Die Geschichte der Öffentlichkeit im deutschen Strafverfahren [1 ed.]
 9783428432400, 9783428032402

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PETER·PAUL ALBER

Die Geschichte der Öffentlichkeit im deutschen Strafverfahren

Schriften zum Strafrecht Band 21

Die Geschichte der Öffentlichkeit im deutschen -Strafverfahren

Von

Dr. Peter-Paul Alher

DUNCKER & HUMßLOT I ßERLIN

Alle Rechte vorbehalten & Humblot, Berlln 41 Gedruckt 1974 bel Buchdruckerei A. Sayttaerth - E. L. Krohn, BerUn 61 Prlnted In Germany

© 1974 Duncker

ISBN 3 428 032403

Vorwort Die hier veröffentlichte Arbeit hat der Rechtswissenschaftlichen Fakultät der Universität Freiburg i. Br. im Sommer 1973 als Dissertation vorgelegen. Zu besonderem Dank bin ich Herrn Professor Dr. Thomas Würtenberger verpflichtet; er hat diese Untersuchung angeregt und ihren Fortgang durch vielfachen Rat gefördert und mit steter Anteilnahme begleitet. Herrn Professor Dr. Claus-Dieter Schott verdanke ich hilfreiche kritische Hinweise. Dank gebührt auch Herrn Ministerialrat a. D. Dr. Johannes Broermann und der Wissenschaftlichen Gesellschaft in Freiburg i. Br., die den Druck der Arbeit möglich gemacht haben. Freiburg, im Januar 1974

Peter-Paul Alber

Inhaltsverzeichnis Einleitung ............................................................ Erstes Kapitel: Die öffentlichkeit im Strafverfahren von der germa-

nischen Zeit bis zum Ausgang des 18. Jahrhunderts ..................

Zweites Kapitel: Vorläufer der Reformbewegung für die Wiedereinfüh-

rung der Publizität in Deutschland ............. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Drittes Kapitel: Die Entwicklung zum öffentlichen Verfahren in Frank-

reich ..............................................................

11 12 18 25

Viertes Kapitel: Einzug des öffentlichen Rechtsganges in die unter fran-

zösischem Einfluß stehenden Gebiete und Kampf um seine Erhaltung 31 I. Einführung ....................................................

31

II. überblick über die Literatur ........... . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

33

111. Topoikatalog ..................................................

36

A. Grunde für die öffentlichkeit ......... . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

36

a) Grunde, welche die Prozeßbeteiligten betreffen ............

36

b) Grunde, welche das einzelne Strafverfahren betreffen ....

39

c) Gründe, welche materiell-strafrechtliche Gesichtspunkte betreffen .................................................. 41 d) Grunde, welche Recht und Staat insgesamt betreffen ......

43

B. Grunde gegen die öffentlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

46

a) Gründe, welche die Prozeßbeteiligten betreffen ............

46

b) Grunde, welche das einzelne Strafverfahren betreffen......

49

c) Grunde, welche materiell-strafrechtliche Gesichtspunkte betreffen ..................................................

54

d) Gründe, welche Recht und Staat insgesamt betreffen ......

56

C. öffentlichkeit bezüglich einzelner Verfahrensteile ............

58

D. Beschränkungen der öffentlichkeit ..........................

58

IV. Gesetzgebung ..................................................

59

Inhaltsverzeichnis

8

Exkurs: Die Bayerische Strafprozeßgesetzgebung von 1813 1. Einführung ....................................................

62 62

H. Das Institut der Gerichtszeugen und die öffentliche Schlußverhandlung im Gang des Verfahrens.............................. 63 IH. Die Argumente für und gegen das Institut der Gerichtszeugen im Ermittlungsverfahren .......................................... 64 IV. Topoikatalog zur öffentlichkeit des Schlußverfahrens bei Kapitalverbrechen .................................................... Fünftes Kapitel: Fortschritte der öffentlichkeitsbewegung zwischen Re-

65

stauration und Revolution ..........................................

69

1. Einführung ....................................................

69

I!. überblick über die Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

73

H1. Topoikatalog ..................................................

77

A. Gründe für die öffentlichkeit ................................

77

a) Gründe, welche die Prozeßbeteiligten betreffen ............

77

b) Gründe, welche das einzelne Strafverfahren betreffen....

89

c) Gründe, welche materiell-strafrechtliche Gesichtspunkte betreffen .................................................. 95 d) Gründe, welche Recht und Staat insgesamt betreffen ......

99

B. Gründe gegen die öffentlichkeit. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 107 a) Gründe, welche die Prozeßbeteiligten betreffen ............ 107 b) Gründe, welche das einzelne Strafverfahren betreffen ...... 111 c) Gründe, welche materiell-strafrechtliche Gesichtspunkte betreffen .................................................. 119 d) Gründe, welche Recht und Staat insgesamt "betreffen ...... 121 C. Öffentlichkeit bezüglich einzelner Verfahrensteile ............ 124 a) Vorverfahren ............................................ 124 b) Beratung ................................................ 126 c) Abstimmung

.............. • . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 127

D. Beschränkungen der Öffentlichkeit .......................... 130 a) Beschränkungen der öffentlichkeit in sachlicher Hinsicht .. 130 b) Beschränkungen der öffentlichkeit in persönlicher Hinsicht 133 E. "Die durch die Tagesblätter gebildete öffentlichkeit" ........ 136 IV. Gesetzgebung .................................................. 138

Inhaltsverzeichnis

9

Sechstes Kapitel: Die Paulskirche und das öffentliche Verfahren ........ 144 Siebentes Kapitel: Der öffentliche Rechtsgang in der Zeit der Partikular-

gesetzgebung ...................................................... 149 I. überblick über die Literatur .................................... 149

11. Gesetzgebung .................................................. 152 Anhang: Verzeichnis der wichtigsten Gesetze 1850-1879, die auf die Öffentlichkeit des Strafverfahrens Bezug haben ... . . . . . . . . . .. 156 Achtes Kapitel: Die übernahme des öffentlichkeitsprinzips in den Reichs-

strafprozeß ........................................................ 158

Rückblick und Ausblick

.............. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 162

Quellen- und Literaturverzeichnis. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 166

Einleitung Die vorliegende Abhandlung soll sich mit dem Grundsatz der Volksöffentlichkeit im Strafverfahren befassen. Sie unternimmt den Versuch, einen überblick zu geben über die Geschichte dieses bedeutsamen Prozeßprinzips von der germanischen Zeit bis zum Erlaß der Reichsjustizgesetze (1877). Mit der Erschließung und Aufbereitung des Quellenmaterials mögen auch die gesellschaftlichen und politischen Zusammenhänge sichtbar werden, die für die verschiedenen Aufgaben und Erscheinungsformen des Instituts in der Vergangenheit bestimmend gewesen sind. Der Schwerpunkt der Arbeit liegt dabei auf der Behandlung der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Die tragenden Grundsätze, wie sie die heute geltenden Strafprozeßordnungen übereinstimmend kennzeichnen, sind weitgehend Errungenschaften dieser Zeit. Für die heutige Diskussion um die Gerichtsöffentlichkeit - sie tendiert vor allem mit Rücksicht auf den Angeklagten zu deren Einschränkung1 -dürfte es dienlich sein, sich die allgemeinen rechtlichen Gesichtspunkte zu vergegenwärtigen, die vor Einführung dieses Verfahrensprinzips erörtert wurden. Hierzu eine Hilfestellung zu geben, ist die Aufgabe der beiden Topoikataloge. Ihnen liegen in erster Linie die literarischen Äußerungen des jeweiligen Zeitabschnitts zugrunde. Stichproben haben ergeben, daß die Beratungen der Repräsentativkörperschaften keine zusätzlichen Gesichtspunkte hervorbrachten und die Argumente, die das Schrifttum geliefert hatte, in der Hektik des politischen Tageskampfes an Prägnanz verloren. Das gilt freilich nicht für die Gesetzesmaterialien und Deputationsberichte der Kammern. Daher haben wir exemplarisch die beiden Länder Baden und Sachsen herausgegriffen, die in der Öffentlichkeitsfrage eine gegensätzliche Position einnahmen, und ihre Materialien in den 2. Topoikatalog (1819 - 1848) aufgenommen. 1 vgl. zuletzt: Herbst, L.: Öffentlichkeit der Hauptverhandlung, Arztgeheimnis und Schutz der Menschenwürde; in: Neue Juristische Wochenschrift, 22. Jg., 1969, S.546 bis 548. Kühne, H.-H.: Ausschluß der Öffentlichkeit im Strafverfahren. Anhörung medizinischer und psychologischer Sachverständiger; in: Neue Juristische Wochenschrift, 24. Jg.,1971, S. 224 - 228. Rohde, F.: Die Öffentlichkeit im Strafprozeß, 1972.

Erstes Kapitel

Die Öffentlichkeit im Strafverfahren von der germanischen Zeit his zum Ausgang des 18. Jahrhunderts Für die Menschen in Frühzeit und Mittelalter war das Recht etwas Vorgegebenes, Ungesetztes und Ungeschriebenes. Als gutes altes Recht konnte es nur gefunden werden, und zwar im Gesamtwissen des Volkes, im Rechtsgefühl der Volksgemeinde oder ihrer Vertrauensmänner und in alten überlieferungen' . Da also die Findung des Rechts die Teilnahme des Volkes voraussetzte, war der Rechtsgang notwendig öffentlich in dem Sinne, daß alle, die mitzusprechen hatten, anwesend sein durften und sogar mußten (Dingpflicht). Nach der Typologie von Schuckert2 kann man diese Öffentlichkeit als aktive und notwendige bezeichnen; im Unterschied dazu setzt der moderne Begriff der Gerichtsöffentlichkeit eine Trennung zwischen Gericht und Publikum voraus, die Öffentlichkeit ist passiv und fakultativ. Unter dem Vorsitz eines adligen Führers oder des Vorstehers einer Hundertschaft tagte in germanischer Zeit die Volksversammlung als ordentliches Gericht3 • Die Aufgabe des Vorsitzenden erschöpfte sich darin, einen Urteilsvorschlag von den Dinggenossen zu erfragen, der durch die Zustimmung (Vollbort) der Gerichtsgemeinde, dem "Umstand", zum Urteil erhoben wurde'. Jeder Anwesende hatte dabei das Recht, den Urteilsvorschlag durch die Urteilsschelte anzugreifen. Sie enthielt den Vorwurf der Rechtsbeugung und führte in der Regel zu einem Zweikampf zwischen ScheIter und Gescholtenem5 • Schließlich hatte die Gerichtsgemeinde auch am Vollzug der Strafe noch einigen Anteil. In 1 Kern, F.: Recht und Staat im Mittelalter, 1965, S.25. Dazu kritisch: Käbler, G.: Das Recht im frühen Mittelalter, 1971, S. 223 ff. Z Schuckert, R.: Der Grundsatz der Volksöffentlichkeit im deutschen Zivil-

und Strafprozeßrecht, 1936, S. 3. B Hierbei ist freilich zu· beachten, . daß die Vorstellungen von richten, Richter und Gericht im deutschen Sprachgebiet ursprünglich nicht vorhanden waren; vgl. Käbler, G.: Richten - Richter - Gericht; in: Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte, Germ. AbtIg., 87. Bd., 1970, S. 57 - 113. , Kern, E.: Geschichte des Gerichtsverfassungsrechts, 1954, S.l; Conrad, H.: Deutsche Rechtsgeschichte, 1. Bd., 2. Aufl., 1962, S. 28. 5 Conrad I, S. 28.

1. Kap.: Die Öffentlichkeit im Strafverfahren bis zum Jahre 1800

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schweren Fällen, bei denen die Verfolgung im Interesse der Allgemeinheit lag, gab es eine öffentliche Vollstreckung durch die Gesamtheit8 • In der Zeit nach der Völkerwanderung, als sich allmählich das Stammeskönigtum entwickelt hatte, wurde der König oberster Gerichtsherr. Zwar lag der Schwerpunkt der Rechtspflege nach wie vor bei den Volksgerichten (Hundertschaftsgerichten), als Sprecher des Rechts schoben sich jedoch allmählich Zwischenglieder zwischen Gerichtshalter und Volk. So fand bei den Franken seit dem 6. Jahrhundert ein Ausschuß von Urteilsfindern, die "rachimburgi sedentes", das Urteil, das durch die Zustimmung der anwesenden Gemeinde Wirksamkeit erlangte7 • Wichtige Änderungen brachte die Einführung der Schöffenverfassung durch Karl den Großen8 • Nun wurde die allgemeine Dingpflicht der fränkischen Untertanen auf wenige "echte" oder "ungebotene" Dinge beschränkt. Die Urteilsfindung ging ganz auf lebenslänglich bestellte Schöffen (scabini) über', die allein zum Besuch der "gebotenen" Dinge verpflichtet warenlO • Während beim echten Ding die widerspruchslose Entgegennahme des Schöffenurteils als stillschweigende Zustimmung der Gemeinde galt, lag die Urteilssprechung beim gebotenen Ding ganz in den Händen der Schöffenl l • Zwar blieb auch hier die Gerichtsstätte weiterhin öffentlich, d. h. jeder Freie hatte Zutritt, zum ersten Mal war er aber nur noch in der Rolle eines passiven Zuschauers und Zuhörers gegenwärtig. Rein äußerlich, in seinen Formen, ruhte auch der Strafprozeß des Mittelalters auf den alten Grundlagen. Der innere Gehalt der Verfahrensöffentlichkeit ging jedoch durch die Sonderstellung der Schöffen immer mehr verloren. Seit dem 13. Jahrhundert l ! wirkten eine Reihe von Faktoren zusammen, die den allmählichen Untergang des öffentlichen Rechtsgangs here Conrad I, S.30; SchröderlKünßberg: Lehrbuch der deutschen Rechtsgeschichte, 7. Aufl., 1932, S. 83. 7 E. Kern, S. 4; Conrad I, S. 28. 8 Sie wurde allerdings nicht in allen Teilen des Reiches eingeführt; vgl.

E. Kern, S. 6. 9 E. Kern, S.6; aus der älteren Literatur: Maurer, G. L.: Geschichte des

altgermanischen und namentlich altbairischen oeffentlich-muendlichen Gerichtsverfahrens, 1824, S. 65. 10 SchröderlKünßberg, S. 179. 11 SchröderlKünßberg, S. 181. 12 Zu den frühesten Quellen eines nichtöffentlichen Strafverfahrens gehört der um 1275 abgefaßte Schwabenspiegel: Landrecht, § 360 (keiser karlen gebot) swer einen gezivg leiten wil. so sol in der rihter sunder nemen. vnde sol in vragen. also. sol er den gezivgen allen tvon. ir einer sol nvit sagen. daz ez der ander hoere. wan vor dem rihter. vnd vor den Iviten. (zit. nach Lassberg, F. L. A. v.: Der Schwabenspiegel oder Schwäbisches Land- und Lehen-Rechtbuch, 1840, S. 153).

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1. Kap.: Die Öffentlichkeit im Strafverfahren bis zum Jahre 1800

beiführten. Veränderungen der Sozialverfassung brachten ein kompliziertes Gesamtbild ständischer Gliederung hervor, das sich auch im Rechtswesen widerspiegelte. So entstanden besondere personale Rechtskreise und demzufolge auch eine Vielzahl von Gerichten, wie Fürsten-, Kaiserliche Hof-, Cent-, Stadt-, Zins-, Dorf-, Forst-, Markt-, geistliche und manche andere Gerichte13 • Zugleich entwickelte sich die Gewohnheit, nur eigenen Gruppenangehörigen, die stimm- und zeugnisfähig waren, den Zutritt zu gestatten14 • Damit war ein erster Schritt zur Beschränkung der Öffentlichkeit getan. Auch durch kaiserliche Privilegien wurde die Nichtöffentlichkeit der Rechtsprechung gefördert. Die immer mehr erstarkende Macht der Territorialherren ertrotzte sich nicht selten das Recht, "jr gericht mit beschlossener thür (zu) halten'H5. Statt der Gerichtsverhandlung im Freien bürgerte sich die Verhandlung in eigens dafür errichteten Gebäuden (Rathäusern oder Dinghäusern) einu ; so entstand eine Scheidewand zwischen Gericht und Volk, auch wenn zunächst Fenster und Türen offen blieben. Dem Vordringen des geheimen Rechtsganges war aber vor allem die Entwicklung eines inquisitorischen Verfahrens günstig. Der Verfall der Reichsgewalt und die wirren politischen und sozialen Verhältnisse hatten ein beunruhigendes Anwachsen der Kriminalität zur Folge. Diesem Phänomen war mit dem alten Verfahren und seinen starren Regeln nicht beizukommen. Die Wahrung des Landfriedens drängte zur amtlichen Initiative bei der Verbrechensverfolgung und zur Ermittlung der materiellen Wahrheit17• Für die Auswirkung auf die Öffentlichkeit ist nun von Bedeutung, daß im Inquisitionsprozeß die entscheidenden Ermittlungen, vor allem die Vernehmung des Beschuldigten und seine eventuelle Folterung, in einem von wenigen beauftragten Schöffen durchgeführten Vorverfahren stattfand, das sich in verschlossenen Amtsstuben und in den Folterkammern der Gefängnisse vollzog. Wurde hier ein Geständnis erlangt, dann fand noch ein öffentlicher gerichtlicher Termin statt, der "endliche Rechtstag", in dem aufgrund der Ergebnisse des Vorverfahrens das Urteil gesprochen wurde18• Dieses zunächst weitgehend formlose Verfahren fand später durch die übernahme des kanonischitalienischen Prozeßrechts seine Formung und Regelung. Die Rezeption des fremden Rechts brachte dabei zwei zusätzliche öffentlichkeitsfeindE. Kern, S. 7; Maurer, S.183 ff. Maurer, S. 183 ff. 15 Seifarth, G.: Der Untergang der Öffentlichkeit im deutschen Rechtsgang, 1932, S. 3 f.; Maurer, S. 358. 13

14

Schuckert, S. 7. Schmidt, Eb.: Inquisitionsprozeß und Rezeption; in: Festschrift für Heinrich Siber zum 10. April 1940, 1. Bd., 1941, S. 97 - 181, hier S. 117. 18 Schmidt, Eb.: Einführung in die Geschichte der deutschen Strafrechts11

17

pflege, 3. Aufl., 1965, S. 99 f.

1. Kap.: Die öffentlichkeit im Strafverfahren bis zum Jahre 1800

15

liche Momente mit ins Spiel. Der Umstand und der größte Teil der Schöffen waren nicht in der Lage, die neue Verfahrensordnung zu verstehen und zu handhaben. Und: Die durchgängige Schriftlichkeit des Verfahrens machte dieses auch zu einem geheimen l8 • Ein weiterer Anstoß zur Zurückdrängung der Gerichtsöffentlichkeit in Deutschland kam von den westfälischen Femegerichten. Sie erreichten ihre Blütezeit im 15. Jahrhundert. Anfangs waren auch ihre Verhandlungen öffentlich, sofern der Beschuldigte erschienen war. Da jedoch schon bald kein Angeklagter der Ladung mehr Folge leistete, weil ihm der Strang gewiß war, wurden schon im 14. Jahrhundert die "Stillgerichte" zur Regelform, zu denen nur der Kreis der "Wissenden" Zutritt erhielt20 • Ganz reibungslos verlief der allmähliche übergang zum geheimen Verfahren freilich nicht. Um das Jahr 1500 regten sich starke Widerstände gegen den gefährlichsten Gegner der Öffentlichkeit, den römischkanonischen Inquisitionsprozeß. Auf Reichstagen und Provinziallandtagen führten die Stände beredte Klagen gegen das Vordringen des fremden Rechts21 • Vor allem aber hingen die Bauern an ihrem alten öffentlichen Verfahren. Oftmals bot ihnen die überkommene Gerichtsverfassung den einzigen wirksamen Schutz gegenüber ungesetzlichem Verhalten ihrer Herren. Durch eine Art Streik konnten selbst unfreie Landleute in ihrer Eigenschaft als Schöffen oder als Umstand das ordnungsgemäße Zusammentreten eines Gerichts verhindern. So kam es, daß die aufständischen Bauern des Rheingaues im Mai 1525 an die erste Stelle ihrer Forderungen an die Obrigkeit die Rückgabe ihres Haingerichts nach altem Recht setzten. Dasselbe Verlangen schlug sich in dem vom Bauernführer Wendel HippIer verfaßten Heilbronner Entwurf einer Reichsverfassung nieder2 • Als Befürworter des öffentlichen Rechtsganges in dieser Zeit sind schließlich auch Hans Sachs in Nürnberg und Ulrich von Hutten zu erwähnen23 • Ein durchschlagender Erfolg war jedoch dieser "Gegenbewegung gegen die vordringende Nichtöffentlichkeit des Verfahrens"!4 nicht beschieden. Das Aufkommen des Inquisitionsprozesses hatte vielfach ein verworrenes Nebeneinander der neuen Verfahrensweise und der alten absterbenden Formen geschaffen, ein Zustand, der den Gesetzgeber zum 18 20

E. Kern, S. 22; Maurer, S. 314 f. Kahl, W.: Oeffentlichkeit und Heimlichkeit in der Geschichte des deut-

schen Strafverfahrens; in: Internationale Wochenschrift für Wissenschaft, Kunst und Technik, 1908, Sp. 284 - 310, hier Sp. 302. 11 Seifarth, G.: Die Entwicklung der Oeffentlichkeit im deutschen Rechtsgang, 1932,S.25;Maurer,S.311. 22 Seifarth, Entwicklung, S. 27; Derselbe, Untergang, S. 8. 23 Seifarth, Untergang, S. 8 f.; Maurer, S. 310. 24 Seifarth, Untergang, S. 7.

1. Kap.: Die öffentlichkeit im Strafverfahren bis zum Jahre 1800

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Eingreifen zwang. Den Verhältnissen der Zeit entsprechend wurden zuerst die einzelnen Territorien initiativ. Grundlegende Bedeutung für die deutsche Rechtsentwicklung gewann die Bamberger Halsgerichtsordnung (1507); die meisten ihrer Bestimmungen gingen fast wörtlich in die Constitutio Criminalis Carolina von 1532 über. Rein äußerlich versucht die Bambergensis, einheimische Elemente mit den neuen Rechtseinrichtungen zu verschmelzen; in Wahrheit aber bricht sie dem Neuen die Bahn. Das Verfahren wird in seinen entscheidenden Teilen heimlich ausgestaltet. Die Stellung der Zeugen geschieht schriftlich (Art. 81), sie werden nichtöffentlich verhört (Art. 84). Hält der Kläger die Sache aufgrund eines Geständnisses oder des Beweisergebnisses für entscheidungsreif, wird auf seine Bitte ein "endthafter rechttag" bestimmt (Art. 91). Vor diesem Termin kommen die Urteiler in geheimer Sitzung zusammen, beraten und beschließen das Urteil und lassen es schriftlich festhalten (Art. 94). Am endlichen Rechtstag wird dann in öffentlicher Sitzung die zuvor schon gefundene Entscheidung verlesen, nachdem "umb des gemeynen volks und alter gewohnheyt willen"25 eine Scheinverhandlung stattgefunden hat (Art. 95). Von der Carolina wurden die Regeln der Bambergensis über die Heimlichkeit des Verfahrens und den öffentlichen endlichen Rechtstag in den Artikeln 70, 81 und 82 übernommen. Sie bestätigte die überragende Stellung des beamteten und gelehrten Richters und das Institut der Aktenversendung, womit die Grundeinrichtungen des bisherigen Verfahrens endgültig abgestreift waren. In der Folgezeit erfuhr der Inquisitionsprozeß durch die Praxis der deutschen Territorien eine immer perfektere Ausbildung. Wesentlichen Anteil an dieser Entwicklung hatte die gemeinrechtliche Wissenschaft, an ihrer Spitze Benedikt Carpzov. Er bezeichnete die öffentliche Haltung der Strafgerichte als überflüssig, zeitraubend und allzu beschwerlich für Richter und Schöffen26 , 27. Mit dem Aufkommen des politischen Absolutismus vollzog sich die völlige Bürokratisierung der Strafrechtspflege. Die Schöffen behielten noch die Rolle von Gerichtszeugen, verschwanden dann aber bald ganz. Obwohl sich also in Deutschland seit der Carolina ein im wesentlichen einheitliches geheimes Verfahren in Kriminalsachen herausgebildet hatte, ging die Gerichtsöffentlichkeit doch nicht restlos unter. Dank seiner großen Volkstümlichkeit und gestützt auf die salvatorische Klausel der Art. 123. 26 Carpzov, B.: Peinlicher Sächsischer Inquisition- und Achts-Proceß, 1673, S.180. 27 Aus Gründen der Abschreckung befürwortete er jedoch die öffentlichkeit des "Hochnothpeinlichen Halsgerichts", a. a. 0., S. 165 f. und S. 180 f. 25

1. Kap.: Die Öffentlichkeit im Strafverfahren bis zum Jahre 1800

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Carolina erhielt sich der öffentliche Rechtsgang in einzelnen Territorien bis ins 18. Jahrhundert28 • In Hessen fand noch nach den peinlichen Gerichtsordnungen von 172629 bzw. 174830 eine öffentliche Hauptverhandlung statt31 • Selbst bei Gotteslästerung und Unzuchtsverbrechen wurde die Anklage öffentlich verlesen und das Publikum mit dem Gegenstand des Verbrechens und der Person des Angeklagten bekannt gemacht32 • Erst um das Jahr 1800 kam die öffentliche Rechtspflege hier gänzlich außer Gebrauch33 , zu einer Zeit, da die Ideen der Aufklärungsbewegung bereits zur überwindung des geheimen Inquisitionsverfahrens ansetzten.

vgl. dazu Seifarth, Untergang, S. 22 fi. Hessen-Darmstadt. 30 Hessen-Kassel. 31 OrHoff, H.: Der fiscalische Strafprozess, 1859, S. 35 ff. 3! Amrhein, F.: Die Entwicklung des hessischen Strafprozeßrechts im 18. und 19. Jahrhundert, 1955, S. 15. 33 Bopp, Ph.: Die Praxis hinsichtlich der Todesstrafe bei dem Verbrechen des Raubes; in: Zeitschrift für Gesetzgebung und Rechtspflege des Kurfürstenthums und Großherzogthums Hessen und der freien Stadt Frankfurt a. M., 1. Bd., 1834, S. 189 - 197; hier S. 196 Fußn.•. 28

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Zweites Kapitel

Vorläufer der Reformbewegung für die Wiedereinführung der Publizität in Deutschland Der entscheidende Anstoß zur Wiedereinführung des öffentlichen Verfahrens ging aus von der Aufklärung, der großen geistigen Bewegung, die im 17. und 18. Jahrhundert versuchte, den Menschen aus den religiösen und weltlichen Bindungen des Mittelalters zu befreien und mit Hilfe der Vernunft eine neue soziale Ordnung zu schaffen, die dem einzelnen die freie Entfaltung seiner Persönlichkeit ermöglichen sollte. Die überkommenen, auf religiöser oder politischer Autorität beruhenden Anschauungen wurden durch rationale "Vernunftwahrheiten" ersetzt. Die Forderung "sapere aude" - nach Kant der "Wahlspruch" dieser Epoche - führte zu grundlegenden Veränderungen des gesamten kulturellen und sozialen Lebens in Europa. Besonders nachhaltig wirkten die neuen Ideen auf dem Gebiet der Strafr€chtspf:l.ege; sie setzten eine weitgehende Säkularisierung, Rationalisierung und Humanisierung des Rechtslebens in Gang. Während jedoch im materiellen Strafrecht ganz wesentliche Fortschritte erzielt wurden, gelang im Prozeß zunächst nur eine große Tat, die allmähliche Beseitigung der Folter. Gleichwohl waren die geistigen Grundlagen einer Verfahrensreform in den Werken von Montesquieu (De l'esprit des lois, 1748), Voltaire und Beccaria (Dei delitti e delle pene, 1764) bereits weitgehend vorgezeichnet. Das besondere Verdienst Beccarias bestand darin, die in einer umfangreichen Literatur zerstreute Kritik in einzelnen Brennpunkten zu verdichten! und die übel des Inquisitionsprozesses detailliert herauszuarbeiten. Als erster forderte er unumwunden eine öffentliche Gerichtsverhandlung, ohne dabei auf rechtsgeschichtliche Betrachtungen auszuweichen2 : "öffentlich soll die Gerichtsverhandlung und öffentlich die Beweiserhebung sein, damit die öffentliche Meinung, die vielleicht das einzige Bindemittel der Gesellschaft ist, der Gewalt und den Leidenschaften einen Zügel anlege und damit das Volk sagen könne: wir sind keine Sklaven, wir 1 2

vgl. Frank, R.: Die Wolff'sche Strafrechtsphilosophie, 1887, S. 70. Kap. XIV nach der übersetzung von W. AljJ, 1966.

2. Kap.: Vorläufer der Reformbewegung in Deutschland

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haben eine Verteidigung - ein ermutigendes Gefühl, das dem Tribut an einen Fürsten gleichkommt, der sein wahres Interesse erkannt hat." Mit diesem Satz ist Beccaria der Vater der kontinentaleuropäischen Bewegung zur Wiedereinführung der Öffentlichkeit geworden. Seine rechtspolitischen Forderungen fanden in Deutschland lebhaften Widerhall'. Bereits 1765 erschien die erste deutsche übersetzung seines Buches "über Verbrechen und Strafen" in Prag. Bis zum Jahre 1778 folgten drei weitere Auflagen in Deutschland'. Sie wurden teilweise kommentiert und brachten neben den anderen Reformideen auch die Publizität der Rechtspflege ins wissenschaftliche Gespräch. 1774 forderte Georg Ernst Ludwig Preuschen5 öffentliche Verhandlungen sogar für die Zivilgerichte. Vier Jahre später formulierte earl Ferdinand Hommel, "der deutsche Beccaria", in seinen Anmerkungen zur übersetzung Flades das ausschlaggebende politische Argument zugunsten der Öffentlichkeits: "Sowohl der Angeschuldigte als das Volk müssen, zumal bey Leib- und Lebensstrafen versichert seyn, daß alles mit gröster überlegung vorgenommen worden. Gut wäre es, wenn Vernehmung, Zeugen Verhör u.s.w. bey offenen Thüren erfolgte ... In Gerichten muß alles rechtschaffen, ohne Betrug, ohne Verstellung, öffentlich vorgehen." Etwa zur selben Zeit erschienen auch die ersten deutschen Ausgaben französischer Werke, die sich für die Publizität der Verhandlungen einsetzten, so 1778 eine übersetzung von Voltaires "Prix de la Justice et de l'humanite" und 1779 E. B. de Mablys Schrift "über die Gesetzgebung oder über die Grundsätze der Gesetze". Die erste ausführliche Erörterung der Gerichtsöffentlichkeit, ihrer Vorteile und möglichen Nachteile, stammt aus der Feder Ernst Ferdinand Kleins, der später den strafrechtlichen Teil des Preußischen Allgemeinen Landrechts verfaßt hat7 • Nach Klein ist die gerichtliche Publizität vorzüglich geeignet, "dem Despotismus der Richter Grenzen zu setzen". Sie werde den Richter zu größerer Gesetzlichkeit führen, sein Billigkeitss 1778 bezeichnet Aug. Friedr. Schott in einer Buchbesprechung das Werk Beccarias als "epochemachend"; in: Unpartheyische Critik über die neuesten juristischen Schriften, 82. Stück, 1778, S. 162. 4 übersetzungen durch A. Wittenberg, Hamburg,' 1766; durch J. Schultes, Ulm, 1767 und durch Ph. J. Flade mit Anmerkungen von C. F. Hommel, Leipzig, 1778. 5 Abhandlung über die Oeffentlichkeit des gerichtlichen Verfahrens, 1774 (Titel des Neudrucks, 1818). • Flade/Hommel, S. 70, Anm. e und S. 71, Anm. e. 7 Klein, E. F.: Von der öffentlichen Verhandlung der Rechtshändel und dem Gebrauche der Beredsamkeit in den Gerichtshöfen; in: Vermischte Abhandlungen über Gegenstände der Gesetzgebung und Rechtsgelehrsamkeit, 1. Stück, 1779, S. 67 -77 (Nachdruck 1825).

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2. Kap.: Vorläufer der Reformbewegung in Deutschland

gefühl erhöhen und seine Gewissenhaftigkeit stärken. Der Bürger werde durch die öffentlichen Verhandlungen mit dem Recht bekannt gemacht, wodurch beiläufig auch "die Gegenstände des öffentlichen Gesprächs" vermehrt würden. Schließlich sähen sich auch die Sachwalter zu sorgfältigerem Vortrag veranlaßt. Die Ausführungen Kleins blieben von seinen Zeitgenossen nicht ganz unbeachtet, wie die beifällige Besprechung in Schotts "Unpartheyischer Critik" ausweist8• Später jedoch geriet sein Aufsatz in Vergessenheit. Von nun an mehrten sich die Stimmen für die Einführung des öffentlichen Strafverfahrens. Eine polemische Attacke gegen "Staatsgeheimnisse und Despotismus" ritt C. C. F. Hüpeden in einem Aufsatz in "Schlözer's Stats-Anzeigen" aus dem Jahre 1782a• Nachdrücklich empfiehlt er die Publizität der Justiz, weil sie und das Vertrauen der Untertanen "die kräftigste Empfehlung der Gesetze" seien. Ein von der Berner Ökonomischen Gesellschaft 1777 ausgesetzter Preis für den "vollständigsten und ausführlichsten Plan einer guten Kriminalgesetzgebung" brachte eine Hochflut reformerisch-kriminalistischer Literatur hervor. Den Sieg trugen die sächsischen Juristen Ernst v. Globig und Johann Georg Huster davon. In ihrer 1783 gedruckten "Abhandlung von der Criminal-Gesetzgebung" verlangen sie unter Anlehnung an Beccaria ein streng öffentliches Verfahren10 • Die beiden Autoren sind der AnsichtII, "es sey der bürgerlichen Freiheit gemäß, und die Mitglieder der Gesellschaft hätten bey ihrer ersten Vereinigung es verlangen können, daß der Gebrauch ihrer vereinigten Pfänder der natürlichen Freyheit so viel möglich unter ihren Augen geschähe, um von der Rechtmäßigkeit desselben beständig versichert zu sein." Den möglichen Einwand, die Richter setzten sich der Rache der Angeklagten und ihrer Verwandten aus, lassen Globig und Huster nicht gelten. Der gerechte Richter sei des Beifalls und der Ehrerbietung des Volkes gewiß; vor einigen "niederträchtigen Bösewichtern" brauche er sich nicht zu fürchten. In einer ergänzenden Schrift12 empfehlen die zwei Preisträger, die öffentliche Rechtspflege mit besonderer Feierlichkeit zu umgeben, wobei 8 Unpartheyische Critik über die neuesten juristiSchen Schriften, 88. Stück, 1780, S. 695 f. 9 Ueber die majestätische Kürze und Würde der Gesetzgeber und Richter,

S. 419 - 431.

10 So soll auch das Zeugenverhör vor Publikum, aber in Abwesenheit des Angeklagten stattfinden, S. 419. 11 mObiglHuster, Abhandlung, S. 388. 12 Vier Zugaben zu der im Jahre 1782 von der ökonomischen Gesellschaft zu Bern gekrönten Schrift von der Criminalgesetzgebung, 1785.

2. Kap.: Vorläufer der Reformbewegung in Deutschland

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sie in erster Linie die Kleidung der Richter im Auge haben. Damit soll sowohl Zuschauern wie auch Angeklagten und Zeugen Ehrfurcht eingeflößt werdent3 • Das Kriminalverfahren so weit als möglich öffentlich zu gestalten ist auch eine Forderung Carl Otto Graebes t4 • Den wesentlichen Grund für die Publizität sieht er im Vertrauen, das sie bewirkeu. In den 80er Jahren erschienen ferner zahlreiche übersetzungen ausländischer Reformliteratur, so unter anderem die der Werke von FilangierPS, Voltaire 17 , de la Croixt8 , Servan19 , Vermeil20 und Servin2t • Es zeigte sich, daß die gebildeten Schichten aller zivilisierten Staaten die "Offenbarheit der Gerichte" (Globig/Huster) als Teil einer guten Kriminalpolitik ansahen. Ohne Zweifel haben auch Theater und Presse erheblich dazu beigetragen, die kriminalpolitischen Ideen der Aufklärung zu verbreiten. Nicht selten findet die geheime Justiz eine wenig schmeichelhafte Darstellung, und sei es auch nur im Gewande historischer Verkleidung. Hierher gehört etwa die kurze Szene gegen Schluß von Goethes "Götz von Berlichingen", wo die Feme über Adelheid von Weislingen abgehalten wird. Der Journalist Ludwig Ferdinand Huber variierte 1790 das Thema in seinem Trauerspiel "Das heimliche Gericht" . Festgehalten zu werden verdient, daß ein so bedeutender Meinungsführer wie Goethe die Öffentlichkeit des Gerichtsverfahrens befürwortete. Auf seiner ersten italienischen Reise wohnte er in Venedig der S. 492 f. Graebe, C. 0.: Ueber die Reformation der peinlichen Gesetze und über die Verdienste und Bemühungen sie zu verbessern, 1784. 15 S.100 f. 18 Filangieri, G.: La scienza delle legislazione; deutsch von G. Chr. K. Link und J. Ch. Siebenkees unter dem Titel: System der Gesetzgebung, 1784 - 93. 17 Voltaire, Fr. M. A.: Commentaire sur le livre des deuts et des peines; 13

14

deutsch in: Des Herrn Marq. von Beccaria unsterbliches Werk von Verbrechen und Strafen nebst dem Commentar des Voltaire, 1788. 18 De la Croix: Reflexions philosophiques sur l'origine de la civilisation, et sur le moyen de remedier aux abus qu'elle entraine; deutsch von G. C. K. Link unter dem Titel: Philosophische Betrachtungen über den Ursprung des gesellschaftlichen Lebens, zur Verbesserung der peinlichen Gesetzgebung, 1783.

19 Servan, M. S.: Reflexions sur quelques points de nos lois a l'occasion d'un evenement important; deutsch unter dem Titel: Gedanken über einige Puncte der französischen Gesetze, bei Gelegenheit eines wichtigen Vorfalls,

1782.

10 Vermeil, M. V.: Essais sur les reformes a faire dans la Iegislation criminelle; deutsch 1782. 21 Servin: De la legislation criminelle, avec des considerations generales sur les lois et sur les tribuneaux de judicature par M. Iselin; deutsch von I. E. Gruner unter dem Titel: Ober die peinliche Gesetzgebung, 1786.

22

2. Kap.: Vorläufer der Reformbewegung in Deutschland

öffentlichen Verhandlung einer Rechtssache!! bei. Zwar hielt er das Ganze für "eine Komödie, weil alles wahrscheinlich schon fertig ist, wenn die öffentliche Darstellung geschieht". Dennoch gefiel ihm "diese Art unendlich besser als unsere Stuben- und Kanzleihockereien". Sodann berichtet er ausführlich, "wie artig, ohne Prunk, wie natürlich alles zugeht" 23. Unter dem Einfluß der Französischen Revolution gewann die Öffentlichkeit auch in Deutschland weiter an Boden. In aller Munde war in diesen Tagen ein Spottvers von Gottlieb Bürdeu : "Das grosse Losungswort, das jetzt ein jeder kräht, Vor dem in ihren Staatsperucken Sich selbst des Volkes Häupter bücken, Horch auf! es heisst: Publizität!" Der Begriff "Öffentlichkeit", erst kurz vor der Revolution entstandenZs, kam jetzt zunehmend für Publizität in Gebrauch. Als Übersetzung des revolutionären französischen publicite erhielt er sogleich eine polemische Ausrichtung gegen die alte feudale Ordnung. Die daraus herrührende politische Belastung des ganzen Begriffsbereichs verlor sich erst um die Mitte des 19. Jahrhundertsze • Für die Anhänger des öffentlichen Strafverfahrens fehlte es im letzten Jahrzehnt des 18. Jahrhunderts nicht mehr an praktischen zeitgemäßen Beispielen. So konnte Christian Daniel Erhard27 auf das Kriminalgesetz der Toskana aus dem Jahre 1786 verweisen, wo gern. § 49 "unter keinerlei Vorwand irgend einige gerichtliche Handlungen ins Geheim vorgenommen werden" durftet8 • Meist hatte man allerdings die französische Verfahrensreform im Auge; dort war schon 1789 die Gerichtsöffentlichkeit vorweg eingeführt worden". Darauf nahmen direkt oder indirekt Bezug Chr. D. Erhard in "Pastoret's Betrachtungen über die Strafgesetze"ao, Karl Th. J. v. Eberstein in seinem "Entwurf eines Sitten- und Straf-Gesätzbuchs"31 und allerdings einem Zivilprozeß. Goethe, J. W.: Poetische Werke, Berliner Ausgabe, 14. Bd., S. 231- 234. 24 zit. nach Kirchner, H.: Beiträge zur Geschichte der Entstehung der Begriffe "öffentlich" und "öffentliches Recht", 1949, S. 56. t5 vgl. Kirchner, S. 56. 28 vgl. Smend, R.: Zum Problem des Öffentlichen und der Öffentlichkeit; in: Gedächtnisschrift für Walter Jellinek, 1955, S. 11 - 20, hier S. 12 f. 27 Betrachtungen über Leopolds des Weisen Gesetzgebung in Toscana, 1791, S. 157, 165, 221. 18 Neues Criminal Gesetz von Toskana vom 30. November 1786; abgedr. in: Schlözer's Stats-Anzeigen, 10. Bd., 1787, S. 348 -.377 und 393 - 420, hier S.368. Je vgl. unten 3. Kap. ao 1. Bd., 1792, S. 11. 11 1793, S. 261. Z2

!3

2. Kap.: Vorläufer der Reformbewegung in Deutschland

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W. Hezel in seinen "Grundlinien zu einer allgemeinen deutschen Republik"u. Die französischen Reformideen haben auch Carl Gottlieb Svarez, den Schöpfer des Preußischen Allgemeinen Landrechts beeinflußt. 1796 entwarf er eine neue Verfahrens ordnung, die unter weitgehender Beibehaltung des gemeinen Prozesses eine öffentliche Hauptverhandlung vorsah. Seine Arbeit blieb allerdings unvollendet33 . Besonderes Interesse verdient der "Entwurf eines Gesetzbuches in Criminalsachen"34 von Carl Th. v. Dalberg; hatte doch der Verfasser später Gelegenheit, als Großherzog von Frankfurt und Fürstprimas des Rheinbundes seine Vorstellungen in die Praxis umzusetzen. Dalberg verspricht sich von der Öffentlichkeit gerichtlicher Handlungen "mehr Feyerlichkeit, Vertrauen und Wirksamkeit bey dem Publicum und Achtung für die Verdienste der Richter" (S. 53). Nachdem die Untersuchungsakten geschlossen sind, soll alles "bey offenen Thüren" geschehen, so v. a. die Verlesung der Verteidigungsschrift (S.46/47), die erschöpfende Sachdarstellung der Berichterstatter (S. 98), Abstimmung, Urteilsfassung (S.53) und -verkündung (S. 97/98). Bei Sittlichkeits delikten ist wenigstens nahen Verwandten oder Freunden des Angeklagten Einsicht in die U ntersuchungsakten und die Defensionsschrift zu gewähren (S. 45 ff., S. 99). Nachdrücklich fordert Dalberg die Bekanntmachung der Urteile nebst Entscheidungsgründen in der Wochenpresse (S. 99 f.). Er beabsichtigt damit keineswegs, "das Schicksal des Verbrechers zu erschweren"; die Maßnahme soll vielmehr die abschreckende Wirkung der Strafe verstärken, eine allgemeinere überzeugung von der Unparteilichkeit der Richter vermitteln und deren Pflichtgefühl heben. Hohen Rang räumte schließlich gegen Ende des Jahrhunderts Kants Staatstheorie der Öffentlichkeit ein. Im Anhang 11 seines Entwurfs "zum ewigen Frieden" (1795) stellte er den Satz aufs5 : "Alle auf das Recht anderer Menschen bezogenen Handlungen, deren Maxime sich nicht mit der Publizität verträgt, sind unrecht." Ihm folgte Fichte in der Bewertung der Öffentlichkeit. So erhob er im "Naturrecht" von 1796 die Forderung, alle Verhandlungen der Staatsgewalt mit allen Umständen und Gründen der Entscheidung müßten ohne Ausnahme die höchste Publizität haben. Sie ermögliche es einem jeden, darüber zu wachen, daß die Urteile und das ganze Verfahren

n.

1797, S. 43 Wolf, E.: Große Rechtsdenker der deutschen Geistesgeschichte, 4. Aufl., 1963, 5.457. 34 1792. 35 Kant, 1.: Kleinere Schriften zur Geschichtsphilosophie, Ethik und Politik, hrsg. v. K. Vorländer, 1964,5.163. 32

13

24

2. Kap.: Vorläufer der Reformbewegung in Deutschland

der Gewalthaber sich niemals widersprächen. Für Fichte ist dies ein sicheres Kriterium, ob Gerechtigkeit geübt wird36 • Die angeführte Literatur mag genügen, um zu zeigen, daß auch in Deutschland unter dem Einfluß der Aufklärungsphilosophie schon im 18. Jahrhundert der Ruf nach Öffentlichkeit der Rechtspflege immer häufiger erscholl. Legislatorischen Niederschlag konnten die Reformgedanken freilich nicht finden, solange die heimliche Staatspraxis des Absolutismus dominierte.

a.

Fichtes Werke, hrsg. v. I. H. Fichte, Bd. III, 1845/1971, S. 167 f.

Drittes Kapitel

Die Entwicklung zum öffentlichen Verfahren in Frankreich Der französische Strafprozeß hat sich im wesentlichen aus denselben Bestandteilen entwickelt wie der deutsche. Während wir auch hier im Mittelalter auf einen öffentlichen, mündlichen Anklageprozeß stoßen, beginnt der Siegeszug des geheimen und schriftlichen Inquisitionsverfahrens noch etwas früher als in Deutschland. Seit dem 13 .•Jahrhundert gewinnt das Untersuchungsprinzip unter dem Einfluß der geistlichen Gerichtsbarkeit und im Zeichen erstarkender Staatsgewalt ständig an Boden. Die Schwächung des Öffentlichkeitsgrundsatzes geht dabei nicht - wie in Deutschland - von partikularen Kräften, sondern vom König selbst aus, der auch die Rechtspflege seinem unbegrenzten Aufgabenbereich zuordnet. Königliche Beamte, procureurs du roi, werden zur treibenden Kraft des Verfahrens. Die Grande Urdonnance von 1670 festigt ihre Stellung und legt den Mangel an Öffentlichkeit, Mündlichkeit und unmittelbarer Verhandlung ausdrücklich fest. Mit rücksichtsloser Härte wird gegen den Beschuldigten vorgegangen der sich praktisch zwei Anklägern gegenübersieht, den Beistand eines Verteidigers aber entbehren muß. Gesetzliche Beweistheorie, außerordentliche Strafe und vor allem eine überaus intensiv gehandhabte Folter ergänzen die Schattenseiten des französischen Strafverfahrens vor der Revolution. Bis in die Mitte des 18. Jahrhunderts blieb der geheime Inquisitionsprozeß in Frankreich beinahe unangefochten. Einzelne Autoren wie der Criminal-Lieutenant zu Angers, Pierre AyrauW, sprachen nur für sich selbst und erzielten keinerlei Wirkung, soweit sie sich für die Publizität einsetzten. 1 L'ordre et l'instruction judiciaire dont les anciens Grecs et Romains ont use dans les occasions publiques, Paris, 1576. Ayrault nennt das öffentliche Verfahren "Zügel der pftichtvergessenen und Trost der guten Richter"; zit. nach G. W. Böhmer: D. Ernst Ferdinand Klein's Gedanken von der öffentlichen Verhandlung der Rechtshändel, 1825,

5.7f.

26

3. Kap.: Die Entwicklung zum öffentlichen Verfahren in Frankreich

Erst Montesquieu! gelang es, das Interesse seiner Landsleute für die englischen Staats- und Rechtsverhältnisse zu wecken. Dort hatte sich auf deutschrechtlicher Grundlage der Parteiprozeß mit öffentlich-mündlicher Verhandlung erhalten. Eindringlich wies Montesquieu darauf hin, daß die Freiheit des Bürgers von der Güte der Strafrechtspflege abhänge 3 • Das geheime Verfahren in Frankreich setzte er in Parallele zur herrschenden Regierungsform4 • Seine Forderung heißt Geschworenengericht, um die "so schreckliche richterliche Gewalt" zu einem Nichts werden zu lassen5• Zunächst allerdings gewannen weder Montesquieu noch die Angriffe der Enzyklopädie gegen die herrschende Strafrechtspflege8 großen Einfluß auf die öffentliche Meinung. Ihre Adressaten waren die Gebildeten der Nation, vornehmlich Montesquieu schrieb "als Staatsmann für Staatsmänner"7. 1762 verkündete Rousseau seine Lehre von der Freiheit und Gleichheit aller Menschen, Prinzipien, die in der Folge größten Einfluß auf das Strafrecht haben sollten, obwohl die Kriminalgesetze im "Contrat social" nur gelegentlich gestreift werden.

Die kriminalpolitische Reformbewegung populär gemacht zu haben, ist das gemeinsame Verdienst Voltaires und Beccarias. Voltaire hatte die Mißstände der französischen Straf justiz am eigenen Leibe erfahren8 • Mit der ganzen Kraft seiner Persönlichkeit setzte er sich in der letzten Periode seines Lebens für eine Verbesserung der Rechtspflege ein. Anlaß hierfür war der Justizmord an Jean Calas, ein Ereignis, das 1762 - 65 die ganze gebildete Welt bewegte. Voltaires Bemühungen um den Fall, seine berühmte Verteidigungsschrift "Traitesur la tolerance a l'occasion de la mort de Jean Calas" hatten dazu wesentlich beigetragen und so auch mittelbar Beccaria zu seinem bahnbrechenden Werk veranlaßt'. Das Buch des Italieners wurde 1765 ins Französische übersetzt und erlebte in sechs Monaten sieben Auflagen. Beccarias detaillierte Kritik ! mit seinem 1748 in Genf erschienenen Esprit des lolx; im folgenden zitiert nach der deutschen Ausgabe von Ernst Forsthoff, 1951. 3 Buch XII, Kap. 2. 4 Buch XXVIII, Kap. 34. 5 Buch XI, Kap. 6. 8 vgI. die Artikel "crime" und "question" von Jaucourt; Hertz, E.: Voltaire und die französische Strafrechtspflege im Achtzehnten Jahrhundert,

1887, S. 139. 7 Hertz, S. 140.

.

.

.

vgI. dazu Hertz, S. 155. vgl. Esselborn, K.: Über Verbrechen und Strafen von Cesare Beccaria, 1905, S. 10 u. 15. 8

t

3. Kap.: Die Entwicklung zum öffentlichen Verfahren in Frankreich

27

an der bestehenden Strafrechtspflege und seine konkreten Forderungen - darunter die Öffentlichkeit des Verfahrens - bewirkten auch in Frankreich eine Verdichtung der Diskussion. Voltaire, der in dem Marchese sogleich einen Bundesgenossen erkannt hatte, schrieb zu dessen Werk einen Kommentarlo• Darin verurteilt er besonders das geheime Zeugenverhör. Diese unter Franz I. eingerichtete und durch die Ordonnanz von 1670 bestätigte Praxis führt er auf ein Mißverständnis zurück. Fälschlich habe man die Worte ,testes intrare iudicantis secreturn' aus einer Codexstelle so verstanden, als müßten die Zeugen im Geheimen vernommen werden. Tatsächlich aber sei mit ,secreturn' die Gerichtsstube gemeint gewesenl l • Auch sonst finden sich bei Voltaire reichlich Bemerkungen über die heimliche Prozedur12• In seinem "Prix de la justice et de l'humanite" von 1777 bezeichnet er das geheime Verfahren als "Lunte, die unbemerkt brennt, um Feuer an die Bombe zu legen"13. Dank der Bemühungen des "Advokaten für verlorene Sachen"14 war die auf Reform des Strafprozesses gerichtete Bewegung zur Zeit seines Todes, 1778, bereits vollständig in Fluß. Das oben schon erwähnte, durch Beccarias Werk angeregte und durch Voltaire geförderte Preisausschreiben der Berner Ökonomischen Gesellschaft ließ auch zahlreiche Franzosen zur Feder greifen, darunter Maratl5 , Brissot de Warville18 und Servin17• übereinstimmend forderten sie ein streng öffentliches Strafverfahren. Andere schriftstellerische Wettbewerbe, so vor allem die der Akademien von Chälons sur Marne und Metz, ließen die Publizitätsforderung weiter populär werden. Es zeigte sich, daß die meisten führenden Köpfe - außer den bereits genannten Mablyl8, le Trosne l8 , de la Croix20 , Servan21 , Vermeil2!, Bernardi23 , Dupaty 24 - die öffentliche Rechtspflege befürworteten. Commentaire sur le livre des deUts et des peines, 1766. Commentaire, zit. nach der deutschen Ausgabe, 1788, S. 264. 1! Esmein, A: Histoire de la procedure criminelle en France, 1882, p. 366. 13 Art. XXII, § 5. 14 Hertz, S. 326. 15 Marat, J. P.: Plan de legislation criminelle, 1780. 18 BTissot de WarvilZe, J. P.: Theorie des loix criminelles, 1781. 17 Servin: De la Iegislation criminelle, avec des considerations generales sur les lois et sur les tribunaux dejudicature par M. Iselin, 1782. 18 Mably, B. de: De la Iegislation, ou principes des Lois, 1776. 10 Le Trosne: Vues sur la justice criminelle, 1777. !O De la Croix: Reflexions philosophiques sur l'origine de la civllisation, et sur le moyen de remedier aux abus qu'elle entraine, 1778. 21 Servan, M. S.: Reflexions sur quelques points de nos lois ä l'occasion d'un evenement important, 1781. 10

11

3. Kap.: Die Entwicklung zum öffentlichen Verfahren in Frankreich

28

Die Gegner der Reform fanden im letzten Jahrzehnt vor der Revolution kein Gehör mehr bei der Nation. Die Argumente eines Boucher d'Argis25 , eines Seguir28 oder eines Thorillon27 konnten die öffentliche Meinung von der "Notwendigkeit der geheimen Justiz"28 nicht überzeugen, mußten sie doch selbst einige Vorteile der als "Anglomanie"29 verspotteten Publizität anerkennen. Als am 5. Mai 1789 die etats generaux zum ersten Mal seit 1614 wieder zusammentraten, herrschte unter den drei Ständen über nichts so große Einigkeit wie über die Reformbedürftigkeit der Strafrechtspflege. Die Volksstimmung spiegelte sich wider in der "cahiers", in denen nach altem Brauch die Wahlkörperschaften den Abgeordneten ihre Wünsche und Instruktionen kundtaten. Darin sahen Adel, Klerus und Dritter Stand die Öffentlichkeit des Rechtsganges als erste Maßnahme einer neuen, nach englischem Vorbild zu entwerfenden Verfahrensordnung an30 • Nachdem sich aus den Generalständen eine konstituierende Nationalversammlung gebildet hatte, konnte Nicolas Bergasse bereits am 17.8. 1789 den Abgeordneten einen "Bericht über die künftige Organisation der rechtsprechenden Gewalt" vortragen. Als vorzüglichsten Grund für die Öffentlichkeit des Verfahrens führte er die Kontrolle der Richter durch das Publikum anal: "Wenn es nötig ist, Personen, die ein Amt ausüben, während dieser Ausübung so viel als möglich mit der öffentlichen Meinung zu umgeben, mit anderen Worten, der Kritik redlicher Leute unterzuordnen, so sind es die Richter; je größer ihre Macht ist, desto mehr müssen sie ohne Unterlaß neben sich die erste aller Gewalten fühlen, diejenige Gewalt, die sich nie bestechen läßt, jene furchtbare Gewalt der öffentlichen Meinung; und sie werden so lange diese Gewalt nicht fühlen, als die Untersuchung der Prozesse geheim geschieht ... Man setze den Richter den Augen des Volkes aus, H

Vermeil, M. V.: Essais sur les reformes

minelle, 1781.

a faire

dans la Iegislation cri-

23 Bernardi, M. M.: Discours couronne a l'academie de Chälons-sur-Marne en 1780; in: Brissot de Warville, J. P.: Bibliotheque philosophique, T. VIII, 1782, p. 5 - 264; Derselbe: Principes des lois criminelles suivis d'observations impartiales sur le droit romain, 1788. U Dupaty: Memoire justificatif pour trois hommes condamnes a la roue,

1786.

Boucher d'Argis: Observations sur les lois criminelles, 1781. Ober ihn vgl. Hertz, S. 486 ff., bes. S. 488. 17 Thorillon: Idees sur les lois criminelles, 1788. 18 Ein Auszug der oben genannten Schrift von Boucher d' Argis erschien unter dem Titel "Observations sur la necessite de la procedure secrette" in Brissots "Bibliotheque philosophique", T. IX, 1782, p. 333 - 346. 2t Boucher d'Argis, ebenda. 25

28

Esmein, p. 404. zit. nach Fö!ix, J. J. G.: Ueber Mündlichkeit und Oeffentlichkeit des Gerichtsverfahrens, 1843, S. 44 f. Vgl. auch Zenk, F.: Die Oeffentlichkeit im Militärstrafprozeß, 1896, S. 22 und 277 f. 30

81

3. Kap.: Die Entwicklung zum öffentlichen Verfahren in Frankreich

29

und da nur die dem Verbrechen gänzlich ergebenen Individuen, ungeachtet sie von allen Seiten der Beobachtung sich ausgesetzt flnden, Böses zu tun wagen, kann man versichert sein, besonders wenn das Volk frei ist und wenn die Kritik sich mit Kraft äußern darf, daß nichts seltener sein wird als ein seine Pflichten verletzender Richter ..." In den Debatten brachte einer der Redner, Tronchet, diesen Gedankengang auf die kurze Formel32 : ..Die Oeffentlichkeit der Urteile hat zur Folge, daß das Volk selbst mit zu denselben wirkt durch die Kraft der öffentlichen Meinung ..." Obwohl die Nationalversammlung den Bericht von Bergasse mit lebhaftem Beifall bedachte, blieb er zunächst ohne praktische Auswirkung. Die Abgeordneten hatten für Stück- und Flickwerk nicht viel übrig. Sie waren entschlossen, die Reform im Ganzen, langsam und mit reiflicher überlegung anzugehen33 • Damit setzten sie sich aber in Widerspruch zur Pariser Kommunalversammlung. Durch Lafayette veranlaßt, verlangte diese Anfang September 1789, die Konstituante möge einige vorläufige Verbesserungen der Strafjustiz vornehmen, insbesondere die Öffentlichkeit des Verfahrens einführen34 • Da man nicht wagte, den Zorn der Pariser Straße herauszufordern, erging ein provisorisches Gesetz vom 8. und 9. Oktober 1789. Darin wurde der Inquisitionsprozeß der Ordonnanz von 1670 grundsätzlich beibehalten, jedoch einige der schreiendsten Mißstände beseitigt und die Verhandlung bei offenen Türen angeordnet. Man erkannte allerdings, daß während der ersten Akte der Untersuchung keine Zuschauer zugegen sein dürften, sollte die Strafverfolgung nicht nahezu aussichtslos werden. Die Generaluntersuchung (information) blieb daher geheim. Um aber den ermittelnden Friedensrichter nicht ohne Kontrolle zu lassen, schuf man eine andere Garantie. Dem Richter werden zwei durch den Gemeindeverband gewählte Notabeln beigegeben, die die Öffentlichkeit repräsentieren. Die Beisitzer haben den Untersuchungsrichter zu überwachen, diesem ihre Eindrücke von den Zeugenaussagen mitzuteilen und ihn bei der Aufnahme der Protokolle auf be- und entlastende Momente aufmerksam zu machen. Ihre Aufgabe endet mit dem Erlaß eines Dekrets, durch das der Beschuldigte vor das erkenndende Gericht gebracht wird. Von diesem Zeitpunkt an nimmt eine öffentliche, kontradiktorische Verhandlung ihren Lauf. Daß die Väter des Instituts der Beigeordneten im Vorverfahren noch eine zweite, staatsbürgerlich-erzieherische Absicht verfolgten, enthüllt Beaumetz in seinem Bericht an die Nationalversammlung35 : 32

33

zit. nach Foelix, S. 46. vgl. den Eingang des Gesetzes vom 8. und 9. Oktober 1789, zit. bei Hertz,

S.505. 34 Feldhausen, P.: Zur Geschichte des Strafprozeßrechtes in Frankreich von der Revolution bis zum Erlass des ,Code d'instruction criminelle' (1789 bis 1808), 1966, S. 23 f.

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3. Kap.: Die tntwicklung zum öffentlichen Verfahren in Frankreich "Die Bürger, die sich mit dieser Einrichtung daran gewöhnt haben, sich den Aufgaben der Justiz zu stellen, werden das Recht zu richten nicht mehr als das Vorrecht einer bestimmten Kaste ansehen. Sie werden sich langsam jener Einstellung nähern, die für die Einrichtung des Geschworenengerichts so notwendig ist, für eine Einrichtung, die vielleicht mehr Änderung in den Gesinnungen als Wechsel der Institutionen bedarf."

Erneut proklamiert wurde die Öffentlichkeit der Hauptverhandlung durch das Gerichtsverfassungsgesetz vom 16.124. August 179086 • Seine Bestimmungen gingen später in sämtliche Gesetze über, die das Strafverfahren zum Gegenstand hatten, so in die Prozeßordnung vom 16.1 29. September 1791, den Code des delits et des peines vom 25. Oktober 1795 und schließlich in den Code d'instruction criminelle vom 17. November 180887• Dagegen verschwand die repräsentative Öffentlichkeit der Voruntersuchung, die das Dekret vom 8. Oktober 1789 ins Leben gerufen hatte, schon bald. Die StPO von 1791 stellte die strenge Heimlichkeit dieses ersten Prozeßabschnitts wieder her, und die Napoleonische Kriminalordnung folgte ihr darin. Als wichtige Errungenschaft der Revolution wurde die Gerichtsöffentlichkeit auch in die "Verfassung der Französischen Republik vom 24. Juni 1793" aufgenommen. Gemäß Art. 94 der Konstitution sollten (in Zivilsachen) sogar Beratung und Abstimmung der Richter öffentlich sein. Die Direktorialverfassung vom 22. August 1795 hob diese Regelung wieder auf, bestätigte im übrigen aber die Öffentlichkeit der gerichtlichen Verhandlungen (Art. 208).

35 Rapport du Comite, charge de proposer a l'assemblee Nationale un Projet de declaration sur quelques changements provisoires dans I'Ordonnance criminelle; zit. nach Feldhausen, S. 30 f. 88 Tit. II, Art. 14, 15.

17

Art. 153, 190 I.

Viertes Kapitel

Einzug des öffentlichen Rechtsgan/!es in die unter französischem Einfluß stehenden Gebiete und Kampf um seine Erhaltung I. Einführung

War auch, wie wir gesehen haben, schon im 18. Jahrhundert - und verstärkt in seinen letzten Jahrzehnten - eine recht kräftige Bewegung zugunsten des öffentlichen Verfahrens entstanden, so blieb diese in Deutschland doch ganz auf die Studierstuben beschränkt. In das Bewußtsein breiterer Schichten drang diese Forderung erst, als im Gefolge der Revolutionskriege und der Napoleonischen Expansion in weiten Teilen Deutschlands ein Experimentierfeld für das neue Verfahren geschaffen war. Die öffentliche Rechtspflege der Schwurgerichte wurde zum selbstverständlichen Teil des modernen Staatslebens, das die französische Herrschaft mit sich brachte. Ihr Wert als Propagandamittel der neuen Ideen wurde selbst von Napoleon hoch eingeschätzt. In einem Brief an seinen Bruder Jeröme, den König von Westfalen, heißt es: "Die Wohlthaten des Code Napoleon, die Öffentlichkeit des Verfahrens, die Einrichtung der Jurys werden ... entscheidende Charakterzüge Ihrer Monarchie sein. Und soll ich Ihnen meine Gedanken ganz verraten, so rechne ich mehr auf ihre Wirkungen, um Ihre Monarchie auszudehnen und zu befestigen, als auf das Resultat der größten Siegel." Dementsprechend hatte er die Gerichtsöffentlichkeit auch in die (von ihm selbst entworfene) Konstitutions-Akte des Königsreichs Westfalen aufnehmen lassen (Art. 46), und diese sollte den übrigen Rheinbundstaaten als Vorbild dienen. Die Herstellung der Rechtseinheit auch auf dem Gebiet des Prozeßrechts war als ein weiteres Mittel zur politischen Integration dieser Länder durchaus geeignet. Mit dem Sturz Napoleons und dem Ende der französischen Hegemonie schien auch das Ende des öffentlichen Verfahrens gekommen zu sein. War es doch Teil des fremdländischen, aufgezwungenen Rechts, das es zu beI zit. nach Kleinschmidt, A.: Geschichte des Königreichs Westfalen, 1893, 5.14.

32

4. Kap.: Einzug des öffentl. Rechtsganges unter franz. Einfluß

seitigen galt. Tatsächlich hatte eine Reihe der wiedergekehrten Gewalten nichts Eiligeres zu tun als die französischen Neuerungen auf diesem Gebiet aufzuheben!. Die rheinischen Territorien entgingen diesem Schicksal, da sie zunächst unter provisorische Verwaltung gestellt waren und man vor Klärung ihrer endgültigen staatlichen Zugehörigkeit so wenig als möglich ändern wollte. Doch haben sich schon in dieser Zeit einzelne Praktiker wie der General-Staatsprokurator Birck und Kammerpräsident Rebmann aus grundsätzlichen Erwägungen nachdrücklich für die Beibehaltung des öffentlichen Strafverfahrens eingesetzt3 • Nach der endgültigen Festlegung der Territorialverhältnisse hub in der preußischen Rheinprovinz allmählich ein erbittertes Ringen um die Erhaltung der französischen Rechtseinrichtungen an, während Bayern und Hessen ihren linksrheinischen Landesteilen den Bestand der wichtigsten Institutionen und damit auch des Rechts ausdrücklich garantierten. Bayern mochte dabei hoffen, seine entlegene Provinz gegen die rechtsrheinische Pfalz zu vertauschen; der hessische Großherzog wollte sogar wesentliche Teile des französischen Verfahrens für seine rechtsrheinischen Gebiete übernehmen. In Rheinpreußen dagegen war die Abschaffung der fünf Codes zunächst beschlossene Sache. Der Justizminister Friedrich Leopold von Kircheisen, "ein altpreußischer Richter und Beamter friederizianischer Prägung", beeilte sich denn auch, die Rheinprovinzen möglichst schnell und gründlich mit der preußischen Gesetzgebung zu beglücken. Allein seine Vorschläge gingen einzelnen Ministern noch nicht weit genug, und so mußte die Sache durch Hardenberg dem König vorgelegt werden. Der Staatskanzler, maßgeblich beraten durch seinen Kabinettsrat Johann Albrecht Friedrich Eichhorn (den späteren Minister), beantragte beim Monarchen die Einsetzung einer rheinischen Immediat-Justizkommission zur Prüfung der ganzen rheinischen Gesetzgebungsangelegenheit. Hardenberg ist zu diesem Schritt nicht durch die öffentliche Meinung in den Rheinlanden bestimmt worden - diese war zu diesem Zeitpunkt noch ungeklärt -; vielmehr dürfte sein damals noch gehegter Wunsch, die Steinschen Reformen fortzuführen, eine wichtige Rolle gespielt haben. Entsprach doch gerade das öffentliche Gerichtsverfahren den Intentionen des Freiherrn, "Gemeingeist" zu bilden "durch unmittelbare Teilnahme am Öffentlichen"4. 2 z. B. in Kurhessen schon am 10. Januar 1814, in Frankfurt am 1. Februar 1814. a vgl. ihre Reden, gehalten am 7.11.1814 in der feierlichen Sitzung der

versammelten Kammern des Ober-Appellationshofes Trier; abgedruckt bei: Fontaine, K. de 1a: Zur Geschichte der Rechtspflege in den Rheinlanden nach dem Zusammenbruch des Kaiserreichs; in: Trierisches Archiv, 17. -18. H., 1911, S. 167 - 183.

4 vgl. Steins "Schreiben an den Geh. Leg. Rath Eichhorn zu Cob1enz über Preußens Verfassung" vom 2.1. 1818; abgedruckt bei: Pertz, G. H.: Denkschrif-

II. Überblick über die Literatur

33

Am 20.7.1816 erging die Kabinettsorder, die die Immediat-Justizkommission einsetzte und sie anwies: "Ich will, daß das Gute überall, wo es sich findet, benutzt und das Rechte anerkannt werde ... " Je länger, je mehr stellte sich als das Gute das französische Recht heraus'. Unterstützt wurde diese Tendenz durch eine neue Stimmung in den Rheinlanden. Alles Bestehende erschien jetzt als Eigentümlichkeit der Provinz und war seiner Zweckmäßigkeit und seines politischen Wertes wegen gegen Altpreußen zu verteidigen. Am zähesten hing man am öffentlichen Verfahren. übereinstimmend erklärten sich die Gerichtshöfe für den mündlichen und öffentlichen Rechtsgang in Untersuchungssachen. In zahlreichen Denkschriften, besonders der Städte Köln, Trier, eleve und Koblenz (dieses unter Görres' Führung) und in den Spalten der rheinischen Zeitungen und Zeitschriften schlug sich die Meinung der Bevölkerung nieder. Auch Gegner der französischen Gesetzgebung hielten schließlich angesichts der Stimmung in der Provinz die Beseitigung des öffentlichen Verfahrens für unmöglich'. Nach fast zweijähriger Beratung empfahl die Kommission, das rheinische Recht vorläufig bis zur Revision der preußischen Gesetzbücher beizubehalten. Es bedurfte aber noch großen Einsatzes und viel taktischen Geschicks, besonders des Geheimen Staatsrats Heinrich Gottfried Wilhelm Daniels, bis die Öffentlichkeit und Mündlichkeit des Verfahrens, die Jury und die Staatsanwaltschaft gesichert waren, kurz bevor die harte Reaktion in Preußen die Oberhand gewann.

II. tJ'berblic:k über die Literatur Nicht sehr umfangreich ist die Literatur zum öffentlichen Verfahren in der Zeit zwischen 1798 und 1814. Die Entwicklung war hier atypisch verlaufen: Die Literatur konnte nur auf einen Akt der Gesetzgebung reagieren, dessen Abänderung kaum in Aussicht stand; eine solche Situation ist einer breiten Diskussion selten förderlich. So finden sich häufig nur verstreut kurze Bemerkungen über die Öffentlichkeitt, überten des Ministers Freiherrn vom Stein über Deutsche Verfassungen, 1848, S. 36 - 41, bes. S. 38 und 39. 5 Bereits Anfang Mai 1817 war die Kommission entschlossen, am öffentlichen Verfahren festzuhalten. Sie hütete sich jedoch davor, ihre Ansicht der Bevölkerung bekanntzugeben. - Vgl. den Brief des Kommissionsvorsitzenden Sethe an Hardenberg vom 5. Mai 1817, zit. nach Faber, K.-G.: Die Rheinlande zwischen Restauration und Revolution, 1966, S. 136. e Solms-Laubach, zit. nach Treitschke, H. v.: Deutsche Geschichte im 19. Jahrhundert, Zweiter Teil, 1917, S. 223. 1 z. B. bei Bergk, J. A.: Die Philosophie des peinlichen Rechtes, 1802, S.352 u. 372; Tajinger, W. G.: Ueber die Idee einer Criminalgesetzgebung, 1811, S.118.

3 Alber

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4. Kap.: Einzug des öffenti. Rechtsganges unter franz. Einfluß

wiegend positiver Art. Auch da, wo sich Widerstand regt, richtet er sich meist gegen die Anwendung im Zivilverfahren, betont dagegen die Nützlichkeit für den Strafprozeß2 • Immerhin ist dieser Zeitabschnitt für die beiden künftig wichtigsten Vorkämpfer der Öffentlichkeit - Feuerbach und Mittermaier - von einiger Bedeutung gewesen. Feuerbach entwarf die bayerische Verordnung vom 27.7.1809, die für Ausnahmegerichte in Memmingen und Nürnberg für kurze Zeit öffentliche Schlußverhandlungen einführte und mühte sich dann - fast erfolgreich - darum, solche auch im bayerischen StGB von 1813 unterzubringen 3• Mittermaier dagegen wandelte sich vom Gegner zum warmen Befürworter des öffentlichen Verfahrens4 • Erwähnenswert ist schließlich noch eine Abhandlung in den Europäischen Annalen von 18085 • Ganz im Sinne des Freiherrn vom Stein wird hier die Öffentlichkeit der Rechtspflege als "Pflanzschule des Gemeingeistes" beschworen (S. 58) und in enge Beziehung gesetzt zu einer repräsentativen, alle deutschen Stämme einigenden Verfassung (S. 62 f.). Der literarische Kampf zur Erhaltung der öffentlichen Verhandlungen im rheinischen Rechtsgang läuft in zwei Phasen ab. Die erste reicht von der militärischen Eroberung durch die Verbündeten bis in die zweite Hälfte des Jahres 1816, als die Immediat-Justiz-Kommission ihre Arbeit aufnahm. Die zweite findet ihren Abschluß mit der KabinettsOrder vom 19. November 1818, die den vorläufigen Endpunkt der Auseinandersetzungen darstellt. Es ist verständlich, daß "in den ersten Zeiten des Siegesrausches" wenig Neigung bestand, die französischen Einrichtungen zu verteidigen. Auch mußten zunächst das Problem der territorialen Zugehörigkeit der Rheinlande und die beginnende Verfassungsfrage größeres Interesse erwecken. Demgemäß haben die Schriften Philipp Heinrich Hadamars 6 und des eingangs schon erwähnten Andreas Georg Friedrich Rebmann7 wenig Aufsehen erregt. Erst durch den äußeren Anstoß - die Errichtung der Immediat-Justiz-Kommission - begann sich eine öffentliche Meinung I z. B. Gönner, N. Th.: über die Einführung öffentlicher Verhandlungen bei bürgerlichen Rechtsstreitigkeiten in teutschen Gerichten; in: Archiv für die Gesetzgebung und Reforme des juristischen Studiums, 2. Bd., 1809, S. 313 bis 336, bes. S. 333. 3 vgl. Exkurs. « siehe einerseits "Theorie des Beweises im Peinlichen Prozesse", 1. Theil, 1809 (1821), S. 18 - 20, andererseits "Handbuch des Peinlichen Processes" , 1. Bd.,

1810, S. 166 - 173.

5 "Ueber die Einführung mündlicher Verhandlungen in den Gerichtshöfen Deutschlands", S. 53 - 63. G Die Vorzüge der öffentlich-mündlichen Rechtspflege, 1816. 7 Schreiben eines gerichtlichen Beamten an den Verfasser des Schriftchens: Vorzüge der öffentlich-mündlichen Rechtspflege, als Nachtrag dieser Schrüt, 1816.

Ir. tJberblick über die Literatur

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zu bilden. Nicht nur Juristen, auch Bauern, Lehrer, Privatgelehrte, Kaufleute und ein "Brigade-Auditeur" steuerten jetzt Gutachten über das öffentliche und mündliche Verfahren in Kriminalsachen bei. Eine Flut von flüchtig zurechtgemachten Flugschriften setzte ein. Die rheinische Presse nahm sich der Sache an und verteidigte die Öffentlichkeit energisch gegen Berliner und andere Zeitungen, die den geheimen preußischen Prozeß möglicht schnell eingeführt sehen wollten. Große Bedeutung hat das "Niederrheinische Archiv" erlangt. Dieses halbamtliche Organ der Immediat-Justiz-Kommission wurde bald zum Sammelbecken aller Befürworter der Öffentlichkeit, während gegnerische Äußerungen allenfalls mit einem bissigen Kommentar versehen veröffentlicht wurden. Gerade umgekehrt verfuhren die "Jahrbücher für die Preußische Gesetzgebung, Rechtswissenschaft und Rechtsverwaltung" des K. A. von Kamptz. Beide Zeitschriften lieferten sich einen erbitterten Kampf, dem es an persönlichen Verunglimpfungen und Verdächtigungen nicht mangelte.

An juristischen Argumenten kann man schon in dieser Zeit fast alle nachweisen, die auch später geltend gemacht werden. Die politischen Gründe beziehen sich zum Teil nicht so sehr auf die Öffentlichkeit der Verfahren an sich als auf die französischen Einrichtungen insgesamt. Besonders die Gegner gehen so vor, indem sie z. B. anführen, ein deutsches Rheinland mit französischem Recht stehe stets in Gefahr, auch politisch wieder von Frankreich an sich gezogen zu werdenS, indem sie die Nationalehre bemühenD oder das schädliche Nebeneinander zweier Prozeßordnungen in einem Staate beklagen'G• Die bedeutendsten Befürworter der Öffentlichkeit in Untersuchungssachen sind Karl Ferdinand Friedrich Ruppenthal, Johann Paul Brewer und natürlich die Verfasser des Kommissions-Gutachtens. Neben Karl Albert von Kamptz ragen unter den ablehnenden Stimmen Fritz Trittermann und Theodor Schram heraus.

8 (Kamptz, K. A. v.): Ueber Geschwornen-Gerichte und einige andere Gegenstände des französischen Criminal-Verfahrens; in: Jahrbücher für die Preußische Gesetzgebung, Rechtswissenschaft und Rechtsverwaltung, 12 .Bd., 1818, S. 91 - 202, hier S. 195. g (Neigebauer, J. D. F.): Die Wünsche der neuen Preussen bei der zu erwartenden Justiz-Reform in den Rheinländern, 1816, S. 38 f.; v. Kamptz, S. 191. 10 v. Kamptz, S. 192 f.; Trittermann, F.: Die Nachtheile des öffentlichen Verfahrens in bürgerlichen und peinlichen Sachen,1817, S. III.

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4. Kap.: Einzug des öffentl. Rechtsganges unter franz. Einfluß 111. Topoikatalog A. Gründe für die öffentlichkeit

a) Gründe, welche die Prozeßbeteiligten betreffen 1. Kontrolle der Justiz, besonders beim mündlichen Verfahren Jeder einzelne Zuhörer, behauptet Mittermaiert, bildet die Kontrolle gegen Nachlässigkeit oder Unwissenheit. Und er fordert: "Jedem Einzelnen muß ... erlaubt seyn, Vertheidigungsgründe zu liefern und offenbare Fehler des Verfahrens zu rügen ... " Für das Gutachten der Immediat-Justiz-Kommission2, 8 ist die Öffentlichkeit bereits eine notwendige Folge der mündlichen Verhandlungen. Wenn die "Controlle der Schrift" aufhöre, dann müsse der Staat wie der Angeklagte andere Bürgschaft erhalten, daß recht gerichtet werde. So müsse die Unschuld in der Öffentlichkeit des Verfahrens, in der Gegenwart des Publikums, welches ebenfalls sehe, höre und richte, und in der öffentlichen Meinung einen Schutz finden, daß das mündlich nicht festgehaltene Wort nicht zu ihrem Verderben angewandt werde, sowie das Gemeinwesen eine Bürgschaft, daß der Verbrecher nicht der gerechten Strafe entgehe. Wer könnte das große Publikum für fähig halten, die Justiz und besonders den Richterspruch auch nur einigermaßen zu kontrollieren? fragt dagegen v. Kamptz4 • Die Erfahrung beweise ja hinreichend, aus welchen Individuen dies Publikum bestehe. Aber der gerühmte Nutzen würde auch dann unerreichbar sein, wenn das Publikum anders beschaffen wäre, weil gerade die Hauptfunktionen des richterlichen Amtes, Deliberation, Abstimmung und Fällung des Urteils nicht vor dem Publikum, sondern in der geheimen Beratungskammer und ohne Anführung der Entscheidungsgründe erfolge, mithin die Zuhörerschaft, welche überdem die Akten nicht kenne, durchaus außerstande sei, die Richtigkeit des richterlichen Ausspruches zu prüfen, falls man unter Prüfung nicht ein leeres, oberflächliches Räsonnement verstehe. 2. Gerichtszeugenfunktion beim Geschworenengericht

Feuerbach5 weist darauf hin, die Geschworenen seien wegen ihres Ausspruches unverantwortlich, da die Entscheidung der Jury bloß durch subjektives Fürwahrhalten bestimmt werden solle. Als mächtiges GegenHandbuch, S. 171. im folgenden zitiert als "Gutachten". 8 abgedruckt bei: Landsberg, E.: Die Gutachten der Rheinischen ImmediatJustiz-Kommission und der Kampf um die Rheinische Rechts- und Gerichtsverfassung, 1914, S. 1 - 54, hier S. 24. 4 v. Kamptz, S. 163 ff. S Betrachtungen über das Geschwornen-Gericht, 1813, S. 33 f. 1

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IH. Topoikatalog

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gewicht gegen ihren Leichtsinn und ihre Gewissenlosigkeit gebe es das "Gericht der öffentlichen Meinung, das Censorat des Publikums", welches mit Ehre lohne oder mit Schande strafe. Das Urteil der Jury sowie das Verfahren, worauf es gegründet werde, müsse daher öffentlich sein. "Das Publikum muß als Zeuge dastehen, wie die aus ihm erwählten Männer den Beruf erfüllen ... Erst durch diese Öffentlichkeit des Verfahrens erhält das Institut der Jury seine Vollendung ... " 3. Beruhigung für den Angeklagten

Es ist - sagt das Gutachten8 - eine Beruhigung für jeden Angeklagten, welcher, seiner Freiheit beraubt, zu niemandem als dem Inquirenten, in welchem er doch nur einen Gegner sieht, sprechen konnte, wenn er bei der Verhandlung, welche sein Schicksal entscheidet, öffentlich auftreten und in Gegenwart seiner Mitbürger dasjenige anführen kann, was zu seiner Entschuldigung und Rechtfertigung oder doch zur Milderung dient. 4. Schutz vor richterlicher Willkür und Schutz für die Unschuld Das Gutachten7 ist der Auffassung, die Öffentlichkeit sei die beste Garantie, daß der gefangene, wehrlose und früher der Willkür des Kerkermeisters und des Richters mehr oder weniger überlassene Angeklagte keine härteren übel erdulde als die Gesetze wollten; insbesondere aber, daß er durch keine widerrechtlichen Mittel zu Geständnissen gezwungen werde und daß, wenn wider Vermuten ein derartiges ungesetzliches Verfahren eintreten sollte, solches an das Tageslicht komme8 • Und Ruppenthal' setzt hinzu: Wenn man im allgemeinen die Gründe entwickelt habe, welche die Öffentlichkeit des Prozesses als ein besonderes und vorzügliches Mittel für die Entdeckung der Wahrheit empfehlenswert machten, so müsse ja notwendig dies auch der Beweis sein, daß die öffentlichkeit die Beschützerin der wahren Unschuld sei. "Diejenige Prozeßform, welche am sichersten zur Wahrheit führt, muß durchaus die Beschützerin der Unschuld seyn, weil die Unschuld doch nur dann gestraft wird, wann man keine Wahrheit findet."

5. Ehrenrestitution für die in Zweifel gezogene Unschuld Die Öffentlichkeit des Verfahrens allein gewährt nach Ansicht des Gutachtens10 die Ehren-Restitution für die in Zweifel gezogene Unschuld. a. a. 0., S. 27. a. a. 0., S. 27 f. 8 vgl. auch Mittermaier, Handbuch, S.172. , (Ruppenthal, K. F. F. J.): Rechtfertigung des öffentlichen, mündlichen Verfahrens im CiviIprozeße und in peinlichen Sachen gegen seine Verfolger, 2. Aufi., 1817, S. XXX u. 89. 10 a. a. 0., S. 30. S

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4. Kap.: Einzug des öffentl. Rechtsganges unter franz. Einfluß

"Die Gegenwart der Mitbürger, die Theilnahme, welche er überall auf ihren Gesichtern findet, das Anerkenntnis seiner Unschuld, welches der unpartheiische gerechte Richter öffentlich ausspricht, das Bewusstseyn, daß seine Mitbürger nicht bloß diesen Ausspruch vernehmen, sondern daß sie selbst aus den Verhandlungen sich haben überzeugen können und müssen, daß kein anderes Urtheil erfolgen konnte, diese müssen offenbar für jeden Ehrliebenden die schönste Genugthuung werdenll." Weber1z glaubt, die Öffentlichkeit der Inquisition sei das einzige Mittel, einen unschuldig Angeklagten von der "levi macula" zu reinigen, welche einem in gerichtliche Untersuchung Geratenen nun doch einmal anhafte. Eine nicht geringe Publizität - dies ist ein Einwand Kircheisens13 - finde bei den freisprechenden Erkenntnissen ohnehin statt, da der Freigesprochene es sich wohl angelegen sein lassen werde, die Entscheidung bekannt zu machen und dadurch die in seinem Kreise gefährdete Ehre wiederherzustellen. 6. Ansporn für den Defensor Auch eine Verbesserung der Verteidigungen erwartet das Gutachten14 vom mündlichen öffentlichen Verfahren. Denn der eitle Defensor finde Sporn und Belohnung in dem öttentlichen Beifall, der eigennützige in dem großen Zulauf und der einträglicheren Praxis, welche dieser Beifall verschaffe. Auch der Bessere und Sittlichere sei nicht gleichgültig gegen das Lob der Kenner. Unter den Augen der Vorgesetzten und Mitbürger steigere er Sorgfalt und Fleiß und arbeite um so mehr mit Lust, wenn es ihm vergönnt sei, unmittelbar die heilsamen Folgen seiner Bemühungen zu erblicken. 7. Anreiz für rednerisches Talent15 Die NotabIen des ehemaligen Kantons BrühP' erblicken in der Öffentlichkeit eine Triebfeder für junge Rechtsgelehrte, sich Rednertalente zu erwerben. 11 vgI. auch die "Wünsche und Ansichten der Notabien des ehemaligen Kantons Brühl"; in: Niederrheinisches Archiv für Gesetzgebung, RechtswissensChaft und Rechtspflege, 3. Bd., 1818, S. 32 - 39, hier S. 34. 12 WebeT, Lt. G.: Nachlese über das öffentliche und mündliche Gerichtsverfahren, 1818, S. 56. 13 Votum des Justizministers von Kircheisen betreffend die Organisation der Justiz in den Rheinprovinzen; abgedruckt bei: LandsbeTg, Gutachten, S. 281 - 350, hier S. 293. l' a. a. 0., S. 37. 15 Dieses Argument wird sonst Überwiegend im Zusammenhang mit dem mündlichen und öffentlichen Zivilprozeß erwähnt, vgl. z. B. (Seyppel, B.): Gründe für und wider die mündliche öffentliche Rechtspflege in bürgerlichen Rechtssachen, 1816, S. 24 - 30. 18 a. a. 0., S. 34.

III. Topoikatalog

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b) Gründe, welche das einzelne Strafverfahren betreffen

1. Leichtere überführung des Verbrechers RuppenthaP ist der überzeugung, die öffentliche Untersuchung halte kein Verbrecher aus, ohne sich zu verraten, sei er noch so geübt, möge er seine Lügen noch so künstlich zusammengestellt haben. 2. Erleichterung der Wahrheitsfindung (durch die Feierlichkeit der Verhandlung) Das Feierliche einer öffentlichen Sitzung - so behauptet Ruppenthal! - hat sich besonders hinsichtlich der Wahrheit der Zeugenaussagen wohltätig bewährt. Denn nach seiner Argumentation kann man mit Zuversicht annehmen, daß selten ein Mensch die Bekanntschaft mit dem Verbrechen so innig schließt, daß selten ein Mensch die Verstellungskunst in dem hohen Grade erlernt, daß er unter den Augen des Publikums, das ihn bewacht, einem ganzen Gerichtshofe gegenübergestellt, mit Ernst und feierlich zur Wahrheit aufgefordert, mit den Strafen des Meineids bekannt gemacht, dennoch die innere bessere Stimme seines Gewissens so zum Schweigen bringen kann, daß sein Äußeres den Kampf nicht verraten solltei. 3. überzeugung von der Gerechtigkeit und Unparteilichkeit der Rechtspflege im Einzelfall Einen Vorzug des öffentlichen Verfahrens sieht das Gutachten4 auch in folgendem: Es erwecke in jedem einzelnen Falle eine innere überzeugung bei dem Volke, daß das Urteil, insbesondere die Strafe, nicht willkürlich erfolge, sondern hierdurch bloß dem Gesetz genügt werde. Offenbar geschehe dies aber am sichersten dann, wenn die nämlichen Mittel, welche den Richter zur Erkenntnis führten, auch den Bürgern eröffnet würden, und wenn sie selbst so wie der Richter die Gründe hörten und sähen, welche das Nicht-Schuldig oder Schuldig und den Grad der Schuld bestimmten'. Auch Ruppenthal betont, die Öffentlichkeit gebe der durch das Verbrechen beleidigten Gesellschaft die Gelegenheit, sich von einer unparteiischen Rechtspflege zu überzeugen" 7. 1 8. I

a. 0., S. XXIX u. 88.

8. 8.

0., S. 93.

• siehe auch Gutachten, S. 45 und unten S. 50. , a. a. 0., S. 33.

S siehe auch Weber, S. 54 f. und Bergk, S. 352. e a. a. 0., S. 89. 7 siehe auch Mittermaier, Handbuch, S. 172.

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Und Brewer8 meint, nur da, wo das Volk selbst sehen und sich überzeugen könne, wie und worüber gerichtet werde, söhne es sich mit der Strenge sowohl als der Milde des Gesetzes aus. Bei Licht betrachtet sieht es für Trittermann8 mit diesem Vorzug sehr trüb aus. Denn in seinen Augen ist der größte Teil des Publikums ein solches Gelichter, daß es, wenn es auch der ganzen Verhandlung ununterbrochen beiwohnte, hierüber kein kompetentes Urteil zu fällen imstande ist, fürs andere komme es aber äußerst selten vor, daß ein Zuhörer bei den öffentlichen Verhandlungen von Anfang bis Ende gegenwärtig bleibe. Wenn dies aber auch mitunter der Fall sein sollte, so dürfe doch kühn behauptet werden, daß der angegebene Zweck schon darum verfehlt werde, weil sich eine angestrengte, ununterbrochene Aufmerksamkeit mitten unter dem Geräusch und unter dem ab- und zugehenden Publikum schwerlich erwarten lasse. Demgegenüber hält es RuppenthaPO doch auch für wahr, daß bei den Debatten, wenn der Advokat, der Staatsprokurator, der Präsident sprächen, das Publikum die ganze Sache genau und von allen Seiten kennenlerne und dadurch in den Stand gesetzt werde, ein Urteil zu fällen, dessen Richtigkeit man oft bewundern müsse. 4. Unabhängigkeit der Gerichtshöfe Das mündliche öffentliche Verfahren schließt jede Beurteilung der tatsächlichen Gründe der Entscheidung von seiten aller derjenigen Behörden, welche demselben nicht beiwohnen können, notwendig aus, und hierin, in der größeren Sicherstellung der Unabhängigkeit der Justiz, findet das Gutachten11 einen anderen großen Vorzug. Denn wenn einmal die richterlichen Formen dem Zwecke der Rechtspflege gemäß bestimmt seien, wenn dann das Gemeinwesen und der Angeklagte unbedenklich das Recht hätten zu verlangen, daß unter diesen Formen von dem gehörigen Gerichte judiziert werde, so erscheine wenigstens in den Augen des Volkes jeder Richterspruch, welcher von anderen Behörden ergehe, als formell unrechtlich, und hieran knüpfe sich dann natürlich auch die Meinung einer materiellen Ungerechtigkeit. 5. Unparteilichkeit Der ehrliebende Richter wird gewiß um so eher jeder Anwandlung einer menschlichen Schwachheit widerstehen, wenn er sein Amt unter den Augen seiner Mitbürger wahrnimmt. Diese Erwartung hegt das Gutachteni! und es fährt fort: "Insbesondere kennen wir keinen zuver8 8 10 11 11

Brewer, J. P.: Ueber das öffentliche Verfahren vor Gericht, 1818, S. 40. Trittermann, S. 29.

a. a. 0., S. 89.

a. a. 0., S. 30 f. a. a. 0., S. 43 f.

UI. Topoikatalog

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lässigeren Schutz gegen eine ungerechtfertigte Berücksichtigung des Ansehens der Person, gegen den Einfluß eines mächtigen Angeklagten oder mächtiger Beschützer als gerade die Öffentlichkeit der Verhandlung." c) Gründe, welche materiell-strafrechtliche

Gesichtspunkte betreffen 1. Abschreckung

Die Öffentlichkeit des Inquisitionsprozesses hat für Weber1 den Nutzen, daß sie den Hauptzweck der Strafjustiz, die Abschreckung, wesentlich befördert, da das Volk täglich sehe und erfahre, daß und warum gestraft werde, während es bei der entgegengesetzten Verfahrensart bloß zufällige, von der Ursache der Bestrafung aber keine oder nur unvollständige, nie sinnliche Kenntnis erhalte. Ebenso meint auch Rappard!, durch die Öffentlichkeit des Verfahrens würden dem Volk die Quellen und Folgen des Lasters, und wohin es mit einem Menschen, der Gottes, seiner Menschenpflicht und Würde vergesse, zuletzt komme, recht anschaulich gemacht3 • Sogar Schram4 gesteht dies zu, gibt aber zu bedenken, diese Vorteile flössen nur denjenigen zu, deren sittliches Gefühl noch unverdorben sei, und eben von diesen bessern Menschen könne nur der geringste Teil - wegen seiner übrigen häuslichen Beschäftigung - den öffentlichen Kriminalverhandlungen beiwohnen. 2. Warnung vor verdächtigen Subjekten

Selbst in Beziehung auf den sogenannten unvollkommenen Beweis bietet das öffentliche Verfahren in den Augen Mittermaiers5 bedeutende Vorteile an. Das Gesetz könne in solchen Fällen, wo jemand höchst verdächtig, aber nicht überführt sei, weder strafen noch Sicherheitsmittel anwenden; aber den Bürgern selbst sei dies Subjekt einmal bekanntgeworden, es sei ihnen überlassen, wie weit sie sich hüten wollten. Die öffentliche Meinung werde über den Verdächtigen wachen und den Staat am besten sichern8• a. a. 0., S. 55 f. Rappard, F. W. v.: Ueber das Brauchbare in der französischen Kriminalgerichts-Verfassung und Prozeß-Ordnung zur Aufnahme in das Preußische Rechts-System, 1817, S. 18. a siehe auch Gutachten, S. 32. 4 Schram, Th.: Freimüthige Bemerkungen über das öffentliche mündliche Verfahren in bürgerlichen und in peinlichen Rechtssachen, 1817, S. 57 f. 5 Handbuch, S. 173. e siehe auch: Abhandlung über die mündliche-öffentliche Rechtspflege, sowohl bei Civil- als Strafgerichten, in: Niederrheinisches Archiv, 2. Bd., 1817, S. 161 - 185, hier S. 183. 1 I

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4. Kap.: Einzug des öffentl. Rechtsganges unter franz. Einfluß 3. Verbreitung von Rechtskenntnissen

Die Publizität des gerichtlichen Verfahrens hält Tafinger7 für das vielleicht zweckmäßigste Mittel, den Sinn der Gesetze durch die Anwendung zur allgemeineren Kenntnis zu bringen. Sie verbreitet - so Hadamar8 - ein lebhaftes Interesse für die Gesetze; der Bürger, stolz darauf, an der Verwaltung der Gerechtigkeit gleichsam teilzunehmen, wird nach und nach mit der bestehenden Gesetzgebung bekannt, er lernt seine Handlungen mit mehr Vorsicht und den Gesetzen gemäß einzurichten. 4. Lebendigere Gesinnung der Gerechtigkeit im Volk Durch das mündliche öffentliche Verfahren wird erreicht, daß die Gesinnungen der Gerechtigkeit lebendiger in das Volk übergehen und den noch bildsamen Bürger ergreifen. Das Gutachten' erklärt dies so: Wenn schon das Afterbild des Lebens auf der Bühne so mächtig erschüttere, wie mächtig müsse da der Ernst der Wirklichkeit und die richterliche Gerechtigkeit auf die Gefühle, die Gesinnungen und das Leben derjenigen wirken, welche den Verhandlungen der Strafgerechtigkeit beiwohnten. Die menschliche Schwachheit lasse bisweilen auch den gebildeten Menschen von dem Nichtwahrnehmen der Gerechtigkeit auf das Nichtsein derselben schließen. Noch öfter wankten und fielen die unteren Stände. Wie notwendig sei es, daß ein wirklich "sichtbares Zeichen der unsichtbaren Gerechtigkeit" sich täglich im gewöhnlichen geselligen Leben erneuere. Und eben dieses sei zu finden in der mündlichen öffentlichen Verhandlung der Untersuchungssachen. Wahrlich, diese Zeichen - erwidert Kircheisen10 - werden uns im täglichen Leben überzeugender und schreckender aufgestellt, als es je durch die Publizität menschlicher Richtersprüche geschehen könnte. Diese seien vielmehr oft nichts weiter als "Zeichen der menschlichen Schwäche, welche die unsichtbare Gerechtigkeit nicht zu finden wisse". 5. Ermöglichung belehrender Zeitungsberichte Nur bei Öffentlichkeit der Rechtsfindung ist es möglich, daß die Zeitungen über die gesprochenen Urteile reden und daß sie auf eine Weise darüber reden, daß die Gesellschaft wirklich dadurch belehrt wird. Auf diesen Punkt hat als erster Benzenberg11 hingewiesen. 7 a. a. 0., S. 118. a a. a. 0., S. 11. I a. a. 0., S. 32 f. 10 a. a. 0., S. 293.

11 "Aus einem Schreiben von Prof. Benzenberg in Bruggen"; in: Niederrheinisches Archiv, ~. Bd., 1818/19, S. 187 - 195.

III. Topoikatalog

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d) Gründe, welche Recht und Staat insgesamt betreffen 1. Idee der Strafgerechtigkeit

Mittermaier1 führt an, das öffentliche Verfahren entspreche einzig nur der Idee der Strafgerechtigkeit und dem Charakter des eigentlich Kriminellen. 2. Kriminaluntersuchungen als öffentliche Angelegenheit Die Frage, ob ein Staatsbürger ein Verbrechen begangen habe und welche Strafe ihn treffe, sei keine private, sondern eine öffentliche Angelegenheit, welche für alle anderen Staatsbürger ebenfalls von hohem Interesse sei, betont das Gutachteni. In ähnlicher Weise will Gönners nur jenem Verfahren Rechtlichkeit zuerkennen, welches mit Publizität der Untersuchung verbunden sei. Hier ruhe die Notwendigkeit dieser Publizität in der Eigenschaft einer. allgemeinen Angelegenheit, welche die Kriminalfälle an sich trügen und welche schon der Römer mit seinen ,publicis iudiciis' treffend bezeichnet habe. Und Weber' formuliert: "Hier, wo das Staatsinteresse, der Anspruch des Staates auf Bestrafung der Verbrecher und ziemlich unmittelbar sogar das Interesse cuiusvis ex populo, und zwar pro und contra zugleich, mit im Spiele ist, (muß) auch jeder ein Recht haben, zuzusehen, wie dies heilige Interesse gewahrt werde5." Insofern hier unter öffentlichen Angelegenheiten solche verstanden werden, die nicht nur den einzelnen, sondern auch das Gemeinwesen betreffen, so beweist diese Behauptung zu viel, lautet Kircheisens 8 Einwand. Nicht alle öffentlichen Angelegenheiten seien zu einer öffentlichen Verhandlung geeignet. Sonst müßte die ganze Regierungsverwaltung, wenigstens beim Vortrage in facto, öffentlich geschehen. 3. Besonderes Interesse an den hohen Gütern: Leben, Freiheit, Ruhe und Sicherheit Leben und Freiheit, Ruhe und Sicherheit bezeichnet v. Puttlitz7 als die wichtigsten Gemeingüter des Bürgers; alle Verhandlungen über Gegenstände dieser Art seien mithin von hohem gemeinsamem Interesse. Die 1

I

Mittermaier, Handbuch, S. 171. a. a. 0., S. 26 f.

a. a. 0., S. 333. , a. a. 0., S. 54. 5 s. auch Mittermaier, Handbuch, S. 166. e a. a. 0., S. 293. 7 Puttlitz, K. Edler v.: VertheicUgung der Preußischen Gerichtsverfassung, 1818, S. 73 f. I

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Kriminal-Rechtspflege dürfe also dem Auge des Publikums nicht entzogen werden, weil sie Bestimmungen über dieses wichtige Gemeingut enthalte. Auch Rappard8 meint, an Ereignissen dieser Art nehme gewiß jedermann den lebhaftesten Anteil und überzeuge sich gerne, daß dabei überall mit der möglichsten Sorgfalt, Unparteilichkeit, Gründlichkeit und mit strenger, jedoch, soweit es nur irgendwie geschehen könne, mit schonender Gerechtigkeit verfahren werde. 4. Entsprechung zum Gesetzgebungsverfahren

Wie die Beratung und Entwerfung der Gesetze öffentlich geschehe, so müsse ihre Anwendung ebenfalls öffentlich sein. Als Befürworter dieses Arguments erwähnt das Niederrheinische Archive Eichhorn und v. Savigny. 5. Beförderung der Wechselwirkung zwischen Gesetz und Sitte

In der Öffentlichkeit sieht das Gutachten10 auch den Vorteil, daß sie das Fortschreiten der Gesetzgebung mit dem Geist der Zeit, mit der Bildung und dem Charakter des Volkes, die Wechselwirkung zwischen Gesetz und Sitte erleichtere und befördere. 6. Vertrauen zum Staat und zu den Gerichtshöfen

Das GutachtenU ist der überzeugung, das öffentliche Verfahren vermehre das Vertrauen des Volkes zum Staate und insbesondere zu den Gerichtshöfen, weil ihre Amtsverrichtungen unter den Augen des Volkes geschähen, weil diesem die nämlichen Mittel als den Richtern selbst eröffnet seien, seine überzeugung zu bestimmen, weil es das offen vor ihm liegende Verfahren des Richters prüfen könne und weil das Vertrauen Gegenvertrauen erwecke. Welches Zutrauen muß das Publikum für die peinliche Rechtspflege gewinnen! Es sieht seine Freiheit, sein heiligstes Gut nicht gefährdet. Es sieht manchmal die Unschuld gerettet. - Warum sollte man ihm dieses Zutrauen, diese Beruhigung benehmen, fragt Bewer1!, 13. 8 t

10 U

a. a. 0., S. 18.

im 2. Bd., 1817, S.154. a. a. 0., S. 33. a. a. 0., S. 41.

11 Bewer, J. W.: Ueber das öffentliche mündliche Verfahren in bürgerlichen und in peinlichen Rechtssachen, 1818, S. 26. 13 vgl. auch Weber, S. 55 und Mittermaier, Handbuch, S. 172.

II!. Topoikatalog

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Ohne dieses Zutrauen - bemerkt Rappardu - können die Straferkenntnisse in ihren wohltätigen Folgen die Wirkung nicht haben, welche sie doch nach dem Zwecke der Strafgesetze haben sollen. 7. Hebung des Selbstbewußtseins der Bürger Das öffentliche Verfahren erhebt den Bürger, indem es das Anerkenntnis des Staats enthält, daß es ihm nicht bloß um Gerechtigkeit zu tun sei, sondern daß auch die überzeugung des Volkes, daß dieser Pflicht Genüge geschehe, von hohem Wert für ihn sei. Zu diesem Punkt führt das Gutachten'5 näher aus: "Auch die ehrwürdigen Formen des Rechtsverfahrens selbst, welche gerecht und unpartheiisch keinen Unterschied der Macht und des Standes kennen und welche sich täglich unter seinen Augen erneuern, tragen dazu bei, dem Bürger ein edles Bewußtsein seines Werthes einzuflößen." 8. Grundstein der bürgerlichen Freiheit Bergk'8 stellt fest, die Publizität sei in allen Dingen nützlich, allein bei peinlichen Untersuchungen sei sie Pflicht, weil es dabei auf die Freiheit des Menschen als Staatsbürger ankomme. "Die öffentliche Verhandlung aller Rechtssachen ... sehe ich als den Grundstein der bürgerlichen Freiheit an ...", pflichtet v. Spaun17 bei; und er setzt hinzu: "Ich habe keine Vorstellung einer liberalen, dem Geiste unseres Jahrhunderts angemessenen Verfassung ohne unbedingte Publizität der Gerichts-Verhandungen." 9. Mehrung des Gemeingeistes Das öffentliche Verfahren übt und vermehrt den Sinn für das Gemeinwesen und für die öffentlichen Angelegenheiten. Wo gemeinsame Angelegenheiten öffentlich verhandelt werden, da gewöhnt sich der Bürger daran, diese als seine eigenen und seine höchsten anzusehen. Darin sind sich das Gutachten'8, Hadamar'o und v. Spaun20 einig2' • Und als Folge der Teilnahme an einem so wesentlichen Zweig der Staatsverwaltung erwartet Hadamar22 eine festere und lebhaftere Anhänglichkeit und Vorliebe des Bürgers für den Staat. 14

15 18

a. a. 0., S. 18. a. a. 0., S. 41. a. a. 0., S. 372.

17 Spaun, F. v.: Ueber die Oeffentlichkeit der Justizpflege von einem Baierischen Rechtsgelehrten. Eine Widerlegung des Hrn. Ritters von Gönner; in: Niederrheinisches Archiv, 3. Bd., 1818, S. 72 - 85, hier S. 72 f.

18 10 20

21 IZ

a. a. 0., S. 41 f. a. a. 0., S. 10. a. a. 0., S. 74.

s. auch Europäische Annalen, 1808, S. 58. a. a. 0., S. 11 f.

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10. Besondere Gründe für die Rheinprovinzen Für das Rheinland möchte das Gutachten noch folgende Besonderheiten berücksichtigt wissen: Aus dem Grunde, weil der dortige Beamte mehr in das Volk zurückgetreten sei, erweise er sich teils als mehr geeignet für die Kontrolle durch die öffentliche Meinung denn für eine solche allein, welche aus der Amtshierarchie entstehe; teils sei er eben daher auch empfänglicher und teilnehmender für die Interessen seiner Mitbürger geworden, so wie diese ihrerseits auch mehr Anteil an der Verwaltung der öffentlichen Geschäfte durch ihre Beamten nähmen2l• Aufgrund der größeren natürlichen Lebendigkeit des Charakters, der höheren Empfänglichkeit und des regeren Sinnes für das Gemeinwesen errege das bloße schriftliche geheime Verfahren in Untersuchungssachen nicht allein hier und da Bedenken, sondern, wenn die Rechtspflege nur dann ihren Zweck vollständig erfüllen könne, wenn das Verfahren und die Aussprüche der Gerichtshöfe die öffentliche Meinung auf ihrer Seite hätten, so sei es wohl hier mehr als anderswo nötig, daß in so wichtigen Angelegenheiten, welche Ehre, Freiheit und Leben beträfen, die Hauptuntersuchung gleichsam durchsichtig in Gegenwart und vor den Augen des Publikums ablaufe!4. Die allgemeine öffentliche Stimme, die einstimmigen Gutachten der Gerichtshöfe, die überzeugung endlich, daß ein mündliches öffentliches Verfahren das weitaus zuverlässigste Mittel zur Erforschung der Wahrheit sei, die höchste Beruhigung dem Richter gewähre und sogar ohne Verletzung einer der ersten Pflichten der Gerechtigkeit nicht beseitigt werden könne, seien die Hauptgründe für die Beibehaltung desselben25 • B. Gründe gegen die öffentlichkeit

a) Gründe, welche die ProzeßbeteiZigten betreffen 1. Härte für den Angeklagten

Eine Erschwerung der Lage des Angeschuldigten sieht v. Kamptz 1 darin, daß er durch das öffentliche Verhör dem Publikum und damit größtenteils dem Pöbel zur Schau und zum Spott bloßgestellfwerde. Dadurch erleide der Beschuldigte - gerade auch der letztlich freigesprochene schon während der Untersuchung oft mehr als durch eine Strafei. !3 !4

!S

1 I

a. a. 0., S. 25. a. a. 0., S. 26. a. a. 0., S. 26. a. a. 0., S. 160 f. vgl. auch Trittermann. S. 9.

tlI. 'l'opoikataiog

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Kircheisen3 warnt davor, das Vergehen des Schuldigen zur Kenntnis des großen Publikums zu bringen und dadurch die Gefahr der Vernichtung der ganzen bürgerlichen Existenz heraufzubeschwören. "Muß der Bürger, dessen Verbrechen mit einigen Monaten Gefängnis gebüßt worden, der reuig und gebessert in die Gesellschaft zurücktritt, nun noch ferner der Verachtung und dem Gespötte seiner Mitbürger und des Pöbels unter denselben ausgesetzt bleiben?" fügt er hinzu. Die Verteidiger der öffentlichkeit machen dagegen geltend: Gerade die Öffentlichkeit gewähre das sicherste Mittel dafür, daß der Angeklagte nicht mehr übel erleide als das Gesetz wolle; außerdem garantiere nur sie, daß der Unschuldige eine möglichst vollständige Genugtuung erhalte. Es erscheine als "übertriebene Empfindelei", wenn man eine wohltätige Einrichtung deshalb aufgeben wolle, weil sie einigen wirklich Schuldigen unbequem sei. Eine große Klasse von Schuldigen gebe es, welchen die Strafe erst durch die Öffentlichkeit zum übel werde, so wie endlich viele Schuldige in der Öffentlichkeit die Strafe fänden, welcher sie sonst entgingen (Gutachten, S. 47). Es sei kein Nachteil, sondern ein Vorzug der öffentlichen Rechtspflege, daß zuweilen ein ernster Blick des Volkes sich gegen solche Menschen wende, die, obschon zur Strafe längst reil, dennoch dem Arm der Gerechtigkeit nicht erreichbar seien (Brewer, S. 42). Immer scheine der Vorteil der öffentlichen Verhandlungen bestehen zu bleiben, daß sie erst Unschuld, Schuld und Verdacht und die Gründe der Freisprechung an den Tag brächten und so jedem gäben, was ihm von Rechts wegen gebühre (Gutachten, S. 48). 2. Preisgabe der geheimsten Familienverhältnisse Trittermann4 und SchramS tadeln die öffentlichen Verhandlungen, weil durch sie so häufig die geheimsten Familienverhältnisse dem Publikum preisgegeben würden. Die Familiengeheimnisse des Angeklagten - so das Argument der Gegenseite - können nur insofern zur Erörterung kommen, als sie überhaupt mit dem Gegenstand der Untersuchung in Verbindung stehen oder doch mit der Frage, inwiefern der Angeklagte ein solcher Mensch ist, daß ihm das Verbrechen zugetraut werden kann. Insoweit aber sei dieser Einwand schon da beseitigt worden, wo von der Notwendigkeit und Rechtlichkeit des öffentlichen Verfahrens in bezug auf den Angeklagten selbst die Rede gewesen sei8 (s. vorstehend die Gegenargumente zum Topos "Härte für den Angeklagten").

a. a. 0., S. 290. , a. a. 0., S. 32. 5 a. a. 0., S. 54. 8 Gutachten, S. 48 f.

3

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4. Kap.: Einzug des öftentl. Rechtsganges unter franz. Einfluß 3. Verleumdung der richterlichen Beamten

Eine sehr schlimme Seite der öffentlichen mündlichen Verhandlungen erblickt Schram7 darin, daß die Angeklagten es ungeahndet wagen dürften, vor den Augen des Publikums die Amtsehre abwesender Beamter - z. B. der Polizei-Commissarien, Friedensrichter, Instruktionsrichter in der Hinsicht öffentlich zu verleumden, daß sie ohne Anführung irgendeines Grundes behaupteten, ihre früheren Aussagen und Geständnisse seien nicht richtig und getreu niedergeschrieben worden. Ja zuweilen wagten sie sogar zu behaupten, sie seien durch Mißhandlungen zu den abgelegten Geständnissen gezwungen worden usw. Dem Ununterrichteten seien dergleichen grobe Verleumdungen gewöhnlich am glaubhaftesten. In der Modifikation früherer Geständnisse sieht das GutachtenS nichts Ungewöhnliches. Eben weil die Schrift nicht imstande sei, die lebendige mündliche Verhandlung vollständig wiederzugeben, müsse diese zu näheren und genaueren Bestimmungen führen, ohne daß die Amtsehre der Beamten leide, welche überhaupt der Wahrheit und dem Recht nachzusetzen sei. Unwahrheiten der Angeklagten würden im Laufe der Untersuchung größtenteils entdeckt. Den Verfassern des Gutachtens sind auch keine Klagen über Geständnisse, welche durch Mißhandlungen erpreßt worden seien, bekannt geworden. Sie führen dies gerade auf die Öffentlichkeit zurück, die auch bei der vorläufigen geheimen Untersuchung die außergesetzliche Zufügung von übeln verhindere. 4. Gefährdete Gesundheit der Richter Selbst die Gesundheit der Richter muß für die Bekämpfung der Öffentlichkeit bei Trittermann8 herhalten. "Mit den Ausdünstungen von Angeklagten und Zeugen", sagt er, "vereinigen sich die ... des den Sitzungen beywohnenden Publikums, welches... aus der niedrigsten und ärmsten Classe des Volks besteht ... Das Einathmen einer solchen sozusagen pestartigen Luft muä auf die Gesundheit eines jeden, besonders aber derjenigen seinen nachtheiligen Einfluß äußern, welche von Natur ein empfindliches und reizbares Temperament haben10." Den Gegnern fällt es leicht, dieses "Argument .. zu entkräften. Wer den Zweck wolle, müsse auch die Mittel bereitstellen, und es könne daher mit Recht verlangt werden, daß ein Staat, der die gerichtlichen Verhandlungen öffentlich sein lassen wolle, auch für angemessene Säle sorge, "deren Einrichtung so geartet sey, daß die Luft der Gesundheit der Richter nicht nachtheilig werde ..." Im übrigen verweisen sie auf den gleichen Mißstand in 7

8 g

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a. a. 0., S. 53. a. a. 0., S. 50. a. a. 0., S. 35 f. vgl. auch Schram, S. 12.

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Kirchen, Schauspielhäusern und englischen Parlamentssälen, deren Schließung wegen der darin herrschenden Luft auch niemand erwäge l1 • 5. Gefallsucht der Verteidiger Unter den Verteidigern der Angeklagten - so befürchtet Schram12 gebe es einige, welche in der Wahl der Rettungsmittel für ihre Klienten minder zartsinnig seien, um dafür die Ehre zu genießen, dem von Trittermann beschriebenen Publikum zu gefallen. 6. Schwierige Verständlichkeit in zu großen Sälen Die mündlichen Vorträge könnten in einem wegen der Zulassung des Publikums größeren Lokal leicht unverständlich werden. Mit dieser Behinderung für die Prozeßbeteiligten rechnen Schramis und Trittermann14 , wenn die Angeklagten oder Zeugen kein, gutes Sprechorgan hätten oder wenn es im Sitzungszimmer - wie üblich - unruhig und geräuschvoll zugehe.

b) Gründe, welche das einzelne Strafverfahren betreffen 1. Beeinträchtigung der Wahrheitsfindung Auf die Zeugen hat - so Schram1 - die Gegenwart der Angeklagten, deren Angehöriger und Helfershelfer, die Menschenfurcht oder das Ansehen der Personen nur zu oft einen unvermeidlichen Einfluß!. Trittermann3 führt dies näher aus: Nicht selten geschehe es, daß die Zeugen in der öffentlichen Sitzung von ihren früher gegen den Angeklagten abgegebenen Aussagen abwichen und solche zu dessen Gunsten modifizierten. Ob die Ursache dafür in Intercessionen liege, welche von den Verwandten und Angehörigen des Angeklagten, vielleicht gar mit Drohungen gepaart, eingelegt worden seien oder ob nicht Furcht vor den Angeklagten oder vor anwesenden Mitbeteiligten das bewirke, all dies sei oft mit dem dichtesten Schleier umhüllt. Etwas anders akzentuiert Kircheisen4 : Die Individualität des Angeklagten oder Zeugen - heißt es bei ihm - vereitelt nicht selten den Zweck seiner Vernehmung, wenn diese in einer großen Versammlung 11 siehe die Rezension des Schramschen Werkes im Niederrheinischen Archiv, 2. Bd., 1817, S. 292 - 310, hier S. 304 f. und Ruppenthal, S. 102 f. 12 a. a. 0., S. 55. 18 a. a. 0., S. 12. 14 a. a. 0., S. 37. 1 a. a. 0., S. 54. I siehe auch Mittermaier, Theorie, S. 19. 8 a. a. 0., S. 15 f. 4 a. a. 0., S. 289.

4 A1ber

50 ,

4. Kap.: Einzug des öftentl. Rechtsganges unter franz. Einfluß

erfolgen soll. Eine vielen Menschen anhaftende natürliche Ängstlichkeit und Scheu wird in der öffentlichen Sitzung die vollständige und deutliche Aussage der Wahrheit zurückhalten, zu der sich der Vernommene im einsamen Verhörzimmer, nur dem Inquirenten, der sein Vertrauen erworben hat, gegenüber, unbedenklich verstanden haben würde. Mancher Zeuge dürfte sich auch schon in der vorläufigen Verhandlung hinter die Schutzwehr der Unwissenheit zurückziehen, um nicht in der öffentlichen Sitzung Gegenstand der Verfolgung der unter den Zuhörern befindlichen Freunde und Angehörigen des Angeklagten zu werden. Des Widerrufs eines vorher abgelegten Zeugnisses in der Sitzung bedarf es alsdann nicht. Die Zeugen wissen recht gut, daß auch bei dem bloß geheimen schriftlichen Untersuchungsprozeß der Inhalt der Aussagen dem Angeklagten mitgeteilt wird, wirft das GutachtenS ein. überdies gehe der mündlichen öffentlichen Verhandlung auch eine schriftliche Vernehmung vor dem Untersuchungsrichter voraus. In der feierlichen Gerichtssitzung, in dem Ansehen des versammelten Gerichtshofes, in dem unmittelbar bevorstehenden Urteil sowie in der Gegenwart der Mitzeugen und Mitbürger seien mächtige Motive vorhanden, um der Wahrheit treu zu bleiben. Wenn endlich die öffentliche mündliche Verhandlung das sicherste Mittel sei, die Wahrheit zu finden, so werde die eigene Sicherheit und selbst ein natürlicher Instinkt allein den Zeugen schon veranlassen, von der Wahrheit weder rechts noch links abzuweichen. Man irre außerdem, wenn man die Fälle, da ein Zeuge seine frühere vQr einem Inquirenten abgelegte Deposition beschränke oder modifiziere, mit Menschenfurcht oder dem Einfluß des Ansehens der Person erklären wolle. Die Ursache liege größtenteils darin, daß der Zeuge durch den Ernst und die Feierlichkeit der Verhandlung Gründe finde, auch in Kleinigkeiten noch präziser und genauer zu sein als vorher, oder darin, daß die mündliche Verhandlung selbst Gelegenheit gegeben habe, bestimmte Fragen vorzulegen oder endlich darin, daß der Inquirent vorher eigene Ausdrücke und Worte dem Zeugen unterlegt habe. 2. Behinderung von Geständnissen Was den Angeklagten betrifft, steuert v. Kamptz 8 bei, sei die Ablegung eines Geständnisses in Gegenwart anderer und erst recht vieler Menschen erfahrungsgemäß selten. Die Öffentlichkeit könne mithin der Entdeckung der Verbrechen und also der öffentlichen Sicherheit nur nachteilig sein. 3. Kenntnisse für Mitbeschuldigte Die wahrscheinliche oder gewisse Existenz nicht ermittelter Mitschuldiger erfordert für Kircheisen7 die Geheimhaltung und macht des5 6 7

a. a. 0., S. 45. a. a. 0., S. 157 f. a. a. 0., S. 289.

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halb den Zutritt eines jeden zu den Gerichtssitzungen unzulässig: ,,(Es) würde doch wahrlich nicht zweckmäßig seyn, den Mitschuldigen zur öffentlichen Gerichtssitzung einzuladen und ihn durch die Kenntniß der ganzen Lage der Sache noch besser in seiner Verborgenheit zu erhalten8 ." 4. Unannehmlichkeiten für Zeugen Ins Spiel gebracht werden auch die Unannehmlichkeiten für Zeugen, die sich unter Hintansetzung ihrer gewöhnlichen Geschäfte oft mehrere Tage und scharenweise von ihrer Heimat entfernen müßten. Es sei dies um so härter, wenn sie diese Reise schon einmal in der nämlichen Sache bei ihrer Vernehmung vor dem Instruktionsrichter hätten machen müssen (Trittermann, S. 34). 5. Verleumderische Angriffe auf Zeugen Trittermann8 erklärt die öffentlichen Verhandlungen für verabscheuungswert, weil durch sie dem Kredit und dem guten Rufe der Mitbürger oft unheilbare Wunden versetzt und die Ehrbarkeit verletzt werde. Äußerungen, welche diese traurigen Folgen hätten, seien an der Tagesordnung, wenn es dem Angeklagten oder seinem Verteidiger darum gehe, einen Zeugen verdächtig oder gar verwerflich zu machen. Oft seien dergleichen Einreden nicht einmal wahr oder könnten nicht erwiesen werden; in solchen Fällen sei es wahrlich unerhört, wenn das Publikum, von dem man mit Recht sagen könne, ,semper aliquid haeret', solche Dinge erfahre. Seien aber die Einreden auch wahr und erwiesen, so bleibe es doch eine gewiß nicht empfehlungswürdige Seite des öffentlichen Verfahrens, daß das Publikum mit Gegenständen bekannt gemacht werde, welche sehr oft einen unberechenbaren Schaden zur Folge hätten10 • Dagegen führt Breweru ins Feld, das Gesetz habe diesem so viel als möglich vorgebeugt, indem allen vor Gericht erscheinenden Personen persönliche Beleidigungen, die auf die Sache selbst keinen unmittelbaren Bezug hätten, untersagt seien und, wenn sie vorfielen, von dem Präsidenten oder dem öffentlichen Ministerium auf der Stelle gerügt würden. "In jenen ernsten Augenblicken, wo über die Freiheit und das Leben eines Menschen gerichtet wird, (sind) die Gemüther zum Auffangen von Anekdoten wenig gestimmt; Beschuldigungen von der Seite eines ... Angeklagten erscheinen jedem nicht als die Aussage eines freien Menschen, sondern als die Nothwehr eines Verzweifelten; meistentheils wird die Unwahrheit derselben, wenn sie wirklich unwahr sind, durch den Gang der Untersuchung entdeckt; dadurch bildet sich 8 siehe auch v. Kamptz, S.157; Schram, S.39 und Mittermaier, Theorie, S.19. • a. a. 0., S. 32 f. 10 siehe auch Schram, S. 54. 11 a. a. 0., S. 42 f.

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ein besserer Geist im Publikum; es lernt Schein von Wahrheit, Verleumdungen von rechtmäßigen Beschuldigungen unterscheiden." RuppenthaP2 gibt zu bedenken, wer die Wahrheit erfahren wolle, müsse sich auch von der Moralität der Zeugen vergewissern und das Ergebnis dieser Prüfung sei auch durch den Schleier des Gerichtsgeheimnisses keine 24 Stunden gegen die Publizität zu sichern. In den Fällen, da Sünden und Flecken, welche das Gesetz nicht ahnde, zur Sprache gebracht würden, rechnet es das Gutachten13 schließlich gerade zu den Vorzügen des öffentlichen Gerichtsverfahrens, daß es "die Gerichtsbarkeit jenes höchsten Tribunals der öffentlichen Meinung" so mächtig sichere und mehre. Bei den großen Vorzügen des öffentlichen Prozesses scheinen ihm Unbequemlichkeiten, welche einzelnen entstehen, keine Rücksicht zu verdienen. 6. Unruhe im Saal Bei einem Publikum, das bei jeder etwas auffallenden oder ihm auffallend vorkommenden Äußerung in lautes Lachen ausbreche, hält Trittermann14 die Handhabung von Ruhe und Ordnung ohne Verletzung des Anstandes und ohne Schwächung der Aufmerksamkeit für ein "wirkliches Kunststück". Eine angestrengte ununterbrochene Aufmerksamkeit mitten unter dem Geräusch und unter dem ab- und zugehenden Publikum lasse sich schwerlich erwarten. Für die Abstellung dieser Äußerlichkeiten verweist RuppenthaPS einfach auf die disziplinaren Möglichkeiten der Gerichtspolizei. 7. Zeitverschwendung Die öffentlichen Sitzungen belegt Trittermann16 mit dem Vorwurf unnötiger Zeitverschwendung. Es seien seltene Fälle, daß eine noch so unbedeutende Kriminalsache mit all dem Wiederkauen dessen, was bereits in den Protokollen enthalten sei, in zwei Stunden abgeurteilt werde; in der Regel erfordere die Prozedur einen halben und oft einen ganzen Tag. 8. Müßiggänger In den gewöhnlichen Fällen - und deren seien die meisten - , wo weder die Tat noch die Person des Angeklagten Aufmerksamkeit errege, würden die Gerichtssäle nur von solchen Personen besucht, welche a. a. 0., S. 98 f. a. a. 0., S. 49 f. 14 a. a. 0., S. 28 f. 15 a. a. 0., S. 90. le a. a. 0., S. 34 f.

12

13

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Müßiggang, Neugierde oder andere noch schlechtere Motive hinführten. Ein Publikum dieser Art kann nach Kircheisen l7 der Rechtspflege keinen Dienst leisten. Ihn überbietet Trittermannl8 , wenn er das bei den öffentlichen Verhandlungen sich einfindende Publikum als rohe, ungebildete Menschen aus der geringsten Klasse des Volkes, als arbeitslos oder arbeitsscheu qualifizert10 • Die überwiegende Zahl dieser Sorte von Zuhörern führt Schram20 ergänzend darauf zurück, daß von den besseren Menschen nur der geringste Teil - wegen seiner übrigen häuslichen Beschäftigung - den öffentlichen Kriminalverhandlungen beiwohnen könne. Weber21 gibt zwar zu, der größte Teil des zuhörenden Publikums bestehe aus "zweklosen Gaffern". Doch das ist für ihn nicht entscheidend, denn er fährt fort: " ... genug, daß wirklich theilnehmende und urtheilsfähige Zuhörer darunter sind, ja genug und wichtig genug, daß jeder Theilnehmende das Recht hat, da zu sein, und daß das Volk weis, daß es sich dieser Befugnis rühmen darf." Auch der anonyme Verfasser in den Europäischen Annalen von 180822 räumt die Anziehungskraft der öffentlichen Gerechtigkeitspflege auf Müßiggänger ein, stellt aber folgende überlegung an: "Anfangs wollen sie in ihnen (den Gerichtssälen) der langen Weile entrinnen; aber nur allzu bald gewinnen die gerichtlichen Verhandlungen für sie das Anziehende eines Dramas; ... ihr Gemüth wird bewegt, ihr Verstand mit neuen Begriffen bereichert; ... und (sie) werden aus leichtsinnigen und frivolen Menschen, welche sie bisher waren, nachdenkliche und besonnene Menschen, die gesellschaftliche Verhältnisse respektiren und neben ihren Rechten auch ihre Pflichten kennen." 9. Schauspiel Nach der Ansicht von Mosqua23 kann die öffentliche mündliche Rechtspflege nichts anderes sein als ein kostenfreies Schauspiel für diejenigen, welche keine stehende Bühne haben und sich zuweilen doch eine Unterhaltung verschaffen wollen. Diese könne zwar entsprechend der ursprünglichen Bestimmung des Schauspiels oft nützlich und lehrreich sein; doch sei zu solchen Spielwerken das richterliche Amt zu ehrwürdig. a. a. 0., S. 291. a. a. 0., S. 26 f. 10 siehe auch Gensler, 1. C.: Beitrag zu der Gesetzgebung für die Verfassung der teutschen Gerichte und des Verfahrens vor und von denselben, 1818, 17

18

S.32. 10 tl 22

a. a. 0., S. 58. a. a. 0., S. 55.

S. 59 f.

Mosqua, F. W. v.: Prüfung der neuen Gründe für die öffentlich-mündliche Rechtspflege, 1818, S. XVII f. 23

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Trittermann24 und v. Kamptz25 warnen vor dem "tragikomischen Charakter", welchen die Strafrechtspftege annehmen müsse, wenn sie die Schau- und Hörlust des Volkes befriedigen solle. 10. Unnötige höhere Kosten (für das einzelne Verfahren) Unverkennbar sei auch, daß durch das öffentliche Verfahren unnötige Kosten verursacht würden; Trittermann28 erläutert dies so: Die Zeugen, welche durchgängig schon zwei- oder dreimal vernommen und ihre Zeugengebühren schon eben so oft bezogen hätten, müßten alle nochmals zur öffentlichen Sitzung, oft aus entfernten Gegenden, mit großen Kosten geladen werden27 • Dieser Gesichtspunkt ist für v. Puttlitz28 keineswegs passend, wenn von einer so notwendigen und wichtigen Einrichtung die Rede sei. Im übrigen fiele ein großer Teil der durch die französische Einrichtung entstehenden Kosten mit der Aufhebung der Assissen-Gerichtshöfe und Geschworenengerichte weg. c) Gründe, welche materiell-strafrechtliche

Gesichtspunkte betreffen

1. Schule des Verbrechens Laut Neigebauer1 schadet eine einzige Freisprechung eines Inculpaten, welcher in den Augen der Zuhörer überführt wurde, zu dessen Verurteilung aber juristische Beweise fehlten, mehr als eine Menge condemnatorischer Erkenntnisse Nutzen stiftet. Schram! nennt die öffentliche Verhandlung der peinlichen Sachen eine "wahre Bildungsschule der Unmoralität". Der größte Teil des Publikums suche in den Audienzsälen Belehrung über die Ränke der Verbrecher und über deren Kunstgriffe, sich der Verurteilung zu entziehen. Auch Trittermanns sieht in den öffentlichen Sitzungen "Pftanz- und Bildungsschulen für Verbrechen". Sie unterrichteten die Zuhörer von allen Ränken, von allen Hilfsmitteln, deren sich die Angeklagten bedienten, um Verbrechen vorzubereiten und auszuführen. Die dabei gewonnenen Erkenntnisse würden bei der ersten sich darbietenden Gelegenheit praktisch ausgeübt. ... a. a. 0., S. 28. !5 a. a. 0., S. 158. 28 a. a. 0., S. 33 f. 27 siehe auch Schram, S. 59. 28 a. a. 0., S. 75. 1 a. a. 0., S. 36 f. ! a. a. 0., S. 57 f. J a. a. 0., S. 26 ff.

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Mosqua' meint, auch schlechte Beispiele vor dem Richter verdürben die guten Sitten. Von einem geschickten Rechtsverdreher erfahre der Neugierige und Müßiggänger, wie er es in ähnlichen eigenen Fällen anzufangen habe. Von einem öffentlich geständigen verschmitzten Verbrecher lernten schwache oder gar zur Schlechtigkeit geneigte Zuhörer, wie sie sich bei ähnlichen ihnen vorkommenden Gelegenheiten zu verhalten und wie sie die Unvorsichtigkeiten des geständigen Frevlers zu vermeiden hätten, um ihr Verbrechen nicht so leicht oder wohl gar nicht entdecken zu lassen'. Entgegen den Befürchtungen Neigebauers glaubt Brewer8 , aus einem Freispruch mangels Beweises lerne das Volk einsehen, daß menschliche Richter nur nach äußeren Kennzeichen urteilen dürften, und es hüte sich vor unzeitigem Argwohn und ungerechtem Verdacht; vielmehr lerne es die Weisheit des Gesetzes verehren, welches lieber irren als einen Unschuldigen verurteilen wolle. Nicht eine Schule der Unmoralität, sondern eine "Schule der Sitten-Verbesserung" nennt Bewer7 das öffentliche Verfahren. Zwar höre man die Ausflüchte, die Intrigen, die Lügen, mit denen sich die Angeklagten durchhelfen wollten, man bemerke aber auch, wie die Richter das Lügengewebe durchschauten und sich nicht täuschen ließen, so daß die Strafe den entlarvten Schuldigen treffe. - "Mögen auch einige verdorbene Menschen Gift einsaugen", fährt er fort, "so sind hundert andere da, bei denen das Laster Abscheu erregt und die vor dem Gedanken des Verbrechens zittern8." Die beste Widerlegung des Vorwurfs (Schule des Verbrechens) sieht Rebmann9 in der auffallenden, von Jahr zu Jahr bemerkbaren Abnahme der Zahl der Verbrechen seit der Zeit, da das öffentliche Verfahren stattflnde. Im übrigen sei an den Menschen, die in den öffentlichen Sitzungen Mittel zur Verbergung der Wahrheit kennenlernen wollten, nichts mehr zu verderben. Ähnlich argumentiert WebertO , indem er zwar die öffentlichkeit als Schule für listige Verbrecher bezeichnet und sie für die Verbreitung des ,si fecisti nega' verantwortlich macht, gleichwohl aber bekennt, das ,Specificum' sei ohnedies schon allbekannt und hjeran nicht mehr viel zu verheimlichen. Vorteil und Nachteil stehen wenigstens gleich, behauptet Ruppenthall l • "So wie ein Taugenichts bei einer öffentlichen Sitzung die Kunstgriffe abstrahirt, um mit einem Nagel eine verschlossene Thüre zu öffnen, so abstrahiren sich hundert ehrliche Leute die Nothwendigkeit, ihre Thüren so zu verschließen, daß man sie mit einem Nagel nicht öffnen kann." « a. a. 0., S. XIV f. 5 vgl. auch Kircheisen, S. 290; 'V. Kamptz, S. 154 fI. 8 a. a. 0., S. 53. 7LL~aut

.

vgl. auch "Abhandlung über die mündliche-öffentliche Rechtspflege"; in: Niederrheinisches Archiv, 2. Bd., 1817, S.161 - 185, hier S.182; Gutachten, S. 46. g Schreiben eines gerichtlichen Beamten, S. 48. 10 a. a. 0., S. 57. 11 a. a. 0., S. 90. 8

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Nicht die Gerichtshöfe, sondern die Zuchthäuser und Gefängnisse verdienen nach der Ansicht des Gutachtens1! den Namen einer wahren Schule des Verbrechens. Brewer13 schließlich fragt: "Was müßte man von einer Justiz denken, die aus Furcht vor den Künsten der Verbrecher in's Dunkle zu flüchten für nöthig hält?" Schram14 gesteht zwar zu, daß durch die Öffentlichkeit des Verfahrens dem Volk die Quellen und schrecklichen Folgen des Lasters recht anschaulich gemacht würden, gibt aber zu bedenken, diese Vorteile flössen doch nur denjenigen zu, deren sittliches Gefühl noch unverdorben sei, und eben von diesen besseren Menschen könne nur der geringste Teil - wegen seiner übrigen häuslichen Beschäftigung - den öffentlichen ;Kriminalverhandlungen beiwohnen. 2. Sittlichkeit Kircheisen15 befürchtet einen "nachtheiligen Einfluß, welchen die ... öffentliche Ausstellung des Lasters und der Verbrechen in allen schmutzigen und gräßlichen Gestalten auf einen Theil des Volkes nothwendig äußern muß". Auch wenn in allen Sachen wider die guten Sitten junge Leute und Frauen entfernt werden sollten, so stellt sich für ihn die Frage, ob nicht auch die Sittlichkeit der übrigen Zuhörer Gefahr laufe und die älteren das Gehörte den jüngeren zur Kenntnis brächten. d) Gründe, welche Recht und Staat insgesamt betreffen 1. Beibehaltung bzw. Wiedereinführung des Anklageverfahrens

Auch die (angebliche) Notwendigkeit der Beibehaltung bzw. Wiedereinführung des Anklageverfahrens und der Abschaffung des Untersuchungsverfahrens zählt v. Kamptz1 zu den Nachteilen der Öffentlichkeit des Kriminalprozesses. 2. Beschränktheiten der Richter In Gerichtshöfen ist, so führt Schram! aus, die Halbwisserei und Halbkultur keine seltene Erscheinung; und nicht bei allen Richtern ist gründliches Studium der Gesetze, tiefes Eindringen in den Geist derselben, geübte Urteilskraft und Festigkeit des Charakters anzutreffen. In solchen Fällen hält er es zugunsten des Staates und des Ansehens der Gerichte 11 13 14

11 1 !

a. 8. 0., S. 46. a. a. 0., S. 44.

a. a. 0., S. 57 f. a. a. 0 .• S. 290. a. a. 0., S. 159 f. a. a. 0., S. 55 f.

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für weit besser, "wenn die Beschränktheit oder gar Verschrobenheit solcher Individuen und überhaupt die Schwachheiten und Verirrungen solcher Mitglieder der Gerichtshöfe - an Statt bei den öffentlichen mündlichen Verhandlungen den Augen des Volkes gezeigt zu werdenbloß den bessern übrigen Amtsgenossen bekannt und von diesen in der Stille verbessert würden." 3. Mangel am Geist der Freiheit "Daß bei unserm Volke ... der Geist der Freiheit, welcher öffentliche Gerichte verlangt, weggefallen ist, bedarf ... keines Beweises", schreibt der Rezensent der "Jenaischen Literatur-Zeitung" vom November 18163 , und er setzt hinzu: "Unsere Bürger sind zufrieden, wenn ihnen die wöchentlich erscheinenden Gesetzblätter mittheilen, was die Regierung für gut findet zu sagen ... Das Volk ist im Staate bei uns untergegangen, das Volk gehorcht und hat sich daran gewöhnt; ... wahrer Patriotismus mit dem lebhaften Interesse an den Verhandlungen ist ebenso untergegangen wie die Freiheit." Dagegen stellt ein Aufsatz im Niederrheinischen Archiv4 fest, der Deutsche möge öffentlich-mündliche Rechtsverhandlungen nicht, weil er sie nicht gehabt habe. Gerade so sei es ihm mit der Leibeigenschaft, den Frohnen, der ungleichen Besteuerung und ähnlichen Vortrefflichkeiten ergangen. Das GutachtenS widerspricht der Unterstellung der Jenaischen Zeitung mit Entschiedenheit. Es verweist auf den lauten Wunsch der Bevölkerung nach einer ständischen Verfassung und auf das hohe Interesse, welches das Publikum an der Frage nehme, ob das öffentliche mündliche Verfahren und die Geschworenengerichte beibehalten werden sollten oder nicht. 4. Französische Einrichtung (Jakobinismus)

Man klagt, die Öffentlichkeit der Verhandlungen sei eine französische Einrichtung, die für den deutschen Charakter nicht passes, und es widerspreche der Nationallehre, die französischen Gesetze beizubehalten1 • Weiterhin sollen die öffentlichen Verfahren "revolutionäre und demagogische Pläne" erleichtern helfen8 und ein "republikanisches Element" beinhaltenD. Nr.200. 2. Bd., 1817, S.143 (Ist der Deutsche überall gleichgültig gegen Oeffentlichkeit? S. 135 - 143). 5 8. a. 0., S. 41 ff. S zit. nach Rebmann, S. 38. 7 v. Kamptz, S. 191; Neigebauer, S. 38 f. 8 Korrespondent von und für Deutschland, Nr. 136 vom 16. 5. 1817; zit. nach Schram, S. VI, Anm. D siehe die Rezension der Schrift Trittermanns in den Jahrbüchern, 8. Bd., 1816, S. 385 - 392, hier S. 385. 3

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4. Kap.: Einzug des öffentl. Rechtsganges unter franz. Einfiuß

Um diese Vorwürfe zu entkräften, wird auf die Herkunft der Institution "aus dem grauen Alterthume" und "aus den nordischen Wäldern" hingewiesen10, ". Das Niederrheinische Archiv u bemerkt, weder Napoleon, der gewiß kein Republikaner gewesen sei, noch einer der ärgsten römischen Despoten habe je in der öffentlichen Rechtspflege Gefahr für eine willkürliche Herrschaft gewittert. 5. Schädliches Nebeneinander zweier Prozeßordnungen in einem Staat Es sei unverkennbar sehr nachteilig, wenn in ein und demselben Staate der Prozeßgang unter verschiedenartigen Verfahrensformen ablaufe, da das Zutrauen, der Gemeingeist und die Stimmung der Untertanen dadurch ungünstig beeinflußt würden. Dieser Feststellung Trittermanns13 schließt sich auch v. Kamptz14 an. C. öffentlichkeit bezüglich einzelner Verfahrensteile

Sowohl Befürworter wie Gegner der Öffentlichkeit orientieren sich bis 1818 fast ausschließlichi am französischen Prozeß. Dabei kommt es kaum zu einer Erörterung derjenigen Verfahrensteile, die auch in Frankreich geheim bleiben. Wo eine solche doch stattfindet, beschränkt sie sich auf die Bestätigung der französischen Praxis. So führt etwa Mittermaier2 bezüglich der Voruntersuchung aus: "Mit Unrecht würde jedes Verhör in der Generalinquisition schon öffentlich seyn, nur zu leicht würden dadurch Unschuldige gekränkt, und die blos polizeiliche Untersuchung der ersten Periode fände selbst Hindernisse bei dieser Form ..." Auch die Nichtöffentlichkeit der Beratung und Beschlußfassung wird als ganz selbstverständlich vorausgesetzt3• D. Beschränkungen der Öffentlichkeit

Insgesamt gesehen spielte die Frage der Beschränkungen in der Diskussion um den öffentlichen Prozeß in dieser Zeit kaum eine Rolle. 10

Rebmann, S. 38.

siehe auch "Wünsche und Ansichten"; in: Niederrheinisches Archiv, 3. Bd., 1818, S. 33. 11 im 3. Bd., S. 103. 13 a. a. 0., in der Vorrede, S. II!. U a. a. 0., S. 193. 1 v. Rappard und v. Puttlitz scheinen einem "Processus Gallo-Borussicus" U

zuzuneigen. 2 Handbuch, S. 172. 3 vgl. etwa die Rezension zu Schrams Schrift im Niederrheinischen Archiv, 3. Bd., 1818, S.160; v. Kamptz, S.166 f.

IV. Gesetzgebung

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Der Code d'instruction criminelle hatte für die Hauptverhandlung den Grundsatz der Öffentlichkeit strikt durchgehalten. So durften das Publikum oder einzelne Personen nicht einmal bei Gefahr für die guten Sitten ausgeschlossen werden. Der Art. 64 der Charte von 1814 brachte zwar hierin eine Änderung, doch erlangte dieses Gesetz für die Rheinlande keine Gültigkeit. So erklärt es sich wohl, daß einige Anhänger des Öffentlichkeitsprinzips vorschlagen, dem Gericht bzw. dessen Vorsitzendem das Recht einzu· räumen, bei "indezenten oder scandalösen Sachen" Jugendliche!, junge Leute und Frauen! oder das gesamte Pl.lblikums auszuschließen. Etwas allgemeiner empfiehlt Weber\ in gewissen gesetzlich genau bestimmten Fällen die Öffentlichkeit teilweise zu suspendieren oder eine ebenfalls gesetzlich zu bestimmende Auswahl unter dem zuzulassenden Publikum zu treffen. Aber auch er denkt dabei in erster Linie an Fälle, welche die Sittlichkeit berühren. IV. Gesetzgebung

Die vier linksrheinischen Departements Roer (Hauptsitz Aachen), Saar (Hauptort Trier), Rhein und Mosel (Hauptsitz Koblenz) und Donnersberg (Mainz) erhielten am 1. Germinal des Jahres VI (21. März 1798) eine Gerichtsordnung, durch die der Code des delits et des peines vom 3. Brumaire IV (25. Okt. 1795) und damit das mündliche und öffentliche Verfahren in Untersuchungssachen eingeführt wurde. Als Folge des Luneviller Friedens vollzog Frankreich am 9.3.1801 auch de jure die Eingliederung dieser Gebiete in seinen Staatsverband, und mit Wirkung vom 23. 9. 1802 nahmen die vier Departements nun unmittelbar an der französischen Gesetzgebung teil. So trat auch hier der Code d'instruction criminelle vom 17. 11. 1808 mit seinem öffentlichen Verfahren1 am 1. 1. 1811 in Kraft. Nachdem bereits der Art.46 der Konstitutionsakte des Königreichs Westfalen den öffentlichen Rechtsgang angekündigt hatte, erging am 19. 8. 1808 die entsprechende Kriminalprozeßordnungl • Bewer, S. 27. Resultate der Deliberationen der Immediat-Justiz-Commission über verschiedene Haupt-Gegenstände der ihr gewordenen legislativen Aufgaben; . abgedruckt bei: Landsberg, Gutachten, S. 205 - 246, hier S. 207. 3 S. F. Merkel'sWunsch für die Beibehaltung deröft'entlichen Rechtspflege; in: Niederrheinisches Archiv, 2. Bd., 1817,S. 370 - 373, hier S. 371; Bewer,S. 27. 4 a. a. 0., S. 58. 1 Art. 153, 190 I. 2 die sich auch im übrigen eng an das französische Recht anschloß, vgl. Glaser, J.: Handbuch des Strafprozesses, I. Bd., 1883, S.156. . 1 I

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4. Kap.: Einzug des öffentl. Rechtsganges unter franz. Einfluß

In Bayern haben im Jahre 1809 für kurze Zeit Spezialgerichte mit einem öffentlichen Schlußverfahren bestanden. Durch Patente vom 14.8.1809 in Memmingen und Nürnberg errichtet, hatten sie politische Verbrechen abzuurteilen3 • Um die Jahreswende 1810 auf 1811 wurden auch die an der Nordsee liegenden rechtsrheinischen Lande dem französischen Staatgebiet einverleibt. Seit dem 20. 8. 1811 galt hier das französische Gerichtswesen. Ebenfalls noch im Jahre 1811, am 17. Dezember, trat im Großherzogturn Berg der Code d'instruction criminelle in Kraft. Eine eigenständige Strafprozeßordnung erhielt das Großherzogturn Frankfurt. Zwar wollte der Großherzog Karl Theodor von Dalberg4 ein öffentlich-mündliches Verfahren nach französischem Muster einführen, er stieß damit aber auf den Widerstand seines mehr konservativ eingestellten Staatsrats. Immerhin war in der Prozeßordnung vom 7.10.18125 eine öffentliche Vernehmung des Angeklagten nach Schluß der Untersuchung und eine zweite öffentliche Schlußverhandlung vorgesehen, in der der Angeklagte, sein Verteidiger und der Referent des Gerichts, nicht aber die Zeugen gehört wurden. Im Laufe des Jahres 1814 wurde das öffentliche Verfahren wieder fast ganz aus Deutschland verdrängt. Seine Hauptstütze, das Königreich Westfalen, hörte auf, ein Staat zu sein. Als Preußen, Hannoveraner, Braunschweiger oder Kurhessen nahmen seine Bewohner wie ehedem am geheimen Rechtsgang dieser Länder teil. Auch die beiden anderen Napoleonischen Schöpfungen, die Großherzogtümer Berg und Frankfurt, verschwanden von der Landkarte. Erhalten blieb der öffentliche französische Prozeß dagegen in den linksrheinischen Provinzen Hessens, Bayerns und Preußens. Die bayrische Regierung sicherte den Fortbestand der wichtigsten bestehenden Institutionen8 durch das Besitznahmepatent vom 3. 5. 1816 zu, die hessische durch das Besitznahmepatent vom 8.7.1816. In Hessen faßte man bald eine Vereinheitlichung des Rechtszustandes ins Auge. Zu diesem Zweck erging am 1. Dezember 1817 ein Edikt, welches Richtlinien für neu zu schaffende Verfahrensordnungen enthieW. In 3 vgl. die von Feuerbach entworfene - Verordnung vom 27.7.1809 (Bayr. Regierungsblatt 1809, Spalte 1257 ff.); Feuerbach, L.: Anselm Ritter von Feuerbach's Leben und Wirken,!. Bd., 1852, S. 230 f.; Mittermaier, Handbuch, S. 172. , er hatte sich schon 1792 in seinem "Entwurf eines Gesetzbuches in Criminalsachen" für ein weitgehend öffentliches Verfahren ausgesprochen, siehe oben 2. Kap. S in Kraft getreten am 1. 1. 1813. 8 und damit auch des französischen Strafprozeßrechts. 7 jedoch keine unmittelbare Änderung geltenden Rechts brachte.

iv. Gesetzgebung

61

den eigentlich peinlichen Sachen sollte demnach für das ganze Großherzogtum das öffentliche Verfahren der linksrheinischen Landesteile eintreten. In einfacheren Fällen dagegen sollte die Öffentlichkeit wegfallen, "damit nicht durch sie bei unbedeutenden Fällen die Ehre zu empfindlich gekränkt werde". Für Rheinpreußen stellte die Kabinetts-Order vom 19. November 1818 die Grundlage für den Fortbestand des öffentlichen Rechtsgangs dar8 • Daneben war auch in den vormals polnischen Gebietsteilen Preußens (Großherzogtum Posen) durch Verordnung vom 9.2. 1817 die Öffentlichkeit des Verfahrens erhalten geblieben.

8

in den Rheinlanden teilweise veröftentlicht am 27. 1. 1819.

Exkurs

Die Bayerische Strafprozetigesetzgehung von 1813 I. Einführung Als um die Jahrhundertwende Maximilian IV. Joseph, oder besser sein Minister Montgelas, die Zügel der Regierung in Bayern ergriffen hatte, da hatte sich schließlich auch in diesem Land der liberale Geist der Hochaufklärung durchzusetzen vermocht. Damit war auch die Zeit für die Schaffung eines modernen Straf- und Strafprozeßrechts gekommen . . Mit den Vorarbeiten dazu war nach seiner aufsehenerregenden Kritik am Kleinschrodschen Entwurf 1804 Anselm von Feuerbach betraut worden. Nach den Beratungen über den materiellen Teil des Strafgesetzbuchs reichte er Ende 1810 seinen Entwurf zum prozeßrechtlichen Teil ein. Welche Vorstellungen wollte Feuerbach nun darin verwirklicht sehen? Zunächst einmal beabsichtigte er keineswegs, am Prinzip des Inquisitionsprozesses zu rütteln. Als Vorbild und Richtschnur für die Gesetzgebungsarbeit diente ganz selbstverständlich der humanisierte Inquisitionsprozeß, wie ihn Österreich 1803 und Preußen 1805 hervorgebracht hatten; zum anderen war aber auch Feuerbach selbst von der Notwendigkeit überzeugt, die bisherige Verfahrensform beizubehalten1 • Nur sie schien ihm eine wirksame Verbrechensbekämpfung zu sichern!. Auf der anderen Seite gingen gewiß auch vom Code d'instruction criminelle nicht unbeträchtliche Impulse aus, ganz besonders für einen Rheinbundstaat wie Bayern. Und auch Feuerbach hat sich natürlich intensiv mit diesem Verfahren auseinandergesetzt. Dennoch nehmen seine Vorschläge keine eigentliche Zwitterstellung ein wie später einmal die württembergische StPO von 1843. Mag auch der Geist des neuen Ver1

zu den Gründen siehe:

Thiertelder, R.: A. v. Feuerbach und die bayrische Strafprozeßgesetzgebung

von 1813; in: Zeitschrift für die gesamte Strafrechtswissenschaft, 53. Bd., 1934, S. 403 - 442, hier S. 416 ff. und Cornelissen, J.: Tätigkeit und Theorien Feuerbachs im Strafprozeßrecht, 1963, S. 24 - 30. I vgl. Cornelissen, a. a. 0., bes. S. 27.

11. Das Institut der Gerichtszeugen u. die öff. Schlußverhandlung

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fahrens eine bedeutsame Rolle gespielt haben, rechtstechnisch steht der Entwurf des großen Juristen dem alten Prozeß doch noch näher. II. Das Institut der Gerichtszeugen und die öffentliche Srhlußverhandlung im Gang des Verfahrens

Das Institut der Gerichtszeugen stellte keine absolute Neuerung dar. Die österreichische und die preußische Prozeßordnung kannten die Einrichtung, und auch in Bayern war sie bis 1772 in Geltung gewesen. So glich der Art. 46 Abs. I in Feuerbachs erstem Entwurf in etwa auch der österreichischen Regelung, er lautete: Bei Untersuchungen über Verbrechen wird zu jeder gerichtlichen Handlung, welche auf Begründung rechtsgültigen Beweises wider den Angeschuldigten gerichtet ist, die Gegenwart 1. des Untersuchungsrichters, 2. eines beeideten Protokollführers und überdies 3. bei Verhören des Angeschuldigten oder der Zeugen die Zuziehung zweier beeideter Gerichtszeugen erfordert. Die Gesetzgebungskommission schloß sich mit knapper Mehrheit diesem Vorschlag an; im Geheimen Rat fand nochmals eine eingehende Erörterung ohne Abstimmung statt. Der dabei anwesende König entschied sich jedoch dafür, die Gerichtszeugen nicht ins bayrische Strafverfahren aufzunehmen3 • Weitaus interessanter ist nun aber der zweite Kernpunkt des Feuerbachschen Programms, das öffentliche Schlußverfahren oder Verteidigungsverfahren. Zwar war auch die Einschaltung eines Verteidigers oder die Ansetzung eines besonderen Verteidigungstermins - obwohl systemwidrig - nichts Fremdes mehr, eine völlige Neuerung jedoch ist darin zu erblicken, daß für ein solches Verteidigungsverfahren "offene Gerichtstüren" vorgesehen waren. Nach dem 1. Entwurf sollte sich dieser Termin an die Spezialuntersuchung anschließen, also noch vor dem Untersuchungsrichter stattfinden und den Inquisiten bzw. dessen Verteidiger dazu berechtigen: 1. dasjenige, was noch der weiteren Untersuchung bedarf und die allenfalls nachträglichen Verteidigungsbeweise anzuzeigen, 3 jedenfalls nicht für das ordentliche Verfahren. Für das Standrecht jedoch, das bei Aufruhr usw. zusammentrat, waren zwei Gerichtsbeisitzer vorgesehen (Art. 441 - 456); siehe Kern, E.: Die Gerichtsbeisitzer oder Gerichtszeugen (stumme Schöffen) in den partikularen Gerichtsverfassungen des 18. und 19. Jahrhunderts; in: Festschrüt für W. Sauer zum 70. Geburtstag, 1949, S.71 bis 84, hier S. 74.

64

Exkurs: Die bayerische Strafprozeßgesetzgebung von 1813 2. alle rechtlichen Gründe, welche die Gültigkeit des Verfahrens, die Glaubwürdigkeit und Kraft der Beweise, und überhaupt die Abwendung oder Minderung der Schuld betreffen, zum Protokolle zu geben. (Art. 156 I)

Als nun Feuerbach im Laufe der Beratungen eine im ganzen positive Resonanz feststellen konnte, ging er noch einen Schritt weiter. Damit auch der erkennende Richter den Angeklagten persönlich zu Gesicht bekomme, wollte er das öffentliche Schlußverfahren vor dem erkennenden Gericht stattfinden lassen, aus technischen Gründen dann allerdings nur im Falle von Kapitalverbrechen4 • In dieser öffentlichen Verhandlung sollte nach einer kurzen orientierenden Rede des Gerichtsvorstandes zunächst der Kronfiskal eine förmliche Anklagerede, dann der Verteidiger eine förmliche Verteidigungsrede halten und zum Schluß der Angeklagte noch das sagen, "was er selbst der Wahrheit gemäß anführen zu können glaube"5. Der König, der diesen Vorschlägen zunächst zugestimmt hatte, ließ sich von seinem konservativ eingestellten Justizminister Graf Reigersberg doch noch zum Widerruf bewegen. Damit waren - so Feuerbach "die schönsten, glänzendsten Ideen (gestürzt), wodurch mir die schwere Aufgabe, den finstern Inquisitionsproceß zu humanisiren, die Vorzüge des öffentlichen Verfahrens mit den Vorzügen des alten Untersuchungsprocesses zu combiniren - zu lösen geglückt war"'. Erst 30 Jahre später sollte die württembergische StPOvon 1843 diese Gedanken aufgreifen, weiterentwickeln und zum Gesetz erheben.

m.

Die Argumente für und gegen das Institut der Gericlttszeugen im Ermittlungsverfahren

Da die allgemeine Öffentlichkeit vom Ermittlungsverfahren ausgeschlossen bleiben sollte, so schien Feuerbach doch "allermindestens" die Zuziehung unbeteiligter, aus der Mitte rechtlicher Bürger gewählter Gerichtszeugen vonnöten. Ihre Aufgabe sollte es sein, den "Glauben an die Förmlichkeit und Gesetzmäßigkeit des Verfahrens wie an die treue Wahrheit des Inhalts der Gerichtsprotokolle"7 zu begründen. Sie könn4 Als ein Kommissionsmitglied noch weitergehend gar eine regelrechte Hauptverhandlung forderte, mußte Feuerbach selbst eingreifen und auf die begrenzten Möglichkeiten hinweisen. Siehe Thierfelder, S. 424. 6 zit. nach Thierfelder, S. 425 (Sämtliche Akten bezüglich des bayrischen StGB sind dem letzten Kriege zum Opfer gefallen - Cornelissen, S. 21 Anm.l). I "Dank und Belohnung, welche ich für meine legislativen Arbeiten erhalten habe"; abgedruckt in Feuerbach's Leben und Wirken, 1. Bd., S. 257 bis 260, hier S. 260. 7 so Feuerbach noch zehn Jahre später in seinen "Betrachtungen über die Oeffentlichkeit und Mündlichkeit der Gerechtigkeitspflege" , 1. Bd., 1821, S. 60.

lV. Topoikatalog zur Öffentlichkeit des Schlußverlahrens

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ten verhindern, daß der "Inquisit mißhandelt, durch Versprechen oder Zwang zum Geständnis gebracht und dann das Geständnis zum Protokoll genommen, aber das Mittel dazu verschwiegen werde". Sie bürgten dafür, daß nicht "bequem Protokolle verfaßt würden über Gerichtshandlungen, die niemals vorgenommen worden seien"8. Sollten jedoch wider Erwarten einmal Unregelmäßigkeiten vorkommen, so setzten sie (die Schöppen) den Angeklagten in die Lage "seinem gefährdeten oder gekränkten Recht auch gegen Gerichtspersonen Gültigkeit zu verschaffen"'. Die Gegner wiesen besonders auf die Gefahr hin, die Zeugen könnten durch Indiskretionen die Untersuchung stören. Außerdem verursachten sie nur hohe Kosten und wären doch in keinem Fall imstande, eine wirksame Kontrolle auszuüben. Denn entweder kämen sie, namentlich wenn sie wenig gebildet seien, leicht ganz in Abhängigkeit vom Untersuchungsrichter, oder aber sie wohnten den Verhandlungen nur interesselos bei. Im übrigen seien Beisitzer überflüssig, wenn die Richter gut seien; hielte man diese aber für schlecht, dann nützten auch Beisitzer nichts, vielmehr helfe dann nur, neue Richter zu ernennen10 • IV. Topoikatalog zur Offentlichkeit des Schlußverfahrens bei Kapitalverbrechen Die folgenden Gründe, Gegengründe und ihre Widerlegung sind zum größten Teil in einem Brief Feuerbachs an den König enthalten, abgedruckt in Feuerbachs Leben und Wirken1!, Bd. 1, S. 220 - 231. A. Gründe für die Oftentlichkeit

1. Gefühlsmäßige Abneigung gegen heimliche Verfahren, besonders bei schwerwiegenden Straf drohungen Feuerbach beruft sich auf die Abneigung, die die Heimlichkeit des Inquisitionsprozesses im allgemeinen finde; um so mehr müsse sich jedes für wahre Gerechtigkeit und Humanität gestimmte Gemüt durch diese unbedingte Heimlichkeit zumal in denjenigen Fällen beleidigt finden, wo es dem Leben und der ganzen bürgerlichen Existenz des Menschen gelte. Gegen ein solches Verfahren empöre sich gewiß schon jedes feinere Gefühl, selbst ohne sich der Gründe bewußt zu sein. • Betrachtungen über die Oeffentlichkeit I, S. 162. 8 zit. nach Thierfelder, S. 419. 10 s. Thierfelder, S. 419. 11 herausgegeben von Ludwig Feuerbach, 1852. 5 Alber

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Exkurs: Die bayerische Strafprozeßgesetzgebung von 1813 2. Hebung der Feierlichkeit und Würde; Vermeidung des Aru:cheins einer unrechten Behandlung des Angeklagten

Selbst wenn man in der Öffentlichkeit des Schlußverfahrens eine bloße Prunkanstalt sehen wolle, so wäre ihr Prunk eine würdevolle Feierlichkeit, mit welcher sich die Gerechtigkeit umgebe, wenn sie bereit sei, die wichtigste und schrecklichste ihrer Handlungen auszuüben. Wenn schon der Zweck des hochnotpeinlichen Halsgerichtes darin bestanden habe, bei den Zuschauern einen tiefen Eindruck zu machen und einen jeden durch das letzte freiwillige Bekenntnis des Verurteilten zu überzeugen, daß demselben kein Unrecht geschehen sei, so dürften diese Gedanken dem Gesetzbuch für Bayern am Anfang des 19. Jahrhunderts nicht verloren gehen. Nur entspreche diesen angeführten Zwecken ein öffentliches Schlußverfahren vor erkanntem Urteil mehr als das hochnotpeinliche Halsgericht nach erkanntem Urteil. 3. Erweis einer geordneten und gerechten Rechtspflege Wenn der Vollstreckung des Urteils nicht ein öffentliches Schlußverfahren vorhergehe, so sehe das Volk in der Strafvollziehung zwar eine öffentliche Gewalthandlung des Staates, nicht aber den Akt der Gerechtigkeit, durch den sie gerechtfertigt sei. "Ist ... dem Staat an dem öffentlichen Vertrauen des Volks gelegen, will er die lebendige Ueberzeugung wecken, daß er nicht räche, sondern strafe, nicht Gewalt übe, sondern das Recht handhabe, daß er nicht aus Uebereilung, sondern nach bedächtiger Ueberlegung, nicht blos auf Anklage, sondern auch auf förmliche Vertheidigung den Richterstab über den Angeklagten gebrochen: will er dieses (und mir scheint: das müsse er wollen), so muß er das Volk zum Zeugen der Anklage und Vertheidigung nehmen, er muß die Gerichtsthüren öffnen, wenigstens in dem entscheidenden Augenblick, wo die begründeten Resultate der Untersuchung dem urtheilenden Richter zur Entscheidung über Tod und Leben vorgelegt werden sollen ... " Nur durch das öffentliche Anklage- und Verteidigungsverfahren könne die feste überzeugung bewirkt werden, daß gegen den Hinzurichtenden ordentlich verfahren worden sei. 4. Ausräumung des Verdachts der Parteilichkeit bei Freisprüchen Auch im Falle eines Freispruchs werde dem Verdacht der Parteilichkeit und dem der Begünstigung der Person begegnet. Denn das Volk höre die Anklage, höre die Gründe des Verteidigers, erfahre durch diesen die Mängel der Untersuchung, die Unvollständigkeit oder das Schwankende der Beweise, die Erheblichkeit der mildernden oder entschuldigenden Umstände.

xv. 'I'opoikatalog zur öffentlichkeit des Schlußverfahrens

67

5. Beruhigung für den Schuldigen und Sicherheit für den Unschuldigen Aus Gründen der Humanität will Feuerbach demjenigen, der in der nahen Gefahr steht, zum Tode verurteilt zu werden, den Anspruch zuerkennen, nicht nur vor den Augen seiner Richter zu stehen, sondern auch sich vor den Augen seiner Mitbürger zu verteidigen. In dieser Publizität sieht er eine den Angeklagten beruhigende Bürgschaft, daß die Richter seine Verteidigung nicht bloß hörten, sondern auch aus Scheu vor dem Publikum gehörig würdigten; besonders gelte dies auch für den Unschuldigen oder minder Schuldigen. B. Gründe gegen die öffentlichkeit

1. Technische Schwierigkeiten An technischen Gründen wende man den Mangel an geeigneten Lokalen, die Notwendigkeit, Bänke, Stühle herbeizuschaffen und dgl. ein. 2. Kosten des Gefangenentransports und Fluchtgefahr Der Transport des Gefangenen vom Sitz des untersuchenden Gerichtes zu dem des erkennenden Gerichtes verursache Kosten und begründe Gefahr der Entwichung. An dem Argument der - gar nicht so großen - Kosten darf nach Feuerbachs Worten die Einführung einer Anstalt nicht scheitern, welcher selbst ihre Gegner das Lob einer gerechten, großen, schönen Idee nicht versagen könnten. Die Notwendigkeit, schwere Inquisiten zu transportieren, liege auch sonst vor; hier wie dort bezahle der staat seine Gendarmen für die Bewachung der Gefangenen.

3. Nachlassendes Interesse des Publikums Die Gegner erwarten, das anfängliche Interesse an öffentlichen Verhandlungen und der Zulauf dazu werde bald von Interesselosigkeit abgelöst werden. Gönner12 formuliert: das öffentliche Schlußverfahren wird sich bald in eine erkaltende Formalität auflösen. Diese Besorgnis fände Feuerbach begründet, wenn sich die Gerichtstüren alle Tage öffneten, um unbedeutende Kleinigkeiten zur Publizität zu bringen. Die Verhandlung über begangene schwere Verbrechen fordere jedoch auch das roheste Gemüt zur Teilnahme auf, reize und beschäftige die Neugierde und wecke beim Volk das Interesse am Menschlichen. 11

zit. nach ThieTjelder, S. 423.

Exkurs: Die bayerische Strafprozeßgesetzgebung von Hila

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4. Längere Dauer der Verfahren Der allzu große Zeitaufwand mit Vorbereitung und Verhandlung sowie die dadurch entstehende Verzögerung der Aburteilung und Vollstreckung sind weitere Contraargumente. Gönner13 sieht im schleppenden Gang der Verhandlungen eine Gefahr des Widerrufs von Geständnissen. Ihnen begegnet Feuerbach mit der grundsätzlichen Erwägung, bei wichtigen Angelegenheiten des Staates, insbesondere bei Handlungen der Gerechtigkeit, komme es zunächst nicht darauf an, daß sie so schnell als möglich, sondern daß sie so gut und so würdig als möglich getan würden, eine Maxime, welche gewiß da am dringendsten erforderlich sei, wo es dem Leib und Leben eines Bürgers gelte. 5. Unvereinbarkeit mit dem inquisitorischen Prinzip Ferner wird die Behauptung erhoben, das öffentliche Schlußverfahren sei mit dem inquisitorischen Prozeß unverträglich. Für Feuerbach gibt es keinen Widerspruch zwischen diesem Verfahren und dem Begriff wie dem Zweck des inquisitorischen Prozesses, dessen Wesen darin bestehe, daß der Untersuchungsrichter von Amts wegen verfahre, die Tätigkeit der Kriminalgerichtsbarkeit also nicht durch die Aufforderung eines Anklägers bedingt sei. Damit vertrage sich aber wohl, daß nach geschlossener, von Amts wegen angefangener und vollführter Untersuchung ein Ankläger die Anklagepunkte resümiere und vor den Augen des Volkes dem Richter vorlege. 6. Verlust der abschreckenden Wirkung der Hinrichtung am Tatort Die Vollstreckung des Urteils am Sitze des erkennenden Gerichts soll dazu führen, daß der Eindruck der Exekution für den Ort der begangenen Tat verloren gehe. Nach Feuerbachs überzeugung wird durch das Zusehen bei einer Hinrichtung einmal nur Mitleid hervorgerufen, was der Absicht des Gesetzes gerade zuwiderlaufe. Im übrigen reiche es aus, wenn kein Zweifel darüber aufkomme, daß der Verbrecher die verdiente Strafe eriitten habe und wenn die Vollstreckung des Todesurteils in den Zeitungen bekannt gemacht werde. 7. Nachteile im Einzelfall Dem öffentlichen Verfahren werden manche Nachteile im einzelnen Fall nachgesagt: das Volk könne sich vielleicht zu sehr für den Verbrecher durch dessen Verteidigung interessieren; es könne manches publik werden, was besser dem Volk verborgen bleibe und dergleichen. Entgegnung Feuerbachs: Es gibt keine einzige notwendige, gerechte, menschlich schöne Einrichtung, die nicht im Einzelfall auch einmal einen Nachteil mit sich bringt. 13

zit. nach Thierjelder, S. 423.

Fünftes Kapitel

Fortschritte der Öffentlichkeitsbewegung zwischen Restauration und Revolution I. Einführung Es hatte sich bereits im vorher. behandelten Zeitabschnitt gezeigt, wie sehr die Öffentlichkeit besonders des Strafverfahrens zur politischen Frage geworden war. Dies setzt sich in der folgenden Epoche verstärkt fort: Politischer Liberalismus und Konstitutionalismus stehen für öffentliches Verfahren, Restauration und Reaktion stehen dagegen. So ist es nicht weiter verwunderlich, daß das Jahr 1819 zu einem Markstein der Entwicklung werden mußte. Bayern (1818), Baden (1818) und Württemberg (1819) stellten mit ihren Verfassungen den Höhepunkt des deutschen Frühkonstitutionalismus dar. Als "monarchisch-liberaler Komprorniß" suchten sie die überlieferte monarchische Herrschaftsgewalt mit bürgerlichen Freiheits- und Mitbestimmungsrechten zu vereinen. In allen drei Ländern war mindestens für die Zweiten Kammern der Volksvertretung von Verfassungs wegen Öffentlichkeit der Beratungen vorgeschrieben1 • Wenn sich somit die Teilnahme des Volkes an der Gesetzgebung in der Öffentlichkeit vollzog, dann konnte es nur die logische Folge sein, auch die Anwendung dieser Gesetze vor den Augen des Publikums erfolgen zu lassen. So weit waren die Verfassungen allerdings nicht gegangen2 • Dafür nahmen sich die Ständeversammlungen der Sache an. Neben der badischen Zweiten Kammer von 1819 3 wurden am frühesten die bayerischen Kammern im Jahre 1819 aktiv mit dem Antrag an die Staatsregierung, "bei bevorstehender Revision der Gerichtsordnung auf die Oeffentlichkeit und Mündlichkeit des Verfahrens in der Civil- und Strafrechtspflege Bedacht zu nehmen"'. Zu den Ergebnissen dieses Beschlusses gehört auch der Bayern § 167, Württemberg § 168; in Baden für beide Kammern § 78. § 199 Abs. II der württembergischen Verfassung betraf nicht die ordentlichen Gerichte, sondern einen besonderen Staatsgerichtshof, der bei Verfassungsverletzungen eine beschränkte Strafgewalt hatte (§ 203). 3 Vgl. dazu Müller, L.: Badische Landtagsgeschichte, Erster Teil, 1900, S. 63 ff.; Mackert, J. A.: Von der peinlichen Prozedur zum Anklageprozeß, 1947, S.30f. , Gründung einer gleichförmigen Gesetzgebung; in: Archiv für die neueste Gesetzgebung aller deutschen Staaten, 7. Bd., 1. H., 1836, S. 284 - 328, hier S. 321. t

t

70

5. Kap.: Fortschritte zwischen Restauration und Revolution

Königlich Baierische Entwurf über das Verfahren in Strafsachen von 1831 5, der eine mündliche und öffentliche Verhandlung vor dem erkennenden Gericht empfahl. Doch derartige Bemühungen mußten angesichts der einsetzenden Restauration vorerst erfolglos bleiben. Mit den Karlsbader Beschlüssen (September 1819) wurde der Versuch gemacht, "eine fundamentale geistige Entwicklung, die in den breitesten Schichten Fuß gefaßt hatte, durch Kommunikationsunterbindung zu sistieren und rückgängig zu machen"6. Neben der Pressefreiheit stand die Öffentlichkeit der ständischen Beratungen und der Gerichtsverhandlungen der Rückkehr zum Arkanprinzip im Wege. "Die Beibehaltung der offenen Tribünen in den vielen deutschen Ständeversammlungen würde den Revolutionsfreunden immer neuen Stoff darbieten, um das Volk aufzuregen, und die Verbreitung ihrer Declamationen durch die Tribünen würde ihnen die Mittel zur Erreichung ihrer verwerflichen Zwecke reichlich ersetzen, welche die Beschränkung des Unfugs der Presse ihnen zu nehmen beabsichtigt7 ." Für Metternich bedeutete die Einführung der Jurys mit der Öffentlichkeit der Gerichtspflege unausweichlich "den Umsturz der meisten heute bestehenden Institutionen"8. Nicht ganz zu Unrecht mußte er befürchten, die Urteile der rheinischen Richter über die Demagogen könnten zu leicht ausfallen. Schließlich wurde von sämtlichen Mitgliedern der Konferenzen das Schwurgericht samt dem öffentlichen und mündlichen Verfahren als ein "Axiom der Revolution", wie Gentz sich ausdrückte, unbedingt verworfen9 • Der geheime Rechtsgang dagegen erschien ihnen als Stütze des "monarchischen Prinzips". Unter diesen Umständen mußte es in der 20er Jahren stiller um die Öffentlichkeit werden. Friedrich List, der bedeutendste Nationalökonom der frühliberalen Epoche, verlor sein Mandat in der württembergischen Zweiten Kammer, als er mit der Forderung nach öffentlicher Rechtspflege temperamentvolle Angriffe auf die herrschende "Schreiberkaste" vortrug1°.Die Mainzer Zentraluntersuchungskommission arbeitete emsig. Die Ermittlungen gegen Jahn, E. M. Arndt, die Gebrüder Welcker u. a. zogen sich jahrelang hin, die Verfolgungen der Burschenschafter und der 5 vgl. dazu MittermaieT, C. J. A.: Die Mündlichkeit, das Anklageprinzip, die Oeffentlichkeit und das Geschwornengericht, 1845, S. 126 ff. t SchneideT, F.: Pressefreiheit und politische Öffentlichkeit, 1966, S. 244. 7 Graf Y. Münster, Protokoll der achten Conferenz zu Carlsbad und Nebenbeilage 3 zu diesem Protokoll; abgedruckt in: WelckeT,C.: Wichtige Urkunden für den Rechtszustand der deutschen Nation, 1844, S. 132 u. 269 f.· . 8 Protokoll der zwölften Conferenz zu Carlsbad; bei WelckeT, Urkunden,

S.147.

o v. TTeitschke Ir, S. 564.

.

10 Seine in Straßburg gedruckte Verteidigungsschrift trägt den Untertitel: "Aktenmäßiger Beweis der Verwerflichkeit des heimlichen Inquisitionsgerichts und der Unentbehrlichkeit des Geschworenengerichts und der Gerichtsöffentlichkeit in konstitutionellen Staaten."

I. Einführung

71

Mitglieder des Jünglingsbundes nahmen zu, wobei Untersuchungsakten und Urteilsgründe streng geheim gehalten wurden. Das alles mußte den letzten Rest von Vertrauen in die Strafrechtspflege zerstören. Doch selbst in dieser schwierigen Zeit ging die Diskussion um das öffentliche Verfahren weiter, mochten auch die Verlängerung der Karlsbader Beschlüsse (1824) und die verstummenden süddeutschen Landtage wenig Aussicht auf baldige Verwirklichung der Forderung eröffnen. Gerade das geschwundene Vertrauen gab neben dem Rechtslehrer auch dem Philosophen (Hegel)11 und dem Publizisten (Börne)12 Anlaß, die Öffentlichkeit der Gerichtsverhandlungen zu postulieren. Die Julirevolution von 1830 brachte über Frankreich hinaus auch für weite Teile Deut~chlandsdas Ende der politischen Windstille. Denn das französi~che Beispiel führte den liberalen und demokratischen Bewegungstendenzen neue Kräfte zu. Ihr Drängen auf Umgestaltung der öffentlichen Verhältnisse schloß das Strafverfahren notwendigerweise mit ein. Die erstarkenden süddeutschen Repräsentativkörperschaften nahmen die Reformdiskussion mit neuem Elan auf und setzten die Regierungen zunehmend unter Druck. Eine frühe Frucht dieser Bemühungen war das badische Pressegesetz vom 28. 12. 1831 13. Verstöße gegen seine Bestimmungen sollten in öffentlich-mündlicher Verhandlung durch Geschworenengerichte geahndet werden. So zeigt das Jahrzehnt von 1830 -1840 ein weitaus lebendigeres und unruhigeres Bild als das vorhergehende. Freilich waren die Verteidiger des· Bestehenden nicht gewillt, den dauernden Bekundungen freiheitlicher Gesinnung tatenlos zuzusehen. Vor allem die Vorgänge in Hambach und der Frankfurter Wachensturm veranlaßten Metternich, erneut Ministerkonferenzen nach dem Vorbild des Karlsbader Kongresses anzuregen. Im Januar 1834 kamen die Vertreter der 17 wichtigsten Bundesrnächte in der Wiener Hofburg zusammen. Ihre Beschlüsse vom Juni desselben Jahres (Sechzig Artikel) stellten den Höhepunkt restaurativer Ordnungspolitik seit 1819 dar. Wieder war es das Ziel, der geistigen Unruhe durch Kommunikationsunterbindung Herr zu werden. Dem dienten die Beschränkungen der öffentlichen Landtagssitzungen in Art. 25 und 26, die überwachung der Universitäten, vor allem aber die Verschärfung des Bundespreßegesetzes. Der Art. 3514 beschäftigte sich mit der Öffentlichkeit der Gerichtsverhandlungen, er lautete: 11

Grundlinien der Philosophie des Rechts, 1821, § 224 Zusatz; vgl. auch

. - 11

Fragmente und Aphorismen (Gesammelte Schriften, Sechster Theil) ,

§ 228.

1829, v. a. Nr. 102; siehe auch Nr. 21 und 123. Vgl. auch Heines Promotionsthese: "Omnia iudicia publice peragenda sunt." 13 Das Gesetz wurde allerdings am 28.7.1832 wegen Verstoßes gegen das

Bundesrecht für unwirksam erklärt. 14 abgedruckt bei: Welcker, Urkunden, S.381 und bei Huber, E. R.: Dokumente zur deutschen Verfassungsgeschichte, 1. Bd., 2. Aufl., 1961, S. 129.

72

5. Kap.: Fortschritte zwischen Restauration und Revolution "Da, wo Oeffentlichkeit gerichtlicher Verhandlungen in Strafsachen besteht, wollen die Regierungen der Bekanntmachung dieser letztern durch den Druck nur unter Beobachtung solcher mit den Gesetzen vereinbaren Vorsichtsmaßregeln Statt geben, durch welche eine nachtheiIige Einwirkung auf öffentliche Ruhe und Ordnung verhindert werden kann."

Es ist aber bezeichnend, daß die Minister nicht mehr wagten, diesen und die meisten anderen Artikel zu veröffentlichen. Die Gefahren für die konstitutionellen Staaten wären unabsehbar gewesen. So konnten die Wiener Beschlüsse die bürgerliche Verfassungsbewegung und das ihr innewohnende Prinzip der Publizität wohl bremsen, nicht aber aufhalten. Hatten die politischen Verfahren der 20er und frühen 30er Jahre das Vertrauen in die Justiz erschüttert, so gaben die beiden Prozesse Weidig und Jordan dem geheimen Rechtsgang den Todesstoßl5. Sie wiesen mit bisher nicht dagewesener Deutlichkeit auf die Mängel der geheimen Inquisition, auf psychische Tortur, Aussagenerpressungen und Inquirentenexzesse hin. Die publizistische Erörterung der beiden Fälle, v. a. durch Welcker16 und Schulzl8 stieß auch später noch auf großes Interesse, wenngleich hier das Schicksal des geheimen Verfahrens bereits entschieden war17• Seit 1835 wurde besonders in Baden, Württemberg, Hessen-Darmstadt und Sachsen die Umgestaltung des Strafverfahrens vorangetrieben. Württemberg (1843) und Baden (1845) erhielten noch vor der Revolution wenigstens im Ansatz einen öffentlichen Rechtsgang. Dagegen stellte der sächsische Entwurf von 1842 den letzten ernsthaften Versuch dar, die Grundsätze des bisherigen Verfahrens zu retten. Seine Motive unterzogen Anklageprozeß, Mündlichkeit, Öffentlichkeit und Geschworenengericht einer eingehenden Prüfung. Gegen jedes dieser Prinzipien wurden jedoch so viele Einwände geltend gemacht, daß die Regierung keinen Anlaß sah, von den bisherigen Einrichtungen abzuweichen. Trotz dieses negativen Resultates fanden die sächsischen Diskussionen bei IS v. Treitschke IV, S. 614 ff.; vgl. auch Milller-Dietz, H.: Das Leben des Rechtslehrers und Politikers Karl Theodor Welcker, 1968, S. 41 ff. 18 Welcker, C.: Die geheimen Inquisitionsprozesse gegen Weidig und Jordan. Zur neuen Unterstützung des Antrags auf öffentliches Anklageverfahren und Schwurgericht, 1843. Der Inhalt dieser Schrift ist im Art. Strafverfahren des Staatslexikons, 15. Bd., 1843, wiedergegeben. (Schulz, W.): Der Tod des Pfarrers Friedrich Ludwig Weidig, 1843. Schulz, W. und Welcker, C.: Geheime Inquisition, Censur und Kabinetsjustiz im verderblichen Bunde, 1845. 17 Schulz/Welcker, Geheime Inquisition, S. 34: "Vermöge des ,sichern, nicht eilenden, aber auch nicht zögernden Fortschritts' ist in Deutschland die öffentliche Meinung zu einem Punkte der Entwicklung gelangt, wo kaum noch Jemand die Schamlosigkeit oder Beschränktheit hat, als Vertheidiger der geheimen schriftlichen Inquisition aufzutreten."

Ir. überblick über die Literatur

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Freund18 und Feindu Anerkennung. Sie galt der erschöpfenden Art und Weise, in der Gründe und Gegengründe erörtert wurden. Auch in Preußen kam mit dem Jahr 1842 einiges in Bewegung. Savigny wurde das Ministerium für Gesetzesrevision übertragen mit der ausdrücklichen Weisung, die Frage der öffentlichen Rechtspflege "zu einer definitiven Entscheidung zu bringen"zo. Die Anhänger des rheinischen Verfahrens gaben ihre Verteidigungsstellung auf und gingen zur Offensive über. Der Landtag der Provinz empfahl der Regierung (1843), die öffentliche und mündliche Rechtspflege auch im rechtsrheinischen Preußen einzuführen. Aber erst die sog. Polenprozesse erzwangen die Reform. Am 17.7.1846 erging ein Gesetz, das für die Berliner Gerichte eine öffentliche Schlußverhandlung vorschrieb. So konnte sich das Prinzip der Öffentlichkeit noch einige Jahre vor dem GeschworenengerichtZI durchsetzen, mit dem es oft in einem Atemzuge genannt worden war. Beide Institute markieren das Streben nach gesetzlich verankerter staatsbürgerlicher Freiheit. Sie entsprechen ebenfalls der Forderung der Zeit nach Mitwirkung des Volkselements am gesamten staatlichen Leben. 11. Vberblick über die Literatur Nachdem das öffentliche Strafverfahren in den Rheinlanden sich hatte behaupten können, ebbte die Zahl der mehr oder minder flüchtig zurechtgemachten Flugschriften merklich ab. Der Ton wird sachlicher und beherrschter, Umfang und Gründlichkeit der Werke nehmen zu. Der Hauptgrund dafür dürfte in dem Mangel an politischer Tagesaktualität liegen. Nur im Jahr 1819 hatte es noch einige Anläufe gegeben, die öffentliche Rechtspflege in den deutschen Ländern einzuführen. Doch der einsetzenden Restauration gelang es je länger je mehr, diese Tendenzen abzuschnüren, was einer vertieften theoretischen Diskussion freilich eher förderlich war. Dies erhellt schon daraus, daß das Meinungsspektrum sich wesentlich breiter gefächert darbietet als in der vorigen Epoche. Die Basis der abNI Fölix, J. J. G.: Ueber Mündlichkeit und Oeffentlichkeit des Gerichtsverfahrens, dann über das Geschwornengericht, 1843, S. 52. 18 Mittermaier, Mündlichkeit, S.117. !O Temme, J. D. H.: Ueber die Fortschritte in der Revision der Preußischen Gesetzgebung über das Strafverfahren; in: Zeitschrift für deutsches Strafverfahren, N. F., 1. Bd., 1844, S. 307 - 330, hier S. 324. 21 Erst die Lübecker Germanistenversammlung 1847 und die Revolution von 1848 bringen hier die Entscheidung; vgl. Schwinge, E.: Der Kampf um die Schwurgerichte bis zur Frankfurter Nationalversammlung, 1926, S. 146 ff. und 153 ff.

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5. Kap.: Fortschritte zwischen Restauration und Revolution

soluten Gegner jeder Publizität wird deutlich schmaler. Dafür werden unendlich viele Zwischenformen von Öffentlichkeit angeboten. Das beginnt etwa mit dem Vorschlag, zwei bis sechs zusätzliche Urkundspersonen, zum Teil vom Inquisiten ausgewählt, bei bestimmten Verfahrens abschnitten heranzuziehen1 und in Ausnahmefällen von der Regierung eine weitergehende Öffentlichkeit - kraft Vorbehaltsrecht des Regenten! - herstellen zu lassen3 • Die nächste Stufe wird z. B. durch Grävell4 repräsentiert, der nach beendigter Untersuchung durch einen Referenten in öffentlicher Sitzung einen vollständigen Aktenauszug einschließlich der vorgebrachten Verteidigung vortragen lassen will. Auch das Urteil soll vor Publikum ausgesprochen werdens. Eine weitere Modifikation enthält eine Danziger Schrift8 , die zusätzlich noch ein öffentliches Schlußwort von Anklage und Verteidigung vorschlägt. Die Mehrzahl der Reformanhänger gibt sich aber mit einer solchen Teilpublizität nicht zufrieden. Man fordert eine öffentliche Hauptverhandlung, sieht jedoch häufig drastische Beschränkungen in persönlicher Hinsicht vor. Zu den Vertretern dieser Richtung zählt auch P. J. A. v. Feuerbach, von dem das bedeutendste Werk dieser Epoche stammt7 • Kaum eine Abhandlung über die Öffentlichkeit, die in der Folgezeit besonders am I. Band seiner "Betrachtungen über die Oeffentlichkeit" hätte vorbeigehen können. Dazu trug nicht unwesentlich bei, daß sich Feuerbach im Gegensatz zu den meisten Zeitgenossen nicht mit einer Aufzählung der verschiedenen Vorteile begnügte, sondern den Gegenstand in gründlicher Abwägung von allen Seiten beleuchtete und auch diverse Nachteile nicht verschwieg. So konnte er von Gegnern wie von Befürwortern der Publizität kritisiert, zugleich aber auch von heiden Parteien als Anwalt ihrer Sache in Anspruch genommen werden8 • Zudem 1 Drais, C. W. F. L. Frhr. von: Geschichte der badischen Gerichtshöfe neuerer Zeit, 1821, S. 230, 232, 247. 2 Drais, S. 251. S Drais, S. 247, 251, 252. , Grävell, M. C. F. W.: Prüfung der Gutachten der König!. Preuß. Immediat-Justiz-Commission am Rhein über die dortigen Justiz-Einrichtungen, 1819. S Grävell, Theil1, S. 57 f.; Theil2, S. 92 f. 8 Dialogen, das Criminalrecht betreffend, mit Andeutn. z. Benutz. bei desfalls. Verbesserungsversuchen, 1831, S. 47 f.; zit. nach Seifarth, Entwicklung, S. 148, da nicht mehr bibliographisch nachweisbar. 7 Betrachtungen über die Oeffentlichkeit und Mündlichkeit der Gerechtigkeitspflege, 1821, im folgenden zitiert als "Betrachtungen I". Der zweite, 1825 erschienene Band, trägt den Untertitel: Ueber die Gerichtsverfassung und das gerichtliche Verfahren Frankreichs, im folgenden zitiert als "Be. trachtungen rr". 8. Einzelne Stimmen sind sogar zu der Ansicht gelangt, Feuerbach halte im Kriminalverfahren die Öffentlichkeit nicht für erforderlich; vgl. Mitter-

H. Überblick über die Literatur

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trat er mit einer Reihe neuer und eigenwilliger Vorschläge hervor z. B. Öffentlichkeit der Abstimmung, Zulassungs beschränkung auf "achtbare Ehrenmänner", begrenzte Dingpflicht -, die durchaus geeignet waren, der Diskussion neue Impulse zu geben. Insgesamt gesehen bringen aber die Jahre bis 1830/31 kaum neue Argumente für die Öffentlichkeit; statt dessen erfolgt eine gewisse Schwerpunktbildung und eine sorgfältigere Begründung der einzelnen Gesichtspunkte. Häufig wird das öffentliche Verfahren jetzt aus dem Begriffe oder aus dem Wesen der Rechtspflege bzw. der Gerechtigkeit10 hergeleitet. Ganz stark in den Vordergrund schiebt sich die überlegung, öffentliche Verhandlungen seien ein Wesensbestandteil liberaler Verfassung ll und seien erforderlich, um die Justiz in den Augen des Volkes vertrauenswürdiger zu machen12 • Es zeigen sich auch schon verstärkt Ansätze - besonders bei Feuerbach -, Zulassung und Funktion des Publikums bei einzelnen Verfahrensabschnitten zu erörtern und Beschränkungen in sachlicher oder persönlicher Hinsicht zu erwägen. Man kann aber durchaus feststellen, daß überwiegend noch pauschal für oder gegen die Öffentlichkeit oder eine pestimmte Zwischenform argumentiert wurde. Erwähnenswert für diese Periode ist schließlich die Durchdringung liberalen Denkens mit dem Geist der historischen Schule. Dies führt zu mannigfachen Bemühungen, den öffentlichen Rechtsgang historischnational zu begründen13 ,14, womit man dann auch dem Geruch der "Französelei" entgehen konnte. Im französischen Verfahren fanden sich - seinerseits vom englischen übernommen - Teile der urgermanischen Öffentlichkeit wieder. maiers Rezension des 1. Bandes in: Heidelberger Jahrbücher der Literatur, N. F., 2. Jg., 1822, S. 161- 184, hier S.173. 9 vgl. z. B. Bemerkungen über die Einführung der Oeffentlichkeit des gerichtlichen Verfahrens, 1819, S. 6. 10 vgl. z. B. Feuerbach, Betrachtungen I, S. 9, 87, 89. 11 Mittermaier, C. J. A.: Die öffentliche mündliche Strafrechtspflege, 1819, S. 58; "Bemerkungen", S. 32. 12 vgl. Z. B. Feuerbach, Betrachtungen I, S. 90, 93; Hegel, § 224 Zusatz. 13 Maurer, G. L.: Geschichte des altgermanischen und namentlich altbairischen öffentlich-mündlichen Gerichtsverfahrens, dessen VortheiIe, NachtheiIe und Untergang in Deutschland überhaupt und in Baiern insbesondere, 1824. Buchner, A.: Das öffentliche Gerichtsverfahren in bürgerlichen und pein.,. lichen Rechtsvorfallenheiten nach altdeutscher vorzüglich altbaierischer Rechtspflege, 1825. Steiner, Ch.: Ueber das Altteutsche und insbesondere Altbaierische Gerichtswesen in bezug auf Oeffentlichkeit und Mündlichkeit des Verfahrens, 1824. U Landsberg (in: Stintzing/Landsberg, Geschichte der deutschen Rechtswissenschaft, IH/2, 1910, S.310) schreibt sogar den historischen Abhandlungen Maurers den gleichen Einfluß auf die Reform zu wie Feuerbachs dogmatischen und vergleichenden Studien.

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5. Kap.: Fortschritte zwischen Restauration und Revolution

In den 30er und frühen 40er Jahren erreicht die literarische Produktion in der Öffentlichkeitsfrage ihren Gipfel. Die Gesetzgebungsarbeiten der einzelnen Länder treten in ein konkretes Stadium und fordern zur Stellungnahme heraus. Die politischen Prozesse machen jedermann deutlich, wie dringend die Reform ist. Der rege Verkehr zwischen den Rheinprovinzen und den übrigen Landesteilen läßt den öffentlichen Rechtsgang weithin bekannt werden. Die Stimmen von Praktikern, die in beiden Verfahrensarten bewandert sind, erhalten großes Gewichtl5 • Neben dem französischen Vorbild findet auch das englische Beispiel zunehmend Beachtung18• Nur noch sporadisch melden sich die Gegner der Publizität zu Wort. Die öffentliche Meinung ist seit 1842/43 nicht mehr bereit, ihre Argumente anzuhören. So wird Fölix, ein in Paris tätiger deutscher Advokat, von der Presse mit persönlichen Angriffen und politischen Verdächtigungen überhäuft, als er sich gegen die Gerichtsöffentlichkeit ausspricht17 • Krause versieht seine Gegenschrift mit dem bezeichnenden Motto: "Infoelix Foelix quae te dementia cepitI8 !" Bei den Befürwortern des öffentlichen Verfahrens läßt sich nun eine Tendenz zu stärkerer Differenzierung feststellen. So einig man sich in der Hauptsache, der Forderung nach Öffentlichkeit der Hauptverhandlung ist, so uneins ist man im Detail. Soll man in der öffentlichen Sitzung "nur eine Recapitulation, gleichsam ein Erprobungsmittel der Legalität der Voruntersuchung"18 sehen, oder ist sie mehr? Entspringt die Öffentlichkeit rechtlicher Notwendigkeit oder hat sie überwiegend politische Bedeutung? Findet das Institut erst durch die Jury seine Vollendung, läßt es sich nur in Verbindung mit dem Anklageprozeß denken? Ist der Zutritt zu den Verhandlungen unbedingt freizugeben, oder sind Beschränkungen angebracht, gegebenenfalls welche? Alle diese Fragen finden die unterschiedlichsten Antworten. 15 z. B. die des bayrischen Richters MoUtor; vgl. Mittermaier, Mündlichkeit, S.14. 18 v. a. durch die rechtsvergleichenden Arbeiten Mittermaiers und durch das Werk Jeremy Benthams (Rationale of evidence; deutsch: Theorie des gerichtlichen Beweises, 1838). Letzterer wird etwa von Jagemann (Die Oeffentlichkeit des Strafverfahrens, 1835, S.47) und mehrfach vom Deputationsbericht der sächsischen Zweiten Kammer (abgedruckt in: Oeffentlichkeit, Mündlichkeit, Anklageproceß, Geschwornengerichte. Eine systematische Zusammenstellung der Verhandlungen der Sächsischen Ständeversammlung, 1843) zitiert. 17 vgl. die bei Krause (s. u.), s. IIr - VI wiedergegebenen Zeitungsmeldungen und Mittermaier, Mündlichkeit, S. 15. 18 Krause, C.: Entgegnung auf des Herrn Dr. Fölix Angriff auf Oeffentlichkeit der Gerichte und Geschworene, 1843, S.l; vgl. auch Schulz!Welcker, oben S. 72 Fußn.17. 18 so Jagemann, Oeffentlichkeit, S. 49.

III. Topoikataiog

Bedingt durch die größere Zahl der Schriften und Gesetzesentwürfe fällt hie und da ein Argument für die Publizität an, das in der bisherigen Diskussion noch nicht aufgetaucht war. "Konstitutionalismus" und "Vertrauen" sind freilich die meistgenannten und letztlich maßgebenden Gründe. Auch die Anhänger der Öffentlichkeit beginnen zu erkennen, daß den vorgebrachten prozeß- und materiellrechtlichen Vorteilen gleichgewichtige Nachteile gegenüberstehen20 • Auf der anderen Seite betonen die Gegner nach wie vor die Gefahr, der geöffnete Gerichtssaal müsse eine Schule des Verbrechens werden. Häufig lassen sie aber durchblicken, wie sehr auch ihre Haltung politisch motiviert ist. Es geht ihnen darum, selbst eine nur passive Mitwirkung "des Volkes" an der Rechtsprechung zu verhindern2' • Wenn bei aller Einsicht in die politische Bedingtheit grundlegender Prozeßprinzipien dennoch die Wissenschaftlichkeit der Reformbestrebungen erhalten werden konnte, so ist dies vor allem ein Verdienst Abeggs, Mittermaiers und Zachariäs. Ihr Bemühen um Sachlichkeit und ihr Verständnis für das praktisch Brauchbare ermöglichte den organischen übergang zum neuen "reformierten" Verfahren. III. Topoikatalog A. Gründe für die öffentlichkeit a) Gründe, welche die Prozeßbeteiligten betreffen 1. Kontrolle der Justiz'

Nach der Ansicht von Bender2 bedeutet die Öffentlichkeit der Verhandlungen eine Kontrolle insofern, als die Richter sich scheuen, ober20 vgl. die Motive zu dem Entwurf einer Strafprozeß-Ordnung für das Großherzogthum Baden (abgedruckt bei: Thilo, W.: Strafproceßordnung für das Großherzogthum Baden, 1845; ebenfalls abgedruckt in: Verhandlungen der Stände-Versammlung des Großherzogthums Baden im Jahre 1843 - 44. Enthaltend die Protokolle der zweiten Kammer mit deren Beilagen, Neuntes Beilagenheft, S. 91 - 120), bei Thilo, S. 6 f. Vgl. auch den Commissionsbericht der badischen Ersten Kammer über den Entwurf einer Strafprozeßordnung. Erstattet von dem Geheimen Rath Vogel; abgedruckt in: Verhandlungen der Stände-Versammlung des Großherzogthums Baden im Jahre 1843 - 44. Enthaltend die Protokolle der ersten Kammer mit deren Beilagen, Drittes Beilagenheft, S. 159 - 186, hier S. 166. 21 so deutlich Fölix, S. 41 f. 1 Unter diesem Begriff werden zwei recht verschiedene Dinge verstanden. Während kaum ein bedeutender Anhänger der Publizität Kontrolle - 1. S. der Debatten in der französischen Nationalversammlung - dahin auslegt, daß in den Zuhörern das souveräne Volk seine Richter beobachte, mithin eine Kontrolle im staatsrechtlichen Sinn ausübe, laufen gerade hiergegen die meisten Gegner und Befürworter der Öffentlichkeit Sturm. Eine andere Erläuterung findet die Vokabel da, wo man auf die psychologisch-praktische Wirkung baut, der Richter werde sich aus Scham oder Scheu zu korrektem Verhalten gezwungen sehen.

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flächlich und planlos behandelte Untersuchungen dem Publikum vorzutragen. Außerdem sähen sich die Verteidiger durch inneren Beruf und äußere Notwendigkeit gezwungen, die ihnen gebotenen Vorteile nach allen Seiten zu benutzen. Endlich würden die "tausend Augen des Publikums" jeden vorkommenden Mißbrauch sicherer als irgendeine Behörde zur Kenntnis der höheren Staatsverwaltung bringen. Sowohl aus dem "reinen" wie dem "angewandten, besonders dem Königlich Sächsischen Staatsrecht" leitet GastS einen staatsgrundgesetzlich feststehenden Anspruch auf überwachung der Rechtspflege ab. Aus den Grundzügen des Vernunftrechts wie aus der Verfassungsurkunde des Königreichs Sachsen vom 4. September 1831 4 ergebe sich die Befugnis, die Gesetze und organischen Institute des Landes zu überwachen und der Herrschaft des Unrechts durch Anträge auf Abänderung wahrgenommener Gebrechen in den Gesetzen und Einrichtungen des Landes, durch Petitionen um neue Gesetze und durch Beschwerden über die ausführenden Organe zu widerstehen. Da aber die Rechtspflege das einzige Mittel zur Festigung der Herrschaft des Rechts sei, müßten die Verfahren öffentlich sein, damit das Volk den nötigen Einblick gewinne. Nur aufgrund dieser Einsicht seien die Bürger in der Lage, die Rechtspflege zu überwachen, ihre wahren Mängel und Gebrechen zu entdecken und der daraus entspringenden Herrschaft des Unrechts durch grundgesetzliche Schritte beizeiten Widerstand zu leistenS. Gegen den Gedanken einer Kontrolle der Richter durch das Volk wendet sich Feuerbach mit Entschiedenheit6• Ein Kontrolleur müsse immer dasselbe Können besitzen wie der Kontrollierte. Zwar möge das Volk imstande sein, die äußeren Formen und Förmlichkeiten des Gerichts zu beurteilen und auch da, wo seine verfassungsmäßigen Rechte zur Entscheidung anstünden, könne. das Volk ein Urteil haben; alles andere im Bereich richterlicher Tätigkeit stehe ihm jedoch allzu fern. Nur eine einfache, leicht durchschaubare Gesetzgebung wäre für das Volk erfaßbar; allein, den Anforderungen eines komplizierteren Lebens könnten auch nur vielfältigere und kompliziertere Gesetzessysteme gerecht werden, und diese könnten für den gemeinen Mann nicht verständlich und damit nicht kontrollierbar sein7 • Die Vorstellung einer 2 Bender, J. H.: Ueber das mündliche und öffentliche Verfahren in Criminalsachen, 1821, S. 82 f. 3 Gast, F. M.: Die Nothwendigkeit des öffentlichen und mündlichen Gerichtsverfahrens bei der Kriminal- und Zivilrechtspflege, 1843, S. 26 ff. und

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besonders den §§ 36, 41, 78, 109, 110. vgl. auch den Topos "Konstitutionalismus". B Betrachtungen I, S. 147 - 158. 7 Ähnlich Kettenacker, J. v.: Denkschrift für das teutsche Gerichtsverfahren, 1823, S.42 und die Motive des sächsischen Gesetzentwurfs; in: Oeffentlichkeit, Mündlichkeit, Anklageproceß. Eine systematische Zusammenstellung der Verhandlungen der Sächsischen Ständeversammlung hierüber, 1843, S.1-72, hier S. 37. 4

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tII. Topoikataiog

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Volkskontrolle lasse sich im übrigen auch nicht mit der richterlichen Unparteilichkeit vereinbaren. Setze diese doch Unabhängigkeit des Richters und unumschränkte Freiheit seines Urteils voraus. Eine Justiz, die sich dem "Gericht der öffentlichen Meinung" beugen würde, würde nicht nur ihre Würde opfern, sondern - weil Justiz ohne Gerechtigkeit undenkbar sei - ihr Dasein verlieren8 • Kettenacker8 hegt die Befürchtung, eine solche Kontrolle töte das Ehrgefühl des Richters und mache ihn empfänglich für den Wink oder das Kommando einer ungestümen, stets mit Leidenschaft Partei nehmenden Volksmenge. Als Kontrolleur bleibe nur die Hefe des Volkes übrig, der ordentliche Bürger gehe seinen Geschäften nach, und zur Erholung werde er die Gerichtssäle auch nicht aufsuchen. Die Hefe des Volkes aber könne dem Richter keine Achtung, wohl aber unter gewissen Umständen Furcht einflößen. Was kontrolliert denn das sogenannte Volk, fragt Leue10 , und er gibt selbst die Antwort: Gar nichts. Es könne zwar sehen, daß die Richter zugegen seien und aufmerksam der Verhandlung folgten; einige wenige, die die gerichtlichen Formen beherrschten, könnten auch beobachten, ob diese eingehalten würden. Aber die Hauptsache, wie das Gericht die Tatsachen als Gegenstand der Verhandlungen auffasse, sei keinem beobachtenden Auge sichtbar und folglich keiner Kontrolle eines Dritten unterworfen. Es fehle aber auch der Kontrolleur selbst. Denn das gegenwärtige Volk sei wegen seiner zufälligen und bunc. ten Zusammensetzung eine zu jedem geistigen Geschäft unbrauchbare Massell . Da endlich die Anwesenden schweigend zuhörten und bei Strafe, vor die Tür geschoben zu werden, weder Billigung noch Mißbilligung noch irgend ein sonstiges Zeichen der Teilnahme äußern dürften, "so wäre es in der That die drolligste Art Kontrolleurs, die wohl kontrollieren dürfte, aber mit der ersten Ausübung ihrer Kontrolle vor die Thür oder als Ruhestörer in's Gefängnis gebracht würde"I!. Puchta 13 und Fölix14 sind sich darin einig, daß der gewissenhafte und tüchtige Richter keines Wächters bedürfe. Der unwissende aber werde dadurch ebensowenig von seinen Gebrechen geheilt wie der pfiichtvergessene gebessert werde l5 • Wer keine Scheu trage, ein ungerechtes Urteil wissentlich zu 8 Ähnlich Zachariä, H. A.: Die Gebrechen und die Reform des deutschen Strafverfahrens, 1846, S.314 und Mittermaier, C. J. A.: Der deutsche Strafprozeß, verglichen mit dem auf Oeffentlichkeit, Mündlichkeit und Anklageproceß gebauten Verfahren; in: Archiv des Criminalrechts, N. F., 9. Jg., 1842, S. 259 - 298, hier S. 260. 8 Kettenacker, S. 43 ff. 10 Leue, F. G.: Der mündliche öffentliche Anklageprozeß und der geheime schriftliche Untersuchungs-Prozeß in Deutschland, 1840, S. 242 f. 11 so auch (Savigny, F. K. v.): Die Prinzipienfragen in Beziehung auf eine neue Strafprozeß-Ordnung, 1846, S. 28; Mittermaier, Mündlichkeit, S. 338 und im Archiv 1842, S. 260; Jagemann, Oeffentlichkeit, S. 34. 12 vgl. auch Savigny, S. 28. 18 Puchta, W. H.: Der Inquisitions-Prozeß, 1844, S. 123 f. 14 a. a. 0., S. 54. 15 siehe auch Abegg, J. F. H.: Kritische Betrachtungen über den Entwurf einer Strafprozeßordnung für das Königreich Württemberg vom Jahre 1832, 1839, S. 34.

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fällen, werde auch diese Kontrolle nicht scheuen, jedenfalls die Ausflucht der mangelnden Kompetenz der Urteilenden vorschützen, oder wie Fölix meint, behaupten, er gehöre der überstimmten Minderheit an. Die Idee einer wirklichen Kontrolle enthält nach Fölix u auch etwas Widersinniges. Denn Personen, die von höheren Behörden zum Richteramte berufen würden, nachdem sie die hierzu erforderlichen Kenntnisse erworben hätten, sollten der Zensur solcher Leute unterworfen sein, welche diesbezüglich nichts gelernt und ausgeübt hätten. Schließlich würde die Praktizierung dieser Kontrolle, etwa durch Schreien, Klopfen oder Pfeifen, die Richter aller Achtung und Verehrung berauben, ohne die ihre Entscheidungen keinen Ein-: fluß auf die Staatsangehörigen gewinnen könnten. Auch der Commissionsbericht der badischen Ersten Kammer17 wendet sich gegen den Grundsatz der Kontrolle. Wenn man eine solche für statthaft und erforderlich halte, dann müsse man auch dafür sorgen, daß sie tatsächlich durchgeführt werde. Daran würde es aber fehlen, wenn keine Zuhörer erschienen, oder wenn die erscheinenden nicht befähigt wären, die Kontrolle auszuüben. Man müßte also kontrollierende Personen anstellen und sie dazu verpflichten, der Gerichtsverhandlung von Anfang bis Ende beizuwohnen. Das aber sei ungeeignet und auch nicht notwendig. Der Richter werde kontrolliert durch den Angeklagten, durch dessen Verteidiger und etwa beiwohnende Angehörige oder Freunde, durch den Staatsanwalt, durch das Gesetz, das Obergericht und sein Gewissen. Die Behauptung, daß der Kontrollierende zum Zwecke einer wirksamen Kontrolle den Kontrollierten in allen Stücken übersehen müsse, erklärt Zentner18 für schlichtweg falsch. So kontrolliere ein Meister Fleiß und Redlichkeit seiner Arbeiter ausreichend, selbst wenn er im einzelnen weniger von der Sache verstehen sollte. Auch werde es ein Arbeiter in einer Fabrik nicht wagen, vor den Augen des Meisters einzelne Stücke zu seinem Profit zu verkaufen. Und er fährt fort: "Das, wozu Kontrolle wünschenswerth und nöthig ist, fällt nicht außer den Gesichtskreis des Publikums im Allgemeinen. Ob Ernst und Aufmerksamkeit bei den Richtern herrsche, ob jeder Partei gleiches Gehör vergönnt werde, ob nicht Parteilichkeit für den Einen oder den Andern obwalte, und manches Andere kann auch das Volk beurtheilen." Die Behauptung sei aber auch in der Sache selbst unrichtig, weil häufig Kenner, seien es nun Juristen oder andere Männer von Einsicht, den Verhandlungen beiwohnten und schon in der Möglichkeit hiervon eine mächtige Garantie liege. Auch Bender19 hatte schon ähnlich argumentiert. Wenigstens offenbares Unrecht sei allgemein erkennbar und es bedürfe zu dessen Einsicht a. a. 0., S. 55 f. erst. v. Vogel, a. a. 0., S. 166. 18 Zentner, J.: Das Geschwornengericht mit Oefientlichkeit und Mündlichkeit im Gerichtsverfahren, 1830, S. 473 f. 10 a. a. 0., S. 85 fi. 18 17

UI. Topoikatalog

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keiner wissenschaftlichen Kenntnisse. Die den Menschen innewohnende Scheu, vor den Augen der Welt Unrecht zu tun, werde gewiß in der Öffentlichkeit einen Impuls mehr zu einer strengen, unparteiischen Gerechtigkeit finden. 2. Öffentlichkeit als Voraussetzung für mündliches Verfahren "Will man ein mündliches Strafverfahren, ... so muß man es auch zu einem öffentlichen machen." Zum Beleg für diese Behauptung verweist Braun20 auf die Erfahrungstatsache, daß fast überall, wo es ein mündliches Verfahren gebe, dieses auch öffentlich sei. Die Öffentlichkeit ergänze die Mündlichkeit, sie sei ihr Gewissen, das ihrem Tun stets den rechten Weg zeige. Da, wo wenig oder nichts in der Hauptuntersuchung niedergeschrieben werde, wo ihre Ergebnisse nur durch den mündlichen Verkehr hergestellt würden, wo also Akten als schriftliche Ausweise über den Gang der Verhandlung nicht vorlägen, müßten unbefangene und als einzelne nicht beteiligte Personen für das Gericht eine lebendige Aufforderung sein, allenthalben seine Pflicht zu tun. Savigny21 wendet sich zwar dagegen, die Öffentlichkeit als notwendige Voraussetzung oder Folge der Mündlichkeit zu bezeichnen, aber auch er bekennt, das mündliche Verfahren sei nur in Verbindung mit Öffentlichkeit erprobt; er zweifelt nicht daran, daß gerade ihr ein wesentlicher Anteil an der lebhaften Teilnahme gebühre, welche das öffentlich-mündliche Verfahren überall gefunden habe. 3. Gerichtszeugen Im Hinblick auf die Rechte der Parteien (bzw. des Angeklagten) hält Feuerbach22 die Anwesenheit Unbeteiligter in der Rolle von Gerichtszeugen für erforderlich, weil nur so die Parteiöffentlichkeit ihre eigentlichen Ziele vollständig erreichen könne. So sei der gesetzlich zulässige Gegenbeweis gegen die Förmlichkeit und Richtigkeit der Protokolle nur dann wirklich zu führen, wenn unbeteiligte Dritte den Verstoß bezeugen könnten. Feuerbach läßt jedoch offen, ob diese Funktion durch ein beliebiges Publikum oder stellvertretend für das Volk durch eine festgelegte Zahl von ,Gerichtszeugen' ausgefüllt werden soll. Auch hinsichtlich entscheidender Richterhandlungen sieht er ihre Aufgabe darin, "über die Beobachtung der Gerichtsform zu wachen und deren Verletzung zu b~­ zeugen". 20 Braun, A. C. H.: Hauptstücke des öffentlich-mündlichen Strafverfahrens mit Staatsanwaltschaft nach französischer und holländischer Gesetzgebung, 1845, S. 42 f. U a. a. 0., S. 27 f. 11 Betrachtungen I, S. 159 - 167.

6 Alber

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Ähnlich äußert sich später Savigny23: "Die Zuhörer ... umstehen das Gericht als Zeugen und geben als solche von der einen Seite dem Angeklagten Mittel, sich gegen Ungesetzlichkeiten Recht zu verschaffen, während sie auf der andern Seite den Richter ermahnen, sich in den gesetzlichen Schranken zu halten24." Der Rezensent der Leipziger Literatur-Zeitung25 hat kein Vertrauen zu den Aussagen von Zuhörern oder Zuschauern einer öffentlichen Gerichtssitzung. Den Grad von Aufmerksamkeit, welchen man von einem verpflichteten Richter annehmen müsse, könne man nie von Leuten erwarten, die oft nur zum Zeitvertreib einer Verhandlung beiwohnten und nur mit halbem Ohr oder halb geöffnetem Auge auf die Vorgänge achteten. "Je mehr man darauf ausgeht, das Aeußere der Gerichtspflege den Augen Anderer bloßzulegen, desto mehr wird das Innere derselben ihren Blicken sich verbergen." Diese Erwartung hegt der Rezensent der Allgemeinen Literatur-Zeitung21 • Und je mehr man die Richter daran gewöhne, den Formen zu genügen, desto weniger würden sie ihrem Berufe in der Hauptsache mit ganzem Herzen ergeben sein. Auch Kettenacker27 verspricht sich nichts davon, wenn das Publikum in der Eigenschaft von Gerichtszeugen erscheine. Er meint sogar - unter Berufung auf Donsbach!8 -, die von Feuerbach entwickelte Ansicht sei auf die peinliche Rechtspflege (in Baden) nicht anwendbar, weil Urkundspersonen zum Ratihabitionsverhör beigezogen würden.

4. Garantiefunktion bei Schwurgerichten Wenn Geschworene oder juristisch gebildete Richter ohne Protokolle, Entscheidungsgründe und Instanzen urteilen, ist für Biener2u vollständige Öffentlichkeit der entscheidenden Verhandlungen (der Umstand des altgermanischen Rechts) ein unerläßliches Erfordernis. Sobald nämlich das Urteil auf dem Wege der freien subjektiven überzeugung ohne schriftliche Kontrolle gefunden werde, liege in der Öffentlichkeit die einzige, wenn auch unvollkommene Garantie gegen willkürliche, parteiische oder aufgedrungene Rechtssprüche. a. a. 0., S. 28. vgl. auch Leue, S. 244 und den Deputationsbericht der sächsischen Zweiten Kammer, S. 124 f. 15 Rezension zu Feuerbachs Betrachtungen I; in: Leipziger Literatur-Zeitung, 1822, Nr. 290 - 291, Sp. 2313 - 2322, hier Sp. 2317. ·28 Rezension zu Feuerbachs Betrachtungen I; in: Allgemeine LiteraturZeitung, 1822, Nr. 55 - 59, Sp. 433 - 470, hier Sp. 435. !7 a. a. 0., S. 46 f. !8 Donsbach, eh.: Die Verfassung und das Prozeßverfahren der Untergerichte im Großherzogthum Baden, 1822. . IV Biene,., F. A.: Abhandlungen aus dem Gebiete der Rechtsgeschichte, 2. Heft, 1848, S. 174. U

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III. Topoikatalog

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5. Schutz für den Inquisiten

Eine anständigere, bessere Behandlung des Inculpaten erwartet Mittermaier30 vom öffentlichen Rechtsgang. "Unsere Kompendien", so sagt er, "erwähnen freilich nichts davon, mit welcher vom Geschäftsdrange bewirkten Ungeduld und Gemeinheit die Angeschuldigten von den Inquirenten häufig behandelt werden; wie viele Drohungen und Schimpfnamen kommen in unsern Gerichtsstuben vor, die in der öffentlichen Verhandlung nie laut würden. Unsere Akten enthalten häufig nur das, was der Untersuchungsrichter niederschreiben zu lassen für gut findet; nicht die kaptiös oder suggestiv gestellten Fragen, nicht die Versprechungen und Drohungen werden protokolliert"." Die "Bemerkungen"3! weisen darauf hin, daß die Rechte des Angeklagten weder durch die Aktuare noch durch die Verteidiger ausreichend gesichert seien. Während jene vom Untersuchungsrichter mehr oder minder abhängig seien, seien diese teils von ihren rechtsunkundigen Mandanten unzureichend unterrichtet, teils fehle ihnen der Mut, gegen Angehörige des Gerichts, an dem sie gewöhnlich arbeiteten, mit Beschwerden und Anzeigen vorzugehen. Dagegen biete das öffentliche Verhör Gelegenheit, pflichtwidrige Behandlung durch den Instruktionsrichter frei und ungestört aufzudecken und unrichtig aufgenommene Aussagen zu berichtigen. Die gerichtliche Publizität wird weiter als "bestes Schutzmittel für den Inquisiten"33, als "Schutzwehr für den Angeklagten"34 und als "einzige Garantie für die Geradheit, Rechtlichkeit und Humanität des Richters"35 bezeichnet. Auch Jagemann38, der Deputationsbericht der sächsischen Zweiten Kammer37 und die badischen Motive38 äußern sich in ähnlicher Weise. Während die sächsischen Motive39 schlichtweg in Abrede stellen, daß die öffentliche Verhandlung als Vorbeugungsmittel gegen "Bedrückungen" der 30 Mittermaier, C. J. A.: Die öffentliche mündliche Strafrechtspftege und das Geschwornengericht in Vergleichung mit dem deutschen Strafverfahren,

1819, S. 62 f.

31 vgl. auch (Rebmann, A. G. F.): Andeutung einiger Forderungen an eine gute Strafrechtspftege, 1819, S. 21, der die Beschwerden über suggestive und kaptiöse Fragen durch die öffentliche Verhandlung beseitigt sieht. 82 S. 21 ff. 33 Siebenpfeitfer, Ph. J.: Ueber die Frage unsrer Zeit in Beziehung auf Gerechtigkeitspftege, 1823, S. 279.

Rebmann, S. 64. as (ReichenspergeT, P.): Oeffentllchkeit, Mündlichkeit, Schwurgerichte, 1842, S.24. 38 OeffentIichkeit, S. 91. 37 a. a. 0., S. 126. 18 bei Thilo, S. 15. 18 a. a. 0., S. 36. 34

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Angeschuldigten notwendig sei, hält Fölix40 dieses Mittel nicht einmal in der Hauptverhandlung für geeignet, ungebührliches Verhalten der Richter zu verhindern. Er verweist dabei auf seine Erfahrungen in Frankreich. Selbst die Kritiken der Tagespresse seien in dieser Hinsicht ohnmächtig. Man gewöhne sich daran, sie nicht zu beachten. Denn einmal seien sie nicht immer begründet, zum anderen stammten sie oft von Personen, denen auch der Durchschnittsleser die erforderlichen Kenntnisse nicht zutraue; im übrigen werde bei der Fülle politischer und gerichtlicher Kritiken die einzelne Nachricht schnell durch eine andere verdrängt und in Vergessenheit gebracht. Henke 41 schließlich begnügt sich damit, den "gepriesenen" Vorzug der Öffentlichkeit schon darum zu bezweifeln, weil ja die folgenreiche Voruntersuchung "in undurchdringliches Dunkel gehüllt" bleibe 4!. 6. Wunsch der Angeklagten - Ehrenrestitution Auch die Stimme des Inquisiten müsse bei der Diskussion um die Öffentlichkeit gehört werden, fordert Jagemann43 • Sei doch das Leben des Angeklagten bei jedem Kapitalverbrechen in Frage gestellt; jede Verbrechensanklage bringe eine empfindliche Beeinträchtigung des sittlichen Charakters, der Ehre und Freiheit mit sich, und das Eigentum verfalle meist dem Staat für die Gerichtskosten. Und wie oft werde auch ein Um:chuldiger in einen Prozeß verwickelt! Vollkommene Genugtuung könne der nur durch öffentliche Vorlegung der Verdachtsgründe und des siegreichen Entschuldigungsbeweises erlangen. Der Schuldige sei aber ebenfalls sicherer, daß keine ungesetzlichen Mittel angewandt würden, wenn sein Prozeß vor das Publikum komme. Mittermaier" betont die große Beruhigung für den Unschuldigen, wenn er sich vor seinen Richtern und Mitbürgern zu der ihm vorgeworfenen Tat äußern, wenn er durch die wahre Darstellung der Umstände den Verdacht zerstören oder durch die Nachweisung der Verhältnisse unter denen er handelte, seine Tat rechtfertigen könne. Selbst die beschränkte Öffentlichkeit in Württemberg habe gezeigt, daß viele Angeschuldigte die Bedeutung des öffentlichen Verfahrens erfaßten und die Gelegenheit benützten, ihre Rechtfertigung vorzutragen. "Der Losgesprochene weiß, daß nicht blos die Lossprechung, sondern die bei seinen Mitbürgern begründete überzeugung, daß die Lossprechung eine wohlbegründete und gesetzmäßige war, den wahren Wert für ihn hat und ihn völlig reinigt ... " Dem Unschuldigen müsse daran liegen, nicht zu der a. a. 0., S. 54 f. Henke, E.: Handbuch des Criminalrechts und der Criminalpolitik, Vierter Theil, 1838, S. 123. 42 siehe auch unten "Öffentlichkeit bezüglich einzelner Verfahrensteile. Vorverfahren" . 43 Oeffentlichkeit, S. 91. " Mündlichkeit, S. 342. 40 41

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Klasse derjenigen gerechnet zu werden, welche nur mangels Beweises freigesprochen werden mußten, während viele Verdachtsgründe unwiderlegt auf ihnen ruhten45 • Seine Erfahrung führt Fölix48 gegen dieses Argument ins Feld, und Geib 47 pfiichtet ihm bei. Er habe mehr als einen Beschuldigten oder Angeklagten die Öffentlichkeit verwünschen hören, die er als eine ihn im voraus treffende Strafe betrachte. 7. Beteiligung des Volkes als Prozeßpartei Schon Grävel48 hatte ausgeführt, der Bürger sei in jedem Kriminalprozeß selbst Partei, man könne ihm daher die Befugnis nicht bestreiten, sich um die Verfolgung seines Rechtes zu kümmern. Dennoch hatte er sich damit begnügen wollen, daß der Referent nach beendigter Untersuchung in öffentlicher Sitzung einen vollständigen Aktenauszug vortrage und das Urteil öffentlich verkündet werden. Auch Feuerbach50 leitet das Recht des Volkes auf Anwesenheit aus seiner ParteisteIlung ab. Bei Strafsachen sei nicht nur die unmittelbar durch das Verbrechen verletzte Person, sondern das ganze Gemeinwesen betroffen. Volk und Staat müßten demnach ebenfalls als beleidigt gedacht werden. "Nach diesem Gesichtspunkt steht daher das Volk, wenn über einen Angeschuldigten gerichtet wird, diesem als Mitbetheiligter gegenüber; weshalb mit wenig veränderten Nebenrücksichten dieselben Gründe, welche... hinsichtlich der Zulassung der Partheien erörtert worden sind, in dieser Beziehung auch für die Zulassung des Volkes entscheiden." Der große Gelehrte sieht keinen Widerspruch zwischen dieser Vorstellung und der Funktion des Publikums als unparteiischem Zeugen. "Denn jeder Einzelne im Volk ist nur durch das Ganze betheiligt, als dessen Theil er erscheint; und nicht in Beziehung auf irgend einen besondern persönlichen, sondern in Beziehung auf einen allgemeinen (staatsrechtlich-) öffentlichen Zweck. Und sowohl darum, als weil die Gesamtheit sich nur unter der Voraussetzung für beleidigt achten kann, wenn von dem Angeschuldigten das Verbrechen wirklich begangen worden, ist dieselbe eben sowohl dafür betheiligt, daß der Schuldige schuldig, als daß der Unschuldige unschuldig befunden werde; folglich daß in jeder Hinsicht dem einen wie dem andern sein Recht geschehe." vgl. auch die Gegenstimmen zum Topos "Härte für den Angeklagten". a. a. 0., S. 62. 47 Geib, G.: Dr. Fölix; Ueber Mündlichkeit und Oeffentlichkeit des Gerichtsverfahrens (Buchbesprechung); in: Neue kritische Jahrbücher für Deutsche Rechtswissenschaft, 3. Jg., 5. Bd., 1844, S. 97 -139, hier S. 122. 48 Theil1, S. 52. 45

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Theil 1, S. 57 f., Theil 2, S. 92 f.

Betrachtungen I, S. 167 - 169.

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In seinem Werk "Beiträge zur Gesetzgebung und Praxis des bürgerlichen Rechtsverfahrens"51 gesteht Puchta die Öffentlichkeit nur für die Beteiligten zu. Die Forderung nach volkstümlicher Publizität sei rechtlich nicht zu begründen. Er kritisiert jedoch die herkömmliche Anschauung vom Beteiligten, die nur den Angeschuldigten und allenfalls den Beleidigten umfasse, als zu eng. Bei einem Strafrechtsfall erscheine das Publikum sozusagen als "accessorischer Intervenient". Denn indem ein Mitglied der bürgerlichen Gesellschaft beleidigt worden sei, werde diese selbst in den Zustand der Bedrohung versetzt und ebenso durch die Anschuldigung gegen eines ihrer Mitglieder, sofern dieses schuldlos sein sollte. Rotteck5! sieht die Parteistellung des Volkes darin begründet, daß vorzugsweise zur öffentlichen Sühne gestraft werde. Schließlich räumen auch noch die badischen MotiveS! ein, bei Ausübung der Straf justiz sei die bürgerliche Gesellschaft "gewissermaßen als der verletzte Theil betheiligt"". Scharf wendet sich der Rezensent der Leipziger Literatur-Zeitung5S dagegen, im Volk die Vorstellung zu erzeugen und zu unterhalten, es habe in Strafsachen die Rolle einer Partei zu spielen. "Eine solche Idee unter den Zuschauern einer Gerichtssitzung aufgeregt, könnte leicht den Gerechtigkeitssinn des Richters auf das Empfindlichste beeinträchtigen." Auch sei eine solche Auffassung, wenigstens in monarchischen Staaten und überall da, wo der Staat seine Ansprüche auf Bestrafung des Angeschuldigten durch öffentliche Ankläger verfolgen lasse, dem Wesen der Strafjustizpflege ganz fremd, so sehr sie auch an sich im Wesen des öffentlichen Strafrechts gegründet sein möge. 8. Ansporn für die Prozeßorgane Einen Grund für die Publizität findet der Rezensent der Leipziger Literatur-ZeitungS8 darin, daß sie dem Richter mehr Reiz gebe, sich bei seinen Sitzungen möglichst würdevoll zu zeigen, so dem großen Haufen mehr zu imponieren und auf diese Weise sich den Schein von Gerechtigkeit zu sichern, so wenig auch dadurch diese Gerechtigkeit selbst immer vollkommen gesichert sein möge. Mit Recht - meint Bieners7 - habe man angeführt, Richter, Staatsanwälte und Advokaten fänden in der Öffentlichkeit einenAntrieb,ihrem 51 Erster Band, 1822, S. 137 f. BZ Aretin, J. Ch. v./Rotteck, K. v.: Staatsrecht der konstitutionellen Monarchie. Zweiten Bandes erste Abtheilung, 1827, S. 238. 53 bei Thilo, S. 5. " siehe auch den Topos "Öffentlicher Charakter der Strafjustiz". 53 a. a. 0., Sp. 2317 f. 58 a. a. 0., Sp. 2317.

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Beruf mit größerem Eifer vorzustehen. Sie würden sich des Ernstes und der Würde ihres Geschäfts deutlicher bewußt, und dieser Eindruck pflanze sich auf das zuschauende Publikum fort. Während Reichensperger58 Willen und Kraft des Richters durch die öffentliche Verhandlung angespornt sieht, weil sie seine Aufmerksamkeit mächtig errege, führt Leue59 das Scham- und Ehrgefühl ins Feld. Das Bewußtsein, von anderen scharf beobachtet zu werden, wecke solche Regungen, um vor der Welt womöglich besser dazustehen als verdient. Ähnlich beurteilt Mittermaier8D die psychologische Wirkung der Publizität. "Es liegt in der Natur der Sache und die Erfahrung bestärkt die Wahrheit des Satzes, daß der Mensch, je mehr er sich von andern Personen beobachtet sieht und vor ihnen handeln muß, in dem Wunsche, die Achtung der Mitbürger nicht zu verlieren, einen Grund findet, der theils einer gewissen Bequemlichkeitsliebe, theils den Versuchungen entgegenwirkt, die leicht durch Verstimmungen und das Betragen der Gegner begründet werden." Der Anblick des Publikums, die überzeugung, daß ein heftiges Betragen allgemein Mißbilligung finden würde, halte gewiß in vielen Fällen vor Ausbrüchen der Heftigkeit zurück61 • Und manche Erscheinung richterlicher Gleichgültigkeit oder Unaufmerksamkeit, die sich leicht in die geheime Sitzung der wenigen Kollegen einschleiche, werde beseitigt8l. 9. Veredelter Sinn der Richter Die Gegenwart des Publikums soll nach Bender63 den Sinn der Richter für Menschenwürde befestigen und sie vor einer gewissen Abstumpfung des Gemüts· bewahren, "indem sie den höheren Gesichtspunkt, unter welchem die in der criminalistischen Praxis hervortretende unerfreuliche Seite des Menschen sich wieder ausgleicht und versöhnt, ihnen lebhafter gegenwärtig hält". Dergleichen nimmt sich für Feuerbach84 angesichts seiner Erfahrungen in Frankreich "nicht viel besser aus als ein Mährchen der Scheherazade". 57 Abhandlungen, S. 180 und: Ueber die neueren Vorschläge zur Verbesserung des Criminal-Verfahrens in Deutschland; in: Zeitschrift für ge schichtlicheRechtswissenschaft, 12. Bd., 1845, S. 69 - 130, hier S. 115. M a. a. 0., S. 25. Be a. a. 0., S. 243 f. 80 Mündlichkeit, S. 338 f. 81 vgl. dazu auch Comm.ber. d. bad. 1. Kammer, Vogel, S. 165. I! Mittennaier, Archiv 1842, S. 261. e3 a. a. 0., S. 81. M Betrachtungen H, S. 212.

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10. Höheres Ansehen der Gerichtspersonen und Advokaten Gerichtspersonen und Advokaten, überhaupt die Administration der Criminaljustiz, werde durch öffentliche Verhandlungen zweifellos an Achtung und Ansehen gewinnen, meint Biener65 • Auch Leue88 rechnet es der Öffentlichkeit als Verdienst an, daß durch sie das Volk seinen Richtern nahe komme und sie kennen und achten lerne87. Den engen Zusammenhang zwischen allgemeinem Vertrauen in die Gerichte und dem Ansehen der Richter unterstreichen die "Bemerkungen"88. Achtung und Ehrfurcht seien die notwendigen Folgen des Zutrauens.Zwar lasse sich die äußere Ehre des Richters gegen jeden Angriff durch strenge Gesetze sichern, allein sein Ansehen, das sich nur auf innerliche Ehrfurcht gründen könne, sei erst dann verbürgt, wenn er die Mittel habe, sich gegen jeden beleidigenden Vorwurf durch seine ganze Handlungs- und Verfahrensweise öffentlich zu rechtfertigen. 11. Hebung des richterlichen Selbstvertrauens Der Commissionsbericht der badischen Ersten Kammers, spricht die überzeugung aus, durch das öffentliche Gerichtsverfahren werde das Vertrauen des Richters zu sich selbst, zu seiner Würde und Wirksamkeit gehoben. 12. Zügelung der Sachwalter Als "besten Zügel gegen den Amtsmißbrauch der Advokaten" bezeichnet Reichensperger70 die Öffentlichkeit. Dies deckt sich mit den Beobachtungen Brauns71 , wonach die Anwälte im öffentlichen Verfahren die Aufstellung leerer, die Hauptsache nicht berührender Einwände verschmähen und "ihre Einwürfe sich nur auf den Kern der Sache, nicht auf ihre Zufälligkeiten beziehen". 13. Bildungsschule für rednerisches Talent der Advokaten Alle Eigenschaften eines guten Vortrags, Richtigkeit, Deutlichkeit, Angemessenheit, Würde, Lebhaftigkeit, Schönheit und Wohlklang fänden im öffentlichen Verfahren den glänzendsten Spielraum. Böhmer7Z macht es Abhandlungen, S. 181 und Vorschläge, S. 115. a. a. 0., S. 264. 87 vgl. auch SpaTTe-Wangenstein, C. J. v.: Ueber Geschwornen-Gerichte und das Verfahren in peinlichen Sachen, 1819, S. 95. 88 S. 19 f. 01 erst. v. Vogel, a. a. 0., S. 166. 70 a. a. 0., S. 26. 71 a. a. 0., S. 49 f. 88

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hierfür die Gegenwart der Richter und des Publikums verantwortlich, die für den Sachwalter gleichzeitig ein mächtiger Ansporn und eine der schönsten Belohnungen sei. Wo bilden sich die Volksredner, die Sprecher der Nationen? fragt Sparre-Wangenstein73 • Seine Antwort lautet: "Hier, an der heiligen Stätte, wo es um Leben, Freiheit und um Ehre, um die ganze bürgerliche Existenz es gilt, wo man an das Herz und an den Verstand zugleich die mächtige Sprache richten kann, wo tausend durchkreuzende Gefühle rege sind, die allesamt beherrscht und zu einem Punkte hingeführt werden sollen." Sei doch die Unschuld eines Menschen in den monarchischen Staaten der einzige Gegenstand, der ein hohes und allgemeines Interesse finde und eines öffentlichen Vortrags wert sein möchte. Biener74 will wenigstens eine Zulassung der Advokaten zu den Gerichtssitzungen erreicht wissen, damit diese für die jüngeren eine Bildungsschule werden könnten. Die öffentlichkeit - entgegnet Kettenacker75 - wird den Advokaten verderben, indem sie ihn zwingt, sich um den Beifall und um die Gunst des Volkes zu bewerben und sich diese durch den Zauber der Beredsamkeit zu erhalten. Nicht Überredung und Verführung brauche man aber in den Gerichtssälen, sondern die Kunst der Überführung durch überzeugende Gründe.

b) Gründe, welche das einzelne Strafverfahren betreffen 1. Größere Sicherheit hinsichtlich Erforschung und Bestrafung der Schuld

Der öffentliche Prozeß gewährt dem Staat in Beziehung auf die Erforschung der Schuld höhere Sicherheit. Denn bei diesem Verfahren so die "Bemerkungen", S. 24 f. - treten die Versehen und Pflichtverletzungen des Inquirenten zugunsten des Angeklagten unfehlbar hervor, weil auch alle wider ihn zeugenden Beweismittel nicht nur in toten Aktenstücken, sondern sinnlich und lebendig den erkennenden Richtern und den Anwesenden vor Augen gebracht werden. 2. Erleichterung der Wahrheitsftndung Als mächtig und unwiderstehlich bezeichnet Reichensperger1 den Einfluß der Öffentlichkeit auf den Zeugen, "welcher sich in Mitte der Richter und Mitzeugen, des Angeklagten und seines Vertheidigers, ja des ge71 Böhmer, G. W.: D. Ernst Ferdinand Klein's Gedanken von der öffentlichen Verhandlung der Rechtshändel und dem Gebrauche der Beredsamkeit in den Gerichtshöfen, 1825, S. 39. 73 a. a. 0., S. 93 f. 74 Vorschläge, S.lHI. 75 a. a. 0., S. 61 - 64. 1 a. a. 0., S. 25.

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spannten Publikums sieht und durch Alles auf die hohe Bedeutung seines Berufes aufmerksam gemacht wird". Statt der gewohnten Gleichgültigkeit müsse tiefer Ernst sein Gemüt erfassen und eine bessere Bürgschaft für die Wahrheit seiner Aussage geben als der bloße Eid. Diese Öffentlichkeit und die ganze Würde eines Gerichtshofes raube manchem Zeugen den Mut zur halb beschlossenen Lüge, er müsse vor Querfragen und Widersprüchen, vor augenblicklicher Widerlegung und Entlarvung zittern. "Er fühlt aller Augen auf sich haften, keine Verlegenheit kann der Beobachtung entgehen und so gehört fast der Muth der Hölle dazu, vor feierlichem öffentlichem Gericht den Meineid zu wagen; es gehört aber auch noch eine eiserne Stirn dazu, um nicht das böse Gewissen selbst zu verrathen und so den Erfolg des geübten Verbrechens bei den Richtern wieder aufzuheben." In ähnlicher Weise argumentiert LeueI. Schon aus der Anwesenheit des Angeklagten und der Mitzeugen und durch deren Fragen und Bemerkungen ergebe sich für den Zeugen die Gefahr, widerlegt zu werden. Aber auch von den Umstehenden wisse oft mancher etwas von der Sache. Ein Gefühl für Scham und die Empfänglichkeit für Ehre und Schande habe auch der böswillige Mensch, und er fürchte das Urteil seiner Mitmenschen. Schließlich hebt Leue wie Savignr und der Deputationsbericht der sächsischen Zweiten Kammer.! "das Abgemessene und Feierliche" der öffentlichen Verhandlung hervor, was einen tiefen Eindruck besonders auf Angehörige der niederen Stände mache, für die so leicht Gericht und Gerechtigkeit zu einer Einheit würden. Der Zeuge fühle sich selbst erhoben durch seine Teilnahme an einer so feierlichen und wichtigen Handlung'. Puchta8 und Zachariä7 , die ansonsten zu den Befürwortern des öffentlichen Rechtsganges zählen, halten wenig von solchen überlegungen. Während Puchta seine Skepsis nicht näher erläutert, leugnet Zachariä den nützlichen Einfluß des Publikums auf den Zeugen nicht, rechnet dagegen aber die mögliche Furcht vor anwesenden Personen auf und meint: "Wo .sich ... VortheiIe und NachtheiIe so sehr die Waage halten, kann von einem entscheidenden Grunde weder für noch gegen die Sache die Rede seyn." Die positive Beeinflussung der Zeugenaussage durch die Öffentlichkeit tut KettenackerB als "nur scheinbaren Vorzug" ab. Wer es einmal darauf angelegt habe, den Staat oder seine Mitbürger unter dem Schilde des Gesetzes zu a. a. 0., S. 247 - 249. a. a. 0., S. 29. 4 a. a. 0., S. 130. S vgI. auch die Gegenstimmen zum Topos "Beeinträchtigung der Wahrheitsfindung" . 8 Inquisitions-Prozeß, S. 123. 7 a. 8. 0., S. 314 f. 8 a. a. 0., S. 57. I

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betrügen, der werde sich von seinem Vorhaben durch keine Volksversammlung abbringen lassen. "Gerade der Rest von Schaam, welcher der bessern Klasse jener Menschen, die sich in schlechten Handlungen üben, noch übrig bleibt, wird vielmehr dazu bey tragen, ihren Trotz und ihre Hartnäckigkeit im Läugnen zu vermehren, wenn die lauschende Menge auf die einwirkt, und sie mit zweydeutigem Auge mißt." 3. Größere Bereitwilligkeit zur Zeugnisablegung Je offener die Strafrechtspflege ausgeübt wird, desto bereitwilliger werden die Untertanen ihrer - bisher nur ungern und zwangsweise ausgeübten - Zeugen- und Denunziantenpflicht nachkommen. Hepp 9 stützt diese Prognose auf das größere Interesse an der öffentlichen Strafjustiz und auf die geringere Beschwerlichkeit, hier seiner Pflicht nachzukommen. 4. Neue Beweise Mittermaier10 weist immer wieder auf den Vorteil hin, durch die Öffentlichkeit der Verhandlungen würden neue Beweise bekannt, die sonst verborgen geblieben wären. Nicht selten seien unter den Zuhörern Leute, die über wichtige Tatsachen aussagen könnten und die sich dann im Laufe der Verhandlung beim Präsidenten meldetenl l • Hierauf wie auch auf die Vorstellung, unter dem zuschauenden Publikum könne ein von Reue erfaßter Mitschuldiger sitzen, mag Zachariä1! nicht viel geben. Denn dergleichen sei eine Sache reinen Zufalls und komme erfahrungsgemäß nur in außerordentlich seltenen Fällen vor. Fölix13 dagegen erscheinen solche Zeugen sogar höchst verdächtig. Es hafte an ihnen der Argwohn, "daß sie, obwohl sie in der Gegend wohnten, wo die That begangen worden war, doch früher wohlbedächtig nichts davon gesagt, sondern ihre Aussagen im Interesse des Angeklagten oder seiner Gegner bis zum letzten Augenblicke zurückgehalten hatten, wo es schwer ist, dieselben zu widerlegen". 5. Feierlichere, würdevollere Verhandlung Für Feuerbach14 ist die Volksöffentlichkeit "empfehlenswürdig", weil sie das Gericht mit einer Feierlichkeit umgebe, welche einerseits 9 Hepp, F. C. Th.: Anklageschaft, Oeffentlichkeit und Mündlichkeit des Strafverfahrens, 1842, S. 121. 10 Archiv 1842, S. 268 f., Mündlichkeit, S. 337 und: Das Deutsche Strafverfahren in der Fortbildung durch Gerichts-Gebrauch und Landes-G€setzbücher, 1. Theil, 1845, S. 217. 11 so auch Savigny, S. 29. 11 a. a. 0., S. 314. 13 a. a. 0., S. 61 f. 14 Betrachtungen I, S. 166.

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die Gerechtigkeitspflege den Augen des Volkes in anschaulicher, ehrfurchtgebietender Würde darstelle, andererseits die Richter zu angestrengterer Tätigkeit anrege und ihr Gemüt zu ernster, feierlicher Stimmung erhebe. Die öffentliche Verhandlung ist auch in den Augen Benderst5 am besten geeignet, der ganzen Handlung die ihr gebührende Würde zu geben. Vor den Augen seiner Mitbürger gehört und verteidigt, erscheine der Mensch auch im Anklagezustand noch als Glied der Gesellschaft. Die Gerechtigkeit selbst trete sichtbar hervor und belebe und stärke das Gefühl für Recht und Wahrheit. Daß die Gegenwart des Publikums der Verhandlung einen würdigeren und feierlicheren Gang verleihe, daß sie den Ernst, die Gründlichkeit und die strenge Beobachtung aller Formen befördere, diese überzeugung hegen auch Leue t8 , Mittermaier17, Savigny18 und der Deputationsbericht der sächsischen Zweiten Kammer l9 • Der Rezensent der Allgemeinen Literatur-Zeitung20 sieht Würde und Feierlichkeit der Gerichtsverwaltung durch deren Öffentlichkeit nach wenigen Jahren ganz vernichtet. Äußere Zeremonien und Formen würden bei öfterer Wiederholung ein bedeutungsloses Spiel wie das hochnotpeinliche Halsgericht. Das Allgemeine werde nur zu leicht zum Gemeinen. Das Publikum werde bald aus Gleichgültigkeit den Sitzungen fernbleiben, und diese Gleichgültigkeit teile sich den Richtern um so mehr mit, je mehr Wert sie und das Gesetz der äußeren Form beigemessen hätten. Nach Ansicht Kettenackers!1 mag die Gerechtigkeitspflege an Feierlichkeit gewinnen, an Ernst und Würde aber nicht. "Die Würde des Richters beruht einzig auf der gewissenhaften Erfüllung seiner Berufspflichten und auf den Beweisen, die er darüber ablegt, also auf den Akten." Und wo der Verstand den Vorsitz führe und das Gemüt keine Stimme habe, da bedürfe es keiner besonders feierlichen Eindrücke. Es hieße einen sonderbaren Begriff von der Würde eines Gerichts haben, meint Geib 2t, wenn man von einem aus den geringsten Ständen des Volkes bestehenden Auditorium eine Erhöhung jener Würde erwartete. Die sächsischen Motive!3 endlich befürchten, die Zuhörer würden durch mancherlei Störungen die Würde der Rechtspflege und der Gerichte beeinträchtigen. a. a. 0., S. 77 f. a. a. 0., S. 241. 17 Archiv 1842, S. 260. 18 a. a. 0., S. 28. 19 a. a. 0., S. 130. !O a. a. 0., Sp. 445. 11 a. a. 0., S. 54 f. 11 a. a. 0., S. 118 f. u a. a. 0., S. 38. 15 18

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6. Gehöriger Zeitaufwand

Bender24 ist der Auffassung, die Öffentlichkeit der Rechtspflege gewährleiste, daß für jede Sache die ihr gebührende Zeit aufgewandt und die Aufmerksamkeit der Richter nicht durch gleichzeitige andere Beschäftigungen in Anspruch genommen werde. Vor "Schlendrian und Geschäftsmechanismus" bewahre die Publizität, weil jedes vom Volk beobachtete Gerichtsmitglied die öffentliche Stimme scheue. In diesem Sinne äußern sich übereinstimmend Mittermaier25 und der Deputationsbericht der sächsischen Zweiten Kammer28 • 7. Gerechtere und objektivere Gesetzesauslegung

Der Wunsch der Allgemeinheit - sagt Böhmer27 im Anschluß an Klein - zielt auf Gerechtigkeit gemäß dem Gesetz. "Ist dieses ..., was es seiner Natur nach seyn soll, das heist, ist es auf dem Wege der allseitigsten Publizität gewonnen und fortgebildet, so wird der Fall, wo es wirklich dunkel und mangelhaft ist, nur höchst selten eintreten, und wo er eintritt, da wird Achtung vor dem Publikum und dessen billigen Wünschen jederzeit die sanfteste Entscheidung herbeiführen, die mit der Strenge allgemeiner Grundsätze nur immer vereinbar ist." 8. Große Macht und Sanktion der Verurteilung

Nicht nur der Lossprechung eines Unschuldigen verleihe das öffentliche Verfahren eine starke moralische Sanktion, sondern in noch höherem Maß auch der Verurteilung. De Vaulx28 hält dies für um so nötiger, "als in unserem Zeitalter leidenschaftlicher Erörterungen, wo die Presse jeden Tag nach neuer Nahrung sucht und sie nimmt, wo sie sie findet, es wohl keine einzige Thatsache giebt, die zu entstellen und gehässig zu machen es nicht der Feindseligkeit und dem Uebelwollen ein Leichtes wäre". 9. Bessere Würdigung der Urteile, überzeugung von ihrer Gerechtigkeit

Zentner2U schließt sich dem Urteil "bewährter Kriminalisten"30 an, wonach das Publikum nur bei Öffentlichkeit die Klagfreisprechung a. a. 0., S. 79 f. Strafrechtspftege, S. 62. 28 a. a. 0., S. 126. 17 a. a. 0., S. 12. 18 De Vaulx: Ueber Mündlichkeit und Oeffentlichkeit im Strafverfahren; in: Kritische Zeitschrift für Rechtswissenschaft und Gesetzgebung des Auslandes, 16. Bd., 1844, S. 153 - 174, hier S. 170 f. 24

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a. a. 0., S. 478.

30 vgl. z. B. SiebenpfeiffeT, S. 277.

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wegen unzureichenden Beweises gehörig auffasse, weil es da selbst den Grad der Beweise würdigen könne; besonders gelte dies für die Jury, bediene sich diese doch für die Fälle der Klagfreisprechung (absolutio ab instantia) wie der Unschuld desselben Audrucks und gebe dazu auch keine Entscheidungsgründe. Nicht genug beachtet wähnt diesen Vorteil auch Mittermaier31 • Die sogenannte Lossprechung von der Instanz hält er im öffentlichen Verfahren sogar für unnötig. Das Publikum, welches den vollständigen Inhalt der Verhandlungen kennengelernt habe, sei sehr wohl in der Lage, den Freispruch wegen erwiesener Unschuld von dem mangels Beweises zu unterscheiden. Selbst das Benehmen des Angeklagten liefere den besten Schlüssel zur richtigen Auffassung des Sinnes, in welchem die Lossprechung erfolge. Etwas allgemeiner spricht Jagemann32 davon, das Volk könne und werde sich in öffentlicher Verhandlung davon überzeugen, daß nur die Erkenntnis des Wahren und damit eine redliche Urteilsschöpfung angestrebt werde. "Da wo die Anklage des Schuldigen ungescheut vor der zahlreichsten Versammlung geschieht, läßt sich im Voraus schon denken, daß sie nicht auf klares Unrecht gebaut sein kann; da wo Jeder selbst die Haltbarkeit der Unschuldsbeweise prüfen und sich die Entscheidung im Stillen selbst bilden kann, wird er gewiß einsehen lernen, daß es sich nicht um Verfolgung einseitiger Zwecke, nicht um Bedrückung der Unschuld und Begünstigung der Schuld, sondern lediglich um die Genugthuung der Gerechtigkeit sich handelt." Gegenüber Mittermaier will Fölix33 gerade die entgegengesetzte Schlußfolgerung ziehen; das Publikum nämlich werde immer glauben, der Angeklagte sei "weiß wie Schnee gewaschen". Lauteten doch in Frankreich 11/12 der Verteidigungen in diesem Sinne. Allenfalls hinsichtlich der Urteilsfällung durch Geschworenengerichte will Henke34 das Argument gelten lassen, die Oeffentlichkeit bewirke beim Volk in jedem einzelnen Fall die überzeugung von der Gerechtigkeit der Urteilsfällung. Denn da die Jury von einer gesetzlichen Beweistheorie unabhängig sei, könnten ihre Aussprüche noch am ehesten mit der Stimme des Volkes zusammentreffen. Die Urteile der ständigen deutschen Gerichtshöfe jedoch, die danach strebten, nur dem Gesetz und der Gerechtigkeit zu genügen, könnten mit dem auf einseitigen Rücksichten oder gar Vorurteilen beruhenden Ausspruch des Volkes nicht immer übereinstimmen.

Archiv 1842, S. 269. Oeffentlichkeit, S.17. aa a. a. 0., S. 62. IC a. a. 0., S. 125 f. 31

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10. Garantie für Unabhängigkeit und Unparteilichkeit der Gerichte Für Beseler35 besteht ein wesentlicher Vorzug des öffentlich-mündlichen Verfahrens darin, eine wirksame Garantie für die Unabhängigkeit, Unparteilichkeit und überhaupt für die Gewissenhaftigkeit der Gerichte zu bieten. "Denn in der Oeffentlichkeit der Verhandlungen erwächst der Gerechtigkeit eine Stütze, gegen die, wenn überhaupt ein öffentlicher Geist im Lande ist, kein ungesetzlicher Einfluß auf die Dauer etwas vermagll°." Feuerbach37 verweist dieses Argument angesichts seiner Erfahrungen in Frankreich in den Bereich der Märchen. 11. Beschleunigung des Verfahrens und geringere Kosten In zweifacher Hinsicht soll nach Auffassung der "Bemerkungen"38 das Bewußtsein der Öffentlichkeit den Inquirenten zu größerer Schnelligkeit antreiben. Einmal müsse er damit rechnen, daß der Angeklagte über die widerrechtliche, durch unnütze Weitläufigkeit oder Bummelei veranlaßte Haftdauer öffentlich Beschwerde führe. Zum anderen erwarte das Publikum, von dem verübten Verbrechen und von der Ergreifung des Täters unterrichtet, seine VorgerichtsteIlung, ein Umstand, der auf das Ehrgefühl des Inquirenten, daher auch auf die Beschleunigung der Untersuchungen kräftiger und lebendiger wirke als die Furcht vor Rügen höherer Stellen. Der schnellere Gang der öffentlichen Strafrechtspflege führe dann natürlich auch zu geringeren Kosten. Auch hierzu äußert sich Feuerbach89 im Hinblick auf die französische Praxis skeptisch. c) Gründe, welche materiell-strafrechtliche

Gesichtspunkte betreffen 1. Abschreckung

"Wenn der Zweck der Androhung der Strafe in der Abschreckung besteht, so trägt dazu die Oeffentlichkeit des Verfahrens noch mehr bei, ohne daß der Angeklagte hier zum Mittel herabgewürdigt würde, da nicht er, sondern das Verfahren das Mittel ist." Denn hier wird - so Sparre-Wangenstein1 - der Vorstellung des rechtswidrigen Effekts im Beseler, G.: Volksrecht und Jurlstenrecht, 1843, S. 288 f. vgl. auch Sparre-Wangenstein, S. 84; Die öffentliche mündliche Rechtspflege im Baierischen Rheinkreise, 1822, S. 153 f. 37 Betrachtungen II, S. 212. 38 S.26. SD Betrachtungen II, S. 212. 1 a. a. 0., S. 88 f. 85

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Gemüt ein sinnlich ergreifbarer Punkt gegeben, woran sie haften kann. Die Vorstellung ist nun nicht mehr leer; sie hat einen Inhalt, den die Einbildungskraft mit allen Nebenumständen geschäftig ausfüllt. Der Abgrund, an dessen Rand sich der Zuhörer plötzlich geführt sieht, bringt eine wohltätige Erschütterung in seinem Innern hervor und bewegt das Gemüt, eine determinierte gesetzliche Richtung zu nehmen2• Auch Mittermaier3 betont den starken Eindruck, den die öffentliche Strafjustiz auf das Volk mache. Die Verhandlungen lehrten eindringlich, "daß der Schuldige seiner Strafe nicht entgeht, daß Lügen und Schlauheit ohnmächtig sind gegen die Kraft der Wahrheit und gegen die geistigen Waffen, die in dem Zusammenwirkten Derjenigen liegen, welchen das Amt aufgetragen ist, die Wahrheit zu entdecken. Der Ernst der Gerechtigkeit, die den Schuldigen trifft, verstärkt die abschreckende Kraft der Strafgesetze" . In ähnlicher Weise beurteilen Leue" Hepp 5, Krauses und der Deputationsbericht der sächsischen Zweiten Kammer7 die abschreckende Wirkung der Publizität. Fölix8 würde diese Ausführungen gelten lassen, wenn das Publikum nur das ausreichend motivierte Strafurteil anhören würde, nicht aber die Ausflüchte des Angeklagten, der oft durch fein ausgedachte Verdrehung der Tatsachen der verdienten Strafe ganz oder zum Teil entgehe. Außerdem dürften die Zuhörer nichts von den Verteidigungsreden der Advokaten erfahren, die den Angeklagten oft weit über sein wirkliches Verdienst erhöben, und nichts von den lossprechenden Erkenntnissen. Alle diese Momente seien nach seiner Erfahrung nur eine Bildungsschule der Immoralität. Auch Henkev hält die Abschreckungswirkung angesichts des Freispruchs mangels Beweises für fragwürdig. Der erwünschte Effekt sei durch die öffentlichkeit der Strafvollstreckung und durch die Bekanntmachung der nicht öffentlich zu vollziehenden Strafen in weit größerem Umfang zu erreichen als durch die Publizität der Verhandlungen, denen doch immer nur eine sehr beschränkte Anzahl von Personen beiwohnen werde, und zwar fast nur solche, bei denen die Verfolgung dieses Zweckes am wenigsten dringend erscheine. 2. Verbreitung von Rechts- und Gesetzeskenntnis Viele Autoren10 sind übereinstimmend der Ansicht, die Öffentlichkeit sei am ehesten geeignet, das Volk mit der Strafgesetzgebung und der ähnlich Jagemann, Oeffentlichkeit, S. 22. a Archiv 1842, S. 263 und Mündlichkeit, S. 340. 4 a. a. 0., S. 264. 5 Anklageschaft, S. 120. 8 a. a. 0., S. 29. 7 a. a. 0., S. 121. 8 a. a. 0., S. 59. v a. a. 0., S. 124.

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Art und Weise ihrer Anwendung bekannt zu machen. Dabei wird immer wieder hervorgehoben, daß die bessere Rechtskenntnis Voraussetzung einer gerechten Verurteilung sei11 • Nur "die Versinnlichung der Gesetzesvorschriften"12 durch ihre Anwendung auf einen gegebenen Fall könne diese Wirkung erzielen; nur "das eigene Anschauen"13, "verstärkt durch die Lebhaftigkeit des Eindrucks, durch die Macht der Verurtheilungen und durch die sprechenden Beispiele"14 sei die wahre Unterrichtsmethode. So werde die Öffentlichkeit der Verhandlungen eine stillwirkende, aber allgemeine "Schule des Rechts"15. Savigny18 erwartet diesen Erfolg nicht nur von der unmittelbaren Anwesenheit von Zuhörern. Möge auch die Zahl derer, die den Verhandlungen beiwohnten, verhältnismäßig gering bleiben, so werde doch die Rechtspflege durch die Öffentlichkeit mehr und mehr Gegenstand allgemeiner Teilnahme und daher ein Thema weiterer mündlicher oder schriftlicher Besprechung werden. Wer nicht selbst sehe, höre wenigstens. Kritisch äußern sich dazu Kettenacker17 , Puchtal8 , Geib 19 und die sächsischen Motive 20 • Die Befürworter unterliegen laut Geib einem dreifachen Irrtum: 1. setze man voraus, die gerichtlichen Entscheidungen blieben beim nichtöffentlichen Verfahren dem Publikum verborgen, während doch ein Blick in die Tagesblätter und die juristischen Zeitschriften das Gegenteil beweise; 2. überschätze man die Publizität insofern, als die Gerichtssitzungen gar nicht oder doch nur von Leuten aus den niedersten Klassen besucht würden. Außerdem sei die Mehrzahl der Bevölkerung aus rein tatsächlichen Gründen von den Verhandlungen ausgeschlossen (z. B. ein Gerichtsort auf 1/2 Million Einwohner); 3. messe man der genaueren Rechtskenntnis für den gewöhnlichen Bürger zu großen Wert bei und habe eine ganz falsche Vorstellung davon, wie solche Kenntnisse erworben würden. Zum allgemeinen Bewußtsein der Strafbarkeit bedürfe es keiner besonderen Anstalten und Vorkehrungen. Die Strafgesetze seien aus den Ansichten und dem Leben des Volkes hervorgegangen und stünden mit ihm in einer fortwährenden und unzer10 Mittermaier, Strafrechtspflege, S. 58; Rezensent der Leipziger LiteraturZeitung, Sp. 2318; Siebenpfeiffer, S. 180; Zentner, S. 478 f.; Savigny, S. 31. 11 Mittermaier, Mündlichkeit, S. 342; Leue, S. 267; Molitor: Erfahrungen im Gebiete der Criminalredltspflege, in: Zeitschrift für deutsches Strafverfahren, 3. Bd., 1843, S. 1- 56, hier S.21; Deputationsbericht der sächs. 2. Kammer, S.130; Comm. ber. d. bad. 1. Kammer, Vogel, S.166. 12 Deputationsbericht der sächs. 2. Kammer, S. 130. 13 Leue, S. 269. 14 Mittermaier, Mündlichkeit, S. 342. 15 Leue, S. 269. 18 a. a. 0., S. 31. 17 a. a. 0., S. 65. 18 Inquisitions-Prozeß, S. 122 f. 19 a. a. 0., S. 120 - 122. 10 a. a. 0., S. 39.

7 A1ber

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5. Kap.: Fortschritte zwischen Restauration und Revolution

trennlichen Verbindung. Daher sei das Recht dem Volk nicht so unbekannt wie etwa eine fremde Sprache und müsse auch nicht wie diese durch beständiges Anhören und Wiederholen geläufig werden. Die sächsischen Motive 21 glauben ebenfalls, ein jeder werde die notwendige Gesetzeskenntnis aus seinem Inneren, aus seinem Gewissen schöpfen oder aus dem Kriminalgesetzbuch entnehmen können. Eine gewisse Gefahr erblickt Puchta2! in der Funktion der Öffentlichkeit als Bildungsmittel: "Ein Meister Saddletree wird von dem Recht ewig nur verworrene Bilder in sich aufnehmen, wenn er auch mit Vernachlässigung seiner Profession alle öffentlichen Gerichtssitzungen besucht. Die Jurisprudenz wird immer ein Reservat der Juristen bleiben wie die Medicin der Ärzte. CI

Kettenacker2S steht sogar auf dem Standpunkt, die Gerechtigkeitspfiege dürfe nie eine Schule des Rechts werden, solange andere Mittel dafür zu Gebote ständen. Denn Nebenzwecke seien verwerflich, sobald sie in Konflikt mit dem Hauptzweck gerieten.

3. Lebendigeres Rechtsgefühl Im Zusammenhang mit der besseren Gesetzeskenntnis werde auch der Rechtssinn im Volke durch die Gerichtsöffentlichkeit zunehmen. Für den Deputationsbericht der sächsischen Zweiten Kammer24 besteht kein Zweifel, daß Sinn und Achtung für das Recht ohne seine Kenntnis nicht bestehen kann". Dagegen führen die sächsischen Motive!' ein schon an anderer Stelle gebrauchtes Argument ins Feld. Wo nämlich die Entscheidung des Gerichts mit der Ansicht der einzelnen Zuhörer nicht übereinstimme, werde das Rechtsgefühl nur zu leicht verletzt und abgestumpft. Biener!7 will in Frankreich kein ausgebildetes Rechtsgefühl bemerkt haben; vielmehr verschlängen die Parteiinteressen dort alles.

4. Ermöglichung belehrender Zeitungsberichte Große Hoffnung setzt Biener!8 auf die mittelbare Öffentlichkeit. Die Verbreitung der vorgekommenen Fälle durch Journale und Zeitschriften nütze der Kenntnis und dem Sinn für das Recht weit mehr als die persönliche Anwesenheit bei den Verhandlungen, wozu ordentliche Berufs- und Geschäftsleute ohnedies keine Zeit hätten. Auch sei jene a. a. 0., S. 38. Inquisitionsprozeß, S. 122 f. !3 a. a. 0., S. 65. 24 a. a. 0., S. 130 f. 15 vgl. auch Beseler, S. 291 und Savigny, S. 31. !8 a. a. 0., S. 38. 27 Abhandlungen, S. 181. !8 Abhandlungen, S. 181. !1 22

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Art der Öffentlichkeit weit mehr geeignet, durch Aufdeckung der in verschiedenen Kreisen der Gesellschaft herrschenden Korruption eine moralische Wirkung zu erzielen. Allerdings seien solche Berichte nur möglich bei öffentlicher Verhandlung; denn offizielle Bekanntmachungen der Urteile und ihrer Gründe - an sich sehr empfehlenswert - würden nie das notwendige Vertrauen erwecken28, 30. 5. Kenntnis vom Menschen

Für Böhmer zeichnet sich die öffentliche Rechtspflege auch dadurch aus, daß sie Kenntnisse vom Menschen in mancherlei Lagen und Verhältnissen des Lebens vermittelt und so lehrreich auf die Vernunft der Zuhörer einwirkt. 31

6. Belebung der Mitmenschlichkeit

Als einem Institut, das die Menschen einander näherbringt und Ge~ fühle teilnehmenden Wohlwollens und echter Humanität in ihnen belebt, mißt Böhmer32 der Öffentlichkeit große Bedeutung bei. Er hält diese Wirkung auch und gerade dann für wichtig, wenn die Zuhörerschaft in ihrer Mehrzahl aus rohen und ungebildeten Menschen bestehen sollte, da ja diesem Personenkreis Geistes- und Herzensbildung besonders not-

tue.

7. Erleichterte Wiedereingliederung der Strafentlassenen

Die Gerichtsöffentlichkeit gibt dem Publikum Gelegenheit, die Eigenart der Tat und die zutage getretene Gesinnung des Täters kennenzulernen. Das kann - so der Deputationsbericht der sächsischen Zweiten Kammer33 - verhindern, daß der reuevolle Bestrafte von seinen Mitbürgern zurückgestoßen wird und Gegenstand ihres Argwohns bleibt. Den Bemühungen privater Vereinigungen, die sich der Strafentlassenen annähmen, würde somit größerer Erfolg beschieden sein. d) Gründe, welche Recht und Staat insgesamt betreffen

1. Wesen und Zweck der Gerechtigkeitspflege Immer wieder zitiert werden in späterer ZeW die klassischen Sätze von Feuerbach2 : "Ist im Allgemeinen Heimlichkeit die verbergende Hülle siehe auch Beseler, S. 287. siehe auch unten "Die durch die Tagesblätter gebildete öffentlichkeit". a. a. 0., S. 29. U a. a. 0., S. 34 - 36. as a. a. 0., S. 140 f., besonders Fußnote auf S. 141. 1 siehe einerseits Jagemann, OeffentIichkeit S.17 und den Deputationsbericht der sächs. 2. Kammer, S. 120; andererseits Geib, S. 118. I Betrachtungen I, S. 89; vgl. auch schon seine "Unterthänige Vorstellung und Bitte der gefangenen Gerechtigkeit an eine hohe Ständeversammlung zu Y", 1819, abgedruckt in: Feuerbach's Leben, 2. Bd., S.100 -108, hier S. 105. !D

30 31

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5. Kap.: tortschritte zwischen Restauration und Revolution

des Schlechten und Verworfenen; so ist dieselbe in jeder Beziehung der Natur der Gerechtigkeit an und für sich selbst innerlich zuwider. Diese Gerechtigkeit, - das Herrlichste was der Staat den Menschen verbürgt, rein wie die Wahrheit und heilig wie die Tugend - ... was hätte sie mit der Verborgenheit gemein, da sie so gar nichts gemein hat mit dem Schlechten3 ?" Die Verwaltung der Gerechtigkeit unter der verbergenden Hülle, die das Versteck des Bösen ist, widerspricht - so Leue 4 - geradezu dem Zweck ihres Daseins. Ein Staat, der mit dem Schleier des Geheimnisses bedecke, was nach seinem innersten Wesen und seiner ursprünglichen Bestimmung der weitesten Öffentlichkeit angehöre, handle weder ehrlich noch klug. In den Augen von Webers ist die Publizität durch das Wesen der Kriminaljustiz geboten, da deren lebendige Verwaltung und parteilose Richtung die Gesamtheit der Staatsbürger interessieren solle6 • Mittermaier7 führt aus, das Gerechtigkeitsprinzip erfordere, daß da, wo jeder einzelne an dem Verbrechen und an der gerechten Bestrafung das lebhafteste Interesse habe, auch das gefällte Urteil als gerecht erscheine und besonders die erkannte Strafe sich als gerecht darstelle. Dies könne aber nur durch die Öffentlichkeit, die dem allgemeinen Interesse entspreche, erreicht werden. 2. Begriff des Rechts und der Rechtspflege Das Recht, sagt Abegg6, ist etwas Allgemeines und nicht minder die Rechtspflege. So werde selbst beim nichtöffentlichen Verfahren vom öffentlichen Interesse gesprochen. Müsse nun dem Recht der allgemeine und öffentliche Charakter im Begriffe zugestanden werden, dann habe sich das auch äußerlich zu bekunden. Dies führe unmittelbar auf die Öffentlichkeit der Rechtspflege'. Auch die "Bemerkungen"10 leiten die Forderung nach Öffentlichkeit der Rechtspflege aus deren Begriff her: "Die Gerichte handeln im Namen des Staates, und sollen darum nur öffentlich handeln. Die Art, wie dieses ähnlich der Deputationsbericht der sächs. 2. Kammer, S.120 und JageOeffentlichkeit, S. 3I. 4 a. a. 0., S. 228 f. 5 Weber: Von den Hauptforderungen an eine zeitgemäße Strafprozeßordnung; in: Neues Archiv des Criminalrechts, 4. Bd., 1821, S. 596 - 632, hier S. 616. e vgl. auch Zachariä, S. 317. 7 Mündlichkeit, S. 336. S Abegg, J. Fr. H.: Beiträge zur Strafprocess-Gesetzgebung, 1841, S.116 bis 118. t vgl. auch Hegel, § 224 Zusatz: "Der Zweck des Gerichts (ist) das Recht, welches als eine Allgemeinheit auch vor die Allgemeinheit gehört." 10 S.6. 3

mann,

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geschieht, ist immer eine große National-Angelegenheit. Die Nation kann dafür, daß nur nach den Gesetzen gewirkt werde, keine größere und festere Garantie erhalten, als wenn ihr gestattet wird, dem Wirken der Gerichte selbst beizuwohnen, und dasselbe mit eigenen Augen zu beobachten. Nur wenn es aus seinem geheimnisvollen Dunkel hervortritt und die Nation daran Theil nimmt, können Richter und Gerichte ihrer Bestimmung im vollen Sinne des Wortes entsprechen." 3. Öffentlicher Charakter der Strafjustiz Dieser Gesichtspunkt hat in seiner deutlichsten Ausprägung schon oben unter "Beteiligung des Volkes als Prozeßpartei" Erwähnung gefunden. Die Erkenntnis, daß die peinlichen Fälle "gemeinsame Angelegenheit aller" und der Verbrecher ein "Angreifer der öffentlichen Sicherheit, ein Feind des Staates" sei, ist weit verbreitet. So sehen etwa die "Bemerkungen"l1 durch jedes Verbrechen oder Vergehen die ganze bürgerliche Gesellschaft "in ihrem innersten Leben" angegriffen. Jedes Verbrechen sei eine übertretung der Gesetze, deren Aufrechterhaltung die gemeinsame Sicherheit bedinge. Jedes Mitglied der bürgerlichen Gesellschaft habe also ein Interesse an der Bestrafung des Verbrechers und daher ein Recht, Zeuge der Verhandlungen zu sein, welche dieselbe herbeiführen sollenl2 • Das Strafrecht gehöre dem öffentlichen Recht an, wird gern betontl3 • Es handele sich hier um Gegenstände, welche - der beliebigen Verfügung der Privaten entzogen - Sache der Allgemeinheit seien14 • Die Gesamtheit der Bürger habe an der Handhabung der Gerechtigkeit und der Art und Weise, wie sie erfolge, ein Interesse, das Anerkennung fordere lS • Henke16 bestreitet den öffentlichen Charakter der Strafsachen nicht. Für ihn ergibt sich aber daraus nur die Notwendigkeit, Untersuchung und Beurteilung der Straftaten unabhängigen und nur dem Gesetz unterworfenen öffentlichen Richtern vorzubehalten, damit die Verwaltung der Justiz nicht durch ParteiIeidenschaften verunreinigt werde. Ähnlich wie die sächsischen Motive17 und Geib18 verweist er darauf, daß auch viele andere Zweige der 11

S.7.

ähnlich: Sparre-Wangenstein, S. 86 f.; Donsbach, S. 114; Buchner, S.253; Leue, S. 269 - 272; Zachariä, S. 316. lt

13 z. B. vom Deputationsbericht der sächs. 2. Kammer, S. 121 und vom Comm.bericht der bad. 1. Kammer, Vogel, S. 166. U Deputationsbericht der sächs. 2. Kammer, S. 121; Savigny, S. 31. 15 Abegg, Betrachtungen, S. 33; vgI. auch Jagemann, Oeffentlichkeit, S.78 bis 80; Abegg, Beiträge, S. 119; Mittermaier, Mündlichkeit, S.335; Comm.bericht der bad. 1. Kammer, Vogel, S. 166. 18

Henke, S. 122. 0., S. 34 f.

lT 8. 8.

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5. Kap.: Fortschritte zwischen Restauration und Revolution

Staatsverwaltung ein unmittelbares oder mittelbares Interesse bei den Bürgern hervorrufen könnten und in diesem Sinne öffentlich zu nennen seien, ohne daß daraus das Erfordernis öffentlicher Verhandlung folge. 4. Besonderes Interesse an den höchsten Gütern: Leben, Religion, Ehre, Freiheit und Eigentum "Beim Criminalverfahren stehen stets die höchsten Güter der Menschheit in Frage, nämlich Leben, Religion, Ehre, Freiheit, Eigenthum. Es ist gewiß keine gewagte Postulation, zu behaupten, daß Verhandlungen von so allgemein wichtiger Bedeutung auch vor den Augen des ganzen Volkes vorgehen müssen, teils um diesem die Beruhigung der Sicherheit, teils die Genugthuung einer angemessenen Strafe des gemeingefährlichen Verbrechens zu geben." Jagemartn1U, von dem diese Sätze stammen, untermauert seine Darlegung noch an Hand der einzelnen Rechtsgüter. Unter anderem hofft er, bei Straftaten gegen das Leben werde sich das Publikum in öffentlicher Verhandlung davon überzeugen, daß die Anwendung der Todesstrafe in vielen Fällen eine unverhälnismäßige Härte bedeute. 5. Konstitutionalismus Unter dem Schlagwort "Konstitutionalismus" lassen sich die folgenden Einzelargumente zusammenfassen. Wie schon 47 Jahre vor ihm Globig und Huster so leitet auch Zentner20 die Forderung nach der Öffentlichkeit der Verfahren aus der Lehre vom Staatsvertrag ab. Nach Zentner hat der einzelne Mensch, wenn er in den Staatsverein eintritt, von seiner Freiheit und seinen Rechten nur so viel aufgegeben und an die Staatsgewalt als Repräsentantin des Gesamtwillens übertragen, als zur Erreichung des Staatszwecks nötig ist. Wenn er auch damit der Befugnis, sich selbst Recht zu schaffen, entsagt hat, so konnte er dies vernünftigerweise nur unter der stillschweigenden Bedingung tun, daß ihm so gut als möglich Recht gesprochen werde und daß es ihm stets unbenommen bleibe, sich davon - und zwar sooft er wolle - durch seine eigenen Sinne zu überzeugen. Andernfalls - so Zentner - ist es dem Gewalthaber möglich, das Erfordernis einer guten Rechtspflege nicht zu erfüllen, ohne daß es dem Volk gehörig bekannt werden könnte. Hätte die Regierung das Recht, die Gerechtigkeit so geheim oder so öffentlich zu verwalten, wie es ihr gut scheine, so werde man konsequent zu dem Schlusse kommen müssen, daß die Regierung berechtigt sei, die Beteiligten und das Publikum gar nichts mehr von der Erörterung und Entscheidung ihrer Rechte wissen zu lassen als 18 18

10

a. a. 0., S. 123. Oeffentlichkeit, S. 81 ff. a. a. 0., S. 333 f.

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nur den Urteilspruch allein, was zum absolutesten Despotismus führen würde!!. Sehr deutlich weist Feuerbach2! darauf hin, wie sehr jede Art von Staatsverfassung alle übrigen Einrichtungen im Staate - und vor allem die Formen der Rechtspflege - beeinfiußt. So sei es völlig unangemessen, "wenn bei einer Verfassung, durch welche das Volk als am Staatsleben theilnehmende (moralische) Person zu staatsrechtlicher Bedeutenheit erhoben worden, die Gerechtigkeit, welche ganz eigentlich fQr das Volk und für die Gesammtheit des gemeinen Wesens besteht, von dem Volke zurückgezogen, dessen Augen entrückt ist"u. Mittermaier24 sieht in der Begünstigung der Publizität immer ein Zeichen bürgerlicher Freiheit25 , die überall heimisch sei, wo eine liberale Verfassung gedeihe. Ein auf liberalen Grundlagen errichteter Staat - bekräftigt de Vaulx28 - kann "ohne Verkümmerung der Bedingungen seines Daseyns die Oeffentlichkeit des Verfahrens in Kriminalsachen nicht zurückhalten". "Unzertrennlich ist die Oeffentlichkeit der Rechtspflege ... von einer freien Verfassung", stellen auch die "Bemerkungen"27 fest. Wo ohne Zustimmung der Nation oder ihrer Vertreter kein Gesetz gegeben werden könne, da müsse sie auch tätigen Anteil nehmen an der Vollziehung und Anwendung der unter ihrer Mitwirkung ergangenen Gesetze. Nach Siebenpfeiffer28 kann das Volk die ihm zustehende Mitwirkung an der Gesetzgebung gar nicht ausüben, wenn es die Wirkungen der bestehenden Gesetze und Einrichtungen auf das Leben nicht kennt. Hierzu gebe eben die Verwaltung des Richteramtes die beste Gelegenheit. Er befürchtet zudem, die Befugnis des Volkes, an der Gesetzgebung mitzuwirken, könne durch ministerielle Erläuterungen, Verordnungen und selbst durch Gesetze, welche man ohne sein Zutun gebe, unterlaufen werden, wenn es sich nicht wenigstens in den Gerichten überzeugen könne, nach welchen Vorschriften geurteilt werde. Als notwendige Beigabe des Repräsentativwesens bezeichnet Jagemann!O die Öffentlichkeit. Dem Volk und namentlich den Wählern müsse nämlich das Recht zugestanden werden, die gewählten Bevollmächtigten in der Ausübung ihres Mandats zu kontrollieren. Wer einen Vertreter vgI. auch de Vaulx, S. 165. Betrachtungen I, S. 9 f. !S vgI. auch den Deputationsbericht der sächs. 2. Kammer, S. 123. !4 Strafrechtspflege, S. 58. " ähnlich Rebmann, S. 64 f. !1

t!

18

a. a. 0., S. 166.

18

a. a. 0., S. 181 f.

n a. a. 0., S. 32.

11

Oe1lentlichkeit, S. 92.

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irgendwohin abordne, müsse auch Gelegenheit haben, sein Benehmen zu beobachten. Er setzt hinzu: "Da nun Oeffentlichkeit in den landständischen Verfassungen überall garantiert ist, so ist es gewiß nur ein Zurückgehen a majori ad minus, wenn Oeffentlichkeit auch für die Criminaiverhandlungen reclamirt wird." "Die Rechte der Verfassung", sagt Feuerbach30 und ihm folgend Donsbach31 , "kommen nicht blos auf Land- und Reichstagen, sondern auch bei den Gerichten zur Sprache und können nicht blos von den Gerichten, sondern auch an und in diesen Gerichten vielfältig verletzt oder gefährdet werden. Keine Gattung von Rechtssachen, peinliche oder bürgerliche, wobei nicht das eine möglich wäre oder das andere; also keine, bei welcher nicht das Volk, kraft der ihm zustehenden Verfassungsrechte, und um dieser willen, vor den Gerichtsschranken zu erscheinen betheiliget, folglich auch berechtiget seyn sollte." Der große Gelehrte fährt fort: "Das Recht der Beschwerdeführung, eines der wesentlichsten Rechte eines gesetzmäßig freien Volks, äußert sich in seiner höchsten Bedeutenheit gerade hinsichtlich der Verletzung der Verfassungsrechte. Wenn aber die Justiz sich hinter Schloß und Riegel verbirgt, wie sollen die beschwerenden Thatsachen denen gehörig zur Kunde gelangen, welche, dadurch beschwert, das Recht ausüben sollen, die Schuldigen auf gesetzliche Weise anzuklagen und zur Verantwortung zu bringen32 ?" Leue33 erblickt in der öffentlichen Meinung den Schutz und Schirm der Gerichts- und Staatsverfassung. Eine öffentliche Meinung könne sich aber nur da bilden, wo der Zugang zu den Gerichtsverhandlungen ungehindert sei. Daraus folge von selbst, daß die Gerichtsöffentlichkeit die Erhaltung der Verfassung sichere. Schließlich wird in diesem Zusammenhang noch erwähnt, die Öffentlichkeit gebe das Bewußtsein der Gleichheit vor dem Gesetz34 • 6. Recht des Steuerzahlers Jagemann35 gibt zu bedenken, welche bedeutenden Geldmittel das Volk zur Ausstattung und Erhaltung der Staatsbehörden aufbringe. "Für die Gerichte wird überall wenigstens der zehnte Theil der Staatseinnahmen verwendet. Hat derjenige, welcher Contribution leistet, nicht ein Recht, über die Bewirthschaftung der hergegebenen Summen Rechenschaft zu verlangen?" Alle anderen wesentlichen Staatseinrichtungen 30

31 3t 13 14 15

Betrachtungen I, S.169!f. a. a. 0., S. 113 f. ähnlich Jagemann, Oeffentlichkeit, S. 96; vgl. auch Gast, S. 28 und 39. a. a. 0., S. 276.

Reichensperger, S. 27.

a. a. 0., S. 80.

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seien der Einsicht und der allgemeinen Kritik ausgesetzt. Warum, so fragt Jagemann, soll der Stand der Gerichtsverfassung, an dem das Volk großen Anteil nimmt, ein Geheimnis bleiben? 7. Fortentwicklung von Rechtspflege und Gesetzgebung

Die Öffentlichkeit wird eine zeitgemäße Weiterentwicklung des Rechts erleichtern und auch unmittelbar auf die Rechtspflege fortbildend einwirken. Savigny38 hegt diese Erwartung besonders hinsichtlich der Strafrechtspflege, da ihre Elemente mit dem Leben und der Sitte eng verwachsen seien. Mittermaier37 führt aus, das Recht eines Volkes müsse in seinem innersten Wesen, in seinem Bewußtsein und seiner Auffassung vom Vernünftigen wurzeln. Das Gesetz erscheine als der Ausdruck dieses Bewußtseins. Die Rechtsprechung als die Anwendung des Gesetzes sei gleichsam "die Rechnungsprobe über den Werth des Gesetzes und des Geistes desselben". Erst dadurch erhalte das Gesetz Leben und Fortbildung. Daher sei sowohl bei Natur- wie auch bei hochentwickelten Völkern die Rechtsprechung öffentlich, wodurch die Anwendung der Gesetze auf einzelne Fälle verkündet werde und das Recht seine Bedeutung erhalte. 8. Vertrauen und Rechtssicherheit

Bereits für die "Bemerkungen"88 stellt sich das allgemeinere und festere Vertrauen der Bevölkerung als unbestrittener und wesentlicher Vorzug des öffentlichen Verfahrens dar. Immer werde die Unparteilichkeit der Richter oder wenigstens ihr Eifer für Recht und Wahrheit angezweifelt werden, wenn das Volk sich nicht selbst von ihrer Handlungsweise und der Art ihres Verfahrens überzeugen könne. Die große Bedeutung dieses Gesichtspunkts unterstreicht Feuerbach38 mit den Worten: "Gäbe es auch keine allgemeinen inneren Gründe für die Oeffentlichkeit der Gerichte, so müßte schon der von der mißtrauenden Volksmeinung auf unser gegenwärtiges Gerichtswesen in Deutschland geworfene Verdacht für sich allein mehr als hinreichen, ... die Nothwendigkeit einer Aenderung zu erweisen." Selbst wenn alle Vorkehrungen getroffen seien, um ein geheimes Verfahren so korrekt als möglich ablaufen zu lassen, immer werde der Argwohn bleiben, der alles Heimliche begleite. Der Publizist Börne40 bezeichnet die " Zuversicht, daß Recht geübt werde" als "Lebensbedürfnis in der bürgerlichen Gesellschaft", und diese 38 37

M 39 40

a. a. 0., S. 31. Mündlichkeit, S. 334. a. a. 0., S. 17 f. Betrachtungen I, S. 93. Fragmente und Aphorismen, Nr. 102.

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5. Kap.: Fortschritte zwischen Restauration und Revolution

Zuversicht versage die heimliche Justiz. Kein Fürst, kein Richter, kein Verwalter dürfe Glauben fordern an seine Gerechtigkeit; "nur an Gott glaubt man, die Menschen aber will man sehen, hören, betasten, ausrechnen"4!. Die geänderten Verhältnisse in der Stellung des Volkes streicht auch Mittermaier4! heraus. Keineswegs sei mehr wie einst der unbedingte Glaube an die Weisheit der Regierungsakte und an die Gerechtigkeit behördlicher Aussprüche verbreitet. Die größere Öffentlichkeit der gesamten Staatsverwaltung habe den Geist der Prüfung hervorgerufen und genährt. Dieser Geist sei es, der auch bei der Verwaltung der Justiz gern nach Gründen frage und die gefällten Urteile selbst prüfe. So könne das Volk nur dann größeres Vertrauen zur Gerechtigkeit richterlicher Entscheidungen fassen, wenn es das Gewicht der vorliegenden Beweise kennenlerne und die Gründe mit dem Urteil vergleicheu. Die überzeugung, daß die Öffentlichkeit der Verhandlungen das Vertrauen in die Gerechtigkeit und Wirksamkeit der Strafjustiz fördere, wird auch von den meisten anderen Anhängern der Publizität geteiltu und zum Teil sogar als Hauptgrund bezeichnet45 . Mit dem Vertrauen zur Rechtspflege soll sich schließlich auch das Bewußtsein der Rechtssicherheit, "die erste Bedingung eines kräftigen Volkslebens" , erhöhen48 • Geib 47 versucht diesem Argument dadurch zu begegnen, daß er das behauptete Mißtrauen auf ein sehr geringes Maß reduziert. Zwar höre man hin und wieder über die Langsamkeit der Prozesse und - ganz selten - über Fehlurteile klagen. Allein hier sei Abhilfe nicht durch offene Gerichtstüren zu schaffen, sondern nur durch unbedingte Mündlichkeit der Verfahren. Das Mißtrauen in die Gewissenhaftigkeit und Gesetzmäßigkeit der Gerichtshöfe hält der Rezensent der Allgemeinen Literatur-Zeitung48 nicht für das wahre Motiv der Forderung nach Öffentlichkeit; werde diese doch auch dort erhoben, wo man der richterlichen P1lichtmäßigkeit das höchste Vertrauen beweise. Auch könne die Gewissenhaftigkeit als ein bloß innerlicher Zustand durch die Öffentlichkeit nicht herbeigeführt werden. Nicht die feh~ lende Publizität, sondern die Abhängigkeit der Richter von der Regierung begründe das Mißtrauen gegen die Justiz. siehe auch Hegel, § 224 Zusatz. Archiv 1842, 261; vgl. auch Mündlichkeit, S. 335. 4S vgl. auch den Deputationsbericht der sächs. 2. Kammer, S. 127 f. U z. B. von SpaTTe-Wangenstein, S.84; Donsbach, S.116; AretinlRotteck, S. 237 f.; Jagemann, Oeffentlichkeit, S. 16; Leue, S. 229 und 264; Puchta, Inquisitions-Prozeß, S. 129; Braun, S.42 und 44; Beseler, S. 291; Comm.bericht der bad. 1. Kammer, Vogel, S. 166. 41 Zachariä, S. 319; badische Motive, bei ThUo, S. 7. 41

e!

.. Savigny, S. 31. '7 a. a. 0., S. 119 t. CI!

a. a. 0., Sp. 438.

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9. Mehrung von Gemeingeist und Vaterlandsliebe "Das Freimüthige, Offene und Ehrliche, dessen Ausdruck die Oeffentlichkeit der Verhandlungen ist, erregt als Beispiel und Vorbild in den wichtigsten Angelegenheiten des bürgerlichen Lebens besser den Trieb zur Nachahmung und senkt einen befruchtendern Keim in das Herz als trockne theoretische Belehrungen oder langweilige Predigten." Soweit Vaterlandsliebe das Erzeugnis der Staatsverfassung sei, setzt Leue 40 hinzu, werde sie am meisten durch die politische und gerichtliche Ordnung hervorgerufen. Da das öffentliche Verfahren nicht nur das beste, sondern das einzig gute sei und diese überzeugung feste Wur~eln im Volk habe, könne man die Öffentlichkeit zu Recht als wichtiges Moment der Vaterlandsliebe ansehen. Der Deputationsbericht der sächsischen Zweiten Kammer50 stellt dieser positiven Folge der gerichtlichen Publizität die Auswirkungen der heimlichen Justiz gegenüber: "Da, wo die Gesetze ... dem Volk die Gelegenheit abschneiden, über Dinge, die das Gemeinwesen betreffen, zu urtheilen, tragen sie dazu bei, eine Gleichgültigkeit dafür, eine Theilnahmslosigkeit daran zu erzeugen, welche das größte Unglück eines Staates sind. Das nationale Band, durch das Gemeinwesen geknüpft, löst sich, und das Volk wird mehr und mehr eine Zahl von locker zusammenhängenden Individuen." Zwar halten auch die sächsischen Motive51 die erhöhte Teilnahme des Volkes am Gemeinwesen für wünschenswert; die Verhandlungen über Verbrechen seien aber schwerlich die rechten Mittel zur "Veredelung und Ver.. vollkommnung des Menschengeschlechts". B. Gründe gegen die öffentlichkeit

a) Gründe, welche die Prozeßbeteiligten betreffen 1. Mißbrauch durch böswillige Angeklagte

Der "freche Bösewicht" wird die Publizität als ein willkommenes Mittel betrachten, um seine Gegner, den Verletzten und die Zeugen öffentlich zu beschimpfen und in den Augen der Menge herabzusetzen, befürchten die sächsischen Motivei. Und weiter: Er wird Gesetze und Gerichte verhöhnen, mit Gefühlen und Redensarten prahlen, seine verderblichen Grundsätze ausbreiten und verteidigen. "Die öffentliche Verhandlung wird für ihn ein Schauspiel sein, was er vor seinem Austritt aus der menschlichen Gesellschaft dem Volke zu bereiten sich freut." " a. a. 0., S. 278 f. &0 a. a. 0., S. 130, 132. &1 a. a. 0., S. 39. 1 a. a. 0., S. 45.

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5. Kap.: Fortschritte zwischen Restauration und Revolution 2. Härte gegenüber dem Angeschuldigten

Die sächsischen Motive! stellen dem "frechen Bösewicht" jedoch auch das Bild eines reuigen, nicht verstockten Täters gegenüber, der vielleicht nur in aufwallender Leidenschaft oder aus Not zu einem Verbrechen getrieben worden sei. Ihm wie auch dem unschuldig Angeklagten werde und müsse die Schaustellung vor der Menge ein schimpfliches Gefühl, eine drückende Last seins. Bei geringeren Vergehen erkennen auch die badischen Motive' die öffentliche ZurredesteIlung als ein großes übel an, das mit dem Zweck nicht mehr im Verhältnis stehe. Mit einem ganzen Bündel von Argumenten versuchen die Anhänger der öffentlichen Rechtspflege diesem Bedenken zu begegnen: Einmal werde überall da, wo in der Regel alle Rechtssachen öffentlich verhandelt würden, die öffentlichkeit als etwas Natürliches und Selbstverständliches betrachtet, nicht aber als Entweihung einer Sache oder Person5 • Dann wünsche jedenfalls der Unschuldige auf das lebhafteste eine öffentliche Verhandlung, damit jeder Schatten des Verdachts wegfalle und das Publikum sich von der Grundlosigkeit der Anklage überzeuge G• Auch der geständige Täter, dem Milderungsgründe zur Seite stünden, habe ein Interesse daran, vor dem Publikum seine Verteidigung darzulegen7 und seine Mitbürger an eine künftige Besserung glauben zu lassen8 • Der Schuldige, dessen Tat keinen entehrenden Charakter habe, entgehe einer unverdienten Herabsetzung in der öffentlichen Meinung, wenn seine Handlung von der öffentlichkeit beurteilt werden könne 9 • Schließlich lasse ein natürliches Gefühl den Angeklagten hoffen, seinen Mitbürgern in einem milderen Licht zu erscheinen, wenn sie seine Verteidigung gehört hätten10 • Die Befürworter der öffentlichkeit verkennen allerdings nicht, daß eine Reihe von Angeschuldigten die öffentliche Verhandlung ablehne: So könne sich eine erste Gruppe keine klare Vorstellung von der neuen Einrichtung machen. Deren Vorurteil werde aber schwinden, sobald das Verfahren einmal in Geltung und seine wahre Bedeutung vom Volk erkannt sept.

a. a. 0., S. 45 f. vgl. auch Fölix, S. 62. 4 bei Thilo, S. 6. 5 Braun, S. 53; Feuerbach, Betrachtungen Ir, S. 207; Savigny, S. 29. G Mittermaier, Archiv 1842, S.286 und Mündlichkeit, S.352; Braun, S.53; Leue, S. 265 f.; Savigny, S. 30; badische Motive, bei Thilo, S. 5; Comm.ber. der bad. 1. Kammer, Vogel, S.165; vgl. auch den Topos "Wunsch der Angeklagten - Ehrenrestitution -". 7 Mittermaier, Archiv 1842, S. 286 f. und Mündlichkeit, S.352; Savigny, S. 30, Leue, S. 259. 8 vgl. den Dep.ber. der sächs. 2. Kammer, S. 140. 8 Hepp, Anklageschaft, S.119. 10 Mittermaier, Mündlichkeit, S. 352. 11 Mittermaier, Archiv 1842, S. 287; Savigny, S. 29. I

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Eine zweite Gruppe wünsche, daß ihr Verbrechen dem Publikum verborgen bleibe. Soweit der Grund dafür in besonderen Standes- oder Rangverhältnissen des Angeklagten liege, verdiene er angesichts des öffentlichen Interesses keine Beachtungl2 ; in anderen Fällen sei es eine selbstverschuldete Folge des Verbrechens, wenn die Verurteilung bekannt werde l3 • Handle es sich gar um eine entehrende Tat, so vollstrecke die öffentliche Meinung am besten die zu verhängende Strafe14 • Auch bei einem gerichtlichen Freispruch werde die Schuld in den Augen der Welt dann nicht freigesprochen erscheinen15• Wer überdies die öffentliche Bloßstellung fürchte, werde viel leichter der Versuchung widerstehen, ein Verbrechen zu begehen, das ihn der Verachtung preisgeben könnte1o• Savigny 17 räumt ein, bei einer dritten Gruppe löse die Anwesenheit von Zuschauern Widerwillen und Schüchternheit aus. Auf solche einzelnen Fälle dürfe man aber keine Rücksicht nehmen, da die Öffentlichkeit im allgemeinen so sehr dem Interesse der Angeschuldigten entspreche. Auf eine vierte Gruppe gehen die badischen Motive18 ein. Durch das Zusammentreffen unglücklicher Umstände könne auch auf einem freigesprochenen Unschuldigen ein schwerer Verdacht ruhen bleiben. Eine Kränkung des Angeschuldigten könne sich daraus ergeben, daß dieser Verdacht offenkundig werde. Allein davor schützt ihn nach Ansicht der Motive auch der geheime Rechtsgang nicht. Der Kommissionsbericht der badischen Ersten Kammer19 erblickt im öffentlichen Prozeß durchaus ein zusätzliches übel für den Angeklagten. Er hält diesen Effekt aber für wünschenswert angesichts der "in mancher Beziehung vielleicht zu mild und nachsichtig gewordenen Grundsätze in bezug auf Gerichtsverfahren und Strafen"20.

3. Ungleiche Gewandtheit der Angeklagten Nicht alle Inculpaten - bemängeln manche Gegner der Öffentlichkeit - sind gleich geschickt, sich in öffentlicher Sitzung gehörig zu verteidigen21 • Diesem Einwurf stellt Bender22 die Forderung entgegen, die Entscheidung einem Richterkollegium anzuvertrauen, das an der (Vor-)Untersuchung selbst schon teilgenommen habe. Seine Mitglieder müßten vor der Verhandlung die 1!

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Mittermaier, Mündlichkeit S. 352; Braun, S. 53. Mittermaier, Mündlichkeit, S. 352. Hepp, Anklageschaft, S.119. Braun, S. 53. Savigny, S. 30. Savigny, S. 29. bei Thilo, S. 5 f.

a. a. 0., S. 165. vgl. auch de Vaulx, S.169. zU. nach Bender, S. 90. a. a. 0., S. 90 f.

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5. Kap.: Fortschritte zwischen Restauration und Revolution

Akten einsehen können, um nicht allein auf das öffentliche Wiederholungsverfahren angewiesen zu sein.

4. Preisgabe dt._· Privat- und Familienverhältnisse Die Öffentlichkeit der Verhandlungen enthüllt nur zu oft Privat- und Familienverhältnisse, die im Interesse der Beteiligten nicht bekannt werden sollten. Die sächsischen Motive23 sprechen dem Gemeinwesen jedes Recht auf solche Kenntnisnahme ab. Der Deputationsbericht der sächsischen Zweiten Kammer24 begegnet diesem Vorwurf zunächst mit einer grundsätzlichen überlegung: "Sobald irgend eine Sache aus dem Strafrechte vor das Gericht gelangt, gelangt sie schon nach der Natur des Strafrechts als eine das Gemeinwesen berührende öffentliche Angelegenheit dahin und verliert hiermit die Eigenschaft einer Privatsache. Daher kann ein Anspruch darauf, daß eine solche Sache entfernt vom Publikum behandelt werde, nimmermehr gemacht werden." Im übrigen blieben auch im nichtöffentlichen Verfahren solche Familienverhältnisse nicht geheim, sondern würden - meist entstellt und mit Zusätzen versehen - weitererzählt25 • Hinsichtlich der Zeugen oder Verletzten stellt sich das Problem nach Ansich~ der "Bemerkungen"2. so gut wie gar nicht. Die häuslichen Verhältnisse dieser Personen hätten auf die Beurteilung der Tat nur selten einen wesentlichen Einfluß und brauchten daher kaum öffentlich berührt zu werden. Wo eine solche Erörterung aber doch einmal stattfinden sollte und als Folge davon ein schlechtes Licht auf einen Beteiligten falle, da sei es nur eine gerechte Folge verborgener Sittenlosigkeit und begründe kein Bedenken gegen das öffentliche Verfahren.

5. Gefahr für Ankläger und Richter Zuweilen wird noch an das sehr alte Argument!7 erinnert, Ankläger und Richter seien beim öffentlichen Verfahren der Rache des Angeklagten ausgesetztes. FeuerbachtD weist demgegenüber darauf hin, daß auch beim geltenden geheimen - Rechtsgang der Angeschuldigte seinen Untersuchungsrichter kenne. Das öffentliche Verfahren mag den Ankläger zwar nicht vor dem unverdienten Haß des Angeschuldigten bewahren, wohl aber vor dessen nach-

a. a. 0., S. 45. a. a. 0., S. 140. t6 vgl. auch Leue, S. 255. t8 a. a. 0., S. 13 f. 27 siehe schon GobiglHuster, Abhandlung, S. 389. 28 zitiert nach "Bemerkungen", S.ll und Feuerbach., Betrachtungen II, S.209. ID Betrachtungen II, S. 209. D U

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teiligen Folgen. Die ..Bemerkungen"30 begründen das so: Der Ankläger nimmt das Publikum selbst zum Zeugen der Unbefangenheit und Wahrhaftigkeit seiner Anklage. Hierdurch bringt er die öffentliche Meinung auf seine Seite, was für Ehre und Ruf ein mächtigerer Schutz als selbst das Gesetz ist. Dies stimmt überein mit den Beobachtungen Brauns31 in den Rheinlanden, wo sich die Staatsanwälte über keinerlei Feindseligkeiten zu beklagen hätten. Die Öffentlichkeit kläre selbst den gemeinen Mann über die amtliche Stellung und Pflicht der Anklagebehörde auf. Damit werde die persönliche Unbeteiligtheit des Anklägers deutlich, was auch den Ungebildetsten mit dem Amt und seinen Inhabern versöhne. 6. Ablenkung für die Richter Die Zeremonien des öffentlich-mündlichen Prozesses und die sinnlichen Eindrücke, die durch die Anwesenheit der Beteiligten und des Publikums hervorgerufen werden, müssen - so Grävell32 - die Aufmerksamkeit auch des gewissenhaftesten Richters herabsetzen. Bender33 will diesen Einwand nicht gelten lassen. Der Richter gewöhne sich bald an die Gegenwart des Publikums. Sein Ernst und seine Gewissenhaftigkeit, vor allem aber die lebendige mündliche Verhandlung erhielten ihn aufmerksam. 7. Glanzsucht der Verteidiger Während die Publizität einerseits ein Ansporn für die Advokaten darstellen so1l3\ zeigt Biener35 auch mögliche Nachteile auf. Die "Sucht zu glänzen" könne die Verteidiger dazu verleiten, "das Wesentliche zu vernachlässigen und Zeit und Kräfte Nebendingen zu opfern". Besonders in Presseprozessen bestehe die Gefahr, daß die Anwälte die Freiheit der Defension zu schmählicher Verleumdung mißbrauchtenSl• b) Gründe, welche das einzelne

Strafverfahren betreffen

1. Beeinträchtigung der Wahrheitsfindung Den nachteiligen Einfluß auf die Erforschung der Wahrheit setzen die sächsischen Motive1 an die zweite Stelle ihrer Bedenken gegen die a. a. 0., S. 12. a. a. 0., S. 50. IZ a. a. 0., Theil 2, S. 43. aa a. a. 0., S. 91. U vgl. den Topos "Ansporn für die Prozeßorgane". 35 Abhandlungen, S. 180. SI ebenda, Fußn. 53. 1 a. a. 0., S. 42 f.

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Öffentlichkeit. Ähnliches Gewicht messen auch die übrigen gegnerischen Stimmen diesem Argument bei. Dabei wird zunächst die dem Deutschen eigentümliche Scheu, vor Gericht zu erscheinen, erwähnt, die sich durch die Anwesenheit von Publikum noch verstärke!. Ganz besonders die Gegenwart des Angeklagten, seiner Freunde und Verwandten und die mögliche Anwesenheit unentdeckter Mittäter bedeute eine Gefahr für den Zeugen3 • Aus Angst vor Rache werde er so viel als möglich von seinem Wissen verschweigen und notfalls seine Aussagen aus der Voruntersuchung widerrufen. Auch die Befürchtung, vor versammelter Menge den Angriffen und Schmähungen des Beschuldigten ausgesetzt zu sein, verschließe ihm den Mund. Abgesehen davon könne schon der bloße Anblick des Publikums "Unbefangenheit, ruhige Fassung und überlegung" des Zeugen stören4 • Das öffentliche Verfahren verlaufe nicht ohne Zeremonie und Unterbrechung von seiten der Zuschauer; beides ziehe die Aufmerksamkeit auf sich und lenke vom Gegenstand der Aussage ab'. Die Ausmittlung der Schuld werde weiter insofern erschwert, als durch den öffentlichen Rechtsgang eine fortwährende Veranlassung zu Kollusionen und Subornationen gegeben sei. Dagegen müßten die Angeklagten und Zeugen im geheimen Verfahren alle ihre Aussagen aus ihrem eigenen Bewußtsein schöpfenB. Äußerlichkeiten wie Kleidung und Haltung würden der Öffentlichkeit wegen verändert und verschleierten so den wahren Charakter von Beschuldigten und Zeugen7 • Schließlich werde kaum ein Zeuge in öffentlicher Sitzung eine Aussage machen, die ihn vielleicht selbst bloßstellen könnte 8 • Die Reformer halten daran fest, die öffentliche Rechtspflege erleichtere die Wahrheitsfindung erheblich'. Sie versuchen allerdings auch, die gegnerischen Einwände zu widerlegen. So sieht der Deputationsbericht der sächsischen Zweiten Karnmer10 die von den Motiven erwähnte Scheu, vor Gericht zu erscheinen, nur als natürliche Folge der langjährigen Heimlichkeit der Rechts2

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G-rävell, Theil2, S. 39; sächsische Motive, S. 42. G-rävell, Theil 2, S. 39 f., sächsische Motive, S. 42; Ma-rtin: Hepp, F. C. Th.;

Anklageschaft, Oeffentlichkeit und Mündlichkeit des Strafverfahrens (Buchbesprechung); in: Kritische Jahrbücher für Deutsche Rechtswissenschaft, 7. Jg., 13. Bd., 1843, S. 97 - 123, hier S. 118 f. , sächsische Motive, S. 42. 5 G-rävell, Theil 2, S. 39. B zitiert nach "Bemerkungen", S. 7 f. 7 Biene-r, Abhandlungen, S. 180 f. 8 Geib, S. 125. , vgl. dazu oben den Topos "Erleichterung der Wahrheitsftndung". 10 a. a. 0., S. 135 f.

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pflege an. "Nichts aber dürfte mehr zur Beseitigung dieser Scheu beitragen, als gerade die Gerichtsöffentlichkeit, als die Veranlassung zur Gewohnheit der Theilnahme des Volkes an gerichtlichen Angelegenheiten." Auch die angebliche Furcht der Zeugen vor der Rache des Angeklagten und seiner Freunde lassen viele Befürworter der Öffentlichkeit nicht gelten. Sie verweisen darauf, daß der Beschuldigte auch im geheimen Verfahren - z. B. bei Konfrontationen - sehr häufig die Namen der Zeugen erfahre 11 • Zudem gehe ja der öffentlichen Vernehmung eine geheime voraus. Ein Zeuge werde kaum allein aus Furcht eine früher deutlich und wiederholt abgegebene Aussage zurücknehmen l2 . Und wenn er es doch tue, sei dies für Wahrheit und Gerechtigkeit ein offenbarer Gewinn. Erkenne der Richter doch daraus die Unzuverlässigkeit des Zeugenl3 . Immerhin empfiehlt Mittermaier in diesem Zusammenhang die Regelung des französischen Code, nach welcher der Vorsitzende den Angeklagten für die Dauer einer Zeugenvernehmung aus dem Sitzungszimmer entfernen lassen kann l4 . Zur Abwehr einschüchternder und beleidigender Fragen von seiten der Verteidigung verweisen Braunl5 und Mittermaierl6 auf die Sitzungsgewalt des Präsidenten. Auch die Behauptung, die Öffentlichkeit beeinträchtige Unbefangenheit, Fassung und Überlegung der Zeugen, bleibt nicht unwidersprochen. Zwar könne die Masse des Publikums anfangs eine gewisse Scheu und Zurückhaltung hervorrufen; die Befragung durch Präsident und Staatsbehörde flöße jedoch bald Mut ein und lasse die Fassung wiederkehrenl7 . Die Feierlichkeit der Verhandlung hebe die Motive zur Zurückhaltung auf l8 . Freilich werde der Zeuge in Gegenwart der Zuhörer seine Aussage vorsichtiger und überlegter abgebenlU, was für die Wahrheitsfindung nur von Nutzen sein könne20. Der Verabredung zwischen Angeschuldigten und Zeugen zur Verdeckung der Wahrheit wirke das geheime Vorverfahren entgegen. Erst wenn alles untersucht sei, nehme das Verfahren einen öffentlichen Charakter an!l.

11 "Bemerkungen", S.11; Bender, S.89; Feuerbach, Betrachtungen 11, S.210. 12 Bender, S.90; vgl. auch die badischen Motive, bei Thilo, S.7 und den Comm.ber. der bad.!. Kammer, Vogel, S. 166. 13 Savignv, S. 291. V. m. S.19; vgl. auch den Dep.ber. der sächs. 2. Kammer, S.137. 14 Mittermaier, Mündlichkeit, S. 351, Fußn. 39. 15 a. a. 0., S. 52. 18 Mündlichkeit, S. 351, Fußn. 39. 17 Mittermaier, Mündlichkeit, S. 337 und 350. 18 Mittermaier, Mündlichkeit S. 338; siehe auch Savigny, S. 29 i. V. m. S. 18. 19 "Bemerkungen", S.10; Braun, S.51; Dep.ber. der sächs. 2. Kammer, S.136. 20 Dep.ber. der sächs. 2. Kammer, S.137. 21 "Bemerkungen", S. 8 f.

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5. Kap.: Fortschritte zwischen Restauration und Revolution 2. Erschwerung von Geständnissen, Hervorrufung falscher Geständnisse

Selbst ein so engagierter Verfechter der öffentlichkeit wie Jagemann!! rechnet fest damit, daß die Zahl der gerichtlichen Geständnisse abnehmen wird, wenn sie vor einer großen Menschenmenge abgelegt werden müssen. Diesem, wie er es nennt, "staatsgefährlichen" Ergebnis glaubt er allerdings mit einer gründlichen geheimen Voruntersuchung begegnen zu können!3. Es nimmt daher nicht wunder, daß auch die Gegner der Publizität diesem Gesichtspunkt Beachtung schenken. Sie erinnern an die natürliche Scheu des Menschen, sich zu seinem Verbrechen zu bekennen, wobei die Furcht vor Strafe noch der geringste Anlaß sei24 • Die Gegenwart noch unentdeckter Mittäter oder die - vielleicht drohende - Miene eines Zuhörers könne ebenso der Grund dafür sein wie die Anwesenheit der Familie, welcher der Angeklagte die Tat bislang noch verborgen habe2s • Und auch nichts anderes als Schamgefühl könne einen nicht schwer vorbestraften Täter davon abhalten, ein Geständnis vor versammeltem Publikum abzulegen28 • Die sächsischen Motive!7 sehen ihre Befürchtungen durch die Entwicklung in Frankreich bestätigt, wo selbst Todesurteile meist ohne Geständnis des Verbrechers ausgesprochen würden. Eine entgerengesetzte Gefahr zeigt Martin!8 auf. Das öffentliche Verhör - so sagt er - kann in einigen Fällen dazu führen, daß der Angeschuldigte mehr auf sich nimmt und mehr gesteht, als er tatsächlich begangen hat. Bestimmte Straftaten würden mindestens von Teilen der Bevölkerung nicht als strafwürdig empfunden. Martin verschweigt nicht, woran er dabei denkt, vor allem an "Untersuchungen über demagogische Umtriebe". Hier wolle der Angeklagte durch sein falsches Bekenntnis ein gewisses Ansehen bei der Zuhörerschaft erwerben oder mit seinesgleichen nicht brechen. Die Verteidiger der Öffentlichkeit versuchen einmal, die Bedeutung des Geständnisses, die der überkommene Inquisitionsprozeß diesem beigelegt hatte, zu reduzieren. Ziel des mündlich-öffentlichen Anklageprozesses sei die überführung des Angeklagten, eine Aufgabe, die mit der Aufhebung der positiven Beweistheorie und der unbedingten Zulassung des Indizienbeweises Oeffentlichkeit, S. 46 ff. siehe dazu im einzelnen unten "öffentlichkeit bezüglich einzelner Verfahrensteile" . U sächs. Motive, S. 39; Geib, S. 124, bes. Fußn.••. 22

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Martin, S.117. Martin, S. 117; sächs. Motive, S. 39; siehe auch Geib, S. 124, Fußn. a. a. 0., S. 39 f. a. a. 0., S. 117.

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lösbar geworden sei!O. Niemand werde beklagen, wenn im öffentlichen Verfahren Geständnisse wegfielen, welche im geheimen durch Zwangsmittel, durch Drängen der Inquirenten und alle Arten moralischer Tortur erlangt worden seien30 • Zweitens beruft man sich auf die geheime Voruntersuchung, in der die Geständnisse ja erfolgen könnten31 • Kaum ein Angeschuldigter werde schon im vorbereitenden Verfahren bedenken, daß er seine Aussage in öffentlicher Sitzung zu wiederholen habe, und sich dadurch von einem Bekenntnis abschrecken lassen32 • Und wenn einmal in der Hauptverhandlung ein Geständnis widerrufen werde, so nütze das dem Angeklagten erfahrungsgemäß nich~ viel, wenn er nicht besondere Gründe zur Erklärung des Widerrufs vorbringen könneu . Dem Bewußtsein des Beschuldigten, von seinen Mitbürgern beobachtet zu werden, wird - drittens - sogar eine geständnisfördernde Wirkung zugeschrieben34 • Im Deputationsbericht der sächsischen Zweiten Kammer heißt es dazu unter Berufung auf Bentham: ,,(Es ist) ... ein Vorzug der Gerichtsöffentlichkeit ... , daß sie dem Hange, Unwahrheit zu sagen, entgegentritt, indem sie dem Befragten, 'Yenn er sich von so vielen Augen und vielleicht von solchen umgeben erblickt, die ihn sofort Lügen zu strafen sich im Stande befinden, die Aussicht auf Erfolg etwaiger Unwahrheiten benimmt, die Befürchtung, der Lüge öffentlich überführt zu werden, in ihm erregt und verstärkt, und daher den Antrieb zur Aussage der Wahrheit erweckt und erhöht. Denn es ist psychologisch gegründet, daß der Mensch Einen oder Wenige zu belügen eher und stärker versucht ist, als die Lüge einem ganzen Publikum gegenüber auszusprechen, weil er den Einen oder die Wenigen im Besitz geringerer, die größere Anzahl aber im Besitz zahlreicherer wider ihn geltend zu machender Ueberführungsmittel glaubt 8S, 36." Die badischen Motive37 endlich machen sich die Argumentation beider Seiten zu eigen. Je nach Lage des Einzelfalles werde die öffentlichkeit ein Geständnis erschweren oder erleichtern. 28 Braun, S.51; Savigny, S.29 i. V. m. S.16; Mittermaier, Mündlichkeit, S.350. 30 Dep.ber. der sächs. 2. Kammer, S.133; vgl. auch Braun, S. 51. 31 Mittermaier, Mündlichkeit, S. 350; Savigny, S. 29 i. V. m. S.16 f.; Dep.ber. der sächs. 2. Kammer, S. 133. 3! Dep.ber. der sächs. 2. Kammer, S.134; vgl. auch badische Motive, bei Thilo, S. 6 f. 33 Mittermaier, Mündlichkeit, S. 350. 34 Hepp, Anklageschaft, S. 101 f.; Mittermaier, C. J. A.: Der EntwUrf einer Strafproceß-Ordnung für das Königreich Sachsen von 1842; in: Zeitschrüt für deutsches Strafverfahren, 3. Bd., 1843, S. 297 - 313, hier S. 309. as a. a. 0., S. 133. 8& dagegen kritisch Jagemann, Oeffentlichkeit, S.48 Fußn.: "Es ist nicht leicht denkbar, daß sich außer den gerichtlich abgehörten Zeugen noch weitere in der Masse des Publicums aufhalten und daß der Thäter sich vor diesen fürchtet. Nicht ... vor unbekannten Beweisen ... , vor der Wiederholung der bekannten scheut er sich. Hier aber ist gerade das große Publicum die Ursache, und anstatt daß ihn tausend Augen, welche alle auf ihn gerichtet sind, weich und offenherzig machen, werden sie eher jede Sylbe, die er sprechen will, in die ängstliche Brust zurückdrängen. CI

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5. Kap.: Fortschritte zwischen Restauration und Revolution 3. Kenntnisse für unentdeckte Mitschuldige

Ein weiterer Punkt im Negativkatalog der sächsischen Motive 38 ist folgender: Unter den Zuhörern einer öffentlichen Hauptverhandlung befänden sich oft auch Mitschuldige, die noch nicht entdeckt seien. Für diese Personen ergebe sich die Möglichkeit, etwaige Spuren zu beseitigen und ihrer Entlarvung vorzubeugen8~. Nach Savigny 40 sind das Einzelfälle, die für die Einrichtung des Strafverfahrens im allgemeinen nicht maßgeblich sein können. Immerhin räumt er ein, unter besonderen Umständen sei eine angemessene Beschränkung der Öffentlichkeit erforderlich: "Beispielsweise könnte etwa in volkreichen Städten, in denen sich ganze Schaaren von Dieben, Gaunern, Hehlern wechselseitig zu unterstützen pflegen, die Oeffentlichkeit der Untersuchungen über Diebstähle und ähnliche Verbrechen gefährlich werden." Ebenso befürwortet auch der Deputationsbericht der sächsischen Zweiten Kammeru keine "ausnahmslose" Gerichtsöffentlichkeit; Beschränkung der Publizität und geheime Voruntersuchung böten aber hinreichenden Schutz. 4. Bloßstellung des Scham- und Sittlichkeitsgefühls der Verletzten Auch das Interesse der Geschädigten kann einer öffentlichen Verhandlung entgegenstehen. Geib 42 nennt als Beispiel das Notzuchtverbrechen. Hier wie in anderen Fällen stelle selbst die "allerbeschränkteste" Öffentlichkeit "eine Verletzung ihrer (der Verletzten) heiligsten Rechte, eine BIosstellung ihres ganzen Scham- und Sittlichkeitsgefühls" dar. Daher würden nach Einführung des öffentlichen Verfahrens viele Opfer solcher Verbrechen von einer Anzeige absehen, "um die erlittenen Mißhandlungen nicht noch mit einer neuen vermehren zu müssen"43. 5. Unruhe im Saal, Störung der Verhandlungen Man kann nicht leugnen, meint Geib 44 , daß namentlich bei größerem Publikum Störungen vorkommen können, welche die Aufmerksamkeit des Gerichts vom eigentlichen Verhandlungsgegenstand abziehen. Was bei dem einen das plötzliche Auftreten eines Freundes bewirke, werde bei einem anderen durch die Ähnlichkeit eines Anwesenden mit einem bei Thilo, S. 7. a. a. 0., S. 44. 80 vgl. auch Fölix, S. 49. 40 a. a. 0., S. 33. 41 a. a. 0., S. 138. 42 a. a. 0., S. 124. 43 siehe dazu auch unten "Beschränkungen der öffentlichkeit". 44 a. a. 0., S. 124.

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nächsten Verwandten, bei einem Dritten durch die Beobachtung einer lächerlichen oder ekelhaften Gewohnheit eines Zuhörers verursacht. Auch Savigny45 hält Störungen für möglich, die durch das Betragen der Menge, durch das Betreten und Verlassen des Saales hervorgerufen werden. Sitzungspolizeiliche Maßnahmen und eine angemessene Beschränkung der Öffentlichkeit sorgten jedoch für wirksame Abhilfe. 6. Müßiggänger, Neugierige Die öffentlichen Verhandlungen werden in der Regel nur von Leuten aus den untersten Volksschichten besucht. Abgesehen von Juristen, die aus beruflichen Gründen kommen, sind Angehörige höherer Stände selten zu erblicken, wenn sie nicht gerade ein direktes oder indirektes Interesse am Ausgang eines Prozesses haben. Besonders im Winter "ist der Saal gedrängt voll von einem Publikum, dessen Kleidung schon anzeigt, daß nur die wohlthätige Ofenhitze es hingezogen hat". Was Fölix48 , von dem diese Schilderung französischer Zustände stammt, damit sagen will, stellt Mittermaier47 klar: Ein solches Publikum sei an der Gerechtigkeit nicht interessiert und könne daher nichts zur Erlangung der beabsichtigten Vorteile der Öffentlichkeit beitragen. Daß die Mehrheit der Zuhörer den niederen Klassen angehört, entgegnen Krause 48 und de Vaulx 49 , erklärt sich einfach. überall und zu allen Zeiten sind die niederen Stände zahlreicher als die höheren. Dieses Verhältnis spiegelt sich natürlich auf den Zuhörertribünen wider. Aber nicht einmal in jedem Fall, schränkt de Vaulx ein. "Sobald die Verhandlungen entweder wegen der darin erscheinenden Personen, oder wegen der Beschaffenheit der Thatsachen von einiger Wichtigkeit zu sein versprechen ... , an einem solchen Tage (ist) der Assisenhof der Sammelplatz von Allem ... , was es Ausgezeichnetes unter Juristen, Publizisten und anderen Gebildeten giebt." Eine ähnliche überlegung wie früher schon der anonyme Verfasser in den Europäischen Annalen50 stellt Mittermaier5 1 an. Auch wer zuerst nur aus Neugierde gekommen sei, werde allmählich von der Bedeutung der Verhandlungen ergriffen und wohltätige Frucht daraus ziehen. 7. Schauspiel Im Zusammenhang mit dem eben erwähnten Punkt spielt auch der Vorwurf eine Rolle, die öffentliche Verhandlung arte zu einem bloßen Schauspiel aus 5!. 45

tO 47

48 49

so 51

a. a. 0., S. 32. a. a. 0., S. 48. Mündlichkeit, S. 346. a. a. 0., S. 20 f. a. a. 0., S. 172. siehe 4. Kapitel, B b 8. Mündlichkeit, S. 346.

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5. Kap.: Fortschritte zwischen Restauration und Revolution

Diese Besorgnis, entgegnen die "Bemerkungen"53, treffe jede Art von Öffentlichkeit, auch die der Sitzungen der Abgeordnetenkammern. Hier wie dort gelte aber: wo höhere Rücksichten und Vorteile so laut und entschieden das Wort führten, da müsse jedes kleine Bedenken verstummen. Während KrauseM versichert, "so tief ist unser Volk, ist kein Volk gesunken, daß es den Gerichtssaal mit einem Theater verwechselt", enthält der Vorwurf der Gegner nach Jagemann55 "etwas Wahres, aber zugleich um das Dreifache mehr Unwahres". Die Art und Weise, wie hier alle Arten von Verbrechen schonungslos ans Tageslicht gezogen und in ihrer ganzen Schrecklichkeit dargelegt würden, unterdrücke alle leichtfertigen Gedanken. Bei bestimmten skandalösen Prozessen allerdings müsse dem Publikum die unmittelbare Anschauung entzogen werden. 8. Nachteiliger Einfluß auf Unbefangenheit und Unparteilichkeit des Richterspruchs "Die Zulassung des Publicums, die bei allen Verboten nicht zu vermeidenden Ausbrüche einer billigenden oder mißbilligenden Ansicht der Zuhörer können leicht einen nachtheiligen Einfluß auf die Unbefangenheit und Unparteilichkeit des Richterspruchs ausüben." Die sächsischen Motive 56 halten solche Bedenken besonders gegenüber Geschworenen für angebracht, nehmen die Berufsrichter aber nicht aus. Derartige Meinungsäußerungen der Zuschauer wollen Savigny57 und der Deputationsbericht der sächsischen Zweiten Kammer58 durch gehörige Handhabung der Sitzungspolizei unterbunden sehen. Sofern die Abstimmung geheim bleibe und wenn nur rechtsgelehrte Richter urteilten, schließt Savigny59 jede Beeinflussung des Gerichts - selbst durch ein unruhiges Publikum aus. Mittermaier80 bemerkt, mit Recht rühme man die Berufstreue, Gewissenhaftigkeit und Unabhängigkeit der deutschen Richter. Nach Einführung des neuen Verfahrens blieben Prozeßführung und Urteilsfällung denselben Rich., tern anvertraut. Es sei daher schwer zu begreifen, wie nun plötzlich gegen solche Männer ein Verdacht aufkommen könne, gegen Richter, die auch im geheimen Prozeß die Stimmung des Publikums erführen, wenn sie nicht taub und blind seien. 52 zitiert nach "Bemerkungen", S.16 und Jagemann, Oeffentlichkeit, S.32, 74; vgl. auch Fölix, S. 48. 53 a. a. 0., S. 16. 54 a. a. 0., S. 25. 55 Oeffentlichkeit, S. 40 ff. 58 a. a. 0., S. 43 f. 17 a. a. 0., S. 32. 58 a. a. 0., S. 138. 59 a. a. 0., S. 32. 80 Entwurf, S. 310.

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9. Naturwidrigkeit Zur Unterstützung seiner Forderung, nur das Urteil, nicht aber das Verfahren als solches der Öffentlichkeit preiszugeben, führt Grävell 61 das Wirken der Natur an. Sie schaffe nämlich auch überall unbemerkt und im Stillen; kein Mensch sehe das Gras keimen und die Blätter wachsen. Aber was sie schließlich hervorgebracht habe, das lasse sie jedermann schauen. Ebenso solle auch der Mensch - und insbesondere der Staat - im Stillen wirken und nur an den Früchten seiner Handlungen den Geist erkennen lassen, der sie erzeugt habe. FeuerbachS! weist diesen Vergleich zurück: Einmal wirke der Mensch in seinem Handeln nicht so streng gesetzmäßig wie die Natur; zum anderen lasse auch sie nicht nur ihre schon reifen Früchte sehen, sondern jede Phase vom Keim bis zur reifen Frucht. c) Gründe, welche materiell-strafrechtliche

Gesichtspunkte betreffen

1. Verleitung zum Müßiggang

Fölix1 und Geib 2 tadeln die öffentlichen Verhandlungen, weil sie zum Müßiggang verleiteten. Der Besuch der Sitzungen halte die Zuhörer von ihren Berufspflichten ab und hindere sie daran, fleißig zu arbeiten. 2. Schule des Verbrechens Schwerer wiegt der Vorwurf der beiden Autoren8 , die Öffentlichkeit stelle eine "Schule des Verbrechers" dar. Auch die sächsischen Motive' teilen diese Ansicht: Der noch nicht Verdorbene werde leicht in seinen Grundsätzen erschüttert, wenn er höre, wie der Anwalt seinen Mandanten verteidige, wenn er vernehme, wie die Tat mit allen Mitteln der Redekunst entschuldigt oder als Folge an sich ehrenwerter und edler Gesinnung geschildert werde. Die Darstellung von Verbrechen, die er bis dahin nicht kannte, könne ihn überdies zur Nachahmung reizen. Dagegen lerne "der angehende Gauner, der noch nicht geübte Verbrecher", wie man eine Tat geschickt und ohne Entdeckungsgefahr begeht. Er erfahre, wie man erschwerende Umstände der Verbrechensbegehung vermeidet und dennoch ans Ziel kommt. Er sehe, wie eine erfolgreiche Verteidigung Gi Theil1, S. 45 ff. und 57. St Betrachtungen I, S. 28 f. 1 a. a. 0., S. 48. I a. a. 0., S. 125 f.

a Fölix, S. 49; Geib, S. 126.

, a. a. 0., S. 44 f.

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5. Kap.: Fortschritte zwischen Restauration und Revolution

zu führen ist: indem man Zeugen verwirrt, Fragen ausweicht, Tatsachen verschleiert, ein Alibi erdichtet und es sich schon im voraus besorgt. Auch die Möglichkeit, das Strafgesetz zu umgehen, bleibe nicht unbemerkt. Von Savigny5 zitiert wird schließlich die Befürchtung, die Freisprechung eines Angeschuldigten, welchen die Zuhörer für schuldig hielten, schade mehr als viele Verurteilungen gut machen könnten. Fast alle Anhänger der öffentlichkeit, die sich mit den Vorwürfen der Gegner auseinandersetzen, erkennen in diesem Argument einen gefährlichen Einwand und versuchen ihn zu widerlegen: Dabei räumen sie eine kriminalitätsfördernde Wirkung der öffentlichen Sitzung im Einzelfall durchaus ein'. Sie geben aber zu bedenken, daß die verübten Verbrechen auch im überkommenen Verfahren kein Geheimnis blieben. Sie würden vielmehr in einer Weise erzählt, die Neugierde und Einbildungskraft erst recht reizten7 • Der öffentliche Rechtsgang führe demgegenüber "ein überwiegendes Gegengift mit sich, indem die Verhandlung mit ihren Resultaten die Folgen des Verbrechens, die Aufdeckung der noch so fleißig verborgenen Missethat, vor die Augen stellt"8. Daher sei auch die Zahl der schweren Delikte in Ländern mit öffentlichen Verhandlungen nicht größer' oder sogar geringer10 als in Ländern mit geheimem Rechtsgang. Den eigentlichen Unterricht in Verbrechen böten falsche Erziehung und schlechte Gesellschaft. Not, Eigennutz und Leidenschaft, vor allem aber - als "Hochschulen" des Verbrechens - die Strafanstalten11 • Auf der anderen Seite kläre der offene Gerichtssaal das PUblikum über die Methoden der Kriminellen auf und trage damit zum Schutz vor Straftaten bej1!. Wenn eingewandt werde, der künftige Täter lerne seine Verteid;gung einzurichten. so könne darin nichts Tadelnswertes gesehen werden. Es sei das gute Recht eines Angeschuldigten, die Verteidigungsmittel zu kennen und anzuwenden, die Gesetz und Gerichtsgebrauch gewährten13 • Die Nachteile einzelner ungerechtfertigter Freispruche würden bei weitem überschätzt. Sie seien nicht größer als die der zahlreichen Instanzentbindungen, welche der geheime Prozeß mit seiner Beweistheorie gebracht habe14 • 5

a. a. 0., S. 32.

e Jaflemann. Opffentlichl