworden.42 Der als römischer Soldat ausgebildete Germane flößt dem Feind Varus Vertrauen ein, um ihn schließlich in den gut vorbereiteten Hinterhalt des saltus Teutoburgiensis zu locken. Nach dem Sieg in Gergovia im April 52 muss Vercingetorix fünf Monate später in Alesia kapitulieren. Der Legende nach beendet er den Kampf am 27. September 52 und opfert seine Freiheit und sein Leben für die gallischen Völker. Camille Jullian liefert in seinem Vercingétorix eine eindrucksvolle Rekonstruktion der Ereignisse, in der der Held einen großen moralischen Sieg feiert. Auch in Asterix werden diese Umstände geschildert.43 Die heutige Forschung bestreitet die Idee eines noch bewaffneten Vercingetorix, der vor Caesar erschienen ist.44 Caesar erscheint immer als gnadenloser Feldherr, der den besiegten Gallier in Ketten legt, ihn, wie damals üblich, für seinen Triumphzug zunächst am Leben und dann hinrichten lässt: Vercingetorix wird im römischen Kerker erwürgt. Die besiegten eburonischen Horden des Ambiorix sollen vom rachsüchtigen Imperator ebenfalls grausam behandelt worden sein. Drei Jahre lang dauerte der römische Rachefeldzug, wobei das eburonische Stammesgebiet völlig verheert wurde. Der Eburonen-Führer wurde von den Legionen verfolgt, er verschwand in den Wäldern und soll jenseits des Rheins bei den Germanen Unterschlupf gefunden haben.45 Der unbesiegte Arminius bildet die Ausnahme, er kehrt in die Heimat zurück, wird aber von den eigenen Verwandten verraten und ermordet. Der Widerstand wird in allen Erzählungen hervorgehoben, während der imperiale Gedanke in der französischen Politik des zweiten Empire – wie auch im deutschen Kaiserreich – überwiegt. In Erinnerung und Anlehnung an die erste napoleonische Zeit plädiert Kaiser Napoleon III. pro domo für die politischen und kulturellen Vorteile der pax Romana. Aus diesem Grund erklärt sich sein Interesse für Caesar46 und für Alesia, wo Vercingetorix beinahe als Sieger aus der Schlacht hervorgegangen wäre. Er habe bis zuletzt tapfer gekämpft, ohne die einheimische Ehre zu verletzen, und durch seine Kapitulation die Integration Galliens ins Römische Reich ermöglicht. Der späteren französischen Zivilisation sei dadurch der Weg geebnet worden. Die damaligen französischen Berufshistoriker betonen die positiven Aspekte des imperialen Sieges. Mit Roms Hilfe habe Gallien bzw. Frankreich die politische und die religiöse Freiheit und damit die Stabilität gewonnen. Von den Quellen ausgehend,47 stellt Fustel lange vor der École des Annales seine Perspektive unter das Zeichen der longue durée und meint, dass nicht die eth42 43

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Was Vercingetorix betrifft, s. Fustel, Histoire I, 58 Leider war es nicht möglich, die Rechte zum Abdruck der berühmten Szene aus Asterix der Gallier zu erhalten (der Verlag geht mit seinen Preziosen äußerst zurückhaltend um, und eine Veröffentlichung hätte jeglichen Kostenrahmen gesprengt), in der Vercingetorix seine Waffen nicht etwa dem Sieger zu Füßen legt, sondern sie diesem mit Wucht und schmerzhafter Konsequenz auf die Füße schleudert.

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S. Goudineau (2001) 325. S. auch die künstlerische Verarbeitung in Romanform durch Régis Bournier: Le roman d’un Gaulois d’Arduen, wurde letztlich im Jahr 2000 veröffentlicht. Napoleon III. veröffentlichte 1862 eine zweibändige Histoire de Jules César. Strabo, Tacitus und besonders stark Caesars De bello Gallico.

nographischen Theorien, sondern die Anziehungskraft der römischen Institutionen, die Überlegenheit der römischen Kultur und Disziplin die positive Romanisierung Galliens erklären.48 Fustel bilanziert, daß die Franzosen zwar keine Römer seien, sich aber vor Jahrhunderten im Geist zu Römern gemacht hätten und durch die französische Geschichte hindurch im Geist freiwillig Römer geblieben seien.49 Gallien habe sich nach Alesia für Rom, wie später das Elsass für Paris und Frankreich, entschieden, weil es hier seinen langfristigen Vorteil gesehen habe.50 Auf deutscher Seite wird die germanomane Literatur von seriösen wissenschaftlichen Erkenntnissen kaum beeinflusst, obwohl ein bedeutender Historiker wie Theodor Mommsen in der Römischen Geschichte die zivilisatorische Überlegenheit der römischen Nation anerkennt.51 Arminius und die Varusschlacht seien ohne große Bedeutung geblieben, auch wenn mit ihnen der erste gemeinschaftliche Ansturm auf das Römische Reich verbunden sei. Die römische Politik hätte Mommsen zufolge früher oder später eingesehen, dass „die Unterwerfung und Behauptung der Gebiete zwischen dem Rhein und der Elbe die Kräfte des Reiches zu übersteigen schien“.52 Die Geschichte Deutschlands beginne erst mit Karl dem Großen, wie die Geschichte Frankreichs erst mit den Merowingern anfange. Mommsen und Fustel werten die Nationalhelden als Epiphänomene, als Begleiterscheinungen der historischen Entwicklung, die in Europa über das Imperium zur Zivilisation geführt hätten; man finde nach Fustel in Gallien keine Indizien dafür, dass die Völker dem Imperium je feindselig gesonnen gewesen seien.53 Fustel betont demgegenüber die Unf ähigkeit der Gallier, die Einheit von selbst herbeizuführen: „Die Gallier … bildeten keine Nation: Sie hatten weder eine politische noch eine ethnische Einheit. Sie besaßen weder Institutionen, noch politische Sitten, die wesentlich dazu beigetragen hätten, aus ihnen einen Organismus zu bilden. Sie bestanden aus rund 60 Völkern, die kein Bund, keine Obrigkeit und auch nicht der deutliche Gedanke eines gemeinsamen Vaterlandes einte. Die einzige Form von Patriotismus, die sie im Stande waren zu erkennen, war die Liebe zum kleinen Staat, von dem jeder unter ihnen ein Teil war.“54 In diesem Urteil ist bedeutsamerweise von der Liebe zum „kleinen Staat“ bzw. zur ,kleinen Heimat‘ die Rede, ein Aspekt, der vor allem in den comics betont wird.

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La supériorité de la civilisation romaine et de sa discipline, Fustel, Histoire I, 47. Nous ne sommes pas de race latine, mais nous sommes d’esprit latin … Nous nous sommes faits latins il y a dix-huit siècles; nous sommes restés latins pendant toute notre histoire (leçon 6, 118–119). Ils ont aimé l’empire parce qu’ils ont trouvé intérêt et profit à l’aimer, Fustel, Histoire I, 173; parallel zum Streit um das Elsass argumentiert der Historiker mit einem anderen Nationalitätskriterium als dem der Sprache, wie dies seine deutschen Widerparte, etwa Mommsen, taten. Theodor Mommsen, Römische Geschichte, Bd. 5: Die Provinzen von Caesar bis Diocletian, 5. Aufl., Berlin 1904, 44–45. Mommsen, Römische Geschichte V, 51. Fustel, Histoire I, 169. S. auch 172: On a attribué aux empereurs romains une politique très savante et une administration fort habile. A voir de près les choses, on est au con-

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traire étonné du peu d’efforts qu’il leur a fallu faire pour établir le gouvernement le plus absolu et en même temps le plus solide que l’Europe eut jamais eu („Man hat den römischen Kaisern eine sehr weise Politik und eine sehr geschickte Verwaltung zugeschrieben. Geht man aber auf die Sache näher ein, so staunt man im Gegenteil darüber, wie wenig sie sich bemühen mussten, um die absoluteste und festeste Regierung zu etablieren, die Europa jemals gehabt hatte“). Fustel, Histoire I, 50–51: Les Gaulois n’étaient pas … une nation: ils n’avaient pas plus l’unité politique que l’unité de race. Ils ne possédaient pas un système d’institutions et de mœurs publiques qui fût de nature à former d’eux un seul corps. Ils étaient environ soixante peuples que n’unissait ni un lien fédéral, ni une autorité supérieure, ni même l’idée nettement conçue d’une commune patrie. La seule espèce de patriotisme qu’ils pussent connaître était l’amour du petit État dont chacun d’entre eux faisait partie.

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3. Der Mythos und die ‚kleine Heimat‘ der comics In den comics, seien es Asterix, Alix oder Lambiorix, König der Eburonen, geht es nie darum, eine Nation zu bilden, sondern ein nicht-römisches Land – die gallische, gallisch-belgische oder germanische Heimat – für sich zu bewahren. Der Ausdruck ‚kleine Heimat‘55 ist hier von besonderer Relevanz. Er nimmt Bezug auf den Geburtsort, auf die Region, auf die Orte, an denen man lebt, Familie und Freunde hat: „Auf der einen Seite ein lokales, primitives Milieu, das von seinen Erinnerungen und Sitten lebt. Auf der anderen Seite ein modernes Reich, ein globales System, das das Territorium einteilt, den Raum ordnet, ihn verwaltet; eine Kultur, die die Zeit archiviert und Geschichte erzeugt.“56 Die kleine Heimat ist das lokal verwurzelte Milieu, das um Selbständigkeit und Ehre gegen die Zentralmacht, hier das Imperium, kämpft. Der Cartoonist Jacques Martin verfolgt mit der Fiktion der Rückkehr von Vercingetorix nach Gallien denselben Gedanken. Er variiert Vercingetorix’ Geschichte: In Rom will Pompeius Caesars Triumph mit dem gefangenen Vercingetorix verhindern. Er lässt den Gallier aus dem Gef ängnis fliehen und beauftragt Alix, den gallischen Helden in die Heimat zurückzubegleiten. Sie landen in Massilia (Marseille) und begeben sich nach vielen Abenteuern in das Land der Arverner. Bald beginnt aber deren Verfolgung durch Caesars Truppen. In Gergovia angekommen, reitet nun Vercingetorix mit seinem Sohn Edorix und seiner Frau Ollovia durch die dichten gallischen Wälder seinem geheimen Ziel entgegen: Alesia. In den Ruinen des oppidum gräbt er seinen Helm und sein Schwert aus. Als Anführer der besiegten Heimat soll er jetzt die gallische Niederlage rückgängig machen. Die Römer umzingeln die Gallier. Caesar beschließt, Vercingetorix’ Sohn – wie einst Astyanax in Troja – vor den Eltern, Alix und den versammelten Galliern umbringen zu lassen. Wenig später entkleidet Vercingetorix seinen Oberkörper, er bewaffnet sich und stürzt sich auf das römische Lager und auf Caesars Zelt. Er schwingt das Schwert gegen den Imperator, wird aber im letzten Augenblick von hinten erstochen und stirbt. Bei dem späteren Triumphzug in Rom ist Caesar gezwungen, einen anonymen Gefangenen als Vercingetorix auszugeben. Das letzte Bild des comics zeigt Vercingetorix’ Freunde, als sie aus Rom abziehen und sich über die zukünftigen Generationen unterhalten. Ihre letzten Worte lauten: „die Treuen, die uns begrüßen, werden sich Deiner, Vercingetorix, erinnern“. Die vorbildhafte Geschichte der zurückeroberten Ehre verweist auf die Möglichkeit eines zukünftigen Sieges über das feindliche Reich. Bekräftigt wird die Vorstellung, dass die Verteidigung der kleinen Welt der Gallier – und der Germanen – das höchste Ziel bleibt. In Lambiorix – König der Eburonen erzählt Willy Vandersteen von dem Kampf des Ambiorix gegen Caesar, wobei er den König ausdrücklich als ‚belgische‘ Vaterfigur und die ‚alten Belgier‘ als raufund streitlustige, ja leidenschaftliche Würfelspieler und Bierbrüder präsentiert. Während Ambiorix’ Feldzug gegen die Römer hören die Belgier keine Minute auf zu zanken und um die Macht zu kämpfen. Analog beginnt auch der Band Asterix bei den Belgiern mit einer allgemeinen Prügelei. Es geht wiederum um die gallische Ehre, denn Caesar habe befunden, dass von allen gallischen Stämmen die Belgier am tapfersten seien (was aus De bello Gallico entlehnt ist). Bei Vandersteen ist der Gegenwarts-

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Der Ausdruck ‚Die kleine Heimat‘ wurde letztlich für eine Tagung des französischen Germanistenverbands zum Thema gewählt, s. Heimat. La petite patrie dans les pays de langue allemande, Grenoble, Publications du CEERAC, coll. Chroniques allemandes, Nr. 3, 2009.

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Rouvière (2006) 5: D’un côté, un milieu local, primitif, qui vit de sa mémoire et de ses coutumes. De l’autre un empire moderne, un système global qui quadrille un territoire, l’aménage et l’administre, une culture qui archive le temps et fabrique de l’histoire.

Abb. 5 | Der Bob et Bobette-Band Lambiorix roi des Éburons.

bezug besonders eklatant:57 Durch einen Zauber werden im Jahre 1973 die Kinder Bob und Bobette sowie ihre Tante Sidonie in die gallisch-belgische Vergangenheit versetzt. Die Kontinuität der belgischen Identität wird betont: Bob gilt als Ambiorix’ Nachwuchs in der 69. Generation! Bob, Bobette und Sidonie helfen, geordnete Zustände in der Gallia Belgica zu sichern, bis der besiegte König in die Heimat der Eburonen zurückkehrt. Das Schlusswort lautet: „Unter den kleinen Belgiern herrscht Einverständnis.“58 Die ‚kleine Heimat‘ der comics hat letztlich mehr mit der Verteidigung einer Utopie – im Sinne von Bernhard Schlink59 – als mit einer Glorifizierung der Nation oder einem gesteigert nationalistischen Denken zu tun. Denn entgegen einer Parole von Philippe Pétain, wonach die Liebe zur kleinen Heimat der Liebe zur großen Heimat keinen Abbruch täte, sondern sie noch verstärke,60 zeugen in den comics alle nicht-römischen Feldherren von einem gegen das Imperium gerichteten Widerstandsgeist und von einem Patriotismus, der nicht aggressiv ist. In den comic-Reihen stellt dagegen Rom den Inbegriff des gigantischen, multikulturellen Reichs dar. Rom wird oft als Chiffre für die Vereinigten Staaten, aber auch für Deutschland zwischen 1871 und 1945 verwendet: das Europa bedrohende Deutsche Reich. In Asterix und die Goten wird das wilhelminische Reich klischeehaft parodiert. Die Belgier bedienen sich ebenfalls der Parodie. In Lambiorix lässt Autor Vandersteen zum Beispiel vor Lambiorix’ Angriff die römischen Soldaten singen: „Wir trocknen

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Die Hinweise auf die Gegenwart sind zahlreich: So ist zum Beispiel von der Grippe oder von der Arbeitslosigkeit die Rede, Vandersteen, Lambiorix, 57. Entre petits Belges, on se comprend vite, Vandersteen, Lambiorix, 57. Schlink (2000).

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Philippe Pétain, Qu’est-ce que la Révolution Nationale?, secrétariat général à la jeunesse, direction de la propagande, 1942, Archives du Mémorial de Caen, FQ72, zit. in: Christophe Pecout, Les Chantiers de la jeunesse et la revitalisation physique et morale de la jeunesse française (1940–1944), Paris 2007, 109.

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bald unsere Wäsche an der Vercingetorix-Linie“ – eine Anspielung auf das in den 1940er Jahren populäre Lied über die Siegfried-Linie.61 In den 1960er Jahren inszeniert Asterix den Geist des französischen Widerstands. Das politische System, das nach dem Zweiten Weltkrieg in Paris entsteht, wird von Charles de Gaulle auf das Bild des ewig Widerstand leistenden Frankreich, auf das Erbe der Résistance gegründet. Gegenüber Minister Alain Peyrefitte soll de Gaulle geäußert haben: „Vor zwanzig Jahrhunderten lebten die Gallier und Vercingetorix, der erste Widerstandskämpfer unserer französischen Rasse.“62 In seiner Rede in Bayeux am 16. Juni 1946 – unmittelbar nach seiner Landung in Courseulles-sur-mer in der Normandie – berief er sich ausdrücklich auf Georges Clemenceau, den ‚alten Gallier‘, der den heimatlichen Boden und die eigene Rasse verteidigen wollte: Vercingetorix, Clemenceau und de Gaulle stehen also in der mythischen Reihe der großen Widerstandskämpfer. Der Erfolg der Asterix-Reihe – deren erster Band 1959, ein Jahr nach der Gründung der V. Republik erschien – kommt also nicht von ungef ähr: Er bildet die damalige Stimmung und politische Konstellation ab. Der Vercingetorix-Spezialist Goudineau berichtet, dass ihm Goscinny bei ihrer einzigen Begegnung anvertraut habe: „Der ‚Zaubertrank‘, das sei de Gaulle, der Schicksalsmensch, das Wundermittel – also Asterix.“63 In den comics wird in der Tat stets auf die Geschichte angespielt, es wird aber auch aus besonderen Gründen davon Abstand genommen: Weder Arminius noch Vercingetorix werden direkt dargestellt, bei Vandersteen wird der Name Ambiorix in Lambiorix abgewandelt. Die lustigen Anspielungen auf die jeweiligen Helden sind aber zahlreich, insbesondere bei René Goscinny und Albert Uderzo. Sie relativieren die geschichtlichen Ereignisse. Es ist auff ällig, dass sich die Bewohner des gallischen Dorfes nicht die Befreiung Galliens zum Ziel setzen. Sie erdulden die Romanisierung des Landes, solange ihre Ehre und ihre kleine Heimat intakt bleiben. Ihr Gebiet inmitten des Römischen Reiches wird von einer selbst errichteten Palisade von der Außenwelt abgetrennt. Dasselbe gilt für das Dorf der Eburonen in Belgien. Wenn das Imperium keine festen Grenzen kennt, bestehen in den comics die gallischen Kelten auf einer selbst aufgebauten Grenze. Dadurch und durch eine kollektive Utopie der Ehre scheint die römische Eroberung erträglich zu sein. Die römische Besatzung Galliens wird fast zurückgenommen. In Asterix als Legionär werden alle europäischen Identitäten problemlos in die (Fremden-)Legion aufgenommen. Und wenn Asterix und Obelix an den Olympischen Spielen teilnehmen wollen, bezeichnen sich die lachenden Gallier selbst als ‚Römer‘. Die Autoren der Asterix-Bände, beide Immigrantensöhne, spielen mit den kulturellen Unterschieden, wobei immer die Gleichberechtigung aller Völker behauptet wird. Für die Bewohner des gallischen Dorfes gibt es keine Barbaren. Der Begriff des Barbaren, desjenigen, der außerhalb der Reichsgrenzen lebt, wird absichtlich durcheinandergebracht: Für die Römer sind die Gallier Barbaren, für diese wiederum sind es die Germanen, für die Griechen die Römer usw. Der Barbar ist der ‚Andere‘. Anders als bei Jacques Martin in Die Barbaren geht aus allen Asterix-Geschichten hervor, dass es kein objektives Kriterium für eine derartige Festlegung gibt. Im Gegenteil wird behauptet, dass jede unterworfene Nation ihre Kultur behaupten müsse und ein Recht zum Widerstand habe. Diese Offenheit charakterisiert die europäischen Gesellschaften der Nachkriegszeit. Ich möchte hier die These aufstellen, dass sich Asterix’ Erfolg dadurch erklären lässt, dass der Held im Einklang mit Vorstellungen in den 1960er Jahren den Aufbau eines Europa der Nationen fördert. 61

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Gemeint ist Deutschlands Westwall. Im Französischen: Nous irons pendre notre linge sur la ligne Vercingétorix, s. Vandersteen, Lambiorix, 5. Maurice Agulhon, zit. in: Goudineau (2001) 190.

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… la seule fois où j’ai rencontré Goscinny, il me confia que la „potion magique“, c’était de Gaulle, l’homme providentiel, le remède miracle. Donc, Astérix, Goudineau (2001) 190.

Europa stellt in gaullistischer Perspektive den Versuch dar, die Bedeutung eines multikulturellen Staatenbundes auf dem alten Kontinent gegen das American Empire zu behaupten. Vieles weist in der Tat bei Asterix auf das amerikanische ‚Imperium‘ hin, so die amerikanischen Wappen auf den Segeln des römischen Kriegsschiffs, das vor der bretonischen Küste erscheint (in Le Tour de France); Asterix wird als ‚antiamerikanischer‘ Superstar dargestellt und repräsentiert – Rouvière zufolge – eine Entamerikanisierung der comics. Möglicherweise kann Asterix’ Erfolg als Symptom französischer und europäischer Niedergangsängste verstanden werden.

4. Fazit Der gallische und der germanische Mythos haben vieles gemeinsam und die représentations der Helden sind sich sehr ähnlich. Arminius, Vercingetorix und Ambiorix gelten in der jeweiligen Nationalkultur als positive Identifikationsfiguren mit ähnlichen Merkmalen. Die Geschichte ihrer Rezeption ist jedoch unterschiedlich und sprunghaft: Arminius ist heutzutage in Frankreich eine völlig unbekannte Figur, Vercingetorix wird kaum noch gefeiert und kommt in den meisten Schulbüchern nicht mehr vor.64 Goudineau konstatiert, dass das Interesse der jüngeren französischen Historiographie ganz dem Mittelmeerraum als Geburtsort der französischen und europäischen Kultur gilt. Dies würde erklären, warum Vercingetorix in Vergessenheit gerät und warum die meisten Franzosen den Namen Arminius schlicht ignorieren. Die Mythen erlebten im Laufe der Zeit einen Wandel, entsprechend den historisch-politischen Rahmenbedingungen. Der starke Nationalgeist im 19. Jahrhundert, das erwachende europäische Bewusstsein im 20. Jahrhundert und die europäischen Niedergangsängste im 21. Jahrhundert bilden den Hintergrund für diese Entwicklung. Es hat heute den Anschein, dass Vercingetorix und Ambiorix eher Republikaner seien, Gegner des imperialen Gedankens, Arminius dagegen eine deutsche Version des Imperiums verkörpere, wobei das Reich als Modell deutscher kollektiver Identitätsstiftung erscheint. Es f ällt auf: Die mythischen Figuren werden insbesondere dann auf die Bühne gerufen, wenn Zweifel erwachen, wenn die Nation sich Fragen stellt oder in Frage gestellt wird. Sie dienen immer zur Selbst- und Fremdbestimmung; dies wurde vor dem Ausbruch des Deutsch-Französischen Krieges besonders deutlich. Nach 1871 hat Herfried Münkler zufolge der Kampf gegen Rom bezeichnenderweise an Bedeutung verloren; Bismarck hat aber den Kulturkampf gegen den Ultramontanismus gerichtet, und wenn Arminius überwiegend mit Vorsicht bemüht wurde, geschah dies aus dem Grunde, dass man „das Potential rebellischer Ordnungsstörung“, das er symbolisiert, entschärfen wollte.65 Die welschen bzw. die südlichen und westlichen Nachbarn bildeten in Deutschland noch lange die Gefahr par excellence und umgekehrt. In Frankreich haben die heutigen comics-Autoren in der Überlieferung der mémoire die Historiker zumindest in der Öffentlichkeit abgelöst. Die comic-Geschichten behandeln dieselben identitären Themen wie die Geschichtsschreibung, aber mit erheblichem ironischem Abstand. Es wird – entgegen der üblichen Meinung – weniger auf die Entstehung der Nation als auf die Verteidigung der (kleinen) Heimat hingewiesen. Das Thema Nation, das im 19. Jahrhundert hochstilisert wurde, scheint heute überholt, in der Geschichtsschreibung sowie in den comics, wo ein selbstbezogener Humor und eine 64

Goudineau (2001) 194: Vercingétorix n’est plus un héros qui compte … Les manuels scolaires d’aujourd’hui citent à peine Vercingétorix.

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Münkler (2009) 175.

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Abb. 6 | „Die langsame Entwaldung der Auvergne …“ Aktuelle französische Postkarte.

amüsante Suche nach der verlorenen Zeit hervortreten. So behaupten die Belgier mit Alix und Lambiorix die belgische Besonderheit seit der Antike; so rühmt sich die Auvergne augenzwinkernd, viele französische Herrscher hervorgebracht zu haben: Vercingetorix, das Haus der Bourbonen, die Präsidenten George Pompidou, Valéry Giscard d’Estaing und Jacques Chirac aus dem benachbarten Limousin. Die nationalen Klischees werden aber relativiert: un récit héroïcomique66 wie Asterix bringt humorvoll die stets aktuelle Botschaft der Toleranz zum Ausdruck.67 Rainer Wiegels weist darauf hin, dass die Ereignisse rund um das Jahr 9 v. Chr. bestenfalls „im populären Gedächtnis vom Bedeutenden zum Merkwürdigen oder bloß Erbaulich-Amüsanten“ gerinnen würden.68 Wenn auch Vercingetorix offiziell wenig gefeiert wird, wenn auch das öffentliche Interesse nachgelassen hat,69 so bleiben die Gallier in den comics doch präsent: Es werden immer noch neue AsterixFilme mit bekannten Darstellern in komischen Rollen gedreht, während in Deutschland im Jahre 2009 auf ARTE ein Film über die Varusschlacht gesendet wurde, der eine historische Rekonstruktion war. Daher stellen sich zum Schluss meiner Überlegungen folgende Fragen: Wird Vercingetorix in Frankreich heute selten offiziell gefeiert, weil er in den comics genügend Echo findet, wiewohl dort eher bagatellisiert wird? In Deutschland scheint es keine Arminius-comics zu geben. Die Arminius-Jubiläumsfeier 2009 wurde zu keinem nationalen Fest, sondern eines, bei dem man sich in erster Linie belehren lassen und amüsieren wollte. Warum gab es so viele deutsche Veröffentlichungen über die Varusschlacht? Über wirtschaftliche verlegerische Gründe hinaus kann folgendes naheliegen: Die Beschäftigung mit Arminius und der Schlacht bietet möglicherweise Deutschland in einer Zeit, in der man über die atlantische Allianz, die neuen Weltimperien und Europas Zukunft neu reflektieren muss, die Gelegenheit, sich der konstruierten Identität zu vergewissern und die Tradition noch einmal 66 67

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Maguet u. Touillier-Feyerabend (1998). Nichtdestoweniger dient Asterix zu ethnographischen Recherchen über die französische Kultur. 1998 wurde eine Tagung der Société d’Ethnologie Française mit einer Ausstellung des Musée National des Arts et Traditions Populaires in Paris kombiniert. Der Aufsatz von Maguet und Touilliez-Feyerabend wurde in diesem Rah-

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men veröffentlicht. Das Pariser Musée du Moyen Age veranstaltete 2009 bis 2010 seinerseits eine Ausstellung ‚Astérix au Musée de Cluny‘ pour célébrer la dimension patrimoniale d’Astérix, s. Astérix (2009) 5. Wiegels (2008) 41. Eine große Ausstellung über Gallien fand 1980 in Clermont-Ferrand im Musée Bargoin statt, s. Gaulois (1980).

zu hinterfragen. Diese Bemerkung gilt auch für das kulturell gespaltene Belgien und für das sich an das moderne Globalmodell notgedrungen anpassende Frankreich. In Zusammenhang mit der Globalisierung könnte es sein, dass die mythischen Helden wieder bemüht werden, um das europäische Bewusstsein, nicht mehr im Sinne der Nationen, sondern wie zu römischer Zeit im Sinne der kleinen Heimaten bzw. der Regionen, vor dem Hintergrund eines kosmopolitisch integrierten Europas zu stärken.

Literatur Astérix (2009) Astérix au Musée de Cluny (Katalog zur Ausstellung des Musée de Cluny in Paris, 28. Oktober 2009 – 3. Januar 2010), Paris. François u. Schulze (2001) Étienne François u. Hagen Schulze (Hgg.), Deutsche Erinnerungsorte, 3 Bde., München. Buchsenschutz u. Schnapp (1992) Olivier Buchsenschutz u. Alain Schnapp, „Alésia“, in: Pierre Nora (Hg.), Les lieux de mémoire, Bd. 3,3: De l’archive à l’emblème, Paris, 272–315. Gaulois (1980) Nos ancêtres les Gaulois (Katalog zur Ausstellung des Musée Bargoin in Clermont-Ferrand, 25 Juni – 30 September 1980), Clermont-Ferrand. Goudineau (2001) Christian Goudineau, Le dossier Vercingétorix, Errance. Goudineau (2008) Christian Goudineau, „La Gaule, les Gaulois, Vercingétorix et le sentiment national au XIXe siècle“, in: Michel Reddé u. Siegmar von Schnurbein (Hgg.), Alésia et la bataille du Teutoburg. Un parallèle critique des sources, Ostfildern, 53–71. Le Bohec (2008) Yann Le Bohec, La „bataille“ du Teutoburg, 9 après J.-C, Nantes. Maguet u. Touillier-Feyerabend (1998) Frédéric Maguet u. Henriette Touillier-Feyerabend, „Astérix: un objet d’étude légitime?“, Ethnologie française 28, 293–295. Münkler (2005) Herfried Münkler, Imperien. Die Logik der Weltherrschaft, Berlin. Münkler (2009) Herfried Münkler, Die Deutschen und ihre Mythen, Berlin.

Nora (1992) Pierre Nora (Hg.), Les lieux de mémoire, Bd. 3,3: De l’archive à l’emblème, Paris. Peeters (2003) Benoît Peeters, Lire la bande dessinée, Paris. Reddé u. von Schnurbein (2008) Michel Reddé u. Siegmar von Schnurbein (Hgg.), Alésia et la bataille du Teutoburg. Un parallèle critique des sources, Ostfildern. Ridé (1977) Jacques Ridé, L’Image du Germain dans la littérature et la pensée allemande de la redécouverte de Tacite à la fin du XVIe siècle, Paris. Röders (2005) Stefanie Röders, G. Bruno: Le Tour de la France par deux Enfants. Ein Spiegelbild der Dritten Republik?, Studienarbeit Univ. Düsseldorf [online: http://www.grin.com/ e-book/58923/g-bruno-le-tour-de-la-france-par-deuxenfants-ein-spiegelbild-der-dritten#inside]. Rouvière (2006) Nicolas Rouvière, Astérix ou les Lumières de la civilisation, Paris. Schlink (2000) Bernhard Schlink, Heimat als Utopie, Frankfurt a. M. Stenzel (2012) Hartmut Stenzel, „Le tabou de la défaite. ‚Le Tour de la France par deux enfants‘ et le discours identitaire sous la Troisième République“, in: Ulrich Pfeil (Hg.), Mythe et tabous des relations franco-allemande au XXe siècle / Mythen und Tabus der deutsch-französischen Beziehungen im 20. Jahrhundert, Bern u.a., 7–20. Tacke (1995) Charlotte Tacke, Denkmal im sozialen Raum. Nationale Symbole in Deutschland und Frankreich im 19. Jahrhundert, Göttingen.

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von Ungern-Sternberg (2008) Jürgen von Ungern-Sternberg, „Der deutsche Blick im 19. Jahrhundert auf Vercingetorix – der französische auf Arminius und Varus“, in: Michel Reddé u. Siegmar von Schnurbein (Hgg.), Alésia et la bataille du Teutoburg. Un parallèle critique des sources, Ostfildern, 73–103.

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Wiegels (2008) Rainer Wiegels, „‚Varusschlacht‘ und ‚Hermann‘Mythos. Historie und Historisierung eines römischgermanischen Kampfes im Gedächtnis der Zeiten“, in: Michel Reddé u. Siegmar von Schnurbein (Hgg.), Alésia et la bataille du Teutoburg. Un parallèle critique des sources, Ostfildern, 27–51.

V. Epilogos

Kaleidoskopische Eindrücke des Varus-Jubiläums.

Heinz-Günther Horn Varus im 21. Jahrhundert Zur kulturpolitischen Gestaltung des Varus-Jubiläums1

Im Jahr 2009 feiern Kalkriese, Haltern und Detmold, der Landesverband Osnabrück, der Landschaftsverband Westfalen-Lippe, der Landesverband Lippe, der Kreis Lippe, die Bundesländer Nordrhein-Westfalen und Niedersachsen, ganz Deutschland und – wenn man einigen Reden Glauben schenkt – Europa dazu die Niederlage des Varus oder auch den Sieg des Arminius im Teutoburger Wald vor 2000 Jahren. Kaum ein historisches Ereignis findet derzeit mehr Aufmerksamkeit in der Wissenschaft, in den Medien, bei berufenen und unberufenen Autoren, bei den einschlägigen Verlagen, bei den Veranstaltern von Kongressen, Tagungen und Bildungstouren als dieses. Und auch die Freie Universität Berlin lässt es sich nicht nehmen, ihm eigens eine Ringvorlesung zu widmen. So haben Sie in den letzten Monaten eine Vielzahl wissenschaftlicher Vorträge in der Sache höchst kompetenter Kolleginnen und Kollegen zu den unterschiedlichsten Aspekten dieses Themas gehört. Ich soll nun heute diesen Vortragsreigen beschließen. Man hat mich gebeten, über „Varus im 21. Jahrhundert – zur kulturpolitischen Gestaltung des Varus-Jubiläums“ zu sprechen. Wenn ich dieser Bitte nun nachkomme, dann können Sie kaum Wissenschaftliches erwarten, eher einen Bericht über die Mechanismen in Politik, Verwaltung, Wissenschaft, Wirtschaft und Gesellschaft, die greifen, wenn man sich anschickt, ein Jubiläum und Ausstellungen wie die für das Varus-Jahr 2009 zu planen, Rückhalt, Partner und Geldgeber zu finden, die Projekte zu organisieren und zu realisieren. Ein solcher Bericht muss aber zwangsläufig subjektiv und lückenhaft ausfallen, erst recht, wenn der Berichterstatter gewissermaßen zu den ‚Tätern‘ gehört und nur sektoral bzw. auf einer durchaus komfortablen Ebene agiert, was nolens volens zu gelegentlichen Blickverstellungen, Informationsdefiziten und auch Fehldeutungen führen kann. Insofern mag während und am Ende dessen, was ich Ihnen heute vorzutragen gedenke, eine durchaus nordrhein-westf älische Sicht der Dinge stehen, die sich im Wesentlichen aus den Erfahrungen meiner langjährigen Tätigkeit als ehemaliger Leiter der archäologischen Denkmalpflege Nordrhein-Westfalen in den jeweils dafür zuständigen Ministerien und in zwei der drei Wissenschaftlichen Beiräte, die die verschiedenen Ausstellungsprojekte zum Varus-Jahr begleitet haben, speist.2 Gestatten Sie mir, dass ich Ihnen, bevor wir etwas konkreter in das Thema einsteigen, einige – um es Neudeutsch auszudrücken – basics vermittele, die Außenstehenden möglicherweise nicht so präsent sind, aber für das Verständnis dessen, was sich in diesem Jahr um das seinerzeitige Schlachtenereignis bzw. das Protagonistenpaar Varus und Arminius/Hermann bereits getan hat oder auch noch tut – wie 1

Bei dem Beitrag handelt es sich um das lediglich durch aktualisierende Anmerkungen erweiterte Vortragsmanuskript vom 13. 7. 2009. Für Hilfe und Unterstützung habe ich vor allem zu danken: R. Aßkamp (Haltern), S. Boedecker (Bonn), J. Kunow (Bonn), M. Meyer (Berlin), T. Otten (Düsseldorf), G. Söger (Kalkriese), E. Treude (Detmold), R. Wolters (Tübingen), M. Zelle (Detmold).

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Es liegt in der Natur der Sache, dass für zahlreiche Feststellungen und Behauptungen in diesem Beitrag keine exakten Belege angeführt werden können. Vieles findet sich lediglich in Form von Aktennotizen, Vermerken, Vorlagen, Anweisungen, Erlassen, Schreiben und dergleichen in den Akten der jeweiligen Akteure, die gegebenenfalls einzusehen wären.

VARUS IM 21. JAHRHUNDERT

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ich meine – durchaus von Belang sind. Zugleich werfen sie aber auch ein mehr oder weniger bezeichnendes Licht auf etliche der Akteure im Varus-Jahr und in der Zeit davor: Da ist zunächst einmal das Land Nordrhein-Westfalen, ein inzwischen zwar 60 Jahre altes, aber eben doch nur ein ‚Bindestrich-Land‘ auf der ständigen Suche nach seiner Geschichte und Identität, das – wenn überhaupt – über ganz wenige Daten von landesgeschichtlicher Bedeutung verfügt. Umso empf änglicher ist es für Gedenktage, Feierlichkeiten und Ausstellungen, die den Blick zurück auf ‚landesschmückende‘ historische Ereignisse in der Vergangenheit werfen. Und dann scheut es gewöhnlich auch kein finanzielles Engagement, so etwa anlässlich des Gedenkens an – den Westf älischen Frieden von Münster und Paderborn von 1648 (1998)3 – die Begegnung Karls des Großen und Papst Leos des Dritten 799 in Paderborn (1999)4 – die Gründung des Bistums Münster durch Bischof Liudger 805 (2005)5 oder auch – die Auffindung der ersten Überreste des Neandertalers im Tal der Düssel bei Mettmann 1856 (2006). Das letztere, ein menschheits- und forschungsgeschichtlich zweifellos bedeutsames Ereignis wurde 2006 – also 150 Jahre danach – gleichsam unter dem Motto ‚Der erste Neandertaler war ein Nordrhein-Westfale‘ über fast zwölf Monate hinweg nicht nur mit einer fulminanten Ausstellung ‚Roots‘ im Rheinischen Landesmuseum Bonn und einschlägigen Veranstaltungen im Neanderthalmuseum Mettmann, sondern auch mit der Maßgabe ‚Nordrhein-Westfalen – ein Wissenschaftsstandort‘ gefeiert.6 Und die Medien spielten mit. Vor diesem Hintergrund können Sie sich vorstellen, wie zupass dem Land Nordrhein-Westfalen die 2000-Jahr-Feier der Varusschlacht im Jahre 9 n. Chr. kam … Des Weiteren sind da der Kreis Lippe und der Landesverband Lippe. Beide stehen in der Tradition des über mehr als 800 Jahre selbstständigen Fürstentums bzw. zuletzt Freistaates Lippe, der unter Wahrung zahlreicher Privilegien 1947 dem ein Jahr zuvor gegründeten Nordrhein-Westfalen beitrat. Damit entschied es sich gegen Niedersachsen, das ihm diese Sonderrechte nicht einzuräumen gewillt war. Und so prangt heute nicht nur die Lippische Rose im Landeswappen Nordrhein-Westfalens, sondern Lippe verfügt auch über einen eigenen Landesverband, der das einstige fürstliche Vermögen mit etlichen nach wie vor einträglichen Heil- und Staatsbädern, Staatsfluren und -wäldern, insbesondere aber dem Hermannsdenkmal in Detmold verwaltet. In der tagtäglichen ‚Anschauung‘ dieses weithin sichtbaren Monumentes Ernst von Bandels, 1875 in Anwesenheit des deutschen Kaisers und preußischen Königs Wilhelm I. feierlich eingeweiht, und in der gut 500-jährigen, seit Melanchthon zur Gewissheit mutierten Überzeugung, dass das taciteische haud procul Teutoburgiensi saltu und damit das dortige Schlachtengeschehen vor 2000 Jahren nirgendwo anders als in Lippe zu verorten sei, ist der Landesverband Lippe, aber eigentlich auch jeder geschichts- und heimatbewusste Lipper selbst für alles, was mit Varus und Arminius/Hermann zusammenhängt, höchst sensibilisiert kampf- und opferbereit. Das Lippische Landesmuseum in Detmold lebt in weiten Bereichen von diesem Geist.

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Vgl. die Europarats-Ausstellungen ‚1648 – Krieg und Frieden in Europa‘ in Münster und Osnabrück 1998 mit ihren drei Begleitbänden Krieg und Frieden (1998). Vgl. Ausstellung ‚Kunst und Kultur der Karolingerzeit. Karl der Große und Papst Leo III. in Paderborn‘ 1999 in Paderborn (Kaiserpfalz/Diözesanmuseum) und den dreibändigen Katalog Karolingerzeit (1999).

HEINZ-GÜNTHER HORN

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Vgl. Ausstellung ‚805: Liudger wird Bischof. Spuren eines Heiligen zwischen York, Rom und Münster‘ 2005 im Stadtmuseum Münster mit einem entsprechenden Katalog Liudger (2005). Vgl. Roots (2006). Dazu auch: Horn (2006).

Dann ist da noch der Landschaftsverband Westfalen-Lippe, eine kommunale Selbstverwaltungskörperschaft in der Nachfolge der alten preußischen Provinz Westfalen, der unter anderem die Landschaftliche Kulturpflege im Auftrage des Landes Nordrhein-Westfalen obliegt. Er unterhält in Wahrnehmung dieser breit gef ächerten Aufgabe u.a. das Westf älische Museum für Archäologie in Herne und das Römermuseum in Haltern, aber auch das Münsteraner Amt für die Bodendenkmalpflege in Westfalen-Lippe, zu dessen herausragenden Schwerpunkten die archäologische Erforschung des ehemaligen Germanien vom Beginn der römischen Okkupation im letzten Jahrzehnt des 1. Jahrhunderts v. Chr. bis zum Ende des Römerreiches um die Mitte des 5. Jahrhunderts n. Chr. gehört. Seine Ausgrabungen in Römerlagern wie Haltern, Oberaden oder Anreppen an der Lippe oder auch in germanischen Siedlungen wie Soest-Ardey, Bielefeld-Sieker oder Bad Salzuflen-Gastrup stehen für viele. Bei näherer Betrachtung der Amtsaktivitäten und deren Ergebnisse wird deutlich, wie wenig archäologisch Verlässliches wir gerade über die Jahre kurz vor 9 n. Chr. und danach – sagen wir einmal – bis 16 n. Chr., dem von Kaiser Tiberius gesetzten Ende der römischen Germanienfeldzüge und der endgültigen Festlegung der nördlichen Grenze des Imperium Romanum entlang des Rheins wirklich wissen. Dies sind bzw. waren gleichsam die nordrhein-westf älischen ‚Kraftfelder‘, die auf das Vorhaben, das Varus-Jahr 2009 mit einer Reihe anlassbezogener Ausstellungen und auch anderer Veranstaltungen zu begehen, eingewirkt haben bzw. einwirken. In Niedersachsen gab es dem vergleichbar eigentlich nur eines, aber das hatte es im wahrsten Sinne des Wortes ‚in sich‘: Kalkriese bei Bramsche. Trotz durchaus bedenkenswerter wissenschaftlicher Einwände ist es dort der Varusschlacht im Osnabrücker Land gGmbH – Museum und Park Kalkriese seit Ende der 1980er Jahre gelungen, durch ein – wie ich meine – fast ausschließlich touristisch ausgerichtetes Marketing bundes-, ja europaweit im Bewusstsein der breiten Öffentlichkeit den Platz, an dem Varus mit seinen Legionen von den Germanen unter der Führung des Arminius im Jahre 9 n. Chr. vernichtend geschlagen wurde, zweifelsfrei für sich zu reklamieren. Dabei lehren die Befunde von Kalkriese zunächst einmal nur eines: So und nicht anders sieht heute archäologisch ein antiker Schlachtplatz aus.7 Das aber ist unter Vermarktungsgesichtspunkten natürlich zu wenig. Deshalb war davon auszugehen, dass man in Kalkriese die Chance, die in der zweitausendsten Wiederkehr des Schlachtenjahres liegt, begreifen und auch ergreifen würde. Gleichwohl kamen die ersten Initiativen, 2009 in Erinnerung an die Schlacht im Teutoburger Wald im Jahre 9 n. Chr. als ‚Varus-Jahr‘ feierlich zu gestalten, nicht von dort, sondern – wie sollte es auch anders sein? – aus Lippe. Im Schatten des Hermannsdenkmals hatte sich eine Gruppe – ich will sie einmal ‚engagierte Heimatforscher/-innen‘ nennen – daran gemacht, in ständiger Reibung mit Kalkriese nicht nur auf eigene Faust den rund 700 Lokalisierungen der Varussschlacht durch eine recht freizügige Interpretation verschiedener nach Einsatz eines Metalldetektors aufgelesener Metallfunde (u.a. der Deckel einer Taschenuhr aus dem 19. Jahrhundert, der mal ein römischer Schwertscheidenbeschlag, mal eine fragmentierte Phalera sein sollte) eine weitere hinzuzufügen,8 sondern auch der amtlichen Bodendenkmalpflege öffentlich Untätigkeit, Unvermögen und Gleichgültigkeit im Zusammenhang mit der Vorbereitung auf das ‚Jubeljahr‘ vorzuwerfen und massiv die Politik zum Handeln aufzufordern.

7

Zum Für und Wider mag hier genügen: Kehne (2008). Zuvor auch schon Schwarzenberg (2007). Zur Schlachtplatzarchäologie auch: Rost (2009).

8

So beispielsweise Bökemeier (2003). Zu den kaum mehr überschaubaren Versuchen, den Ort der Varusschlacht zu verorten: Berke (2009).

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Es waren dann auch Politiker aus Lippe, die 2001 im Kulturausschuss des Landtages von Nordrhein-Westfalen den Antrag einbrachten, im Hinblick auf das Varus-Jahr – so hieß 2009 damals schon – Mittel für eine gezielte Suche nach dem ‚wahren‘ Ort der Varusschlacht im nordrhein-westf älischen Raum, genauer gesagt: im Lippischen bereitzustellen. Seinerzeit bedurfte es schon vieler Worte und der geballten Überzeugungskraft des zuständigen Ministeriums, um zu verhindern, dass dieser unsinnige Antrag eine Mehrheit fand. Als die lippische pressure-group auch noch den Ministerpräsidenten von Nordrhein-Westfalen mit entsprechenden Eingaben zu traktieren begann und das Ganze aus dem Ruder zu laufen drohte, weil sich nun auch noch die Stadt Detmold als lippisches Zentrum mit den üblichen kommunalen Vorstellungen eines großen Stadtfestes mit allem kirmesähnlichen Drum und Dran anlässlich des ‚runden‘ Gedenkens an die Schlacht im Teutoburger Wald zu Wort meldete, war es höchste Zeit für das seinerzeitige Ministerium für Städtebau und Wohnen, Kultur und Sport (das heutige Ministerium für Bauen und Verkehr) von Nordrhein-Westfalen, sich gleichsam an die Spitze der Bewegung zu setzen und als Moderator zu agieren. Daraufhin wurde zunächst einmal – das war Mitte 2002 – der Landschaftsverband Westfalen-Lippe mit seinen Kultureinrichtungen, insbesondere dem Römermuseum in Haltern und dem Amt für Bodendenkmalpflege angehalten, das Jahr 2009 als ‚Varus-Jahr‘ durch politische Beschlüsse und eine entsprechende Öffentlichkeitsarbeit für sich zu reklamieren und damit das Thema offiziell zu ‚besetzen‘. Das hat vor allem das Management von Kalkriese überrascht. Wenig später – 2003 – kam es dann auf Einladung des Ministeriums in Düsseldorf zu ersten vorbereitenden Gesprächen mit dem Landschaftsverband Westfalen-Lippe, dem Landesverband Lippe und dem Kreis Lippe, die eigentlich ziemlich einvernehmlich zu folgenden Feststellungen bzw. Vereinbarungen führten: 1.) Die Varusschlacht im Jahre 9 n. Chr. zählt zu den wenigen auch für Nordrhein-Westfalen relevanten Daten der Welt(!)geschichte; an sie durch entsprechende Veranstaltungen 2000 Jahre danach angemessen zu erinnern ist von hohem Landesinteresse und eine wichtige Aufgabe der Landesarchäologie. 2.) Das Ereignis sollte deshalb im Jahre 2009 in Nordrhein-Westfalen in Haltern und Detmold im Mittelpunkt zweier großer Ausstellungen stehen. Man ging davon aus, das niedersächsische Kalkriese als dritten Ausstellungsort und damit zu einer länderübergreifenden Kooperation gewinnen zu können. 3.) In diesem Falle sollten – jeweils auf den Ort bezogen – in Haltern das Thema ‚Römisches Imperium und die Geschichte der Germanien-Feldzüge‘ (davon blieb später nur noch ‚Imperium‘ übrig), in Kalkriese das Schlachtengeschehen im Jahre 9 n. Chr. (das Thema wurde dann allmählich und vermutlich nicht gerade zu seinem Vorteil auf weitere ‚Konflikte‘ zwischen Römern und Germanen in späterer Zeit ausgeweitet) und in Detmold schließlich das Thema ‚Mythos Varusschlacht‘, also die Rezeptionsgeschichte des Varus/Arminius/Hermann-Stoffes durch die Jahrhunderte dargestellt werden. 4.) Die vom Land Nordrhein-Westfalen gewünschte Länder und Institutionen übergreifende Kooperation sollte zwischen dem Landschaftsverband Westfalen-Lippe, dem Landesverband Lippe und der Varusschlacht im Osnabrücker Land gGmbH – Museum und Park Kalkriese vertraglich geregelt werden. Dabei ging es vor allem um die Abstimmung der einzelnen Vorhaben und deren Vermittlung bzw. um ein gemeinsames Marketing. 5.) In Vorbereitung des Varus-Jahres 2009 sollten ab sofort Mittel für die wissenschaftliche Aufarbeitung sogenannter Altgrabungen und Fundkomplexe bereitgestellt werden, die für die Themen der einzelnen (nordrhein-westf älischen) Ausstellungsvorhaben, insbesondere für die Abfassung fundierter

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Katalogbeiträge von Bedeutung wären. Das Land Nordrhein-Westfalen, der Landschaftsverband Westfalen-Lippe und der Landesverband Lippe erklärten sich bereit, hierfür über einen Zeitraum von fünf Jahren Forschungsmittel in Höhe von 150000 r pro Jahr, hochgerechnet demnach insgesamt 750000 r, zur Verfügung zu stellen. Das war – auch für nordrhein-westf älische Verhältnisse – ein ordentlicher ‚Schluck aus der Pulle‘. Vor allem das hartnäckige Insistieren des Landes Nordrhein-Westfalen auf einer Kooperation mit der Varusschlacht im Osnabrücker Land gGmbH – Museum und Park Kalkriese sorgte in der Folgezeit – na, wo schon? – in Lippe für Irritation und Verärgerung.9 Erneut erreichten bittere Klagen die nordrhein-westf älische Landesregierung dergestalt, dass – ‚Mythos Varusschlacht‘ für Detmold ein „eher mageres, blutloses und in der Mottenkiste vergilbtes Thema“ sei (man wollte Archäologisches, und sei es auch nur das nun wirklich nicht umwerfende Keramikmaterial aus den germanischen Siedlungen des Umlandes), – durch die Verortung der Varusschlacht in Kalkriese und die Sanktionierung dieser „höchst wackeligen, vornehmlich aus der Professionalität zum touristischen Event heraus begründeten Theorie“ durch den geplanten Ausstellungsreigen der Region Lippe, deren Tourismus erst mit der Arminius-Tradition wirklich entstanden ist und infolge des Denkmals (sc. Hermannsdenkmals) immer noch darauf beruht, großer Schaden zugefügt werde, – die „unangemessene, sogar mit einem Anflug kollaborativer Zusammenarbeit behaftete Kooperation mit Kalkriese auf Jahrzehnte wissenschaftlichen und/oder wirtschaftlichen Schaden für die Region Ostwestfalen-Lippe anrichte“, – die Fürsorge des Landes Nordrhein-Westfalen für Kalkriese unter diesem Aspekt unverständlich sei („Mögen doch die Niedersachsen eigene Anstrengungen unternehmen – das kann dem Ereignis 2009 nur gut tun“), – der Beschluss, im Vorfeld des Varus-Jahres 2009 auf der Suche nach dem Schlachtfeld keine gezielten, von Landesseite geförderten Ausgrabungen in Lippe durchzuführen, außerordentlich bedauert werde. Dies sind wenige und dazu kurze Auszüge aus Schreiben, die in den Jahren 2003/2004 die nordrhein-westf älische Landesregierung in Düsseldorf erreichten.10 Vor Ort entwickelte sich das Heimatland Lippe, die Zeitschrift des Lippischen Heimatbundes und des Landesverbandes Lippe, zu einer Plattform und zu einem Kampfblatt aller Enttäuschten, die unter dem Motto ‚Fehlstart in Lippe‘ (2003) selbst vor diffamierenden Äußerungen gegen die amtliche Bodendenkmalpflege und deren Repräsentanten nicht halt machten,11 so dass gelegentlich das Ministerium einschreiten musste. Gleichwohl kam es 2006 zu einer Kooperationsvereinbarung zwischen den Veranstaltern der drei Varus-Ausstellungen bzw. deren Trägern, d.h. dem Landschaftsverband Westfalen-Lippe, der Varusschlacht im Osnabrücker Land gGmbH – Museum und Park Kalkriese, dem Landesverband Lippe und dem Kreis Lippe.12 Zuvor waren die hierfür erforderlichen politischen Beschlüsse eingeholt worden. 9

Hier taten sich vor allem der 2004 gegründete Verein Arminiusforschung e.V. (Bielefeld) und zahlreiche seiner Mitglieder hervor. Zuvor auch schon der Naturwissenschaftliche und Historische Verein für das Land Lippe e.V., Ortsverein Lage: vgl. W. Lippek, Rundmail „To whom it may concern!“ vom 22. 11. 2003. Dazu ein Nachtrag vom 6. 12. 2003 mit dem Betreff: Vermeidung von Fehlentscheidungen politischer Gremien aufgrund von Fehlurteilen durch Fachämter, denen die wissenschaftliche Qualifikation im Detail zur „Kalkrieser

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These“ / dem Anspruch der Kalkrieser auf die Varusschlacht fehlt. Die besagten Schreiben befinden sich in den entsprechenden Akten des Ministeriums für Bauen und Verkehr des Landes Nordrhein-Westfalen in Düsseldorf. Vgl. Schäferjohann-Bursian (2003). Dazu u.a. die Erwiderungen von Bérenger (2003) oder Springhorn, Treude u. Zelle (2003). Die Kooperationsvereinbarung wurde am 9. 2. 2006 abgeschlossen.

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In dieser Kooperationsvereinbarung einigte man sich zunächst einmal auf die generellen Themen und die headlines der drei Ausstellungen: – ‚Das Imperium‘ im Westf älischen Römermuseum in Haltern am See, – ‚Der Konflikt‘ im Varusschlacht im Osnabrücker Land gGmbH – Museum und Park Kalkriese, – ‚Der Mythos‘ im Lippischen Landesmuseum des Landesverbandes Lippe in Detmold. Dazu sollte im Rahmen eines archäologischen Experimentes ein römisches Kriegsschiff nachgebaut werden – sofern sich hierfür Sponsorengelder auftreiben ließen –, das im Vorfeld der Ausstellungen die ehemaligen römischen Wasserwege befahren sollte. Dass es später (April 2009) dann auch auf der Spree in Berlin gerudert wurde, tut dem Ursprungsgedanken keinen Abbruch, zeigt aber den Grad seiner Vermarktung.13 Ansonsten verständigte man sich in der Kooperationsvereinbarung auf eine größtmögliche Abstimmung und Zusammenarbeit bei allen gemeinsamen Vorhaben, wie beispielsweise: – Eröffnungs- und Abschlussveranstaltungen, – wissenschaftlichen Kongressen und Verbandstagungen, – dem zentralen Veranstaltungsmanagement, – dem Marketing, – der Presse- und Öffentlichkeitsarbeit, – Leihanfragen und – der Einwerbung von Drittmitteln. Für die Realisierung der drei Ausstellungsvorhaben standen – soweit sich das momentan sagen lässt – insgesamt ca. 12,0 Millionen r zur Verfügung (Haltern ca. 4,5 Millionen r, Kalkriese ca. 3,3 Millionen r und Detmold ca. 4,2 Millionen r ). Die Finanzierung basierte im Wesentlichen auf: – Eigenmitteln, – Einnahmenerwartungen aus Eintrittsgeldern, Katalogverkäufen und Shopumsätzen sowie – Drittmitteln (Landesförderungen, Stiftungsmitteln, Sponsering etc., ca. 1/3 der Kosten).14 Und was haben nun die einzelnen Ausstellungsorte nach Abzug der Allgemeinkosten, die anteilig umgelegt wurden (insgesamt ca. 2,3 Millionen r ), mit diesem Geld, also rund 10,0 Millionen r, gemacht? Alle haben damit, das nimmt nicht weiter wunder und muss auch so sein, zunächst einmal ein Ausstellungsbüro eingerichtet und die üblichen Ausstellungsmodalitäten (wissenschaftliche Beiräte, Reisen, Transporte, Kurierdienste, Versicherungen etc.), vor allem aber die Ausstellungspräsentation, für die in allen Fällen professionelle Gestalterbüros in Anspruch genommen wurden, finanziert. Für die Einwerbung von Drittmitteln wurde eine eigene Hochglanz-Broschüre gedruckt.15 Im Ergebnis zeigen sich jedoch ansonsten unterschiedliche Akzentuierungen und Schwerpunkte: So steht in Haltern, wo man eine multifunktionale Stadthalle mit überall präsenter Technik erst einmal in einen Ausstellungsraum umgestalten musste, eindeutig die kunstvolle Inszenierung und 13

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Vorbild war das Wrack 1 des römischen Schiffsfundes von Oberstimm. Der in Kooperation mit dem Historischen Seminar der Universität und etlichen anderen Institutionen gefertigte und auf VICTORIA getaufte Nachbau (Kosten ca. 340000 r) lief am 30. 5. 2008, also ca. ein Jahr vor Eröffnung der Ausstellung, unter starker Präsenz der Medien in Hamburg vom Stapel. Dazu auch: Schäfer (2009). In den Abschlussberichten (s. Anm. 20) werden Kosten von insgesamt 12693000 r (1850000 r durch Erlöse, 5000000 r Drittmittel und 5843000 r Eigenmittel) ausgewiesen.

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Vgl. die Broschüre Unschlagbar – Strategien für die Varusschlacht. Informationen für Förderer und Sponsoren. Imperium Konflikt Mythos; 2000 Jahre Varusschlacht. In: LWL-Römermuseum, Varusschlacht im Osnabrücker Land gGmbH – Museum und Park Kalkriese. Lippisches Landesmuseum Detmold (Haltern am See 2007) mit dem plakativen Hinweis auf die Schirmherrschaften der Frau Bundeskanzlerin A. Merkel, der beiden Ministerpräsidenten von Nordrhein-Westfalen, Dr. J. Rüttgers und Chr. Wulff, sowie des Präsidenten des Europäischen Parlamentes Prof. Dr. H.-G. Pöttering.

Präsentation der Exponate im Vordergrund. Raumzuschnitte lenken den Besucher, die jeweilige Gestaltung und Atmosphäre der Räume berührt ihn, erzeugt Emotionalität und bisweilen auch Schauder. Alles ist – die hohe Kunst, die Qualität und Einzigartigkeit der Ausstellungsstücke gebietet das – erkennbar edel (und auch teuer). In Kalkriese hat man im Varus-Jahr 2009 die Gunst der Stunde und den öffentlichen bzw. auch privaten Geldsegen dazu genutzt, nicht nur ein neues Empfangsgebäude mit integriertem Wechselausstellungsraum zu errichten, sondern auch die Dauerausstellung im alten Museum zu erneuern.16 Der unbefangene Besucher kann sich dort im Augenblick wohl kaum des Eindrucks erwehren, dass dadurch die Mittel für eine aufwendigere und wohl auch fesselndere Gestaltung der eigentlichen Sonderausstellung ‚Konflikt‘ – ohnehin auf erstaunlich kleiner Fläche präsentiert – am Ende nicht mehr reichten.17 Auch in Detmold wurde das Museum wegen der ‚Mythos‘-Ausstellung erweitert; allerdings standen dort zum Umbau der translozierten ehemaligen Zehntscheune des Klosters Falkenhagen Sondermittel in Höhe von 1,0 Millionen r zusätzlich zur Verfügung, so dass diese Baumaßnahme nicht notwendigerweise den Ausstellungsetat schmälern musste. Dafür stellten die ungewöhnlichen Raumverhältnisse im Lippischen Landesmuseum die Ausstellungsmacher und das Gestaltungsbüro vor hohe und teilweise auch kostenintensive Anforderungen, zumal hier in einem ungleich höheren Maße als anderswo des archäologischen und zugleich archivalischen Charakters des Themas wegen dreidimensionale Exponate mit sogenannter ‚Flachware‘ zusammengebracht werden mussten. Auff ällig war das frühe gemeinsame Marketing, das die Varusschlacht und die Ausstellungen zu diesem Thema, lange bevor sie eröffnet waren, gespannt und in froher Erwartung ‚in aller Munde‘ sein ließ und sich auch in einer in der Summe nicht mehr überschaubaren Flut von Pressemitteilungen und -artikeln niederschlug.18 Die Ausstellungen sind Mitte Mai 2009 eröffnet worden.19 Natürlich reizt es, schon so etwas wie eine erste Bilanz zu ziehen, obgleich es bis zum endgültigen Finale noch mehr als das Doppelte an Ausstellungstagen hin ist. Haben sich die doch beträchtlichen Investitionen an Intellekt, manpower und öffentlichem wie privatem Geld gelohnt, sind die Ausstellungen erfolgreich, könnte man also bereits jetzt fragen. Aber was ist der Gradmesser des Erfolges oder Misserfolges? Die Medienresonanz? Die Besucherzahlen? Die Politikerpräsenz? Die gesellschaftliche Diskussion, die sie entfachen? Die Steigerung des Kulturtourismus? Der wissenschaftliche Ertrag? Und was von alledem ist wirklich nachhaltig bzw. von Dauer? Also von Bedeutung über den Tag, über das Jahr 2009 hinaus?20

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Die mit Blick auf das Jubiläumsjahr getätigten Investitionen hatten ein Volumen von mehr als 5,3 Mio r . Vgl. Wirtschaftsfaktor 2000 Jahre Varusschlacht (s. Anm. 20). In diesem Zusammenhang überrascht, dass von den drei Ausstellungspräsentationen ausgerechnet die in Kalkriese mit dem durchaus angesehenen ‚Red Dot Communication Design Award‘ ausgezeichnet wurde. Das Gesamtmarketingbudget lag bei 1,5 Mio r . Vgl. Wirtschaftsfaktor 2000 Jahre Varusschlacht (s. Anm. 20). Zur Presseresonanz s. Anm. 27–30. Da dieser Vortrag bereits am 13. Juli 2009 gehalten wurde, keine zwei Monate nach der Eröffnung der Ausstellungen, können die nachfolgenden Überlegungen nichts anderes als eine Zwischenbilanz sein. Das Lippische Landesmuseum Detmold legte am 3. 2. 2010 der Verbandsversammlung des Landesverband Lippe für den Ausstellungsteil MYTHOS einen

umfassenden Abschlussbericht vor (vgl. ebenfalls die Evaluierung durch die Lippe Tourismus & Marketing AG „2000 Jahre Varusschlacht im ländlichen Raum am Beispiel der Destination ‚Land des Hermann/Teutoburger Wald‘. Evaluation des Varusjahres 2009“, 2010). Dies tat auch das LWL-Römermuseum Haltern am 30. 6. 2010 für IMPERIUM in der Sitzung des Kulturausschusses der Landschaftsversammlung WestfalenLippe am 30. 6. 2010. Zum Ausstellungsteil KONFLIKT in Kalkriese vgl. insbesondere die Analyse der IHK Osnabrück-Emsland und des Tourismusverbandes Osnabrücker Land e.V. und Varusschlacht im Osnabrücker Land – Museum und Park Kalkriese GmbH „Wirtschaftsfaktor ‚2000 Jahre Varusschlacht‘. Studie zu regionalökonomischen Effekten der Ausstellung in Museum und Park Kalkriese“ (Kalkriese 2010).

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Die Politiker hatten bereits ihre Bühne und ihren Auftritt. Während der drei Eröffnungsfeierlichkeiten beschworen bzw. lobten sie vor zahlreichen Fernsehkameras und Mikrofonen sowie einer Vielzahl von Vertretern der schreibenden Zunft Heimat, Freiheitsdrang und Widerstand, sahen Schicksalsstunden und Etappen auf dem Weg hin zur Einigung Deutschlands und Europas. Dabei identifizierten sie sich als Bundeskanzlerin, Ministerpräsidenten, Landesdirektor oder Verbandsvorsteher derart mit dem Ereignis und seinem Begängnis, dass sie zumindest an zwei Ausstellungsorten – Kalkriese und Detmold – gänzlich vergaßen, auch den eigentlichen ‚Machern‘ zu danken. Der Präsident des Straßburger Europaparlaments – auch er wie die Bundeskanzlerin und die beiden Ministerpräsidenten Niedersachsens und Nordrhein-Westfalens Schirmherr des Ausstellungsprojektes – ließ es sich nicht nehmen, immer wieder auf die Europawahl und die Notwendigkeit, am 7.6. seine Stimme abzugeben, hinzuweisen. Zudem versprach er dafür zu sorgen, dass Arminius in dem – analog zu den ‚Museen der deutschen Geschichte‘ in Bonn und Berlin – in Brüssel geplanten ‚Haus der europäischen Geschichte‘ einen herausragenden Platz einnehmen werde. Dass dann die Engländer, die Franzosen, die Niederländer, aber auch die Belgier, die Spanier oder die Italiener – um nur wenige zu nennen – mit ganz anderen ‚Freiheitshelden‘ kommen dürften, war ihm wohl in der Weihe der Stunde nicht so bewusst.21 Ich bin mir ziemlich sicher, dass den Politikern/-innen der Ausstellungszyklus, sein Inhalt und sein Anliegen nicht in allzu langer Erinnerung bleiben werden. Schon am Tage nach den Eröffnungen waren sie ja bereits anderswo gefordert. Für die Entscheidungsträger in Politik und Verwaltung, aber auch für zahlreiche andere gesellschaftliche Gruppen zeigt sich der Erfolg von Ausstellungen an hohen Besucherzahlen. Oft ist das auch für die breite Öffentlichkeit das einzige Beurteilungskriterium. Würden wir uns dem anschließen, dann dürften wir schon jetzt von einem Erfolg der Präsentationen in Kalkriese, Detmold und Haltern ausgehen: Ende Juni 2009 – also ca. sechs Wochen nach Eröffnung der Ausstellungen – zählte Haltern den 50000. Besucher, Kalkriese behauptete, bis dahin bereits 75000 Besucher gehabt zu haben, vereinnahmte dabei aber u.a. die mehr als 15000 Besucher, die am 12./13. Juni 2009 zum Spektakel der ‚Römertage‘ auf das Gelände gekommen waren, von denen – so konnte man beobachten – allerdings die wenigsten sich für die Sonder- und auch Dauerausstellung interessierten. Dagegen machen sich die knapp 30000 Besucher, die bis Ende des letzten Monats den Weg in die Detmolder Ausstellung gefunden haben, etwas bescheidener aus, sind aber angesichts der recht ungünstigen Verkehrsanbindung Detmolds an die nordrhein-westf älischen und niedersächsischen Ballungszentren doch nicht so schlecht, zumal die Lipper selbst bislang nur knapp 40 % der Ausstellungsbesucher ausmachen, die Ausstellung also für sich selbst offenbar noch nicht entdeckt zu haben scheinen. Auf der Basis dieser Zahlen kann man wohl davon ausgehen, dass am Ende über 500000 Menschen die drei Ausstellungen besucht haben werden, dabei dürfte dann jeder der drei Ausstellungsorte die Erwartungen bei weitem übertroffen haben.22 Vermutlich machen sich hier die gemeinsame Marketing-Strategie und sogenannten ‚Kombi-Karten‘ bemerkbar.

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Zu diesem Aspekt z.B. Löttel (2009). Nach den vorliegenden Abschlussberichten (s. Anm. 20) wurden insgesamt ca. 480000 Besucher gezählt. Davon entfielen nach eigener Zählung auf Haltern ca. 156000, auf Kalkriese ca. 220000 und auf Detmold ca. 99500

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Besucher. Die Ausstellungsteile hatten unterschiedliche Laufzeiten. Sie eröffneten alle am 15. 5. 2009. Haltern schloss am 11. 10. 2009, Detmold am 25. 10. 2009 und Kalkriese erst am 10. 1. 2010.

Vielleicht aber liegt das große Publikumsinteresse auch darin begründet, dass die Varus-Ausstellungen im Grunde in der Tradition vieler früherer Ausstellungen in Deutschland – etwa über die Staufer, die Preußen, die Alamannen, die Bajuwaren oder auch die Wittelsbacher – stehen, die darauf abzielten, nach der eigenen Vergangenheit, dem Spezifischen von Heimat zu fragen bzw. Identität zu stiften, und die allesamt ebenfalls recht erfolgreich waren.23 Zusammen mit den unerwartet hohen Erlösen aus den Katalog- und Shopverkäufen sichern die genannten Besucherzahlen bei einem kalkulierten Eintritt von durchschnittlich 6 r pro Person für die Veranstalter die finanzielle Grundlage des Ausstellungsprojektes in seiner Gesamtheit endgültig ab.24 Ein Restrisiko oder eine Deckungslücke wird es demnach wohl nicht geben. An diesen Besucherzahlen lässt sich aber auch ein Kulturtourismus ablesen, den es ohne die in Rede stehenden Ausstellungsprojekte selbst in Kalkriese mit seiner aggressiven ‚Schlachtplatz-Vermarktung‘ so nicht gegeben hätte. Verlässliche Angaben sind derzeit nicht zu erhalten. Gleichwohl spürt man bei Besuchen in Haltern und Detmold, wie stark vor allem das Dienstleistungsgewerbe, die Gastronomie und die Hotels von den dortigen Ausstellungen und dem umfangreichen Bei- bzw. Rahmenprogramm profitieren.25 Auch das ist auf der Habenseite zu verbuchen. Dabei ist diese Erkenntnis allerdings nun wirklich nicht neu. Dass Kulturereignisse – erst recht sogenannte ‚Events‘ – wichtige Wirtschaftsfaktoren darstellen, hat sich auch andernorts – und dazu mit entsprechenden Zahlen belegt – erwiesen. Die hohen Besucherzahlen können sicherlich auch dahingehend interpretiert werden, dass die Ausstellungsmacher ihren Bildungsauftrag erfüllen bzw. erfüllt haben – dies umso mehr, als sie nicht nur historische Fakten zu vermitteln, sondern auch Mythenbildungen zu hinterfragen und aufzulösen versuchen. In dem bunten, zumeist durchaus anspruchsvollen Bei- und Rahmenprogramm hatte und hat die Bevölkerung weitere kulturelle Erlebnisse, die ihr andernfalls versagt geblieben wären. Denn wer würde sich normalerweise mit Heinrich von Kleists oder Christian Dietrich Grabbes Die Hermannsschlacht befassen oder sich etwa Max Bruchs Arminius-Oratorium bzw. Mitsch Kohns Varus-Symphonie anhören?26 Besonders überrascht hat zweifellos das Medien-Echo. Ich hatte eingangs schon eher beiläufig darauf verwiesen. Weit im Vorfeld der Ausstellungen in Haltern, Kalkriese und Detmold befassten sich selbst Magazine und Tageszeitungen, hinter denen kluge oder auch politisch interessierte Köpfe stecken sollen, mit der Schlacht im Teutoburger Wald vor 2000 Jahren, fragten sich, ob dies die Geburts-

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Die Stuttgarter Ausstellung ‚Die Zeit der Staufer‘ 1977 hatte bei vergleichsweise kurzer Laufzeit ca. 675000 Besucher. Der vierbändige Katalog wurde annähernd 150000 mal verkauft – ein bislang in Deutschland nie wieder erreichter Besucher- und Verkaufsrekord. Dies war damals dem Spiegel eine eigene Geschichte wert (vgl. Der Spiegel Nr. 23, 1977). Es wundert nicht, dass jetzt 2010/2011 – also gut 30 Jahre danach – das Thema wieder aufgegriffen wird: vgl. Ausstellungsprojekt ‚Die Staufer und Italien – Drei Innovationsregionen im mittelalterlichen Europa‘. Die Ausstellung ‚Die Bajuwaren‘ in Rosenheim besuchten 1988 ca. 180000 Besucher. Die Wittelsbacher-Ausstellungstrilogie 1980 in Landshut und München, der Der Spiegel (Nr. 27/1980) eine ausführliche Rezension des Schriftstellers Carl Amery unter dem Titel „Rote Fäden im weißblauen Labyrinth“ widmete, wurde von ca. 480000 Menschen besucht.

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Die Berliner Preußen-Ausstellung 1981, gleichsam eine ‚Fingerübung‘ für das spätere Museum der Deutschen Geschichte/Deutsche Historische Museum, zählte ca. 550000 Besucher. Zur Alamannen-Ausstellung 1997 in Stuttgart (über 150000 Besucher): vgl. das umfangreiche Begleitbuch Alamannen (1997). An den Ausstellungsorten in Haltern, Kalkriese und Detmold wurden zusammen 3322 Einzelkataloge und 4833 Schuber verkauft. Die inzwischen vorliegenden Abschlussberichte bzw. Analysen geben hierüber detaillierter Auskunft: s. Anm. 20. Siehe dazu etwa die Veranstaltungskalender der Lippe Tourismus & Marketing (Hermannbüro) AG Das internationale Kulturprogramm Hermann 2009 oder auch der VARUSSCHLACHT im Osnabrücker Land GmbH.

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stunde der Deutschen oder gar der Deutschen Nation war und vieles andere mehr.27 Prisma, ein nordrhein-westf älisches Wochenmagazin mit einer Auflage von 360000, berichtet – stets unter Hinweis auf die Ausstellungen – als Fortsetzungsserie über die Varusschlacht.28 Jeder Fernsehsender, der etwas auf sich hielt, griff die seinerzeitigen Geschehnisse und das ‚Germanenthema‘ bisweilen in Mehrteilern zur ‚Prime-Time‘ auf.29 Keines der Wissenschaftsmagazine ließ es aus.30 Alle schienen im Rausch der Auseinandersetzungen zwischen Römern und Germanen, zwischen Varus und Arminius und deren Neudeutung und Neubewertung. Auch der Büchermarkt wuchs mit mehr als 40 Neuerscheinungen aus diesem Anlass beträchtlich; kaum ein Verlag, der nicht mit einer oder gar gleich mehreren Neuerscheinungen unterschiedlichster Kompetenz und Seriosität aufwartete.31 Bisweilen wurde das Thema Gegenstand eines mehr oder weniger gelungenen (meist historischen) Romans.32 Die Deutsche Post brachte am 4. Juni 2009 eine Sondermarke ‚2000 Jahre Varusschlacht‘ heraus. Sie ziert bereits Millionen von Briefen. Man ist geneigt, auch die in diesem Ausmaß unerwartete Resonanz des Varus-Jahres einen Erfolg zu nennen. Um dies auch mit einiger Berechtigung tun zu können, wird sich zeigen müssen, was davon mehr als nur ein von der Aktualität des Tagesgeschehens bestimmter ‚Aufmacher‘ war und über eine längere Zeit die Menschen interessiert und bewegt. Dabei will ich nicht verhehlen, dass auch so schon die öffentliche Aufmerksamkeit, das allgemeine Interesse an Geschichte, deren Erforschung und der Beschäftigung mit ihr, der Geschichtswissenschaft und ihren unterschiedlichen Repräsentanten 27

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Vgl. z.B. Die Zeit vom 30. 10. 2008: „Der Urmythos der Deutschen“; Der Spiegel Ausgabe 51 (15. 12. 2008): „Die Geburt der Deutschen. Vor 2000 Jahren: Als die Germanen das Römische Reich bezwangen“; Focus vom 2. 3. 2009: „Der Ursprung der Deutschen. 2000 Jahre Varusschlacht oder wie wir wurden, was wir sind“; Stern (Nr. 44 vom 22. 10. 2009): „2000 Jahre Varusschlacht. Archäologen entwerfen ein neues Bild unserer kriegerischen Vorfahren“. – Dazu auch: Lotta. Antifaschistische Zeitung aus NRW (Sommer 2009): „Mythos Varusschlacht. Die Erfindung der deutschen Nation“. Es wurden insgesamt 10 Folgen. – Laut Abschlussberichten (s. Anm. 20) gab es ca. 30000 Meldungen in den Printmedien und ca. 5000 Artikel in Online-Medien. Vgl. etwa die vierteilige ZDF-Dokumentationsreihe Die Germanen in Terra X (2009) oder auch die zweiteilige Serie in ARD und ZDF Kampf um Germanien. Dazu zählt auch die Reihe Sturm über Europa, in der sich eine Sendung ausführlich mit der Varusschlacht befasste. Über die Lokalisierung, den Verlauf und die Bedeutung der Varusschlacht, aber auch über die ihrer Protagonisten Varus und Arminius für Deutschland und Europa wurde auch in ernsthaften Talkshows immer wieder diskutiert. Den Abschlussberichten (s. Anm. 20) ist zu entnehmen, dass es insgesamt über 350 Fernseh- und Radiobeiträge gab. Etwa Archäologie in Deutschland mit dem von R. Wiegels herausgegebenen Sonderheft Plus 2007 „Varusschlacht – Wendepunkt der Geschichte?“; Damals 5, 2009 „Varus contra Arminius. Roms Kampf gegen die ‚Barbaren‘“; Geo Epoche Nr. 34, 12/08 „Die Germanen“; National Geographic Nov. 2007 „Arminius schlägt Varus. Kampf um Germanien“; P.M. History Special (Juni 2009) „Im Reich der Kelten und Germanen – 2000 Jahre Schlacht im Teutoburger Wald“.

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Etwa: Beck-Verlag: G. Moosbauer, Die Varusschlacht. Archäologie und Geschichte (München 2009), R. Wolters, Die Schlacht im Teutoburger Wald. Arminius, Varus und die römischen Germanen (München 2008); BertelsmannVerlag: T. Bendikowski, Der Tag, an dem Deutschland entstand. Die Geschichte der Varusschlacht (München 2008). Campen-Verlag: D. Husemann, Der Sturz des römischen Adlers. 2000 Jahre Varusschlacht (Frankfurt a. M. 2008); Deutscher Taschenbuch-Verlag (DTV): H. D. Stöver, Der Sieg über Varus. Die Germanen gegen die Weltmacht Rom (München 2009); Fischer-Verlag: R.-P. Märtin, Die Varusschlacht. Rom und die Germanen (Frankfurt a. M. 2008); Imhoff-Verlag: B. Götte, Die Varusschlacht. Die List des Arminius (Petersberg 2008); Klett-Cotta-Verlag: B. Dreyer, Arminius und der Untergang des Varus. Warum die Germanen keine Römer wurden (Stuttgart 2009); Kröner-Verlag: M. Sommer, Die Arminiusschlacht. Spurensuche im Teutoburger Wald; Propyläen-Verlag: C. Pantl, Die Varusschlacht. Der Germanische Freiheitskrieg (Stuttgart 2009); Reclam-Verlag; L. Walther (Hg.), Varus, Varus! Antike Texte zur Schlacht im Teutoburger Wald (Stuttgart 2008); Thorbecke-Verlag: H.-D. Otto, Die Schicksalsschlacht im Teutoburger Wald (Ostfildern 2009); Philipp von Zabern-Verlag: Varusschlacht im Osnabrücker Land. Museum und Park Kalkriese (Mainz 2009). So z.B. R. Gordian, Die Germanin (Mainz 2009); P. Harms, Arminius. Die Rückkehr (Berlin 2009); M. Hopp, Lübbings Varusschlacht (Kassel 2005); B. Löppenberg, Sigurd der Brukterer im Kampf gegen die Römer (Gelnhausen 2009); H. Multhaupt, Varus. Von Herodes in die Schlacht im Teutoburger Wald (Leipzig 2009); M. Römling, Signum – Die verratenen Adler (Münster 2009); U. Schmidt, Die List des Arminius Bd. 2: Der überlebende Legionär Gaius Flaminius berichtet (Frankfurt a. M. 2008).

gut tut. Bekanntermaßen gehört Klappern zum Handwerk, schafft Klappern Aufmerksamkeit und Wertschätzung. Das alles hat m.E. aber mit „Varus im 21. Jahrhundert und der kulturpolitischen Gestaltung des Varus-Jubiläums“ nur wenig zu tun. Nicht, dass ich mit dem bislang Vorgetragenen das Thema des heutigen Abends verfehlt hätte. Nein, das war schon gleichsam ‚aus dem Leben gegriffen‘. Ich bin aber zutiefst davon überzeugt, dass a) Varus – sieht man einmal von den Erinnerungen an ihn ab, die das Jahr 2009 offenbar deutschlandweit hat wecken können – im weiteren Verlauf des 21. Jahrhunderts keine Bedeutung mehr haben wird. Er, Arminius/Hermann und die Ereignisse des Jahres 9 n. Chr. bleiben wohl nur dort wirklich präsent, wo sie auch bislang schon das Selbstverständnis eines Ortes oder einer Region gestärkt haben und vermarktet wurden: in Kalkriese und im Osnabrücker Land, in Detmold und Lippe; und b) es – allen Beteuerungen zum Trotz – an keinem der drei Ausstellungsorte eine wirklich kulturpolitische, auf Verstetigung und Nachhaltigkeit angelegte Gestaltung des Varus-Jubiläums gegeben hat bzw. gibt. Dazu war alles zu ereignisfixiert, haben einfach gemeinsame Visionen, längerfristige Absprachen und Strategien gefehlt. In Kalkriese stand im Jubiläumsjahr fast ausschließlich das Bestreben insbesondere der Varusschlacht im Osnabrücker Land gGmbH – Museum und Park Kalkriese im Mittelpunkt, ein eingeführtes Markenzeichen – eben den aus ihrer Sicht zweifelsfreien Schlachtort des Jahres 9 n. Chr. – unbeschadet weiter zu vermarkten, wobei die kritische Auseinandersetzung mit der Quellenlage und der damit verbundene wissenschaftliche Abgleich, der möglicherweise zumindest zu einem Fragezeichen hinter der Verortung hätte führen können, außen vor blieben. Zweifel waren und sind in Kalkriese nicht erlaubt. Im Jubiläumsjahr ging und geht es dort hauptsächlich um eine Verstetigung des ‚Produktes‘ Varusschlacht durch bauliche Maßnahmen und Events, die in dieser Form aber auch zukünftig das Programm und die Öffentlichkeitsarbeit der Einrichtung bestimmen werden. In Detmold sorgten sich durchaus einflussreiche Teile der Öffentlichkeit, Verwaltung und Politik in der nach wie vor festen Zuversicht, dass die Varusschlacht nirgendwo anders als in OstwestfalenLippe stattgefunden hat, vorrangig um die lippische Identität und das lippische Ansehen. Die Ausstellungsmacher hatten es da schwer, in der Ausstellung andere, dem Land Lippe in den Augen so mancher unter Umständen abträgliche Facetten anzusprechen. So gab es anfangs Überlegungen, auf das Thema ‚Hermann, die Germanen und das Dritte Reich in Lippe‘, insbesondere seine Bedeutung im Wahlkampf von 1933, gänzlich zu verzichten.33 Wenn dies ‚kulturpolitische Gestaltung‘ heißt, dann war sie es dort, allerdings mit äußerst lokalem Bezug und ohne souveräne Weitsicht. Die Ausstellung in Haltern hatte – so betrachtet – die geringsten Konfliktpotenziale. Römische Reichskunst zu sehen, und das in Perfektion, dazu noch in Haltern, konnte in allen politischen und weltanschaulichen Lagern nur Zustimmung finden. Sieht man einmal davon ab, dass sich dadurch das Halterner Römermuseum endgültig in die Reihe ambitionierter und beachtenswerter Ausstellungsorte in Deutschland hineinkatapultierte oder seine Chancen auf die Förderung eines Archäologischen Parks auf dem Gelände des ehemaligen sogenannten Hauptlagers von Haltern durch das Land NordrheinWestfalen vergrößerte, kann man auch dies nicht einer wissentlich kulturpolitischen Gestaltung des Varus-Jubiläums zurechnen.

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Man befürchtete auch, das Thema werde erneut von der Rechten Szene adaptiert, was allerdings ohnehin nicht zu verhindern war. Vgl. z.B. Nation&Europa. Deutsche

Monatshefte 59. Jg. 2/2009: „Mit Arminius begann es: 2000 Jahre deutscher Freiheitskampf“. – Dazu u.a.: Losemann (2009); Lohmann u. Raabe (2009).

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Was also bleibt von dem dreiteiligen, länder- und institutionenübergreifenden Ausstellungsprojekt anlässlich der Varusschlacht vor 2000 Jahren, was mehr ist als die eindrucksvollen Kataloge im festen Schuber, die das derzeitige archäologische und historische Wissen – dazu noch in geballter Form – verfügbar halten, oder – ein zwar weit verbreitetes, auf lange Sicht jedoch eher punktuelles und strohfeuerartiges Medieninteresse, – eine öffentliche, allerdings auch nicht länger anhaltende Diskussion um ein wichtiges, aber keineswegs epochales Ereignis der deutschen und europäischen Geschichte, – der Glaube möglicherweise vieler geschichtsinteressierter Bürger und Bürgerinnen, jetzt endlich zu wissen, ‚wie die Römer und Germanen gehen‘, – die gelegentliche interdisziplinäre Auseinandersetzung mit dem Missbrauch des Themas, wie etwa das eintägige Kolloquium des Kölner NS-Dokumentationszentrums mit dem Titel ‚Die Erfindung der Deutschen – Rezeption der Varusschlacht und die Mystifizierung der Germanen‘,34 oder – schließlich die Zufriedenheit der örtlichen Politik, Touristiker, Gastronomen und Hoteliers?35 Ich wage keine Prognose; die Zeit wird erweisen müssen, ob sich durch die zahlreichen Veranstaltungen zum Varus-Jahr etwas in den Köpfen der Menschen bewegt bzw. verändert hat. Ich bin da allerdings eher skeptisch, denn ich gehöre zu jener Spezies von Historikern – ein Archäologe ist selbstredend auch ein solcher –, die davon überzeugt sind, dass man aus der Geschichte heraus zwar manches erklären, aber nichts lernen kann. So sehe ich – vom Kulturtourismus im weitesten Sinne einmal abgesehen – bis heute eigentlich erst einen wirklichen Gewinner: die Wissenschaft. Im Vorfeld des Varus-Jahres hat sie sich zumindest in Nordrhein-Westfalen mit den römischen Okkupationskriegen in augusteischer Zeit, den germanischen Stammes- und Siedlungsverhältnissen um die Zeitenwende und danach sowie den archäologischen und historischen Zeugnissen dazu in dem Gebiet zwischen Rhein und Weser so zielorientiert, intensiv und finanziell abgesichert wie nie zuvor beschäftigen können und es auch getan.36 Die in diesen Forschungsprogrammen erzielten, oft spektakulären Ergebnisse sind nicht nur in die Ausstellungen in Haltern und Detmold, aber auch in Kalkriese eingeflossen, sondern auch als z.T. bereits umfassend publizierte Grundlagen einer weitergehenden, vertiefenden Forschung von bleibendem Wert.37 Zudem gelang es der Geschichtsforschung in ihrer Gesamtheit wieder einmal mehr mit einem Thema, das offensichtlich aus den unterschiedlichsten Gründen die Menschen bewegt hat, auf breiter Front zu interessieren und zu mobilisieren sowie erneut ihre ‚Nützlichkeit‘ unter Beweis zu stellen. Gedenktage und Jubiläen historischer Daten kommen und gehen. Man kann ihnen nicht entgehen, noch weniger verhindern, dass sie gefeiert werden. Aber es muss sie auch geben. Häufig bieten sie 34 35 36

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Inzwischen liegt die Dokumentation dieser Tagung vor: Killguss (2009). Vgl. hierzu die Abschlussberichte und Analysen: s. Anm. 20. Ein erstes wissenschaftliches Kolloquium in Vorbereitung der im Varus-Jahr geplanten Ausstellungen fand unter dem Titel ‚Die nördlichen Mittelgebirge im Spannungsfeld römischer und germanischer Politik um Christi Geburt‘ am 17./18. 6. 2004 in Detmold statt. Diesem Zweck diente auch das Internationale Kolloquium ‚Rom auf dem Weg nach Germanien: Geostrategie, Vormarschstrassen und Logistik‘ vom 4.–6. 11. 2004 in Delbrück-Anreppen. Vgl. dazu die titelgleiche Dokumentation in: Kühlborn u.a. (2008). Die Halterner Aus-

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stellung IMPERIUM erhielt wesentliche Impulse durch das Internationale Kolloquium ‚Varus und seine Zeit‘ am 28./29. 4. 2008 in Münster. Eine erste wissenschaftliche Reflexion der Ausstellungen IMPERIUM KONFLIKT MYTHOS anlässlich des Varus-Jahres leistete der Osnabrücker Kongress ‚Rom – Imperium zwischen Widerstand und Interpretation‘ (14.–18. 9. 2009), der sich u.a. auch mit Fragen der Friedens- und Konfliktforschung in der Archäologie befasste. Vor diesem Hintergrund ist insbesondere der dreiteilige Ausstellungskatalog Imperium (2009), Konflikt (2009), Mythos (2009) mit seiner Vielzahl an wissenschaftlich fundierten Beiträgen zu den unterschiedlichsten Aspekten des Themas zu sehen.

allein die einmalige Gelegenheit, in seit langem schmerzlich verspürten Desideraten endlich weiterzukommen und Abhilfe zu schaffen: dort ein Neubau, hier eine Modernisierung, Verbesserungen der Infrastruktur, personelle Verstärkung oder auch die wissenschaftliche Aufarbeitung und Veröffentlichung alter Grabungsdokumentationen und deren Material- und Datenbergen. Gedenktage und Jubiläen sind wie ‚Treibsätze‘, als ‚Zielpunkte‘ setzen sie in Staat und Gesellschaft gewöhnlich einen ungeahnten, oft mit einem ‚Wir-Gefühl‘ und Euphorie gepaarten Gestaltungs- und Förderwillen frei. Sie dann wie das Varusschlacht-Jubiläum 2009 im Interesse der allgemeinen Geschichtsvermittlung gegebenenfalls auch für Wissenschaft und Forschung zu nutzen ist legitim und macht alleine schon Sinn. In Nordrhein-Westfalen jedenfalls wird man im Gedenken an: – die Ermordung des Kölner Erzbischofs und Reichskanzlers Engelbert bei Gevelsberg durch Graf Friedrich von Isenberg 1225,38 – die Auffindung des sogenannten ‚Oberkasselers‘, eines der bedeutendsten Belege des frühen homo sapiens in Mitteleuropa 1914 in Bonn-Oberkassel39 oder auch – die Festlegung des Rheins als endgültige Grenze des Römischen Reiches zum sogenannten ‚Freien Germanien‘ durch Kaiser Tiberius 16 n. Chr.40 in den Jahren 2010, 2014 und 2016 wieder einmal mehr des ‚runden‘ Jubiläums wegen mit großen, medien- und publikumswirksamen – so ist zu hoffen – Ausstellungen und Veranstaltungen anderer Art geschichtliche Ereignisse feiern, wo erneut zahlreiche Archäologen und Historiker gefragt sein werden. Es ist zu hoffen, dass sie alle zu einer planvolleren und nachhaltigeren kultur-, aber auch wissenschaftspolitischeren Akzentuierung bzw. Gestaltung genutzt werden, als dies beim ‚Varus-Jubiläum‘ 2009 der Fall war.

Literatur Alamannen (1997) Die Alamannen (Katalog zur Ausstellung des Archäologischen Landesmuseum Baden-Württemberg 1997 in Stuttgart u. 1998 in Zürich), Stuttgart. Bérenger (2003) Daniel Bérenger, „Heimatland Lippe – Streit um die Varusschlacht“, Archäologie in Ostwestfalen 8, 40–42. Berke (2009) Stephan Berke, „‚haud procul‘. Die Suche nach der Örtlichkeit der Varusschlacht“, in: 2000 Jahre Varusschlacht. Mythos (Katalog zur Ausstellung des Landschaftsverbandes Lippe in Detmold, 16. Mai – 25. Oktober 2009), Stuttgart, 128–133.

38

Die Ausstellung anlässlich dieses historischen Ereignisses wird derzeit mit großem Erfolg im Rahmen der Europäischen Kulturhauptstadt 2010 Essen (Ruhrgebiet) im LWL-Museum für Archäologie/Westf älisches Landesmuseum Herne gezeigt. Vgl. den umfangreichen Katalog Ritter (2010).

Bökemeier (2002) Rolf Bökemeier, „Neue Funde im Teutoburger Wald“, Heimatland Lippe 95/7, 102ff. Bökemeier (2003) Rolf Bökemeier, „Römerspuren zwischen Währentrup und Berlebeck“, Heimatland Lippe 96/3, 45ff. Horn (2006) Heinz-Günther Horn (Hg.), Neandertaler + Co. Eiszeitjägern auf der Spur – Streifzüge durch die Urgeschichte Nordrhein-Westfalens, Mainz. Imperium (2009) 2000 Jahre Varusschlacht. Imperium (Katalog zur Ausstellung des Landschaftsverbandes Westfalen-Lippe in Haltern am See, 16. Mai – 11. Oktober 2009), Stuttgart. 39

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Die Vorbereitungen hierzu laufen bereits im LVR-LandesMuseum Bonn, das den Oberkasseler Fundkomplex beherbergt, für eine umfassende Würdigung seiner Auffindung vor dann 100 Jahren auf vollen Touren. In Nordrhein-Westfalen böten sich vor allem die Museumsstandorte Bonn, Köln, Xanten oder Haltern an, dieses Ereignis in 2016 gebührend ins Gedächtnis zu rufen.

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Karolingerzeit (1999) Kunst und Kultur der Karolingerzeit. Karl der Große und Papst Leo III. in Paderborn (Katalog zur Ausstellung des Diözesanmuseums in Paderborn, 23. Juli – 1. November 1999), 3 Bde., Mainz. Kehne (2008) Peter Kehne, „Neues, Bekanntes und Überflüssiges zur Varusschlacht und zum Kampfplatz Kalkriese“, Die Kunde N.F. 59, 229–280. Killguss (2009) Hans-Peter Killguss (Hg.), Die Erfindung der Deutschen. Rezeption der Varusschlacht und Mystifizierung der Germanen. Dokumentation zur Fachtagung am 3. Juli 2009, Köln.

Mythos (2009) 2000 Jahre Varusschlacht. Mythos (Katalog zur Ausstellung des Landschaftsverbandes Lippe in Detmold, 16. Mai – 25. Oktober 2009), Stuttgart. Ritter (2010) Ritter, Burgen und Intrigen. AufRuhr 1225 – Das Mittelalter an Rhein und Ruhr (Katalog zur Ausstellung des Westf älischen Landesmuseums in Herne, 27. Februar – 28. November 2010, Mainz.

Konflikt (2009) 2000 Jahre Varusschlacht. Konflikt (Katalog zur Ausstellung der Varusschlacht im Osnabrücker Land GmbH in Museum und Park Kalkriese, 16. Mai – 25. Oktober 2009), Stuttgart.

Roots (2006) Roots. Wurzeln der Menschheit (Katalog zur Ausstellung des Rheinischen Landesmuseums in Bonn, 8. Juli – 19. November 2006), Mainz.

Krieg und Frieden (1998) 1648 – Krieg und Frieden in Europa (Katalog zur Ausstellung des Westf älisches Landesmuseums für Kunst und Kulturgeschichte in Münster u. des Kulturhistorischen Museums und Kunsthalle Dominikanerkirche in Osnabrück, 25. Oktober 1998 – 17. Januar 1999), 3 Bde., Münster.

Rost (2009) Achim Rost, „Das Schlachtfeld von Kalkriese. Eine Quelle für die Konfliktforschung“, in: 2000 Jahre Varusschlacht. Konflikt (Katalog zur Ausstellung der Varusschlacht im Osnabrücker Land GmbH in Museum und Park Kalkriese, 16. Mai – 25. Oktober 2009), Stuttgart, 68–77.

Kühlborn u.a. (2008) Johann-Sebastian Kühlborn u.a. (Hgg.), Rom auf dem Weg nach Germanien: Geostrategie, Vormarschstrassen und Logistik, Mainz.

Schäfer (2009) Christoph Schäfer, „Alte und neue Wege. Die Erschließung Germaniens für die römische Logistik“, in: 2000 Jahre Varusschlacht. Imperium (Katalog zur Ausstellung des Landschaftsverbandes Westfalen-Lippe in Haltern am See, 16. Mai – 11. Oktober 2009), Stuttgart, 203–209.

Liudger (2005) 805: Liudger wird Bischof. Spuren eines Heiligen zwischen York, Rom und Münster (Begleitbuch zur Ausstellung des Stadtmuseums in Münster, 12. März – 11. September 2005), Mainz. Lohmann u. Raabe (2009) Johannes Lohmann u. Jan Raabe, „Hermann statt Hitler. Die Rezeption der Varusschlacht in der extremen Rechten“, Lotta 35, 13–15. Losemann (2009) Volker Losemann, „Die ‚Kulturhöhe‘ der Germanen. Spuren der NS-Germanenideologie“, in: 2000 Jahre Varusschlacht. Mythos (Katalog zur Ausstellung des Landschaftsverbandes Lippe in Detmold, 16. Mai – 25. Oktober 2009), Stuttgart, 234–242.

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Löttel (2009) Holger Löttel, „‚Märtyrer der Freiheit‘. Antikenmythen in den europäischen Nationalstaaten des 19. Jahrhunderts“, in: 2000 Jahre Varusschlacht. Mythos (Katalog zur Ausstellung des Landschaftsverbandes Lippe in Detmold, 16. Mai – 25. Oktober 2009), Stuttgart, 155–163.

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Schäferjohann-Bursian (2003) Iris Schäferjohann-Bursian, „Fehlstart in Lippe? – Das Varusschlacht-Jubiläum 2009 wirft seine Schatten voraus“, Heimatland Lippe 96/3, 42–44. Schwarzenberg (2007) Marcel Schwarzenberg, „Wo starben Varus‘ Legionen wirklich?“, Chronico. Magazin für Geschichte [online: http://chronico.de/magazin/geschichtsszene/wo-starben-varus-legionen-wirklich/ vom 10. 1. 2007]. Springhorn, Treude u. Zelle (2003) Rainer Springhorn, Elke Treude u. Michael Zelle, „Das Varusschlacht-Jubiläum 2009 wirf seine Schatten voraus. Wird die Schlacht erneut geschlagen?“, Heimatland Lippe 96/5, 114–117.

Bildnachweise (nach Beiträgern) Wolters – Abb. 1: Andreas Thiel, Die Römer in Deutschland, Stuttgart 2008, Abb. S. 20. Johne – Abb. 1: Nationalmuseum Neapel, Winckelmann-Institut, Seminar für Klassische Archäologie der Humboldt-Universität zu Berlin, Photosammlung; 2: Staatliche Museen zu Berlin, Preußischer Kulturbesitz, Antikensammlung Inv. SK 342. Foto: M. Hegewisch; 3: Porträt des M. Vipsanius Agrippa, Staatliche Museen zu Berlin, Preußischer Kulturbesitz, Antikensammlung Inv. SK 1858; 4: Johne (2006), Seite 81. Karte von V. Vaelske nach Entwürfen des Verfassers erstellt; 5: Staatliche Museen zu Berlin, Preußischer Kulturbesitz, Antikensammlung, Inv. SK 392; 6: Johne (2006), Seite 216. Karte von V. Vaelske nach Entwürfen des Verfassers erstellt; 7: Ny Carlsberg Glyptothek Kopenhagen, Inv. 1445; 8: Staatliche Museen zu Berlin, Preußischer Kulturbesitz, Antikensammlung Inv. SK 1801; 9: Johne (2006), Seite 151. Karte von V. Vaelske nach Entwürfen des Verfassers erstellt. Wendt – Abb. 1,2;3: EasyDB; 4:Wikimedia Commons, www.commons.wikimedia.org, Zugriff: 23. 1. 2012; 5: A. L. Kuttner, Dynasty and Empire in the Age of Augustus. The Case of the Boscoreale Cups, Berkeley u. a. 1994; 6;7: Wikimedia Commons, www.commons.wikimedia.org, Zugriff: 23. 1. 2012. Baltrusch – Abb. 1: siehe Beitrag von Schnurbein, Abb. 1; 2: Foto: Robert Stetefeld, Freie Universität Berlin. von Schnurbein – Abb. 1. Collage: Morten Hegewisch; 2. © Römisch-Germanische Kommission, Frankfurt am Main; 3. Johann-Sebastian Kühlborn, Die Lippetrasse. Zum Stand der archäologischen Forschungen während der Jahre 1996 bis 2006 in den augusteischen Lippelagern. In: Johann-Sebastian Kühlborn (Hg.), Rom auf dem Weg nach Germanien: Geostrategie, Vormarschtrassen und Logistik, Bodenaltertümer Westfalens 42, Mainz 2008, Abb. 10; 4. Johann-Sebastian Kühlborn (Hg.), Germaniam pacavi – Germanien habe ich befriedet. Archäologische Stätten augusteischer Okkupation. Westf älisches Museum für Archäologie – Amt für Bodendenkmalpflege, Münster 1995, Abb. 12; 5. Klaus Grote, Der römische Militärstützpunkt an der Werra bei Hedemünden. In: Landschaftsverband Rheinland/Rheinisches Landesmuseum Bonn (Hg): Krieg und Frieden. Kelten – Römer – Germanen. Begleitbuch zur Ausstellung im Rheinischen Landesmuseum Bonn, ein Museum des Landschaftsverbandes Rheinland: 21. 06. 2007–06. 01. 2008, Darmstadt 2007, Abb. 163; 6. ebd. Abb. 165; 7. Johann-Sebastian Kühlborn, Das augusteische Hauptlager von Haltern. In: Landschaftsverband Rheinland/Rheinisches Landesmu-

seum Bonn (Hg): Krieg und Frieden. Kelten – Römer – Germanen. Begleitbuch zur Ausstellung im Rheinischen Landesmuseum Bonn, ein Museum des Landschaftsverbandes Rheinland: 21. 06. 2007–06. 01. 2008, Darmstadt 2007, Abb. 155; 8. Johann-Sebastian Kühlborn, Schlagkraft. Die Feldzüge unter Augustus und Tiberius in Nordwestdeutschland. In: L. Wamser (Hg.): Die Römer zwischen Alpen und Nordmeer. Zivilisatorisches Erbe einer europäischen Militärmacht. KatalogHandbuch zur Landesausstellung des Freistaates Bayern (12. 5.–5. 11. 2000). Schriftenreihe der Archäologischen Staatssammlung, Mainz 2000, Abb. 24; 9. Gabriele Rasbach, Waldgirmes. In: Landschaftsverband Rheinland/Rheinisches Landesmuseum Bonn (Hg): Krieg und Frieden. Kelten – Römer – Germanen. Begleitbuch zur Ausstellung im Rheinischen Landesmuseum Bonn, ein Museum des Landschaftsverbandes Rheinland: 21. 06. 2007–06. 01. 2008, Darmstadt 2007, Abb. 195; 10. © Römisch-Germanische Kommission, Frankfurt am Main. Meyer – Abb. 1: Nach Moosbauer (2009) Abb. 1; 2: Nach Moosbauer (2009) Abb. 2; 3: de Rijk (2007) Abb. 64; 4: Foto: M. Brumlich; Versuch im Rahmen der ‚Langen Nacht der Wissenschaften‘ im Juni 2010 am Institut für Prähistorische Archäologie der Freien Universität Berlin; 5: Nachweis siehe Fundortnachweis im Textanhang. M. Meyer. Rost – Abb. 1–3; 6–7: Museum und Park Kalkriese; 4–5: Christian Grovermann, Osnabrück, für Museum und Park Kalkriese; 8: Nach Horn (1987), Taf. 1b. Hegewisch – Abb. 1: www.polona.pl.dlibra/doccontent2?id=61, Seite 6 (Zugriff: 2. 2. 2012). Bearbeitung: M. Hegewisch; 2: M. Hegewisch; 3: Heimbs (1925) Abb. 1–2; 4: Schuchhardt (1926) Abb. 1; Grundlage Satellitenbild: Google Maps; 5: 1–3 Originaldokumentation, Archiv der Römisch-Germanischen Kommission, Frankfurt am Main; 3. Schuchhardt et al. (1926), Abb. 2; 6: Schuchhardt et al. (1926), Abb. 3–5; 7: Zeichnungen M. Hegewisch; 8: Zeichnungen und Fotos M. Hegewisch; 9: Nach Harnecker/Tolksdorf-Lienemann (2004) Abb. 26–27; 10: Nach Harnecker/Tolksdorf-Lienemann (2004) Auswahl der Taf. 3–7; 11: M. Hegewisch nach Neumann (1982), Abb. 24; 12: M. Hegewisch; 13: Neumann (1982), Taf. 6,B; Jørgensen (2003), Abb. 13; 14: Andersen 1993, Abb. S. 24 unten; 15: 1–3. Originaldokumentation, Archiv der Römisch-Germanischen Kommission, Frankfurt am Main; 4. Grundlage Satellitenbild: Google Maps; 16: Oben: Landesmuseum Hannover, Archiv. Umzeichnungen: M. Hegewisch nach Originalzeichnungen im Landesmuseum Hannover, Archiv.

BILDNACHWEISE

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Kösters – Abb. 1: Deutsches Theatermuseum München, Archiv Abisag Tüllmann; 2: Staatsbibliothek Berlin; 3: Wikimedia Commons, www.commons.wikimedia.org, Zugriff: 14. 12. 2011; 4–5: Staatsbibliothek Berlin; 6;8–9;12–15: Lippische Landesbibliothek; 7: Staatsbibliothek Berlin; 10: Wikimedia Commons, www.commons.wikimedia.org, Zugriff: 16. 12. 2011; 11: Sammlung Strauss, New York; 16: Staats- und Universitätsbibliothek Hamburg, Sign.: A/7697. Puschner – Abb. 1: Traeger, Jörg, Der Weg nach Walhalla, Regensburg 1987, S. 85; 2: Otten, Frank, Ludwig Michael Schwanthaler, München 1970, Abb. 30; 3: Das Harzer Bergtheater bei Thale in 44 Abbildungen, Leipzig 1912, S. 34; 4: Germanisches Nationalmuseum Nürnberg, Sign.: HB 50213, Kaps.: 131; 5: Bayerische Staatsbibliothek München; 6: Das malerische und romantische Westfalen, Aspekte eines Buches, Westf älisches Landesmuseum für Kunst und Kulturgeschichte Münster, 1. 12. 74–19. 1. 75, Münster 1974, Tafel 56; 7: ebd. Tafel 57; 8: Schwanold, Heinrich, Arminius, die Varusschlacht und das Hermannsdenkmal, Festschrift zur Neunzehnhundertjahrfeier der Schlacht im Teutoburger Walde, 2. Auflage, Detmold 1909, S. 48–49; 9: Punch, Ausgabe vom 11. März 1871; 10a: Kladderadatsch, Jg. 25 (1872), Nr. 29 u. 30; 10b: Bismarck. Eine Vision, Oberhausen / Leipzig 1882, S. 55; 11: Marr der Zweite, Jeiteles Teutonicus, Harfenklänge aus dem vermauschelten Deutschland, Bern 1879; 12: Kladderadatsch Jg. 60 (1907), Nr. 44; 13: City of New Ulm (Minesota), www.new-ulm.mn.us Zugriff: 14. 12. 2011; 14: Conservation Solutions Inc., www.conservationsolutions.com, Zugriff: 14. 12. 2011; 15: www.waymarking.com, Zugriff: 14. 12. 2011; 16: Bartels, Adolf, Rasse, Sechzehn Aufsätze zur nationalen Weltanschauung, Hamburg 1909, S. 183; 17: Peter Haslinger (Hg.), Schutzvereine in Ostmitteleuropa, Marburg 2009, S. 154, Abb. 5a; 18: Dahn, Felix, Armin der Cherusker, Erinnerungen an die Varus-Schlacht im Jahre 9. nach Chr., Mit 17 Bildern nach Originalen von A. Hoffmann, München 1909; 19: Sammlung Wilfried Mellies, Foto: J. Ihle, Lippisches Landesmuseum; 20: Bundesarchiv, Bildarchiv, Bild 118–130; 21: Sammlung Uwe Puschner; 22: Sammlung Wilfried Mellies, Foto: J. Ihle, Lippisches Landesmuseum; 23: Sammlung Wilfried Mellies, Foto: J. Ihle, Lippisches Landesmuseum; 24: Screenshots u. Collage: Stefan Noack; 25: www.zwermann.info, Zugriff: 14. 12. 2011; 26: Sammlung Uwe Puschner.

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BILDNACHWEISE

Barmeyer – Abb. 1: Foto: Michael Pereckas, Bearbeitung: Stefan Noack; 2: Lippisches Magazin für vaterländische Cultur und Gemeinwohl, Jg. 4 (1838), Nr. 1; 3: Hellfaier, Karl-Alexander, Die Bandel-Sammlung der Lippischen Landesbibliothek Detmold in der Dokumentation, Detmold 1975, S. 45; 4: Petri, M. L., Festrede bei der Schließung des Grundsteingewölbes zum Hermanns-Denkmale im Teutoburger Walde, am 8. September 1841, Lemgo 1842; 5: Magazin für vaterländische Cultur und Gemeinwohl, Jg. 7 (1841), Nr. 23; 6: Die Gartenlaube, Jg. 22 (1875), Nr. 38; 7: Kladderadatsch, Jg. 28 (1875), Nr. 37 u. 38; 8: Die Gartenlaube, Jg. 22 (1875), Nr. 38; 9;11: Sammlung Wilfried Mellies, Foto: J. Ihle, Lippisches Landesmuseum; 10; 13–14: Lippische Landesbibliothek; 12: Von Wahlert, R., 50 Jahre Hermanns-Denkmal, Amtliche Festschrift, Detmold 1925, S. 30–31. Beyrodt – Abb. 1: Museum Schloss Pyrmont, Dauerleihgabe d. Stiftung Niedersachsen; 2: Tiroler Landesmuseum Ferdinandeum, Kunstgeschichtliche Sammlungen, Sign.: Gem. 299; 3: Stadtarchiv Krefeld, Foto: Fotostudio Hesterbrink 4: München, Neue Pinakothek. Artothek Bildnr. 884. Fotograf: Blauel/Gnamm – Artothek; 5: Hamburger Kunsthalle, Sign.: HK-1048, Foto: BPK, Elke Walford. De Gemeaux – Abb. 4: © Castermann, Belgien; 5: Abb. 5: © Standaard Uitgeverij, Belgien; 6: Zeichnung nach Postkartenmotiv, Überarbeitung: Stefan Noack. Vorblatt: Waltraud Forelli, Atelier Anselm Kiefer, Paris,[email protected]; Trenner 1: LVR-Landesmuseum Bonn. Foto: H. Lilienthal; Trenner 2: Wikimedia Commons, www.commons.wikimedia.org, Zugriff: 23. 1. 2012; Trenner 3: Römisch-Germanische Kommission, Frankfurt am Main; Trenner 4: Sammlung Uwe Puschner. Foto: Stefan Noack; Trenner 5: Collage M. Hegewisch. Titelbild: Entwurf M. Hegewisch. Foto Varus: Robert Stetefeld, Freie Universität Berlin. Urheberrechtsinhaber, die wir nicht ermitteln konnten, bitten wir um Kontaktaufnahme.