Die verfassungsrechtliche Stellung der nichtehelichen Lebensgemeinschaft im Spannungsfeld zwischen Freiheits- und Gleichheitsrechten [1 ed.] 9783428485734, 9783428085736

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Die verfassungsrechtliche Stellung der nichtehelichen Lebensgemeinschaft im Spannungsfeld zwischen Freiheits- und Gleichheitsrechten [1 ed.]
 9783428485734, 9783428085736

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Münsterische Beiträge zur Rechtswissenschaft

Band 97

Die verfassungsrechtliche Stellung der nichtehelichen Lebensgemeinschaft im Spannungsfeld zwischen Freiheits- und Gleichheitsrechten Von

Thorsten Kingreen

Duncker & Humblot · Berlin

THORSTEN KINGREEN Die verfassungsrechtliche Stellung der nichtehelichen Lebensgemeinschaft im Spannungsfeld zwischen Freiheits- und Gleichheitsrechten

Münsterische Beiträge z u r Rechtswissenschaft Herausgegeben im Auftrag der Rechtswissenschaftlichen Fakultät der Westfälischen Wilhelms-Universität in Münster durch die Professoren Dr. Hans-Uwe Erichsen Dr. Helmut Kollhosser Dr. Jürgen Welp B a n d 97

Die verfassungsrechtliche Stellung der nichtehelichen Lebensgemeinschaft im Spannungsfeld zwischen Freiheits- und Gleichheitsrechten

Von

Thorsten Kingreen

Duncker & Huniblot · Berlin

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Kingreen, Thorsten: Die verfassungsrechtliche Stellung der nichtehelichen Lebensgemeinschaft im Spannungsfeld zwischen Freiheitsund Gleichheitsrechten / von Thorsten Kingreen. Berlin : Duncker und Humblot, 1995 (Münsterische Beiträge zur Rechtswissenschaft ; Bd. 97) Zugl.: Münster (Westfalen), Univ., Diss., 1994/95 ISBN 3-428-08573-6 NE: GT

D6 Alle Rechte vorbehalten © 1995 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fotoprint: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0935-5383 ISBN 3-428-08573r6 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706 ©

Vorwort Die Rechtswissenschaftliche Fakultät der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster hat die vorliegende Arbeit im Wintersemester 1994/95 als Dissertation angenommen. Ich habe sie im März 1995 nochmals überarbeitet und aktualisiert. Danken möchte ich auch an dieser Stelle Herrn Prof. Dr. Bodo Pieroth. Er hat meinen Blick nicht nur auf den mir bis dahin weitgehend unbekannten Art. 6 I GG gelenkt, sondern hat diese Arbeit auch durch vielfaltige Anregungen und freundlichen Zuspruch gefördert. Darüber hinaus habe ich eine ausgesprochen interessante Zeit als wissenschaftlicher Mitarbeiter an seinem Lehrstuhl - zunächst in Marburg, dann in Münster verbracht; auch für die dabei gewonnenen Einsichten und die gewährte Freiheit für die zügige Erstellung dieser Arbeit gebührt ihm mein herzlicher Dank. Ferner bin ich Herrn Prof. Dr. Walter Krebs für die außerordentlich schnelle Erstellung des Zweitgutachtens und einige weiterführende Hinweise zu Dank verpflichtet. Für die Aufnahme der Dissertation in die Schriftenreihe "Münsterische Beiträge zur Rechtswissenschaft" und für den gewährten Druckkostenzuschuß bedanke ich mich bei den Herausgebern und der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster. Auch den Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen des Verlages Duncker & Humblot gilt mein Dank für die freundliche Betreuung. Es ist mir ein besonderes Anliegen, an dieser Stelle auch Herrn Prof. Dr. Helmut Goerlich für die langjährige Begleitung meines Werdegangs zu danken; so war er auch der erste, der mich dazu ermutigte, wissenschaftlich in Erscheinung zu treten. Viele Freunde haben diese Arbeit durch freundlichen Zuspruch begleitet; danken möchte ich auch denjenigen, die immer wieder einsprangen, wenn ich mit meinem Computerlatein am Ende war. Besonders erwähnen möchte ich hier Volker Zekl, der mit großer Geduld und Engagement der Arbeit das gewünschte outfit verpaßt hat. Ein ganz besonderes Wort des Dankes gilt auch hier meinen Eltern für ihre vielfältige, nicht nur materielle Unterstützung und schließlich Stephanie; ohne sie und ihre prägende Handschrift wäre die Arbeit so nicht entstanden. Köln, 27. August 1995 Thorsten Kingreen

Inhaltsverzeichnis

Einleitung

19

Erster Teil

Geschichtliche und verfassungsrechtliche Grundlagen

A. Ehe und eheähnliches Zusammenleben in historischer Retrospektive I.

23

23

Das römische Recht

24

1. Die römische Ehe als soziales Faktum

24

2. Die Entwicklung der Rechtsstellung nichtehelicher Lebensgemeinschaften

25

II. Die germanische Rechtsentwicklung

27

1. Muntehe

28

2. Friedelehe

29

3. Kebsehe

29

4. Fazit

30

III. Der Eintluß der christlichen Kirchen 1. Kanonisches Eherecht

30 30

a) Die Einstellung der jungen Kirche zum Konkubinat

31

b) Die Zunahme kirchlichen Einflusses; insbesondere: das Tridentiner Konzil

32

c) Amtskirche und nichteheliches Zusammenleben am Ende des 20. Jahrhunderts

33

2. Protestantisches Eheverständnis

34

IV. Weiterentwicklung bis zur Gegenwart

36

1. Die Einführung der obligatorischen Zivilehe

36

2. Von der Verteufelung zur gesellschaftlichen Akzeptanz: Gewandelte Einstellungen zur nichtehelichen Lebensgemeinschaft

38

8

Inhaltsverzeichnis

Β. Entwicklung des verfassungsrechtlichen Schutzes der Ehe I.

Art. 119WRV

40

1. Beratungen im Verfassungsausschuß und in der Nationalversammlung

40

a) Die Diskussion um das Verfassungsrechtsgut Ehe

40

b) Das Verhältnis der Ehe zu anderen Lebensgemeinschaften

42

2. Stellungnahmen der Literatur II. Art. 6GG

44 45

1. Stellungnahmen des Grundsatzausschusses

45

2. Erörterungen im Parlamentarischen Hauptausschuß

47

III. Die Wesenselemente der Ehe im Sinne des Art. 6 I GG

49

1. Monogame und heterosexuelle Verbindung

50

2. Lebenslange Bindung

50

3. Beiderseitiger Konsens

51

4. Freier Zugang zur Ehe

51

5. Öffentlichkeit der Ehe

51

6. Lebensgemeinschaft

52

C. Der Tatbestand der nichtehelichen Lebensgemeinschaft I.

39

52

Soziologische und rechtstatsächliche Grundlagen

52

1. Verbreitung

52

2. Motivation

53

3. Behandlung der eheähnlichen Gemeinschaft durch Gesetzgebung und Rechtsprechung

55

II. Terminologie

56

III. Definition

57

1. Schwierigkeiten und Notwendigkeit einer Definition

57

2. Relativität einer Definition

58

3. Wesentliche Merkmale für das Vorliegen einer eheähnlichen Gemeinschaft

59

a) Vorüberlegung

59

b) Bestimmung der Linzcimcrkmale

60

aa) Monogame Verbindung zweier Menschen

60

Inhaltsverzeichnis

bb) Besondere emotionale Verbindung

61

cc) Wohn- und Wirtschaftsgemeinschaft

61

dd) Dauer

63

4. Das Beweisproblem

63

5. Fazit

65

IV. Verfassungsrechtlicher Schutz

65

1. Art. 6 I GG

66

a) Die eheähnliche Gemeinschaft als Schutzgut des Art. 6 I GG?

66

b) Grenzen des Verfassungswandels

66

c) Anwendung auf Art. 6 I GG

68

d) Die nichteheliche Lebensgemeinschaft als Schutzobjekt der negativen Seite des Art. 6IGG?

70

2. Art. 2 I GG

71

3. Art. 3 IGG

74

D. Zwischenbilanz

74

Zweiter Teil

Grundrechtsbezogene Analyse der Rechtsprechung

77

A. Einführung

78

B. Die beteiligten Grundrechte

80

I.

Art. 6 IGG

80

1. Abwehrrecht

80

a) Inhalt und Bedeutung

80

b) Das Schrankenproblem

81

2. Institutsgarantie

84

3. Wertentscheidende Grundsatznorm

85

II. Art. 3 IGG

86

10

Inhaltsverzeichnis

1. Bedeutung und rechtliche Wirkung

86

2. Die Struktur der Gleichheitsprüfung

87

a) Feststellung von Vergleichsgruppen und -merkmalen

88

b) Maßstab der Gleichheitskontrolle

89

aa) Entwicklung der Rechtsprechung

90

bb) Tendenz in der Literatur zu einer intensiveren Gleichheitskontrolle

91

C. Methodische Vorüberlegungen I.

Grundrechtskollisionen

94

1. Kollisionsvermeidung durch Schutzbereichsbestimmung

94

2. Entscheidungskriterien bei erkannten Kollisionen

95

a) Rangordnung der Grundrechte?

95

b) Situationsabhängige Kollisionslösung

96

II. Grundrechtskonkurrenzen 1. Lösungswege

97 97

a) Konkurrenzvermeidende Schutzbereichsbestimmung

97

b) Abstrakte Spezialität

98

c) Grundrechtliche Teilkongruenz

99

aa) Konkrete Spezialität bb) Idealkonkurrenz 2. Probleme bei Feststellung und Folgen der Grundrechtskonkurrenz

D. Gruppenbildung nach grundrechtlichem Maßstab I.

93

99 100 100

101

Art. 6 I GG als spezielles Diskriminierungsverbot

102

1. Voraussetzungen des Vorrangs von Art. 6 I GG

102

2. Verlagerung von Art. 6 I GG auf die Gleichheitsebene

105

a) Neue Wirkungsrichtung

105

b) Erweiterung der Grundrechtswirkungen

105

aa) Grundrechte als (originäre) Leistungsrechte

107

bb) Art. 6 I GG als (derivatives) Teilhaberecht

108

c) Rechtsfolgen des Grundrechtsverstoßes

110

Inhaltsverzeichnis 3. Zur Grundrechtsfunktion von Art. 6 I GG

11 111

a) Art. 6 I GG als objektive Wertentscheidung

111

b) Grundrechte als objektive Wertentscheidungen

112

aa) Begründung und Entwicklung nicht-subjektiver Grundrechtsgehalte

112

(1) Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts

112

(2) Anknüpfung an Überlegungen vor 1949

113

bb) Wirkungen der Grundrechte als objektive Grundrechtsnormen

115

cc) Gemeinsamkeiten der objektiv-rechtlichen Grundrechtsgehalte

116

c) Einordnung von Art. 6 I GG in das System objektiver Grundrechtsgehalte aa) Mögliche Gründe für die Objektivierung

118 118

(1) Der "besondere Schutz der staatlichen Ordnung"

119

(2) Die Ausstrahlungswirkung

120

(3) Das Teilhaberecht

121

(4) Das Verbot relativer Schlechterstellung

121

bb) Die besondere Schutzintensität des objektiv-rechtlich verwendeten Art. 6 IGG II. Der Prüfungsverbund Art. 3 I i. V. m. Art. 6 I GG

123 124

1. Anwendungsbereich

124

2. Besonderheiten

126

a) Das Zusammenwirken von Art. 3 I GG und anderen grundrechtlichen Gewährleistungen im allgemeinen

126

aa) Prüfung von Freiheitsrechten im Rahmen von Art. 3 I GG

127

bb) Prüfung von Art. 6 V im Rahmen von Art. 3 I GG

128

b) Das Zusammenwirken von Art. 3 I i. V. m. Art. 6 I GG im besonderen

129

aa) Widerstreitende Rechtspositionen

129

bb) Stärkere sachliche Beziehung von Art. 3 I GG zum Prüfungsgegenstand

130

III. Art. 3 I GG als alleiniger Prüfungsmaßstab

132

E. Die Rechtsprechung aus rechtsmethodischer Sicht

133

I.

Art. 3 I und Art. 6 I GG als voneinander unabhängige Grundrechte

133

II. Partielle Tatbestandskongruenz zwischen Art. 3 I und Art. 6 I GG

134

12

Inhaltsverzeichnis

F. Problematisierung der Rechtsprechung I.

Inhaltliche Unklarheiten im Verhältnis von Art. 3 I zu Art. 6 I GG

136 136

1. Probleme bei der Feststellung der Voraussetzungen für den Vorrang von Art. 6 I GG

136

a) Abgrenzung zwischen Subjekt- und Objektsteuer in den steuerrechtlichen Judikaten

137

b) Widersprüchlichkeit bei den maklerrechtlichen Entscheidungen

138

c) Nichtanwendung der entwickelten Grundsätze im Sozialrecht

140

2. Ungeklärte Fragen beim Prüfungsverbund Art. 3 I i. V. m. Art. 6 I GG

140

3. Verkennung der Wirkung der objektiven Grundrechtsfunktion

141

II. Rechtsmethodische Kritik

143

III. Grundrechtliche Funktionsproblematik

144

1. Ableitung von Rechtsfolgen aus Werten

145

a) Fehlende Präzisierung des Wertbegriffs

145

b) Minderheit, Kompetenzordnung und Wertordnung

148

2. Verfassungsprozeßrechtliche Aspekte

150

a) Die Verfassungsbeschwerde als individuelles Rechtsschutzverfahren mit objektiver Funktion b) Art. 6 I GG als objektives Recht in einem subjektiven Rechtsschutzverfahren

150 151

aa) Resubjektivierung von Art. 6 I GG?

152

bb) Erweiterung von Art. 6 I GG auf Nichtgrundrechtsträger?

153

(1) Brückenfunktion von Art. 2 I GG in der Rechtsprechung

154

(2) Brückenfunktion des Art. 3 I GG?

155

G. Zwischenbilanz I. Zusammenfassung 1. Grundrechtskonkurrenz zwischen Art. 3 I und Art. 6 I GG

157 157 157

2. Art. 6 I GG als besonderes Diskriminierungsverbot und objektive Wertentscheidung .158 3. Der Prüfungsverbund Art. 3 I i. V. m. Art. 6 I GG

158

4. Problematische Aspekte

159

II. Konsequenzen für den Fortgang der Untersuchung

160

Inhaltsverzeichnis

1. Freiheit und Wert der Ehe

160

a) Die Gefahr der Polarisierung durch Wertsetzung

160

b) "Wertewandel" durch Freiheit

161

2. Der Primat der Abwehrfunktion

163

a) Freiheitsverständnis und Grundrechtsprüfung

163

b) Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts

167

3. Fazit

168

Dritter

Teil

Die eheähnliche Gemeinschaft im grundrechtlichen Spannungsfeld 171

A. Freiheit und Gleichheit I.

Divergenzen

171 172

II. Konvergenzen

173

III. Das "richtige Maß"

174

B. Freiheit und Gleichheit im Grundrechtsabschnitt I.

178

Der Schutzbereich der Freiheitsrechte als Ausgangspunkt für Gleichheit und Ungleichheit

180

1. Differenzierung nach Grundrechtsberechtigten

180

2. Differenzierung im sachlichen Schutzbereich der Grundrechte

180

3. Differenzierungsverbote als Folge der Bereitstellung eines Schutzbereichs

181

4. Art. 2 I GG als Auffangschutzbereich ungleicher Freiheit

181

II. Die Ebene der Eingriffsrechtfertigung

182

1. Grundrechtsschranken

182

2. Schranken-Schranken

184

a) Freiheit, Gleichheit und Verhältnismäßigkeit

184

aa) Der Anwendungsbereich des Grundsatzes derVerhältnismäßigkeit

184

bb) Die Teilinhalte des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit

186

(1) Geeignetheit

186

14

Inhaltsverzeichnis

(2) Erforderlichkeit

187

(3) Verhältnismäßigkeit i. e. S

188

cc) Argumentative Überschneidungen im Bereich von Gleichheits- und Verhältnismäßigkeitsprüfung dd) Bewertung b) Freiheit, Gleichheit und Art. 191 1 GG aa) Die freiheitssichernde Funktion des Art. 19 1 1 GG bb) Art. 191 1 GG als Konkretisierung des Gleichheitsgebots

191 192 195 196 197

cc) Antagonismen beim Verhältnis von Freiheit, Gleichheit und allgemeinem Gesetz dd) Bewertung III. Bedeutung der Strukturunterschiede zwischen Freiheits- und Gleichheitsrecht für die Diskriminierungsproblematik C. Das Verhältnis von Freiheit und Gleichheit in Art. 6 GG I.

198 200 202 207

Art. 6 I GG als janusköpfiges subjektives Recht?

208

1. Bedeutung und Inhalt besonderer Gleichheitssätze

209

2. Das Verhältnis von Art. 4 I zu Art. 3 III GG

210

3. Anwendung auf Art. 6 I GG

212

4. Gleichheitswidrige Differenzierung als Eingriff in Art. 6 I GG?

215

II. Die Bedeutung von Art. 6 V GG für die Rechtsstellung der nichtehelichen Lebensgemeinschaft

216

1. Das Verhältnis von Art. 6 V zu Art. 6 I GG

216

2. Art. 611 1 GG

218

a) Struktur und Inhalt

219

b) Das elterliche Sorgerecht in der nichtehelichen Lebensgemeinschaft

219

aa) Ältere Literaturstimmen

220

bb) Entwicklung der Rechtsprechung

220

cc) Der momentane Stand der Diskussion

222

dd) Einordnung der Problematik

223

3. Bewertung

226

Inhaltsverzeichnis

a) Das Verhältnis von Art. 6 I zu Art. 6 V GG als Ausdruck der Spannung zwischen Freiheit und Gleichheit

226

b) Die nichteheliche Lebensgemeinschaft mit Kindern als Familie?

226

c) Das Problem der "Verrechtlichung"

228

d) Das "richtige Maß"

229

D. Die Struktur der Diskriminierungsprüfung I. Zusammenstellung der bisherigen Erkenntnisse

232 232

1. Bewältigung der Diskriminierungsproblematik mit der subjektiv-rechtlichen Seite der Grundrechte 2. Trennung von Art. 3 I und Art. 6 I GG in der Grundrechtsprüfung

232 234

II. Anwendung des vorgeschlagenen Prüfungsprogramms auf Diskriminierungsentscheidungen des Bundesverfassungsgerichts 1. Art. 6 IGG a) Schutzbereich aa) Ehe

236 237 237 237

bb) Exkurs: Diskriminierungsentscheidungen, in denen bereits der Schutzbereich nicht berührt ist b) Eingriff

238

aa) Grundrechtsrelevante Belastung

238

bb) Ausgestaltung oder Eingriff

239

(1) Abgrenzungsmöglichkeiten

239

(2) Anwendung aufBVerfGE 78, 128

241

c) Verfassungsrechtliche Rechtfertigung 2. Art. 3 IGG

243 243

a) Bildung von Vergleichsgruppen

243

b) Ungleichbehandlung

244

E. Der verfassungsrechtliche Rahmen I.

237

244

Inhaltliche Kriterien für die Gleich- und Ungleichbehandlung von Ehe und eheähnlicher Gemeinschaft

245

16

Inhaltsverzeichnis

1. Maßgebliche Faktoren: Die anzuwendende Norm und die Binnenstruktur der nichtehelichen Lebensgemeinschaft 2. Abstufung

245 246

a) Normen, die den rechtlichen Rahmen der Ehe voraussetzen

246

b) Die besondere emotionale Verbindung zweier Menschen als Normzweck

246

c) Normen, die eine besondere wirtschaftliche Verbindung und Abhängigkeit fordern, ohne die Organisationsstruktur der Ehe zwingend vorauszusetzen

247

II. Projektion der Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen Ehe und nichtehelicher Lebensgemeinschaft auf die beteiligten Grundrechte

F. Auswirkungen auf der einfach-rechtlichen Ebene I.

248

250

Allgemeiner Teil: Methodisches Vorgehen

251

1. Auslegung und Analogie

251

2. Begriff und verfassungsrechtliche Grenzen der Analogie

252

3. Das Verfahren der Analogie

254

4. Analogie und nichteheliche Lebensgemeinschaft

256

II. Besonderer Teil

257

1. § 137 IIa AFG

258

a) Bedeutung

258

b) Vorgeschichte

259

c) Verfassungsrechtliche Prüfung

260

aa) Art. 3 IGG

261

(1) Ermittlung der Vergleichsgruppen

261

(a) Vorüberlegung

261

(b) Die Wesentlichkeit von Unterhaltspflicht und Unterhaltsleistungen

263

(aa) $ 844 II BGB

264

(bb) §§ 850c I 2, 850fl ZPO

265

(cc) Die steuerrechtliche Behandlung der eheähnlichen Gemeinschaft im Zusammenhang mit der sozialrechtlichen Bedürftigkeitsprüfung (dd) Bewertung (2) § 137 IIa AFG und Systcmgerechtigkeit

266 268 270

Inhaltsverzeichnis (3) Lösungsmöglichkeiten

17 271

(a) Individuelle Bedürftigkeitsprüfung

271

(b) Verzicht auf die Bedürftigkeitsprüfung

273

bb) Art. 2 IGG ( 1 ) Schutzbereich

274 274

(2) Eingriff

274

(3) Verfassungsrechtliche Rechtfertigung

275

2. $ 1362 BGB

275

a) Bedeutung

275

b) Verfassungsrechtliche Prüfung

276

aa) Art. 6 IGG ( 1 ) Schutzbereich (2) Eingriff

276 276 276

(a) Grundrechtsrelevante Belastung

276

(b) Ausgestaltung oder Eingriff

276

bb) Art. 3 IGG

277

(1 ) Ermittlung der Vergleichsgruppen

277

(2) Konsequenzen

279

c) Bundesverfassungsgericht und $ 1362 BGB 3. § 2265 BGB

282 282

a) Bedeutung

282

b) Verfassungsrechtliche Prüfung

283

4. § 258 VI StGB

284

a) Bedeutung

284

b) Verfassungsrechtliche Prüfung

285

aa) Art. 3 I GG

285

bb) Art. 6 IGG

287

5. § 181 I 1. Alt. ZPO a) Bedeutung

288

b) Verfassungsrechtliche Prüfung

289

aa) Art. 3 IGG

2 Kingreen

288

289

18

Inhaltsverzeichnis

bb) Art. 2 I GG

292

c) Fazit

292

Vierter

Teil

Schlußbetrachtung

293

A. Zusammenfassende Thesen

293

B. Ausblick

299

I.

Die Diskussion in der Gemeinsamen Verlasslingskommission

300

II. Bewertung

301

Literaturverzeichnis

304

Einleitung

Mit Literatur über die nichteheliche Lebensgemeinschaft können mittlerweile bequem alle Bücherregale im Büro eines durchschnittlich ausgestatteten Universitätsprofessors gefüllt werden. Dies gilt zumindest dann, wenn man dem noch die Sammlung der unzähligen Gerichtsentscheidungen zu dieser Lebensform hinzufügen würde. Diese in den letzten 20 Jahren zu beobachtende Inflation ist leicht erklärt: Mit der Zahl der in nichtehelicher Lebensgemeinschaft Zusammenlebenden wuchs auch die Zahl derjenigen, die sich mit dieser Form der Partnerschaft wissenschaftlich aueinandersetzten. Für den Juristen hat dies einen ganz besonderen Reiz: Die nichteheliche Verbindung bedeutet nämlich den Verzicht auf den vom Recht angebotenen Rahmen für das auf Dauer angelegte Zusammenleben zwischen Frau und Mann, das Eherecht. Er steht vor der Frage, wie er auf diese besondere Form "privater Entregelung" 1 reagieren soll. Daß er sie nicht völlig unbeteiligt als Partnerschaft im rechtsfreien Raum behandeln kann, dürfte unstrittig sein, zumal es mitunter durchaus Ähnlichkeiten mit der Ehe gibt. Gerade im Fall der Trennung und der vermögensmäßigen Auseinandersetzung der Gemeinschaft besteht schon im Interesse des Schutzes des Schwächeren2 das Bedürfnis nach einer angemessenen rechtlichen Behandlung - sei es durch Anwendung des geltenden oder durch Schaffung neuen Rechts.3 Die Lösung dieser Problematik ist allerdings weder Motiv noch Gegenstand dieser Arbeit. Sie will auch nicht die rechtliche Stellung der eheähnlichen Ge-

1

Jost JbRSoz 9 ( 1983), 124/124.

2

Dies ist nach von Münch, Nichteheliche Lebensgemeinschaft, S. 151; Giesen, Rdnr. 460 und Zippelius DÖV 1986, 805/809 der entscheidende Grund dafür, daß auch die eheähnliche Gemeinschaft Schutz durch das Recht benötigt. 3

(Lit). 2*

Umfassende Problemzusammenstellung zum Vermögensausgleich ζ. B. bei Hausmann

20

Einleitung

meinschaft in einzelnen Rechtsgebieten untersuchen.4 Ursprünglich sollte sie sich sogar gar nicht mit der nichtehelichen Lebensgemeinschaft beschäftigen, sondern wollte allein die recht verwirrende Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zum Verhältnis von Art. 3 I zu Art. 6 I GG analysieren. Dies bleibt ein zentrales Anliegen der Untersuchung. Schon bald stellte sich aber heraus, daß sich die grundrechtsdogmatische Analyse nicht von den hinter den Judikaten stehenden Inhalten trennen läßt, sondern erst durch diese verständlich und lebendig wird. Die Bedeutung eines transparenten und widerspruchsfreien Prüfungsprogramms erschließt sich eben erst durch den Blick auf die inhaltlichen Konsequenzen. In den besagten Entscheidungen hatte sich das Bundesverfassungsgericht regelmäßig mit der Frage auseinanderzusetzen, ob Eheleute gegenüber Ledigen, nichtehelichen Lebensgemeinschaften oder auch anderen Eheleuten durch hoheitliche, meist legislative, Akte benachteiligt wurden. Da sich Grundrechtsverletzungen dabei ausschließlich erst durch einen Vergleich zwischen der Ehe und der Nichtehe (bzw. anderen Ehen) ergeben, ist das dortige Grundrechtsverständnis naturgemäß auch für die Stellung der eheähnlichen Gemeinschaft von höchstem Interesse. Hier setzt die Arbeit an, und hier befindet sich der Schnittpunkt zweier nur auf den ersten Blick nicht zusammenhängender Problemkreise: Die Untersuchung der verfassungsrechtlichen Stellung der nichtehelichen Lebensgemeinschaft wird zeigen, wie wenig überzeugend die bisher verwendeten verfassungsrechtlichen Maßstäbe für den Schutz der Ehe sind und wie wenig sie den beiden verschiedenen Formen des durch eine einzigartige emotionale Verbindung gekennzeichneten Zusammenlebens zweier Menschen gerecht werden. Ziel dieser Untersuchung ist es also, einen klaren und widerspruchsfreien verfassungsrechtlichen Rahmen für die rechtliche Behandlung der nichtehelichen Lebensgemeinschaft zu entwickeln. Dies soll in mehreren Schritten geschehen, wobei jede Station der Arbeit durch die Erkenntnis geprägt wird, daß die Stellung der nichtehelichen Lebensgemeinschaft und die Einstellung zu ihr nur durch den Blick auf die Ehe verständlich wird: Seit es die Ehe gibt - das wird der erste Teil der Untersuchung zeigen - gibt es auch die Nichtehe, deren Stellung und Behandlung im Laufe der Geschichte immer davon abhing, wer sich zu ihrer Beurteilung berufen sah. Diese Retro4

Hierzu gibt es eine Fülle ausführlicher Untersuchungen, z. B. von Deutsch (Steuerrecht), Müller-Manger (Sozialrecht), Skwirblies (Straf- und Strafprozeßrecht) und Knoche (vor allem Zivilrecht); vgl. jeweils Lit.

Einleitung

spektive ist wichtig, um zu zeigen, daß die rechtliche Behandlung von Ehe und Nichtehe und dementsprechende wissenschaftliche Untersuchungen immer von einem bestimmten - christlichen oder anderen weltanschaulichen - Vorverständnis geprägt waren und in den durch die Rechtsordnung gesetzten Grenzen auch immer sein werden. Desweiteren wird es darum gehen, die Tatbestände der Ehe und der nichtehelichen Lebensgemeinschaft zu definieren; bei dieser erweist sich das gerade wegen des fehlenden rechtlichen Rahmens und ihrer Heterogenität als schwieriges Unterfangen. Wesentlich jünger als sie selbst ist der verfassungsrechtliche Schutz der Ehe und der nichtehelichen Lebensgemeinschaft; heute steht nach Art. 6 I GG die Ehe "unter dem besonderen Schutz der staatlichen Ordnung", während die eheähnliche Gemeinschaft nach der heute überwiegenden Ansicht unter Art. 2 I GG fällt. Auf diesem historischen und verfassungsrechtlichen Fundament aufbauend, wird im zweiten Teil die schon erwähnte Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zur Diskriminierung von Ehe und Familie - bezogen auf die dabei verwendeten Grundrechte Art. 3 I und Art. 6 I GG - analysiert; ein Vorhaben, das sich bei näherer Betrachtung als Tournée durch die Allgemeinen Grundrechtslehren erweist. Dabei wird sich zeigen, daß die im Vergleich zu anderen Freiheitsrechten einzigartige Behandlung von Art. 6 I GG und seine Verbindung mit Art. 3 I GG geeignet sind, bestehende Unterschiede und Gemeinsamkeiten zwischen Ehe und nichtehelicher Lebensgemeinschaft zu verschleiern. Daran orientiert sich der dritte Teil der Arbeit: Die Neubestimmung des Verhältnisses von Art. 3 I zu Art. 6 I GG soll Ausgangspunkt der Herausbildung des verfassungsrechtlichen Rahmens für die rechtliche Behandlung der nichtehelichen Lebensgemeinschaft sein. Dabei gilt es, sich zu vergegenwärtigen, daß es um das Konkurrenzverhältnis zwischen einem Gleichheits- und einem Freiheitsrecht geht - eine Konstellation, die bisher kaum untersucht wurde. Ihre Auflösung ist nur möglich, wenn die Struktur dieser beiden Arten von Grundrechten, aber auch das ambivalente Verhältnis zwischen Freiheit und Gleichheit im allgemeinen näher untersucht werden. Es ergibt sich ein subtiles Geflecht gegenseitiger Abhängigkeit einerseits und antinomischer Spannung andererseits - das gilt für das Verhältnis von Freiheit und Gleichheit im allgemeinen genauso wie für das Verhältnis von Freiheit und Gleichheit im Grundrechtsabschnitt und dabei besonders für die Beziehung Art. 3 I zu Art. 6 I und Art. 2 I GG. Daraus wird sich dann die vorgeschlagene Struktur der Diskriminierungsprüfung ergeben. Freilich ist davor zu warnen, sich von diesem Prüfungsprogramm ein Patentrezept für die Lösung der komplizierten Fragen im Zu-

22

Einleitung

sammenhang mit der eheähnlichen Gemeinschaft zu erhoffen. Es ermöglicht aber eine klarere Zuordnung und Gewichtung der bestehenden Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen Ehe und nichtehelicher Lebensgemeinschaft und macht diesen Konfliktlösungsvorgang insgesamt transparenter. Dies wird die abschließende exemplarische - anhand des Prüfungsprogramms vorgenommene - Untersuchung einfach-rechtlicher Normen zeigen.

Erster Teil

Geschichtliche und verfassungsrechtliche Grundlagen

A. Ehe und eheähnliches Zusammenleben in historischer Retrospektive Wer heute die Ehe mit anderen Formen menschlicher Zusammenschlüsse aus der Perspektive des Rechts vergleicht, tut gut daran, sich die historische Dimension der verschiedenen Tatbestände zu vergegenwärtigen. Die lebenslange Verbindung zweier Menschen ist für die dieses Bündnis Eingehenden, aber auch als ein die Gesellschaft stabilisierendes Subsystem von so zentraler Bedeutung, daß sie zu jeder Zeit auch die Wissenschaft beschäftigte. Die Entscheidung, eine Ehe einzugehen, wird bis heute beeinflußt durch unterschiedliche ideelle und religiöse, aber auch durch materielle Einflüsse. Sie gehört dem persönlichen Bereich an und ist daher Spiegelbild sich ständig ändernder individueller und gesellschaftlicher Anschauungen. Der nun folgende Rückblick wird zeigen, daß die heutige Eherechtsordnung kein willkürlicher Ordnungsrahmen ist, sondern Folge einer jahrhundertelangen Entwicklung. Freilich wird auch offenbar werden, daß die Ehe zu keiner Zeit die exklusive Verbindung zwischen Frau und Mann war. Neben dieser erst in neuerer Zeit auch rechtlich formalisierten Verbindung hat es immer - ganz unterschiedlich motiviert, zum Teil geduldet, oft aber verdammt - außereheliche Lebensgemeinschaften gegeben. Schon deshalb kann man sie nicht wie dies oft mit vorwurfsvollem Unterton geschieht1 - als vorübergehende, gar noch ideologisch motivierte 2 Modeerscheinung bezeichnen: Ehe wie eheähnliche Gemeinschaft haben ihre Geschichte. Die wichtigsten Wurzeln für das 1

Vgl. nur die unzähligen Veröffentlichungen von Boschs dem bekanntesten Kämpfer gegen nichteheliche Lebensgemeinschaften (zuletzt z. ß. in FamRZ 1991, Iff.). Einige seiner Äußerungen bewegen sich allerdings im Grenzbereich des noch Erträglichen. So meint er in FamRZ 1983, 273/273 (bezogen auf Homosexualität): "Abnormität, Dekadenz im Sexualbereich war in der Geschichte nicht ganz selten Vorbote totalen Zusammenbruchs eines Volkes." In FamRZ 1977, 321/321 nennt er die eheähnliche Gemeinschaft eine "dekadente Zeiterscheinung". 2 Dies behaupten Pawlowski/Deichfuß FuR 1991, 205/207 Fn. 27.

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Erster Teil: Geschichtliche und verfassungsrechtliche Grundlagen

Verständnis des geltenden Rechts sind das römische, das germanische und das durch die christlichen Religionen geprägte Recht.3

I. Das römische Recht /. Die römische

Ehe als soziales

Faktum

Das römische Ehe Verständnis ist spätestens seit dem Zwölftafelgesetz (451 449 v. Chr.) durch die Eheschließung solo consensu geprägt. 4. Es handelte sich um die überall im Altertum anzutreffende ursprüngliche Form der Ehe, die de facto-Ehe. 5 Für die Existenz der Ehe kam es nicht auf einen besonderen förmlichen Zusammenschluß oder auf bestimmte Eingehungszeremonien, sondern allein auf den Konsens der Eheleute an. Die Ehe wurde daher nicht so sehr als ein Rechtsverhältnis, sondern als sozialer Tatbestand angesehen.6 Wesentlicher Bestandteil dieses Konsenses war die affectio maritalis, also die Absicht und das Bewußtsein der beiden Gatten, daß ihre Gemeinschaft eine Ehe sei. Diesem außerrechtlichen Verständnis entsprechend war dieser Wille nicht rechtsgeschäftlicher Natur, sondern Ausdruck einer ehelichen Gesinnung, die während der Ehe und im gesamten Verhalten der Ehegatten immer wieder - auch vor Dritten - bestätigt wurde. Ihr Bewußtsein mußte sich auf eine lebenslängliche, monogamische, in häuslicher Gemeinschaft verwirklichte und auf die Zeugung von Nachkommen gerichtete Verbindung beziehen.7 Erforderlich war also ein Dauerkonsens, der nicht auf die eigentliche Eheschließung beschränkt war, sondern als wesentliche Wirksamkeitsvoraussetzung während der Ehe fortdauern mußte.8 Dies wirkte sich naturgemäß auch auf die Scheidung aus, die nicht rechtsgeschäftlicher, sondern nur privater Natur war: Als soziales Faktum standen ihr keine rechtlichen Regeln, wohl aber sittliche Bindungen entgegen.9 Der fehlende förmliche und damit nach außen erkennbare Charakter der römischen Ehe führte dazu, daß die Abgrenzung zu anderen auf Dauer angeleg-

von Münch, Ehe und eheähnliches Zusammenleben, S. 3. Zu Formen der Eheschließung im vorklassischen Recht Thomas, S. 18f. 5 Henrich, Familienrecht, S. 11. 6 Vorher dominierten die confarreatio, die sich nach einem umfangreichen Ritual mit sakralem Hintergrund vollzog, sowie die coemptio. die sich in der Übertragung der Gewalt über die Braut auf den Bräutigam äußerte: Zum ganzen Jörs/Kunkel/Wenger, S. 277 und von Münch, lilie und chcähnliches Zusammenleben, S. 3f. 7 Käser, S. 259; Thomas, S 21 H (ì rosse, S. 108: "kontinuative KonsensslrukUir". l) Henrich. Familienrecht. S. 11. 4

. E e und eheähnliches Zusammenleben in historischer Retrospektive

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ten Verbindungen nicht einfach war. Einige Abgrenzungsmöglichkeiten gab es dennoch:10 So konnte man dank der ständischen Gliederung der römischen Gesellschaftsordnung allein aufgrund der Herkunft der Partner feststellen, ob sie ehelich verbunden waren oder nicht. Es konnten nämlich nur die cives romani den Bund der Ehe (conubium) schließen." Nur diese Verbindung galt als matrimonium iustum. Anderen Verbindungen blieb nur der Weg in außereheliche Lebensgemeinschaften. Dies galt namentlich für Beziehungen zwischen Römern und Fremden sowie zwischen Freien und Sklaven.12 Immer half dieses objektive Kriterium aber auch nicht weiter. Zum einen dehnten die römischen Kaiser die Bürgerrechte immer weiter aus13 und zum anderen gab es auch zunehmend außereheliche Verbindungen zwischen Personen, die von Rechts wegen eine gültige Ehe hätten eingehen können.14 Hier konnte als subjektives Kriterium die affectio maritalis - das Kernstück des ehelichen Konsenses - zumindest dann Verwendung finden, wenn sie auch während des Bestehens der Ehe immer wieder vor Dritten bestätigt wurde. Im übrigen wurde die notwendige Publizität aber auch durch das Begehen von Hochzeitsfeierlichkeiten sowie durch die meist beurkundete Bestellung einer "dos" für das Bestehen einer Ehe (die Konkubine erhielt als "uxor gratuita" keine Mitgift) hergestellt. 15 Wo auch dies nicht weiterhalf, operierte man mit einer Vermutung: Wenn nicht das conubium fehlte, wurde der eheliche Konsens unterstellt, wenn es sich um eine Verbindung mit freigeborenen und ehrenhaften Frauen handelte.16

2. Die Entwicklung

der Rechtsstellung

nichtehelicher

Lebensgemeinschaften

Die Stellung außerehelicher Gemeinschaften war schon zu römischer Zeit von Schwankungen begleitet. Bis in die letzten Jahre der Republik, also etwa bis zum 1. Jh. v. Chr., wurden diese Verbindungen von der Rechtsordnung überhaupt nicht zur Kenntnis genommen.17 Das frühe römische Recht kannte den auch heute noch teilweise verwendeten Begriff Konkubinat nicht; vielmehr wurden alle auf Dauer angelegten Geschlechtsgemeinschaften, die nicht als

10 11 12 13 14 15 16 17

Zum folgenden vor allem Thomas, S. 22ff. Käser, S. 262f. Thomas, S. 22 f. Vgl. Jörs/Kunkel/Wenger, S. 273. Thomas, S. 23f. Thomas, S. 25. Thomas, aaö. Becker, Nichlchcliche Lebensgemeinschaft in der Rechtsgeschichte, S. 14f.

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Erster Teil: Geschichtliche und verfassungsrechtliche Grundlagen

matrimonium iustum anerkannt waren, als Pälikat bezeichnet.18 Eine Differenzierung erfolgte nicht; insbesondere war es gleichgültig, aus welchem Grund die Voraussetzungen der Ehe (ζ. B. gleiche Standes- oder Herkunftsverhältnisse, Ledigsein, Zeugungsfähigkeit) nicht erfüllt waren. 19 Erst in der zu Ende gehenden Republik machte sich ein begrifflicher Wandel bemerkbar: Als Pälikat wurde nur noch das die Frau entehrende Zusammenleben mit einem verheirateten Mann bezeichnet. Alle anderen nichtehelichen Gemeinschaften wurden als Konkubinat bezeichnet, das zumindest bis zur christlichen Kaiserzeit eine zunehmende gesellschaftliche und rechtliche Aufwertung erfuhr. Eine erstmalige gesetzliche Anerkennung erhielt es durch die große - sozialpolitisch motivierte - Eherechtsreform von Kaiser Augustus.20 Sie statuierte zahlreiche Eheverbote mit der Folge, daß viele Verbindungen nicht den Charakter einer Ehe annehmen konnten. Der sittliche Charakter der Ehe rückte zunehmend in den Vordergrund und viele außerhalb der Ehe bestehenden Verbindungen wurden als stuprum (^Unzucht) abqualifiziert. 21 Dies galt freilich nicht, wenn die Verbindung monogam war und erklärt wurde, daß das Konkubinat gewollt war: Die Quasi-Ehefrauen sollten schließlich nicht den Dirnen gleichgestellt werden! 22 Dem Konkubinat fehlten aber jegliche Ehewirkungen; so genoß weder die Konkubine den honor matrimonii noch waren daraus hervorgehende Kinder ehelich.23 Dennoch war die Tatsache, daß auch die Nichtehe gesetzlich zur Kenntnis genommen wurde, ein erster Schritt. Im Laufe der Zeit verlor das Konkubinat den ihm von Ausgustus verpaßten Makel und entwickelte sich zu einer zweiten Art der Ehe - wenn auch anderen, minderen Ranges. Selbst von den Kaisern Marc Aurel und Vespasian wird berichtet, daß sie nach dem Tod ihrer Gattinnen im Konkubinat gelebt haben sollen.24 Da es bei Fortfall bestimmter Ehehindernisse sogar ohne weiteres möglich war, ein Konkubinat ohne formalen Akt in eine Ehe umzuwandeln, war die Verwechslungsgefahr naturgemäß besonders groß; die Unterschiede zur Ehe waren insgesamt vergleichsweise

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Eingehend dazu Meyer, S. 7ff. Steffen, S. 12. 20 Dazu z. B. Grosse, S. 126ff. 21 Baumann, Konkubinat, S. 9; Becker, Nichteheliche Lebensgemeinschaft in der Rechtsgeschichte, S. 15. 22 Steffen, S. 13. 23 Becker, Nichteheliche Lebensgemeinschaft in der Rechtsgeschichte, S. 15. 24 Meyer, Konkubinat, S. 91. 19

A. Elie und eheähnliches Zusammenleben in historischer Retrospektive

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gering. Nach P. M. Meyer war es zu dieser Zeit eine "monogamische, dauernde Geschlechtsverbindung mit gesetzlich anerkanntem Namen." 25 Die Ausbreitung des Christentums beeinflußte auch das römische Eheverständnis.20 Unter dem Einfluß der noch jungen Kirche sah man während der christlichen Zeit außerehliche Verbindungen wieder zunehmend als verwerflich und unsittlich an. Hier tat sich insbesondere der - nach Angaben von Steffen selbst im Konkubinat geborene (!) 2 7 - Kaiser Konstantin hervor. Er versuchte, nachträgliche Eheschließungen in größerem Umfang zu ermöglichen und stattete die Konkubinate und die darin geborenen Kinder mit zahlreichen rechtlichen Nachteilen aus. Allerdings konnte der römische Staat, der immer noch die Bedeutung von Stand und Herkunft der Eheschließenden betonte, nicht am christlichen Eheverständnis vorbeigehen, das auch Ehen mit Angehörigen unterer Schichten erlaubte - eine für die Römer an sich undenkbare Vorstellung. 28 Da der Einfluß der Kirche allerdings noch nicht so groß war, daß sie allein das Eherecht zu bestimmen vermochte, wurde - quasi als Kompromiß - das Konkubinat unter Justinian (527 - 565 η. Chr.) wieder stärker ausgebaut und der Ehe angenähert, um auch den nach römischen Vorstellungen Nichtehefähigen eine Lebensform zu ermöglichen, die den sittlichen Grundsätzen des Christentums entsprach. 29 Sofern die Verbindung monogam und auf Dauer angelegt war, war das Konkubinat Anknüpfungspunkt besonderer Vermögens- und erbrechtlicher Regelungen, ohne daß allerdings eine völlige Gleichstellung erreicht worden wäre. Interessanterweise bewirkte also gerade die Kombination von römischem Standesdenken und christlichen Moralvorstellungen diese Annäherung.

II. Die germanische Rechtsentwicklung

Bevor auf den weiter wachsenden Einfluß der Kirche auf die staatliche Eherechtssetzung eingegangen wird, sei noch ein kurzer Blick auf die Entwicklung in den germanischen Nachfolgestaaten geworfen. Im germanischen Recht war die Einzelpersönlichkeit nicht sehr stark ausgeprägt; die Rechtsstellung des Einzelnen definierte sich vielmehr maßgeblich

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Meyer, aaO, S. 89. Baumann, Konkubinat, S. 13ff. Steffen, S. 14 bezieht sich - allerdings ohne Seitenangabe - auf Meyer, Konkubinat. Becker, Nichteheliche Lebensgemeinschaft in der Rechtsgeschichte, S. 16. Schott, S. 18.

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Erster Teil: Geschichtliche und verfassungsrechtliche Grundlagen

über seine Zugehörigkeit zu einer Sippe.30 Diese spielte daher auch bei der Eheschließung eine besondere Rolle; es war nicht wie im römischen Recht allein der Konsens der Eheleute entscheidend. Wie das römische Recht kannte auch die germanische Rechtsordnung allerdings nicht nur eine Form der Geschlechtsverbindung, sondern entwickelte neben der Ehe noch zwei weitere Formen außerehelicher Gemeinschaften. 31 /. Muntehe

Die in ihren rechtlichen Wirkungen vollkommenste Form der Ehe im ältesten Recht war die Muntehe.32 Die Eheschließung erfolgte durch einen Vertrag mit den sippen- oder familienrechtlichen Gewalthabern der Braut, die verpflichtet wurden, die munt (potestas) auf den Bräutigam zu übertragen. 33 Der Bräutigam hatte als Gegenleistung einen Muntschatz an die Sippe der Braut zu leisten, der in späterer Zeit als dos der Braut selbst zugute kam. 34 Auf der Seite des Bräutigams war es zunächst ebenfalls die Sippe, die den Vertrag abschloß; schon sehr bald muß jedoch dem Bräutigam selbst die entscheidende Rolle zugefallen sein, während sich die Mitwirkung der Verwandten auf die Zustimmung beschränkte. 35 Die Braut dagegen blieb nur Objekt des Vertrages, wenn auch anzunehmen ist, daß auf ihre Wünsche oft Rücksicht genommen wurde. 36 Die Eheschließung war also keine Privatsache, sondern immer eine Familienangelegenheit, diente sie doch oft dazu, reiche und hochadelige Familien zusammenzuführen und voll erbberechtigte Kinder, insbesondere Söhne, zu zeugen.37

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Vgl. ζ. B. Conrad, Rechtsgeschichte, S. 31 ff; Mikat in: HRG I, Sp. 810. Im einzelnen besteht hier allerdings in der Forschung Streit; vgl. die Nachweise bei Conrad, Rechtsgeschichte, S. 38. 32 Ogris in: HRG III, Sp. 757f; Mikat in: HRG I, Sp. 81 Off; Conrad, Rechtsgeschichte, S. 35ff. 33 Becker, Nichteheliche Lebensgemeinschaft in der Rechtsgeschichte, S. 19. 34 Becker, aaO. 35 Mikat in: HRG I, Sp. 81 Of. 36 Mikat, aaO, Sp. 811. 37 von Münch in: Limbach/Schwenzer, S. 6. 31

. E e und eheähnliches Zusammenleben in historischer Retrospektive

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2. Friedelehe

Neben dieser Form der Vollehe gab es noch eine zweite, nämlich die muntfreie Friedelehe 38, die zumindest in frühgermanischer Zeit ein gleichwertiger Ersatz für die Muntehe gewesen sein muß.39 Sie beruhte nicht auf einer sippenrechtlichen Vereinbarung, sondern kam allein durch den Konsens der Eheleute zustande. Zur Eheschließung waren allerdings offenkundige Handlungen wie die Heimführung der Braut und die Bestellung der Morgengabe erforderlich. 40 Die Friedelehe kam vor allem in Betracht, wenn der wirtschaftliche Hintergrund des Mannes die Leistung des Brautschatzes nicht erlaubte oder die Frau einem höheren Stande angehörte als der Mann. 41 Sie führte keine Standesgemeinschaft der Ehegatten herbei und war insgesamt durch eine stärkere Rechtsposition der Frau gekennzeichnet.42 Die Kinder aus solchen Verbindungen waren zwar ehelich, folgten aber im Erbrecht anders als bei der Muntehe der Mutter. 43 Die Friedelehe war damit zwar eine Ehe minderen Rechts, aber durchaus toleriert, weil sich hier in der Regel Menschen zusammenfanden, die eine Muntehe sowieso nicht eingehen konnten.

3. Kebsehe

Dritte Form des Zusammenlebens von Mann und Frau war in germanischer Zeit die Kebsehe.44 Formale Voraussetzungen kannte diese Form der Verbindung nicht. Sie entstand durch einseitige Verfügung des Mannes über seine Unfreie, wodurch eine dauerhaft angelegte Geschlechtsverbindung entstand.45 Obwohl es sich also um ein rechtloses und rein faktisches Verhältnis handelte, konnte es durch entsprechende Publizität eheähnliche Züge annehmen.46 Kinder aus solchen Verbindungen waren anders als bei der Friedelehe immer unehelich. Ansonsten war aber eine Abgrenzung zur Friedelehe nicht immer ganz

38 Friedel kann Braut, Geliebte, Gattin bedeuten: Becker, Nichteheliche Lebensgemeinschaft in der Rechtsgeschichte, S. 19 Fn. 31. 39 Meyer in: ZRG (Germ. Abt.) 47 (1927), 198/199. 40 Becker, Nichteheliche Lebensgemeinschaft in der Rechtsgeschichte, S. 19. 41 Becker, aaO; von Münch, Ehe und eheähnliches Zusammenleben, S. 6. 42 Mikat in: HRG I, Sp. 816. 43 von Münch, Ehe und eheähnliches Zusammenleben, S. 6f. 44 Kebse: Konkubine, Nebenfrau, Prostituierte; Becker, Nichteheliche Lebensgemeinschaft in der Rechtsgeschichte, S. 19. 45 Becker, Nichteheliche Lebensgemeinschaft in der Rechtsgeschichte, S. 20. 46 Mikat in: HRG I, Sp. 817f.

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Erster Teil: Geschichtliche und verfassungsrechtliche Grundlagen

einfach; möglicherweise ist sie auch gar nicht so genau vorgenommen worden wie es die Rechtsgeschichte heute tut. 47

4. Fazit

Wie die römische war also auch die germanische Vollehe kein Rechtsinstitut für jedermann. Häufig wurde sie aus politischen Gründen geschlossen; die besondere Zuneigung der Partner zueinander wird nicht immer unabdingbare Voraussetzung gewesen sein.48 Daraus erklärt sich auch der im Vergleich zu späteren Zeiten noch vergleichsweise unkomplizierte Umgang mit den Ersatzinstituten der Friedel- und der Kebsehe. Freilich gelangte das germanische Eheschließungsrecht ebenso wie das römische zunehmend unter kirchlichen Einfluß. Wenn sich auch zunächst keine spezifisch kirchlichen Eheschließungsformen entwickelten und das Zusammenleben von Unfreien anfangs noch als matrimonium akzeptiert wurde, 49 bekam das Zusammenleben von Mann und Frau außerhalb der Muntehe doch zunehmend unter den Druck, mit einem sittlichen Makel behaftet zu sein. Dies wird der nächste Abschnitt über den Einfluß der christlichen Kirchen und dabei natürlich zunächst der katholischen zeigen.

I I I . Der Einfluß der christlichen Kirchen

Im folgenden wird vor allem auf das kanonische Eherecht einzugehen sein, das unter den christlichen römischen Kaisern bereits an Einfluß auf die Gesetzgebung gewann und im frühen Mittelalter mit der Christianisierung auch nach Mitteleuropa vordrang. Die Bedeutung des im Zuge der Reformation aufkommenden Protestantismus war insgesamt geringer, weil er nie ein eigenes einheitliches Kirchenrecht entwickelt hat.

1. Kanonisches

Eherecht

Für die römisch-katholische Kirche ist die eheliche Gemeinschaft Teil der gottgesetzten Schöpfungsordnung; sie gehört zu den sieben Sakramenten.50 Da sich die Kirche seit ihren Anfängen berufen sah, ihren Mitgliedern in allen 47 48 49 50

Becker, Nichteheliche Lebensgemeinschaft in der Rechtsgeschichte, S. 20. von Münch, Ehe und eheähnliches Zusammenleben, S. 7. Becker, Nichteheliches Zusammenleben in der Rechtsgeschichte, S. 21. Dazu Knecht, S. 63IT; MosieX S. 37ff.

. E e und eheähnliches Zusammenleben in historischer Retrospektive

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Lebenslagen helfend und richtungsweisend zur Seite zu stehen, war gerade das Eherecht schon früh kirchlicher Einflußnahme unterworfen. Dabei muß man sich allerdings vergegenwärtigen, daß die Kirche an ein bereits vorgefundenes Rechtsinstitut anknüpfte und daher zu Beginn auch jedem Volk, zunächst den Römern, später den Germanen, ihr eigenes Eherecht zu belassen suchte. Gleichwohl versuchte sie, dieses Eherecht mit christlichen Wertvorstellungen anzureichern, was zu einem schleichenden Prozeß der Ablösung des staatlichen durch das kirchliche Eherecht führte. 51 So übernahm das kanonische Recht zwar das römische Konsensprinzip; die ständische römische Gesellschaftsordnung, die Ehen nur zwischen Gleichen zuließ, war ihr allerdings fremd. Nach kirchlicher Vorstellung spendeten sich die Eheleute das Sakrament der Ehe selbst. Ihr Konsens, ihre affectio maritalis, war entscheidend, so daß zunächst auch die priesterliche Mitwirkung zwar als heilsbringend gepriesen, aber nicht als konstitutiv für den Eheschluß angesehen wurde. 52 a) Die Einstellung der jungen Kirche zum Konkubinat Das Nebeneinander von staatlichen und kirchlichen Vorstellungen führte dazu, daß Verbindungen, die nach römischem oder germanischem Recht keine Ehe waren, nach kirchlichen Vorstellungen als solche behandelt wurden. 53 Daraus erklärt sich auch die Einstellung der jungen Kirche zum Konkubinat: Da jede intime Verbindung mit Ehewillen die Voraussetzungen der Ehe erfüllte, konnten nicht diejenigen Formen monogamen und auf Dauer angelegten Zusammenlebens nur deshalb verdammt werden, weil der weltliche Gesetzgeber ihnen die Anerkennung als Ehe versagte.54 Folgerichtig erklärte das Konzil von Toledo im Jahre 400 n. Chr. das Konkubinat auch ausdrücklich für erlaubt, nicht ohne allerdings immer wieder Wert auf seinen monogamen und dauerhaften Charakter zu legen.55 Für die Kirche gab es zu dieser Zeit also zwar nur eine zulässige Art der Geschlechtsverbindung, die sakramentale Ehe. Dennoch bekämpfte sie das ebenso wie die Ehe vorgefundene Konkubinat nicht von Anfang an, sondern versuchte,

51 52 53 54 55

Vgl. Thomas, S. 25ff; Steffen, S. 15ff. Grandpierre, S. 3; Thomas, S. 26Γ. Freisen, S. 68. Thomas, S. 28. Meyer, Konkubinat, S. 163.

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Erster Teil: Geschichtliche und verfassungsrechtliche Grundlagen

möglichst viele dieser Verbindungen zu Ehen zu erklären. Als ab dem 10. Jahrhundert das Eherecht immer stärker unter kirchlichen Einfluß geriet, 56 gelang dies auch zunehmend und das Konkubinat mußte seine Existenzberechtigung als Ersatzinstitut verlieren, weil es nun keine auf Stand oder Herkunft beruhenden Eheverbote mehr gab, die das nichteheliche Zusammenleben gerechtfertigt hätten. b) Die Zunahme kirchlichen Einflusses; insbesondere: das Tridentiner Konzil Erst als im 12./13. Jahrhundert das Eherecht gänzlich im Sinne der Kirche umgestaltet wurde, begann ihr eigentlicher, bis heute nicht beendeter Kampf gegen außereheliche Geschlechtsverbindungen. Das zunächst nur für Kleriker geltende Konkubinatsverbot wurde auf Laien ausgedehnt. Da es beim Konsensprinzip blieb, geriet die Kirche allerdings in einen unauflöslichen Zwiespalt. Durch die alleinige Anknüpfung an die gegenseitige Zustimmung der Partner heirateten zahlreiche Paare, ohne zuvor den kirchlichen Segen erhalten zu haben; heimliche Ehen wurden zu einem Problem. 57 Einerseits sollte allein der Konsens entscheidend sein, andererseits wollte die Kirche jede Ehe in ihrem Sinne absegnen. Zunächst folgten nur zaghafte Versuche, Wirkungen für die Öffentlichkeit zu erzielen. So führte das 4. Laterankonzil von 1215 gewisse Formalien in Gestalt von Aufgebotsverfahren und priesterlicher Mitwirkungspflicht ein, doch wagte es auch die spätmittelalterliche Kirche nicht, in der Beteiligung des Priesters ein konstitutives Erfordernis zu sehen.58 Einen wahren Meilenstein in dieser Entwicklung bedeutete das vom Tridentiner Konzil 1563 beschlossene Dekret "Tametsi" und die darin festgelegte öffentliche Form als Gültigkeitsvoraussetzung der Ehe: Die Mitwirkung des Pfarrers und zweier Zeugen war nun unabdingbar. 59 Theologisch war dieser Bruch mit einer jahrhundertelang währenden Tradition nur schwer begründbar; die Befürworter des Dekrets verlegten sich daher auch mehr auf die Staatsräson, die es gebiete, den klandestinen Ehen Einhalt zu gebieten. Sehr plastisch hat Schwab diesen Schritt beschrieben: "Unerhörtes galt es ins Werk zu setzen: Die Kirche des Mittelalters hatte mit Hilfe des göttlichen Rechts die Ehe von

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Dies hing auch damit zusammen, daß der Gegensatz zur germanischen Rechtsauffassung, die dem Willen der Ehepartner keinerlei Bedeutung zumaß, stärker empfunden wurde als zu römischer Zeit: Pirson in: Handbuch des Staatskirchenrechts Bd. I, S. 791. 57 Thomas, S. 32ff; Schwab FamRZ 1981, 1151/1153. 58 Grandpierre, S. 4; Schwab FamRZ 1981, 1151/1153. 59 Dazu Thomas, S. 35.

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einer familiären und in die Feudalstrukturen eingebetteten Angelegenheit zur Verbindung zweier Individuen erhoben. Alles menschliche Recht, die althergebrachten Vorstellungen und Sitten hatten dieser Idee weichen müssen. Nun aber sollte eben diese eheliche Verbindung, im Kern angesiedelt im göttlichen Natur- und Sakramentalrecht, den Zwecken einer irdischen Ordnungspolitik (Bekämpfung der aus heimlichen Ehen resultierenden sozialen Mißstände) unterworfen werden." 60 Die praktische Wirksamkeit des Dekrets war zunächst beschränkt, weil es in protestantischen Gebieten keine Geltung beanspruchte und auch in gemischtkonfessionellen Regionen nicht ohne weiteres durchsetzbar war. So gab es ein Durcheinander von veschiedenen Eheformen. 61 Dort, wo es galt, waren aber Konkubinate nunmehr leichter zu erkennen und es konnte mit Erfolg gegen sie eingeschritten werden. 62 Aber auch im übrigen setzte sich die Beurteilung des Konkubinats als verbrecherische und moralisch verwerfliche Verbindung durch. Anfangs wurde nur das Klerikerkonkubinat mit Strafe belegt, aber bereits vor dem Tridentiner Konzil hatte Papst Leo X 1517 diese Sanktion auch auf Laienkonkubinate ausgedehnt.63 Auch die Reichspolizeiverordnungen des 16. Jahrhunderts übernahmen diesen Straftatbestand. 64 Die Constitutio Criminalis Carolina von 1532 erwähnt das Konkubinat zwar nicht; zahlreiche örtliche Satzungen und Weistümer geben aber ein anschauliches Bild der Vorgehensweise der staatlichen Gewalt zu dieser Zeit. 65

c) Amtskirche und nichteheliches Zusammenleben am Ende des 20. Jahrhunderts Der kirchliche Einfluß wurde erst durch das Aufkommen aufklärerischen Denkens zurückgedrängt (dazu gleich); bis heute verfolgt die römisch-katholische Kirche das (gewiß legitime) Ziel, ihre Vorstellungen von der Ehe ihren Mitgliedern mit auf den Weg zu geben. Gerade ihre Aussagen zu den Fragen vorehelicher Sexualität haben ihr allerdings den berechtigten Vorwurf eingebracht, auch heute noch einem extrem antiquierten körper- und sexualitäts-

60 61

Schwab FamRZ 1981, 1151/1154. von Münch, Ehe und eheähnliches Zusammenleben, S. 8; Thomas, S. 36: Grandpierre,

S. 5f. 62 63 64 65

Löwenstein. S. 25. Steffen, S. 17. Löwenstein. S. 29f. Dazu Löwenstein, S. 20IT.

3 Kingreen

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Erster Teil: Geschichtliche und verfassungsrechtliche Grundlagen

feindlichem Denken verhaftet zu sein.66 Allerdings ist die Diskussion wesentlich breiter geworden und auch innerhalb der Kirche sind von der offiziellen Lehrmeinung abweichende Ansichten erkennbar 67 - wohl auch unter dem Druck massenhafter Austritte derjenigen, die die Äußerungen der Kirche in diesem für sie sehr wichtigen Bereich nicht auch noch durch ihre Steuergelder fördern wollen. Die Amtskirche freilich hindert dies nicht daran, sich immer wieder mit starken Worten mit den heutigen Formen nichtehelichen Zusammenlebens und insbesondere dem außerehelichen Geschlechtsverkehr auseinanderzusetzen.68

2. Protestantisches

Eheverständnis

Die Reformation erschütterte das bis dahin herrschende Eheverständnis. 69 Luther betrachtete die Ehe als "ein weltlich Ding", die in den Bereich der natürlichen Ordnung gehört. Ebenso wie Calvin, der die Ehe mit dem Ackerbau und anderen irdischen Tätigkeiten verglich, 70 leugnete er die Sakramentsnatur der Ehe, weil diese nicht von Jesus gestiftet sei und allein keine von Sünde und Schuld freimachende Gnade zu schenken vermöge. 71 In bewußter Ablehnung der kanonischen Ehelehren überließ er die Ausgestaltung des Eherechts der weltlichen Obrigkeit; dennoch gab die Reformation die Ehe als theologischen Gegenstand nicht etwa auf. Luther wurde vielmehr nicht müde, die Göttlichkeit der Ehe zu preisen und sie als Gottes Werk und Schöpfung hinzustellen. Mitunter nannte er sie auch einen "heiligen Orden und Stand" und fand darin in den Kreisen der Reformatoren breite Unterstützung. 72 Die so gepriesene Ehe sollte daher auch weiterhin in der Kirche eingesegnet werden. Diese zweite Seite der protestantischen Ehelehre bedeutet keinesfalls einen Widerspruch zur Qualifizierung der Ehe als weltliche Angegelegenheit - auch

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von Münch, Ehe und eheähnliches Zusammenleben, S. 7. Vorsichtige Ansätze beispielsweise bei Heller ThPQ 131 (1983), 46ff. Deutlicher - zum Teil allerdings auch mit schriller Polemik - Ranke-Heinemann (Lit.); vgl. auch Deschner (Lit.) und Pförtner (Lit.). 68 So nennt der neue Katechismus Liebe zwischen Unverheirateten "Unzucht, die im schweren Gegensatz zur menschlichen Würde" stehe; vgl. Franfurter Rundschau vom 16. 11. 1992, S. 2. Die jüngste päpstliche Enzyklika "Evangelium vitae" nennt die Empfängnisverhütung in einem Atemzug mit Abtreibung und Sterilisation und geißelt die darin zum Ausdruck kommende "Kultur des Todes"; vgl. Frankfurter Rundschau vom 31.3. 1995, S. I. 69 Dazu mit umfangreichen Quellen- und Literaturnachweisen Schild in: TRE IX, S. 336ff. 70 Nachweise bei Schwab, Grundlagen, S. 106. 71 Lüthi ThPQ 127 (1979), 33/34; Schild in TRE IX, S. 338. 72 Schwab, Grundlagen, S. 106. 67

Α. Ehe und eheähnliches Zusammenleben in historischer Retrospektive

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wenn Luther in der Folgezeit genau in diesem Sinne mißverstanden wurde. Luther verstand den Begriff des "Geistlichen" und des "Heiligen" nämlich nicht im Sinne der kanonischen Ehelehre als Termini rechtlicher Zuordnung. Für ihn kam es entscheidend auf die unmittelbare Glaubensbeziehung zwischen Gott und den Menschen an; die priesterliche Mitwirkung vermochte für ihn auch bei der Eheschließung allein keine Heiligkeit zu vermitteln. Diese konstituierte sich allein durch den Glauben des Handelnden, nicht aber durch einen äußerlichen Akt. Wenn Luther also vom geistlichen und heiligen Wesen der Ehe sprach, meinte er damit nicht ein rechtliches (durch priesterliche Mitwirkung geschaffenes) Gebilde, sondern er bezog sich auf das Innere des Menschen und damit auf eine Ebene, die die irdische Rechtsordnung nicht berührte. 73 Luther betonte die Göttlichkeit und Heiligkeit der Ehe im übrigen auch deshalb, weil er sich damit vom Verbot der Priesterehe und der damit seiner Ansicht nach verbundenen Abwertung der Ehe abgrenzen wollte. 74 Er reklamierte daher keine Allgemeinzuständigkeit der Kirche für das Eherecht, sondern sah seine Aufgabe darin, die der Ehe durch die Schöpfung gegebene Ordnung zu verbreiten und die Christen zu seiner Befolgung anzuhalten. Das Heilige und Göttliche der Ehe wird also nicht mit einer kompetentiellen Zuweisung an die Kirche verbunden; die Rechtsgewalt in Ehesachen steht allein der weltlichen Obrigkeit zu. 75 Freilich bedeutete die Säkularisierung des Eherechts keine größere Toleranz gegenüber außerehelichen Gemeinschaften; der bekannte Wahlspruch der Reformatoren "Post tenebras lux" blieb insoweit lange Zeit wirkungslos. So hat Luther in einer Abhandlung aus dem Jahre 1539 die Landesfürsten vor dem Eingehen eines solch "verderblichen Verhältnisses" gewarnt und sie ermahnt, dem Volke kein schlechtes Beispiel in dieser Hinsicht zu geben, da das Konkubinat die Sitten verderbe. 76 Die Reformatoren waren schließlich auch nicht angetreten, die Einzigartigkeit der Ehe in Frage zu stellen, sondern sie bestritten nur die Kompetenz kirchlicher Instanzen für das Eherecht. Die weltliche Obrigkeit freilich war maßgeblich durch kirchliche Vorstellungen geprägt und so änderte allein die Reformation an der Einstellung zu nichtehelichen Lebensgemeinschaften nichts. Oft erging sogar in einem Land unmittelbar nach Einführung der Reformation die erste Vorschrift gegen Konkubinate.77 73 Lüthi ThPQ 127 (1979), 33/35: Für Luther hat "das Handeln im Vitalbereich geistlichen Charakter, ist also auch die weltlich bestimmte Eheordnung von geistlichem Rang." 74 Schild in: TRE IX, S. 337f. 75 Schwab, Grundlagen, S. 108. 76 Nach Baumann, Konkubinat, S. 39. 77 Löwenstein, S. 28.

3*

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Erster Teil: Geschichtliche und verfassungsrechtliche Grundlagen

Wenn auch die protestantische Ehedoktrin in ihrer vergleichsweise kurzen Geschichte zwischenzeitlichen Wandlungen unterworfen war, die zu einer wieder stärkeren Betonung der kirchlichen Zuständigkeit führten, so ist doch das Eheverständnis von Luther prägend für heutige Stellungnahmen der evangelischen Kirche geblieben. So heißt es in einer Denkschrift der Evangelischen Kirche Deutschlands (EKD) aus dem Jahre 1970, daß die evangelischen Kirchen die Ehe "in Auslegung der biblischen Zeugnisse und in Treue zu den reformatorischen Bekenntnissen als die Verbindung der Geschlechter, die dem Willen Gottes entspricht", verstehen. 78 Dies bedeutet insbesondere die Akzeptanz der obligatorischen Zivilehe. Erst wenn das staatliche Recht die Ehe nicht mehr schütze oder sie ideologisch zu verfremden suche, müsse die Kirche dafür eintreten, daß der Staat seine Zuständigkeit nicht preisgebe; nur in äußersten Notfällen könne die Kirche gezwungen sein, für ihre Gläubigen rechtliche Regelungen zu treffen. 79 Die Einstellung zu nichtehelichen Lebensgemeinschaften hat sich freilich verändert. Anders als die katholische Kirche maßt sie es sich nicht an, solche Verbindungen pauschal zu veruteilen, sondern erkennt durchaus an, daß Paare aus bestimmten Gründen nicht heiraten. 80 Der Katechismus verweist darauf, daß die Ansichten innerhalb der Kirche geteilt sind, daß die Beurteilung aber ganz im Sinne des lutherischen Verständnisses dem einzelnen überlassen sein soll. 81 Betont wird allerdings die eindeutige Präferenz zugunsten der Ehe; hier trifft sie sich mit der katholischen Kirche, so daß es möglich war, 1981 eine gemeinsame Erklärung mit dem Titel "Ja zur Ehe" herauszugeben.82

IV. Weiterentwicklung bis zur Gegenwart J.Die Einführung

der obligatorischen

Zivilehe

Erst das Zeitalter der Aufklärung brachte wieder Bewegung in die Diskussion um das Eherecht und - wenn auch zögernd - um das Konkubinat. Die kirchliche

78 Aus: Die Denkschriften der Evangelischen Kirche in Deutschland, Bd. 3 (Ehe, Familie, Sexualität, Jugend), S. 53. 79 AaO, S. 54f. 80 Vgl. ζ. B. Stein in TRE IX, 355/357f. 81 Evangelischer Erwachsenenkatechismus, S. 544tT. 82 Wiedergegeben in FamRZ 1981. 1157f.

. E e und eheähnliches Zusammenleben in historischer Retrospektive

37

Autorität war durch die Reformation in Frage gestellt, und der staatliche Einfluß auf die Gesetzgebung stieg wieder, wobei sich viele Kritiker des kirchlich geprägten Eherechts auf das Wort von Luther von der Ehe als ein weltlich Ding beriefen. 83 Der Protestantismus hat daher gewiß eine bedeutende, wenn auch wahrscheinlich nicht die ausschlaggebende Rolle bei der Verweltlichung des Eherechts gespielt.84 Wichtiger dürfte die im 17. Jahrhundert aufblühende säkularisierte Naturrechtslehre gewesen sein,85 die den Menschen als vernünftiges Wesen und sein Handeln als frei anerkannte. 86 Sie löste sich aus den theologischen Begründungszusammenhängen und bewirkte eine Säkularisierung der Rechtsordnung. 87 Ihre Leitprinzipien, Vernunft und Freiheit, projizierte sie auch auf gesellschaftliche Institutionen und hatte so maßgeblichen Einfluß auf die revolutionären Umwälzungen in Frankreich und Amerika. Die Ehe wurde nicht mehr als geistliche oder kirchliche, sondern als bürgerliche Institution angesehen; in Titel II Art. 7 der französischen Verfassung von 1791 heißt es:" Das Gesetz betrachtet die Ehe nur als bürgerlichen Vertrag." Daß die kirchliche Trauung damit keine konstitutive Ehevoraussetzung mehr war, sondern Privatangelegenheit des Brautpaars, hob auch § 150 I der Frankfurter Reichsverfassung von 1849 hervor: "Die bürgerliche Gültigkeit der Ehe ist nur von der Vollziehung des Civilaktes abhängig; die kirchliche Trauung kann nur nach Vollziehung des Civilaktes stattfinden." Auf deutschem Boden war dies der Durchbruch zur Einführung der obligatorischen Zivilehe, wenn ihre Einführung in einigen Ländern auch noch auf sich warten ließ. 88 In Preußen wurden erst 1874/75 Personenstandsgesetze erlassen, die das Ergebnis des maßgeblich von Bismarck geführten sog. Kulturkampfes des bürgerlichen und kirchenfeindlichen Liberalismus und seiner Bemühung um Säkularisierung und Modernisierung von Staat und Gesellschaft sind. 89

83

Schwab, Grundlagen, S. 125f. Vgl. Dölle, S. 57; Schwab, Grundlagen, S. 126. Noch zurückhaltender Conrad in: Festschrift Lehmann, S. 113f. 85 Schwab, Grundlagen, S. 127. 86 Fichte, S. 7ff. 87 Näher Höffe, Sp. 303ft 88 Näher Conrad in: Festschrift Lehmann, S. 114ff. 89 Dazu ausführlich Huber, Verfassungsgeschichte, S. 645ff, 733f. 84

38

Erster Teil: Geschichtliche und verfassungsrechtliche Grundlagen

Die Zwangszivilehe ist in Deutschland also gerade einmal 100 Jahre alt; von der katholischen Kirche ist sie bis heute nicht akzeptiert. 90 Immerhin nimmt die säkularisierte Rechtsordnung in § 1588 BGB zur Kenntnis, daß die Ehe kirchliche Verpflichtungen erzeugen kann und das bürgerliche Eherecht die Christen nicht daran hindern will, kirchenrechtlichen Vorstellungen von der Ehe gemäß zu leben.91 2. Von der Verteufelung Einstellungen

zur gesellschaftlichen

zur nichtehelichen

Akzeptanz:

Gewandelte

Lebensgemeinschaft

Die Säkularisierung des Eherechts war nicht gleichbedeutend mit einem toleranteren Umgang gegenüber Konkubinaten. Zwar läßt die Romantik, die die wichtigste Basis einer Lebensgemeinschaft im innigsten Zusammenkommen von geistiger und sinnlicher Liebe sah, solche Tendenzen durchaus erkennen; die Institutionalität der Ehe wurde aber nicht in Frage gestellt.92 Die noch unter kirchlichem Einfluß zustandegekommenen Strafandrohungen blieben erhalten, und selbst im 19. Jahrhundert wurde die strafrechtliche Verfolgung des Konkubinats besonders in Süddeutschland auch weiterhin mit großem Eifer betrieben. So war noch in dem erst 1861 verabschiedeten bayerischen Polizeistrafgesetzbuch in Art. 95 festgelegt, daß "Personen, welche in fortgesetzter außerehelicher Geschlechtsverbindung zusammenleben, an Geld bis zu 25 Gulden und mit Arrest bis zu 8 Tagen zu bestrafen und zu trennen" seien.93 Aus manchen Polizeigesetzen wurde das Konkubinatsverbot erst in jüngster Zeit getilgt. 94 In der Wissenschaft wurden aber im Hinblick auf die Strafwürdigkeit des Konkubinats auch kritische Stimmen laut. Fichte bemerkte 1794, daß der Staat das Konkubinat nicht verbieten könne, solange "dem Weibe" keine Gewalt angetan werde, und auch der Begründer des bayerischen Strafgesetzbuches von 1813, Feuerbach, wollte von einer Bestrafung absehen, weil das Unmoralische nicht mit dem Rechtswidrigen verwechselt werden dürfe. 95 Im Jahre 1919 legte Löwenstein Reform Vorschläge vor, die möglichst ohne polizeiliches Ein-

90 91 92 93 94

95

Bosch, Staatliches und kirchliches Eherecht, S. 21 f. Schwab, Familienrecht, Rdnr. 23. Näher Koch, S. 41ff. Zitiert nach Löwenstein, S. 63. Vgl. Schott, S. 13.

Einzelheiten zur teilweise bereits früher einsetzenden wissenschaftlichen Kritik an der strafrechtlichen Verfolgung des Konkubinats bei Becker, Nichteheliche Lebensgemeinschaft in der Rechtsgeschichte, S. 30ff.

Β. Entwicklung des verfassungsrechtlichen Schutzes der Ehe

39

schreiten auskommen und die Konkubinate zumindest teilweise als Minderehen anerkennen wollten. 96 Der Weg zur gesellschaftlichen Anerkennung nichtehelicher Lebensgemeinschaften war freilich noch weit: Noch 1954 sah der Bundesgerichtshof das Dulden gemeinsamer, außerehelicher Übernachtung als strafbare Kuppelei an und begab sich zur Begründung ausgerechnet auch noch auf das ohnehin glatte Eis des Naturrechts. 97 Das Urteil ist ein interessantes Dokument über die intolerante Stimmungslage, die besonders in den 50er Jahren noch gegenüber nichtehelichen Lebensgemeinschaften herrschte. 98 Auf untergerichtlicher Ebene setzte sich die Reihe der verbalen Tiefschläge gegen die eheähnliche Gemeinschaft bis in die 70er Jahre dieses Jahrhunderts fort. So sah das Landgericht Köln in einer Entscheidung aus dem Jahre 1974 im Eingehen einer nichtehelichen Lebensgemeinschaft eine "Abkehr von der geltenden Rechts- und Gesellschaftsordnung." 99 Es bedurfte wohl erst prominenter Vorkämpfer wie Jean Paul Sartre und Simone de Beauvoir, 100 um die Akzeptanz dieser Verbindungen zu steigern. Wissenschaftliche Untersuchungen zeigen, daß der soziale Sanktionsdruck durch das Umfeld insgesamt abgenommen hat und die nichteheliche Lebensgemeinschaft mittlerweile ganz überwiegend als selbstverständliche Form menschlichen Zusammenlebens angesehen wird. 101 Heute ist es daher auch gelungen, nichteheliche Lebensgemeinschaften im wesentlichen zum Gegenstand einer sachlichen, auch juristischen Diskussion zu machen.

B. Entwicklung des verfassungsrechtlichen Schutzes der Ehe So alt der Begriff der Ehe ist - ihr Schutz durch staatliche Verfassungen hat kaum Tradition. Erst zum Ende des 19. Jahrhunderts finden sich in einzelnen erfassungen grundrechtliche Garantien der Ehe. 102 In Deutschland ist das

96

Löwenstein, S. 102ff. Bemerkenswert und kennzeichnend für die kontroverse Diskussion ist der ungewöhnliche Schritt des Herausgebers der Schrift von Löwenstein, P. Merkel, der diesem Ansinnen des Autors in einem vorangestellten Zusatz widerspricht. 97 BGHSt 6, 46/52ff. 98 Vgl. auch die Beratungen zu Art. 6 GG gleich unter Β. II. 99 LG Köln ZMR 1974, 141/142. Weiteres Material bei Jost JbRSoz 9 (1983), 124/129f. 100 Deren Liebesbeziehung dauerte bis zum Tode von Sartre über 50 Jahre, ohne daß sie geheiratet haben; lesenswert: Madsen (Lit.). 101 Dazu noch gleich unter C. I. 102 Scheffler, S. 247, verweist auf die Verfassungen von Costa Rica (1871) und El Salvador (1886).

40

Erster Teil: Geschichtliche und verfassungsrechtliche Grundlagen

Verfassungsrechtsgut Ehe gerade einmal 75 Jahre alt; es tauchte erstmals in Art. 119 1 WRV im Abschnitt "Das Gemeinschaftsleben" auf. Seit 1949 ist Art. 6 I GG sedes materiae. Die Entstehungsgeschichte beider Vorschriften ist für die weitere Untersuchung recht interessant, weil sie das Eheverständnis der ersten Hälfte dieses Jahrhunderts zu verdeutlichen vermag und auch heute noch die Auslegung des Art. 6 I GG beeinflußt.

I. Art. 119 1 W R V

Diese erste die Ehe schützende Verfassungsvorschrift lautete: "Die Ehe steht als Grundlage des Familienlebens und der Erhaltung und Vermehrung der Nation unter dem besonderen Schutz der Verfassung. Sie beruht auf der Gleichberechtigung beider Geschlechter."

Es folgten in den Art. 119 II, III - 122 WRV weitere Aussagen, die heute in Art. 6 GG beheimatet sind (Familie, Elternrecht, Mutterschutz). Auch die Rechtsstellung nichtehelicher Kinder fand besondere Erwähnung: "Den unehelichen Kindern sind durch die Gesetzgebung die gleichen Bedingungen für ihre leibliche, seelische und gesellschaftliche Entwicklung zu schaffen wie den ehelichen Kindern."

Die Bedeutung dieser Bestimmungen erschließt sich insbesondere durch die Lektüre der Beratungen der verfassunggebenden Nationalversammlung und des diese vorbereitenden Verfassungsausschusses sowie mit Hilfe einiger Literaturstimmen.

I. Beratungen

im Verfassungsausschuß

und in der

Nationalversammlung

a) Die Diskussion um das Verfassungsrechtsgut Ehe Die Idee, die Ehe unter verfassungsrechtlichen Schutz zu stellen, ist wohl im Unterausschuß des Verfassungsausschusses geboren, dessen Beratungen allerdings nicht protokolliert sind. 103 Der Unterausschuß schlug dem Verfassungsausschuß vor, den bisherigen Verfassungsentwurf des Staatsrechtlers und Innenministers Hugo Preuß wie folgt zu erweitern: "Die Ehe steht als Grundlage des deutschen Familienlebens und als Urquell der Erhaltung und Vermehrung der Nation unter dem besonderen Schutz der Verfassung." 103

Schwab in: l;estschrift Bosch, S. 895.

Β. Entwicklung des verfassungsrechtlichen Schutzes der Ehe

41

Interessanterweise gab der Verfassungsausschuß keine spezifisch politischen Begründungen für diese Erweiterung. 104 So begründete der Rechtshistoriker Beyerle, der später auch Berichterstatter in der Nationalversammlung war, die Gewährleistung der Ehe im Verfassungsausschuß mit einem Satz: "Es erschien vor allem mit Rücksicht auf den volkserzieherischen Wert der Grundrechte notwendig, auch die Ehe als Grundpfeiler des sozialen Lebens nicht ohne Erwähnung zu lassen."105 Der Abgeordnete Ablass (DDP) hielt die Verfassung ohne den Eheschutz für unvollständig, da man ja auch "andere nicht wichtigere Gebiete" 106 dort geregelt habe. Eine glühende Fürsprache für die heilige Ehe fehlte fast völlig; man kann der später in der Nationalversammlung getätigten Aussage der Zentrumsabgeordneten Neuhaus allerdings entnehmen, daß es nach den Verwerfungen des 1. Weltkriegs auch darum ging, die Bedeutung zwischenmenschlicher Beziehungen für den geistigen und wirtschaftlichen Neubeginn auch in der Verfassung zu betonen: "Wir wissen alle, wie verheerend die lange Kriegsdauer [...] in unserem Volke gewirkt hat innerhalb und außerhalb der Familie, und wenn wir überall heilend und wiederaufbauend wirken müssen, dann gewiß auf diesem unendlich wichtigen Gebiet der Festigung der Ehe.'" 07 Zwar regte sich im linken politischen Spektrum besonders während der Beratungen im Verfassungsausschuß einiger Widerstand gegen diese Verfassungsnorm; dieser hing aber nicht damit zusammen, daß die Schutzbedürftigkeit der Ehe in Frage gestellt worden wäre. Vielmehr sah beispielsweise der SPD-Abgeordnete Sinzheimer sein Grundrechtsverständnis beeinträchtigt, das der Aufnahme von "Motiven" und "politischen Grundsätzen" widerstrebe. 108 Er befürchtete vor allem, daß dies zur endgültigen Festschreibung der geltenden eherechtlichen Bestimmungen führen würde. Dem begegneten die Befürworter des verfassungsrechtlichen Schutzes mit der Beschwichtigung, daß nur die Institution "Ehe", nicht aber jede einzelne zivilrechtliche Bestimmung von der neuen Verfassungsnorm erfaßt werde. 109 Eine entsprechende Klarstellung im Verfassungstext wurde freilich nicht erreicht; 110 im Hinblick auf die künftige

104

105

Schwab, aaO.

Verhandlungen der verfassunggebenden Deutschen Nationalversammlung in: Stenographische Berichte über die Verhandlungen des Reichstages (im folgenden: "Verhandlungen"), Bd. 336, 377. 106 Verhandlungen, aaO, 378. 107 Verhandlungen, Bd. 328, 1602. 108 Verhandlungen, Bd. 336, 378. 109 Abg. Ablass (DDP), Verhandlungen. aaO. 110 Vgl. Verhandlungen, aaO, 505f.

42

Erster Teil: Geschichtliche und verfassungsrechtliche Grundlagen

Reform des Ehescheidungsrechts sagte der Abgeordnete Sinzheimer (SPD) deshalb, die Vorschrift des Art. 119 I WRV sei "mit die gefährlichste in der ganzen Reichsverfassung. M111 Konkrete Begründungen für diese doch bedeutende verfassungsrechtliche Neuerung finden sich auch in den Beratungen der Nationalversammlung nicht. Auch die trotz der vorhergehenden Kritik im Verfassungsausschuß insgesamt zustimmenden Äußerungen der meisten Sozialdemokraten erwecken den Eindruck, daß hier für alle Anwesenden Selbstverständliches in die Verfassung aufgenommen wurde. So meinte deren Abgeordneter Katzenstein: "Wir sind alle darin einig - ich glaube, daß darin im ganzen Hause kein Unterschied ist - , daß die Ehe in ihrer reinen Gestalt, wie sie als Vorbild hingestellt ist, die gesündeste Form des Familienlebens und die gesündeste Daseinsbedingung für die Kinder ist." 112 Die Aufnahme der Vorschrift in die neue Verfassung fand daher auch breite Zustimmung. 113 b) Das Verhältnis der Ehe zu anderen Lebensgemeinschaften Wenn auch die Schutzbedürftigkeit der Ehe als solche unstrittig war, so zeigt doch manche Kontroverse über das Verhältnis der Ehe zu anderen Lebensgemeinschaften, daß schon in dieser Zeit bei Diskussionen über die Ehe recht unterschiedliche Weltanschauungen aufeinanderprallten. 114 So schlugen "Frau Agnes und Genossen" vor, das Grundrecht durch folgenden Satz zu ergänzen: "Ehefrauen dürfen an der Erlangung oder Ausübung eines Amtes nicht wegen ihrer Verheiratung gehindert werden." 115 Die Abgeordnete Zietz (USP) begründete diesen Antrag: "Wenn Sie die Frauen, die Lehrerinnen sind, und sonstige weibliche Beamtinnen von der Ehe ausschließen wollen und verlangen: Wenn Sie sich verheiraten, müssen Sie aus Ihrem Amte ausscheiden, was werden Sie dann damit erzielen? Sie werden viele von diesen Frauen in das Konkubinat treiben." 116 Dem widersprach die Abgeordnete von Gierke (DNVP), die sich vielmehr wünschte, daß die Mutter dem Kinde gehört, daß das Kind einen Anspruch auf Erziehung durch die

111

Verhandlungen, aaO, 505. Verhandlungen Bd. 328, 1609. 113 Es wurde sogar auf eine genauere Auszählung verzichtet: Verhandlungen, Bd. aaO, 1621. 114 Vgl. nur die Beiträge der Abg. von Gierke (DNVP) einerseits und der Abg. Zietz (USP) andererseits in: Verhandlungen, aaO, 1605ff. 115 Verhandlungen, aaO, 1600. 116 Verhandlungen, aaO, 1608. 112

Β. Entwicklung des verfassungsrechtlichen Schutzes der Ehe

43

Mutter hat. 117 Die Bestimmung erschien dann auch später nicht im Verfassungstext, ist aber dennoch als erster Versuch zu werten, die Anknüpfung nachteiliger Rechtsfolgen an die Ehe zu verbieten. Hintergrund war - selbst bei der politischen Linken - die Befürchtung, daß sonst Paare den Weg in andere Lebensgemeinschaften als die der Ehe finden. Interessant ist aber auch, daß zumindest die Konservativen diese Diskriminierung der Ehe gegenüber nichtehelichen Lebensgemeinschaften hinzunehmen bereit waren, um die Mutter beim Kind zu halten. Hier offenbart sich ein im Vergleich zu heute im doppelten Sinne anderes Gleichheitsverständnis. 118 Bemerkenswert ist ferner der Streit um die Behandlung der nichtehelichen Kinder, der die Debatte beherrschte; ausgelöst durch zum Teil sehr unterschiedliche Vorschläge. Hier sind vor allem die Kritiker einer - wie auch immer gearteten - Gleichstellung ehelicher und nichtehelicher Kinder von Interesse. Die Zentrumsabgeordnete Neuhaus befürchtete, "daß diese Maßnahme sich in der Richtung bewegen würde, auch den Unterschied zwischen dem illegitimen Verhältnis und der Ehe zu verwischen." 119 Und weiter: "Wenn ein Makel auf der unehelichen Geburt liegt, so hat das seinen Grund darin, daß die Verbindung, der sie entspringt, diesen Makel hat, und den können wir der Verbindung nicht nehmen und dürfen ihn nicht nehmen. [...] Wenn es gelingen sollte, das freie Verhältnis auch nur einigermaßen gesetzlich gleichberechtigt neben die Ehe zu stellen, so würde das nach unserer Überzeugung den Anfang vom Niedergang unseres Volkes bedeuten."120 Als Kompromiß schlug sie vor, den nichtehelichen Kindern "gerechte" Bedingungen für ihre Entwicklung zu garantieren. 121 Ähnlich äußerte sich neben der DNVP-Abgeordneten von Gierke auch der Zentrumsabgeordnete Burlage: In einer Gleichstellung ehelicher und nichtehelicher Kinder sah er "eine schreiende Ungerechtigkeit gegen die Ehefrau des nichtehelichen Vaters und gegen die ehelichen Kinder dieses Vaters." Man versündige sich durch diesen Plan gegen die Ehe und untergrabe sie durch die Bestimmungen über die uneheliche Mutterschaft. Am Schluß wurde er deutlich:" Wir werden die außereheliche Geschlechtsverbindung immer für sündhaft und verwerflich erklären, und wir wollen uns gegen die moderne Richtung wenden, welche diese Geschlechtsverbindung als erlaubt

117

Verhandlungen, aaO, 1605. Sehr deutlich die Abg. von Gierke zur Abg. Zietz in: Verhandlungen, aaO, 1606: "Sie sagen: Jedem das Gleiche. Wir sagen mit dem alten preußischen Wahlspruch: Jedem das Seine." 119 Verhandlungen, aaO, 1601. 120 Verhandlungen, aaO, 1602. 121 Verhandlungen, aaO. 118

44

Erster Teil: Geschichtliche und verfassungsrechtliche Grundlagen

hinstellt und in allem, was damit zusammenhängt, der Ehe gleichstellen will." 1 2 2 Der Antrag des Zentrums wurde abgelehnt;123 statt der vorgeschlagenen "gerechten" sollten den nichtehelichen Kindern nun "gleiche Bedingungen" wie ehelichen Kindern gewährt werden. Man übertreibt wohl nicht, wenn man dies als die "empfindlichste Niederlage" 124 der Konservativen in diesem ansonsten vor allem durch ihre Vorstellungen geprägten Bereich bezeichnet. Im Gegensatz zu dem Begriff "gerecht" barg die jetzt verwendete Terminologie nämlich weniger die Gefahr, daß die Bestimmung durch subjektive Wertungen des Rechtsanwenders relativiert werden würde. 125 Immerhin ist es auch für die folgende Untersuchung interessant, daß zumindest von konservativer Seite ein Widerspruch zwischen dem verfassungsrechtlichen Schutz der Ehe einerseits und der Gleichstellung nichtehelicher mit ehelichen Kindern andererseits konstruiert wird. Auf diesen Gedanken wird bei der Analyse des Verhältnisses von Art. 6 I zu Art. 6 V GG noch zurückzukommen sein. 126

2. Stellungnahmen

der Literatur

Der konservative Ursprung des Grundrechts zeigt sich auch in den Stellungnahmen der Literatur. Allenthalben wird die Ehe als vorgegebene Größe angesehen und ihre Schutzbedürftigkeit daher auch gar nicht hinterfragt. So betrachtete Mausbach die Hereinnahme der Ehe in den Grundrechtskatalog als "einen erheblichen Erfolg der auf Wahrung der christlichen Gesellschaftsordnung gerichteten Bemühungen des Zentrums." 127 Auch wurde darin eine Abkehr vom Sozialismus128 bzw von "gewissen kommunistischen Lehren" 129 gesehen. "Das zügellose Sichausleben angeblich freier Geister" 130 sollte verhindert werden. Es wurde allerdings auch kritisch bemerkt, daß hauptsächlich über die unehelichen Kinder gesprochen worden sei. Von Freytagh-Loringhoven meinte dazu: "Wenn bei den Debatten über die Rechte der Einzelperson die Aufmerksamkeit sich vorwiegend auf die Todesstrafe und die Prostitution richtete, so nahmen

122 123 124 125

126 127 128

129 130

Verhandlungen, aaO, 1608f. Verhandlungen, aaO, 1623. Schmid, S. 253. Näher Schmid, S. 253 ff.

Dazu 3. TeilC. II. l.,3.a). Mausbach, S. 40. Hubrich, S. 21 Of und Schmitt in: Anschütz/Thoma, S. 584.

Anschütz, Art. 119Anm. 1. Mausbach, S. 34 zitiert hier Düringer.

Β. Entwicklung des verfassungsrechtlichen Schutzes der Ehe

45

nun deren Platz die Unehelichen ein." Daraus könne für einen mit den deutschen Verhältnissen nicht Vertrauten der Eindruck gewonnen werden, "daß das deutsche Volk überwiegend aus Verbrechern, Prostituierten und unehelichen Kindern bestand."131 Resümierend sah Hubrich in den Art. 119-121 WRV zwar "gewisse Verbeugungen gegen einzelne sozialistische Forderungen", meinte aber, daß das Ziel einer "bürgerlichen Gesellschaft" noch verwirklicht sei. 132 Der bewahrende, man könnte fast sagen "dienende", Charakter erklärt auch die Art. 119 I WRV allein zugeschriebene Grundrechtsfunktion als Institutsgarantie. 133 Darüberhinaus handelte es sich - durchaus in Übereinstimmung mit dem Weimarer Verständnis zu den meisten anderen Grundrechten 134 - nur um einen Programmsatz ohne unmittelbare Verbindlichkeit. 135 Seine wesentliche rechtliche Bedeutung wurde in der Garantie der Monogamie und der Eheschließungsform (in Abgrenzung zu anderen Geschlechtsverbindungen) sowie der Statuierung der Ehe als weltliches Recht gesehen.136

II. Art. 6 GG

Die Beratungen, die zur heutigen Fassung des Art. 6 I GG führten, ähneln denen zur WRV insofern, als wenig über den konkreten Sinn des Schutzes der Ehe auf Verfassungsebene, jedoch außerordentlich viel über die Rechtsstellung des nichtehelichen Kindes auf Verfassungsebene gesprochen wurde. /. Stellungnahmen

des Grundsatzausschusses

Nachdem der Herrenchiemseer Konvent in seinem Entwurf keine entsprechenden Bestimmungen vorgesehen hatte, beschäftigte sich der Grundsatzausschuß in seiner 24. Sitzung vom 23. 11. 1948 mit der Frage der Aufnahme einer Bestimmung zum Schutz der Ehe in die Verfassung. Der Vorschlag kam auch hier von konservativer Seite, nämlich den Ausschußmitgliedern der CDU Süsterhenn und von Mangoldt, die ihren Vorschlag mit einem inhaltlich gleichen Artikel im Kommissionsentwurf der Vereinten Nationen zu den

131

von Freytagh-Loringhoven,

132

Hubrich, S.211.

133

S. 308.

Schwab in:Festschrift Bosch, S. 895. Zur aktuellen Bedeutung dieses Verständnisses s. 2. Teil Β. I. 2. 134 Vgl. Pie rot h Jura 1984, 568/576ff. 135 136

Gebhard, Ari. 119 Anm. 2 Gebhard, aaO.

46

Erster Teil: Geschichtliche und verfassungsrechtliche Grundlagen

Menschenrechten begründeten. 137 Ferner ordneten sie den Schutz der Ehe als Wesensmerkmal der freien Entfaltung der Persönlichkeit ein. 138 Der CDU-Vorschlag lautete: "Die Ehe als die rechtmäßige Form der dauernden Lebensgemeinschaft von Mann und Frau und die aus ihr wachsende Familie sowie die aus der Ehe und der Zugehörigkeit zur Familie fließenden Rechte und Pflichten stehen unter dem besonderen Schutz der Verfassung." 139

In der 29. Sitzung vom 4. 12. 1948 äußerten die SPD-Abgeordneten Menzel und Bergsträßer verfassungspolitische und verfassungsrechtliche Bedenken.140 Es handele sich nicht um ein klassisches Grundrecht, sondern um die Einbeziehung einer Frage der sozialen Lebensordnung, die in der Verfassung nichts zu suchen habe. Im übrigen sei es nicht angemessen, wenn der Staat zu Fragen der Moral seiner Bürger Stellung beziehe. Schließlich seien die hier zum Teil angesprochenen kulturellen und sozialen Fragen Ländersache; das Ehegrundrecht in der Bundesverfassung sei daher ein Widerspruch zum Föderalismus. Der Abgeordnete Heuß (FDP) - der den CDU-Vorschlag grundsätzlich unterstützte - betonte, daß ein hoher Frauenüberschuß als Folge des Krieges den Staat verpflichte, auch den Kinderwunsch der nichtehelichen Mutter zu respektieren und schlug daher folgende Ergänzung vor: "Jede Mutter hat Anspruch auf den Schutz und die Fürsorge der Gemeinschaft. Uneheliche Kinder stehen in ihren Rechten den ehelichen Kindern gleich." 141 Dieses Argument provozierte freilich heftigen Widerspruch auf konservativer Seite. 142 Der CDU-Abgeordnete von Mangoldt betonte, daß zwar die Ehe, nicht aber das Konkubinat unter dem Schutze der Verfassung stehe.143 Da aber auch die CDU-Mitglieder des Ausschusses das bereits in Art. 121 WRV berücksichtigte Schutzbedürfnis nichtehelicher Kinder anerkannten, einigte man sich schließlich auf folgende Fassung: "(1) Die Ehe als die rechtmäßige Form der fordauernden Lebensgemeinschaft von Mann und Frau und die mit ihr gegebene Familie sowie die aus der Ehe und der Zugehörigkeit

137

Stenographischer Bericht, Verhandlungen des Parlamentarischen Rats (im folgenden: "Stenoprotokolle"), 24. Sitzung, 33f. 138 Stenoprotokolle, 24. Sitzung, 36, 38. 139 Stenoprotokolle, 24. Sitzung, 39. 140 Zum folgenden Stenoprotokolle, 29. Sitzung, 3f, 11. 141 Stenoprotokolle, 29. Sitzung, 8. 142 Vgl. die Äußerungen der Abgeordneten Weber und Süsterhenn, Stenoprotokolle, 29. Sitzung, 12 ff. 143 Stenoprotokolle, 29. Sitzung, 44.

Β. Entwicklung des verfassungsrechtlichen Schutzes der Ehe

47

zur Familie erwachsenden Rechte und Pflichten stehen unter dem besonderen Schutz der Verfassung. (2) Jede Mutter hat gleichen Anspruch auf den Schutz und die Fürsorge der Gemeinschaft. (3) Uneheliche Kinder haben das gleiche Recht auf Förderung durch die Gemeinschaft wie eheliche Kinder." 144

2. Erörterungen

im Parlamentarischen

Hauptausschuß

Dieser Vorschlag lag dem Hauptausschuß in erster Lesung am 7. 12. 1948 vor. Hauptthema war hier nicht mehr die Frage nach der Aufnahme der Ehe in die Verfassung (dies war bereits beschlossene Sache), sondern fast ausschließlich die Stellung des nichtehelichen Kindes. Die Sozialdemokratin Nadig meinte, daß der Frauenüberschuß in den Altersgruppen von 22 - 45 Jahren zu neuen Formen der Lebensgemeinschaften führen müsse. Es werde viele "Mutter-Familien" geben, und das sei Grund genug dafür, auch die nichtehelichen Kinder zu schützen.145 Dagegen äußerte die Zentrumsabgeordnete Wessel Bedenken: Es sei ein Widerspruch, wenn in Absatz 1 Ehe und Familie unter den Schutz des Staates gestellt würden, wenn aber dann in Absatz 3 das uneheliche Kind, das aus dieser Ordnungssphäre herausfalle, nach der gleichen Rangordnung bewertet werde. 146 Die weiterhin bestehenden grundsätzlichen weltanschaulichen Differenzen zeigten sich auch bei der Debatte zwischen den Abgeordneten Süsterhenn (CDU) und Schmid (SPD) über den Ursprung der Unterscheidung zwischen ehelichen und nichtehelichen Kindern. Süsterhenn meinte, dieser bestehe von Natur aus; Schmid bezeichnete ihn hingegen als Produkt der Rechtsordnung. 147 Nachdem ein erster Entwurf eines neuen Art. 7 a durch den Allgemeinen Redaktionsausschuß am 13. 12. 1948 formuliert und vom Grundsatzausschuß am 11.1. 1949 nochmals verändert wurde, lag dem Hauptausschuß in 2. Lesung folgender Formulierungsvorschlag vor: "(1) Die Ehe ist die rechtmäßige Form der Lebensgemeinschaft von Mann und Frau. Sie bildet die Grundlage der Familie. Ehe und Familie und die damit verbundenen Rechte und Pflichten stehen unter dem Schutze der Verfassung. 144 145

JöR 1 n. F. (1951), S. 96. Parlamentarischer Rat, Verhandlungen des Hauptausschusses (im folgenden: "HA-Steno"),

241.

146 147

HA-Steno, 242f. Vgl. HA-Steno, 242f.

Erster Teil: Geschichtliche und verfassungsrechtliche Grundlagen

48

(2) Jede Mutter hat gleichen Anspruch auf den Schutz und die Fürsorge der Gemeinschaft. (3) Den unehelichen Kindern sind durch die Gesetzgebung die gleichen Bedingungen für ihre leibliche und seelische Entwicklung und ihren gesellschaftlichen Aufstieg zu schaffen wie den ehelichen Kindern." 148

Interessanterweise hatte der Redaktionsausschuß betont, daß der Artikel nur programmatische Bedeutung habe. Er stelle grundsätzlich nur Richtlinien für den Gesetzgeber auf und habe darüber hinaus nur den Charakter einer Auslegungsvorschrift für die rechtsanwendenden Instanzen; damit werde der Grundsatz durchbrochen, in den Grundrechtsteil nur unmittelbar geltendes Recht aufzunehmen. 149 Dieser Auffassung trat der Abgeordnete Greve (SPD) in dieser Lesung entgegen: Nach Art. 1 GG müßten alle Grundrechtsbestimmungen unmittelbar geltendes Recht enthalten. Insbesondere der Satz, daß die Ehe Grundlage der Familie sei, sei bloße Deklaration und daher zu streichen. 150 Der Vorschlag wurde nur knapp abgelehnt. Der KPD-Abgeordnete Renner - der zuvor vergeblich versucht hatte, seinen Kollegen einige gesellschaftliche Auffassungen aus der Sowjetunion näherzubringen - wollte ganz auf den Schutz der Ehe verzichten und allein die Familie als "Grundlage des staatlichen Gemeinschaftslebens" unter den Schutz der Verfassung stellen.151 Dieser Vorschlag, der heute mit weitaus größerer Unterstützung rechnen könnte und auch in der Rechtswissenschaft diskutiert wird, 1 5 2 fand aber keinerlei Zustimmung. Schließlich legte der Hauptausschuß am Ende der 2. Lesung eine neue Formulierung des Art. 7 a vor, der dem heutigen Art. 6 I, IV, V GG entspricht. Er wurde in 3. Lesung am 8. 2. 1949 angenommen. In 4. Lesung scheiterte am 5. 5. 1949 noch ein letzter SPD-Versuch, die Stellung des nichtehelichen Vaters und Kindes zu stärken, so daß die in 3. Lesung beschlossene Fassung unverändert blieb und ohne weitere Erörterung in die Endfassung einging. 153

148

JöR 1 n. F. (1951), S. 98. JöR 1 n. F. (1951), S.97f. 150 HA-Steno, 554. 151 HA-Steno, 554. 152 Vgl. nur Zeidler in: Handbuch des Verfassungsrechts. S. 588ff. insbes. S. 607: "Weil die Ehe gefördert wurde, ging die Familie zugrunde." 153 JöR 1 n. F. (1951), S. 99. 149

Β. Entwicklung des verfassungsrechtlichen Schutzes der Ehe

49

III. Die Wesenselemente der Ehe im Sinne des Art. 6 I GG

Das Grundgesetz enthält keine nähere Definition der von ihm geschützten Ehe. Auch in den Beratungen zu Art. 119 1 WRV und Art. 6 I GG finden sich nur wenige Hinweise darauf, welche Voraussetzungen ein Zusammenleben zweier Personen erfüllen muß, um als Ehe qualifiziert zu werden. Immerhin bestand Einigkeit darüber, daß nicht das gesamte einfach-gesetzliche Eherecht Inhalt der Verfassungsgarantie war - wenn auch ein ausdrücklicher Hinweis darauf in der Verfassung unterblieb. 154 Dabei hätte eine nähere Begriffsbestimmung nahegelegen, weil sich das grundrechtliche Schutzgut nicht bereits aus der Natur des Menschen ergibt, sondern durch die Rechtsordnung selbst konstituiert wird. 155 Auch war ein elementarer Grundsatz des geltenden Eherechts, die obligatorische Zivilehe, zum Zeitpunkt der Beratungen zur WRV gerade einmal 40 Jahre alt, also keineswegs durch eine jahrhundertelange Tradition gefestigt. Angesichts dessen hielt man es wohl für selbstverständlich, daß der Ehebegriff nur solche Elemente beinhalten sollte, die der allgemeinen und im Zivilrecht normierten Vorstellung von diesem Begriff entsprachen. 156 Das Bundesverfassungsgericht betont daher auch, daß die Verfassungsgarantie des Art. 6 I GG an die "vorgefundenen, überkommenen Lebensformen" anknüpfe. 157 Die Verfassung gewährleiste die lebenslange Ehe "nicht abstrakt, sondern in der Ausgestaltung, wie sie den herrschenden, in der gesetzlichen Regelung maßgebend zum Ausdruck gelangenden Anschauungen entspricht." 158 Ihr liege das "Bild der verweltlichten bürgerlichen Ehe" zugrunde, die in der vom Gesetzgeber vorgeschriebenen Form geschlossen wird. 1 5 9 So besteht auch heute im wesentlichen Einigkeit darüber, welche Merkmale zu den durch Art. 6 I GG gewährleisteten Wesenselementen der Ehe zu zählen sind; 160 sie seien hier daher auch nur kurz erwähnt, um den Unterschied zur später zu untersuchenden nichtehelichen Lebensgemeinschaft zu verdeutlichen.

154

Vgl. oben I. La). Zu den daraus folgenden dogmatischen Konsequenzen für die Prüfung von Art. 6 I GG noch gleich 2. Teil Β. I. l.b). 156 Pirson in: Bonner Kommentar, Art. 6 Rdnr. 11. 157 BVerfGE 36, 146/163. 158 BVerfGE 3 L 58/821*. 159 BVerfGE 53. 224/245. 160 Dazu vor allem Pirson in: Bonner Kommentar. Art. 6 Rdnrn. 1 1 ff. 155

4 Kingrccn

50

Erster Teil: Geschichtliche und verfassungsrechtliche Grundlagen

I. Monogame und heterosexuelle

Verbindung

Das Bundesverfassungsgericht betont in Anlehnung an die abendländische Rechtstradition, daß die Einehe zu den vorgegebenen Wesensmerkmalen der Ehe gehöre. 161 Auch setze Art. 6 I GG eine Verbindung zwischen Personen verschiedenen Geschlechts voraus. 162 Diese Ansicht ist allerdings vom AG Frankfurt in einem aufsehenerregenden Urteil bestritten worden. 163 Zur Begründung heißt es, daß der Staat auch nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts die Verwirklichung einer Lebensgemeinschaft nur scheitern lassen dürfe, wenn dies durch ein höherrangiges Interesse gerechtfertigt sei. 164 Allein der Rückgriff auf überkommene, anerkannte und von der Mehrheit der Gesellschaft moralisch gebilligte Lebensformen könne daher nicht zu einer Beschränkung der Eheschließungsfreiheit führen. 165 Das wohl mehr rechtspolitisch motivierte als der Verfassungsauslegung verpflichtete Urteil wurde freilich in der nächsten Instanz aufgehoben und hat auch im übrigen keine weiteren Anhänger in der Rechtsprechung gefunden. 166

2. Lebenslange

Bindung

Weiteres Wesensmerkmal der Ehe ist ihre zumindest grundsätzliche, wenn auch nicht absolute Unauflöslichkeit. Hier offenbart sich die wohl gravierendste Diskrepanz zwischen kirchlichem und weltlichem Recht, denn Geschiedene dürfen nach katholischem Verständnis nicht ein zweites Mal getraut werden. 167 Die Auflösung der Ehe muß allerdings auch nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts die Ausnahme bilden. Im Urteil zur Verfassungsmäßigkeit des 1. EheRG heißt es aber auch: "Allerdings können Ehepartner an der Aufgabe, die lebenslange personale Gemeinschaft zu ver-

161 BVerfGE 29, 166/176. Nicht akzeptabel hingegen BGHSt 6, 46/53, wo dieses Prinzip verabsolutiert und als eine für alle Kulturvölker verbindliche Norm des Sittengesetzes angesehen wird (kritisch auch Wieacker JZ 1961, 337/344). 162 BVerfGE 62, 323/330; 87, 234/264. 163 AG Frankfurt NJW 1993, 940. Erwägungen in dieser Richtung auch bei von Münch in: Handbuch des Verfassungsrechts, $ 9 Rdnr. 8: vgl. auch Reiß KJ 1994, 98ff. 164 Hier wird BVerfGE 31, 58/85 zitiert. 165 AG Frankfurt, aaO, S. 941. 166 Vgl. LG Frankfurt NJW 1993. 1998: OLG Köln NJW 1993, 1997; BayObLG FamRZ 1993, 558 und schließlich auch BVerfG NJW 1993. 3058. 167 Pirson in: Handbuch des StaatskirchenreclUs Bd. I. S. 814. - Die evangelische Kirche erkennt hingegen die Möglichkeit des Scheitems einer Ehe ausdrücklich an: Vgl. Erklärung des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland zu Ehe und Ehescheidung vom 16. 9. 1977 in: Die Denkschriften der Evangelischen Kirche in Deutschland Bd. 3, S. 47ff.

Β. Entwicklung des verfassungsrechtlichen Schutzes der Ehe

51

wirklichen, durch schicksalhafte oder auch zu verantwortende Verstrickungen und Ursachen scheitern. Ehen können zerbrechen, ohne daß staatliche Gesetze sie zu erhalten oder wiederherzustellen vermögen." 168

3. Beiderseitiger

Konsens

Ferner hat das Bundesverfassungsgericht betont, daß das Konsensprinzip kennzeichnend für die Ehe ist; 169 sie kann nur auf Grund einer freien Entschließung der Ehegatten begründet werden (vgl. auch § 13 EheG).

4. Freier Zugang zur Ehe

Art. 6 I GG garantiert auch grundsätzlich den freien Zugang eines jeden zur Ehe. Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts darf der Staat "die Verwirklichung einer Lebensgemeinschaft nicht scheitern lassen, ohne daß dies durch ein anerkennenswertes höherrangiges Interesse gerechtfertigt ist." Die Rechtsanwendung müsse "die Leitidee des Grundgesetzes im Auge behalten, daß der Mensch im Mittelpunkt der Wertordnung steht und die gesetzlichen Regeln nicht Selbstzweck sind." 170 5. Öffentlichkeit

der Ehe

Darüber hinaus sieht das Bundesverfassungsgericht in der Öffentlichkeit der Ehe ein wesentliches Ordnungselement. 171 Die Eheschließung muß unter amtlicher Mitwirkung erfolgen 172 und für die Allgemeinheit erkennbar sein. 168

BVerfGE 53, 224/245. BVerfGE 29, 166/176. 170 BVerfGE 31, 58/85. 171 BVerfGE 29, 166/176; 62, 323/331. 172 Die Garantie der obligatorischen Zivilehe ist freilich sehr umstritten; insbesondere in den 50er Jahren wurde sie sogar vor allem in der katholischen Lehre noch für verfassungswidrig gehalten (Holböck, S. 60ff; Mörsdorff FamRZ 1954, 123fT). Jedenfalls gegen eine verfassungsrechtliche Garantie ζ. B. Gernhuber/Coester-Waltjen, S. 106, die diesen Grundsatz aus Verfassungssicht für disponibel halten. Für diese Ansicht spricht zwar in der Tat einiges: Der verfassungsrechtliche Ehebegriff beinhaltet nach dem oben Gesagten nur bestimmte, den allgemeinen Anschauungen entsprechende Wesenselemente. Gerade der Grundsatz der obligatorischen Zivilehe war und ist aber zumindest im katholischen Spektrum weiterhin umstritten, und es waren gerade Abgeordnete des der katholischen Kirche besonders verbundenen Zentrums und der CDU, die sich für die verfassungsrechtliche Gewährleistung der Ehe stark gemacht haben. Es ist daher unwahrscheinlich, daß sie gerade diese Differenz zwischen weltlichem und kirchlichem Recht zugunsten des weltlichen Rechts entscheiden wollten. Für eine verfassungsrechtliche Garantie spricht aber, daß ein allgemeines Bedürfnis bestand und besteht, 169

4*

52

Erster Teil: Geschichtliche und verfassungsrechtliche Grundlagen

6. Lebensgemeinschaft

Schließlich dürfte auch das Bestehen einer ehelichen Lebensgemeinschaft ein konstitutives Kriterium des Ehebegriffs in Art. 6 I GG darstellen; bestimmte Rechtspflichten innerhalb der Ehe werden allerdings nicht erfaßt. 173 Die Gesetzesbegründung zum 1. EheRG zeigt allerdings, welche Vorstellungen der Gesetzgeber des 20. Jahrhunderts von einer ehelichen Lebensgemeinschaft hat: "Alle weiteren Wesensmerkmale der ehelichen Lebensgemeinschaft ergeben sich aus dem in unserem Kulturkreis allgemein anerkannten Ehebild, wie es in der Rechtsprechung seinen Niederschlag gefunden hat. So sind ζ. B. die Eheleute zu gegenseitiger Achtung und zu ehelicher Treue verpflichtet und vor allem gehalten, sich allen wichtigen gemeinsamen Angelegenheiten in partnerschaftlichem Zusammenstehen zu widmen, um Zustimmung des anderen und Gemeinsamkeit bemüht zu sein und einander nach Kräften beizustehen und zu helfen. In dem Begriff der ehelichen Lebensgemeinschaft kommt die Auffassung des Gesetzgebers von der Ehe als einer Partnerschaft gleichen Rechts und gleicher Pflichten mit besonderen Anforderungen auf gegenseitige Rücksichtnahme und Selbstdisziplin, auf Mitsprache und Mitentscheidung am besten zum Ausdruck." 174

C. Der Tatbestand der nichtehelichen Lebengemeinschaft I. Soziologische und rechtstatsächliche Grundlagen 1. Verbreitung

Die statistische Erfassung der Zahl nichtehelicher Lebensgemeinschaften steht vor wohl kaum überwindbaren Definitionsproblemen. Während sich die Anzahl der Ehen dank des eindeutigen Formalaktes vergleichsweise leicht ermitteln läßt, fehlt bei der nichtehelichen Lebensgemeinschaft ein solcher Anknüpfungstatbestand. Bei statistischen Untersuchungen ist die Wissenschaft daher weitgehend auf die Befragung der Beteiligten und deren Selbstverständnis von ihrem Zusammenleben angewiesen.

die Ehe mit Publizität zu versehen, dies aber im weltanschaulich und religiös neutralen Staat nicht wie in früheren Zeiten durch eine bestimmte kirchliche oder weltanschauliche Gemeinschaft geschehen kann. Eingehend, insbesondere rechtsvergleichend Grandpierre, S. 117ff. 173 Pirson in: Bonner Kommentar, Art. 6 Rdnr. 16. 174 BT-Drucks. 7/4361, S. 7.

C. Der Tatbestand der nichtehelichen Lebensgemeinschaft

53

In der wohl umfangreichsten Studie zum Thema gelangte das Bundesministerium für Jugend, Familie und Gesundheit (BMJFG) im Jahre 1985 zu dem Ergebnis, daß es 1983 in Deutschland etwa 1, 25 Millionen Haushalte gab, in denen Paare zusammenlebten, die nicht verheiratet waren. 175 Für Gesamtdeutschland gibt es Schätzungen, die von etwa 1,5 Millionen nichtehelicher Lebensgemeinschaften ausgehen.176 Zum Teil werden allerdings auch noch erheblich höhere Zahlen genannt.177 Wenn man davon ausgeht, daß es 1972 lediglich 273000 unverheiratet zusammenlebende Paare gab, 178 kann man wohl ohne Übertreibung davon sprechen, daß einhergehend mit einer erheblich gewachsenen gesellschaftlichen Akzeptanz nichteheliche Lebensgemeinschaften in den letzten beiden Jahrzehnten von einem Ausnahmetatbestand zu einem sozialen Massenphänomen geworden sind. 179

2. Motivation

Die Untersuchung des BMJFG hat sich auch eingehend mit der Motivationslage nichtehelicher Lebensgemeinschaften beschäftigt. Dabei wurden zusammenlebende Partner mit und ohne Heiratsabsicht unterschieden. 180 33% der Befragten waren entschlossen, ihren Partner später zu heiraten, während 28% dies nicht wollten. Ein recht großer Teil, 39%, war noch unentschlossen. Bei den Partnern mit fester Heiratsabsicht zeigte die Untersuchung, daß diese das nichteheliche Zusammenleben als Übergangsphase verstanden und auf jeden Fall heiraten wollten, wenn gemeinsame Kinder vorhanden wären (22%); 24% hielten sich auch einfach noch zu jung für die Ehe. Für viele dieser Paare dient die Phase nichtehelichen Zusammenlebens dazu, Erfahrungen für den alltäglichen Umgang miteinander zu sammeln und dabei auftretende Schwierigkeiten bereits vor der Eheschließung zu klären. Dies wird verständ-

175

Nichteheliche Lebensgemeinschaften in der Bundesrepublik Deutschland, Schriftenreihe des Bundesministers für Jugend, Familie und Gesundheit, Bd. 170 (im folgenden: "BMJFG"), S. 12. 176 Vgl. Brudermüller FamRZ 1994, 207/212 Fn. 55. Die Vereinigung der beiden deutschen Staaten dürfte insgesamt zunächst keinen großen Anstieg der Zahlen bewirkt haben, da in der DDR nichtverheirateten Paaren in der Regel die erforderliche größere Wohnung nicht zugeteilt wurde. 177 Nach Schätzung des deutschen Notartages von 1990 sollen es sogar 3 Millionen sein (vgl.: DER SPIEGEL 14/1990 vom 2. 4. 1990, S. 186). 178 BMJFG, S. 8. 179 Dieser Trend zeigt sich - wenn auch mit unterschiedlicher Intensität - im übrigen in allen westlichen Industrienationen; vgl. Meyer/Schulze KZfSS 1983, 735ff. 180 Einzelheiten zum folgenden: BMJFG, S. 36IÏ.

54

Erster Teil: Geschichtliche und verfassungsrechtliche Grundlagen

lieh, wenn man bedenkt, daß 83% dieser Gruppe jünger als 30 Jahre alt sind; Erfahrungen mit früheren (gescheiterten) Partnerschaften sind eher die Ausnahme. Unter den Partnern ohne feste Heiratsabsicht gaben 27% der Befragten als Begründung an, sie lehnten die Ehe grundsätzlich ab; 46% hielten sie schlicht für unnötig. Die Zahl derjenigen, die insgesamt in einer nichtehelichen Lebensgemeinschaft leben und dies mit antiinstitutionellen Motiven, also einer grundsätzlichen Ablehnung jeglicher Verrechtlichung des Intimbereichs, begründen, ist also ziemlich gering; sie liegt bei 9%. In dieser Gruppe spielen vielmehr oft Erfahrungen aus früheren gescheiterten Beziehungen - seien es eigene oder die der Eltern - eine erhebliche Rolle. Besonders von Frauen wird aber auch oft die Befürchtung geäußert, daß das Eingehen der Ehe die traditionelle Rollenverteilung zwischen Frau und Mann festschreibt. 181 Andere sind allerdings auch nicht bereit, gegenüber ihrem Partner irgendwelche Dauerverpflichtungen zu übernehmen; manche haben auch Zweifel, ob sie überhaupt in der Lage sind, sich lebenslang zu binden. 182 Hingegen spielen wirtschaftliche Erwägungen heute kaum noch eine Rolle, weil ehebenachteiligende Vorschriften (gerade aus dem Bereich des Steuer- und Sozialrechts) durch die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts in großem Umfang abgebaut wurden. 183 Selbst unter den Partnern ohne feste Heiratsabsicht sind also nicht nur solche, die auf keinen Fall eine lebenslange Bindung wollen; oft ist es nur - aus verschiedenen Gründen - der eherechtliche Ordnungsrahmen, der ihnen mißfällt. 184 Es wäre also falsch, alle nichtehelichen Lebensgemeinschaften einheitlich als Fluchtversuch vor Verantwortung zu beurteilen. Dies zeigt sich auch daran, daß die partnerschaftlichen Grundwerte sich nicht grundsätzlich von denen Verheirateter unterscheiden; besagte Studie stellt ausdrücklich fest, daß das vielfach geäußerte Bedürfnis nach Freiheit und Ungebundenheit keineswegs Bindungslosigkeit bedeutet, sondern partnerschaftliche Treue vielmehr einen zentralen Wert darstellt. 185 Zusammenfassend wird man daher Süßmuth folgen können, die feststellt, daß sich nicht der weiterhin stark ausgeprägte Wunsch nach einer dauerhaften Beziehung, wohl aber die dahingehende Erwartung gewandelt hat. 186 181

182 183 184 185 186

Wingert,

S. 61 f; Kunigk, S. 49; Meyer/Schulze

KZfSS 1983, 735/747.

Wingert, S. 62; Süßmuth, Herder Korrespondenz 1981, 195/197. Dazu eingehend 2. Teil D. Dies ist auch die Ansicht der Verfasser der Studie des BMJFG, S. 60. BMJFG, S. 15, 5Iff. Süßmuth, Herder Korrespondenz 1981, 195/196.

C. Der Tatbestand der nichtehelichen Lebensgemeinschaft

3. Behandlung

der eheähnlichen

Gemeinschaft durch

55

Gesetzgebung

und Rechtsprechung

Nachdem in den 70er Jahren (dieses Jahrhunderts!) in Deutschland die letzten straf- und polizeirechtlichen Normen, die nichteheliches Zusammenleben bekämpfen wollten, aufgehoben worden sind, 187 schweigt der Gesetzgeber nun im wesentlichen zu diesem Tatbestand. Ausnahmen bilden die §§ 122 I BSHG, 137 IIa AFG, 6 III 2 BErzGG, bei denen es allerdings nicht so sehr um die grundsätzliche Anerkennung der eheähnlichen Gemeinschaft als vielmehr um die Vermeidung von Nachteilen für Eheleute geht. 188 Möglicherweise ist dies aber bereits ein erster Schritt in Richtung auf eine partielle gesetzliche Berücksichtigung der nichtehelichen Lebensgemeinschaft. So gab es in der Gemeinsamen Verfassungskommission 189 für den Vorschlag, die nichteheliche Lebensgemeinschaft auch ausdrücklich als Schutzgut in das Grundgesetz aufzunehmen, immerhin Stimmengleichheit. Wenn dies auch noch ein weiter und - wie die Arbeit zeigen wird - auch nicht unbedingt empfehlenswerter Schritt zur erforderlichen 2/3-Mehrheit in Bundestag und Bundesrat ist, so ist doch eine rechtspolitische Tendenz in Richtung auf eine einfach-rechtliche Regelung in Teilbereichen unverkennbar. 190 Für die Rechtsprechung - und zwar gerade für die Amts- und Landgerichte gehört die Beschäftigung mit nichtehelichen Lebensgemeinschaften dagegen schon fast zum täglichen Brot. 191 Immer wieder stehen sie vor der Frage, ob sie Normen, die nichteheliche Lebensgemeinschaften nicht ausdrücklich erwähnen, dennoch auf diese anwenden dürfen. Die Schwierigkeit der Rechtsprechung hängt also unmittelbar mit der Zurückhaltung des Gesetzgebers gegenüber einem sozialen Massenphänomen zusammen. Eine einheitliche Linie in der Rechtsprechung ist noch immer nicht erkennbar, und Ε. M. von Münch stellt selbst für die obersten Bundesgerichte eine kaum zu übersehende Unsicherheit fest. 192

187

Nachweise bei Skwirblies, S. 52ff. Diederichsen NJW 1983, 1017/1018; Simon JuS 1980, 252/252; offengelassen in BVerfGE 82, 6/14. 189 Vgl. dazu die abschließenden Bemerkungen im 4. Teil Β. I. 190 In diese Richtung gehen auch die Beschlüsse des 57. Deutschen Juristentages 1988 Band II, I 233ff. 191 Eine Übersicht für die Zeit bis 1988 findet sich bei Battes JZ 1988, 908ff, 957ff; ausführliche Zusammenfassung auch der neuesten Rechtsprechung bei Grziwotz FamRZ 1994, 1217ff. Jeweils aktuelle Übersichten finden sich in den Registern der FamRZ. 192 von Münch in: von Münch/Kunig, Art. 6 Rdnr. 24. 188

56

Erster Teil: Geschichtliche und verfassungsrechtliche Grundlagen II. Terminologie

Bevor versucht wird, sich diesem sozialen Tatbestand durch eine Definition zu nähern, sollen einige terminologische Klarstellungen erfolgen. Die begriffliche Vielfalt ist hier nämlich kaum zu übertreffen und korrespondiert mit der Vielzahl unterschiedlicher Zahlenangaben und Definitionen. So wird von "Ehe auf Probe", "Ehe ohne Trauschein", "wilder Ehe", "freier Ehe", "Konkubinat" oder "alternativer Lebensgemeinschaft" gesprochen, um nur einige Begriffe zu nennen.193 Manche dieser Begriffe sind negativ besetzt; so hat die Bezeichnung "Konkubinat" heute einen eher abwertenden Klang, wurde er doch auch von der Kirche im Kampf gegen unverheiratet Zusammenlebende verwendet. 194 Der Begriff "wilde Ehe" assoziiert Unordnung; die Verwendung des Terminus "freie Ehe" hingegen erweckt den falschen Eindruck, als seien nur formlos Zusammenlebende frei. Solange über die Bewertung außerehelicher Gemeinschaften Uneinigkeit besteht, wird auch kein Begriff gefunden werden, der allgemeine Zustimmung findet. Im Sinne einer möglichst wertungsfreien Terminologie und einer klaren Abgrenzung von der Ehe haben sich die Bezeichnungen "nichteheliche Lebensgemeinschaft", die sich in den meisten Veröffentlichungen zum Thema befindet, 195 und "eheähnliche (Lebensgemeinschaft", die in ersten, bereits erwähnten, Gesetzestexten auftaucht, 196 durchgesetzt. Hier werden daher - in Übereinstimmung mit der bundesverfassungsgerichtlichen Judikatur 197 - beide Begriffe verwendet.

193

Übersicht bei Skwirblies, S. 341Ï. Vgl. Schwab FamRZ 1981, 1151/1152. Luckey, Eheähnliche und sonstige Wohn- und Wirtschaftsgemeinschaften, S. 28, verweist zu Recht darauf, daß Wortwahl und Weltbild oft korrespondieren. 195 Vgl. nur die im Literaturverzeichnis genannten Veröffentlichungen. Die Ansicht von Gernhuber FamRZ 1981, 721/723, der Begriff habe keine Zukunft, dürfte angesichts dessen widerlegt sein. 196 Manche, ζ. B. Giesen, Rdnr. 454 Fn. 1 und Gernhuber FamRZ 1981, 72I/723f, halten diesen Begriff - wohl wegen der zu starken Betonung der Ähnlichkeit mit der Ehe - für mißverständlich. Wegen der vielfach bestehenden Gemeinsamkeiten zwischen Ehe und Niclitehc paßt er aber oft gerade am allerbesten. 197 Vgl. BVerfGE 82, 6/14 einerseits und BVerfGE 87, 234/263 andererseits. Müller-Manger, S. 79 und Müller, Eheähnliche Gemeinschaften. S. 136 sehen hingegen im Terminus "nichteheliche Lebensgemeinschaft" den Oberbegriff, der beispielsweise auch gleichgeschlechtliche Lebensgemeinschaften umfasse. 194

C. Der Tatbestand der nichtehelichen Lebensgemeinschaft

57

III. Definition I. Schwierigkeiten

und Notwendigkeit

einer Definition

Mit dem zahlenmäßigen Anstieg nichtehelicher Lebengemeinschaften wuchs auch das Bedürfnis, dieses soziale Massenphänomen durch eine griffige Definition rechtlich zu handhaben. Eine allgemeingültige Definition ist aber bisher nicht gefunden - auch nachdem der Gesetzgeber die eheähnliche Gemeinschaft in den §§ 122 BSHG, 137 IIa AFG, 6 III 2 BErzGG zur Kenntnis genommen hat. 198 Es dürfte auch unmöglich sein, die Vielzahl zwischenmenschlicher Verbindungen abstrakt zu umschreiben und damit gleichzeitig der gelebten Realität jeder Verbindung und dem Grad der Unterschiede zur Ehe gerecht zu werden. Der rechtstatsächliche Befund hat gezeigt, daß es die nichteheliche Lebensgemeinschaft nicht gibt. Nichteheliches Zusammenleben außerhalb der Familie sind lose Zweckwohngemeinschaften genauso wie das Zusammenleben zweier Freunde oder Geschwister. Es sind homosexuelle wie heterosexuelle Verbindungen, von vornherein nur kurzfristige wie auch auf Dauer angelegte Beziehungen.199 Nicht alle diese Gemeinschaften sind aber - auch nicht nach ihrem eigenem Selbstverständnis - nichteheliche Lebensgemeinschaften. Trotz dieser Vielfalt kann aber auf eine Charakterisierung nicht verzichtet werden. Ein Vergleich mit der Ehe ist nur möglich, wenn die Tatbestände, die miteinander verglichen werden, einigermaßen deutlich umrissen sind. Es können nicht Rechtsfolgen an einen sozialen Sachverhalt geknüpft werden, wenn über ihn selbst Unklarheit herrscht. 200 Dabei müssen subsumierbare Merkmale gefunden werden, die einigermaßen objektivierbar sind und nicht wegen zu großer Beweisschwierigkeiten unpraktikabel sind. 201 Es ist allerdings auch nicht sinnvoll - wie dies verschiedentlich geschieht - so allgemeine Umschreibungen

198 Luckey, Eheähnliche und sonstige Wohn- und Wirtschaftsgemeinschaften, S.34, kritisiert deshalb vollkommen zu Recht, der Gesetzgeber habe der Verwaltung eine Bestimmung "beschert", ohne die für sie erforderlichen Kriterien mitzuliefern. Kritisch auch Grziwotz FamRZ 1994, 1217/1218. 199 Aufgrund dieser Heterogenität meint Bosch FamRZ 1980, 849/852, eine Definition sei überhaupt nicht möglich, so daß sich nichtehclichc Lebensgemeinschaften einer Regelung entzögen. Gegen ihn zutreffend Knoche, S. 14 mit dem Hinweis darauf, daß auch sonst jeder unbestimmte Rechtsbegriff bei der Rechtsanwendung einer Konkretisierung bedarf. An anderer Stelle scheint Bosch (FamRZ 1986, 676/6761) dieses Problem allerdings plötzlich für überwindbar zu halten; dort geht es allerdings um eine Belastung der nichtehelichen Lebensgemeinschaft... 200

201

Skwirblies.

S. 40f.

Vgl. Schirmer DAR 1988,289/294.

58

Erster Teil: Geschichtliche und verfassungsrechtliche Grundlagen

zu verwenden, daß eine Abgrenzung zu hier irrelevanten (weil im Vergleich zur Ehe ersichtlich ein aliud) Lebensgemeinschaften kaum noch möglich ist. 202 2. Relativität

einer Definition

Das Bundesverfassungsgericht hat im Rahmen der verfassungsrechtlichen Überprüfung des § 137 IIa AFG 2 0 3 einen bemerkenswerten Definitionsversuch unternommen: "Lebensgemeinschaft zwischen einem Mann und einer Frau, die auf Dauer angelegt ist, daneben keine weitere Lebensgemeinschaft zuläßt

und sich durch

innere

Bindungen

Einstehen der Partner füreinander einer reinen Haushalts-

auszeichnet,

begründen,

die ein

gleicher

also über die Beziehungen

und Wirtschaftsgemeinschaft

Art

gegenseitiges in

hinausgehen." 20*

Bereits vorher hatte das Bundessozialgericht geurteilt, daß eine eheähnliche Gemeinschaft im Sinne des § 137 IIa AFG vorliege, "wenn zwei miteinander nicht verheiratete Personen, zwischen denen die Ehe jedoch rechtlich grundsätzlich möglich ist, so wie ein nicht getrennt lebendes Ehepaar in gemeinsamer Wohn- und Wirtschaftsgemeinschaft leben, sie also in Übereinstimmung einen gemeinsamen Haushalt so führen, wie es für zusammenlebende Ehegatten typisch ist." 205 Mit ähnlicher Tendenz hat das Sozialgericht Freiburg gefordert, es müsse sich um eine Gemeinschaft handeln, die außer dem formalen Akt der Eheschließung alle Merkmale einer Ehe aufweise. 206 Diese Urteile setzen allerdings einen engeren Maßstab als die bisherige Rechtsprechung an. Nach Ansicht des Bundesverwaltungsgerichts kommt es allein auf das Bestehen einer Wohn- und Wirtschaftsgemeinschaft zwischen einer Frau und einem Mann an. Entscheidend sei nicht, daß zwischen den Partnern innere Bindungen oder Verpflichtungen zur Unterhaltsgewährung oder zur gemeinsamen Lebensführung bestünden. Zentrale Bedeutung hat dagegen der Umstand, daß in der Gemeinschaft wie in der Ehe "aus einem Topf " gewirtschaftet werde. 207

202

So aber ζ. B. Münder in: AK-BGB, Anh. zu $ 1302 Rdnr. 1 ; Maus, S. 30. Dazu im einzelnen 3. Teil F. II. 1. 204 BVerfGE 87, 234/264. 205 BSGE 63, 120/123. 206 Freiburg info also 1988, 109/110. Auch in der Literatur wird mitunter allein dieser Unterschied für maßgeblich gehalten: Beyerle, S. 15; Kossendey, S. 6; Kunigk, S. 15; ähnlich offenbar auch Konrad, S. 26f; Deutsch, S. 37ff und Lingemann, S.44. 207 BVerwGE 15, 306/312f; 52, 11/14; ebenso bereits BVerfGE 9, 20/32. Dieser Definition haben sich die unterinstanzlichen Verwaltungs- und Sozialgerichte und die sozialrechtliche 203

C. Der Tatbestand der nichtehelichen Lebensgemeinschaft

59

Die eheähnliche Gemeinschaft wird also vor allem durch wirtschaftliche Kriterien umschrieben. Dies ist allerdings auch nicht erstaunlich, weil es jeweils um die Frage der Bedürftigkeit eines Sozialhilfe- oder Arbeitslosenhilfeempfängers und die Möglichkeit der Anrechnung der Einkünfte des Partners ging. Insoweit stellt sich in der Tat die Frage, ob die Partner eine der Ehe vergleichbare Wirtschaftsgemeinschaft bilden, in der ein derartiges Einstehen füreinander vermutet werden kann. Bundesverfassungsgericht und Bundessozialgericht definieren die eheähnliche Gemeinschaft deshalb ausdrücklich auch nur im Hinblick auf die Bedürftigkeitsprüfung bei § 137 IIa AFG. 2 0 8 Hier zeigt sich die Relativität der begrifflichen Bestimmung der nichtehelichen Lebensgemeinschaft, da sich die Definitionen gerade in der Rechtsprechung am jeweiligen Rechtsgebiet orientieren und daher keinesfalls Allgemeingültigkeit beanspruchen können. 209 Ein Vergleich kann immer nur im Hinblick auf die anzuwendende Rechtsnorm erfolgen. Die Definition wird also nicht nur nach der gelebten Realität zu differenzieren haben, sondern muß am Normzweck ausgerichtet fragen, ob die Unterschiede zwischen der konkreten Lebensgemeinschaft und der Ehe gerade im Hinblick auf die anzuwendende Norm wesentlich sind. 210 Das Problem liegt also nicht so sehr in der Entwicklung einer allgemeingültigen Definition (diese gibt es nämlich nicht), sondern im Erkennen der in einer Rechtsnorm getroffenen Wertungen.

3. Wesentliche Merkmale für das Vorliegen einer eheähnlichen

Gemeinschaft

a) Vorüberlegung Da nicht für jede Rechtsnorm eine eigene Definition der nichtehelichen Lebensgemeinschaft entwickelt werden kann, empfiehlt es sich, Kriterien zusammenzustellen, deren kumulatives Vorliegen den Tatbestand der eheähnlichen Gemeinschaft indiziert. Sodann kommt es entscheidend darauf an, wie hoch die Anforderungen an das Vorliegen dieser Merkmale sind. Dieses zweistufige Verfahren entspricht der bisherigen Erkenntnis, daß es verschiedene Formen nichtehelicher Lebensgemeinschaften gibt - insbesondere, soweit es Literatur überwiegend angeschlossen: Nachweise dazu bei Voß, S. 28 Fn. 45 und S. 29 Fn. 51. VGH Mannheim NJW 1993, 2886 hält daran auch nach der Entscheidung BVerfGE 87, 234 fest. 208 BVerfGE 87, 234/265; BSGE 63, 120/123. 209 Vgl. bereits Lipp AcP 180 (1980), 537/545. Das übersieht Seewald ÌZ 1993, 148/150, wenn er kritisiert, daß das BVerfG das Bestehen einer eheähnlichen Gemeinschaft allein von Indizien abhängig mache. 2,0 Maus, S. 26; Müller-Manger, S. 141 ; Skwirblies, S. 44f.

60

Erster Teil: Geschichtliche und verfassungsrechtliche Grundlagen

um die Intensität der wirtschaftlichen Verflechtung untereinander geht. Durch den Verzicht auf die vom Bundesverfassungsgericht angelegten 211 "Extremindizien" (bei deren Aufstellung es sich ersichtlich an der konkreten Norm orientiert) werden auch solche Verbindungen als eheähnliche Gemeinschaft behandelt, in denen die Partner zwar eine intensive und einzigartige affektive Bindung zueinander haben, deren Verbindung aber auf wirtschaftlichem Gebiet nicht über die einer sonstigen Wohn- und Wirtschaftsgemeinschaft hinausgeht.212 Dies ist schon deshalb erforderlich, um nicht bereits qua Definition zahlreiche Partnerschaften auszuschließen, die nach ihrem Selbstverständnis und dem allgemeinen Sprachgebrauch unzweifelhaft in nichtehelicher Lebensgemeinschaft leben. So können sie dort, wo es allein auf die persönliche Verbindung ankommt, möglicherweise wie die Ehe behandelt werden. Wenn sie aber eine qualifizierte, der Ehe vergleichbare wirtschaftliche Struktur nicht aufweisen, ist eine Gleichstellung dort ausgeschlossen, wo es gerade auf diese ankommt. Davon unabhängig ist aber in beiden Fällen ihre Einstufung als eheähnliche Gemeinschaft. b) Bestimmung der Einzelmerkmale aa) Monogame

Verbindung

zweier

Menschen

Diese Voraussetzung lehnt sich an die der ehelichen Lebensgemeinschaft an und orientiert sich damit an der abendländischen Vorstellung von der Ehe, welche polygame Verbindungen ausschließt.213 Dagegen soll hier nicht die in vielen Arbeiten sonst übliche Ausgrenzung gleichgeschlechtlicher Lebensgemeinschaften vorgenommen werden. Sie können auf gleicher emotionaler Basis wie heterosexuelle Lebensgemeinschaften auf Dauer wie Eheleute zusammenleben. Sie können nur keine Ehe eingehen, was aber nicht bedeuten kann, daß sie damit weniger schutzbedürftig sind und nicht unter gleichen Voraussetzungen wie die heterosexuelle nichteheliche Lebensgemeinschaft auch analog der Ehe behandelt werden können. 214 Auch das Bundesverfassungsgericht hat mittlerweile entsprechende Andeutungen gemacht;215 an-

211

Luckey FuR 1993, 22/24. Auch Ruland NJW 1993, 2855 hält die Definition für mißlungen. Zu diesem Begriff gleich bei b) cc). Wie das Bundesverfassungsgericht will hingegen Riifner, Sozialrecht und nichteheliche Lebensgemeinschaft, S. 88 solche Gemeinschaften schon nicht als nichteheliche Lebensgemeinschaft behandeln. 213 S.o. B. III. 1. 212

214

Konrad, S. 21 f; Maus, S. 27; Voß, S. 35f.

215

BVerfG-VPr, NJW 1993, 3058/3058f bei c).

C. Der Tatbestand der nichtehelichen Lebensgemeinschaft

61

dere Länder - wie Dänemark und Schweden - gehen sogar noch weiter und ermöglichen die Registrierung dieser Partnerschaften mit der Ehe vergleichbarer Wirkung. 216 Die gleichgeschlechtliche Lebensgemeinschaft ist daher nichteheliche Lebensgemeinschaft; da sich aber gerade im Verhältnis zu Kindern spezielle Probleme ergeben, wird ihre Rechtsstellung im folgenden außer Betracht bleiben. bb) Besondere

emotionale

Verbindung

Dieses Merkmal hat eine überragende Bedeutung. Gerade die besondere persönliche Beziehung unterscheidet die nichteheliche Lebensgemeinschaft von jeder anderen Wohngemeinschaft. Sie ist die Basis und das Motiv des gemeinsamen Lebens. Aus dieser intensiven affektiven Bindung empfängt die nichteheliche Lebensgemeinschaft ihre Konstanz und Stabilität. Dies bedeutet aber auch Einmaligkeit und Exklusivität; ein Nebeneinander mehrerer nichtehlicher Lebensgemeinschaften ist daher genauso ausgeschlossen wie Lebensgemeinschaften, in denen einer oder beide Partner noch anderweitig verheiratet sind. 217 Eine Geschlechtsgemeinschaft ist hingegen selbstverständlich nicht erforderlich; sie ist ja auch kein konstitutives Element der Ehe. 218 cc) Wohn- und

Wirtschaftsgemeinschaft

Die besondere persönliche Verbundenheit der Partner muß in einem gewissen Umfang auch nach außen durch eine gemeinsame Lebensführung in einer gemeinsamen Wohnung dokumentiert sein. Deshalb kommt gerade diesem Merkmal auch ein erheblicher Beweiswert zu; es schafft als Ersatz für den fehlenden Formalakt Publizität. Im Detail bestehen allerdings erhebliche Probleme. Es fragt sich, wie diese Wirtschaftsgemeinschaft ausgestaltet sein muß. Sicherlich wird man in gewissem Umfang eine gemeinsame Haushaltsführung zu fordern haben. Das betrifft gerade die Verbrauchsgegenstände des täglichen Lebens; eine Gemeinschaft, in der beide Partner ohne eine gemeinsame Planung jeder für sich einkaufen und womöglich noch in getrennten Räumen - ihre eigenen Lebensmittel aufbewahren und konsumieren, ist daher keine Wirtschaftsgemeinschaft. Gerade die Gemeinsamkeit im Alltag ist untrennbar mit der besonderen persönlichen 216

Wacke FamRZ 1990, 347ff zum dänischen Recht und Agell FamRZ 1990, 817/820f (Schweden). 2,7 BGIIZ 84, 36/38; Ohlenburger-Bauer, S. 3. 218 Maus, S. 30; Skwirblies, S. 49; Stintzing, Nichteheliche Lebensgemeinschaft, S. 63.

62

Erster Teil: Geschichtliche und verfassungsrechtliche Grundlagen

Bande der zusammenlebenden Partner verbunden. Dies dürfte auch die Tendenz des Teils der Rechtsprechung sein, die mit dem Schlagwort "Wirtschaften aus einem Topf' operiert. 219 Nach dieser Rechtsprechung ist es nämlich nicht erforderlich, daß eine gemeinsame Kasse für alle Anschaffungen oder gar ein gemeinsames Konto besteht. Die Rechtsprechung verzichtet auch auf das Erfordernis eines gemeinsamen Mietvertrages und auch darauf, daß größere gemeinsame Anschaffungen getätigt wurden. Ausreichend ist danach allein das einvernehmliche Bestreiten der alltäglichen Ausgaben für den gemeinsamen Haushalt auf der Grundlage einer gemeinsamen Planung. Dieses Mindestmaß an gemeinsamer Haushaltsführung - das (beispielsweise berufsbedingte) vorübergehende und auch regelmäßige Abwesenheit eines der Partner nicht ausschließt 220 - dürfte konstitutives Element jeder nichtehelichen Lebensgemeinschaft sein. 221 Dies kann aber ansonsten eine durchaus erhebliche und von den Partnern ja gerade auch gewünschte finanzielle Unabhängigkeit voneinander bedeuten, die durch den Begriff "Wirtschaften aus einem Topf' allerdings eher verdeckt wird. 222 Im folgenden werden die eheähnlichen Gemeinschaften, die sich nur durch dieses Minimum an gemeinsamer Haushaltsführung auszeichnen, als einfache Wirtschaftsgemeinschaft

bezeichnet.

Wie bereits angedeutet, geht die neue Formel des Bundesverfassungsgerichts aber über das Erfordernis einer reinen Haushalts- und Wirtschaftsgemeinschaft ausdrücklich hinaus. Es sollen nur die Gemeinschaften erfaßt werden, die sich "so sehr füreinander verantwortlich fühlen, daß sie zunächst den gemeinsamen Lebensunterhalt sicherstellen, bevor sie ihr persönliches Einkommen zur Befriedigung eigener Bedürfnisse verwenden." 223 So definierte Lebensgemeinschaften sind in Notlagen zur gegenseitigen finanziellen Unterstützung bereit. Sie tätigen in der Regel auch Anschaffungen, die über den alltäglichen Bedarf hinausgehen, wie ζ. B. gemeinsame Möbel oder ein gemeinsames Kraftfahrzeug. Dazu gehören auch zukunftsgerichtete Investitionen wie gemeinsame Geldanlagen. Die finanziellen Sphären vermischen sich hier in besonderem Maße; der wechselseitige Einsatz finanzieller Mittel überwiegt gegenüber der 2,9

BVerwGE 15, 306/312f; 52, 11/121; 70, 278/280; BSGE 63, 120/125, 127. Wacke in: Münchener Kommentar BGB, nach § 1302 Rdnr. 1. 221 A. A. - bezogen auf das von ihm untersuchte Straf- und Strafprozeßrecht - Sfovirblies, S. 48, der dieses Merkmal nur für ein wichtiges Indiz hält. 222 Luckey, Eheähnliche und sonstige Wohn- und Wirtschaftsgemeinschaften, S. 34; Brocke SGb 1988, 433/436; Hummel-Liljegren ZRP 1987, 310/313; Münder ZfSH/SGB 1986, 193/194. Die offensichtliche Differenz zwischen der Wortwahl und deren Inhalt dürfte auch mitverantwortlich für die problematische Rechtsprechung im Sozialhilfe- und Arbeitslosenhilferecht sein; dazu 3. Teil F. II. 1. 223 BVerfGE 87, 234/267. 220

C. Der Tatbestand der nichtehelichen Lebensgemeinschaft

63

korrekten Abgrenzung und Abrechnung. Außerordentliches Gewicht hat auch in dieser Hinsicht im übrigen das Vorhandensein gemeinsamer Kinder, deren gemeinsame Erziehung, Pflege und Versorgung Ausdruck einer besonderen persönlichen und auch wirtschaftlichen Verbindung der Partner ist. Man kann diese Gemeinschaften im Sinne der Definition des Bundesverfassungsgerichts als Einstehensgerneinschafte η bezeichnen. dd) Dauer

Hier gibt es gerade in der Literatur ganz erhebliche Differenzen. Häufig wird für das Vorliegen einer nichtehelichen Lebensgemeinschaft eine gewisse Mindestdauer der Beziehung gefordert, um flüchtige Bekanntschaften und vorübergehende Beziehungen auszuschließen.224 Meist wird dabei eine Mindestdauer von zwei Jahren genannt.225 Dies geschieht allerdings ausgerechnet durch den Rückgriff auf die eherechtliche Vorschrift des § 1579 Nr. 1 BGB, wonach Unterhaltsansprüche versagt werden können, wenn die Ehe nur von kurzer Dauer war. Dies ist nach der Rechtsprechung in der Regel bei einer Ehedauer von drei Jahren nicht mehr, bei einer Dauer von zwei Jahren dagegen noch der Fall. 226 Der Rückgriff auf § 1579 Nr. 1 BGB dürfte freilich verfehlt sein, da es in dieser Norm um gesetzliche Unterhaltsansprüche geht, die - mit Ausnahme des § 1615 1 BGB - zwischen den Partnern einer nichtehelichen Lebensgemeinschaft gerade nicht bestehen.227 Die Dauer der Beziehung kann aber nichts über die Qualität und die Stabilität der inneren Übereinstimmung und Zuneigung aussagen. Es kommt vielmehr darauf an, daß die Bindung auf der Basis der emotionalen Verbundenheit auf Dauer angelegt ist. 228 Als Indizien dafür lassen sich wiederum die beiden vorhergehenden Merkmale und dabei gerade die auf eine gewisse Regelmäßigkeit angelegten alltäglichen Planungen und Dispositionen nennen.

4. Das Beweisproblem

Das Fehlen einer allgemeingültigen Definition der nichtehelichen Lebensgemeinschaft führt notwendig zu erheblichen Beweisschwierigkeiten, wenn es

224 225

226 227

Winger S. 21; Ilaistrick, Voß, S. 43.

S. 31 ff; Voß, S. 39, 43; vermittelnd: Maus, S. 28.

BGH FamRZ 1986, 886/887. Zutreffend Grosse, S. 47IT.

228 IKJI-IZ 84, 36/38; Deutsch, S. 39; Knoche, S. 18; Grosse, S. 49; Ohlenburger-Bauer, Schirmer DAR 1988, 289/295; Strütz FamRZ 1980, 301/303.

S. 2;

64

Erster Teil: Geschichtliche und verfassungsrechtliche Grundlagen

darum geht, Rechtsfolgen an das Zusammenleben zweier Menschen zu knüpfen. 229 Dieses Beweisproblem betrifft vor allem das Merkmal des gemeinsamen Wirtschaftens, das insbesondere bei der Bedürftigkeitsprüfung in den §§ 122 BSHG, 6 III 2 BErzGG, 137 IIa AFG 2 3 0 erhebliche Bedeutung erlangt hat. Nach allgemeinen Grundsätzen liegt die Beweislast für das Vorliegen einer eheähnlichen Gemeinschaft insoweit grundsätzlich auf staatlicher Seite.231 In der Rechtsprechung zeigt sich allerdings die Tendenz zu einer Beweislastumkehr, indem bei gemeinsamen Wohnen vermutet wird, daß die Partner füreinander einstehen und es dem Hilfesuchenden obliegt, das NichtVorliegen einer Einstehensgemeinschaft zu beweisen.232 Diese - der einfach-gesetzlichen Lage nicht entsprechende233 - Vermutung ist allerdings nicht akzeptabel. Sie führt dazu, daß jede Wohngemeinschaft nachweisen muß, daß sie nicht gemeinsam wirtschaftet - ein angesichts des nebulösen Begriffs "Wirtschaften aus einem Topf' oft aussichtsloses Unterfangen. Selbst wenn keine tatsächlichen Leistungen zwischen den Parteien fließen, werden diese quasi gezwungen, auch finanziell füreinander einzustehen, wenn sie die Gemeinschaft nicht auflösen wollen. Dies kann und darf aber nicht die Absicht des Gesetzgebers sein. Befriedigend lösen läßt sich das Beweisproblem nicht; dies aber ist kein spezifisches Problem der eheähnlichen Gemeinschaft, sondern ein im gesamten staatlichen Leistungsbereich anzutreffendes Phänomen. Letztlich ist die Verwaltung darauf angewiesen, daß der Hilfesuchende korrekte und umfassende Angaben macht; dies wiederum läßt sich noch am ehesten sicherstellen, wenn die Sorge für den anderen auch entsprechend honoriert wird, zum Beispiel durch die steuerliche Berücksichtigung tatsächlich geflossener Unterhaltsleistungen.234

229

Ein Problem, vor dem auch die extrem enge Definition von BVerfGE 87, 234/264 steht. Dazu 3. Teil F. II. 1. 231 Luckey, Eheähnliche und sonstige Wohn- und Wirtschaftsgemeinschaften, S. 32; Schwabe ZfS 1989, 13 8/13 8 f. 232 BVerwGE 52, 11/15; OVG Lüneburg ZfSI I/SGB 1986, 217/217f. 233 Luckey, Eheähnliche und sonstige Wohn- und Wirtschaftsgemeinschaften, S. 33. 234 Zu diesem Fragenkomplex 3. Teil F. II. 1 .c) aa) ( 1 ) (b). 230

C. Der Tatbestand der nichtehelichen Lebensgemeinschaft

65

5. Fazit

Die nichteheliche Lebensgemeinschaft läßt sich nicht durch eine im Hinblick auf jede Rechtsnorm allgemeingültige Definition erfassen. Auf jeden Fall muß es sich aber um eine auf der emotionalen Verbundenheit beruhende monogame und auf Dauer angelegte Wohngemeinschaft handeln, die sich durch eine gemeinsame Haushaltsführung, nicht aber unbedingt durch eine umfassende finanzielle Verflechtung auszeichnen muß. Der Grad der Vermischung der finanziellen Sphären kann aber bei bestimmten Rechtsnormen von erheblicher Bedeutung sein und auch Differenzierungen innerhalb der verschiedenen nichtehelichen Lebensgemeinschaften fordern.

IV. Verfassungsrechtlicher Schutz

In den Beratungen zum Grundgesetz tauchte die nichteheliche Lebensgemeinschaft nur am Rande im Zusammenhang mit Art. 6 V GG als eine möglichst zu verhindernde Form des Zusammenlebens auf. 235 So verwundert es nicht, daß sie vom Grundgesetz nicht ausdrücklich erwähnt wird. Auch die Landesverfassungen äußern sich zu diesem Tatbestand mit einer einzigen Ausnahme nicht und es verwundert nicht, daß es eine noch junge Verfassung ist, die diese Ausnahme darstellt. In der am 14. 6. 1992 durch eine Volksabstimmung angenommenen Verfassung von Brandenburg (die in Art. 26 I LV Ehe und Familie schützt, die "durch das Gemeinwesen zu schützen und zu fördern sind") heißt es in Art. 26 II LV: "Die Schutzbedürftigkeit anderer auf Dauer angelegter Lebensgemeinschaften wird anerkannt." 236

235

Vgl.bereitsobenB.il. Hinzuweisen ist in diesem Zusammenhang auch auf den Verfassungsentwurf des "Runden Tisches" in der DDR (vgl. Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 19. 4. 1990, S. 4): Dort bezieht Art. 22 in die Pflicht des Staates zum Schutz der Ehe und Familie ausdrücklich auch "andere Lebensgemeinschaften ein, die auf Dauer angelegt sind." Sie hätten Anspruch auf Schutz vor Diskriminierung. Vgl. auch den Verfassungsentwurf "Eine Verfassung für Deutschland" des Kuratoriums tur einen demokratisch verfaßten Bund deutscher Länder in: Guggenberger/Preuß/UIlmann, S. 58f, wonach Familien unabhängig von einer bestehenden Ehe den besonderen Schutz der staatlichen Ordnung genießen sollen; zusammenfassend zu den verschiedenen Reformvorschlägcn Berghahn KJ 1993, 397/398, 408ff. - Kritisch zu Art. 26 II BrandbgVerf. Dietlein DtΖ 1993, 136/140f, der wegen Art. 31 GG die Ansicht vertritt, daß diese Vorschrift durch Art. 6 I GG derogiert werde. Wenn man davon ausgeht, daß auch das Grundgesetz die nichteheliche Lebensgemeinschaft schützt, ohne daß damit gleichzeitig die Ehe entprivilegiert wird (vgl. Rux NJ 1992, 147/148), vermag dies allerdings kaum zu überzeugen (dazu gleich unter 2.). 236

5 Kinyrcen

66

Erster Teil: Geschichtliche und verfassungsrechtliche Grundlagen

Die veränderte gesellschaftliche und rechtspolitische Einstellung zu eheähnlichen Lebensgemeinschaften hat aber auch die bundesverfassungsrechtliche Diskussion belebt, und mittlerweile wird ganz überwiegend davon ausgegangen, daß das Schweigen des Grundgesetzes hier ein "beredtes" 237 ist.

/. Art. 6

IGG

a) Die eheähnliche Gemeinschaft als Schutzgut des Art. 6 I GG? Art. 6 I GG erwähnt nur Ehe und Familie als zu schützende Lebensgemeinschaften. Dennoch wird neuerdings behauptet, es habe ein Verfassungswandel stattgefunden, der diese Verfassungsbestimmung in neuem Licht erscheinen lasse.238 Die Ehe sei auch nach der Entstehungsgeschichte von Art. 6 I GG keine exklusive Form des Zusammenlebens zwischen Frau und Mann; schließlich sei im Parlamentarischen Rat der Vorschlag gescheitert, die Ehe als einzig rechtmäßige Form des Zusammenlebens zwischen Mann und Frau in der Verfassung festzuschreiben. 239 Zwischen der Lebenswirklichkeit und der alleinigen verfassungsrechtlichen Gewährleistung der Ehe gebe es angesichts der außerordentlichen Zunahme eheähnlicher Gemeinschaften mittlerweile eine erhebliche Diskrepanz; die Ehe erfülle nicht mehr allein die ihr traditionell zugeschriebene Aufgabe, und die Gründe, die damals zu ihrem besonderen verfassungsrechtlichen Schutz geführt hätten, könnten heute auch für den besonderen Schutz nichtehelicher Lebensgemeinschaften angeführt werden. Deshalb sei die nichteheliche Lebensgemeinschaft heute kraft Verfassungswandels Schutzgut des Art. 6 I GG. b) Grenzen des Verfassungswandels In gewiß nicht schlechter Absicht betreten die Vertreter dieser Auffassung mit der Behauptung eines Verfassungswandels ein unsicheres Terrain; zumal, wenn dieser im Bereich der Grundrechte stattgefunden haben soll. Durch die Behauptung eines Verfassungswandels besteht nämlich immer die Gefahr, daß die Voraussetzungen einer ausdrücklichen Verfassungsänderung nach Art. 79

237

von Münch, Nichteheliche Lebensgemeinschaft, S. 139. Stintzing, Nichteheliche Lebensgemeinschaft, S. 98ff, insbes. S. 103ff; Deutsch, S. 4Off. Ähnlich betrachtet Schickedanz NJW 1975. 1890/1891 das "voreheliche Suchen und Versuchen" als von Art. 6 I GG geschützte Tätigkeit. 239 Vgl. JöR Bd. I n. F. (1951), S. 92ff. 238

C. Der Tatbestand der nichtehelichen Lebensgemeinschaft

67

GG umgangen werden, die Verfassung also stillschweigend und ungeachtet formeller und materieller Grenzen verändert wird. 240 Allerdings kann auch nach Ansicht des Bundesverfassungsgerichts "eine Verfassungsbestimmung einen Bedeutungswandel erfahren, wenn in ihrem Bereich neue, nicht vorausgesehene Tatbestände auftauchen oder bekannte Tatbestände durch Einordnung in den Gesamtablauf einer Entwicklung in neuer Beziehung oder Bedeutung erscheinen." 241 Art. 79 GG steht damit einem Verfassungswandel nicht von vornherein entgegen;242 aus einem gleichgebliebenen Text können daher zu unterschiedlichen Zeiten auch unterschiedliche Folgerungen gezogen werden. Es stellt sich also die Frage, wo die Auslegung der Verfassung einerseits auf eine veränderte Wirklichkeit reagieren darf und muß, um nicht zum "toten Buchstaben"243 zu werden, und wo sie andererseits fordert, Kontinuität und Stabilität zu wahren. Diese Abgrenzung ist das eigentliche Problem des Verfassungswandels und deshalb auch Hauptgegenstand der rechtsmethodischen Diskussion.244 Vielfach wird dabei der Wortlaut der Norm als Grenze der Auslegung angesehen; so heißt es bei Hesse: "Wo die Möglichkeit eines sinnvollen Verständnisses des Normtextes enden oder wo eine 'Verfassungswandlung' in eindeutigen Widerspruch zum Normtext treten würde, enden die Möglichkeiten einer Norm interpretation und mit ihnen auch die Möglichkeit eines Verfassungswandels." 245 Methodisch knüpft Hesse an F. Müller an, der gezeigt hat, daß "Norm" und "Wirklichkeit" nicht voneinander getrennt werden können und daher die von der Norm geordnete Wirklichkeit auch bei der Norm interpretation zu berücksichtigen ist. 246 Den von der Norm erfaßten Ausschnitt aus der sozialen Wirklichkeit bezeichnet Müller als "Normbereich". Davon unterscheidet er das "Normprogramm", welches den Normbereich kreiert und das auch entscheidet,

240

Hesse in: Festschrift Scheuner, S. 139. BVerfGE 2, 380/401. 242 Anders noch von Mangoldt/Klein, Art. 79 Anni. III. 2. 243 Hesse in: Festschrift Scheuner, S. 137. 244 Vgl. vor allem Bryde, S. 264ff; Lerche in: Festgabe Maunz, S. 85ff; Hesse, aaO, S. 123ff; zusammenfassend Böckenförde in: Festschrift Lerche, S. 3ff. 245 Hesse, aaO. S. 139. Kritisch Bryde, S. 267ff mit dem Verweis auf BVerfGE 28, 66/76IT, wo die Anwendung einer Verfassungsnorm (Art. 80 II GG) über deren eindeutigen Wortlaut hinaus akzeptiert wurde. Vgl. auch die parallele Problematik bei der Frage, ob einfachrechtliche Normen qua Auslegung oder Analogie auf eheähnliche Gemeinschaften erweitert werden können (3. Teil F. I.: Bei Normen, die die Ehe ausdrücklich erwähnen, ist dies ausgeschlossen!). 246 Vgl. zum folgenden Müller, Normstruktur und Normativität, S. 114ff. 241

5*

68

Erster Teil: Geschichtliche und verfassungsrechtliche Grundlagen

inwieweit der durch die Wirklichkeit beeinflußte Normbereich veränderbar ist. 247 Das im wesentlichen im Normtext der Verfassungsnorm enthaltene Normprogramm darf daher nicht verändert werden; 248 es ist nämlich entscheidende Instanz für die Prüfung, ob ein stattgefundener faktischer Wandel den Normbereich beeinflussen kann. 249 c) Anwendung auf Art. 6 I GG Es fragt sich also, welche Grenzen das Normprogramm des Art. 6 I GG einem Verfassungswandel setzt. Dazu ist wiederum auf die klassischen Hilfsmittel der Auslegung zurückzugreifen. 250 Dabei kommen historische, grammatische und teleologische Überprüfung des Begriffs der Ehe zu einem eindeutigen Ergebnis: Der historische Rückblick hat gezeigt, daß die Ehe immer eine besondere - wenn auch unter unterschiedlichen Voraussetzungen zustandegekommene Lebensgemeinschaft zwischen Frau und Mann war, und sie wird noch heute im allgemeinen Sprachgebrauch als solche verstanden. Daneben hat es immer andere Lebensgemeinschaften gegeben; man war allerdings immer bemüht, diese von der Ehe zu unterscheiden. Daran hat sich bis heute - und das gilt für Befürworter von Ehe bzw. nichtehelicher Lebensgemeinschaft gleichermaßen nichts geändert. Die Tatsache, daß Art. 6 I GG die Ehe nicht als einzig rechtmäßige Lebensgemeinschaft bezeichnet, besagt deshalb auch nur, daß die Verfassung die nichteheliche Lebensgemeinschaft nicht verbietet, ist aber nicht gleichzeitig ein Argument für ihre Einbeziehung in den Schutzbereich des Art. 6 I GG. Nicht umsonst hat das Grundgesetz die Ehe unter den besonderen Schutz der staatlichen Ordnung gestellt. Dies wäre unnötig gewesen, wenn man damit nicht auch eine Abgrenzung von anderen nichtförmlichen Zusammenschlüssen hätte erreichen wollen. Es ist daher nicht überzeugend, wenn versucht wird, Lebensgemeinschaften, die von den Partnern in bewußter oder unbewußter Ablehnung der Ehe eingegangen werden, unter den Begriff der Ehe zu subsumieren. 251 247

248 249 250

251

Müller, aaO, S. 175f, 185.

Hesse in: Festschrift Scheuner. S. 138; Böckenförde

in: Festschrift Lerche, S. 13.

Hesse, aaO. Hesse, aaO.

Stintzing, Nichteheliche Lebensgemeinschaft, S. 103ff, versucht anhand mehrerer Beispiele nachzuweisen, daß die Verfassung auch an anderer Stelle unbenannte menschliche Tätigkeiten schützt. So sei durch das Recht in Art. 8 GG, sich zu versammeln, auch das Recht zur Beratung, Erörterung und Kundgebung geschützt, ohne daß dies in der Verfassung ausdrückliche

C. Der Tatbestand der nichtehelichen Lebensgemeinschaft

69

Wenn man die Ausdehnung des Art. 6 I GG auf eheähnliche Gemeinschaften befürwortet, so ist dies eine rechtspolitische Forderung, das Normprogramm der Vorschrift ausdrücklich qua Verfassungsänderung zu erweitern, nicht aber eine am Normtext orientierte Verfasssungsauslegung. Eine Ausdehnung von Art. 6 I GG auf eheähnliche Gemeinschaften wird daher auch ganz überwiegend abgelehnt.252 Es bleibt, diese Ansicht gegen den Vorwurf abzusichern, daß sich die Verfassung von der vorgefundenen Wirklichkeit entfernt habe. Dazu ist zunächst zu sagen, daß Art. 6 I GG durchaus nicht immun gegenüber der gesellschaftlichen Wirklichkeit ist. 253 Gerade die vom Bundesverfassungsgericht abgesegnete Reform des Ehescheidungsrechts254 zeigt, daß veränderte gesellschaftliche Anschauungen auch das Verständnis eines Grundrechts beeinflussen können. Darüberhinaus ist Stintzing der Ansicht, daß erst "die verfassungsrechtliche Einbeziehung der nichtehelichen Lebensgemeinschaft in Art. 6 I GG die Möglichkeit einer Konzentration auf die jeweiligen Besonderheiten der beiden Lebensformen und deren adäquate Regelung" eröffne. 255 Gerade dies dürfte aber der Lebenswirklichkeit nicht sehr nahekommen und würde zu erheblichen Begründungsproblemen führen. Wenn nämlich beide Lebensformen unterschiedslos in Art. 6 I GG geschützt würden, wäre es schwer, an diese anknüpfende unterschiedliche Regelungen verfassungsrechtlich zu legitimieren. Wenn also Ehe wie nichteheliche Lebensgemeinschaft gleichermaßen unter dem besonderen Schutz der staatlichen Ordnung stehen, müßten sie auch auf die gleiche Art und Weise geschützt und gefördert werden. Dies wäre we-

Erwähnung finde. Der Vergleich mit Art. 6 I GG schlägt fehl, weil es im Beispiel um notwendig mit der Grundrechtsausübung einhergehende Handlungen geht (und die deshalb grundrechtlichen Schutzes durch das benannte Grundrecht bedürfen!), während die Ausübung des Art. 6 I GG auch ohne den (unbenannten) Schutz des Eingehens einer nichtehelichen Lebensgemeinschaft möglich ist. Art. 6 I GG läuft also nicht leer, wenn die nichteheliche Lebensgemeinschaft nicht geschützt wird! 252 BVerfGE 9, 20/34f; von Münch in: von Miinch/Kunig, Art. 6 Rdnr. 5; Maunz in: Maunz/Dürig, Art. 6 Rdnr. 15a; Pieroth/Schlink. Rdnr. 701; Luckey, Eheähnliche und sonstige Wohn- und Wirtschaftsgemeinschaften, S. 51. Eine Ausdehnung von Art. 6 I GG auf eheähnliche Gemeinschaften kraft Verfassungswandels lehnen auch von Münch in: Landwehr, S. 140f; Grosse, S. lOf; Knoche, S. 51 und Zippelius DÖV 1986, 805/806ff ab. Diese Ansicht wurde ungeachtet aller Differenzen auch einheitlich in der Gemeinsamen Verfassungskommission (BT-Drucks. 12/6000, S. 54ft) vertreten; vgl. 4. Teil B. 253 Die Tatsache, daß der Schutzbereich des Art. 6 I GG maßgeblich durch das einfache Recht geprägt ist und aus der Verfassung selbst nur ein bestimmter Ordnungsrahmen zu entnehmen ist, öffnet die Norm sogar in besonderem Maße: Dazu 2. Teil Β. I. 254 BVerfGE 53, 224. 255 Stintzing, Nichteheliche Lebensgemeinschaft, S. 119.

70

Erster Teil: Geschichtliche und verfassungsrechtliche Grundlagen

der im Sinne der Ehe noch der eheähnlichen Gemeinschaft, die gerade als Alternativentwurf zu jener fungiert. d) Die nichteheliche Lebensgemeinschaft als Schutzobjekt der negativen Seite des Art. 6 1 GG? Schließlich könnte man Art. 6 I GG noch dadurch aktivieren, indem man aus ihm das Recht ableitet, keine Ehe einzugehen, also im Sinne einer negativen Ehefreiheit. 256 Damit würde man freilich mehr Probleme aufwerfen als lösen. Die Figur der "negativen Freiheit" spielte ursprünglich vor allem bei Art. 4 I, II und Art. 9 I, III GG eine Rolle, 257 es wird aber auch die Ansicht vertreten, daß der positiven Freiheitsgarantie generell eine korrespondierende negative Komponente zur Seite stehe.258 Wenn aber die negative Seite das Korrelat der positiven ist, dann muß auch die Schutzbereichsbestimmung spiegelbildlich verlaufen: Der durch die negative Seite gewährleistete Schutz des Unterlassens reicht dann so weit wie der des Tuns durch die positive Seite des Freiheitsrechts. 259 Dies mag man im Verhältnis zwischen positiver und negativer Religionsfreiheit noch einsehen;260 bei Art. 6 I GG führt dies aber nicht weiter, denn Ehe und eheähnliche Gemeinschaft sollen ja gerade nicht unterschiedslos geschützt werden. 261 Der "besondere Schutz" wäre nichts Besonderes mehr, wenn auch ein besonderer Schutz bestünde, ihn nicht anzunehmen. Die Befürworter einer aus Art. 6 I GG abgeleiteten negativen Ehefreiheit beschränken sich daher - unausgesprochen - wohl hauptsächlich auf das Verbot des Ehezwangs im engeren Sinne, also auf ein Abwehrrecht gegen eine staatlich verordnete Verheiratung zweier Menschen. Die Gefährdung der nichtehelichen Lebensgemeinschaft besteht hingegen in Benachteiligungen gegenüber der Ehe und einem dadurch begründeten mittelbaren Ehezwang. Diesen vermag allein ein positiver verfassungsrechtlicher Schutz zu verhindern, der - wie

256 So ζ. B. von Campenhausen VVDStRL 45 (1987), 7/19 Fn. 48; Merten VerwArch 73 (1982), 103/111. 257 Hellermann, S. 2Iff, 59ff, 7Off. 258 von Campenhausen, Staatskirchenrecht, S. 63; Dürig in: Festschrift Nawiasky, S. 157; BethgeNÌW 1982,2145/2147. 259 So ausdrücklich Herzog in: Maunz/Dürig, Art. 4 Rdnrn. 78, 121, Art. 8 Rdnr. 28; Merten in: Handbuch des Staatsrechts Bd. VI, § 144 Rdnr. 59 und von Campenhausen, aaO. 260 Das führt allerdings zu erheblichen Kollisionsproblemen. 261 Vgl. bereits oben c).

C. Der Tatbestand der nichtehelichen Lebensgemeinschaft

71

im folgenden zu zeigen sein wird - bei Art. 2 I (ggfs. i. V. m. Art. 1 I) und Art. 3 I GG angesiedelt ist.

2. Art. 2 I GG

Die Tatsache, daß die nichteheliche Lebensgemeinschaft nicht unter Art. 6 I GG fällt, bedeutet also nicht, daß sie überhaupt keinen verfassungsrechtlichen Schutz genießt. Zwar könnte man daran denken, daß der besondere Schutz der Ehe in Art. 6 I GG abschließend in dem Sinne gemeint ist, daß andere Lebensgemeinschaften überhaupt keinen Schutz der Verfassung genießen sollen. 262 Dies würde eine Art "Konkurrenzschutz" der Ehe bedeuten. Nun spricht das Grundgesetz aber nicht vom "alleinigen", sondern vom "besonderen" Schutz der Ehe. Dieser wird aber nicht dadurch ausgehöhlt, daß die Verfassung auch andere Lebensgemeinschaften schützt.263 Der Schutz der Ehe bleibt ein besonderer; die nichteheliche Lebensgemeinschaft wird nicht der Ehe gleichgestellt.264 Schon deshalb ist aus Art. 6 I GG auch kein Verfassungsauftrag zu entnehmen, Nichtehen durch repressive Maßnahmen zu verhindern. 265 Damit sind wir bei der nach ganz herrschender Meinung durch Art. 2 I GG geschützten allgemeinen Handlungsfreiheit. 266 Gewährleistet wird nicht wie bei den besonderen Freiheitsrechten ein bestimmter, begrenzter Lebensbereich, sondern jegliches menschliche Verhalten "ohne Rücksicht darauf, welches Gewicht der Betätigung für die Persönlichkeitsentfaltung zukommt." 267 Art. 2 I GG ist also immer dann bedeutsam, wenn kein spezielles Grundrecht einschlägig ist. 268

262

Dies meinen wohl Maunz in: Maunz/Dürig, Art. 6 Rdnr. 15a und Vogel VVDStRL 45 (1987), 120/120. 263 BVerfGE 82, 6/13; von Münch, Nichteheliche Lebensgemeinschaft, S. 148f; Sirätz FamRZ 1980,301/304. 264 Die Untersuchung wird zeigen, daß gerade die Anerkennung eines verfassungsrechtlichen Schutzes der eheähnlichen Gemeinschaft die erforderlichen Differenzierungen ermöglicht. 265 Dies erkennt selbst Maimz in: Maunz/Dürig, Art. 6 Rdnr. 15b an. Giesen JZ 1982, 817/819 hält die NichtSanktionierung freilich für die äußerste Grenze staatlicher Billigung. 266 St. Rechtspr. seit BVerfGE 6, 32/36ff: aus der Literatur ζ. B. von Starck in: Mangoldt/Klein/Starck, Art. 2 Abs. 1 Rdnrn. 8ff: Jarass in: Jarass/Pieroth, Art. 2 Rdnr. 2; Pieroth/Schlink, Rdnrn. 401 if; Pieroth AöR I 15 (1990). 33/36ff: Degenhart JuS 1990, 161/163ff. 267 BVerfGE 80. 137/152f. 268 Vgl. die in Fn. 266 Genannten.

72

Erster Teil: Geschichtliche und verfassungsrechtliche Grundlagen

Das weite Verständnis dieses Grundrechts hatte schon der Entwurf des Verfassungskonvents auf Herrenchiemsee formuliert: "Jedermann hat die Freiheit, innerhalb der Schranken der Rechtsordnung und der guten Sitten alles zu tun, was anderen nicht schadet."269 Es ist eine Freiheit, sich grundsätzlich so zu verhalten, wie man will; sie nimmt ihre inhaltliche Komponente aus dem Wesen des Menschen als einer grundsätzlich freien Person. 270 Hier befindet sich der substanzvollere Ansatzpunkt der "negativen Ehefreiheit": Art. 2 I GG schützt nicht nur davor, zur Ehe gezwungen zu werden; er enthält vielmehr auch positive Schutzwirkungen zugunsten anderer Lebensgemeinschaften. Das Leben in einer eheähnlichen Gemeinschaft wird daher mittlerweile auch ganz überwiegend als Ausdruck der allgemeinen Handlungsfreiheit in Art. 2 I GG verstanden. 271 Als Folge des weiten Schutzbereiches sind allerdings auch die Beschränkungsmöglichkeiten recht umfangreich. 272 Daß man nichteheliches Zusammenleben allerdings nicht mehr als Verstoß gegen das Sittengesetz ansehen kann, dürfte nach dem bisher Gesagten zur gesellschaftlichen Akzeptanz eheähnlicher Lebensgemeinschaften heute selbstverständlich und kaum strittig sein. 27 ' Selbst wenn man den Schutzbereich des Art. 2 I GG mit den Kritikern des weiten Verständnisses von Art. 2 I GG 2 7 4 auf eine "engere persönliche Lebenssphäre" 275 bzw. auf "Freiheitsbetätigungen, die für die Entfaltung der Persönlichkeit gewichtig sind" 276 , beschränkt, würde dies nichts an der Einschlägigkeit des Grundrechts ändern. Schließlich gehört die Aufnahme einer besonderen und intimen Beziehung zu einem anderen Menschen zur engsten persönlichen

269

Vgl. JöR I n. F. (1951), 54. Schmitt Glaeser in: Handbuch des Staatsrechts Bd. VI, § 129 Rdnr. 22. 271 So auch die mittlerweile ganz liM: BVcrKil: 56. 363/384; 82, 6/16; 87, 234/267; BGHZ 92, 213/219Γ; aus der Literatur beispielsweise Pie rot h in: Jarass/Pieroth, Art. 6 Rdnrn. 2f; Pieroth/Schlink, Rdnr. 701; Lieh, A 25; von Münch. Nichteheliche Lebensgemeinschaft, S. 149; Luckey. Ehcähnliche und sonstige Wohn- und Wirtschaftsgemeinschaften, S. 52f; Scholz, Nichteheliche Lebensgemeinschaft. S. 39; Steiger VVDStRL 45 (1987), 55/61 f; Zuleeg NVwZ 1986. 800/803; Grziwotz FamRZ 1994, 1217/1218. 272 Dazu Pieroth/Schlink, Rdnrn. 419ff. 273 Vgl. ζ. B. Knoche, S. 57; Luckey. Lheühnliche und sonstige Wohn- und Wirtschaftsgemeinschaften. S. 52f; von Münch. Nichteheliche Lebensgemeinschaft, S. 1471T: Grziwotz FamRZ 1994, 1217/1218. 274 Zusammenfassung der Kritik bei Erichsen in: Handbuch des Staatsrechts Bd. VI, § 152 Rdnrn. 47ΓΓ. 275 Hesse. Vcrfassungsrecht. Rdnr. 428. 276 Sondcrvotum Grimm BVerfGE 80. 164/169. 270

C. Der Tatbestand der nichtehelichen Lebensgemeinschaft

73

Lebenssphäre; sie ist für die Entwicklung der Persönlichkeit des einzelnen von überragender Bedeutung und beeinflußt sein gesamtes Leben. Aufgrund dieser besonderen Affinität zum engsten persönlichen Lebensbereich könnte man im übrigen durchaus daran denken, die nichteheliche Lebensgemeinschaft sogar in den Schutzbereich des durch Art. 2 I i. V. m. Art. 1 I GG garantierten allgemeinen Persönlichkeitsrechts einzubeziehen.277 Geschützt wird hier nämlich "die engere persönliche Lebenssphäre und die Erhaltung ihrer Grundbedingungen [...], die sich durch die traditionellen konkreten Freiheitsgarantien nicht abschließend erfassen lassen."278 Das Bundesverfassungsgericht hat daraus diverse Folgerungen gezogen,279 so auch den Schutz des Intim-, insbesondere des Sexualbereichs. 280 Hier ist also die besondere Beziehung zwischen zwei Menschen - unabhängig von ihrem Familienstand - angesprochen, 281 wenn auch fraglich ist, ob wirklich jede mit der Lebensgemeinschaft zusammenhängende Handlung und - aus staatlicher Sicht jede Beeinträchtigung den Bereich der engeren Persönlichkeitssphäre betrifft. Letztlich braucht dies nicht allgemeingültig beantwortet zu werden, zumal jeweils die Schranken des Art. 2 I GG Grundlage der staatlichen Eingriffsbefugnis sind. 282 Damit wird jeder Eingriff einer Verhältnismäßigkeitsprüfung unterworfen, in der es auch darauf ankommt, inwieweit der engste persönliche Lebensbereich betroffen wird. Die nichteheliche Lebensgemeinschaft wird also verfassungsrechtlich jedenfalls durch Art. 2 I GG geschützt. Damit erweist sich der Vorwurf, die Verfassung habe sich von der Wirklichkeit entfernt, im Hinblick auf eheähnliche Lebensgemeinschaften als gegenstandslos. Durch das weite Verständnis von Art. 2 I GG bleibt die Verfassung offen für neue Lebensformen; die Tatsache, daß die nichteheliche Lebensgemeinschaft nicht durch Art. 6 I GG geschützt 277 Starck in: von Mangoldt/Klein/Starck, Art. 2 Abs. 1 Rdnr. 77; Zippelius DÖV 1986, 805/809. 278 BVerfGE 54, 148/153. 279 Übersicht bei Pieroth/Schlink, Rdnr. 411; Degenhart JuS 1992, 361/363ff; Jarass NJW 1989, 857/858f. 280 V g l BVerfGE 47, 46/73; 49, 286/298. 281

Vgl. Starck in: von Mangoldt/Klein/Starck, Art. 2 Abs. 1 Rdnr. 77. Anders, aber unklar Müller-Manger, S. 174 und - ihr folgend - Luckey, Eheähnliche und sonstige Wohn- und Wirtschaftsgemeinschaften, S. 52: Art. 2 I i. V. m. Art. 1 I GG betreffe das Verhältnis des einzelnen zur Öffentlichkeit und diene dabei der Abwehr früher unbekannter Freiheitsgefährdungen. Unter diesem Aspekt scheide die Einordnung der eheähnlichen Gemeinschaft in den Schutzbereich des allgemeinen verfassungsrechtlichen Persönlichkeitsrechts aus. 282 Auch für Art. 2 I i. V. m. Art. 1 I GG mittlerweile st. Rechtspr.: BVerfGE 65, 1/44; 78, 77/85; 79, 256/263.

74

Erster Teil: Geschichtliche und verfassungsrechtliche Grundlagen

wird, verdeutlicht dabei gerade den in dieser Entscheidung zum Ausdruck kommenden Wunsch nach einer Alternative zur Ehe. Auf das darin zum Ausdruck kommende Freiheitsverständnis wird noch ausführlich zurückzukommen sein. 283

3. Art. 3 I GG

Nur ergänzend sei bereits hier angemerkt, daß neben Art. 2 I GG vor allem Art. 3 I GG für die Rechtsstellung der nichtehelichen Lebensgemeinschaft eine überragende Rolle spielt, weil es bei Klagen nichtehelicher Lebensgemeinschaften meist um den Vergleich mit der Ehe geht.

D. Zwischenbilanz Die Geschichte der Ehe ist so lang wie die der Nichtehe. Wenn man also heute von der nichtehelichen Lebensgemeinschaft spricht, so meint man nicht ein revolutionäres, die Ehe ablösendes Phänomen, sondern einen Tatbestand, der durch alle Jahrhunderte hindurch neben der Ehe bestanden hat. Niemals war die Ehe die exklusive Form des Zusammenlebens zwischen Mann und Frau; die Ehe, von der auch die Rechtswissenschaft heute ganz selbstverständlich ausgeht, ist in dieser Form gerade einmal 120 Jahre alt. Häufig waren Ehe und Nichtehe nur undeutlich oder gar nicht voneinander zu unterscheiden, und gerade in römischer und germanischer Zeit hat es lange Phasen des selbstverständlichen Nebeneinanders unterschiedlicher Lebensformen gegeben. Gleichwohl sind die heutigen eheähnlichen Gemeinschaften in der historischen Dimension ein Novum, beruhen sich doch fast ausnahmslos auf dem freiwilligen Entschluß, keine Ehe einzugehen, und nicht etwa auf bestehenden Eheverboten wie der unterschiedlichen Herkunft oder sonstigen Ungleichheit der Partner. Unverändert geblieben ist der Wunsch des Menschen nach Stabilität und Kontinuität in der Beziehung zu seinem Lebenspartner. Die Ehe gewährleistet dies nach der Ansicht vieler Menschen aber nicht mehr oder zumindest nicht mehr allein. Ein angemessenes, aber eben auch neues Rollenverständnis, die stärkere Betonung von Freiheit und Unabhängigkeit bewirken die Ablehnung

283

Vgl. vor allem 2. Teil G. II.

D. Zwischenbilanz

75

einer Institution, die für viele - mitunter gewiß institutionsunabhängige - Fehlentwicklungen verantwortlich gemacht wird. Trotz vielfacher Gemeinsamkeiten sind Ehe und Nichtehe niemals vollkommen gleich behandelt worden, sondern es ist kontinuierlich versucht worden, die Ehe als besondere Form des Zusammenlebens herauszustellen. Die Motive dafür waren allerdings höchst unterschiedlich. Wenn die Verfassung heute die Ehe schützt, so will sie um der Freiheit des einzelnen willen Rechtssicherheit schaffen und im Falle des Scheiterns vor allem denjenigen schützen, der ohne den rechtlichen Rahmen des Eherechts schutzlos wäre. 284 Die dadurch geschaffene Sicherheit soll das Zusammenleben zwischen den Partnern fördern, aber auch den Kindern eine gesicherte Basis für ein gedeihliches Aufwachsen geben. Derart hehre Motive hatte die Betonung der Bedeutung der "heiligen Ehe" aber nicht immer. Noch Art. 119 1 WRV sah nur in der Ehe die Voraussetzung für die Erhaltung und Vermehrung der Nation und als Grundlage der Familie; ein Verständnis, das durch die abweichende Formulierung in Art. 6 I GG und noch viel mehr durch die gesellschaftliche Entwicklung überholt ist. Römer und Germanen nutzten die Ehe, um den römischen Bürgern bzw. den Adeligen die Möglichkeit zu geben, sich von niederen Schichten abzugrenzen. Die Kirche versuchte, die Ehe als Mittel gegen Sittenverfall, andere wollten sie gegen Sozialdemokratie und Kommunismus einsetzen. Die Geschichte des Rechtsgutes Ehe hat daher mehr Schatten als Licht, diente es doch lange Zeit nicht oder zumindest nicht nur einem Freiheits- und/oder Sicherheitsbedürfnis des einzelnen, sondern - aus heutiger Sicht - überwiegend dubiosen Zielen. Diese Feststellung soll und darf die Berechtigung des besonderen Schutzes der Ehe nicht in Frage stellen. Es gilt aber zu betonen, daß die heutige Verfassung das Grundrecht nicht instrumentalisieren will, sondern die menschliche Verbindung Ehe als besondere Freiheit um ihrer selbst willen schützt - ein Aspekt, der auch für die eheähnliche Gemeinschaft gelten muß! Nachdem sich das Strafrecht in den letzten Dekaden des 20. Jahrhunderts zurückgezogen hat, fragt sich nunmehr, wie die heutige Rechtsordnung auf die große Zahl nichtehelicher Lebensgemeinschaften reagiert. Wichtige Orientierungspunkte bietet hier die Verfassung, die im Art. 2 I GG die Selbstbestimmung des Menschen betont und gleichzeitig in Art. 6 I GG die Ehe besonders schützt. Ausgehend von diesen Grundrechten wird zu untersuchen sein, wo das

284

Näher Weimar, S. 93f.

76

Erster Teil: Geschichtliche und verfassungsrechtliche Grundlagen

Bedürfnis, die Möglichkeit oder gar die Verpflichtung bestehen, nichteheliche Lebensgemeinschaften ebenso wie die Ehe zu behandeln und damit den bestehenden Gemeinsamkeiten Rechnung zu tragen.

Zweiter Teil

Grundrechtsbezogene Analyse der Rechtsprechung

Die reichhaltige Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zur Diskriminierung von Ehe und Familie, aber auch umgekehrt zur Benachteiligung von Ledigen, soll Ausgangspunkt für die Herausarbeitung der für das Thema relevanten verfassungsrechtlichen Maßstäbe sein. Im Mittelpunkt stehen dabei die Grundrechte Art. 3 I und Art. 6 I GG, die in der Rechtsprechung auf unterschiedliche Art und Weise zusammenwirken, oft aber auch jeweils allein als Prüfungsmaßstab verwendet werden. Am Rande und erst in neueren Entscheidungen erlangt auch Art. 2 I GG zugunsten nichtehelicher Lebensgemeinschaften eine allerdings insgesamt geringe Bedeutung. Für die grundrechtsdogmatische Einordnung kann dieses Grundrecht daher zunächst außer Betracht bleiben. Die Rechtsprechung ist angesichts der Fülle der Entscheidungen zu diesem Thema kaum noch zu überschauen. Erschwerend kommt hinzu, daß sie keine homogene und klar abgrenzbare Gruppe bildet. So ist jeder Versuch der Systematisierung auch immer mit der Gefahr verbunden, künstliche Grenzen zu ziehen und Vereinfachungen gerade dort vornehmen zu müssen, wo die Einordnung schwierig ist. Dennoch ist die Analyse von etwa 70 Entscheidungen ohne eine gewisse Gruppenbildung nicht durchführbar; die Schwierigkeit, bestehende Zusammenhänge zu erkennen, wäre noch größer. Zumindest zwei Möglichkeiten der Unterteilung sind erwägenswert: Denkbar wäre zum einen die Einteilung nach Sachgebieten, wobei das Steuerrecht und das Sozialrecht die mit Abstand größten Gruppen bilden würden. Zum anderen könnte man die Entscheidungen nach grundrechtlichem Prüfungsmaßstab ordnen. Die erste Variante hat auf den ersten Blick den Vorzug größerer Klarheit; um einigermaßen brauchbare Aussagen zu erhalten, müßte man aber feiner unterteilen, und dies würde ähnliche Schwierigkeiten ergeben wie die Zuordnung nach grundrechtlichen Maßstäben. Letztere hat aber den Vorzug, daß sie sich an der Fragestellung der Arbeit orientiert, die nicht einzelne Rechtsgebiete

78

Zweiter Teil: Grundrechtsbezogene Analyse der Rechtsprechung

ehespezifisch untersuchen, sondern das Verhältnis von Art. 3 I zu Art. 6 I GG klären will. Sie ist grundrechts-, nicht sachgebietsbezogen. Die bei der Systematisierung auftretenden Schwierigkeiten werden sodann Ausgangspunkt einer kritischen Betrachtung der Rechtsprechung sein. Auf diese Art und Weise können einige Vorgaben für die im dritten Teil der Arbeit vorzunehmende Neubestimmung des Verhältnisses von Art. 3 I zu Art. 6 I GG gewonnen werden.

A. Einführung Die grundrechtsdogmatischen Fragen, die sich im folgenden stellen werden, kommen in der Grundsatzentscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 24. 1. 1962 zum Ausdruck. 1 Es ist nicht das erste Urteil, das den Komplex "Diskriminierung der Ehe gegenüber Ledigen" betrifft, aber das erste, das sich darum bemüht, klarzustellen, wann welcher verfassungsrechtliche Maßstab anzuwenden ist, wie sich also die beteiligten Grundrechte Art. 3 I GG und Art. 6 I GG zueinander verhalten. 2 Ausgangspunkt dieser Entscheidung war ein Vorlagebeschluß (Art. 100 I GG) des Finanzgerichtes Hannover, das § 8 Nr. 5 GewStG 1954 für verfassungswidrig hielt. Diese Ansicht begründete das Gericht damit, daß Arbeitsverhältnisse zwischen Ehegatten gegenüber anderen Arbeitsverhältnissen benachteiligt würden, weil die angegriffene Norm Gehälter, die der Unternehmer an seinen bei ihm beschäftigten Ehegatten zahle, anders als bei sonstigen Gehältern zum Gewerbeertrag hinzurechne, der wiederum wesentliche Bemessungsgrundlage für die Höhe der Gewerbesteuer ist. § 8 Nr. 5 GewStG knüpfe damit an den Ehestand nachteilige abgabenrechtliche Folgen und verstoße daher gegen Art. 6 I GG.3 Das Bundesverfassungsgericht hält die Klage für begründet, gebraucht aber einen vom vorlegenden Gericht abweichenden verfassungsrechtlichen Maßstab, dessen Anwendung es wie folgt begründet: "Die zur Nachprüfung gestellte Norm ist unmittelbar an Art. 3 Abs. 1 GG zu messen, doch ist die Grundentscheidung des Art. 6 Abs. 1 GG dabei zu beachten. [...]

1 2 3

BVerfGE 13,290. Erste Ansätze schon in BVerfGE 9, 237/248f. FG Hannover, wiedergegeben in BVerfGE 13, 290/292.

Α. Einführung

79

Jede verfassungsrechtliche Prüfung geht, sofern sie auf einem Vergleich zweier Personen oder Sachverhalte beruht, auf den Gedanken der allgemeinen Rechtsgleichheit zurück, wie ihn Art. 3 Abs. 1 GG prägt. In diesem Sinne hat das Bundesverfassungsgericht bereits mehrfach davon gesprochen, daß der allgemeine Gleichheitssatz durch die speziellen Wertentscheidungen der Verfassung konkretisiert wird, aus ihnen aktuellen Gehalt empfängt. Nun ist es ein allgemeines Rechtsprinzip, daß die generelle Norm zurücktritt, falls das Gesetz für die Beurteilung des Sachverhalts eine spezielle Norm zur Verfügung stellt. Dem entspricht es, wenn das Bundesverfassungsgericht in ständiger Rechtsprechung zum Ausdruck gebracht hat, daß für eine Prüfung am Maßstab der allgemeinen Gewährleistungen von Freiheit und Gleichheit in Art. 2 Abs. 1 und Art. 3 Abs. 1 GG kein Raum mehr sei, wenn die zu prüfende einfache Gesetzesnorm einer speziellen Grundrechtsnorm zuwiderlaufe. Der Gedanke des Vorrangs der Spezialnorm wird immer zutreffen, wenn die spezielle Norm nur als Ausformung der allgemeinen Norm erscheint, so daß in jener diese notwendig mitbetroffen ist; anders liegt es, wenn der Sinngehalt der "besonderen" Norm zunächst von der "allgemeinen" Norm unabhängig ist, also jede eine spezifische Bedeutung hat, so daß eine Verletzung der "speziellen" Norm ohne gleichzeitige Verletzung der "allgemeinen" denkbar ist. Welche Norm als primär verletzt anzusehen ist, wird bei solcher Lage davon abhängen, welche von beiden nach ihrem spezifischen Sinngehalt die stärkere sachliche Beziehung zu dem zu prüfenden Sachverhalt hat und sich deshalb als der adäquate Maßstab erweist. So liegt es bei dem Verhältnis von Art. 3 Abs. 1 zu Art. 6 Abs. 1 GG; denn das Gebot besonderen Schutzes von Ehe und Familie durch die staatliche Ordnung erschöpft sich nicht in dem Verbot, die in Ehe und Familie verbundenen Personen gegenüber Ledigen zu benachteiligen. Kommt also im gegebenen Fall der Schutzgedanke sowohl von Art. 3 Abs. 1 wie von Art. 6 Abs. 1 GG in Betracht, so muß nicht notwendig Art. 6 Abs. 1 als spezielle Norm den Vorrang haben."4

Nach Anwendung des Art. 3 I GG im konkreten Fall führt es weiter aus: "Doch behält auch der Rechtsgedanke des Art. 6 Abs. 1 GG für die Beantwortung dieser Frage seine Bedeutung als grundlegende Wertentscheidung. Wie das Bundesverfassungsgericht wiederholt ausgesprochen hat, wird der dem Gesetzgeber im Rahmen des Art. 3 Abs. 1 GG verbleibende weite Gestaltungsraum durch die in der Verfassung enthaltenen Wertentscheidungen eingeengt. Ebenso ist mehrfach gesagt worden, daß Art. 6 Abs. 1 GG zu diesen Grundentscheidungen gehört, also jedenfalls bei staatlichen Eingriffen wie der Besteuerung eine

4

BVerfGE 13,290/29511

80

Zweiter Teil: Grundrechtsbezogene Analyse der Rechtsprechung an Ehe oder Familie anknüpfende benachteiligende Sonderbehandlung verbietet, soweit nicht ein besonderer Rechtfertigungsgrund anzuerkennen ist. Dabei kommt es allein auf die Tatsache der Benachteiligung, nicht darauf an, mit welchen Mitteln der Eingriff erfolgt." 5

B. Die beteiligten Grundrechte Bevor die verfassungsgerichtliche Rechtsprechung anhand dieser Grundsätze weiter untersucht und gegliedert wird, soll zunächst ein Blick auf die relevanten Grundrechte geworfen werden.

I. Art. 6 I GG

Art. 6 I GG spielt in der Rechtsprechung - und zwar gerade bei der Diskriminierungsproblematik - eine große Rolle; aus der Sicht der Grundrechtsdogmatik führt das Grundrecht aber eher ein Schattendasein. Schwierigkeiten bereiten insbesondere die Ableitung und die Abgrenzung seiner Grundrechtsfunktionen sowie die Bestimmung seiner Rechtsfolgen. Das Verständnis wird dadurch erschwert, daß hier nicht einfach eine "Freiheit" eingeräumt wird, sondern ein "besonderer Schutz."6 Dieser besondere Schutz ist nach ständiger Rechtsprechung Ausdruck einer dreifachen verfassungsrechtlichen Bedeutung: Art. 6 Abs. 1 GG enthalte neben dem Grundrecht als Abwehrrecht im klassischen Sinne eine Institutsgarantie sowie eine wertentscheidende Grundsatznorm. 7

/. Abwehrrecht

a) Inhalt und Bedeutung In seiner Funktion als Abwehrrecht schützt Art. 6 I GG die spezifische Privatsphäre von Ehe und Familie vor staatlichen Eingriffen. 8 Damit stellte sich 5

BVerfGE, aaO, S. 298f. Gusy JA 1986, 183/186. 7 BVerfGE 76, 1/41. Ausgangspunkt der Rechtsprechung war BVerfGE 6, 55/7Iff; zusammenfassend ζ. B. ferner BVerfGE 24, 119/135; 62. 323/329. 8 BVerfGE 6, 55/71; von Münch in: von Münch/Kunig, Art. 6 Rdnr. 12; Pirson in: Bonner Kommentar, Art.6 Rdnrn. 89, 92; Bleckmann, S. 762; Pieroth/Schlink, Rdnr. 695; Schlüter, S. 3. 6

Β. Die beteiligten Grundrechte

81

das Bundesverfassungsgericht schon früh und später mit ihm auch die herrschende Ansicht in der Literatur gegen die auch noch im Parlamentarischen Rat und vorher in der Literatur zur Weimarer Reichsverfassung geäußerten Meinung, das Grundrecht sei bloßer Programmsatz. 9 Geschützt wird nicht nur ein Freiraum für bestehende Ehen und Familien; Art. 6 I GG umfaßt vielmehr als wesentlichen Bestandteil auch die Freiheit der Eheschließung und Familiengründung. 10 Er ist damit Ausdruck eines besonderen Schutzes privater Lebensräume eines Menschen, in denen sich dieser frei von staatlichen Einflüssen entfalten und entwickeln können soll. 11 In dieser Funktion hat Art. 6 I GG in der Rechtsprechung freilich noch nicht die Bedeutung erlangt, die die subjektive Komponente bei anderen Freiheitsrechten hat. Angewendet wurde Art. 6 I GG als Abwehrrecht hauptsächlich bei der verfassungsgerichtlichen Überprüfung von Ehehindernissen und -verboten 12 sowie bei der Frage der Ausweisung und der Nichterteilung oder -Verlängerung von Aufenthaltserlaubnissen verheirateter Ausländer. 13 b) Das Schrankenproblem Besondere dogmatische Schwierigkeiten bereitet Art. 6 I GG, weil er nach dem Text des Grundgesetzes vorbehaltlos gewährleistet ist, also keine Grundrechtsschranke besitzt. Allerdings besteht auch bei diesen Grundrechten Einigkeit darüber, daß Einschränkungen - wenn auch nur unter strengen Voraussetzungen - möglich sein müssen.14 Nach der - nicht ohne Widerspruch gebliebenen15 - Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts können die Grenzen dieser Grundrechte freilich nur von der Verfassung selbst bestimmt werden. 16 Diese Beschränkungsmöglichkeit wird allerdings nur in seltenen Fällen greifen, weil es regelmäßig schwierig sein wird, Einschränkungsbedürfnisse verS. ο. 1. Teil Β. I.: diese Ansicht wurde früher aufgrund seines Wortlautes auch noch zu Art. 6 I GG vertreten: Vgl. von Mango/dt/Klein. Art. 6 Anm. I I I . 10 BVerfGE 76. 1/42. 11 Den Zusammenhang mit der grundrechtlichen Privatsphäre betont auch Gusy JA 1986. 183/183. 12 BVerfGE 29, 166/175:31,58/67. 13 BVerfGE 76, 1/4Iff. 14 Übersicht über die Problematik bei Sachs in: Stern III/2. S. 513ff: von Pollern JuS 1977. 644ff: Wipfelder BayVBl 1981, 417ff. 457ff. 15 Vgl. zuletzt Isensee in: Handbuch des Staatsrechts Bd. III. § 57 Rdnr. 126: Lerche in: l'estschrilt Mahrenholz, S. 525ΙΪ. Ausführlich zum Modell des BVcrfG: Sachs in Stern 111/2. S. 550ΙΪ. 16 BVerfGE 30. 173/193: 47. 327/369Γ (ì Kinyrccn

82

Zweiter Teil: Grundrechtsbezogene Analyse der Rechtsprechung

fassungsrechtlich zu determinieren. Dies zeigen die zahlreichen Judikate zur Abschiebung und Ausweisung von Ausländern. 17 Die Rechtsprechung hat hier regelmäßig Verhältnismäßigkeitsgesichtspunkte in die Prüfung einfließen lassen und gefragt, ob das Interesse der betroffenen Ausländer an einem gemeinsamen Ehe- bzw. Familienleben in Deutschland das öffentliche Interesse an einer Abschiebung oder Ausweisung überwiegt. 18 Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit kann aber natürlich nicht als Schranke des Art. 6 I GG fungieren; er ist vielmehr eine Beschränkung der Eingriffsbefugnis des Staates,19 die sich bei vorbehaltlosen Grundrechten nur aus kollidierendem Verfassungsrecht ergeben kann. Das mit den individuellen Interessen der Eheleute und Familien kollidierende "öffentliche Interesse" wird aber verfassungsrechtlich nicht determiniert; die Gerichte ergehen sich hier regelmäßig in diffusen Äußerungen wie dem "öffentlichen Interesse an der Entfernung des Ausländers aus dem Bundesgebiet."20 Damit stellt sich die auch für den weiteren Gang der Untersuchung wichtige Frage, wie Beschränkungen im Bereich des Art. 6 I GG begründet werden können. Eine befriedigende Lösung ist hier noch nicht gefunden: Einerseits ist ein unbeschränkt geltendes Grundrecht in einer mit Interessenkonflikten lebenden menschlichen Gemeinschaft nur schwer vorstellbar; andererseits soll das vorbehaltlos gewährleistete Grundrecht nicht durch unklare Güterabwägungsvorgänge relativiert werden. 21 Der Versuch, das Problem durch eine Übertragung der Schranken des Art. 2 I GG zu lösen,22 dürfte heute überholt sein, da er das gesamte ausdifferenzierte Schrankensystem nivelliert und die Grundrechte unter einen einheitlichen Vorbehalt stellt. 21 Die Schwierigkeit wird am ehesten auf einer anderen, vor der Rechtfertigungsprüfung liegenden Ebene zu beheben sein, nämlich bei der Frage, ob 17

Zu den hier auftretenden grundrechtsdogmatischen Fragen Gusy DÖV 1986, 321 ff. Β Ver IG F 19, 394/396ff; 35, 382/407Γ; 37. 217/247; 51, 386/397f. Ähnliche Fragen stellt die Rechtsprechung im Zusammenhang mit der Erteilung oder Verlängerung einer Aufenthaltserlaubnis (BVerwGF 71, 228/232ff) und bei Einbürgerungen (BVerwGE 84, 93/981). 19 Zur Funktion des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit als Schranken-Schranke s. 3. Teil Β. II. 2. a). 20 BVerfGE 37. 217/247; BVerwGE 56. 246/250f. Kritisch zu dieser Rechtsprechung auch Zuleeg DÖV 1988. 590/595, der sich angesichts des unsystematischen Vorgehens der Gerichte fragt, ob er nicht "einen wesentlichen Teil seiner verfassungsrechtlichen Lehrsätze zu streichen" habe. Auch Huber NJW 1988, 609/610 kritisiert, daß Art. 6 I GG so zu einem unverbindlichen Programmsatz degradiert werde. 21 Zu letzterem Mahrenholz/Böckenförde abwM BVerfGE 69, 57/59ff. 22 Detaillierte Nachweise dazu bei Wipfelder BayVBl 1981, 417/4I71Ï. 23 Ablehnend auch die Rechtsprechung: BVerfGE 30, 173/192; 32, 98/107. 18

Β. Die beteiligten Grundrechte

83

überhaupt ein Grundrechtseingriff vorliegt. Nicht jede gesetzgeberische (und um diese geht es primär bei der Diskriminierungsfrage) Tätigkeit ist nämlich automatisch auch ein Eingriff in Art. 6 I GG. Es gibt vielmehr Normen, die den Schutzbereich eines Grundrechts nicht verkürzen, sondern nur ausgestalten. Es handelt sich dabei um sog. normgeprägte Schutzbereiche,

24

Das gilt auch für

Art. 6 I GG: Das Grundrecht selbst beschränkt sich auf einen Schutzauftrag für Ehe und Familie; was diese Rechtsinstitute aber inhaltlich ausmacht, ist dort nicht gesagt. Erst das Ehe- und Familienrecht macht aus dem Zusammenleben von Mann und Frau eine Ehe und aus der Gemeinschaft der Eltern (oder zumindest eines Elternteils) mit Kind eine Familie. Das einfache Recht formt so den Schutzbereich, ohne ihn zu beschränken. 25 Schränkt aber eine Norm ein Grundrecht gar nicht ein, muß sie diesem Grundrecht gegenüber auch nicht über eine Schranke gerechtfertigt werden. Freilich enthalten diese schutzbereichsformenden Normen auch Belastungen, so vor allem die Unterhaltsverpflichtung nach § 1360, 1 BGB. Diese Verpflichtung ist aber nur Ausdruck der durch die formelle Eheschließung entstandenen, grundsätzlich lebenslangen Bindung und gegenseitiger Solidarität und setzt sie gerade dadurch von anderen, nichtförmlichen Zusammenschlüssen von Frau und Mann ab. Art. 6 I GG gewährleistet damit eine Freiheit, die zwar mit Belastungen verbunden ist, welche aber für die Ausgestaltung des Schutzbereichs unerläßlich sind. Auch das Bundesverfassungsgericht hat in einer Entscheidung zur Eheschließungsfreiheit festgestellt, daß "die Freiheit der Eheschließung gesetzliche Regelungen über die Formen der Eheschließung und ihre sachlichen Voraussetzungen nicht nur zu[läßt], sondern [...] sie geradezu voraussetzt]." 26 Damit kommt es entscheidend darauf an, ob eine gesetzliche Regelung ausgestaltenden oder eingreifenden Charakter hat. Dabei muß man sich aber immer klarmachen, daß auch eine Ausgestaltung einschränkenden Charakter haben kann, aber eben noch kein Eingriff ist. 27 Auch eine Ausgestaltung muß sich am verfassungsrechtlichen Ehe- und Familienbegriff orientieren; ist sie zur

24

Dazu Pieroth/Schlink, Rdnrn. 226ff, 7081T; Alexy. S. 300ff; Hesse. Verfassungsrecht. Rdnrn. 303ff; Lerche in: Handbuch des Staatsrechts Bd. V, § 121 Rdnrn. 37ff. 25 Alexy, S. 300ff; Pieroth/Schlink, Rdnrn. 708ff: Katz. Rdnr. 749; Gusy DÖV 1986, 321/326. Abweichend Häberle, S. 180ff, 189f, der einen sehr weiten Ausgestaltungsbegriff wählt und dadurch auch Einschränkungen als ausgestaltende Tätigkeit des Gesetzgebers ansieht. Dies wiederum hängt mit seinem grundrechtlichen Tatbestandsverständnis zusammen; vgl. unten G. II. 2.a). 26 BVerfGE 31, 58/69. Auch BVerfGE 57. 295/322 stellt den Eingriff der Ausgestaltung gegenüber. 27

(y

Eckhoff,

S. 16.

84

Zweiter Teil: Grundrechtsbezogene Analyse der Rechtsprechung

Ausformung dieser Rechtsinstitute nicht erforderlich, wird sie zum Eingriff. 28 Hier bemüht das Bundesverfassungsgericht mitunter den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit,29 untersucht aber meist allgemeiner, ob es rechtfertigende Gründe für die ausgestaltende Regelung gibt. 30 Im Bereich der Diskriminierungsproblematik spricht das Gericht die Frage der Abgrenzung zwischen Ausgestaltung und Eingriff meist nicht an,31 weil es fast ausschließlich mit Art. 6 I GG als objektiver Wertentscheidung arbeitet, sich also nicht am Bauplan des Abwehrrechts orientiert. Dieser Hinweis mag hier zunächst genügen; das Verhältnis der subjektiven zur objektiven Funktion des Art. 6 I GG ist ein zentrales Thema dieser Untersuchung. Erst wenn dieses geklärt sein wird, können die hier gewonnenen Erkenntnisse für den Entwurf der Struktur der Diskriminierungsprüfung verwendet werden.

2. Institutsgarantie

Art. 6 I GG enthält zudem nach allgemeiner Ansicht eine Institutsgarantie der Ehe.32 Diese grundrechtliche Wirkungsweise zeichnet sich wie bei anderen Grundrechten durch ihren bewahrenden Charakter aus; ein bestimmter Ordnungskern der Ehe als Vereinigung eines Mannes und einer Frau zu einer grundsätzlich unauflöslichen Lebensgemeinschaft soll unantastbar bleiben.33 Diese wesentlichen Strukturprinzipien ergeben sich freilich wie gesehen nicht aus der Verfassung selbst; diese ist insofern auf das einfache Recht angewiesen und damit auf den ausgestaltenden Gesetzgeber, der wiederum durch die Verfassung beschränkt wird. Auf diese Weise entsteht ein kompliziertes Geflecht zwischen Verfassungs- und einfachem Recht, das die Feststellung eines veränderungsresistenten Ordnungskerns der Ehe und die Abgrenzung zwischen Ausgestaltung und Eingriff auf der abwehrrechtlichen Ebene erschwert. 34 28

Vgl. Pieroth/Schlink, Rdnr. 710 ("Versuchte, aber nicht gelungene Definition"). Im Zusammenhang mit Art. 6 I GG in BVerfGE 31, 58/70. Vgl. ansonsten noch BVerfGE 60, 253/295; 79, 29/40Γ. 30 Aus dem Bereich der Diskriminierungsproblematik besonders BVerfGE 81, 1/7. 31 Ausnahme ist die soeben in Fn. 30 genannte Entscheidung. 32 BVerfGE 6, 55/72; 62, 323/329; 76, 1/49; 80, 81/92; von Münch in: von Münch/Kunig, Art. 6 Rdnr. 9; Lecheter in: Handbuch des Staatsrechts Bd. VI, § 133 Rdnrn. 56f; Bleckmann, S. 757ff; Pieroth/Schlink, Rdnr. 727; Friauf NJW 1986, 2595/2600f. Ausführlich Schmid, S. 293ff mit dem allerdings wenig überzeugenden Ergebnis, der Mensch sei nur innerhalb von Institutionen lebensfähig (S. 374ff). Die Tatsache, daß dieses Argument dann wiederum gegen die eheähnliche Gemeinschaft vorgebracht wird, zeigt, wie freiheitsgeföhrdend der "Nebel des Institutionellen" (Bettermann DVBI 1963, 41/42) sein kann. 33 BVerfGE 10, 59/66f; 31, 58/69; 53, 224/245. 34 Vgl. Zeidler in: Handbuch des Verfassungsrechts, S. 556. 29

Β. Die beteiligten Grundrechte

85

Die Institutsgarantie weist also einen besonderen Bezug zum subjektiven Recht auf: Sie hat einen festigenden Effekt, indem sie dem das Ehe- und Familienrecht ausgestaltenden Gesetzgeber bestimmte äußere Grenzen setzt und die Ehe damit vor einer wesensmäßigen Umgestaltung schützt.35 Die Institutsgarantie entfaltet aber auch dort Wirkungen, wo das subjektive Recht gar nicht betroffen ist. So würde die Aufhebung des Erfordernisses der Monogamie diejenigen nicht beeinträchtigen, die weiterhin monogam leben wollen; da die Monogamie aber ein grundlegendes Strukturprinzip der abendländischen Ehe ist, wäre die Einführung einer Mehr- oder Vielehe mit der Institutsgarantie unvereinbar. 36 Die Institutsgarantie bedeutet allerdings nicht, daß der rechtliche und soziale Gehalt der Ehe jeder Änderung entzogen wäre: "Ein Lebensbereich, der nur aus gelebter Wirklichkeit besteht und deshalb nur begrenzt normierbar ist, bleibt deren Einflüssen ständig ausgesetzt."37 Der Gesetzgeber ist daher keinesfalls daran gehindert, neue Formen menschlichen Zusammenlebens zu berücksichtigen, solange er damit nicht die besondere Struktur und den besonderen Schutz der Ehe in Frage stellt. 38 Genausowenig ist die Änderung des geltenden Eherechts ausgeschlossen; so akzeptierte das Bundesverfassungsgericht im Scheidungsrecht den Übergang vom Verschuldens- zum Zerrüttungsprinzip: Art. 6 I GG gewährleiste "die lebenslange Ehe nicht abstrakt, sondern in der Ausgestaltung, wie sie den herrschenden, in der gesetzlichen Regelung maßgebend zum Ausdruck gelangten Anschauungen entspricht." 39

3. Wertentscheidende

Grundsatznorm

Schließlich soll Art. 6 I GG eine wertentscheidende Grundsatznorm und damit eine verbindliche Wertentscheidung für das gesamte Ehe und Familie

35

BVerfGE 80, 81/92. Da die Institutsgarantie bereits die Ausgestaltungsbefugnis des Gesetzgebers beschränkt, sollte sie nicht als Schranken-Schranke, sondern als Ausgestaltungsvorbehalt des ja ansonsten - bis auf die selten einschlägigen immanenten Schranken schrankenlosen Grundrechts bezeichnet werden. - Ganz anders Maunz in: Maunz/Dürig, Art. 6 Rdnr. 1, der meint, der Inhalt der Institutsgarantie begrenze den Umfang des subjektiven Rechts auf die wesentlichen Strukturmerkmale des Instituts. Gegen ihn zutreffend Friauf NJW 1986, 2595/2600. 36 Pieroth/Schlink, Rdnr. 695. 37 Zeidler in: Handbuch des Verfassungsrechts, S. 556. 38 BVerfGE 82, 6/15; Schlüter. S. 4; von Münch, Nichteheliche Lebensgemeinschaft, S. 148. 150t; Strätz FamRZ 1980, 301/303f. 39 BVerfGE 53, 224/245.

86

Zweiter Teil: Grundrechtsbezogene Analyse der Rechtsprechung

betreffende Recht enthalten.40 Dies bedeutet zweierlei: Zum einen das Verbot für den Staat, Ehe und Familie zu schädigen oder sonst zu beeinträchtigen, und zum anderen das Gebot, Ehe und Familie vor Beeinträchtigungen durch andere Kräfte zu bewahren und darüber hinaus durch eigene Maßnahmen zu fördern. 41 Aus diesem Förderungsgebot läßt sich allerdings im allgemeinen kein verfassungsrechtlicher Anspruch auf eine bestimmte staatliche Maßnahme und Leistung ableiten; insbesondere betont das Bundesverfassungsgericht immer wieder, daß der Staat nicht verpflichtet sei, jegliche finanzielle Belastung der Familie abzugleichen. 42 Eine große praktische Bedeutung hat dagegen das Beeinträchtigungsverbot, aus dem die Rechtsprechung insbesondere das den Untersuchungsgegenstand betreffende Diskriminierungsverbot ableitet.43

II. Art. 3 I GG 1. Bedeutung und rechtliche

Wirkung

Für den verfassungsrechtlichen Schutz von Ehe und Familie erlangte Art. 3 I GG erst durch die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts eine Bedeutung, die freilich mittlerweile kaum noch geringer ist als die des Art. 6 I GG. Bis dahin wurde der allgemeine Gleichheitssatz auch im Zusammenhang mit der Diskriminierung von Ehe und Familie - soweit ersichtlich - allerdings nicht erwähnt. Ebenso wie Art. 6 I weist auch Art. 3 I GG subjektive und objektive Wirkungen auf: Er enthält zum einen ein Grundrecht des einzelnen und damit ein subjektives Recht;44 zum anderen bildet er einen in allen Bereichen geltenden allgemeinen Verfassungsgrundsatz. 45 Der allgemeine Gleichheitssatz bindet jedes staatliche Handeln: Von Judikative und Exekutive verlangt er die Rechts-

40 St. Rechtspr. seit BVerfGE 6, 55/72 (ausführt. Nachweise gleich unter D.); aus der Literatur ζ. B. von Münch in: von Münch/Kunig, Art. 6 Rdnr. 19; Lecheler in: Handbuch des Staatsrechts Bd. VI, § 133 Rdnr. 58. 41 BVerfGE 6, 55/76. 42 BVerfGE 23, 258/264; 28, 104/113; 39, 316/326; 43, 108/121; 45, 104/125; 75, 348/360. 43 Nachweise dazu unter D. 44 BVerfGE 40, 296/318; BVerwGE 55, 349/351. 45 BVerfGE 6. 84/91; 41, 1/13.

Β. Die beteiligten Grundrechte

87

anwendungsgleichheit (Gleichheit vor dem Gesetz) und von der Legislative die Rechtsetzungsgleichheit (Gleichheit des Gesetzes).46 2. Die Struktur

der

Gleichheitsprüfung

Anders als bei Art. 6 I GG ist bei Art. 3 I GG nicht so sehr die zum Einsatz kommende Grundrechtsfunktion, sondern vielmehr die gegenüber den Freiheitsrechten besondere Struktur der Gleichheitsprüfung von Interesse. Art. 3 I GG hat nicht wie die Freiheitsrechte ein bestimmtes Schutzobjekt zum Gegenstand, sondern garantiert eine prinzipielle Gleichbehandlung aller Menschen durch die staatliche Gewalt. Es stellt sich daher die Frage, ob das Gleichheitsrecht nach dem freiheitlichen Schema Schutzbereich-Eingriff-Rechtfertigung zu prüfen ist, ob es also angesichts dieser Besonderheit eine solche Gegenüberstellung von individuellem Schutzgut und staatlicher Eingriffsberechtigung überhaupt geben kann. Dabei handelt es sich nicht nur um eine technische Prüfungsfrage; Struktur und Inhalt der Gleichheitsprüfung hängen vielmehr unmittelbar miteinander zusammen.47 Gerade aus diesem Grund erlebt die rechtswissenschaftliche Diskussion um den allgemeinen Gleichheitssatz eine wahre "Renaissance";48 Rechtsprechung und Literatur sind von einer einheitlichen Linie allerdings weiter denn je entfernt. Für die Prüfung, ob zwei Sachverhalte gleich oder ungleich behandelt werden, bedarf es zunächst eines Vergleichs der beiden Sachverhalte. Dieser macjit nur Sinn, wenn zumindest zwei verschiedene Sachverhalte zur Verfügung stehen. Lassen sich überhaupt keine unterschiedlichen Merkmale feststellen, so besteht Identität, so daß sich ein Vergleich erübrigt. 49 Die Gleichheitsprüfung hat es daher mit zwei Sachverhalten zu tun, die nicht in allen, sondern nur in einzelnen Merkmalen übereinstimmen. 50 Diese herauszufiltern, ist Aufgabe des Vergleichs: "Gleichheit ist immer nur Abstraktion von gegebener Ungleichheit unter einem bestimmten Gesichtspunkt."51 Das Problem ist nun aber, daß der allgemeine Gleichheitssatz diesen Vergleich zwar fordert, aber selbst nicht den Maßstab für die Bildung der Ver46 BVerfGE 42, 64/72; Leibholz/Rinck/Hesselberger, Art. 3 Rdnr. 59; Pieroth/Schlink, Rdnr. 471. 47 Huster, S. 57f. 48 Gubelt in: von Münch/Kunig, Art. 3 Rdnr. 1. 49 Gubelt, aaO, Rdnr. 16a; Hesse, Verfassungsrecht, Rdnr. 432; ders. AöR 77 (1951/52), 167/173. 50 BVerfGE 81, 108/117. 51 Radbruch, S. 122

88

Zweiter Teil: Grundrechtsbezogene Analyse der Rechtsprechung

gleichsgruppen beinhaltet. Unklar ist, welche Kriterien für die Bildung des Maßstabes beim Vergleich relevant sind und - damit zusammenhängend - wie intensiv die gerichtliche Kontrolle dieser Vergleichsgruppenbildung ist. Der erste Schritt der Prüfung, der Vergleich, beinhaltet also schon die Frage, nach welchen Kriterien dieser vorzunehmen ist. Hat man diese Frage beantwortet, so steht nach bisher wohl herrschender Meinung das Ergebnis der Gleichheitsprüfung bereits fest, weil im Hinblick auf den konkreten Sachverhalt die Wesentlichkeit von Gemeinsamkeit und Unterschied und damit Gleich- oder Ungleichheit bereits herausgefiltert wurde. Häufig unausgesprochene Folge dieser überwiegenden Ansicht ist es dann aber, daß der gesamte Prüfungsvorgang auf einer Ebene abläuft/ 2 weil die Auswahl der Vergleichsgruppen bereits im Hinblick auf das Ziel und die Auswirkungen der Regelung untersucht wird. 53 a) Feststellung von Vergleichsgruppen und -merkmalen Voraussetzung einer Beeinträchtigung des Art. 3 I GG ist also die ungleiche hoheitliche Behandlung zweier gleicher Sachverhalte. Zwar ist Art. 3 I GG nach ständiger Rechtsprechung auch verletzt, wenn ungleiche Fälle ohne rechtfertigenden Grund gleichbehandelt werden. 54 Allerdings wird mit der Feststellung einer solchen ungerechtfertigten Gleichbehandlung auch immer die Annahme einer Ungleichbehandlung verbunden sein und zwar gegenüber

52 Deutlich angesprochen aber bei lAibbe-Wolff\ S. 258: "Der allgemeine Gleichheitssatz gewährleistet nicht prima facie eine wie auch immer genau zu verstehende umfassende, strenge oder schcmatische Gleichbehandlung, von der dann durch Gesetz oder aufgrund Gesetzes und mit von der Verfassung approbierten Gründen Abstriche gemacht werden könnten. Fr schützt vielmehr von vornherein nur gegen sachlich nicht begründbare Differenzierungen, leidet dann aber auch keine weiteren Restriktionen. Der grundrechtliche Gleichheitsschutz weist daher nicht die charakteristische eingriffsdogmatische Differenz von Schutzbcrcich und effektivem Garanticbercich auf; der Schutzbereich ist von vornherein auf Identität mit dem effektiven Garanticbereich hin präformiert. Die üblichen Anweisungen zur grundrcchtlichcn Glcichheilsprüfung unterscheiden sich dementsprechend von dem nach Schutzbereich und Schranken differenzierenden Schema, das für die Prüfung von Eingriffs fäll en ausgegeben zu werden pflegt." 53 Vgl. Kirchhof in: Handbuch des Staatsrechts Bd. V, § 124 Rdnr. 10; Robhers DÖV 1988, 749/750; Stettner BayVBI 1988, 545/547; differenzierend Nüster. S. 225ff (dazu gleich bei b)). Wenn im folgenden in der Gliederung dennoch zwischen der Bildung der Verglcichsgruppen und dem Problem des Maßstabes der Gleichheitskontrolle unterschieden wird, so geschieht dies aus Gründen der Übersichtlichkeit. Keinesfalls handelt es sich - jedenfalls im Sinne der bisher überwiegenden Ansicht - um zwei voneinander zu trennende gedankliche Schritte wie beim frciheitsrechtlichen Schema Schutzbercich-Eingriff-Rcchtfertigung. M BVerfGE 49. 148/165; 72. 141/150; 86. X1/87.

Β. Die beteiligten Grundrechte

89

demjenigen Sachverhalt, der dem des ungerechtfertigt gleichbehandelten entspricht. Es kommt also nur auf die Wahl der richtigen Vergleichsgruppe an. 55 Die genaue Festlegung der Vergleichsgruppen und -merkmale ist allerdings das zentrale Problem der Gleichheitsprüfung. Erst durch den Vergleichsmaßstab erhält der Gleichheitssatz seinen konkreten Inhalt. Er entscheidet, was gleich und was ungleich ist. Der Vergleich setzt zumindest immer zwei Sachverhalte voraus, die im Hinblick auf bestimmte Gegebenheiten und Eigenschaften gleich sind, bei denen aber Ungleichheiten verbleiben. 56 Um die Merkmale, bezüglich derer Gleichheit besteht, von denjenigen zu trennen, bei denen sich Unterschiede zeigen, bedarf es eines gemeinsamen Bezugspunktes (tertium comparationis), der wiederum den gemeinsamen Oberbegriff darstellt, unter dem die zu vergleichenden Personen und Personengruppen abschließend und vollständig sichtbar werden. 57 Dessen Bestimmung und damit auch die Entscheidung über die Relevanz oder Irrelevanz von bestimmten Merkmalen der Vergleichsgruppen kann allerdings nicht nach logischen Grundsätzen, sondern nur wertend und unter Berücksichtigung des konkreten Einzelfalles erfolgen.58 Der allgemeine Gleichheitssatz ist daher anfällig gegenüber rechtlich nicht nachvollziehbaren Gedankengängen; es bedarf folglich in besonderem Maße einer transparenten Prüfungsstruktur. b) Maßstab der Gleichheitskontrolle Die Diskussion darüber, nach welchen Maßstäben der Vergleich und damit die Gleichheitskontrolle durchzuführen ist, dauert noch an. Das hängt damit zusammen, daß sie im Spannungsfeld zwischen zwei Zielen steht: Einerseits soll der Gleichheitssatz nicht zur beliebig dehnbaren Leerformel verkommen, sondern meßbare und voraussehbare Maßstäbe für das staatliche Handeln hervorbringen; andererseits soll die vom Gewaltenteilungsprinzip vorgegebene Kompetenzordnung, also insbesondere die Abgrenzung der Befugnisse des allein unmittelbar demokratisch legitimierten und damit mit einer grundsätzlichen Einschätzungsprärogative versehenen Parlaments gegenüber dem Bundesverfassungsgericht, nicht zu Ungunsten des Parlaments verschoben wer55 Ruf ne r in: Bonner Kommentar, Art. 3 Abs. 1 Rdnr. 10; Pieroth/Schlink, Rdnrn. 479f; anders jetzt Jarass in: Jarass/Pieroth, Art. 3 Rdnr. 5. 56 Sehr anschaulich zum Vorgang des Vergleichens als Ausgangspunkt menschlicher Erkenntnis Kirchhof in: Handbuch des Staatsrcchts Bd. V, § 124 Rdnrn. 6ff. 57 Rüfner in: Bonner Kommentar, Art. 3 Abs. 1 Rdnr. 14; Gubelt in: von Münch/Kunig, Art. 3 Rdnr. 16a; Pieroth/Schlink, Rdnrn. 474ΓΓ; Schoch DVB1 1988, 863/873. 5S Riferì. S. 57; Hesse AöR 77 (1951/52), 167/173.

90

Zweiter Teil: Grundrechtsbezogene Analyse der Rechtsprechung

den. 59 Das Problem betrifft also die auch für den Untersuchungsgegenstand primär wichtige Rechtsetzungsgleichheit. aa) Entwicklung

der Rechtsprechung

Wenn das Bundesverfassungsgericht die Rechtfertigung einer Ungleichbehandlung untersucht, führt es regelmäßig aus: "Der Gleichheitssatz verbietet dem Gesetzgeber, wesentlich Gleiches willkürlich ungleich und wesentlich Ungleiches willkürlich gleich zu behandeln."60 Von besonderem Interesse sind die Begriffe "wesentlich" und "willkürlich". Beide bringen - wenn auch auf unterschiedlichen Ebenen - einen sehr weiten Spielraum des Gesetzgebers und damit eine großzügige gerichtliche Prüfung zum Ausdruck: Während der Ausdruck "wesentlich" eine Einschränkung an die Anforderungen der Gleichheit der Sachverhalte darstellt, dessen Beurteilung zudem noch der Prärogative des Gesetzgebers unterliegt, wird mit dem Begriff "willkürlich" zum Ausdruck gebracht, daß nur solche Ungleichbehandlungen Art. 3 I GG verletzen, für die ein sachlicher Grund schlechterdings überhaupt nicht mehr erkennbar ist. 61 Allerdings betont das Gericht auch seit Beginn seiner Rechtsprechung, daß die Feststellung der Rechtfertigung einer Ungleichbehandlung nicht nach abstrakten Maßstäben erfolgen könne, sondern vielmehr der jeweilige Sach- und Lebensbereich maßgebend sei.62 Dies führt dazu, daß das Gericht dem Gesetzgeber insbesondere im Bereich der Leistungsverwaltung einen sehr großen Spielraum einräumt, 63 dagegen in den Fällen, in denen der zu untersuchende Sachverhalt Bezüge zu anderen Verfassungsbestimmungen hat, ein eigenes stärkeres Prüfungsrecht postuliert. 64 Eine genauere Prüfung der staatlichen Maßnahme wird also insbesondere dann vorgenommen, wenn diese gleichzeitig in den Schutzbereich eines Freiheitsrechts eingreift; 65 der gesetz59 Alexy, S. 375ff; Gusy JuS 1982, 30/35; Hesse AöR 109 (1984), 174/191; Robbers DÖV 1988, 749/755; Schock DVB1 1988, 863/876f; Zippelius VVDStRL 47 (1989), 7/25f. 60 St. Rechtspr. seit BVerfGE 1, 14/52; vgl. ζ. B. BVerfGE 49, 148/165; 71, 39/53; 78, 104/121; 84, 133/157f. 61 Vgl. ζ. B. Schmidt-Bleibtreu/Klein, Art. 3 Rdnr. 13. 62 Vgl. BVerfGE 6, 84/91; 17, 122/130f; 39, 247/254; 41, 1/1 Iff; 75, 108/157; 76, 256/329. Übersicht bei Jarass in: Jarass/Pieroth, Art. 3 Rdnrn. 15ff und Rüfner in: Bonner Kommentar, Art. 3 Abs. 1 Rdnrn. 11 ff. 63 BVerfGE 49, 280/283; 51, 295/300ff; 78, 104/121. 64 Nur beispielhaft: BVerfGE 69, 257/268 (Demokratieprinzip); BVerfGE 78, 104/1 Mi (Sozialstaatsprinzip). 65 BVerfGE 74, 9/24; 88, 5/12; 88, 87/96; 90, 46/56.

Β. Die beteiligten Grundrechte

91

geberische Spielraum ist also auf jeden Fall auch dann geringer, wenn die zu prüfenden Regelungen Auswirkungen auf Art. 6 I GG haben.66 Auch unter dem Eindruck gleich noch darzustellender neuer Entwicklungen in der Literatur hat insbesondere der 1. Senat des Bundesverfassungsgerichts mit der sog. Normadressatenformel einen weiteren Versuch unternommen, den Maßstab der Gleichheitskontrolle zu konkretisieren. Art. 3 I GG soll danach vor allem dann verletzt sein, wenn eine Gruppe von Normadressaten im Vergleich zu anderen Normadressaten anders behandelt wird, obwohl keine Unterschiede von solcher Art und von solchem Gewicht bestehen, daß sie eine ungleiche Behandlung rechtfertigen könnten.67 Darin wird der Versuch des Gerichts gesehen, die Willkürformel durch einen inhaltlich klareren Maßstab zu ersetzen, dem Gleichheitssatz insgesamt stärkere Konturen zu geben und den Aspekt der Verhältnismäßigkeit in die Prüfung zu integrieren. 68 Das Bundesverfassungsgericht stellt so einen stärkeren Bezug zwischen dem Ausmaß der Ungleichbehandlung und dem Ziel der differenzierenden Regelung her. Der Gleichheitssatz bekommt eine strengere Fassung, weil nicht mehr jedes sachliche Argument eine Ungleichbehandlung rechtfertigen kann. bb) Tendenz in der Literatur

zu einer intensiveren

Gleichheitskontrolle

In der neueren Literatur gibt es zahlreiche Stimmen, die gerade die Willkürrechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts als inhaltsleer und konturlos ablehnen. Deshalb wird vorgeschlagen, intensivere Anforderungen an die verfassungsrechtliche Rechtfertigung der Ungleichbehandlung zu stellen, indem der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit in die Prüfung integriert wird. Am weitesten geht hier das an die Prüfung der Freiheitsrechte angelehnte Schrankenmodell von Kloepfer. 69 Er geht davon aus, daß der allgemeine Gleichheitssatz 66 Dazu unter D. II. die Darstellung der Rechtsprechung, die Art. 3 I und Art. 6 I GG miteinander verbindet. 67 BVerfGE 55, 72/88; 57, 107/1 15; 63, 255/261; 65, 104/113; 67, 348/365; 72, 141/150; 73, 301/321f; 74, 9/24; 83, 395/401 (dort als st. Rechtspr. bezeichnet); 88, 5/12 und jetzt auch BVerwGE 77, 331/335. Insbesondere die neuen Entscheidungen des 1. Senats erwähnen die alte Willkürformel nicht mehr. Zurückhaltender ist dagegen der 2. Senat, der die neue Formel bisher nur in E 65, 377/384 und 71, 39/58f übernommen hat; vgl. aber auch BVerfGE 76, 256/329f. 68 So insbesondere zwei der beteiligten Richter des 1. Senats: Katzenstein abwM BVerfGE 74, 28/30 und Hesse AöR 109 (1984), 174/188f; vgl. auch bereits das Sondervotum Rupp-von Brünneck BVerfGE 36, 247ff. BVerfGE 88, 87/96f; 89, 365/375 sprechen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit nunmehr auch ausdrücklich im Zusammenhang mit der Gleichheitsprüfung an. 69 Kloepfer, Gleichheit als Verfassungsfrage, S. 54ff; kritisch dazu ζ. B. Alexy, S. 391 Fn. 91; Sachs, Grenzen des Diskriminierungsverbots, S. 35f; Müller VVDStRL 47 (1989), 37/40f.

92

Zweiter Teil: Grundrechtsbezogene Analyse der Rechtsprechung

grundsätzlich wie ein Freiheitsrecht beschränkbar ist und zwar durch die Gestaltungsbefugnis des Gesetzgebers. Als Schranken-Schranke 70 wirke aber neben der Zulässigkeit von Differenzierungsziel und Differenzierungskriterium das Übermaßverbot und damit das Erfordernis der Geeignetheit, Erforderlichkeit und Angemessenheit der Ungleichbehandlung. Ebenso will die mittlerweile wohl überwiegende Literatur - wenn auch mit Differenzen im einzelnen Verhältnismäßigkeitsaspekte in die Gleichheitsprüfung aufnehmen, diese aber aufgrund der strukturellen Unterschiede zwischen Freiheits- und Gleichheitsrecht 71 nicht so sehr an die Prüfung des Freiheitsrechts anlehnen. Danach muß die Ungleichbehandlung einen legitimen Zweck verfolgen, zur Erreichung dieses Zwecks geeignet und notwendig sein und in einem angemessenen Verhältnis zum Ziel der Differenzierung stehen.72 Die bisher eingehendste Untersuchung zum Einbau des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit in Art. 3 I GG stammt von Huster. Sein Verdienst ist es vor allem, daraufhingewiesen zu haben, daß es widersprüchlich ist, einerseits eine Verhältnismäßigkeitsprüfung innerhalb des Art. 3 I GG zu befürworten, andererseits aber die Übertragung des freiheitsrechtlichen Eingriffsschemas auf Art. 3 I GG abzulehnen, obwohl gerade der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz eine Abwägung zwischen individuellem Interesse des Grundrechtsträgers und dem Ziel des staatlichen Eingriffs ist.73 Dies wiederum führt er auf eine Fehlentwicklung der Zweck-Mittel-Terminologie zurück, 74 durch die gedankliche Operationen als Verhältnismäßigkeitsprüfung bezeichnet würden, die dies in Wirklichkeit nicht seien, weil es nicht um Relationen kollidierender Rechtsgüter gehe. Auf der Grundlage dieses Verständnisses unterscheidet er zwei Fallgruppen des Gleichheitssatzes:75 Zum einen gebe es Differenzierungen, die an die jeweils relevanten Gemeinsamkeiten und Unterschiede der Vergleichspersonen anknüpften und konkreten inhaltlichen Gerechtigkeits-

70

Zum Begriffs, unten 3. Teil Β. II. 2. Dazu 3. Teil B. III. 72 Gubelt in: von Münch/Kunig, Art. 3 Rdnr. 29; Pieroth/Schlink, Rdnr. 484; Stein, Staatsrecht, S. 399f; Maaß NVwZ 1988, 14/20f; Müller VVDStRL 47 (1989), 37/49f; Robbers DÖV 1988, 749/75If; Schoch DVB1 1988, 863/874; Wendt NVwZ 1988, 778/78Iff. Eher skeptisch äußern sich ζ. B. Hesse AöR 109 (1984), 174/190ff und Herzog DÖV 1989, 465/466. Eine Konkretisierung des Gleichheitssatzes aufgrund anderer verfassungsrechtlicher Wertungen und damit eine Anlehnung an die Rechtsprechung, die die Kontrolle bei Einschlägigkeit anderer Verfassungsbestimmungen intensiviert, vertritt Starck in: von Mangoldt/Klein/Starck, Art. 3 Rdnrn. 15ff; ebenso bereits Ipsen, S. 164ff; ähnlich auch Maunz/Zippelius, S. 203ff. 71

73

Huster. S. 65f, 181 ff.

74

AaO, S. 129ff. AaO, S. 164ff.

75

C. Methodische Vorüberlegungen

93

maßstäben entsprächen, darüber hinaus aber kein weiteres Ziel verfolgten. Derartige interne Differenzierungen - die nur anhand des Willkürverbots überprüfbar seien - seien Bestandteil des Schutzbereichs; da ein darüber hinausgehendes kollidierendes Rechtsgut nicht ersichtlich sei, sei auch eine Verhältnismäßigkeitsprüfung ausgeschlossen. Anders sei es bei Differenzierungen, die nicht von vornherein durch ihren immanenten Gerechtigkeitsgehalt gerechtfertigt seien, sondern der Verfolgung kollektiver Ziele dienten. Ungleichbehandlungen aufgrund dieser externen Ziele stellten einen Eingriff dar, die mit den individuellen Interessen der Vergleichspersonen kollidieren könnten. Dies sei der Ansatzpunkt für den Einbau der Verhältnismäßigkeitsprüfung. Man kann mit Sicherheit darüber streiten, ob die Differenzierung zwischen internen und externen Zielen und den entsprechenden Folgen für die Kontrollintensität wirklich sachgerecht ist. 76 Dies bedarf hier auch keiner Entscheidung. Husters Untersuchung hat gezeigt, daß die Strukturfrage unmittelbar mit der Problematik des Maßstabs beim Vergleich zweier Sachverhalte zusammenhängt und es überhaupt entscheidend darauf ankommt, eine dogmatisch widerspruchsfreie und transparente Gleichheitsprüfung anzustreben. Die Struktur und die Besonderheiten dieser Prüfung werden später noch eine besondere Rolle spielen.77

C. Methodische Vorüberlegungen Ebenso wichtig wie die Darstellung der beteiligten Grundrechte sind für das Verständnis und die nachfolgende Analyse der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts einige terminologische Vorfragen, die das methodische Vorgehen des Gerichts betreffen. Hierin liegt auch die zentrale Bedeutung der bereits wiedergegebenen Grundsatzentscheidung des Bundesverfassungsgerichts. 78 Sie beschreibt die Vorgehensweise, mit der das Gericht das noch im einzelnen darzustellende Verhältnis von Art. 3 I zu Art. 6 I GG bestimmt. Dabei greift es auf allgemeine rechtsmethodische Grundsätze zurück, die für das Verhältnis zweier Rechtssätze zueinander gelten, indem es den grundsätzlichen Vorrang der Spezialnorm vor der Generalnorm betont und dann untersucht, ob die beteiligten Grundrechte in einer solchen Beziehung zueinander stehen. Dabei kommt das Gericht je nach Fall zu recht unterschiedlichen Ergebnissen, 76

77 78

Vgl. Kingreen NWVB1 1994, 479/480.

3. Teil B.III. BVerfGE 13.290.

94

Zweiter Teil: Grundrechtsbezogene Analyse der Rechtsprechung

so daß es sinnvoll erscheint, vorab vor allem auch terminologisch zu klären, in welchem Verhältnis die Grundrechte des Grundgesetzes zueinander stehen können. Je nachdem, ob das Gegeneinander oder das Nebeneinander zweier oder mehrerer Grundrechte untersucht wird, wird meist zwischen Grundrechtskollisionen und Grundrechtskonkurrenzen unterschieden. 79

I. Grundrechtskollisionen

Unter einer Grundrechtskollision versteht man das Gegeneinander von Grundrechten verschiedener Grundrechtsträger mit der Folge gegenseitiger Freiheitsbeeinträchtigung. 80 Eine Grundrechtskollision bedeutet also immer einen Konflikt zwischen verschiedenen Grundrechtsträgern, der durch wildwüchsigen Freiheitsgebrauch entsteht und bei denen der Staat durch Eingriffe in die Rechtsposition eines oder sogar mehrerer Grundrechtsträger quasi als Moderator fungiert. 81 Es handelt sich also zwar um den Konflikt zweier oder mehrerer grundrechtlich geschützter Positionen (klassisches Beispiel: der Künstler, der eine fremde Hauswand bemalt). Die Grundrechtskollision hingegen entsteht - wenn man nicht eine unmittelbare Drittwirkung der Grundrechte propagiert - durch die Einschaltung der an die Grundrechte gebundenen staatlichen Gewalt, die diesen Konflikt aufzulösen hat.82 Je nach Eigenart der beteiligten Grundrechte und des konkreten Falles sind verschiedene Lösungswege denkbar: 1. Kollisionsvermeidung

durch

Schutzbereichsbestimmung

Der Lösung einer Grundrechtskollision vorauszugehen hat die Frage, ob eine solche vorliegt. Dies setzt die genaue Bestimmung der grundrechtlichen Schutzbereiche voraus. 83 Das ist sinnvoll, weil durch eine extensive Grundrechtsinterpretation nahezu überall Kollisionen konstruierbar sind, obwohl jedes Grundrecht nur in einem bestimmten Bereich menschlichen Handelns erhöhten Schutz gewähren will, diesen Schutz aber anderen Verhaltensweisen

79

Lepa DVB1 1972, 161/161 ; Rufner in: BVerfG und GG II, S. 453. Bethge, Grundrechtskollisionen, S. lf; Bleckmann, S. 391; Rüfner in: BVerfG und GG II, S. 453; Lepa DVB1 1972, 161/161. 81 Vgl. Pieroth/Schlink, Rdnr. 341 82 Vgl. Bethge, Grundrechtskollisionen, S. 15ff; Blaesing, S. 54ff. 83 Stern III/2, S. 622f; Rüfner in: BVerfG und GG II, S. 456ff; von Münch in: von Münch/Kunig, Vorb. Art. 1-19 Rdnr. 45; Pieroth/Schlink, Rdnr. 347. 80

C. Methodische Vorüberlegungen

95

zumindest in diesem Grundrecht nicht geben will. 8 4 Die begrenzende Schutzbereichsbestimmung geschieht häufig durch systematische Interpretation, also durch den Blick auf andere Grundrechte und sonstige Verfassungssätze. Deshalb sollen zum Beispiel Meinungsäußerungen und Kunstwerke, die fremdes Eigentum in Anspruch nehmen, von vornherein nicht unter Art. 5 I und III GG fallen. 85 Eine zu weitgehende Kollisionsvermeidungsstrategie ist freilich nicht ungefährlich. Die Schutzbereiche der Grundrechte werden einzelfallbezogen begrenzt, ohne daß die Voraussetzungen des Gesetzesvorbehalts geprüft werden oder eine Güterabwägung vorgenommen wird. Der Versuch einer Kollisionsvermeidung droht daher die Gesetzesvorbehalte der Grundrechte ihrer Funktion zu berauben und die Reichweite des Schutzbereichs von einer richterlichen, nicht mehr allgemein zu bestimmenden Entscheidung abhängig zu machen.86 Hier ist also Vorsicht geboten, damit aus einer Kollisionsumgehung nicht eine Umgehung von Problemen und zum Schutz des Grundrechtsträgers eingebauter Sicherungen führt.

2. Entscheidungskriterien

bei erkannten

Kollisionen

a) Rangordnung der Grundrechte? Mit der Aufstellung einer Hierarchie der Grundrechte könnten Kollisionsfälle abstrakt gelöst werden. So ist denn auch versucht worden, aus den unterschiedlich weit gehenden Gesetzesvorbehalten der Grundrechte Schlüsse auf deren Rang zu ziehen.87 Abgesehen vom alle Bestimmungen des Grundgesetzes beherrschenden Grundsatz der Menschenwürde 88 ist demgegenüber aber Skepsis angebracht, weil es sehr zweifelhaft ist, weil im Grundrechtskatalog schwerlich eine bestimmte Rangordnung ausgemacht werden kann.89 Wäre die Systematik 84

Beispiel bei Pieroth/Schlink, Rdnr. 346. Rüfner in: BVerfG und GG II, S. 453. 86 Pieroth/Schlink, Rdnrn. 350ff. 87 Vor allem von Blaesing, Grundrechtskollisionen, S. 143ff, aber auch von Lepa DVBI 1972, 161/167, für den die Abstufung der Schrankenvorbehalte indizielle Bedeutung für den Stellenwert des Grundrechts im Verfassungsgefüge hat. 88 Vgl. BVerfGE 6, 32/36. 89 Ablehnend daher auch die hM: Müller, Freiheit der Kunst, S.54; Stern III/2, S. 614f; Ossenbühl in: BVerfG und GG I, S. 458; Scheuner DÖV 1971, 505/509. Bethge, Grundrechtskollisionen, S.268f, verweist vollkommen zu Recht darauf, daß auch der Autbau einer Wertordnung der Grundrechte eine Rangordnung bewirkt; zur Problematik der Grundrechte als Werlentschcidungen bzw. Wertordnung vgl. F. III. 1.; G. II. 1. a). 85

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Zweiter Teil: Grundrechtsbezogene Analyse der Rechtsprechung

der Gesetzesvorbehalte maßgeblich, müßte die vorbehaltlos gewährleistete Freiheit der Kunst einen höheren Stellenwert als das Grundrecht auf Leben haben, welches unter Gesetzesvorbehalt steht.90 Nicht weiter hilft eine solche Skala schließlich, wenn sich zwei Grundrechtsträger auf das gleiche Grundrecht berufen und es dadurch zu einer Kollision kommt. 91 Die Kollisionslösung kann also nicht abstrakt, sondern muß situationsabhängig erfolgen. b) Situationsabhängige Kollisionslösung In der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts erfolgt diese situationsabhängige Kollisionslösung regelmäßig mittels einer umfassenden Güterabwägung: Danach müssen beide Verfassungswerte im Konfliktfall nach Möglichkeit zum Ausgleich gebracht werden; ist dies nicht möglich, "so ist unter Berücksichtigung der falltypischen Gestaltung und der besonderen Umstände des Einzelfalles zu entscheiden, welches Interesse zurückzutreten hat." 92 Diese Abwägungsvorgänge sind im Grunde nichts anderes als eine Prüfung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit, der besonders in neueren Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts bei der Abwägung in den Vordergrund rückt. 91 Er ermöglicht die Berücksichtigung verschiedener Aspekte für die Güterabwägung, indem beispielsweise geprüft wird, ob das Grundrecht zentral oder nur in Randbereichen betroffen ist, wie intensiv also die Einschränkung im Falle des Zurücktretens des Grundrechts wäre. Als weitere SchrankenSchranke bietet schließlich auch Art. 19 II GG eine Vorgabe für die Kollisionslösung, indem er die Zurückdrängung eines Grundrechts über seinen Wesensgehalt hinaus verbietet. 94 In diesen Zusammenhang gehört auch das von Hesse entwickelte Prinzip der praktischen Konkordanz: Beiden Freiheitserwartungen "müssen Grenzen gezogen werden, damit beide zu optimaler Wirksamkeit gelangen können."95 Gleichgesetzt werden können praktische Konkordanz und Güterabwägung gleichwohl nicht. Der beschriebene Abwägungsvorgang untersucht lediglich, ob Z w e c k und M i t t e l der Maßnahme nicht in einem unangemessenen

90

Verhält-

Kritisch daher auch: von Münch in: von Münch/Kunig. Vorb. Art. 1-19 Rdnr. 46. Ζ. B. Konflikt Demonstration - Gegendemonstration, die beide durch Art. 8 I GG geschützt sind: vgl. von Münch. aaO. 92 BVerfGE 35, 202/225; vgl. aber auch oben Β. 1. b) mit Fn. 14. 91 BVerfGE 51, 324/346; 63. 131/144; 67. 157/172Γ. 94 Lepa DVBI 1972. 161/167. 95 Hesse, Verfässungsrecht. Rdnr.72. 91

C. Methodische Vorüberlegungen

97

nis zueinander stehen. Das bedeutet nicht, daß das Verhältnis auch optimal sein muß. Die bei der Güterabwägung regelmäßig vorzunehmende Verhältnismäßigkeitsprüfung engt daher den Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers weit weniger ein als der auf Optimierung gerichtete Grundsatz der praktischen Konkordanz. 96

II. Grundrechtskonkurrenzen

Während bei der Grundrechtskollision die Grundrechte verschiedener Grundrechtsträger aufeinanderstoßen, handelt es sich bei den Grundrechtskonkurrenzen um die Fälle, in denen auf eine Verhaltensweise mehrere Grundrechte nebeneinander Anwendung finden. 97 Es geht hier also nicht wie bei der Grundrechtskollision um eine Konfrontation zweier Grundrechte, sondern um die Frage, in welchem Verhältnis Grundrechte zueinander stehen, die gleichermaßen das Verhalten eines Grundrechtsträgers erfassen. Dies soll vor allem bei schrankendivergenten Grundrechten Probleme aufwerfen. /. Lösungswege

Die Grundrechtskonkurrenz kann in recht unterschiedlichen Varianten auftreten, die auch terminologisch noch nicht einheitlich erfaßt sind. Bei zahlreichen Grundrechtskombinationen gibt es erhebliche Meinungsunterschiede; 98 hier soll es allerdings genügen, auf die verschiedenen Arten und Lösungsmöglichkeiten der Grundrechtskonkurrenz einzugehen: a) Konkurrenzvermeidende Schutzbereichsbestimmung Wie im Kollisionsbereich sind auch Konkurrenzen durch eine einengende Schutzbereichsbestimmung vermeidbar. 99 Als Beispielsfall wird hier oft die 90

Grabitz AöR 98 (1973), 568/576. Gleiches dürfte wohl für das Prinzip des schonendsten Ausgleichs (vgl. Lerche. Übermaß und Vcrfassungsrccht. S. 125ff. 152f) gelten; schon der von Lerche verwendete Superlativ zeigt, daß es auch ihm um die optimale Kollisionslösung geht. Anders Stern III/2. S. 6251Ï: außerdem Lehn/Fehn VR 1994, 413/420. die praktische Konkordanz und den Vorgang der Güterabwägung nicht auseinanderhalten und daher fälschlicherweise bei der Kollisionslösung von einem "Grundrechtsvergleich" sprechen: zu diesem Problem noch im 3. Teil Β. II. 2. a) cc). 97 von Münch in: von Miinch/Kunig, Vorb. Art. 1 - 1 9 Rdnr. 42; Bleckmann. S. 391; Schwabe, Grundrechtsdogmatik. S. 324; Bleckmann/WiethoffVÖV 1991, 722/7221'. 98 Überblick bei Schwabe. aaO. S. 324IT. 99 Sehr weitgehend: Bachof. S. 1691T. 7 KiniM'ccn

98

Zweiter Teil: Grundrechtsbezogene Analyse der Rechtsprechung

gewerkschaftliche Versammlung genannt, die sowohl unter Art. 8 I als auch unter Art. 9 III GG fallen kann, die aber - wenn man jeweils bestimmte Sachverhalte aussondert - auch nur Art. 8 I GG (wenn man Versammlungen nicht unter die gewerkschaftliche Betätigung nach Art. 9 III GG faßt) oder aber auch nur Art. 9 III GG - bei Abspaltung gewerkschaftlicher Versammlungen vom Versammlungsbegriff - unterfallen könnte. 100 Aber auch hier ist Vorsicht am Platze, um nicht einen Schutzverlust herbeizufuhren. Diese Gefahr droht vor allem bei zwei beteiligten Grundrechten mit unterschiedlichen Anforderungen an Eingriffe. Die Konkurrenzvermeidung kann dann dazu führen, daß das schutzintensivere (weil schwerer einschränkbare) Grundrecht durch einschränkende Auslegung wegfällt. Insgesamt dürfte diese Möglichkeit daher nur selten in Betracht zu ziehen sein. b) Abstrakte Spezialität Der vor allem im Bereich des Strafrechts verwendete Terminus "Spezialität" wird auch bei Grundrechtskonkurrenzen verwendet. Spezialität wird angenommen, wenn ein Tatbestand alle Merkmale eines anderen enthält und daneben eines oder mehrere von besonderer Bedeutung.101 Die Erfüllung des Spezialtatbestandes bedeutet also auch immer die Verwirklichung des allgemeinen Tatbestandes, der in diesem Fall nach dem Grundsatz lex specialis derogat legi generali zurücktritt. 102 Bildlich gesprochen ist das spezielle Grundrecht ein Kreisausschnitt des diesen umschließenden Kreises "allgemeines Grundrecht". Der Begriff "abstrakte Spezialität" wird hier gewählt, da diese bereits unabhängig vom konkreten Lebenssachverhalt besteht.103 Angenommen wird diese Art der Spezialität vor allem im Verhältnis zwischen dem allgemeinen Freiheitsrecht des Art. 2 I GG und den ihm folgenden besonderen Freiheitsverbürgungen 104 sowie zwischen Art. 3 I GG und den besonderen Gleichheitssätzen, ζ. B. in Art. 3 II, III GG. 105 100

Schwabe, Grundrechtsdogmatik, S. 329. Schwabe, aaO, S. 327. 102 Im einzelnen herrscht hier einige Unklarheit: von Münch in: von Münch/Kunig, Vorb. vor Art. 1-19 Rdnr.42 meint, Spezialität sei kein Fall der Konkurrenz; Schwabe, aaO, S. 326 will in Ausnahmefällen trotz Spezialität die Rechtsfolgen auch der allgemeinen Norm entnehmen. Wie hier aber grundsätzlich BVerfGE 13, 290/296; 68, 193/2221T; Pieroth/Schlink, Rdnrn. 367f. 103 Die Unterscheidung "abstrakt - konkret" nehmen für den gesamten Konkurrenzbereich auch Bleckmann/WiethoffOQM 1991, 722/723 ff vor. 104 BVerfGE 6, 32/37; 67, 157/171; Starck in: von Mangoldt/Klein, Art. 2 Rdnrn. 34f; Pieroth/Schlink, Rdnr. 402. Unstrittig ist dies wegen der Diskussion um die Reichweite des Art. 2 101

C. Methodische Vorüberlegungen

99

c) Grundrechtliche Teilkongruenz Am häufigsten wird die Konstellation relevant, daß zwei Grundrechte zur Auswahl stehen, die zwar nicht grundsätzlich in einem Verhältnis der Spezialität zueinander stehen, die aber im konkreten Fall beide in ihrem Schutzbereich betroffen sind. Diese Teilkongruenz besteht also nicht bereits abstrakt, sondern entsteht erst durch eine menschliche Verhaltensweise, die Ausschnitte aus mehr als nur einem Grundrechtstatbestand berührt. Diese Variante läßt sich durch das Bild zweier sich schneidender Kreise beschreiben, was freilich nicht bedeutet, daß in der Schnittmenge auch immer einheitliche Lösungen möglich sind: aa) Konkrete

Spezialität

Denkbar ist zunächst, daß eines der beiden Grundrechte 106 durch das andere verdrängt wird. Vorausgesetzt wird dabei, daß dieses Grundrecht das Verhalten durch gegenüber dem anderen Grundrecht zusätzliche Merkmale erfaßt. 107 Als möglich wird dies beispielsweise bei der beruflichen Betätigung eines Redakteurs angesehen: Hier können sowohl Art. 5 I 2 l.Var. als auch Art. 12 I GG eingreifen; letzterer soll aber zurücktreten, weil die berufliche Betätigung des Redakteurs das besondere Merkmal aufweist, daß sie in der Presse erfolgt. 108 Dieser Zustand ist mit Spezialität nur sehr unzureichend bezeichnet, da sich die beiden Tatbestände im Hinblick auf die millionenfachen Möglichkeiten menschlichen Handelns nur in einem Bereich decken, also nur teilidentisch sind. Es empfiehlt sich daher, den Begriff "konkrete Spezialität" zu verwenden, 109 um den Unterschied zur oben dargestellten, umfassenden abstrakten Spezialität zu verdeutlichen und dabei vor allem die Tatsache, daß bei der konkreten Spezialität ein gegenüber der abstrakten Spezialität weiterer Schritt erforderlich ist: die Feststellung des Verhältnisses der Grundrechte im konkreten Fall!

I GG (vgl. 1. Teil C. IV. 2.) freilich nicht: Krebs, Vorbehalt des Gesetzes, S. 35ff; Erichsen Jura 1987, 367/370. - Auch innerhalb der Einzelfreiheiten ist abstrakte Spezialität denkbar: So ist 4 III lex specialis gegenüber Art. 4 I GG (vgl. BVerfGE 23, 127/132). 105 BVerfGE 59, 128/156. 106 Natürlich können auch noch mehr als zwei Grundrechte betroffen sein. 107 Pieroth/Schlink, Rdnr. 371. 108 Pieroth/Schlink, Rdnr. 372; dies ist allerdings bereits umstritten: vgl. Wendt in: von Münch/Kunig, Art. 5 Rdnr. 115. 109 Vgl. wiederum Bleckmann/WiethoffOÖV 1991, 722/723.

Τ

100

Zweiter Teil : Grundrechtsbezogene Analyse der Rechtsprechung

bb) Idealkonkurrenz

Die Teilkongruenz von grundrechtlichen Schutzbereichen wird allerdings in den meisten Fällen dazu führen, daß beide Grundrechte nebeneinander Schutz gewähren. Für diesen Zustand hat sich der Begriff "Idealkonkurrenz" eingebürgert, 110 die in Betracht zu ziehen ist, wenn eine konkrete Spezialität für den Lebenssachverhalt nicht feststellbar ist. So hat das Bundesverfassungsgericht zum Beispiel für die Beurteilung des Aufrufs zu einer Versammlung Art. 5 I 1 und Art. 8 I GG nebeneinander angewendet.111 2. Probleme bei Feststellung

und Folgen der Grundrechtskonkurrenz

Vor allem die Idealkonkurrenz wirft eine Reihe von Fragen auf. 112 Es ist zu überlegen, ob beide Grundrechte unabhängig nebeneinander stehen oder ob sie im Einzelfall sogar eine Einheit bilden. Fraglich ist dann, ob eine solche Grundrechtskombination auch zu einer Intensivierung des Grundrechtsschutzes führen kann. Kann also beispielsweise der Berufsmusiker noch intensiveren, verdichteten Schutz genießen, indem er sich auf Art. 5 III 1 und Art. 12 I GG berufen kann? In der Tat wird diskutiert, ob eine solche Wertkumulation einen höheren Rang hat als die Berufsfreiheit und die Kunstfreiheit individuell genommen. 113 Dieser Zustand wird dann als Grundrechtskumulation 114 bzw. Grundrechtsverdichtung 115 bezeichnet, ist aber nicht etwa ein Unterfall der Idealkonkurrenz, sondern eine als möglich diskutierte Rechtsfolge. Dieses Problem hängt mit der Frage zusammen, ob jedes Grundrecht isoliert mit seinen Schranken zu prüfen ist oder ob die Schranken des einen die Prüfung des anderen Grundrechts beeinflussen (Problem der schrankendivergenten Grundrechte). Hierzu wird eine Fülle von Meinungen vertreten 116, wobei die Lösung bevorzugt wird, auf das stärkere Grundrecht abzustellen, also die Schranken dem Grundrecht zu entnehmen, das weniger Einschränkungsmöglichkeiten aufweist. 117 110 Schwabe, Grundrechtsdogmatik, S. 332, 394ff; Herzog in: Maunz/Dürig, Art. 4 Rdnr. 96, Art. 5 Rdnr. 35; Scholz AöR 100 (1975), 80/116. 111 BVerfGE 82, 236/258. 112 Dazu Schwabe, Grundrechtsdogmatik, S. 332Γ. 113 Dies bejahen Bleckmann/Wiethoff DÖV 1991, 722/729f. Ablehnend Würkner DÖV 1992, 15Off. Ihm folgend Pieroth/Schlink, Rdnr. 373. 114 Bleckmann/Wiethoff DÖV 1991, 722/729 f. Emmerich/Würkner NJW 1986. 1195/1204. 116 Übersicht bei Schwabe. Grundrechtsdogmatik, S. 394ff. 1,7 So ζ. B. Rüfner in: BVerfG und GG II, S. 477.

D. Gruppenbildung nach grundrechtlichem Maßstab

101

Schwierig ist aber auch oft schon die Feststellung, welche Konkurrenzsituation überhaupt vorliegt. Hier lassen sich wie im Kollisionsbereich keine konkreten Aussagen treffen, was mit der Besonderheit der jeweiligen Konkurrenzsituation zusammenhängt.118 Dies gilt auch für das Verhältnis von Art. 3 I zu Art. 6 I GG, das sich erst aus einer Analyse der beiden Grundrechte ergeben wird. Dabei wird insbesondere zu fragen sein, ob die für die Freiheitsrechte dargestellten Kokurrenzsituationen auch zwischen Freiheits- und Gleichheitsgrundrecht denkbar sind.

D. Gruppenbildung nach grundrechtlichem Maßstab 119 Um eine behauptete Benachteiligung von Ehe und Familie oder von Ledigen zu untersuchen, verwendet das Bundesverfassungsgericht Art. 3 I und Art. 6 I GG in verschiedenen Varianten als Prüfungsmaßstab. Dabei sind drei Gruppen erkennbar, wobei nochmals daraufhingewiesen sei, daß diese Gruppenbildung angesichts der großen Bandbreite der Entscheidungen oft nicht eindeutig und widerspruchsfrei möglich ist. Dies hängt vor allem damit zusammen, daß die behaupteten Diskriminierungen manchmal innerhalb einer Entscheidung unter verschiedenen Aspekten geprüft werden, indem ein Vergleich mit unterschiedlichen Personen, Personengruppen oder Situationen stattfindet. Durch den Wechsel der Bezugspunkte wechselt aber oft auch der grundrechtliche Maßstab, so daß einige Entscheidungen zwei grundrechtliche Maßstabsgruppen tangieren. Die genaue Feststellung der Vergleichsgruppen ist damit für das Verständnis des grundrechtlichen Prüfungsmaßstabes von besonderer Bedeutung. Die Tatsache, daß hier nur diejenigen Entscheidungen untersucht werden, die sich mit der behaupteten Diskriminierung von Ehe und Familie gegenüber Ledigen und umgekehrt beschäftigen, zeigt gleichzeitig, daß hier nicht alle Fälle aufgeführt werden, die neben oder gleichzeitig mit Gleichheitsproblemen auch ehe- und familienspezifische Fragen betreffen. So gibt es zahlreiche Fälle, die zwar sowohl Art. 3 I als auch Art. 6 I GG berühren, aber dennoch nichts mit der hiesigen Diskriminierungsproblematik zu tun haben. Es sind dies die 118 Fohmann EuGRZ 1985, 49/59; ßleckmann/Wiethoff DÖV 1991, 722/729; Schwabe JA 1979, 191/196, der allerdings eine deutliche Präferenz in der Literatur für die Annahme von Idealkonkurrenz feststellt, um sich der Wirkkraft beider Grundrechte zu versichern. 119 Die folgende Übersicht muß sich im wesentlichen auf Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts aus der amtlichen Sammlung bis Band 90 beschränken.

102

Zweiter Teil: Grundrechtsbezogene Analyse der Rechtsprechung

Konstellationen, in denen zwar die Benachteiligung eines Personenkreises gegenüber dem anderen moniert wird, diese Benachteiligung die Kläger aber nicht als Mitglied von Ehe oder Familie, sondern aus anderen Gründen bzw. in anderer Funktion trifft. Insofern ist dann nur Art. 3 I GG einschlägig, und Art. 6 I GG kann nicht als Diskriminierungsverbot, sondern höchstens - aus anderem Blickwinkel - als Förderungsgebot geprüft werden. 120 Zu den hier näher zu untersuchenden Entscheidungen gehören zunächst die Fälle, in denen Art. 6 I GG allein auftaucht. Daneben wird häufig Art. 3 I i. V. m. Art. 6 I GG (seltener auch umgekehrt) geprüft, und schließlich gibt es auch Entscheidungen, in denen allein Art. 3 I GG Prüfungsmaßstab ist.

I. Art. 6 I GG als spezielles Diskriminierungsverbot 1. Voraussetzungen des Vorrangs von Art. 61 GG

In seiner Grundsatzentscheidung zu der Thematik betont das Bundesverfassungsgericht, daß Art. 3 I und Art. 6 I GG zwei voneinander unabhängige Normen mit jeweils spezifischem Regelungsgehalt seien.121 Allerdings soll in bestimmten Fällen Art. 6 I GG als spezielles Diskriminierungsverbot Art. 3 I GG vorgehen. Diese Judikate bilden freilich keine homogene Gruppe: Neben den Entscheidungen, die sich ausdrücklich mit dem Verhältnis der beiden Grundrechte zueinander befassen und dann Art. 6 I GG als besonderen Gleichheitssatz anwenden, gibt es auch solche, die Art. 6 I GG allein nennen, ohne Art. 3 I GG bei derselben Vergleichsgruppe in Erwägung zu ziehen und damit auf das Konkurrenzverhältnis einzugehen.122 Viele dieser Fälle lassen sich aber unproblematisch hier einordnen; meist zitieren sie Entscheidungen, die das Verhältnis beider Grundrechte näher untersucht haben und erfüllen zudem die gleich noch zu nennenden Voraussetzungen, die das Gericht für die Präponderanz des Art. 6 I GG aufgestellt hat. Andere Judikate machen hingegen grundsätzliche Schwierigkeiten bei der Einordnung. Dies liegt teilweise daran, daß bei der Begründung für den Vorrang von Art. 6 I GG ausgerechnet

120

BVerfGE 21, 1/6; 28, 104/112ff; 40, 121/132ff; 48, 356/366; 75, 348/357ff; 79, 106/121ff. BVerfGE 13, 290/296f. 122 BVerfGE 6, 386/388; 1 1, 50/57; 12, 177/1791; 18, 97/105f; 24, 104/109; 32, 260/267f; 75, 361/366; 82, 60/80. Das heißt freilich nicht, daß Art. 3 I GG in diesen Entscheidungen nicht noch unter einem anderen Gesichtspunkt, ζ. B. der allgemeinen Steuergerechtigkeit, geprüft wird (so in BVerfGE 75, 361/367f.). 121

D. Gruppenbildung nach grundrechtlichem Maßstab

103

Entscheidungen zitiert werden, die gerade diesen Vorrang nicht annehmen.123 Teilweise gibt es aber auch Entscheidungen, die Art. 6 I und Art. 3 I GG unter demselben Aspekt untersuchen: In beiden Grundrechtsprüfungen werden mit parallelen Erwägungen dieselben Tatbestände zum Gegenstand des Vergleichs gemacht.124 Dies ist ungewöhnlich, weil das Gericht in solchen Fällen an sich einen Vorrang von Art. 6 I GG annimmt und Art. 3 I GG zurücktreten läßt. Diese Judikate passen dennoch am ehesten in diese Gruppe, weil Art. 6 I GG isoliert betrachtet - durch das vergleichende Vorgehen des Gerichts wie ein besonderes Diskriminierungsverbot behandelt wird. Am interessantesten sind die Entscheidungen, die Art. 6 I GG ausdrücklich als gegenüber Art. 3 I GG spezielles Grundrecht bezeichnen und dabei auch die Voraussetzungen der Spezialität von Art. 6 I GG beschreiben. 125 Vor allem in frühen Entscheidungen wird Art. 6 I GG gemeinsam mit anerkannten speziellen Gleichheitssätzen als besonderer Prüfungsmaßstab gegenüber Art. 3 I GG bezeichnet, für dessen Anwendung nach festgestellter Verletzung von Art. 6 I GG kein Raum mehr bleibe. 126 Mitunter wird er auch als "Konkretisierung" des allgemeinen Gleichheitssatzes bezeichnet, der gegenüber "solchen speziellen Wertentscheidungen" zurückzutreten habe.127 Insbesondere in den mit steuerrechtlichen Fragen befaßten Judikaten befaßt sich das Gericht mit den Voraussetzungen des Vorrangs von Art. 6 I gegenüber Art. 3 I GG. Entscheidende Bedeutung komme der Steuerart zu: Bei Subjektsteuern bestehe eine stärkere sachliche Beziehung der angegriffenen Regelung zu Art. 6 I GG, während bei Objektsteuern eine stärkere Sachnähe zu Art. 3 I GG vorliegen soll. Durch Benachteiligungen bei der personalen Einkommensteuer würden nämlich allein Eheleute benachteiligt, während die verfassungswidrige Erhöhung von Objektsteuern auch Dritte betreffen könne. 128 Relativ bald wurde allerdings klar, daß allein die Steuerart den grundrecht123

Beispiel: BVerfGE 29, 104/112. BVerfGE 30, 59/63, 67; 81, 1/6, 8. 125 Ausdrückliche Anerkennung der Spezialität in: BVerfGE 6, 55/71, 82; 9, 237/248f (diese Entscheidung beweist übrigens die Schwierigkeit der Gruppenbildung nach grundrechtlichem Maßstab, hat sie doch in ihrem ersten Teil - S. 241-245 - andere Vergleichsgruppen und daher auch einen anderen Maßstab zum Gegenstand); ferner BVerfGE 12, 151/163; 12, 180/194; 13, 318/331; 14, 34/42; 15, 328/330; 16, 203/208; 17, 1/38; 17, 210/224; 28, 324/346Î; 45, 104/125 (Teil 1). Auch Entscheidungen jüngeren Datums erwähnen Art. 6 I GG - wenn auch zum Teil nur beiläufig - als besonderes Diskriminierungsverbot: BVerfGE 75, 348/357; 76, 1/72. 126 BVerfGE 6, 55/71, 82; 17, 1/38. 127 BVerfGE 12, 151/163. 128 BVerfGE 13, 290/295ff einerseits und - vom gleichen Tag - BVerfGE 13, 318/331 andererseits. 124

104

Zweiter Teil: Grundrechtsbezogene Analyse der Rechtsprechung

liehen Maßstab nicht vorprägen kann. So prüft das Gericht die Verfassungsmäßigkeit einer an das Objekt "Grundstück" anknüpfenden Hypothekengewinnabgabe allein anhand von Art. 6 I GG. Zwar weise die Abgabe Merkmale einer Objektsteuer auf; sie treffe Ehegatten aber gerade in ihrer Eigenschaft als Verheiratete. 129 Obwohl damit die Steuerart als allein relevantes Kriterium wieder aufgegeben wird, bleibt es dabei, daß Art. 6 I GG nur dann spezieller ist, wenn allein Eheleute benachteiligt werden, aber nicht, wenn auch Dritte von den Wirkungen der angegriffenen Regelungen erfaßt werden. Hinter dieser regelmäßig wiederkehrenden Aussage steckt folgender, auch über das Steuerrecht hinaus gültiger Gedanke: Art. 6 I GG soll umfassenden Schutz gewähren gegenüber benachteiligenden Vorschriften, die an die Ehe oder an die Familie anknüpfen. Nicht immer aber betreffen solche Regelungen beispielsweise nur Eheleute, sondern auch Dritte, an deren Ehe zwar nicht angeknüpft wird, die aber durch eine enge - vor allem wirtschaftliche - Verbindung in gleicher Weise und Intensität getroffen werden wie die Eheleute selbst, sich aber mangels Anknüpfung an die eigene Ehe nicht auf Art. 6 I GG berufen können. Gleiches gilt für Personenmehrheiten und juristische Personen, die durch an die Ehe eines ihrer Gesellschafter anknüpfende nachteilige Regelungen (zum Beispiel die steuerliche Nichtanerkennung eines Arbeitsvertrages mit dem Ehegatten des Gesellschafters) ebenso betroffen werden, sich aber auf das nur natürlichen Personen zustehende Grundrecht aus Art. 6 I GG nicht berufen können. Deshalb bestimmt sich die Feststellung der stärkeren sachlichen Beziehung eines der beiden Grundrechte danach, ob die zu prüfenden Regelungen allein Eheleute treffen, die sich direkt auf Art. 6 I GG berufen können oder ob in diesem Bereich ebenso betroffene Personen und Personengruppen denkbar sind, die dieses Grundrecht nicht in Anspruch nehmen können. Besonders betont werden muß dabei, daß das Gericht zumindest in der die Rechtsprechung prägenden Grundsatzentscheidung nicht die Betroffenheit des Klägers im konkreten Fall für maßgeblich erklärt (dieser ist nämlich eine natürliche Person), sondern auch andere denkbare Kläger in die Untersuchung miteinbezieht. Allein die Tatsache, daß diese auch - nicht von Art. 6 I GG geschützte - Personenmehrheiten oder juristische Personen hätten sein können, hat das Gericht bewogen, Art. 3 I GG als das Grundrecht mit der stärkeren sachlichen Beziehung zum zu prüfenden Sachverhalt anzusehen. "Sachverhalt" in diesem Sinne ist damit nicht der konkrete Fall, sondern das Ergebnis einer abstrakt-umfassenden Betroffenenanalyse. Letzteres folgt allerdings vor allem

129

IWerlGI: 15, 328/330.

D. Gruppenbildung nach grundrechtlichem Maßstab

105

aus der Grundsatzentscheidung des Gerichts, deren Aussagen zum grundrechtlichen Maßstab freilich nicht immer konsequent beachtet werden. 130 Durch die Feststellung der Spezialität von Art. 6 I gegenüber Art. 3 I GG gewinnt Art. 6 I GG in der Rechtsprechung eine besondere, erweiterte Bedeutung.

2. Verlagerung

von Art. 61 GG auf die

Gleichheitsebene

a) Neue Wirkungsrichtung Diese Bedeutung liegt zunächst in der Erweiterung seiner Wirkungsrichtung. Das Bundesverfassungsgericht leitet nämlich aus Art. 6 I GG das Verbot ab, Ehen und Familien gleichheitswidrig zu benachteiligen. Entscheidender Ansatzpunkt der Prüfung ist damit nicht - quasi vertikal - die Frage, ob ein nicht zu rechtfertigender staatlicher Eingriff in die Freiheit vorliegt, eine Ehe einzugehen oder eine Familie zu gründen. Vielmehr kommt es auf der horizontalen Ebene darauf an, ob eine auferlegte Belastung oder eine nicht gewährte Begünstigung Eheleute oder Familien stärker trifft als Nichtverheiratete oder Alleinstehende ohne Kinder. Hier zeigt sich eine Erweiterung der Wirkungsrichtung von Art. 6 I GG, der nicht mehr nur als Freiheitsrecht gegen staatliche Eingriffe, sondern - vergleichend gerichtet auf das Verhältnis zu Personen und Personengruppen, die nicht Träger dieses Grundrechts sind - als Verbot gleichheitswidriger Benachteiligung in seinem Normbereich fungiert. Folglich ist es nicht die Intensität des Eingriffs in die Rechtsposition "Ehe" als solche, die die Verfassungswidrigkeit herbeiführt, sondern allein die Tatsache, daß im Verhältnis zu nicht durch Art. 6 I GG geschützten Personen eine gleichheitswidrige Benachteiligung vorliegt. 131 Die gesamte Diskriminierungsproblematik ist damit in der Rechtsprechung vor allem ein auf der Gleichheitsebene angesiedeltes Problem, hinter der die Prüfung der Freiheitsbeeinträchtigung durch staatliche Beschränkungen zurücktritt.

b) Erweiterung der Grundrechtswirkungen Mit der Transformation auf die Gleichheitsebene sind auch die Wirkungen des Art. 6 I GG insgesamt ausgedehnt worden. Dies verdeutlicht eine Ent130 Vgl. die oben genannten Zwcifclslalle; vor allem die Judikate zum Verbund Art. 3 I i. V. in. Art. 6 I GG weisen manche Inkonsequenz auf (dazu unter II. sowie F. I. 2.). 131 Rohloil S. 35f: Jarass AöR 110 ( 1985), 363/374f.

106

Zweiter Teil: Grundrechtsbezogene Analyse der Rechtsprechung

Scheidung des Bundesverfassungsgerichts aus dem Jahre 1970, in der es um die Verfassungsmäßigkeit einer Regelung geht, die den Anspruch auf Waisenrente nach dem 18. Lebensjahr für verheiratete Waisen selbst dann ausschloß, wenn der Ehegatte des Waisen zu Unterhaltsleistungen außerstande war. 132 In dieser gegenüber Nichtverheirateten ungleichen Vorenthaltung einer Begünstigung erblickte das Gericht einen Verstoß gegen Art. 6 I GG. 133 Damit wird auch hier das aus Art. 6 I GG folgende subjektive Recht über die reine Eingriffsabwehr hinaus auf ein Verbot gleichheitswidriger Benachteiligung von Ehe und Familie ausgedehnt. Die Entscheidung enthält allerdings noch eine weitere Besonderheit: Während es in den meisten Fällen um Belastungen geht, die an Ehe und Familie anknüpfen, monieren die Beschwerdeführer der Ausgangsverfahren hier die Vorenthaltung einer staatlichen Leistung und erstreben, in den Kreis derjenigen aufgenommen zu werden, die eine Waisenrente erhalten. Allgemeiner formuliert tritt der Bürger in diesem Fall in ein besonderes Verhältnis zum Staat, weil er nicht gegen eine Beschränkung seiner Freiheit durch staatlichen Zwang aufbegehrt und dementsprechend ein Unterlassen verlangt; vielmehr ist seine Klage auf eine anderen bereits gewährte Leistung, auf ein positives staatliches Handeln, gerichtet. Hier zeigt sich, daß die breiteren Wirkungen des Art. 6 I GG mit einer der Kardinalfragen der neueren Grundrechtsdogmatik, nämlich mit der Diskussion um die Erweiterung der Grundrechtsfunktionen und dabei besonders um die grundrechtliche Ableitung von Ansprüchen auf staatliche Leistungen, zusammenhängen. Hier soll es noch nicht um eine Analyse der vom Bundesverfassungsgericht verwendeten Grundrechtsfunktion des Art. 6 I GG gehen;134 der leistungsrechtliche 135 Teilaspekt der Gesamtproblematik verdient allerdings bereits hier Beachtung. Es wurde schon gesagt, daß der Bürger in verschiedenen Beziehungen zum Staat stehen kann; die Abwehr staatlicher Beschränkungen ist dabei nur eine Seite der Freiheit. Auf der anderen Seite sind die Möglichkeiten des isolierten Individuums zur freiheitlichen Entfaltung begrenzt. Der einzelne ist in vielfältiger Weise von sozialer Einbindung abhängig, die allein durch das Unterlassen staatlicher Eingriffe nicht erreichbar ist. Mit der Aufnahme des Sozialstaatsprinzips in Art. 20 I, 28 I GG bekennt sich das Grundgesetz auch dazu, daß Freiheit gewisse materielle Bedingungen zu ihrer Ausübung voraussetzt;

132

BVerfGE 28, 324; vgl. auch BVerfGE 17, 210. BVerfGE 28, 324/346ff. 134 Dazu gleich unter 3. 135 Im Sinne der Einteilung von Alexy, S. 402ff, entspricht dies dem Begriff "Leistungsrechte im engeren Sinne". 133

D. Gruppenbildung nach grundrechtlichem Maßstab

107

der Bürger bedarf bestimmter staatlicher Maßnahmen, die zum Schutz seines grundrechtlichen Freiraums unerläßlich sind. 136 Die Abhängigkeit individueller Freiheitsausübung von staatlicher Unterstützung dürfte als solche heute unbestritten sein; dogmatische Begründung sowie Art und Umfang eines möglichen Anspruchs dagegen umso mehr. Hier kann es nicht darum gehen, diese Diskussion - die ihren Ursprung in grundsätzlichen Differenzen über den Charakter und die Aufgaben des Staates hat 137 - im einzelnen nachzuzeichnen und zu bewerten. 138 Tatsache ist aber, daß der Staat in immer größerem Maße besonders Aufgaben der sozialen Sicherung und der kulturellen Förderung der Bürger übernommen hat, und es fragt sich, inwieweit die Grundrechte dem Bürger die Teilhabe an diesen bestehenden Leistungssystemen sichern. Damit ist die Problematik der Grundrechte als (derivative) Teilhaberechte angesprochen. Davon zu unterscheiden ist die Frage, ob Grundrechte auch Ansprüche auf Schaffung noch nicht bestehender Leistungssyteme beinhalten, also als (originäre) Leistungsrechte wirken. 139 aa) Grundrechte

als (originäre)

Leistungsrechte

Hier herrscht insgesamt Zurückhaltung; nach ganz überwiegender Ansicht können Ansprüche auf Schaffung bestimmter, noch nicht existierender staatlicher Vorkehrungen aus den Grundrechten in der Regel 140 nicht abgeleitet werden. Etwas anderes gilt nach Ansicht des Bundesverfassungsgerichts nur bei evidenter Verletzung von Verfassungsaufträgen; mögliche Ansprüche aus Grundrechten stünden aber unter dem "Vorbehalt des Möglichen im Sinne dessen, was der einzelne vernünftigerweise von der Gesellschaft beanspruchen kann." 141 Gemeint ist damit vor allem die Besorgnis, daß die Deduktion echter Leistungsansprüche zu erheblichen finanziellen Belastungen des Staates führen und im übrigen die Finanz- und Haushaltskompetenz des Parlaments beein136

BVerfGE 33, 303/33 lf; 35, 79/114f. Haverkate, S. 65ff. 138 Überblick hierzu ζ. B. bei Müller/P ieroth/Fohmann, S. 51ff; Stern III/l, S. 690ff; Murswiek in: Handbuch des Staatsrechts Bd. V, § 112; vgl. auch Martens VVDStRL 30 (1972), S. 7ff und Häberle ebd. S. 43ff. 139 Die Terminologie ist hier alles andere als einheitlich; vgl. Müller/P ieroth/Fohmann, S. 60f und Murswiek in: Handbuch des Staatsrechts Bd. V, § 112 Rdnrn. 5ff. Wie hier ζ. B. Jarass in: Jarass/Pieroth, Vorb. vor Art. 1 Rdnr. 7; Pieroth/Schlink, Rdnrn. 63f; Martens VVDStRL 30 (1972), S.7/21 ff; Krebs Jura 1988, 617/626. 140 Immerhin gibt es Ausnahmen: So leitet BVerwGE 52, 339/346 aus Art. 2 II 1 GG einen Anspruch auf Sicherung des Existenzminimums ab. Zu weiteren Ausnahmen Murswiek, aaO, Rdnrn. 98ff. 141 BVerfGE 33, 303/333. 137

108

Zweiter Teil: Grundrechtsbezogene Analyse der Rechtsprechung

trächtigen würde. 142 Hier zeigt sich, daß originäre Leistungsrechte immer vage bleiben müßten; sie sind anders als Abwehrrechte, die von einer vorgegebenen individuellen Freiheitssphäre ausgehen, "nicht unmittelbar vollziehbar, bedürfen vielmehr der Konkretisierung und Aktualisierung durch den Gesetzgeber. Erst die gesetzliche Regelung begründet vollzugsfähige, subjektive öffentliche Rechte, die nur im Rahmen des jeweils Möglichen und Angemessenen [...] gewährt werden können." 143 Dieser Grundgedanke führt auch regelmäßig Regie, wenn es um das leistungsrechtlich ausgerichtete Förderungsgebot in Art. 6 I GG geht. 144 Das Bundesverfassungsgericht betont immer wieder, daß aus Art. 6 I GG keine konkreten Ansprüche auf bestimmte staatliche Leistungen erwachsen. 145 So geht es auch im Waisenrentenbeschluß nicht um eine originär-leistungsrechtliche Frage, sondern um die Teilhabe Verheirateter an einem bereits bestehenden sozialen Sicherungssystem. bb) Art. 61 GG als (derivatives)

Teilhaberecht

Das eigentliche Interesse gilt daher der Frage der Beteiligung an bereits bestehenden staatlichen Leistungsystemen, bei denen im allgemeinen eine Anknüpfung an eine diese Leistung gewährende Norm oder zumindest an ein tatsächliches staatliches Verhalten (ζ. B. Subventionsvergabe) möglich ist. Vor allem Art. 3 I GG hat dabei in der Rechtsprechung eine besondere Bedeutung erlangt und in einigen Fällen - zum Teil in Verbindung mit einem Freiheitsrecht - auch einen Anspruch auf Gleichbehandlung bzw. Miteinbeziehung in ein staatliches Leistungssystem begründet. Grundlegend ist hier das Numerusclausus-Urteil des Bundesverfassungsgerichts, in dem sich grundsätzliche Bemerkungen zur Verpflichtung des Staates, die Grundrechtsausübung zu gewährleisten, befinden. 146 Im hiesigen Zusammenhang interessiert vor allem der vom Bundesverfassungsgericht verwendete grundrechtliche Maßstab: Aus dem Gleichheits-

142

Hesse, Verfassungsrecht, Rdnr. 289; Stern III/l, S. 716ff; Jarass AöR 110 (1985), 363/389; Dreier Jura 1994, 505/508. 143 Martens VVDStRL 30 (1972), 7/30f. 144 Dazu oben Β. 1.3. 145 BVerfGE 39, 316/326; BVerfGE 82, 60/81: 87, l/35f. 146 BVerfGE 33. 303/330ff.

D. Gruppenbildung nach grundrechtlichem Maßstab

109

satz in Verbindung mit Art. 12 I GG und dem Sozialstaatsprinzip 147 könnten sich, wenn der Staat gewisse Ausbildungseinrichtungen geschaffen habe, Ansprüche auf Zutritt zu diesen Einrichtungen ergeben. 148 Allein Art. 12 I GG kann das vom Gericht postulierte Teilhaberecht also nicht gewährleisten. Erst durch das Hinzutreten von Art. 3 I GG wird eine Transformation auf die Gleichheitsebene möglich; der allgemeine Gleichheitssatz bildet damit den Rahmen für den personellen Vergleich, den das Bundesverfassungsgericht unter Beachtung der besonderen Bedeutung von Zulassungsbeschränkungen im Ausbildungswesen für die Berufsfreiheit vornimmt. Spätere Entscheidungen bestätigen dies; so ergab sich die Verfassungswidrigkeit von § 20 III HmbPrivSchuIG, wonach die staatlichen Finanzhilfen für Träger von Bekenntnis- oder Weltanschauungsschulen erheblich höher sein sollten als für andere Privatschulträger, erst aus der Verbindung von Art. 7 IV mit Art. 3 I GG. 1 4 9 Auch hier enthält also erst der allgemeine Gleichheitssatz die Verteilungsdirektive für den Staat zur Gewährleistung der Freiheit des Art. 7 IV GG: Für die unterschiedliche Förderung von verschiedenen Ersatzschulen muß immer ein sachlicher Grund bestehen, wobei wiederum durch die in Art. 7 IV GG enthaltene Wertentscheidung mitbestimmt wird, was ein solcher Differenzierungsgrund ist. Beide Entscheidungen zeichnen sich also dadurch aus, daß nicht allein aus dem Freiheitsrecht, sondern erst aus der Verbindung mit dem allgemeinen Gleichheitssatz ein Vergleich beider Grundrechtsträger und damit ein Anspruch auf gleichberechtigte Teilhabe an staatlichen Leistungen möglich wird. Der in beiden Fällen zentrale Gedanke hat auch bei der Waisenrentenentscheidung und damit im Rahmen des Art. 6 I GG Regie geführt: Wenn schon die Möglichkeit staatlicher Leistungen begrenzt ist, so soll doch wenigstens eine gerechte Aufteilung unter allen Interessenten bzw. Bedürftigen erfolgen. Auch hier entspringt der Anspruch auf Teilhabe an der staatlichen Leistung also dem Vergleich mit einem anderen Sachverhalt. Mit der Waisenrentenentscheidung sind die materiellen Voraussetzungen geschaffen worden, um die Freiheit des Art. 6 I GG auch wahrzunehmen, denn eine Freiheit, an deren Ausübung unverhältnismäßige materielle Nachteile geknüpft werden, ist ein schwaches Recht. Der fundamentale Unterschied zu den vorhergehenden Entscheidungen

147

Die Bedeutung des Sozialstaatsprinzips für die Anspruchsbegründung bleibt unklar: in späteren Entscheidungen zur Teilhabeproblematik wird es in der Regel auch nicht mehr erwähnt; vgl. Rohloff, 148

149

S. 137.

BVerfGE 33, 303/331. BVerfGE 75, 40/71. Umfassende Übersicht bei Rohloff S. 125ff, 170ff, 182ff. 192ff. 205IÏ.

110

Zweiter Teil: Grundrechtsbezogene Analyse der Rechtsprechung

liegt aber darin, daß es hier für die Teilhabemöglichkeit nicht mehr der zusätzlichen Heranziehung von Art. 3 I GG bedurfte. Art. 6 I GG allein bildet die Grundlage für den Vergleich mit anderen Normadressaten. Damit ist der Schritt über das reine Abwehrrecht hinaus zum Gleichheitsrecht vollzogen worden und Gleichheit bedeutet auch gleiche Teilhabe. Teilhaberechte sind Gleichheitsrechte; die Anwendung von Art. 6 I GG als Gleichheitsrecht bedeutet damit gleichzeitig auch die Anerkennung als komplementär zum klassischen Abwehrrecht hinzutretendes Teilhaberecht. Nichts anderes meint das Bundesverfassungsgericht in einem Beschluß aus dem Jahre 1964, in dem es heißt, daß sich die Wertentscheidung des Art. 6 I GG, "soweit sie eine Konkretisierung des Gleichheitssatzes enthält, im Rahmen einer freiwilligen Förderungsmaßnahme dahin aus[wirkt], daß Verheiratete nicht allein deshalb, weil sie verheiratet sind, weniger erhalten dürfen als Ledige." 150 c) Rechtsfolgen des Grundrechtsverstoßes Soweit Art. 6 I GG als besonderes Gleichheitsrecht in der Rechtsprechung zur Anwendung kommt, zeigen sich schließlich auch bei den Rechtsfolgen eines festgestellten Grundrechtsverstoßes die einem Gleichheitsrecht immanenten Besonderheiten. Während ein rechtswidriger Eingriff in ein Freiheitsrecht in der Regel nur durch ein Unterlassen der staatlichen Beeinträchtigung abgestellt werden kann, sind bei einer nicht zu rechtfertigenden Ungleichbehandlung zweier Sachverhalte zumindest zwei - meistens durch mögliche Kompromisse noch mehr Korrekturmöglichkeiten eröffnet: Die bisher benachteiligte bzw. belastete Gruppe kann genauso wie die Vergleichsgruppe behandelt werden oder die Befreiung von den Belastungen bzw. die gewährten Vorteile für die Vergleichsgruppe können entfallen; schließlich ist auch ein Mittelweg möglich, der dem Gleichheitssatz entspricht. 151 Unter Hinweis auf die gerade bei Begünstigungen bestehende Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers stellt das Bundesverfassungsgericht daher meist fest, daß es die verletzte Gleichheit selbst nicht wiederherstellen kann. 152 Diese Zurückhaltung bleibt auch bestehen, wenn es wie bei den Heiratsklauseln - um Begünstigungsausschlußregeln geht. 153 Sie wurden daher auch nicht für nichtig, sondern nur für verfassungswidrig erklärt, 150 151 152 153

BVerfGE 17,210/217. Pieroth/Schlink, Rdnrn. 529f. BVerfGE 22, 349/361 f; zu den Ausnahmen Pieroth/Schlink, Vgl. Pieroth/Schlink, Rdnr. 539.

Rdnrn. 535f.

D. Gruppenbildung nach grundrechtlichem Maßstab

111

so daß dem Gesetzgeber mehrere, vom Gericht auch benannte Möglichkeiten bis hin zur grundlegenden Neuordnung der Berufsausbildungsförderung offenblieben, die Verfassungswidrigkeit zu beseitigen.154

3. Zur Grundrechtsfunktion

von Art. 61 GG

a) Art. 6 I GG als objektive Wertentscheidung Bereits die erste den Gegenstand dieser Untersuchung betreffende Entscheidung hat die drei Grundrechtsfunktionen des Art. 6 I GG als Abwehrrecht, Institutsgarantie und wertentscheidende Grundsatznorm herausgearbeitet. 155 Allerdings erweckt das Gericht in dieser Entscheidung den Eindruck, daß diese allein aus Art. 6 I GG als wertentscheidender Grundsatznorm abzuleiten sind, die Wertentscheidungskomponente also quasi als Oberbegriff fungiert. 156 Erst später wird erkennbar, daß es sich um drei selbständige, wenn auch ineinander übergehende Funktionen handeln soll. 157 In dieser ersten Entscheidung zitiert das Gericht Thoma, um die anzuwendende Grundrechtsfunktion zu ermitteln: Danach ist derjenigen Auslegung der Verfassungsnorm der Vorzug zu geben, "die die juristische Wirkungskraft der betreffenden Norm am stärksten entfaltet." 158 Dies ist nach Ansicht des Gerichts Art. 6 I GG in seiner Eigenschaft als verbindliche Wertentscheidung für den gesamten Bereich des Ehe und Familie betreffenden privaten und öffentlichen Rechts.159 Eine nähere Begründung fehlt freilich. Auch wird nicht klargestellt, was diese Grundrechtsfunktion von der klassischen Abwehrkomponente und der Institutsgarantie unterscheidet. Vor allem geht es dem Gericht darum, den nicht nur programmatischen Charakter von Art. 6 I GG herauszustellen und ihn in Abkehr von Art. 119 1 WRV als aktuell geltendes Verfassungsrecht wirken zu lassen. Ansatzpunkt der Prüfung und Begründung von Art. 6 I GG als aktuell bindendes Recht ist der dort verwendete Begriff "schützen", der die Förderung des Schutzgutes, die Abwehr von Störungen oder Schädigungen und vor allem den Verzicht des Staates auf eigene störende Eingriffe verlange. Aus Art. 6 I GG 154

BVerfGE 28, 324/361 ff. BVerfGE 6, 55/7If; Einzelheiten oben Β. I. 156 Dieser Eindruck entsteht durch die Gliederung auf S. 71 (Punkt 2), wo das Gericht feststellt, Art. 6 I GG sei eine wertentscheidende Grundsatznorm und dann unter diesem Gliederungspunkt seine verschiedenen Funktionen erörtert. 157 Ganz deutlich in BVerfGE 76, 1/41 (dort als ständige Rechtsprechung bezeichnet). 158 BVerfGE 6, 55/72; vgl. Thoma, S. 9. 159 BVerfG, aaO, S. 72. 155

112

Zweiter Teil: Grundrechtsbezogene Analyse der Rechtsprechung

erwachse "positiv die Aufgabe für den Staat, Ehe und Familie nicht nur vor Beeinträchtigungen durch andere Kräfte zu bewahren, sondern auch durch geeignete Maßnahmen zu fördern, negativ das Verbot für den Staat selbst, die Ehe zu schädigen oder sonstwie zu beeinträchtigen." 160 Diese Passagen wiederholt das Gericht in späteren Entscheidungen regelmäßig und betont, daß alle diese Postulate - also auch die Abwehr von Störungen und der Verzicht des Staates auf störende Eingriffe - aus Art. 6 I GG als objektiver Wertentscheidung folgen sollen. Diese Grundrechtsfunktion wurde so zum allgemeinen Entscheidungsmaßstab und beherrscht bis heute die Rechtsprechung zur Diskriminierung von Ehe und Familie. Interessanterweise gilt dies auch unabhängig vom im konkreten Fall anzuwendenden grundrechtlichen Maßstab: Kommt Art. 6 I GG allein nicht in Betracht, wird er auch im Rahmen des Art. 3 I GG wieder als objektive Wertentscheidung herangezogen. b) Grundrechte als objektive Wertentscheidungen aa) Begründung

und Entwicklung

nicht-subjektiver

Grundrechtsgehalte

Die Entwicklung nicht subjektiv-rechtlicher Grundrechtsgehalte ist maßgeblich vom Bundesverfassungsgericht vorangetrieben worden; ihre Wurzeln liegen allerdings noch in vorkonstitutioneller Zeit. (1) Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts Die Entscheidung zur Ehegattenbesteuerung ist die erste, in der das Bundesverfassungsgericht im Zusammenhang mit einem Grundrecht von objektiver Wertentscheidung spricht. 161 Es ist dies der Beginn einer Rechtsprechung, mit der der Schutzgehalt der Grundrechte ausgebaut und über die Eingriffsabwehr hinaus erweitert werden sollte. 162 Die zunächst nur für Art. 6 I GG vorgenommene Qualifizierung des Grundrechts als objektive Wertentscheidung wurde verallgemeinert und auf die Grundrechte insgesamt ausgedehnt.163 Die Terminologie ist allerdings uneinheitlich geblieben: So spricht das Gericht von

160

BVerfG, aaO, S. 76. Der Begriff der "grundgesctzlichen Wertordnung" taucht allerdings in anderem Zusammenhang - vor allem in den Parteiverbotsverfahren - bereits früher und in allgemeinerer Form auf: vgl. vor allem BVerfGE 2, 1/121; 5, 85/134IT. 197IT. 162 Grundlegend BVerfGE 7. I98/204f. 163 Das Gericht hat zumindest noch keinem Grundrecht den Charakter einer Wertentscheidung abgesprochen: Jarass AöR 1 10 (1985). 363/371 f. 161

D. Gruppenbildung nach grundrechtlichem Maßstab

113

"obersten Grundwerten des Grundgesetzes" 164, von "verfassungsrechtlichen Wertentscheidungen" 165 oder von "Grundentscheidungen des Grundgesetzes"166. Auch tauchen Begriffe auf wie "Werteordnung" 167 bzw. "Wertsystem" 168 des Grundgesetzes. In jüngeren Entscheidungen wird der Wertgedanke zunehmend zurückgedrängt und meist davon gesprochen, daß "das Grundgesetz in seinem Grundrechtsabschnitt [...] Elemente objektiver Ordnung aufgerichtet" habe, "die als verfassungsrechtliche Grundentscheidung für alle Bereiche des Rechts Geltung" hätten.169 Im Zusammenhang mit Art. 6 I GG wird allerdings bis in jüngere Zeit der Terminus "objektive Wertentscheidung" beibehalten;170 möglicherweise deutet sich aber auch hier ein neuer Sprachgebrauch an. 171 Die uneinheitliche Terminologie bedeutet freilich keine Vielfalt in der Sache:172 Gemeint ist jeweils die "Verallgemeinerung des Grundrechts über die Rechtsfolge des Abwehranspruchs hinaus" 173 mit dem Ziel eines umfassenderen Grundrechtsschutzes. 174 (2) Anknüpfung der Rechtsprechung an Überlegungen vor 1949 Im Gefolge dieser Rechtsprechung ist zu Recht oft von einem "Wandel des Grundrechtsverständnisses" 175 gesprochen worden. In der Tat hat das Bundesverfassungsgericht hier eine Vorreiterrolle gespielt, wenn auch die Diskussion über die Rechtsgehalte der Grundrechtsbestimmungen, über ihre "juristische Geltungs- und Wirkungskraft" 176 und über ihren Charakter als subjektive Rechte oder objektives Recht viel älter ist. 177 Neu ist aber die Fragestellung: Es wird nicht mehr über die unmittelbare Bindungswirkung der Grundrechte und 164

BVerfGE 2, 1/12. BVerfGE 8. 210/217. 166 BVerfGE 30, 1/20. 167 BVerfGE 19, 226/236; 27. 253/283. 168 BVerfGE 30. 173/193. 169 BVerfGE 73.261/269. 170 BVerfGE 62. 323/329; 68. 143/152; 80. 81/93. 171 BVerfGE 82, 60/86 und 87 spricht von "Grundsatzentscheidung" und "grundlegender Entscheidung". 172 Insbesondere in der Literatur wird häufig nicht mehr zwischen Wertentscheidungen und objektiven Gehalten unterschieden: Pieroth/Schlink. Rdnr. 82: Erichsen/Krebs VerwArch 68 (1977). 371/375; Jarass AöR 110 (1985), 363/365. 173 Jarass AöR 110 (1985), 363/368: ebenso: Bleckmann. S. 256: Hesse in: Handbuch des Verfassungsrechts, $ 5 Rdnrn. 17ff; Böckenförde. Der Staat 29 (1990). 1/13f: Grabitz. Freiheit und Verfassungsrecht, S. 208. 174 Zu den einzelnen Inhalten unten bb). I7> So ζ. B. der Titel von Friesenhahn. G I. 165

176

177

Thoma. S. 3.

Eingehende Darstellung bei Stern III/1. S Ι00ΙΪ. 890ff.

X Κ intricai

114

Zweiter Teil: Grundrechtsbezogene Analyse der Rechtsprechung

über die Deduktion subjektiver Rechte aus den Grundrechten diskutiert, sondern auf der Basis der Anerkennung der Grundrechte als Abwehrrechte gegen staatliche Ingerenzen gefragt, ob die Grundrechte noch zusätzliche Rechtsgehalte enthalten. Ein Meilenstein für das Verständnis der Grundrechte als oberste normative Prinzipien der Rechtsordnung und damit für die Qualifikation der Grundrechte als objektive Wertentscheidungen war die Integrationslehre von Smend,178 für den sich die Existenz des Staates durch die Verwirklichung gemeinsamer Zwecke seiner Bürger rechtfertigt, durch die "staatliche Integration". Zur Durchsetzung dieser ideellen Sinngehalte bedürfe es einer Gemeinschaft, die diese Ideen festige, fördere und gleichzeitig durch diese lebe. Dies sind für Smend "Werte", die "ein reales Leben nur vermöge der sie erlebenden und verwirklichenden Gemeinschaft" führen können. Nach Smend herrscht der Staat nur auf der Grundlage dieser Wertfülle. Nur sie könne den einzelnen integrieren. Das bedeutet aber gleichzeitig, daß sich ein Wert als solcher überhaupt erst mit der Anerkennung durch das Subjekt konstituieren und allgemeinverbindliche, objektive Geltung erst durch die Akzeptanz der Gemeinschaft der Subjekte gewinnen kann. 179 In diesem Vorgang haben die Grundrechte eine hervorragende Bedeutung; sie normierten ein "Wert- oder Güter-, ein Kultursystem." 180 Die Meinung von Smend ist in der zu Ende gehenden Weimarer Republik und unter dem zunehmenden Einfluß grundrechtszerstörender Kräfte eine Mindermeinung geblieben. Der Zeitpunkt ihrer Wiederentdeckung in den 50er Jahren ist deshalb auch kein Zufall, sollte doch das Grundgesetz auch die Antwort auf das nationalsozialistische Unrechtssystem und das Scheitern der Weimarer Republik sein, mit der sich die Vorstellung einer bloß formalen staatlichen Ordnung verband, die je nach politischer Stimmungslage jedem

178

Smend, Verfassung und Verfassungsrecht, S. 45ff. Eingehend zur Integrationslehre von Smend (insbcs. aus bundesstaatlicher Perspektive) Korioth, bes. S. 97ff. - Für das Verständnis der Doppelfunktion der Grundrechte sehr interessant - wenn auch nicht ohne Kritik geblieben (vgl. Alexy, S. 243 ff) - ist auch die Status-Lehre von Jellinek, S. 83ff, 158ff und öfter. Gerade seine Unterscheidung zwischen dem status negativus und dem status positivus als zwei verschiedene Beziehungen des Individuums zum Staat hat gezeigt, daß Freiheitsgeföhrdungen auch durch nichtstaatliche Eingriffe entstehen können. Schutz gegen diese Beeinträchtigungen läßt sich nicht mehr durch den subjektiv-rechtlichen Unterlassungsanspruch (status negativus) gewährleisten, sondern nur durch die Möglichkeit, auch positives staatliches Handeln (status positivus) einfordern zu können. 179 Denninger JZ 1975, 545/546. 180

Smend, S. 163.

D. Gruppenbildung nach grundrechtlichem Maßstab

115

Wandel zugänglich war. 181 Von dieser Wertfreiheit wollte und w i l l sich das Grundgesetz durch die Qualifikation bestimmter oberster Verfassungsprinzipien als Werte abwenden. Insofern ist bemerkenswert, daß die Wertsetzung eine konservative Tendenz hat, will sie doch bestimmte normative Grundsätze der Verfassung gegen Veränderungen resistenter machen. Dieser bewahrende Charakter ist auch für die verfassungsrechtliche Stellung der nichtehelichen Lebensgemeinschaft von Interesse, tritt sie doch als - nicht ausdrücklich im GG genannte und schon gar nicht als Wert anerkannte - alternative Form des Zusammenlebens in eine Gegenposition zum Verfassungswert Ehe. bb) Wirkungen der Grundrechte

als objektive

Grundsatznormen

Die Rechtsprechung hat aus der Erweiterung der Grundrechtsfunktionen vor allem drei Folgerungen gezogen, die zusätzliche Wirkungen der Grundrechte neben ihrem Abwehrgehalt umschreiben: 182 Schon frühzeitig hat das Bundesverfassungsgericht

die Ausstrahlungs-

wirkung der Grundrechte auf die übrige Rechtsordnung betont und sie auch dort für anwendbar erklärt, wo sie in ihrer klassischen Funktion nicht hilfreich seien. Dies gilt namentlich für ihre Beeinflussung der materiellen Rechtsbeziehungen Privater (sog. Drittwirkung), 183 auf die die Grundrechte zwar wegen ihres allein gegen den Staat gerichteten Abwehranspruchs nicht unmittelbar anwendbar sind, die sie nach ständiger Rechtsprechung dennoch mittelbar prägen: Der Rechtsgehalt der Grundrechte wirkt "über das Medium der das einzelne Rechtsgebiet unmittelbar beherrschenden Vorschriften, insbesondere der Generalklauseln und sonstigen auslegungsfähigen füllungsbedürftigen Begriffe [...] auf dieses Rechtsgebiet ein."

und aus-

184

Eine weitere Konsequenz aus der Anerkennung der Grundrechte als objektive Wertentscheidungen ist ihre Wirkung als staatliche Schutzpflicht.

185

Man

kann sie sogar als zentralen Begriff der objektiv-rechtlichen Grundrechts-

181

Dreier, S. 22; Geiger BayVBl 1974, 297/297. Zur dieser Unterteilung Pieroth/Schlink, Rdnr. 82; Jarass in: Jarass/Pieroth, Vorbem. vor Art. 1 Rdnrn. 5ff; Stern II1/1, S. 922; ders. in : Handbuch des Staatsrechts Bd. V, § 109 Rdnr. 57; Hesse in: Handbuch des Verfassungsrechts, § 5 Rdnrn. 17ff; Dreier, S. 4Iff; andere Systematisierung ζ. B. bei Bleckmann, S. 197ff. 183 Pieroth/Schlink, Rdnrn. 90, 186ff. 184 BVerfGE 73, 261/269; grundlegend bereits BVerfGE 7, 198/205ff. 185 Vgl. nur aus jüngster Zeit Isensee in: Handbuch des Staatsrechts Bd V, § I I I ; ders., Das Grundrecht auf Sicherheit; Dietlein, Die Lehre von den grundrechtlichen Schutzptlichten; Hermes (Lit.); Robbers, Sicherheit, bes. S. 121 ff; Klein NJW 1989, 1633ff; Klein DVB1 1994, 489ff. 182

8*

116

Zweiter Teil: Grundrechtsbezogene Analyse der Rechtsprechung

gehalte ansehen,186 denn hier wird besonders deutlich, daß die Grundrechte nicht allein staatliches Unterlassen verlangen: Schutz ist eine Leistung des Staates im weitesten Sinne und setzt aktives Tätigwerden voraus. 187 Er soll gewährt werden gegen solche Verletzungen und Gefährdungen, die nicht vom unmittelbaren Adressaten der Grundrechte, also der staatlichen Gewalt, sondern von anderen Quellen - vor allem Privaten, aber auch anderen Staaten oder Naturkatastrophen - ausgehen.188 Die Staatsgewalt wird hier durch die Grundrechte nicht eingeschränkt; sie wird vielmehr gefordert und die Grundrechte selbst sind die Grundlage dieser Forderung. Das Hauptproblem ist dabei nicht unbedingt die Frage, ob eine Schutzpflicht besteht, sondern wie diese zu erfüllen ist. Meist betont das Gericht hier die diesbezügliche gesetzgeberische Prärogative; 189 in Ausnahmefällen verpflichtet es den Gesetzgeber aber zu ganz konkreten Maßnahmen, die bis zum Erlaß von Strafvorschriften gehen. 190 Schließlich folgert das Bundesverfassungsgericht aus den in den Grundrechten enthaltenen Wertentscheidungen die Verpflichtung des Staates, Teilhabe an staatlichen

Einrichtungen

und

Verfahren

zu ermöglichen. 1 9 1

Die

Grundrechte setzten "Maßstäbe für eine den Grundrechtsschutz effektuierende Organisations- und Verfahrensgestaltung sowie für eine grundrechtsfreundliche Anwendung vorhandener Verfahrensvorschriften." 192 cc) Gemeinsamkeiten

der objektiv-rechtlichen

Grundrechtsgehalte

Die genannten Folgerungen aus den objektiv-rechtlichen Grundrechtsgehalten sind nicht als dogmatisch voneinander zu trennende Gruppen zu verstehen;193 sie erklären die Wirkungen dieser über die Abwehrkomponente hinausgehenden Grundrechtsdimension nur unter unterschiedlichem Blickwinkel 186

Dreier, S. 48: Grimm, S. 22Iff; Robbers, Sicherheit, S. 121; Canaris AcP 184 (1984),

201/225ff; Hager JZ 1994, 373/378PT. 187

188

Alexy, S. 420f.; Robbers. aaO, S. 125.

Hesse, Verfassungsrecht, Rdnr. 350; Robbers. aaO. S. 124ff; Klein NJW 1989, 1633/1633. BVerfGE 46. 160/164; 56, 54/80ff. 190 BVerfGE 39, 1/55; anderer Ansicht ist das Sondervotum (BVerfGE 39, 1/68, 73ff), das aber nur die Verpflichtung zur Bestrafung, also den Umfang der Schutzpflicht, nicht aber die Schutzpflicht als solche in Frage stellt. Zurückhaltender jetzt auch BVerfGE 88, 203/273ff, 292f; auch hier stellt allerdings das Sondervotum den von der Senatsmehrheit angenommenen Umfang der Schutzpflicht in Frage. 191 BVerfGE 35, 79/116; 69. 315/355 und aus der Literatur Goerlich, Grundrechte als Verfahrensgarantien; Wahl VVDStRL 41 (1982), 151/1661T und Pietzcker ebd. S. 193/207ff; 189

Heilige NJW 1982. Iff; Dreier. S. 43f. 192 193

BVerfGE 69. 315/355. Jeand'Heur JZ 1995. 161/1621T.

D. Gruppenbildung nach grundrechtlichem Maßstab

117

und zum Teil beschränkt auf bestimmte Freiheitsbereiche. Dies zeigen auch die Gemeinsamkeiten, die Folge ihrer einheitlichen, vom Bundesverfassungsgericht maßgeblich geprägten Grundlage sind: Werden Grundrechte in ihrer objektiven Funktion aktiviert, bewirken sie einen den subjektiven Abwehrgehalt flankierenden Freiheitsschutz. Sie treten nicht an die Stelle der subjektiven Funktion, sondern ergänzen sie, wenn allein der Anspruch auf Eingriffsabwehr den Grundrechtsträger nicht zu schützen vermag, eine Verweigerung des grundrechtlichen Schutzes aber inakzeptabel wäre. 194 Gemeinsam ist den objektiv-rechtlichen Grundrechtswirkungen auch die Schwierigkeit, aus ihnen subjektive Rechte zu ziehen. Das hängt mit der soeben genannten Rolle des Staates zusammen, der nicht als Widersacher der Grundrechte in Erscheinung tritt, sondern als deren Garant gefordert ist. 195 Er ist gehalten, seine aus der objektiv-rechtlichen Grundrechtsdimension deduzierte Verpflichtung mit den ihm von der Verfassung zur Verfügung gestellten Mitteln, vor allem mit Gesetzen, nachzukommen, besitzt dabei im allgemeinen aber mehr als nur eine Handlungsoption. Eine Entscheidung kann allerdings im Staat der Gewaltenteilung regelmäßig nicht die Rechtsprechung, sondern allein der demokratisch legitimierte Gesetzgeber treffen. 196 Dies wirkt sich wiederum unmittelbar auf die subjektive Rechtsstellung der Grundrechtsinhaber aus. Zwar hat sich die Rechtsprechung nach einigem Zögern entschlossen, daß aus den objektiv-rechtlichen Gehalten auch subjektive Rechte folgen 197 und damit die Möglichkeit eröffnet, daß die Mißachtung dieser Gehalte auch per Verfassungsbeschwerde gerügt werden kann. Eine Pflicht zur Vornahme einer bestimmten Maßnahme spricht es aber nur in Ausnahmefällen aus; 198 regelmäßig wird der Beschwerdeführer auf die Entscheidungsprärogative der zuständigen Staatsorgane, meist der Legislative, verwiesen. 199 Bisweilen betont das Gericht auch ganz allgemein - bezogen auf die Ausstrahlungswirkung der Grundrechte - den gegenüber der klassischen Abwehrfunktion reduzierten Schutz. 200 Die objektive Seite der Grundrechte bewirkt also nur eine Art 194

Jarass AöR 110 ( 1985). 363/365: Jeand' Heur JZ 1995. 161/167. Isensee in: I landbuch des Staatsrechts Bd. V. § I I I Rdnrn. 4 f. 196 Vgl. z. B. Alexy, S. 407; Stern III/l. S. 989f; Hesse in: Festschrift Mahrenholz. S. 545f, 553ff; Klein DVB1 1994, 489/497; deutliche Herausstellung dieses Gesichtspunktes vor allem in den Sondervoten BVerfGE 35, 79/148, 153ff; 39. 1/68. 7If Diese Aussagen können aber als Allgemeingut der Rechtsprechung angesehen werden, vgl. BVerfGE 49. 89/142; 56, 54/78. 197 Eindeutig bejaht in BVerfGE 76. 1/491; 77, 170/2141; 79. 174/201 f.; vgl. auch Alexy, S. 432IT; Böckenförde, Der Staat 29 (1990), I/14IÏ. 198 BVerlGl: 39. 1/551T. 199 BVerfGE 56. 54/70Γ. 200 BVerfGE 66. 116/135. 195

118

Zweiter Teil: Grundrechtsbezogene Analyse der Rechtsprechung

"Wesentlichkeitsschutz."201 Objektive Grundrechtsgehalte sind damit notwendigerweise wesentlich unpräziser als der subjektive Abwehranspruch, der bei jedem ungerechtfertigten Grundrechtseingriff hilfreich ist. 202 c) Einordnung von Art. 6 I GG in das System objektiver Grundrechtsgehalte Nach diesem Überblick über die Bedeutung der Grundrechte als objektive Wertentscheidungen soll nun versucht werden, die Wirkung von Art. 6 I GG vor diesem Hintergrund näher zu beleuchten. Dieser Versuch wird näheren Aufschluß darüber geben, warum das Bundesverfassungsgericht Art. 6 I GG als objektive Wertentscheidung verwendet und was dieses Grundrecht in dieser Funktion nach Ansicht des Gerichts von der Abwehrkomponente des Grundrechts unterscheidet. Es wird sich zeigen, daß hier zum Teil nur schwer zu beantwortende Fragen auftreten, zu denen das Gericht selbst nie ausdrücklich Stellung genommen hat, die aber für die Klärung des Verhältnisses von Art. 3 I zu Art. 6 I GG von außerordentlicher Bedeutung sind. Zu diesem Zweck soll vom besonderen Charakter objektiver Grundrechtsgehalte ausgegangen werden: Ihre Gemeinsamkeit ist zum einen die Tatsache, daß sie regelmäßig dann aktiviert werden, wenn das Bundesverfassungsgericht die Abwehrfunktion allein nicht für hilfreich, den Grundrechtsschutz aber für unerläßlich hält. Zum anderen ist ihnen die Schwierigkeit gemein, subjektive Rechte hervorzubringen; sie gewähren nur einen reduzierten Schutz und sind weniger präzise als in ihrer klassischen, staatliche Eingriffe abwehrenden Funktion. aa) Mögliche

Gründe für die Objektivierung

Fraglich ist also zunächst, weshalb das Bundesverfassungsgericht durchgehend die subjektive Seite von Art. 6 I GG als Beurteilungsmaßstab fur die Diskriminierungsfälle für nicht sachdienlich hält und deshalb auf dessen objektiven Gehalt zurückgreift.

201

Jarass AöR 110 (1985), 363/395. Zu der damit zusammenhängenden Ausdifferenzierung der Rechtsfolgen eines Verfassungsverstoßes durch das Bundesverfassungsgericht Battis in: Handbuch des Staatsrechts Bd. VII, § 165 Rdnrn. 43ff. 202

D. Gruppenbildung nach grundrechtlichem Maßstab

119

(1) Der "besondere Schutz der staatlichen Ordnung" Erste Anhaltspunkte könnten hier der in Art. 6 I GG statuierte "besondere Schutz der staatlichen Ordnung" und der vom Bundesverfassungsgericht bereits in seiner ersten einschlägigen Entscheidung verwendete Begriff "schützen" sein. In der Tat spricht das Gericht bereits in dieser Entscheidung den Gedanken einer staatlichen Schutzpflicht für das grundrechtliche Rechtsgut an, indem es davon spricht, daß "der in Art. 6 I GG statuierte besondere Schutz der staatlichen Ordnung für Ehe und Familie" auch die Pflicht des Staates umfasse, diese vor "Beeinträchtigungen durch andere Kräfte zu bewahren." 203 Daneben wird die positive Förderungspflicht zugunsten von Ehe und Familie, aber auch das Verbot schädigender staatlicher Eingriffe gestellt. 204 Diese regelmäßig wiederholten Passagen205 zeigen, daß das Gericht zwischen staatlichen und nichtstaatlichen Störungen von Ehe und Familie unterscheidet und den Staat neben dem Eingriffsverbot zur Bewahrung dieser Rechtsgüter vor nichtstaatlichen "anderen Kräften" aufruft, die selbst nicht Grundrechtsverpflichtete sind. Letzteres ist nichts anderes als die bereits erwähnte Idee der staatlichen Schutzpflicht, die den Staat zum Garanten der Grundrechts Verwirklichung macht und von ihm ein positives Handeln zugunsten der Grundrechtsgüter Ehe und Familie fordert. Es ist daher grundsätzlich nicht falsch, Art. 6 I GG zumindest in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts auch als staatliche Schutzpflicht anzusehen.206 Allerdings ist auch die gegenteilige Ansicht, die Art. 6 I GG nicht als Fall der Schutzpflicht ansieht,207 durchaus verständlich. Zwar fehlt eine Begründung für diese Auffassung; sie wird aber nachvollziehbar, wenn man die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zur Diskriminierungsproblematik und dies ist die Hauptthematik, in der Art. 6 I GG als objektive Wertentscheidung auftritt - betrachtet und feststellt, daß es nicht in einem einzigen Fall um die staatliche Pflicht geht, nichtstaatliche Angriffe auf Ehe und Familie abzuwehren. Bei der Schutzpflichtlehre geht es aber letztlich immer um die Bewältigung von Interessenkonflikten Privater. 208 Hier ist es hingegen regelmäßig der Staat, dem eine Schädigung dieser Rechtsgüter vorgeworfen wird:

203

BVerfGE 6, 55/76. BVerfG, aaO. 205 Vgl. ζ. B. BVerfGE 24, 104/109; 76, l/42f 49. 206 Stern III/l, S. 934f; Robbers, Sicherheit, S. 130f. 207 Isensee in: Handbuch des Staatsrechts Bd. V, $ 111 Rdnr. 136; Hesse, Verfassungsrecht, Rdnr. 350. 208 Preu JZ 1991, 265/267. 204

120

Zweiter Teil: Grundrechtsbezogne Analyse der Rechtsprechung

Als Gesetzgeber, der Ehe und Familie benachteiligende Steuergesetze erläßt, 209 als exekutive Gewalt, die bei der Rechtsauslegung die Wertentscheidung des Art. 6 I GG nicht beachtet,210 und schließlich die untergerichtliche Rechtsprechung, deren Urteile unter Mißachtung von Art. 6 I GG zustandegekommen sind. 211 Der Staat ist also in keinem Falle in der Rolle des Schutzgaranten gefordert, sondern er selbst wird als potentieller Widersacher und Schädiger in die Pflicht genommen. Die Staatsgewalt soll zurückgedrängt, nicht aber zu einem Handeln aufgefordert werden. Ordnet man diese Feststellung ein in die Forderungen, die das Gericht in seiner ersten Entscheidung aus Art. 6 I GG abgeleitet hat, so ergibt sich, daß hier der Terminus "das Verbot für den Staat selbst, die Ehe zu schädigen oder sonst zu beeinträchtigen" 212 einschlägig ist, nicht aber die Schutzverpflichtung vor "anderen Kräften". Aus Art. 6 I GG als objektiver Wertentscheidung wird daher zwar eine staatliche Schutzpflicht abgeleitet; diese kommt aber im Rahmen der Diskriminierungsproblematik nicht zum Zuge. Die Verwendung der objektiv-rechtlichen Komponente des Art. 6 I GG ist also in diesem Zusammenhang mit dem Schutzpflichtgedanken nicht zu erklären. (2) Die Ausstrahlungswirkung Auch der Gedanke der Ausstrahlungswirkung taucht in der einschlägigen Rechtsprechung mitunter auf. So ist bereits in der ersten Entscheidung mit Bezug auf Art. 6 I GG von einer "verbindlichen Wertentscheidung für den gesamten Bereich des Ehe und Familie betreffenden privaten und öffentlichen Rechts" die Rede.213 An anderer Stelle heißt es beispielsweise, daß die Gerichte "das einfache Recht nicht in einer Weise anwenden und auslegen [dürfen], die geeignet ist, den Bestand der Familie zu beeinträchtigen." 214 Dennoch kann dieser Gedanke den überwiegenden Teil der Rechtsprechung zu Art. 6 I GG nicht erklären. Die Frage der Ausstrahlungswirkung wird nämlich nur dort relevant, wo es um die Geltung der Grundrechte auch im Verhältnis zu einem Nicht-Grundrechtsverpflichteten geht. Das Gericht hat hier bekanntlicherweise entschieden, daß die Grundrechte privatrechtliche Konflikte mittelbar erfassen.

209

Beispiel BVerfG Ii 6, 55. So in BVcrlGli 69, 1X8, wo sich - wie auch in anderen Fällen - die Verfassungsbcschwerden dann gegen die die Rechtsauffassung des Finanzamtes bestätigenden Gerichtsurteile wandte. 211 Beispiel ΒVcriCii: 76, 126. 2,2 BVerfGI·; 6, 55/76. 211 BVcrfGl: 6. 55/72. : N BVerfGl· 28. 104/1 12. 210

D. Gruppenbildung nach grundrechtlichem Maßstab

121

Ein solches Dreiecksverhältnis liegt den meisten einschlägigen Judikaten aber nicht zugrunde; es geht fast ausnahmslos unmittelbar um den Konflikt zwischen dem Staat und dem Bürger, dessen Lösung grundsätzlich der Abwehrfunktion der Grundrechte vorbehalten ist. 215 Zwar läßt sich auch von einer Ausstrahlungswirkung der Grundrechte auf das öffentliche Recht (hier vor allem das Steuer- und Sozialrecht) und damit auf Subordinationsverhältnisse sprechen; deren Beachtung kann aber unmittelbar gegen den Staat durch Berufung auf den subjektiv-rechtlichen Grundrechtsschutz durchgesetzt werden. (3) Das Teilhaberecht Schließlich vermag auch der Teilhabeaspekt die Verwendung von Art. 6 I GG in seiner objektiven Form nicht umfassend zu erklären. Dies gilt zunächst für die Teilhabe an staatlichen Leistungen im engeren Sinne. Zwar zeigt der Waisenrentenbeschluß, daß Art. 6 I GG derartige Ansprüche auslösen kann. 216 Auch hat das Gericht immer wieder die aus Art. 6 I GG folgende Verpflichtung des Staates ausgesprochen, Ehe und Familie zu fördern. 217 Die Objektivierung im Falle der Belastungsabwehr (und dies sind die meisten Fälle) ist damit aber nicht begründet. Gewiß ist auch, daß die Ehe bestimmter staatlicher Verfahrensstrukturen (Leistungen im weiteren Sinne) bedarf, 218 die besonders Eheschließung und -auflösung betreffen. 219 Die eigentliche Diskriminierungsproblematik, bei der es meist nur um ein Unterlassen staatlicher Belastungen geht, ist aber ersichtlich keine Verfahrens- bzw. teilhaberechtliche. (4) Das Verbot relativer Schlechterstellung Eine problemlose Zuordnung zu den genannten Inhalten der objektiv-rechtlichen Grundrechtsfunktion ist also nicht möglich. Dieses Problem hat vor allem Jarass erkannt und deshalb eine weitere Konsequenz aus der objektivrechtlichen Bedeutung der Grundrechte gezogen: das Verbot relativer Schlechterstellung. 220 Diese Folgerung, die sich noch "im Bannkreis der Abwehrfunktion" bewege, entnimmt er im wesentlichen der Rechtsprechung zu Art. 6 I GG und dabei insbesondere der ersten Entscheidung zur getrennten

215 216 217 218 219 220

Ausnahmen sind ζ. B. BVerfGE 76, 126; 78, 128. BVerfGE 28, 324/3461T. Gleiches gilt für BVerfGE 17, 210/217. BVerfGE 6, 55/76; 55, 114/126; 75, 382/392. Goer lieh. Grundrechte als Verfahrensgarantien, S. lOOff. BVerfGE 31, 58/67IT; 36, 146/161 IT; 53, 224/250. Jarass AöR 110 (1985); 363/374ff; vgl. auch Rohloff S. 35f.

122

Zweiter Teil: Grundrechtsbezogene Analyse der Rechtsprechung

Veranlagung von Ehegatten zur Einkommensteuer. Den Grund für die Nichtanwendung der Abwehrkomponente erblickt er darin, daß zwar die steuerliche Belastung selbst sehr wohl mit Art. 6 I GG vereinbar gewesen sei, nicht aber die Benachteiligung gegenüber Unverheirateten, die kein klassischer Grundrechtseingriff sei. Insoweit habe das Argument der objektiven Wertentscheidung auch hier grundrechtsschutzerweiternden Charakter. Mit ähnlicher Tendenz weist F. Klein ebenfalls aus steuerrechtlicher Sicht darauf hin, daß aus Art. 6 I GG nur schwer eine absolute Grenze des Steuerzugriffs entnommen werden könne und daher die Frage der Gleichbehandlung der Steuerpflichtigen besonders bedeutsam sei. Dabei habe wiederum die Entscheidung des Grundgesetzes ftir den Schutz von Ehe und Familie erheblichen Einfluß. 221 Das Bundesverfassungsgericht schweigt hier; an etwas versteckter Stelle findet sich aber immerhin ein Hinweis: Bei der Analyse zweier Vorlagebeschlüsse führt es aus, diese sähen "die Verfassungswidrigkeit der Bestimmungen nicht in einer absoluten Gefährdung der Ehe, sondern in einer Benachteiligung von Ehegatten gegenüber Alleinstehenden, das heißt in einer Gleichheit vor dem Gesetz (Art. 3 Abs. 1 GG)." 222 Da das Gericht im folgenden allerdings Art. 6 I GG für spezieller hält, verdrängt dieser Art. 3 I GG bei der Prüfung, so daß erst bei näherem Hinsehen deutlich wird, daß hier ebenfalls eine Differenzierung zwischen absolutem Freiheitsschutz und dem Verbot relativer Schlechterstellung, das auf der Gleichheitsebene angesiedelt ist, gemacht wird. Ob dies aber die Objektivierung des Grundrechts rechtfertigt, kann hier noch nicht untersucht werden, weil vorher grundsätzlich geklärt werden muß, ob ein Grundrecht gleichzeitig spezifische Freiheits- und Gleichheitsaussagen enthalten kann. 223 Immerhin ist das Verbot der Schlechterstellung eine Konsequenz, die für alle Entscheidungen zur Diskriminierungsproblematik die einheitlich verwendete objektiv-rechtliche Funktion des Art. 6 I GG erklärt. Alle einschlägigen Entscheidungen haben die Gemeinsamkeit, daß sie behauptete Benachteiligungen einer Person oder einer Personengruppe gegenüber einer anderen untersuchen und entscheiden, ob festgestellte Schlechterstellungen vor dem Hintergrund von Art. 6 I GG erlaubt sind oder nicht. Das Gericht geht also in der Tat primär vergleichend vor. Hier zeigt sich, daß die Analyse von Art. 6 I GG als 221

222 223

Klein in: Festschrift Zeidler, S. 777f; vgl. auch Birk, S. 173f.

BVerfGE 12, 151/163. Dazu 3. Teil B., C.

D. Gruppenbildung nach grundrechtlichem Maßstab

123

besonderer Gleichheitssatz und die Überlegungen zu seiner objektiv-rechtlichen Funktion an einem gemeinsamen Punkt angelangt sind. Und in der Tat sind diese beiden Komplexe untrennbar miteinander verbunden. Durch seine Qualifikation als objektive Wertentscheidung wird Art. 6 I GG erst - über das Freiheitsrecht hinaus - auf die Gleichheitsebene verlagert; aus Art. 6 I GG als objektiver

Wertentscheidung

folgt

unmittelbar

seine

Qualifikation

als

be-

sonderer Gleichheitssatz! Während also - wie bei jedem Grundrecht des GG die Freiheitskomponente der subjektivrechtlichen Funktion von Art. 6 I GG entspringt, wird die Gleichheitsmaxime durch seinen objektivrechtlichen Wertentscheidungscharakter geformt und geprägt.

bb) Die besondere Schutzintensität Art.

des objektiv-rechtlich

verwendeten

6IGG

Auch im Hinblick auf die zweite wichtige Gemeinsamkeit der bislang außerhalb des Verbots der Schlechterstellung festgestellten Konsequenzen aus der objektiv-rechtlichen Funktion der Grundrechte ist die Einordnung von Art. 6 I GG als objektive Wertentscheidung schwierig. Die objektiv-rechtlichen Inhalte zeichnen sich nämlich dadurch aus, daß sie lediglich einen grundrechtlichen Minimalschutz gewähren und angesichts ihrer spezifischen Offenheit und Ausfiillungsbedürftigkeit unpräziser sind als die Grundrechte als Abwehrrechte. Sie bedürfen der Umsetzung durch den staatlichen Gesetzgeber, fordern also staatliches Handeln. Anders ist es im Bereich der Diskriminierungsentscheidungen. Durch die Verlagerung von Art. 6 I GG auf die Gleichheitsebene bestehen zwar auch hier - wie die Analyse des Waisenrentenbeschlusses gezeigt hat - mitunter mehrere Möglichkeiten, einen verfassungsmäßigen Zustand wiederherzustellen. Dennoch ist der Schutz von Art. 6 I GG nicht auf eine Art Wesentlichkeitsschutz reduziert, der nur evidente Verfassungsverletzungen erfaßt. Vielmehr stellt das Gericht oft detaillierte Überlegungen an und zeigt dem Gesetzgeber konkrete Lösungsmöglichkeiten zur Beseitigung eines verfassungswidrigen Zustandes auf. In den Fällen, in denen es nur um die Abwehr einer Belastung geht, besteht in der Regel sowieso nur eine mögliche Rechtsfolge des Verfassungsverstoßes, nämlich das Unterlassen. Funktionell-rechtlich bedeutet das eine intensivere Einflußnahme der Rechtsprechung auf die Gesetzgebung; materiell-rechtlich zeigt sich hier ein verstärkter Schutz, der zumindest dem des subjektiven Rechts aus Art. 3 I GG

124

Zweiter Teil: Grundrechtsbezogene Analyse der Rechtsprechung

entspricht. 224 Mit der Verengung der Prärogative der Legislative wird so das subjektive Recht aus der objektiv-rechtlichen Funktion präziser; es geht nicht mehr um das "Ob" der Verfassungsverletzung, sondern nur noch um das "Wie" ihrer Behebung. Hier zeigt sich ein weiteres Mal, daß sich Art. 6 I GG als objektive Wertentscheidung im Grenzbereich zwischen subjektiver und objektiver Grundrechtsfunktion befindet.

II. Der Prüfungsverbund Art. 3 I i. V. m. Art. 6 I GG

In vielen Entscheidungen prüft das Bundesverfassungsgericht die angegriffene staatliche Maßnahme zwar primär an Art. 3 I GG, betont aber, daß bei dieser Prüfung die Wertentscheidungen des Grundgesetzes zugunsten von Ehe und Familie mit zu berücksichtigen seien. Dieser Prüfungsverbund ist in der Grundsatzentscheidung entwickelt worden; die nachfolgenden Entscheidungen, die Art. 3 I i. V. m. Art. 6 I GG anwenden, bilden aber keine homogene Gruppe, sondern betreffen ganz unterschiedliche Bereiche. 1. Anwendungsbereich

Häufig hat das Bundesverfassungsgericht Fälle zu beurteilen, die den Vergleich von widerstreitenden Rechtspositionen betreffen, die beide von Art. 6 I GG geschützt werden. Dies gilt zum Beispiel für das Verhältnis zwischen verschiedenen Ehen, 225 zwischen beiden Ehegatten226 und zwischen Ehen einerseits und Familien andererseits bzw. Familien untereinander. 227 Widerstreitende Rechtspositionen liegen aber auch vor, wenn auf einer Seite der zu vergleichenden Gruppen eine sog. Halbfamilie (Mutter bzw. Vater mit Kind) steht. 228 Wegen der grundsätzlichen Gleichrangigkeit dieser Rechtspositionen soll Art. 6 I GG in diesen Fällen allein nicht in Betracht kommen, beeinflußt aber als objektive Wertentscheidung die Gleichheitsprüfung. 229 Allerdings 224 Nicht umsonst ist die Erfolgsquote im Falle der Berufung auf die objektiv-rechtliche Grundrechtsfunktion nur bei Art. 6 I GG beachtlich! 225 BVerfGE 9, 237/2421; 43, 108/118f; 45, 104/126; 47, 1/19; 66, 66/75; 66, 84/93; 87, 234/258ff. 226 BVerfGE 12, 151/165; 67, 348/368f; 80, 170/179. 227 BVerfGE 11, 64/69; 29, 71/79; 82, 60/86, 104f. 228 Vgl. auch bereits BVerfGE 45, 104/123, wo der Schutz von Art. 6 I GG auch auf den Vater und sein nichteheliches Kind ausgedehnt wurde, das im konkreten Fall übrigens nicht mit seinem Vater zusammenlebte; vgl. auch 3. Teil C. II. 2. b) 229 In diese Untergruppe gehören BVerfGE 29, 71/79; 43. 108/118f; 61, 319/343; 68, 143/152; 82. 60/86, 104f (letztere allerdings nur insoweit, als sie nicht auch Alleinstehende - die sich nicht

D. Gruppenbildung nach grundrechtlichem Maßstab

125

bedeutet das nicht, daß Art. 3 I GG in diesen Fällen immer mit Art. 6 I GG verbunden wird; mitunter ist bei widerstreitenden Rechtspositionen allein Art. 3 I GG sedes materiae. 230 In zwei Entscheidungen verwendet das Bundesverfassungsgericht vorrangig Art. 3 I GG als grundrechtlichen Maßstab, da dieser die stärkere sachliche Beziehung zum Prüfungsgegenstand

habe. 231 Damit meint das Gericht offenbar

das gleiche wie mit der Aussage in der ebenfalls hier einzuordnenden Grundsatzentscheidung, Art. 3 I GG habe zu der zu prüfenden Norm die stärkere Affinität. 232 Trotz der Präponderanz von Art. 3 I GG wird dann allerdings in allen drei Entscheidungen im Rahmen der Gleichheitsprüfung die Wertentscheidung des Art. 6 I GG mitberücksichtigt. Diese Gemeinsamkeiten dürfen allerdings nicht darüber hinwegtäuschen, daß es sich bei den beiden jüngeren Entscheidungen um andere Konstellationen handelt als bei der zu Beginn geschilderten Grundsatzentscheidung. In beiden Entscheidungen geht es um die Verfassungsmäßigkeit von Vorschriften des AFG und in beiden Fällen begründet das Gericht den Prüfungsverbund damit, daß es um die Benachteiligung der Ehe gegenüber eheähnlichen Gemeinschaften bzw. Ledigen gehe und Art. 3 I GG zu der zu prüfenden Regelung daher die stärkere sachliche Beziehung habe. Diese Begründung macht die Verwendung des grundrechtlichen Maßstabs allerdings nicht so recht verständlich, weil bisher bei allein Eheleute diskriminierenden Regelungen nur Art. 6 I GG Maßstab war. 233 Schließlich gibt es Entscheidungen, in denen zwar die Begriffe "stärkere sachliche Beziehung" bzw. "Affinität" nicht fallen, die sich aber eindeutig an die Grundsatzentscheidung anlehnen. So heißt es im Rahmen der verfassungsrechtlichen Prüfung von § 3 II 2 KVStG 1959 zum Grundrechtsmaßstab: "Da auf Art. 6 I GG berufen können - in die Prüfung einbezieht); 87, 234/255ff (soweit es um den Vergleich von Doppel- und Alleinverdienerehen bzw. von zusammenlebenden und getrenntlebenden Ehegatten geht); wohl auch BVerfGE 67. 348/365; 80, 170/180. BVerfGE 22, 100/103, 105; 66, 84/93 drehen den Verbund um und ziehen Art. 3 I ergänzend im Rahmen des Art. 6 I GG heran. Unklar auch BVerfGE 66, 66/76f. wo nur Art. 6 I GG verwendet wird. 230 Dazu gleich bei III. 231 BVerfGE 67, 186/195; 75, 382/393. Nur scheinbar hierhin gehört BVerfGE 75, 348/357. Diese Entscheidung knüpft zwar ausdrücklich an die Affinitätsrechtsprechung an, ist aber keine Diskriminierungsentscheidung im Sinne der hier vorgenommenen Abgrenzung. Bei den Vergleichspersonen handelt es sich nämlich um Kinder, so daß Art. 6 I GG in seiner Eigenschaft als Diskriminierungsverbot keine Rolle spielen kann. 232 BVerfGE 13, 290/298. Die Zusammengehörigkeit dieser drei Entscheidungen wird jeweils auch durch den Verweis in den beiden neueren Entscheidungen auf BVerfGE 13, 290/296 bewiesen, wo zudem ebenfalls der Terminus "stärkere sachliche Beziehung" auftaucht. 233 Das gilt auch tur BVerfGE 18, 257/269; 78, 128/130, wo allerdings auf die Termini "stärkere sachliche Beziehung" bzw. "Affinität" verzichtet wird.

126

Zweiter Teil : Grundrechtsbezogene Analyse der Rechtsprechung

es sich bei der von der Norm betroffenen Steuerpflichtigen um eine juristische Person handelt, die sich nicht selbst auf den in Art. 6 Abs. 1 GG verbrieften Schutz von Ehe und Familie berufen kann, kommt diese Grundrechtsbestimmung als unmittelbare Prüfungsnorm nicht in Betracht. Art. 6 Abs. 1 GG behält allerdings seine Bedeutung als Wertmaßstab im Rahmen der Prüfung, ob die Vorschrift des § 3 Abs. 2 Satz 2 KVStG gegen Art. 3 Abs. 1 GG verstößt." 234 Wie in der Grundsatzentscheidung geht es also um die Erweiterung der Schutzwirkung von Art. 6 I GG zugunsten von Personenmehrheiten, die sich an sich nicht auf dieses Grundrecht berufen können.

2. Besonderheiten

Der Prüfungsverbund Art. 3 I i. V. m. Art. 6 I GG zeichnet sich durch einige Besonderheiten aus, die unter anderem auch die Wirkung von Art. 6 I GG als objektive Wertentscheidung betreffen. a) Das Zusammenwirken von Art. 3 I GG und anderen grundrechtlichen Gewährleistungen im allgemeinen Die Fälle, in denen das Bundesverfassungsgericht Art. 3 I GG mit einem anderen Grundrecht verbindet, beschränken sich nicht auf das Zusammenwirken mit Art. 6 I GG. Es lohnt sich daher, die Analyse zu diesem Prüfungsverbund in einen größeren Zusammenhang zu stellen und einen Blick auf die sonstigen Fälle der Verbindung zweier Grundrechte unter Beteiligung von Art. 3 I GG zu werfen. Ein Teil dieser Entscheidungen wurde bereits erwähnt; es sind dies die Fälle, in denen der allgemeine Gleichheitssatz im Rahmen der Prüfung eines Freiheitsgrundrechts ergänzend herangezogen wurde. Dabei ergab die Berücksichtigung von Art. 3 I GG innerhalb der Prüfung des Freiheitsrechtes bestimmte Ansprüche auf Verwirklichung von Freiheitsgewährleistungen durch Teilhabe an staatlichen Leistungen.235 Für das Verständnis des Grundrechtverbundes Art. 3 I i. V. m. Art. 6 I GG sind dagegen die Parallelfalle interessant, in denen ein anderes Grundrecht im Rahmen der Prüfung des allgemeinen Gleichheitssatzes herangezogen wird. 2 3 6 Dabei kann

234

BVerfGE 26, 321/325. Einzelheiten oben I. 2. b) bb). 236 Zwar wird ausnahmsweise auch die umgekehrte Kombination Art. 6 I i. V. m. Art. 3 I GG verwendet; es ist aber nicht ersichtlich, daß diese Abweichung irgendwelche Folgen hätte, die eine besondere Behandlung rechtfertigen würden. 235

D. Gruppenbildung nach grundrechtlichem Maßstab

127

es sich sowohl um Freiheitsgewährleistungen als auch um besondere Gleichheitsgrundrechte handeln: aa) Prüfung von Freiheitsrechten

im Rahmen von Art. 31 GG

Neben Art. 6 I GG werden vom Bundesverfassungsgericht Art. 2 I, 5 I und III 1 GG sowie Art. 12 I und Art. 14 I GG im Rahmen der Prüfung des allgemeinen Gleichheitssatzes erwähnt. 237 Die Berücksichtigung von Freiheitsrechten innerhalb der Gleichheitsprüfung führt regelmäßig zu einer stärkeren gerichtlichen Kontrolle und damit einhergehend zu einer Verengung des gesetzgeberischen Gestaltungsspielraums. Das Bundesverfassungsgericht betont, daß bei der Anwendung des Gleichheitsgebots der jeweilige Lebens- und Sachbereich zu berücksichtigen sei. 238 Die Integration des Freiheitsrechts in die Gleichheitsprüfung hat sogar mitunter zur Folge, daß der Gestaltungsspielraum, den Art. 3 I GG dem Gesetzgeber ansonsten läßt, genauso eng sein soll wie bei einer Regelung, die unmittelbar unter das Freiheitsrecht fällt. 239 Dies läßt einen Unterschied zur sonstigen Rechtsprechung zu Art. 3 I GG erkennen, die vor allem in früheren Entscheidungen die Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers besonders betont und sich auf eine Evidenzkontrolle beschränkt hatte. So ist es nicht verwunderlich, daß nach der Aufstellung von Rohloff mit einer Ausnahme alle auf den Grundrechtsverbund gestützten Klagen zum erfolgreich waren; 240 eine solche Quote haben allein auf Art. 3 I GG gestützte Klagen bei weitem nicht erreichen können. Das komplementär hinzutretende Grundrecht beeinflußt den relativen Begriff der Gleichheit, der immer einen Vergleichsmaßstab fordert, den Art. 3 I GG selbst nicht nennt. 241 Diese Beeinflussung geschieht dadurch, daß der Vergleichsmaßstab und damit die Bestimmung von Gleichheit und Ungleichheit den jeweiligen Sach- und Lebensbereich zu beachten hat. Wird in diesem Bereich mittelbar ein Grundrecht berührt, so wirkt dieses in seiner Eigenschaft als objektive Wertentscheidung auf die Gleichheitsprüfung ein. Damit werden die Anforderungen an die Gleich- bzw. Ungleichbehandlung mittelbar abhängig von der Intensität des Eingriffes in das Freiheitsrecht.

237 238 239 240 241

Übersicht bei Rohloff S. 33ff. BVerfGE 36, 321/330f; 37, 342/353f; 60, 123/134; 62, 256/274; 79, 212/218; 81, 108/121. BVerfGE 37, 342/353f. Rohloff S. 33ff. Kirchhof in: Handbuch des Staatsrechts Bd. V, § 124 Rdnr. 20.

Zweiter Teil: Grundrechtsbezogene Analyse der Rechtsprechung

128

Die Rechtsprechung trifft sich hier mit dem auch in der Literatur anzutreffenden Konzept der Konkretisierung des allgemeinen Gleichheitssatzes durch andere verfassungsrechtliche Wertungen. 242 Danach kann der Gleichheitssatz nicht aus sich selbst heraus gedeutet werden, sondern nur als Teil der Gesamtverfassung, aus der sich die erforderlichen Wertungen ergeben sollen. 243 Diese sollen eine Reihe von Differenzierungserlaubnissen, Differenzierungsgeund -verboten enthalten, die zur Bildung eines Vergleichsmaßstabes beitragen. Als Beispiel für ein Differenzierungsgebot nennt Starck auch Art. 6 I GG, durch den Ehe und Familie zu durch die Verfassung vorgeprägten Gattungen würden und damit auch anderen Regelungen unterworfen werden können oder sogar müssen als Ledige oder Ehen ohne Kinder. 244 bb) Prüfung

von Art. 6 V im Rahmen von Art. 3 I GG

Auch die besonderen Gleichheitsgebote verengen regelmäßig den Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers, wenn sie im Rahmen des Art. 3 I GG berücksichtigt werden. Darüberhinaus ist aber im Vergleich zum Verbund mit Freiheitsrechten eine Besonderheit festzustellen, deren Hintergrund das Konkurrenzverhältnis zwischen Art. 3 I GG und den besonderen Gleichheitssätzen ist. Besonders interessant sind die Entscheidungen, die Art. 6 V GG betreffen. 245 Nach ständiger Rechtsprechung ist Art. 6 V GG lex specialis zu Art. 3 I GG, 2 4 6 der bei Einschlägigkeit dieses besonderen Gleichheitssatzes zurücktreten müßte. Deshalb erstaunt die Verbindung von allgemeinem und besonderen Gleichheitssatz zunächst; sie beruht aber auf der Tatsache, daß hier ein Grundrecht in seinen objektiven Wirkungen auch zugunsten eines Nichtgrundrechtsträgers aktiviert werden soll: Träger des Grundrechts Art. 6 V GG ist nämlich nur das nichteheliche Kind, nicht aber der Vater. Deshalb untersucht das Bundesverfassungsgericht beispielsweise bei der verfassungsrechtlichen Prüfung von § 32 II Nr. 1 und 3 EStG 1965, der Vätern nichtehelicher Kinder den Kinderfreibetrag verweigerte, die Auswirkungen dieser Norm auf das nichteheliche Kind und stellt eine mittelbare Beeinträchtigung seiner Stellung durch die

242

Grundlegend Ipsen, S. 162ff; Starck in: von Mangoldt/Klein/Starck, Art. 3 Rdnrn. 15 ff sowie Müller VVDStRL 47 (1989), 37/45ff. 243

Ipsen, S. 162; Starck, aaO, Rdnr. 15.

244

AaO, Rdnr. 16. BVerfGE 8, 210/216f; 17, 148/153:22, 163/172; 36, 126/136. BVerfGE 17, 280/286; 44, 1/18.

245 246

D. Gruppenbildung nach grundrechtlichem Maßstab

129

Benachteiligung des Vaters fest. 247 Da dieser Grundrechtsverstoß die subjektive Rechtsstellung des nicht grundrechtsberechtigten Vaters aber nicht positiv beeinflussen kann, verwendet das Gericht Art. 6 V GG als objektive Wertentscheidung im Rahmen der Prüfung des auch für den Vater subjektiven Rechts Art. 3 I GG. Schwerpunkt der Prüfung ist Art. 6 V GG; Art. 3 I GG hat für den Vater hier nur eine subjektive Hebelwirkung. b) Das Zusammenwirken von Art. 3 I und Art. 6 I GG im besonderen Im Vergleich zu dem Verbund mit anderen Freiheitsrechten weist die Kombination Art. 3 I mit Art. 6 I GG einige Besonderheiten auf. Da die Begründungen für den Prüfungsverbund der beiden Grundrechte recht unterschiedlich sind, ist es im Sinne einer klareren Analyse, die Untergruppen auseinanderzuhalten: 248 aa) Widerstreitende

Rechtspositionen

Hier besteht zunächst eine Gemeinsamkeit mit den Entscheidungen, die die Freiheitsrechte in die Prüfung des allgemeinen Gleichheitssatzes integrieren. Auch dort werden nämlich immer Rechtspositionen verglichen, die bereits beide unter den Schutz des Freiheitsrechtes fallen und erst durch Art. 3 I GG auf die Ebene eines Vergleiches untereinander gelangen. Man kann insofern von einem internen Personenvergleich sprechen, weil der Vergleich innerhalb einer Gruppe von Trägern des gleichen Grundrechts stattfindet. 249 Trotz dieser Gemeinsamkeit mit dem Grundrechtsverbund Art. 3 I i. V. m. Art. 6 I GG sind aber Unterschiede in Ausgangsposition und Wirkungen festzustellen. Die Möglichkeit des internen Personenvergleichs im Normbereich des Art. 6 I GG wird nämlich nicht erst durch die Verbindung mit Art. 3 I GG überhaupt zu einer subjektiven Rechtsposition des Klägers. Art. 6 I GG enthält bereits allein Wirkungen auf der Vergleichsebene durch seine Behandlung als besonderer Gleichheitssatz. Sowohl allein als auch im Verbund mit Art. 3 I GG taucht er in seiner Funktion als objektive Wertentscheidung auf, und es ist auch nicht ersichtlich, daß der Prüfungsmaßstab durch die Verbindung mit Art. 3 I GG strenger geworden wäre.

247

BVerfGE 36, 126/133. Zum Anwendungsbereich des Grundrechtsverbundes oben 1. 249 Rohloff,; S. 93ff Beispiel: BVerfGE 37. 342/353f. Rechtsreferendaren miteinander verglichen werden. 248

9 Kingrccn

wo

zwei

Gruppen

von

130

Zweiter Teil: Grundrechtsbezogene Analyse der Rechtsprechung

Anders sieht es hingegen beim Vergleich der Grundrechtsberechtigten anderer Freiheitsgewährleistungen aus. Hier wird der Anspruch auf Gleichbehandlung mit anderen Grundrechtsträgern erst durch die Verbindung des Freiheitsrechts mit Art. 3 I GG zu einem subjektiven Recht der Betroffenen. Erst so können die Aussagen des Freiheitsrechts auf die komparative Ebene verlagert werden. Der allgemeine Gleichheitsgrundsatz hat hier also im Gegensatz zum Verbund mit Art. 6 I GG konstitutive Vergleichswirkung. Die unterschiedliche Ausgangsposition - Art. 6 I GG im Gegensatz zu anderen Freiheitsrechten als besonderer Gleichheitssatz - schlägt damit auch auf die Wirkung und Funktion des allgemeinen Gleichheitssatzes bei der Verbindung mit einem Freiheitsrecht durch. bb) Stärkere sachliche Beziehung von Art. 3 I GG zum Ρrüfungsgegenständ

Hier bestehen recht interessante Parallelen zu der Berücksichtigung von Art. 6 V GG im Rahmen des allgemeinen Gleichheitssatzes. Das gilt für die Fälle, in denen Art. 6 I GG für den Kläger als unmittelbarer Prüfungsmaßstab nicht in Betracht kommt, aber dennoch Verfassungsfragen aufgeworfen werden, die maßgeblich mit dem Lebensbereich "Ehe und Familie" zusammenhängen. Hier dient der Grundrechtsverbund der Erweiterung einer subjektiven Rechtsposition und überwindet vor allem die begriffsnotwendige Beschränkung von Art. 6 I GG auf natürliche Personen ebenso wie er die Wirkungen des Art. 6 V GG über die Rechtsstellung des nichtehelichen Kindes hinaus auch auf den Vater des Kindes erweitert. In beiden Fällen hat Art. 3 I GG subjektive Hebelwirkung. Diese Gemeinsamkeit beruht auf der auch zwischen Art. 3 I und Art. 6 I GG bestehenden Konkurrenzsituation. Der Grundrechtsverbund ist nämlich nichts anderes als das Ergebnis der Lösung eines Konkurrenzverhältnisses, indem das Gericht prüft, welches der beiden Grundrechte die größere sachliche Beziehung/Affinität zum zu prüfenden Sachverhalt hat. Ist Art. 3 I GG sachnäher, wird Art. 6 I GG dennoch wegen der Nähe des zu untersuchenden Falles zum Lebensbereich Ehe und Familie in diesem Rahmen als objektive Wertentscheidung herangezogen. Hier zeigt sich die zwischen Art. 6 I und Art. 6 V GG bestehende Gemeinsamkeit: Beide werden in der Rechtsprechung als besonderer Gleichheitssatz behandelt. In dieser Qualität unterscheidet sich Art. 6 I GG von den anderen Freiheitsrechten, deren Berücksichtigung in Art. 3 I GG nicht auf der Lösung einer Konkurrenzsituation beruht. Sie müssen nicht angewendet werden, um den

D. Gruppenbildung nach grundrechtlichem Maßstab

131

Kreis derjenigen zu erweitern, die aus ihrer Nichtberücksichtigung auch eine subjektive Rechtsposition erlangen. Vielmehr geht es ausschließlich um die Verengung des gesetzgeberischen Spielraums durch die Berücksichtigung des jeweiligen Sach- und Lebensbereiches. Diesen Zweck hat Art. 6 I GG im Rahmen des Art. 3 I GG im übrigen bisweilen auch erfüllen können; jedenfalls dann, wenn man den Vergleich mit Fällen zieht, in denen Art. 3 I GG allein steht. Diese Verengung zeigt sich zum Beispiel in einer Entscheidung, in der das Bundesverfassungsgericht die Benachteiligung von Ehegatten bei der Kapitalverkehrsteuer zu untersuchen hatte. 250 Anders als bei der isolierten Prüfung des allgemeinen Gleichheitssatzes251 erklärte es nämlich Praktikabi 1 itätserwägungen als Rechtfertigung einer Ungleichbehandlung für unbeachtlich: Diese könnten von Bedeutung sein, wenn ein Steuergesetz nur am Maßstab von Art. 3 I GG zu prüfen sei; hinter der besonderen Wertentscheidung des Art. 6 I GG müßten sie aber zurücktreten. 252 Diese Verengung des gesetzgeberischen Spielraums verliert aber beim Verbund Art. 3 I i. V. m. Art. 6 I GG an Bedeutung, wenn man die Verbundswirkungen mit denen der alleinigen Anwendung von Art. 6 I GG vergleicht. In beiden Konstellationen taucht Art. 6 I GG als objektive Wertentscheidung mit der entscheidenden Forderung auf, Ehe und Familie dürften nicht allein wegen dieser ihrer Eigenschaft benachteiligt werden. Durch die Verbindung wird die Prüfung nicht intensiviert; sie ist nicht der Grund für die Kombination Art. 3 I i. V. m. Art. 6 I GG. Auch Art. 6 V GG wird nicht deshalb intensiver oder weniger intensiv untersucht, weil er im Rahmen des Art. 3 I GG auftaucht. Wohl auch wegen dieser gleichen Wirkungen unterscheidet das Gericht manchmal nicht genau zwischen Art. 6 I GG einerseits und Art. 3 I i. V. m. Art. 6 I GG andererseits. Als Beispiel mögen die beiden Entscheidungen zum Maklerrecht dienen253 und auch die im übrigen nicht immer konsequent durchgeführte Abgrenzung zwischen den beiden Prüfungsmaßstäben. Hintergrund dieser Verbindung ist nämlich - anders als bei den Freiheitsrechten - nicht die (bereits durch Art. 6 I GG allein garantierte) Intensivierung der gerichtlichen Kontrolle, sondern die Erweiterung subjektiver Rechtspositionen. Damit zusammenhängend stellt der Grundrechtsverbund mit Art. 6 I GG hier auch deshalb einen Sonderfall dar, weil er einen externen Personenvergleich betrifft,

250

BVerfGE 26, 321. Vgl. ζ. B. BVerfGE 11, 245/254: 17, 1/23; 26, 265/275f. 252 BVerfGE 26, 321/3261". 253 BVerfGE 76, 126/128 einerseits und BVerlGE 78, 128/130 andererseits und unten F. I. 1. b). 251

y*

132

Zweiter Teil: Grundrechtsbezogene Analyse der Rechtsprechung

also Grundrechtsträger mit Nichtgrundrechtsträgern vergleicht. Insofern unterscheiden sich diese Entscheidungen auch von dem bei den widerstreitenden Rechtspositionen anzutreffenden Grundrechtsverbund, der grundrechtsintern wirkt, also nur zwei Träger des gleichen Grundrechts miteinander vergleicht.

III. Art. 3 I GG als alleiniger Prüfungsmaßstab

Auch ohne Art. 6 I spielt Art. 3 I GG im Rahmen der Diskriminierungsproblematik eine erhebliche Rolle. Aus grundrechtsdogmatischer Sicht zeigen sich bei der Anwendung des allgemeinen Gleichheitssatzes aber anders als in den zuvor genannten Gruppen keinerlei Besonderheiten. Das Bundesverfassungsgericht verwendet den allgemeinen Gleichheitssatz als ausschließlichen Prüfungsmaßstab zum einen, wenn es widerstreitende Rechtspositionen zu vergleichen hat, die beide durch Art. 6 I GG geschützt sind. 254 Unklar ist, wie diese Entscheidungen von denen abzugrenzen sind, die bei widerstreitenden Rechtspositionen auf den Prüfungsverbund Art. 3 I i. V. m. Art. 6 I GG zurückgreifen. Zum anderen wird Art. 3 I GG allein verwendet, wenn es um Klagen von Nichtverheirateten geht, die sich gegenüber der Ehe bzw. der Familie oder auch gegenüber anderen Nichtverheirateten benachteiligt fühlen. Dies gilt allerdings nur dann, wenn sie als kinderlose Nichtverheiratete auftreten. Nichtverheiratete mit Kind sieht das Bundesverfassungsgericht dagegen als Halbfamilie an, die dem Schutz von Art. 6 I GG unterliegt. 255 Deshalb hat das Gericht in zwei Entscheidungen dieses Grundrecht auch bei Klagen von Nichtverheirateten mit Kind berücksichtigt, sofern diese in ihrer Eigenschaft als Halbfamilie betroffen waren. 256 Wurde hier eine Diskriminierung gegenüber Verheirateten mit Kindern behauptet, lagen also widerstreitende, beiderseits durch Art. 6 I GG geschützte Rechtspositionen vor, so daß diese Entscheidungen nicht in diese Untergruppe gehören. 257 Hier geht es nur um Klagen Unverheirateter, die nicht

254 BVerfGE 9, 237/2421; II, 64/69, 71; 32, 260/272; 45, 104/126; 47, 1/19, 22; 55, 114/128; 82, 60/82 und wohl auch 63, 255/263, 265 (wenn man - obwohl das Bundesverfassungsgericht dies hier nicht ausdrücklich erwähnt - davon ausgeht, daß Alleinstehende mit Kind unabhängig davon, ob sie zusammenleben, von Art. 6 I GG geschützt werden). 255 BVerfGE 45, 104/123. 256 BVerfGE 61, 319/343; 68. 143/152. 257 Da das Gericht in beiden Entscheidungen Art. 3 I i. V. m. Art. 6 I GG anwendet, ist eine Eingruppierung in II. erfolgt.

E. Die Rechtsprechung aus rechtsmethodischer Sicht

133

am Schutz von Art. 6 I GG teilnehmen und die sich gegenüber Verheirateten durch eine Gleich- oder Ungleichbehandlung im Vergleich zur Ehe benachteiligt fühlen. 258

E. Die Rechtsprechung aus rechtsmethodischer Sicht 259 Rechtsmethodisch sieht das Bundesverfassungsgericht bei der Prüfung der Diskriminierung der Ehe eine Grundrechtskonkurrenz, weil zum Schutz der Grundrechtsträger, der Eheleute, zwei Grundrechte anwendbar sind, nämlich Art. 3 I und Art. 6 I GG. Nicht ganz einfach zu beantworten ist allerdings die Frage, welche Art von Grundrechtskonkurrenz das Gericht annimmt.

1. Art. 3 I und Art. 6 I GG als voneinander unabhängige Grundrechte

In seiner Grundsatzentscheidung stellt das Gericht Art. 3 I GG als allgemeine Gewährleistung der Gleichheit hin, die nicht mehr anwendbar sei, wenn die zu prüfende Gesetzesnorm einer speziellen Grundrechtsnorm zuwiderlaufe. Sodann wird aber anerkannt, daß Art. 3 I und Art. 6 I GG zumindest unabhängig voneinander verletzt sein können. Diese Unabhängigkeit zeigt sich für Art. 6 I GG nur in Fällen, die außerhalb der Diskriminierungsproblematik stattfinden, da bei einer Diskriminierung von Ehe und Familie Art. 3 I GG zumindest thematisch gleichfalls immer naheliegen wird. Daß Art. 3 I GG als umfassende Gewährleistung von Gleichheit unabhängig von Art. 6 I GG verletzt sein kann, braucht nicht besonders betont zu werden. Im Rahmen dieser Untersuchung sind dabei beispielsweise die Klagen nichtehelicher Lebensgemeinschaften gegen eine Diskriminierung im Vergleich zur Ehe von Interesse. Alle diese Fälle der Unabhängigkeit der Grundrechte voneinander finden in der Sprache der Mengenlehre aber außerhalb eines Bereiches statt, in dem sich die Mengen Art. 3 I und Art. 6 I GG in einer Schnittmenge überschneiden. Der Gedanke einer umfassenden abstrakten Spezialität verbietet sich daher.

258 BVerfGE 9, 20/28ff; 87, 234/263IT. Vgl. außerdem BVerfG-VPr FamRZ 1990. 364; BVerlG-VPr NJW 1989, 1986 sowie BFH FamRZ 1989, 177 und NJW 1990, 1319. 259 Zu den im folgenden verwendeten Termini vgl. die methodischen Ausführungen bei C.

134

Zweiter Teil: Grundrechtsbezogene Analyse der Rechtsprechung

II. Partielle Tatbestandskongruenz zwischen Art. 3 I und Art. 6 I GG

In bestimmten Fällen sollen sich die Tatbestände dieser beiden Rechtssätze hingegen decken; man kann also von einer grundrechtlichen Teilkongruenz sprechen, die das Bundesverfassungsgericht für das Verhältnis zwischen Art. 3 I und Art. 6 I GG aufgestellt hat. Allerdings kann in diesem Bereich weder generell eine konkrete (!) Spezialität von Art. 6 I GG noch eine generelle Idealkonkurrenz erkannt werden. Die Rechtsfolge wird vielmehr abhängig von der Affinität zum zu prüfenden Sachverhalt der einen oder der anderen Norm bzw. auch beiden Normen entnommen.260 Deshalb gibt es in diesem Bereich partieller Tatbestandsüberschneidung auch erhebliche methodische Definitionsprobleme: Man könnte in diesem Bereich - der Schnittmenge - zwei Fälle (Ausschnitte) auseinanderhalten. Der Gesamtausschnitt ist definiert durch die beiderseitige thematische Einschlägigkeit der Grundrechte; wenn auch die stärkere Affinität des Art. 3 I GG angenommen wird, so wird doch Art. 6 I GG herangezogen, der dann die Prüfung maßgeblich beeinflußt. Innerhalb dieses durch Teilkongruenz geprägten Bereiches ist aber noch ein kleinerer Ausschnitt erkennbar, in dem zwar auch beide Grundrechte thematisch einschlägig sind, in dem aber Art. 3 I zugunsten des Art. 6 I GG zurücktritt, welcher dann alleiniger Prüfungsmaßstab ist. 261 Dieser Bereich kann dann in der Tat als konkrete Spezialität bezeichnet werden. Rechtsmethodisch schwerer zu fassen ist aber der Gesamtausschnitt (ohne den Innenbereich konkreter Spezialität): Von Idealkonkurrenz kann hier an sich keine Rede sein, weil nicht beide Grundrechte nebeneinander anwendbar sind, sondern erst die Kombination beider den grundrechtlichen Maßstab liefert. Dies wäre auch nicht im Sinne des Bundesverfassungsgerichts, das in diesen Kombinationsfällen gerade eine Entscheidung für die stärkere Affinität des Art. 3 I GG fällt und Art. 6 I GG nur unterstützend heranzieht. So wäre Art. 6 I GG zum Beispiel in der Grundsatzentscheidung nach Ansicht des Bundesverfassungsgerichts alleine gar nicht anwendbar, weil Kläger denkbar sind, die nicht Träger dieses Grundrechts sind. Umgekehrt kann allerdings Art. 3 I GG ohne Art. 6 I GG zur Anwendung kommen - wenn auch möglicherweise ineffektiver. Wegen dieser Schwierigkeit könnte man daher überlegen, die Schnittmenge noch enger zu fassen und auf den Bereich zu diminuieren, in dem beide Grund-

260 261

BVerfGE 13,290/296. Ζ. B. BVerfGE 17, 1/38.

E. Die Rechtsprechung aus rechtsmethodischer Sicht

135

rechte unabhängig voneinander anwendbar sind, Art. 3 I dann aber gegenüber Art. 6 I GG zurücktritt. Schnittmenge wäre damit nur der oben so bezeichnete kleine Ausschnitt, in dem konkrete Spezialität besteht. Ausgeschlossen wären die Fälle, in denen Art. 3 I i. V. m. Art. 6 I GG Prüfungsmaßstab ist. Diese Entscheidungen müßten dann außerhalb der Schnittmenge eingeordnet werden, und zwar bei Art. 3 I GG, weil dieser zumindest alleine anwendbar wäre und zudem vom Bundesverfassungsgericht die stärkere Affinität zum zu prüfenden Sachverhalt zugesprochen bekommt. Dieser Weg wäre allerdings erheblichen Einwänden ausgesetzt: Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts würde damit methodisch zu sehr simplifiziert, weil die Fälle, in denen Art. 3 I i. V. m. Art. 6 I GG auftaucht, mit denjenigen vermischt werden müßten, die Art. 3 I GG allein anwenden. Dies würde der Bedeutung des Art. 6 I GG regelmäßig nicht gerecht, da dieser die Prüfung oft ebenso maßgeblich beeinflußt wie als alleinstehender Grundrechtsmaßstab. Deshalb soll trotz der Definitionsschwierigkeiten der Bereich der partiellen Tatbestandskongruenz nach thematischer Einschlägigkeit bestimmt werden. Nur so ist es möglich, inhaltlich zusammengehörende Entscheidungen auch rechtsmethodisch zu bündeln. Freilich bedeutet dies, daß nunmehr eine rechtsmethodische Bezeichnung für die Fälle gefunden werden muß, in denen Art. 3 I i. V. m. Art. 6 I GG auftaucht. Diese ist - soweit ersichtlich - bisher noch nicht gefunden, was auch damit zusammenhängen dürfte, daß das Konkurrenzverhältnis von Freiheits- zu Gleichheitsgrundrechten bisher praktisch nicht untersucht wurde. 262 Allerdings wird für das Verhältnis der Freiheitsrechte untereinander teilweise von einer Grundrechtskumulation gesprochen, wenn zwei Grundrechte durch Zusammenwirken einen stärkeren Schutz gewähren sollen als beide Grundrechte individuell genommen. Dabei handelt es sich allerdings um einen Fall der Idealkonkurrenz, bei der zwei Grundrechte unabhängig voneinander einschlägig sind. Genau dies ist hier aber nicht der Fall: Art. 6 I GG ist allein nicht anwendbar, sondern wirkt nur über Art. 3 I GG; zwischen den Grundrechten besteht also keine Idealkonkurrenz, als deren mögliche Rechtsfolge die Grundrechtskumulation ja angesehen wird. 263 In dieser Arbeit wird daher der Terminus "Grundrechtsverbund' verwendet, um 262

Erwähnt vor allem von Schwabe, Grundrechtsdogmatik, S. 392f; Ansätze auch bei Gubelt in: von Münch/Kunig, Art. 3 Rdnr. 105, der grundsätzlich Idealkonkurrenz zwischen Freiheitsrecht und Art. 3 I GG annimmt, diesen Fall aber von dem unterscheidet, daß einem Grundrecht der Vorrang eingeräumt wird, in dessen Prüfung die spezifischen Gehalte des anderen Grundrechts mitberücksichtigt werden. Als Beispiel dafür nennt er u. a. auch Art. 3 I i. V. m. Art. 6 I GG. 263 Vgl. oben C. 11.2.

136

Zweiter T e i : Grundrechtsbezogene Analyse der Rechtsprechung

aufzuzeigen, daß der Grundrechtsmaßstab erst durch eine Verbindung von Art. 3 I und Art. 6 I GG entstehen kann.

F. Problematisierung der Rechtsprechung Der Versuch, die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zu Art. 3 I und Art. 6 I GG im Bereich der Diskriminierung von Ehe und Familie gegenüber Nichtverheirateten und umgekehrt zu systematisieren, hat gezeigt, daß das Verhältnis beider Grundrechte in der Rechtsprechung nicht eindeutig geklärt ist. Auch im neueren Schrifttum wird von "wenig überzeugenden Abgrenzungskriterien" 264 und einer "schwankenden Rechtsprechung" 265 gesprochen, die von einer "gewissen Unsicherheit" 266 zeuge. Etwas eingehender ist die Rechtsprechung bisher allerdings nur von Pirson 267 und von Rohloff 268 analysiert und kritisiert worden. Im folgenden soll aber nicht nur die Schlüssigkeit der vom Bundesverfassungsgericht entwickelten Abgrenzungskriterien mitsamt der Frage angesprochen werden, ob die entwickelten Grundsätze auch konsequent angewendet werden. Es wird vor allem zu zeigen sein, daß die Schwierigkeiten der Rechtsprechung unmittelbar mit der Verwendung von Art. 6 I GG als objektive Wertentscheidung zusammenhängen.

I. Inhaltliche Unklarheiten im Verhältnis von Art. 3 I zu Art. 6 I GG I. Probleme bei der Feststellung der Voraussetzungen für den Vorrang von Art. 6 l GG

Auch nach der Gruppenbildung der einschlägigen Entscheidungen muß die Frage offenbleiben, unter welchen Voraussetzungen das Bundesverfassungsgericht einen Vorrang von Art. 6 I gegenüber Art. 3 I GG annimmt. Zwar hat die Rechtsprechung solche Voraussetzungen gerade in seinen Entscheidungen zum Steuerrecht durchaus entwickelt und dann auch außerhalb dieses Gebietes 264

Sachs in: Handbuch des Staatsrechts Bd. V, § 127 Rdnr. 13. Rüfner in: Bonner Kommentar, Art. 3 Abs. 1, Rdnr. 67. 266 Schach DVBI 1988, 863/872; kritisch auch Kommers, Rechtsprechung habe zu "einiger Konfusion" geführt. 267 Bonner Kommentar, Art. 6 Rdnr. 83. 268 S.331Ï. 265

S. 34f, der bemerkt, die

F. Problematisierung der Rechtsprechung

137

zitiert: Danach muß die angegriffene staatliche Maßnahme an die Tatbestände Ehe und Familie anknüpfen und darf sich nur auf diese auswirken, wobei diese zweite Voraussetzung bereits bei der Möglichkeit verneint wurde, daß auch Dritte betroffen sind. Die Schwierigkeiten resultieren daraus, daß das Gericht diese Voraussetzungen nicht konsequent beachtet; die Anzahl der Entscheidungen, die Art. 6 I GG als alleinigen Maßstab trotz Vorliegens der genannten Voraussetzungen nicht anwenden, ist beträchtlich, und umgekehrt gibt es auch Fälle, die Art. 6 I GG allein gebrauchen, obwohl die Voraussetzungen nicht gegeben sind. Diese Diagnose gilt beispielsweise für einige Fälle, die zwar in Gruppe 1 eingeordnet wurden, die aber bei der Systematisierung erhebliche Schwierigkeiten gemacht haben.269 Dies hängt auch damit zusammen, daß selbst in der Grundsatzentscheidung nicht eindeutig festgelegt ist, unter welchen Bedingungen ein Vorrang von Art. 6 I GG denkbar ist. So ist noch nicht einmal klar, ob Art. 3 I GG wenigstens dann zurücktritt, wenn bereits Art. 6 I GG alleine als Maßstab anwendbar ist. In vielen Entscheidungen wird dies zwar betont; dennoch hindert dies das Gericht nicht daran, Art. 3 I GG noch neben Art. 6 I GG unter demselben Gesichtspunkt mit denselben Voraussetzungen zu prüfen. In anderen Fällen wird Art. 3 I GG zwar nicht mehr untersucht, nachdem bereits Art. 6 I GG geprüft worden ist. Die Äußerungen des Gerichts lassen aber mitunter den Schluß zu, daß die Prüfung des allgemeinen Gleichheitssatzes nicht auf der Grundlage der aufgestellten Konkurrenzregeln unterbleibt, sondern aufgrund der Tatsache, daß bereits Art. 6 I GG den Beschwerdeführer zum Ziel geführt hat. a) Abgrenzung zwischen Subjekt- und Objektsteuer in den steuerrechtlichen Judikaten Anlaß zu einigen kritischen Fragen bieten die Entscheidungen zum Steuerrecht, das die Anfangszeit der Rechtsprechung zur Diskriminierungsproblematik beherrscht und insbesondere Gegenstand der Grundsatzentscheidung zum Verhältnis der beteiligten Grundrechte ist. Die dort entwickelte Unterscheidung zwischen Subjekt- und Objektsteuer macht besondere Schwierigkeiten, weil spätere Entscheidungen beweisen, daß allein die Abgrenzung nach der Art der Steuer den grundrechtlichen Maßstab nicht präjudizieren kann. Dies zeigt sich beispielsweise, wenn man eine frühe Entscheidung des

269

Einzelheiten: D. I. 1.

138

Zweiter Teil : Grundrechtsbezogene Analyse der Rechtsprechung

Bundesverfassungsgerichts 270 leicht abwandelt. Im tatsächlichen Fall ging es um eine aus zwei Gesellschaftern bestehende Kommanditgesellschaft, bei der die beiden Ehefrauen der Gesellschafter angestellt waren und deren Gehälter nicht steuermindernd anerkannt wurden, da es sich um Ehegattenarbeitsverhältnisse handelte. Dies führte dann zu einer erhöhten Einkommensteuer für beide Gesellschafter. Das Gericht wendet Art. 6 I GG an, da es sich bei der Einkommensteuer um eine Subjektsteuer handele und damit nur die Eheleute selbst betroffen sein könnten. Im konkreten Fall war in der Tat niemand anders als die vier Eheleute betroffen, der Sachverhalt müßte aber nur etwas abgewandelt werden, um diesen Fall herbeizuführen: Werden beispielsweise Arbeitsverträge zwischen einer Personengesellschaft und der Ehefrau eines der Gesellschafter bei der einheitlichen und gesonderten Gewinnfestsetzung nach §§ 179, 180 AO nicht anerkannt, so sind davon alle Gesellschafter, auch die ohne angestellten Ehegatten, für ihre Einzelveranlagung zur Einkommenssteuer unmittelbar betroffen. Trotz subjektiver Einkommenssteuer wäre dies kein Fall für die Spezialität von Art. 6 I GG. Abgesehen von diesen Zweifeln ist auch in der steuerrechtlichen Literatur anerkannt, daß eine Unterscheidung zwischen Subjekt- und Objektsteuer nicht eindeutig durchführbar ist, da selbst Subjektsteuern wie die Einkommenssteuer in bestimmten Fällen objektsteuerartigen Charakter annehmen können. 271 Dies gilt beispielsweise für die beschränkte Steuerpflicht von Steuerpflichtigen nach § 49 EStG, bei deren Berechnung die persönlichen Verhältnisse des Steuerschuldners weitgehend unberücksichtigt bleiben. 272 Die Unterscheidung zwischen Subjekt- und Objektsteuer kann also den grundrechtlichen Maßstab auch deshalb nicht präjudizieren, weil sie selbst für die Systematisierung der Steuerarten nur begrenzt tauglich ist. b) Widersprüchlichkeit bei den maklerrechtlichen Entscheidungen Angesichts der Tatsache, daß bereits die Grundsatzentscheidung nicht immer klare und praktikable Voraussetzungen für den Vorrang von Art. 6 I GG entwickelt hat, erstaunt es nicht, daß diese Unsicherheiten auch außerhalb der steuerrechtlichen Judikate zutagetreten. Die unsichere Konkurrenzsituation wird besonders in den beiden Entscheidungen zum Maklerrecht deutlich. 273 In 270 271

272 273

BVerfGE 13, 318. Tipke/Lang,§ZRàm.2\.

Tipke/Lang, § 9 Rdnr. 26. BVerfGE 76, 126:78, 128.

F. Problematisierung der Rechtsprechung

139

der ersten Entscheidung wirkt die Ehe mit dem Geschäftsführer der Vermieterin des gemakelten Hauses für die Maklerin anspruchsausschließend. Die etwa ein Jahr später zum selben Thema ergangene Entscheidung unterscheidet sich von der vorangegangenen nur insofern, als die Maklerin direkt mit dem Vermieter der Wohnung verheiratet war. Beide angegriffene landgerichtliche Entscheidungen knüpfen an die Ehe der klagenden Maklerinnen an und dennoch soll sich in der ersten Entscheidung unmittelbar aus Art. 6 I GG ergeben, daß Verheiratete nicht allein deshalb benachteiligt werden dürften, weil sie verheiratet sind, 274 während dieses Verbot in der späteren Entscheidung aus Art. 3 I i. V. m. Art. 6 I GG deduziert wird. 275 Es entsteht der Eindruck, daß der grundrechtliche Maßstab für die inhaltliche Beurteilung der Fälle nicht von entscheidender Bedeutung ist. 276 Im übrigen zeigt sich hier aber auch, welche Probleme die vom Gericht entwickelten Kriterien zur Abgrenzung der beiden Grundrechte aufwerfen. In beiden Fällen wäre nämlich denkbar, daß das Maklerbüro nicht von einer Einzelperson, sondern durch eine Gesellschaft betrieben wird, bei der eine Gesellschafterin mit dem Vermieter der gemakelten Wohnung verheiratet ist. Würden hier an diese Ehe nachteilige Folgen geknüpft werden, wären nicht nur die Eheleute, sondern auch Dritte, nämlich die anderen Gesellschafter benachteiligt. Allein die Möglichkeit, daß von einer nachteiligen Regelung auch Dritte getroffen werden, soll aber nach der Rechtsprechung bereits den Vorrang des Art. 6 I GG verhindern mit der Folge, daß Art. 3 I i. V. m. Art. 6 I GG in beiden Maklerfällen anzuwenden gewesen wäre. Gerade die Fälle, in denen die benachteiligten Eheleute in eine Personenmehrheit eingebunden sind oder zumindest eingebunden sein können, zeigen also, wie wenig praktikabel und befriedigend das Bundesverfassungsgericht das Verhältnis von Art. 3 I zu Art. 6 I GG beschreibt. Im übrigen ist es auch nur schwer nachzuvollziehen, daß ein Grundrecht nur deshalb als unmittelbarer Prüfungsmaßstab ausfallen soll, weil andere Konstellationen denkbar sind, in denen es nicht anwendbar ist.

274

BVerfGE 76. 126/128. BVerfGE 78, 128/130. 276 Rüfner in: Der Staat 7 (1968), 41/45 (Fn. 24) meint eher beiläufig, das sei in der Tat eine sekundäre technische Frage. Daß dem nicht so ist, wird noch zu zeigen sein. Auch Rüfner selbst äußert im übrigen mittlerweile Zweifel an der Schlüssigkeit des Vorgehens des Bundesverfassungsgerichts (in: Bonner Kommentar, Art. 3 Abs. 1 Rdnr. 67 und Fn. 236). 275

140

Zweiter Teil: Grundrechtsbezogene Analyse der Rechtsprechung

c) Nichtanwendung der entwickelten Grundsätze im Sozialrecht Eine Spezialität von Art. 6 I GG wird sich unter diesen Voraussetzungen noch am ehesten im Sozialrecht ergeben können, wo es meist um Streitigkeiten um die Zuteilung individueller staatlicher Leistungen geht. Werden hier Benachteiligungen von Ehen und Familien beklagt, sind es nur die Leistungsempfänger selbst und deren Ehegatten, regelmäßig aber nicht Dritte, die in gleicher Weise betroffen sein können. Umso mehr erstaunt es, daß gerade hier oft Art. 3 I i. V. m. Art. 6 I GG angewendet wird. So verfährt das Bundesverfassungsgericht beispielsweise in einem Fall, der die Gewährung von Arbeitslosenhilfe betrifft. 277 Es geht um die Benachteiligung von Eheleuten, die - obwohl beide anspruchsberechtigt - wegen ihrer Ehe nur einen Anspruch auf Arbeitslosenhilfe haben sollen. Das Gericht wendet Art. 3 I i. V. m. Art. 6 I GG an, da es um die Benachteiligung der Ehe gegenüber eheähnlichen Gemeinschaften gehe.278 Diese Begründung paßt nicht zu den vom Gericht in seiner Grundsatzentscheidung entwickelten Kriterien. Diese Entscheidung wird sogar noch zitiert; wohl deshalb, weil auch dort von "stärkerer sachlicher Beziehung" des Art. 3 I GG die Rede ist. Allein die Benachteiligung der Ehe gegenüber Nichtverheirateten hatte aber bisher nicht ausgereicht, eine Entscheidung für den einen oder den anderen Maßstab zu fällen, sondern es war zusätzlich zu prüfen, ob nur die Eheleute oder auch andere von der angegriffenen Regelung betroffen waren. Hier trifft der Ausschluß des zweiten Anspruchs auf Arbeitslosenhilfe ausschließlich die Eheleute als Leistungsempfänger, so daß eigentlich nur Art. 6 I GG anzuwenden gewesen wäre. 279 2. Ungeklärte

Fragen beim Prüfungsverbund

Art. 31 i. V. m. Art. 61G G

Neben den Schwierigkeiten, die Voraussetzungen der Spezialität von Art. 6 I GG gegenüber Art. 3 I GG näher zu bestimmen, führt vor allem der Prüfungsverbund Art. 3 I i. V. m. Art. 6 I GG zu Unklarheiten bei der Abgrenzung beider Grundrechte.

277 278 279

BVerfGE 67, 186. BVerfG, aaO, S. 195. Dies gilt auch für BVerfGE 18, 257/269; 75, 382/393.

F. Problematisierung der Rechtsprechung

141

Ein spezielles Problem sind dabei die Fälle, in denen das Bundesverfassungsgericht widerstreitende, beiderseits durch Art. 6 I GG geschützte Rechtspositionen miteinander zu vergleichen hat. Unklar ist vor allem, nach welchen Grundsätzen das Gericht die in diesen Entscheidungen verwendeten Grundrechtsmaßstäbe auswählt. So wird manchmal Art. 3 I i. V. m. Art. 6 I GG (zum Teil auch - noch unverständlicher - umgekehrt), dann aber auch oft nur Art. 3 I GG und schließlich sogar einmal nur Art. 6 I GG erwähnt. Gründe für dieses unterschiedliche Vorgehen sind nicht ersichtlich. Zudem muß die Aussage bezweifelt werden, daß Art. 6 I GG bei widerstreitenden Rechtspositionen keinen Prüfungsmaßstab abgeben kann. 280 Unklar ist, warum dann ausgerechnet der allgemeinere Art. 3 I GG diese Rolle übernehmen soll, der auch nur die beiden durch Art. 6 I GG geschützten Rechtspositionen miteinander vergleichen kann. Wenn das Gericht schon davon ausgeht, daß in einem gewissen Bereich eine Überschneidung zwischen beiden Grundrechten besteht und darin wiederum Fälle zu finden sind, in denen Art. 6 I GG lex specialis ist, dann ist kaum verständlich, warum sich die Grundrechtsstellung der potentiell diskriminierten Eheleute ändern soll, wenn sie gegenüber Eheleuten statt im Verhältnis zu Nichtverheirateten benachteiligt werden.

3. Verkennung der Wirkung der objektiv-rechtlichen

Grundrechtsfunktion

Grundsätzlicher und nicht nur den Bereich der widerstreitenden Rechtspositionen betreffend ist außerdem zu fragen, warum das Bundesverfassungsgericht häufig Art. 6 I GG als alleinigen Maßstab ablehnt, diesen dann aber im Rahmen des Art. 3 I GG wieder berücksichtigt und daraus genau die Aussagen entnimmt, die es bereits aus Art. 6 I GG allein deduziert hat. Zu Recht ist daher daraufhingewiesen worden, daß unabhängig vom Hinzutreten von Art. 3 I GG der festgestellte Mangel jeweils im Verstoß gegen die Wertentscheidung des Art. 6 I GG liegt. 281 So hat das Gericht in den maklerrechtlichen Entscheidungen einmal aus Art. 6 I GG und beim anderen Mal aus Art. 3 I i. V. m. Art. 6 I GG die entscheidende Aussage abgeleitet, Verheiratete dürften nicht allein deshalb benachteiligt werden, weil sie verheiratet sind. Bisweilen wird auch die im Vergleich zu Art. 6 I GG stärkere sachliche Beziehung von Art. 3 I GG zum 280 Ebenso Zeidler in: Handbuch des Verfassungsrechts, S. 595f Fn. 157, der gerade im Hinblick auf die nur begrenzt vorhandenen Förderungsmittel von einem Konkurrenzverhältnis zwischen Ehe und Familie ausgeht. 281 Jarass AöR 110 (1985), 363/375.

142

Zweiter Teil: Grundrechtsbezogene Analyse der Rechtsprechung

zu prüfenden Sachverhalt betont, später aber dennoch Art. 6 I GG als objektive Wertentscheidung mitberücksichtigt, wobei nicht ersichtlich ist, inwiefern die Prüfung und die Kontrollintensität anders ausgefallen wären, wenn Art. 6 I GG von vornherein ohne Art. 3 I GG geprüft worden wäre. Diese Unklarheiten hängen damit zusammen, daß das Bundesverfassungsgericht die Funktion der objektive Komponente des Art. 6 I GG verkennt, die es regelmäßig im Rahmen der Diskriminierungsproblematik für maßgeblich erklärt. Es wurde gezeigt, daß das Gericht mit dem Prüfungsverbund primär das Ziel verfolgt, Art. 6 I GG auch auf solche Sachverhalte zu erstrecken, in denen dieses Grundrecht insbesondere wegen seines persönlichen Schutzbereiches nicht anwendbar wäre. Hier liegt der entscheidende Widerspruch: Das Gericht wendet Art. 6 I GG als objektive Wertentscheidung unabhängig davon an, ob Art. 3 I GG den Rahmen bildet. Sinn und Zweck der Objektivierung des Freiheitsrechts ist es aber gerade, die rein abwehrrechtliche Komponente des Grundrechts zu verstärken und seine Wirkungskraft vor allem in die Bereiche hineinwirken zu lassen, in denen sie allein nicht weiterhilft, die Verweigerung des Grundrechtsschutzes aber nicht akzeptabel wäre. Die Objektivierung der Grundrechte ermöglicht es damit vor allem, auch diejenigen in ihren Genuß kommen zu lassen, die nicht Adressat einer ihre eigenen Grundrechte betreffenden staatlichen Maßnahme sind, bei denen also die klassischen materiellen Eingriffsvoraussetzungen und verfassungsprozeßrechtlichen Anforderungen nicht vorliegen. Damit ist es aber unvereinbar, wenn das Bundesverfassungsgericht Art. 6 I GG als objektive Wertentscheidung isoliert stehend ablehnt, weil sich auf ihn nur Einzelpersonen, nicht auch Personenmehrheiten berufen könnten. Die Objektivierung bewirkt nämlich gerade die Loslösung vom Subjekt und ermöglicht eine Ausstrahlung der Grundrechte auf alle Bereiche, so zum Beispiel bei der Grundsatzentscheidung des Bundesverfassungsgerichts auf die Anwendung des Gewerbesteuergesetzes (GewStG). 282 Des Umweges über Art. 3 I GG bedürfte es damit nicht. Konsequent wäre der Weg des Gerichts nur dann, wenn es Art. 6 I GG als Abwehrrecht angewendet und hätte ablehnen müssen, weil bei einer Personenmehrheit der persönliche Schutzbereich des Grundrechts nicht einschlägig ist und dann zwecks Erweiterung des Grundrechtsschutzes auf die objektiv-rechtliche Komponente ausgewichen wäre. Das aber ist nicht geschehen.

282

Vgl. Pirson in: Bonner Kommentar, Art. 6 Rdnr. 83.

F. Problematisierung der Rechtsprechung

143

II. Rechtsmethodische Kritik

Die soeben beschriebene Unsicherheit hängt auch damit zusammen, daß das Konkurrenzverhältnis zwischen beiden Grundrechten terminologisch nicht endgültig geklärt worden ist. Das Bundesverfassungsgericht bezeichnet Art. 6 I GG immer wieder als "spezielle" Norm, wenn es davon spricht, daß "eine Verletzung der "speziellen" Norm auch ohne gleichzeitige Verletzung der "allgemeinen" denkbar ist." 283 In einem solchen Fall ist aber der Ausdruck "spezielle" bzw. "allgemeine" Norm fehl am Platze, weil die Grundrechte hier gerade thematisch unabhängig voneinander - für die Mengenlehre: außerhalb der Schnittmenge - stehen. Keines verdrängt das andere; vielmehr ist überhaupt nur eines von beiden einschlägig. Das Bundesverfassungsgericht scheint das möglicherweise auch zu erkennen, indem es die Worte "speziell" und "allgemein" auch im Entscheidungstext in Anführungszeichen setzt. Der Ausdruck "Spezialität" (genauer wäre noch konkrete Spezialität284) ist nur dann verwendbar, wenn im konkreten Fall auch eine Tatbestandsüberschneidung vorliegt, die zum Zurücktreten eines der Grundrechte führt. So bezeichnet das Gericht - insofern durchaus zumindest teilweise zu Recht - diese Situation auch als Spezialität, will dann aber abweichend vom Grundsatz des Zurücktretens der Generalnorm danach entscheiden, welches der Grundrechte die stärkere Affinität zum zu prüfenden Sachverhalt hat. Gerade dann liegt aber wieder keine Spezialität mehr vor: Das Grundrecht tritt zurück, weil das andere Grundrecht eine stärkere Beziehung zum Sachverhalt hat, aber nicht, weil das andere Grundrecht den Fall genauso wie das zurücktretende, aber eben spezieller regelt. Das NichtVorliegen von Spezialität wird im übrigen auch daran deutlich, daß bei stärkerer Affinität des Art. 3 I GG der zunächst zurücktretende Art. 6 I GG nachher in der Prüfung wieder auftaucht. Dies ist dann aber ein Grundrechtsverbund, kein Fall der Spezialität. Dieser Ausdruck paßt nur für die - vergleichsweise wenigen - Fälle, in denen Art. 3 I GG trotz thematischer Einschlägigkeit zurücktritt, weil Art. 6 I GG bereits ein besonderes (=spezielles) Diskriminierungsverbot im Bereich von Ehe und Familie enthält. Grundsätzlicher ist das Problem, ob es überhaupt methodisch und strukturell zulässig ist, zwischen Art. 3 I und Art. 6 I GG eine solche Beziehung herzustellen - sei es durch die Annahme von Spezialität des Art. 3 I GG oder durch

283 284

BVcrfGli 13, 290/296Γ. Siehe oben C. II. I.c)aa).

144

Zweiter Teil: Grundrechtsbezogene Analyse der Rechtsprechung

die Verbindung beider. Jeweils stellt sich die Frage, ob damit nicht die Aussagen eines der beiden Grundrechte zu kurz kommen. Diese Gefahr ist natürlich dann besonders groß, wenn Spezialität angenommen oder ein Verbund hergestellt wird, ohne daß die Voraussetzungen für ihr Vorliegen exakt definiert werden. Die Lösung dieser Probleme soll der Neubestimmung des Verhältnisses von Art. 3 I zu Art. 6 1 GG im dritten Teil dieser Untersuchung vorbehalten bleiben. Hier kann aber bereits festgestellt werden, daß neben inhaltlichen auch methodische Unsicherheiten der Rechtsprechung zutagetreten. Dies ist gewiß kein Zufall, da inhaltliche Ungenauigkeiten immer dort entstehen, wo die Methode der Rechtsgewinnung im Dunkeln bleibt.

I I I . Grundrechtliche Funktionsproblematik

Der zweite wichtige Kritikpunkt betrifft die vom Bundesverfassungsgericht verwendete Grundrechtsfunktion des Art. 6 I GG. Zur Erinnerung: Art. 6 I GG weist als objektive Wertentscheidung in der Rechtsprechung gegenüber anderen Freiheitsrechten einige Besonderheiten auf. So dient hier die Objektivierung zwar wie auch sonst der Erweiterung der Grundrechtswirkungen; diese Erweiterung äußert sich aber bei Art. 6 I GG anders als bei anderen Grundrechten in der Verlagerung auf die Gleichheitsebene. Bemerkenswert sind außerdem die ungewöhnlich detaillierten Konsequenzen, die das Gericht aus der objektiven Funktion eines Grundrechts zieht. Der Charakter von Art. 6 I GG als objektive Wertentscheidung ist damit auch unmittelbar für das ungeklärte Verhältnis von Art. 3 I zu Art. 6 I GG von Bedeutung. Dadurch daß Art. 6 I GG mittels der objektiven Komponente zum Gleichheitsrecht wird, tangiert es den Regelungsgegenstand des allgemeinen Gleichheitssatzes und konkurriert mit ihm. Zudem wird so erst die Verbindung von Art. 3 I und Art. 6 I GG erst möglich: Das zunächst unvermittelt mit Art. 3 I im Grundrechtskatalog zusammenstehende Grundrecht Art. 6 I GG beeinflußt als objektive Wertentscheidung die Gleichheitsprüfung und kreiert den Prüfungsverbund Art. 3 I i. V. m. Art. 6 I GG mitsamt seinen ungeklärten Fragen. Die nachfolgenden Ausführungen wollen keine umfassende Auseinandersetzung mit der umstrittenen Figur der objektiven Wertentscheidung leisten; 285 285

Eingehende Kritik vor allem bei Goerlich, Wertordnung und Grundgesetz; Böckenförde NJW 1974, 1529/1533f und Der Staat 7 (1990), Iff sowie Denninger JZ 1975, 545ff; Grabitz, Freiheit und Verfassungsrecht, S. 216ff; Gusy, Parlamentarischer Gesetzgeber, S. 58ff, 76ff;

F. Problematisierung der Rechtsprechung

145

dies gilt auch für die philosophische Diskussion über die Wertbegründung des Rechts.286 Es sollen vor allem einige Aspekte herausgestellt werden, die die Eigenart der objektiv-rechtlichen Argumentation gerade im Zusammenhang mit Art. 6 I GG beleuchten und Unklarheiten aufzeigen, die mit der Rechtsprechung einhergehen. Entsprechend der bisherigen Diktion des Bundesverfassungsgerichts zu Art. 6 I GG geschieht diese Auseinandersetzung anhand des Terminus "objektive Wertentscheidung"; überwiegend werden aber Probleme angesprochen, die allgemein die objektiv-rechtliche Verwendung des Art. 6 I GG betreffen. 287

/. Ableitung

von Rechtsfolgen

aus Werten

a) Fehlende Präzisierung des Wertbegriffs Angesichts der Tatsache, daß das Bundesverfassungsgericht seine gesamte Rechtsprechung auf der Behauptung aufbaut, das Grundgesetz habe eine objektive Wertentscheidung zugunsten von Ehe und Familie getroffen, erstaunt es, daß es dabei mit keinem Wort darauf eingeht, was diesen "Wert" ausmacht und wie es ihn ermittelt. Das Grundgesetz selbst spricht nämlich nicht von einer in sich geschlossenen Wertordnung, sondern es ist das Bundesverfassungsgericht, das bisher zumindest keinem Grundrecht die Verleihung des Prädikats "objektive Wertentscheidung" verweigert hat. Das Gericht geht damit davon aus, daß der Verfassunggeber selbst durch die Aufnahme des Grundrechts die Wertsetzung vorgenommen hat. 288 Dies kann aber nur der Anfang sein; von entscheidendem Interesse wäre die Beschreibung des Vorgangs, mit dessen Hilfe ein Wert verwirklicht und zur Rechtsfindung instrumentalisiert wird, auf welche Art und Weise er also zum Orientierungsrahmen für die rechtsetzenden und -anwendenden Staatsorgane wird.

auch Müller, Juristische Methodik, S. 64ff. Vorher bereits Schmitt. Tyrannei der Werte. S. 37ff; Forsthoff in: Festschrift Schmitt. S. 37ff. - Mindestens genauso stark ist allerdings die Zahl derjenigen, die die Wertformel zumindest akzeptieren: ζ. B. Stern III/l. S. 915 ff ; Häberle. S. 4ff und öfter: Hesse, Verfassungsrecht. Rdnr. 299: Zeiciler. Verhandlungen. I 8f. - Bezogen auf Art. 6 I GG übernimmt auch Moderegger, S. 34ff die Wcrtformel vollkommen kritiklos und deduziert aus ihr sogar einen Vorrang der Familie vor der Ehe (S. 40). 286 Analysen des Wertbegriffs in der Rechtsphilosophie bei Böckenförde, Kritik der Wertbegründung. S. 67ff: Luf in: Festschrift Verdross. S. 127ff. 287 Es sei nochmals darauf hingewiesen, daß die schwankende Wortwahl des Bundesverfassungsgerichts in der Sache keinen Unterschied bedeutet: vgl. oben D. I. 3. b) aa) ( 1) 288 Gusy, Parlamentarischer Gesetzgeber. S. 66. 10 Kingrccn

146

Zweiter Teil: Grundrechtsbezogene Analyse der Rechtsprechung

So unterbleibt auch eine grundsätzliche Auseinandersetzung mit dem Wertbegriff. 289 Schon bei seiner ersten Verwendung wird der Begriff zwar in den Raum gestellt; 290 seine Bedeutung und die Folgen seines Gebrauches bleiben aber unklar, weil der Begriff schon keine terminologische Klärung erfährt. 291 So taucht die Wertargumentation auch in der ersten Diskriminierungsentscheidung, die in dieser Hinsicht später die gesamte einschlägige Rechtsprechung prägen sollte, völlig unvermittelt auf, indem es lapidar heißt: "Art. 6 I GG ist eine wertentscheidende Grundsatznorm." 292 Unter Berufung auf die Grundrechtseffektivität 293 soll diese Funktion den argumentativen Maßstab bilden und insbesondere deutlich machen, daß das Grundrecht über den Charakter der Institutsgarantie hinaus unmittelbar geltendes Recht ist. Dies geschieht durch den Verweis auf das Prinzip des sozialen Rechtsstaats und die Einordnung von Art. 6 I GG in den Grundrechtsteil der Verfassung sowie besonders mittels der Darstellung seiner Entstehungsgeschichte. Am Ende dieses Begründungszusammenhanges steht dann in der Tat der Begriff "Wertentscheidung". Dieser ist damit aber keineswegs dogmatisch genauer zugeschnitten worden, denn das Gericht hat hier nur den Charakter von Art. 6 I GG als aktuell geltendes Recht festgelegt. Mehr als die Abgrenzung zwischen bloßem Programmsatz und aktuell geltendem Recht wollte aber der vom Gericht zitierte Thoma mit seiner Auslegungsregel auch nicht leisten. Er selbst hat daher bezeichnenderweise gesagt, daß es "ein großer Irrtum wäre [...], zu unterstellen, die behauptete Auslegungsregel könne auf die Streitigkeiten über den speziellen Inhalt einer bestimmten Grundrechtsnorm angewendet werden." 294 Eine Vorentscheidung für die eine oder andere Grundrechtsfunktion ist damit also gerade noch nicht gefallen. Es bleibt daher vor allem unklar, warum die Aktivierung des Grundrechts über seinen bloßen Programmcharakter hinaus

289

Schon deshalb ist auch eine Identifikation mit bestimmten wertphilosophischen Positionen - etwa denen von Scheler, insbes. S. 101 ff oder Hartmann , S. 119ff - unzulässig; vgl. Goerlich, Wertordnung und Grundgesetz, S. 18 Fn. 24 und S.141 gegen Harnischfeger, 233f. Gerade die Übernahme der Position von Scheler, aaO, der von einer in sich geschlossenen und strikt fixierten Wertrangordnung ausgeht, wird man dem BVerfG trotz der mißverständlichen Äußerung BVerfGE 7, 198/215 sowieso nicht unterstellen können. 290 BVerfGE 2, 1/12. 291 Eingehende Analyse bei Goerlich, Wertordnung und Grundgesetz, S. 32ff. 292 BVerfGE 6, 55/72. 293 Hier wird R Thoma zitiert, wonach derjenigen Grundrechtsauslegung der Vorzug zu geben sei, "die die juristische Wirkungskraft der betreffenden Norm am stärksten entfaltet." 294 Thoma, S. 13. Kritik zur Verwendung der Formel von Thoma in diesem Zusammenhang auch bei Ehmke VVDStRL 20 (1963), 53/87f und Pestalozza, Der Staat 2 ( 1963), 425/443ff; vgl. auch Sachs in: Stern III/2, S. 64.

F. Problematisierung der Rechtsprechung

147

nicht auch durch die Abwehrfunktion geleistet werden kann. 295 Das Gericht erwähnt diese Grundrechtsfunktion zwar zunächst,296 geht auf sie später aber überhaupt nicht mehr ein. Gerade die Tatsache, daß alle Grundrechte auch unstreitig subjektive Rechte enthalten, ist die entscheidende Neuerung gegenüber dem Weimarer Grundrechtsverständnis und gerade diese Erkenntnis ist auch Ausdruck ihrer aktuellen Geltung. 297 Das subjektive Recht wäre hier daher besonders geeignet gewesen, die Bedeutung von Art. 6 I GG zu illustrieren. Eine terminologische Präzisierung oder Ableitung der Wertformel unterbleibt auch in der Folgezeit; mit dem ständigen Verweis auf diese erste Entscheidung wird aber der Anschein erweckt, als sei dem Grundgesetz per se ein bestimmtes Wertverständnis immanent, das es - einmal grundsätzlich entwickelt - umzusetzen gelte. Der regelmäßige Gebrauch dieses Begriffs verhüllt diese unvollständige Normerkenntnis und läßt damit die rechtsstaatlich geforderte Transparenz der Erkenntnismethode vermissen. 298 Es droht vielmehr die Gefahr "emotionaler Kurzschlußentscheidungen durch Wertevidenzen." 299 Die Problematik spitzt sich durch die dem Wertbegriff selbst anhaftende Unbestimmtheit noch zu, "denn das Spezifische des Werts liegt eben darin, daß er statt eines Seins nur eine Geltung hat." 300 In diesem oft zitierten Satz kommt das Rationalitätsdefizit der Wertbegründung des Rechts in besonderer Weise zum Ausdruck. Werte konstituieren sich erst durch die Behauptung ihres Bestehens, durch die Anerkennung durch das Subjekt. 301 Ihre Setzung ist damit auch das Ergebnis von bestimmten Erfahrungen und Weltanschauungen, deren Einfluß aber durch die Wertbehauptung negiert wird. Rechtsbegründung und -anwendung sind so rational nicht mehr einsehbar; eine Verständigung und Diskussion kann gar nicht erst entstehen.302 Im wissenschaftlichen Begründungszusammenhang wirkt der Wert damit als Fremdkörper, wird er doch gegen nachvollziehbare Kritik abgeschirmt. 303 Werte umgeben sich mit dem

295 296 297 298 299

300

G oerlich, Wertordnung und Grundgesetz, S. 115. BVerfGE 6, 55/71. Vgl. Pieroth Jura 1984, 568/577; Schmidt Jura 1983, 169/174f. Dazu Brüggemann, S. 82ff. Esser, S. 18.

Schmitt, Tyrannei der Werte, S. 55. Denninger JZ 1975, 545/546; Roellecke in: BVerfG und GG II, S. 39ff. 302 Böckenförde, Kritik der Wertbegründung, S. 86f. Podlech AöR 95 (1970), 185/208 nennt die Berufung auf die eigene Werterfahrung "Abbruch der Kommunikation". 303 Goerlich, Wertordnung und Grundgesetz, S. 140 bezeichnet die Wertargumentation als "Arcanum der Verfassungsinterpretation". 301

io*

148

Zweiter Teil: Grundrechtsbezogene Analyse der Rechtsprechung

Anschein der Legitimität, vermögen aber durch die fehlende Nachprüfungsmöglichkeit im Grunde jedes Ergebnis zu rechtfertigen. 304 Das Bundesverfassungsgericht ist dieser Versuchung beispielsweise im LüthUrteil 305 erlegen, in welchem es die Geltung der Grundrechte für alle Bereiche des Rechts festgestellt und diese damit über das Verhältnis Staat - Bürger hinaus ausgedehnt hat. Eine Entscheidung zu der vorher geführten grundrechtsdogmatischen Drittwirkungsdiskussion ist aber unterblieben; das Gericht war der Ansicht, diesen Streit nicht entscheiden zu müssen, weil die Grundrechte eine Wertordnung darstellten und damit für alle Bereiche des Rechts gelten sollten. 306 Für die Drittwirkung der Grundrechte mag es in der Tat gute Gründe geben; die Wertbegründung ist aber verschwommen und bemerkenswert undifferenziert: So unterbleibt durch den Rückgriff auf die Wertformel eine Auseinandersetzung mit dem Verfassungstext, der in Art. 1 III GG nur die öffentliche Gewalt als Grundrechtsverpflichtete nennt. Zudem wird nicht beantwortet, warum nicht bereits das subjektive Freiheitsrecht als Wert verstanden wird und damit die Begründung trägt. Schließlich wird - wie es der Wertbegründung des Rechts immanent ist - eine unterschiedslose Geltung des Werts beansprucht, die Drittwirkung also bejaht, ohne auch nur die Diskussion über die Möglichkeit ihrer Beschränkung auf bestimmte Rechtsbegriffe oder -gebiete aufzugreifen.

b) Minderheit, Kompetenzordnung und Wertordnung Über diese grundsätzlichen Bedenken am Wertbegriff hinaus muß auch die Gefährdung der eigentlichen klassischen Funktion der Grundrechte beachtet werden und zwar insbesondere im Hinblick auf das demokratische Prinzip. Die Wertformel droht die Grundrechte nämlich in eine gefährliche Schieflage zu bringen: Sie, die sie traditionell als Abwehrrechte des einzelnen gegen ungezügelte staatliche Macht gerade unabhängig von bestehenden Mehrheiten fungieren und schützen sollen (damit also auch einen demokratischen, weil minderheitssschützenden Ursprung haben307) werden zu Wertentscheidungen; Werte, die durch tatsächliche oder angebliche Mehrheiten zu solchen gemacht 304

Goerlich, aaO, S. 33; Grabitz, Freiheit und Verfassungsrecht, S. 216; Schlink EuGRZ 1984. 457/463; Böckenförde NJW 1974, 1529/1534 spricht von einer "Verhüllungsformel für richterlichen bzw. interpretatorischen Dezisionismus". 305 BVerfGE 7, 198. 306 BVerfG. aaO. S. 204. 307 Zum Schutz der Minderheit und Opposition als Konstitutionselement der Demokratie Heun. S. 231 ff.

F. Problematisierung der Rechtsprechung

149

werden, werden der Minderheit aufoktroyiert und wirken so für diese freiheitsbeschränkend. 308 Die Wertsetzung der Mehrheit setzt sich gegen vermeintliche Unwerte ab; der Grundrechtsgebrauch droht als Wertverwirklichung im Sinne der Mehrheitsinteressen funktionalisiert zu werden; die Grundrechte bekommen eine dienende Funktion. 309 Nicht der Wille des Individuums, sondern die Bedürfnisse der wertsetzenden Gesellschaft werden zu den bestimmenden Faktoren der Grundrechtsausübung. 310 Mit dem Bezug aller Grundrechtsverbürgungen zum Prinzip der Menschenwürde in Art. 1 I GG ist es aber nicht vereinbar, die Rechte des einzelnen allein über gesellschaftliche und staatliche Interessen zu definieren. 311 Mit der Setzung von Werten erlangt ihr Urheber eine gewisse Meinungsführerschaft, denn Werte wollen verwirklicht werden; dadurch getroffene Entscheidungen müssen vollzogen werden. Da das Bundesverfassungsgericht selbst als wertsetzende Instanz fungiert, tritt es auf diesem Weg rechtsschöpfend neben die parlamentarische Rechtsbildung. Damit ist der Weg in den Kompetenzverlust des Gesetzgebers jedenfalls dann vorgezeichnet, wenn das Gericht aus allen Wertentscheidungen der Verfassung so konkrete Folgen ableitet wie bei Art. 6 I GG. 312 Ist nämlich ein Wert als solcher vom Bundesverfassungsgericht einmal erkannt, so hat die Legislative ihn unabhängig vom konkreten Kontext zu verwirklichen. 313 Die Gestaltungsalternativen des Gesetzgebers und der Einfluß des Staatsvolkes nehmen ab. 314 Es droht das

308

Vgl. auch Gusy, Parlamentarischer Gesetzgeber, S. 82f. In diese Richtung tendiert der utilitaristische Freiheitsbegriff: Vgl. Mill, bes. S. 23ff. 310 Böckenförde NJW 1974, 1529/1533f. 311 Vor einer Freiheitsgefahrdung durch die mit der Objektivierung drohende Instrumentalisierung eines Grundrechts ist beispielsweise bei Art. 5 12, I. Var. GG gewarnt worden. Anlaß waren die Worte des Bundesverfassungsgerichts von der "öffentlichen Aufgabe" der Presse (BVerfGE 20, 162/175), aber auch allgemein die Entwicklung einer institutionellen Garantie der Presse. In der Tat zeigt sich hier besonders deutlich, wie - von wem auch immer behauptet - kollektive Interessen funktionalisiert werden und freiheitsbeschränkend wirken können; kritisch daher auch Bullinger in: Handbuch des Staatsrechts Bd. VI, § 142 Rdnrn. 66, 79, 81; Klein DVB1 1994, 489/494; Papier Der Staat 18 (1979), 422/43Iff; Scheuner VVDStRL 22 (1965), 1/74 f. 312 Nach Jeand' Heur JZ 1995, 161/167 ist die Funktionserweiterung aus kompetentieller Sicht so lange unschädlich, wie sie mit dem abwehrrcchtlichcn Grundrechtskern konform geht. Dies ist bezogen auf das angewendete Grundrecht selbst richtig; die Objektivierung kann aber im Kollisionsfall auch andere Grundrechte beeinflussen. Es muß daher auch untersucht werden, ob sie nicht zu einer ungerechtfertigten Verkürzung anderer, in ihren Strukturen klarerer Freiheitsbzw. Gleichheitsrechte führt. Genau dies ist hier - in Form eines Behandlungskonflikts (dazu im 3. Teil Λ. III., Ε. II.) - der Fall. 313 Gusy, Parlamentarischer Gesetzgeber, S. 76. 309

3,4

Gusy, aaO, S. 78.

150

Zweiter Teil: Grundrechtsbezogene Analyse der Rechtsprechung

"Fortschreiten zum verfassungsgerichtlichen Judikationsstaat."315 Auch insoweit ist also das demokratische Prinzip betroffen, weil mit der Wertsetzung des demokratisch nicht unmittelbar legitimierten Bundesverfassungsgerichts die sich ansonsten in der Parlamentsmehrheit ausdrückenden Interessen übergangen zu werden drohen. Sobald das Gericht die von ihm gesetzten Werte in Gefahr sieht, gerät es in die Rolle des Souffleurs des Gesetzgebers, der den vorgegebenen, wertorientierten Text vergessen hat. 316 Diese Befürchtungen werden durch Äußerungen des Bundesverfassungsgerichts selbst noch verstärkt: Danach sollen die Grundentscheidungen der Verfassung Gestaltung und Auslegung der gesamten Rechtsordnung bestimmen. Daran könne auch ein "allgemeiner Wandel der hierüber in der Bevölkerung herrschenden Anschauungen - falls er überhaupt festzustellen wäre [...] nichts ändern." 317 Die vielgepriesene Verstärkung subjektiver Rechte durch die Objektivierung der Grundrechte ist hier zum Bumerang in Form einer Freiheitsverkürzung geworden 318 und das immer wieder betonte judicial selfrestraint auf der Strecke geblieben.319 2. Verfassungsprozeßrechtliche

Aspekte

Über die materiell-rechtliche Dimension hinaus verursacht die Objektivierung von Art. 6 I GG aber auch auf der prozessualen Ebene Schwierigkeiten, über die das Bundesverfassungsgericht zu selbstverständlich hinweggeht. a) Die Verfassungsbeschwerde als individuelles Rechtsschutzverfahren mit objektiver Funktion Die Problematik betrifft die Judikate, die auf einer Verfassungsbeschwerde (Art. 93 I Nr. 4a GG) beruhen. Dabei sind zwei Zulässigkeitsvoraussetzungen dieses Verfahrens von besonderem Interesse, die dem Charakter der Verfassungsbeschwerde als individuelles Rechtsschutzverfahren Ausdruck verleihen: Eine dieser Voraussetzungen ist die Beteiligtenfähigkeit des Beschwerdeführers, die gemäß § 90 I BVerfGG voraussetzt, daß dieser Träger der in der 315

Böckenförde, Der Staat 29 (1990), 1/25, 29. Deutlich in BVerfGE 39, Iff. 317 BVerfGE 39, 1/67. Die Tatsache, daß Verfassungsgerichte anderer Staaten aus dem dort aufgestellten "Höchstwert"ganz andere Konsequenzen ziehen (Nachweise im Minderheitsvotum, aaO, S. 73f.), wirft ein deutliches Licht auf die Problematik. 318 Vgl. Jeand'HeurJZ 1995, 161/164. 319 Kritisch daher auch Hesse in: Festschrift H. Huber, S. 270. 316

F. Problematisierung der Rechtsprechung

151

Vorschrift genannten Grundrechte sein kann. Damit wird auf den personalen Umfang der Grundrechte, also auf die Grundrechtsfähigkeit verwiesen. 320 Es können daher auch innerhalb des Grundrechtsabschnitts nur die Bestimmungen gerügt werden, die subjektive Rechte vermitteln. 321 Die andere hier relevante Zulässigkeitsvoraussetzung ist die Beschwerdebefugnis, die unter anderem die Selbstbetroffenheit des Beschwerdeführers erfordert. Es muß zumindest die Möglichkeit bestehen, daß er auch tatsächlich in eigenen Grundrechten betroffen ist; eine Prozeßstandschaft scheidet aus.322 Die Verfassungsbeschwerde ist folglich kein objektives Beanstandungsverfahren; 323 Ausgangspunkt muß immer die mögliche Verletzung eigener Grundrechte sein, was allerdings nach der Rechtsprechung nicht ausschließt, daß auf diesem Wege auch objektives Verfassungsrecht geprüft wird. 324 Hierin liegt auch das zentrale prozeßrechtliche Problem der auf der Verfassungsbeschwerde beruhenden Diskriminierungsentscheidungen. b) Art. 6 I GG als objektives Recht in einem subjektiven Rechtsschutzverfahren Fraglich ist zunächst, wie sich das Auftreten von Art. 6 I GG in objektivem Gewand mit dem Charakter der Verfassungsbeschwerde als individuelles Rechtsschutzverfahren verträgt. Dieser Gesichtspunkt betrifft die Entscheidungen, die allein Art. 6 I GG anwenden; in den Fällen der Kombination von Art. 6 I mit Art. 3 I GG übernimmt ja letzterer den Part als subjektives Recht. 325 Diese Kombination macht andere, danach zu besprechende verfassungsprozeßrechtliche Probleme. 326

320

BVerfGE 21, 362/368f; Pieroth/Schlink, Rdnr. 1203; Benda/Klein, Rdnr. 362; eingehend zur Grundrechtsfähigkeit von Mutius Jura 1983, 30ff. 321 Kley in: Umbach/Clemens, § 90 Rdnr. 43. 322 BVerfGE 20, 162/172; 25, 256/263; 77, 122/131: 77, 263/268; 79, 1/19; Kley, aaO. Rdnr. 51; Pieroth in: Jarass/Pieroth, Art. 93 Rdnr. 43; Gusy. Verfassungsbeschwerde, Rdnrn. 102, 107. 323 Kley, aaO, Rdnrn. 2f. 324 BVerfGE 33, 247/259; 45, 63/74; 51, 130/139; eingehend zur objektiven Funktion der Verfassungsbeschwerde Klein DÖV 1982,191 ff. 325 Zum Charakter von Art. 3 I GG als subjektiv-öffentliches Recht BVerfGE 40, 296/318 und aus der Literatur beispielsweise Gubelt in: von Miinch/Kunig, Art. 3 Rdnr. 2. 326 Unten bb).

152

Zweiter Teil: Grundrechtsbezogene Analyse der Rechtsprechung

aa) Resubjektivierung

von Art. 61 GG?

Zunächst also zu der Frage, ob Art. 6 I GG auch als objektives Recht die genannten Zulässigkeitsvoraussetzungen erfüllen kann. Dazu muß man sich zunächst vergegenwärtigen, daß die grundrechtsdogmatischen Grundlagen der Rechtsprechung nicht aus Anlaß von Verfassungsbeschwerden, sondern durch Aussetzungsbeschlüsse von Instanzgerichten im Wege der konkreten Normenkontrolle (Art. 100 I GG) gelegt wurden. 327 Diese Richtervorlagen unterscheiden sich aber in ihren Voraussetzungen grundlegend von der Verfassungsbeschwerde, sind sie doch auf objektive Beanstandung einer Rechtsnorm gerichtet. Ausreichend ist daher die Überzeugung des vorlegenden Gerichts von der Verletzung objektiven Verfassungsrechts, also auch der objektiven Grundrechtsgehalte. 328 Trotz dieses fundamentalen Unterschiedes werden die in diesem Verfahren entwickelten Grundsätze später ohne jegliche Problematisierung auf die Verfassungsbeschwerde übertragen, 329 für deren Zulässigkeit die Behauptung der Verletzung einer subjektiven Rechtsposition erforderlich ist. Diese Rechtsprechung ist erstaunlich; schließlich ist die Ableitung subjektiver Rechte aus den objektiv-rechtlichen Gehalten keineswegs selbstverständlich, sondern gehört vielmehr "zu den umstrittensten Problemen der Lehre von der objektiv-rechtlichen Seite der Grundrechte." 330 Deshalb hat sich auch das Bundesverfassungsgericht zunächst ausgesprochen schwer mit der Rückverwandlung der objektiv-rechtlichen Funktion in ein subjektives Recht getan;331 auch in der Literatur hat sich noch keine eindeutige und gefestigte Rechtsauffassung zu dem Thema gebildet. 332 Die Diskriminierungsentscheidungen leiten aber aus Art. 6 I GG als objektiver Wertentscheidung teilweise detaillierte subjektive Wirkungen ab, ohne sich den anderenorts auftretenden Schwierigkeiten zu widmen. Dies hängt aber nicht mit der bereits genannten Tatsache zusammen, daß die Grundsatzentscheidungen im Normenkontrollverfahren ergingen, sondern vor allem damit, daß sich der aus Art. 6 I GG gezogene objektive Gehalt insgesamt noch * 27 BVerfGE 6. 55; 13.290. * 28 f J Isomer in: Maunz/Schmidt-Bleibtreu. $ 80 Rdnrn. 132, 143. 329 Erstmals bereits in BVerlGE 13, 318. wo aul'die Grundsatzentscheidung BVerfGE 13, 290 vom gleichen Tag Bezug genommen wird. 330 Stern III/l, S. 978: Kritik an der Resubjektivierimg beispielsweise bei Hermes, S. 11 Of und Scherzberg. S. 1671'. 331 Vgl. oben I). I. 3. b)cc). 332 Übersicht über den Meinungsstand bei Stern lll/l. S. 979f.

F. Problematisierung der Rechtsprechung

153

im Dunstkreis der Abwehrfunktion befindet. Als Anknüpfungspunkt kann regelmäßig ein staatliches - nämlich Ehe oder Familie diskriminierendes Handeln verwendet werden. In den meisten Fällen muß nicht - wie bei der Schutzpflicht - die Reduzierung mehrerer staatlicher Handlungsmöglichkeiten auf eine Handlungspflicht untersucht werden. 333 Das subjektive Recht auf ein staatliches Unterlassen macht eben nach dem traditionellen Verständnis von den Grundrechten als Abwehrrechten weniger Schwierigkeiten als die Konstruktion eines individuellen Anspruchs auf staatliches Handeln. Dem Bundesverfassungsgericht ist also zuzugeben, daß sich die Probleme der Resubjektivierung nicht in dem Ausmaß stellen wie beispielsweise bei der Schutzpflicht. Dennoch ist das Fehlen dieses gedanklichen Schrittes hier zu monieren. Wäre er allerdings erfolgt, hätte sich das Gericht fragen lassen müssen, warum es nicht gleich das Grundrecht als Abwehrrecht eingesetzt hat, anstatt den Umweg über die objektive Komponente zu nehmen. Dies hätte zu einer problemloseren Bejahung der Beteiligtenfähigkeit und der Beschwerdebefugnis geführt. Unklar bleibt, welchen Sinn die Unterscheidung zwischen subjektivem und objektivem Recht bei Art. 6 I GG angesichts kongruenter Rechtsfolgen noch hat. 334 bb) Erweiterung

von Art. 61 GG auf Nichtgrundrechtsträger?

Die eigentlichen Probleme bei diesen beiden Zulässigkeitsvoraussetzungen treten aber dort auf, wo das Bundesverfassungsgericht Art. 3 I und Art. 6 I GG miteinander verbindet, um den Kreis der Grundrechtsberechtigten zu erweitern. 335 Dies gilt zum Beispiel für Personenmehrheiten, 336 für die die Grundrechte nach Art. 19 III GG nur gelten, soweit diese wesensmäßig auf sie anwendbar sind. Dies ist bei Art. 6 I GG aufgrund seines auf natürliche Personen zugeschnittenen Schutzgehalts unstreitig nicht der Fall, was auch das Bundesverfassungsgericht zugibt, 337 daraus aber freilich den Schluß zieht, nunmehr müsse Art. 6 I GG über Art. 3 I GG zum Zuge kommen. Ob auf diesem Wege

333

Anders sieht es natürlich aus, wenn die Beschwerdeführer nicht nur eine Belastung monieren, sondern eine Begünstigung erstreben (vgl. BVerfGE 17, 210/217ff; 28, 324/346ff). 334 Diese Frage stellt - allerdings in allgemeinerer Form - auch Scherzberg, S. 167ff. Bei keinem Grundrecht wird das Problem freilich so virulent wie bei Art. 6 I GG, vermag doch kein in seiner objektiv-rechtlichen Funktion verwendetes Grundrecht so detailliert und selbstverständlich subjektive Wirkungen zu entfalten. 335 In dieser Hinsicht unproblematisch sind hingegen die Judikate, die den Grundrechtsverbund aus anderen Gründen (ζ. B. widerstreitende Rechtspositionen) verwenden; vgl. oben D. II. 1. 336 BVerfGE 13, 290/297Γ. 337 BVerfG, aaO, S. 298.

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Zweiter Teil : Grundrechtsbezogene Analyse der Rechtsprechung

eine dem Beschwerdeführer ansonsten nicht zugängliche Verfassungsnorm zur Anwendung gebracht werden darf, soll im folgenden untersucht werden. (1) Brückenfunktion von Art. 2 I GG in der Rechtsprechung Nun könnte dieser Schritt im Sinne der genannten Rechtsprechung, die die Verfassungsbeschwerde zugleich als "spezifisches Rechtsschutzmittel des objektiven Verfasssungsrechts" 338 charakterisiert, eigentlich unproblematisch sein. Im Rahmen der Freiheitsrechte wird nämlich häufig geprüft, ob die öffentliche Gewalt durch den Grundrechtseingriff sonstige Verfassungsnormen außerhalb der Grundrechte verletzt hat. Ihren Anfang nahm diese Rechtsprechung bei Art. 2 I GG. 3 3 9 Dieses Grundrecht schützt nach der Rechtsprechung bekanntermaßen nicht einen bestimmten Lebensbereich, sondern jedes menschliche Verhalten und soll damit ein "Grundrecht des Bürgers, nur aufgrund solcher Vorschriften mit einem Nachteil belastet zu werden, die formell und materiell der Verfassung gemäß sind", sein. 340 Nicht verfassungsgemäße Normen sind danach nicht Bestandteil der Schranke "verfassungsgemäße Ordnung", können also einen Eingriff in Art. 2 I GG nicht rechtfertigen. Auf diese Weise konnte sogar die mangelnde Gesetzgebungskompetenz341 oder der Verstoß gegen das Rechtsstaatsprinzip 342 gerügt werden. Diese Entwicklung beschränkte sich aber alsbald nicht mehr auf Art. 2 I GG, 343 so daß man mittlerweile davon ausgehen darf, daß kein Grundrecht durch hoheitliche Akte einschränkbar ist, die gegen Normen des Grundgesetzes verstoßen. 344 Festzuhalten bleibt somit, daß die grundsätzliche Verfassungsfrage nicht unbedingt eine Grundrechtsfrage sein muß, das Grundrecht also nur als Aufhänger gebraucht wird, um auch objektives Verfassungsrecht auf den Prüfstand zu bringen. Diese Rechtsprechung hat insbesondere im Verhältnis zur Zuständigkeit der Fachgerichte erhebliche Schwierigkeiten ausgelöst. Mit diesem umfassenden Schutzanspruch wurde nämlich die Frage aufgeworfen, ob das Bundesverfassungsgericht unter dem Gesichtspunkt des rechtsstaatlichen Grundsatzes des Vorrangs des Gesetzes auch die falsche Anwendung einfachen Rechts zu sank-

338

BVerfGE 33, 247/259; 45, 63/74; 51, 130/139. Grundlegend BVerfGE 6, 32/36ff. 340 BVerfGE 29, 402/408. 341 BVerfGE 38, 28 l/298f. 342 BVerfGE 74, 129/151 f. 343 Zu Art. 12 I GG ζ. B. BVerfGE 9, 83/87f; 51, 166/173f; zu Art. 14 I GG BVerfGE 24, 3 67/3 84f; 62, 169/181. 344 Pestalozzi Verfassungsprozeßrecht, § 12 Rdnr. 32. 339

F. Problematisierung der Rechtsprechung

155

tionieren habe.345 Diesem Problem hat das Bundesverfassungsgericht dadurch aus dem Weg zu gehen versucht, daß es seine Prüfungskompetenz auf die Verletzung "spezifischen Verfassungsrechts" beschränkt hat. 346 Dieser Eingrenzungsversuch gilt wegen seiner Leerformelhafitigkeit aber heute als gescheitert und taucht auch in der neueren Rechtsprechung kaum noch auf. 347 Vielmehr tastet sich das Gericht meist fallweise jenseits aller Dogmatik vor, um sich eine gewisse Flexibilität zu erhalten; die Ausdehnung des Prüfungsumfangs wird heute vor allem von der "Intensität der Grundrechtsbeeinträchtigung" abhängig gemacht.348 Auch in der Literatur sind zahlreiche Abgrenzungsversuche gestartet worden, um einen Mittelweg zwischen dem Wunsch nach Gewährleistung effektiven Grundrechtsschutzes einerseits und der Begrenzung der Kompetenz des Bundesverfassungsgerichts gegenüber den Fachgerichten andererseits zu finden. 349 Insgesamt bleibt hier eine erhebliche Rechtsunsicherheit, und so kann auch der etwas resignative Schluß eines in verfassungsgerichtlichen Verfahren erfahrenen Anwalts nicht verwundern, daß derzeit "kein verantwortungsbewußter Berater [...] eine Prognose dafür geben [kann], ob das Bundesverfassungsgericht die Verletzung spezifischen Verfassungsrechts bejahen, die Verfassungsbeschwerde also auch nur für zulässig halten wird." 3 5 0 (2) Brückenfunktion des Art. 3 I GG? Fraglich ist, ob dem allgemeinen Gleichheitssatz (Art. 3 I GG) eine ähnliche Brückenfunktion wie der allgemeinen Handlungsfreiheit (Art. 2 I GG) zugestanden werden kann, ob also das Grundrecht als Hebel zur Erschließung von Verfassungsrechtssätzen verwandt werden darf, auf die sich der Beschwerde-

345

Eingehende Problemdarstellung bei Schenke, S. 27ff. BVerfGE 18, 85/92. 347 Vgl. Zuck, Verfassungsbeschwerde, Rdnr. 473; Bender, S. 96ff; Papier in: BVerfG und GG I, S. 450; Klein DÖV 1982, 797/802. 348 BVerfGE 42, 143/148f; 66, 116/131 (wo eine an der Intensität des Grundrechtseingriffs orientierte Stufentheorie entwickelt wird); berechtigte Kritik bei Scherzberg, S. 85f, der darauf hinweist, daß damit kein eindeutiger Maßstab für die grundrechtliche Regelungskraft erkennbar wird. 349 Ζ. B. bei Bernhardt JZ 1963, 302/307 ("eigentümliche Position des Klägers"); Zuleeg DVB1 1976, 509/517 ("schutzwürdige Belange"); Übersicht über einige weitere Versuche der Begrenzung des Prüfungsumfangs bei Schiaich, Rdnrn. 301 ff und Steinwedel, S. 64ff Insgesamt kritisch gegenüber der Ausdehnung von Art. 2 I GG: Erichsen in: Handbuch des Staatsrechts Bd. VI, § 152 Rdnrn. 17ff, 47ff sowie Krebs, Kontrolle, S. 83ff und bereits ders., Vorbehalt des Gesetzes, S. 3 5 ff. 350 Zuck, Verfassungsbeschwerde, Rdnr. 473. 346

156

Zweiter Teil: Grundrechtsbezogene Analyse der Rechtsprechung

führer isoliert gesehen nicht berufen könnte. Dagegen bestehen gewichtige Bedenken: Angesichts der immensen Abgrenzungsschwierigkeiten durch die Erweiterung des Prüfungsumfangs im Rahmen der Freiheitsrechte drängt sich ein ähnliches Vorgehen bei Art. 3 I GG nicht gerade auf; davon ganz abgesehen hat die Verbindung von Art. 3 I und Art. 6 I GG aber eine ganz neue Qualität. Während bei den Freiheitsrechten objektives Verfassungsrecht außerhalb des Grundrechtsabschnitts geprüft wird (für das es keine Aussagen über die Möglichkeit der Geltendmachung innerhalb der Verfassungsbeschwerde gibt bis auf die, daß der Aufhänger ein eigenes subjektives Recht sein muß, Art. 93 I Nr. 4a GG), wird hier ein Grundrecht objektiviert und in die Prüfung integriert. Das Pikante an dieser Verbindung ist nun die Tatsache, daß es sich bei Art. 6 I GG um ein Grundrecht handelt, auf das sich der Kläger an sich gar nicht berufen kann, dieses Grundrecht aber die Prüfung ganz entscheidend prägt. Man kann sogar sagen, daß überhaupt kein Unterschied in Prüfungsumfang und -intensität gegenüber den Entscheidungen erkennbar ist, die Art. 6 I GG allein anwenden: In beiden Fällen gründet sich die Verfassungswidrigkeit maßgeblich auf die an die Ehe anknüpfenden nachteiligen Regelungen. Entscheidend ist nicht der Verstoß gegen Art. 3 I GG; dieser hat nur eine Hilfsfunktion. 351 Hier zeigt sich eine neue Dimension gegenüber der Brückenbildung bei Art. 2 I GG, denn es werden grundlegende Entscheidungen im System der Grundrechte mißachtet. Sie betreffen materiell-rechtlich den persönlichen Schutzbereich der Grundrechte, also die Grundrechtsfähigkeit, deren prozeßrechtliches Pendant die schon genannten Zulässigkeitsvoraussetzungen der Verfassungsbeschwerde, die Beteiligtenfähigkeit und die Beschwerdebefugnis, sind. Das Grundgesetz spricht hier eine deutliche Sprache: In Art. 93 I Nr. 4a GG ist vom Erfordernis der Behauptung "durch die öffentliche Gewalt in einem seiner Grundrechte" verletzt zu sein, die Rede. Hier macht aber die Personenmehrheit die Verletzung des Grundrechts eines seiner Gesellschafter geltend, ist also selbst in diesem Grundrecht gar nicht betroffen. Auch das Bundesverfassungsgericht selbst hat bekanntermaßen wiederholt eine derartige Prozeßstandschaft abgelehnt.352 Eindeutig umgangen wird ferner Art. 19 III GG (zu dem es außerhalb der Grundrechte kein Pendant gibt!): Wenn dort die wesensmäßige Anwendbarkeit eines Grundrechts gefordert wird, dann kann dies für 351

Jarass AöR 110 (1985), 363/375, der zutreffend darauf verweist, daß sich die inhaltliche Irrelevanz von Art. 3 I GG schon daran zeigt, daß nach Ansicht des Gerichts eine Besserstellung von Verheirateten unbedenklich wäre (BVerfGE 6, 55/76). 352 Nachweise oben Fn. 322.

G. Zwischenbilanz

157

den Fall der Verneinung seiner Voraussetzungen nur so verstanden werden, daß dieses Grundrecht weder in seiner subjektiven noch in seiner objektiven Funktion zugunsten des Beschwerdeführers zum Einsatz kommen darf. 353 Anderenfalls würde diese Einschränkung genauso leerlaufen wie die Beschränkung des persönlichen Schutzbereichs bei den einzelnen Grundrechten. Dies gilt in besonderem Maße dann, wenn aus dem Grundrecht über diesem Umweg genauso detaillierte Folgerungen gezogen werden wie zugunsten derjenigen Beschwerdeführer, die Träger des Grundrechts sein können.

G. Zwischenbilanz Nachdem die Judikatur des Bundesverfassungsgerichts zur Diskriminierung von Ehe und Familie und zur verfassungsrechtlichen Stellung der nichtehelichen Lebensgemeinschaft ausgewertet, analysiert und problematisiert wurde, sollen als Übergang zum dritten Teil dieser Untersuchung die Erkenntnisse des zweiten Teils noch einmal zusammengefaßt und die Konsequenzen für den Fortgang der Untersuchung dargestellt werden.

I. Zusammenfassung 1. Grundrechtskonkurrenz

zwischen Art. 31 und Art. 61G G

Die einschlägige Judikatur des Bundesverfassungsgerichts läßt sich - wenn auch mit Schwierigkeiten - in drei Gruppen unterteilen: Es gibt Entscheidungen, die allein Art. 6 I GG als Prüfungsmaßstab verwenden, aber auch solche, die Art. 3 I und Art. 6 I GG verbinden. In der dritten Gruppe werden Entscheidungen zusammengefaßt, die allein Art. 3 I GG anwenden. Diese Gruppenbildung zeigt ein Konkurrenzverhältnis zwischen Art. 3 I und Art. 6 I GG, das das Bundesverfassungsgericht insbesondere dadurch zu lösen versucht, daß es prüft, welches der Grundrechte zum vorgelegten Sachverhalt die stärkere sachliche Beziehung hat. Dabei kommt es entscheidend darauf an, ob die zu prüfenden Regelungen allein Eheleute treffen (die sich direkt auf Art. 6 I GG berufen können) oder ob in diesem Bereich Personen oder Personen-

353

Auch in der Literatur wird die Nichtanwendbarkeit von Art. 6 I GG auf Personenvereinigungen ganz selbstverständlich bejaht; vgl. ζ. B. Krebs in: von Miinch/Kunig, Art. 19 Rdnr. 34; Rüfner in: Handbuch des Staatsrechts Bd. V, § 116 Rdnr. 37.

158

Zweiter Teil: Grundrechtsbezogene Analyse der Rechtsprechung

gruppen denkbar sind, die zwar gleichfalls betroffen sind, an deren Ehe aber nicht angeknüpft wird oder die gar nicht Träger des Grundrechts sein können. In diesem Fall besteht zwar ein Vorrang von Art. 3 I GG; dennoch wird Art. 6 I GG im Rahmen der Gleichheitsprüfung mitberücksichtigt. Unklar bleibt allerdings, ob sich diese Abgrenzung an der abstrakten Möglichkeit der Drittbetroffenheit oder an der konkreten Beeinträchtigung einer Rechtsposition eines Dritten orientiert.

2. Art. 61 GG als besonderes und objektive

Diskriminierungsverbot

Wertentscheidung

Die Tatsache, daß Art. 6 I GG als objektive Wertentscheidung alleinstehend zu einem gegenüber Art. 3 I GG speziellen Diskriminierungsverbot von Ehe und Familie entwickelt wurde, ist eine Erkenntnis von zentraler Bedeutung. In dieser Eigenschaft wurden bei Art. 6 I GG neue Grundrechtswirkungen entdeckt, die in jeder Hinsicht - bis hin zur Möglichkeit eines Teilhaberechts einem Gleichheitsrecht ähneln. Untrennbar mit diesen besonderen Gleichheitswirkungen des Freiheitsrechts Art. 6 I GG verbunden ist dessen Qualifizierung als objektive Wertentscheidung. Die Einordnung in das System objektiver Grundrechtsgehalte ist freilich nicht einfach, weil sich Art. 6 I GG als objektive Wertentscheidung von anderen, so bezeichneten Grundrechten unterscheidet. Bei keinem anderen Grundrecht geht es schließlich um die Transformation eines Freiheits- in ein Gleichheitsrecht; kein anderes Grundrecht vermag als objektive Wertentscheidung derart detaillierte Konsequenzen auszulösen. Insofern befindet sich Art. 6 I GG als objektive Wertentscheidung noch "im Bannkreis der Abwehrfunktion" 354 und fungiert als Verbot relativer Schlechterstellung der Ehe.

3. Der Prüfungsverbund

Art. 3 I i. V. m. Art. 61 GG

Diese Besonderheiten setzen sich beim Prüfungsverbund Art. 3 I i. V. m. Art. 6 I GG fort. Bei anderen Freiheitsrechten dient die Verbindung mit dem allgemeinen Gleichheitssatz regelmäßig der Intensivierung der Gleichheitsprüfung; erst so wird auch das Freiheitsrecht auf die komparative Ebene verlagert. Dies ist nach der Rechtsprechung bei Art. 6 I GG gar nicht erforderlich, da dieser bereits alleinstehend vergleichende Wirkung hat. Vielmehr soll mit Hilfe des

354

Jarass AöR 110 (1985), 363/374.

G. Zwischenbilanz

159

Prüfungsverbundes eine Hebelwirkung erzielt werden. Über Art. 3 I wird Art. 6 I GG auch auf Sachverhalte anwendbar, in denen nicht unmittelbar Träger dieses Grundrechts betroffen sind. Hier lassen sich auch interessante Parallelen zu einem anderen besonderen Gleichheitsrecht, Art. 6 V GG, aufzeigen. Der Grundrechtsverbund dient also nicht der Intensivierung der gerichtlichen Kontrolle, sondern der Erweiterung subjektiver Rechtspositionen.

4. Problematische

Aspekte

Im Laufe der Analyse der Rechtsprechung sind zwei zentrale, miteinander zusammenhängende Problembereiche aufgetreten. Zum einen hat die Untersuchung der einschlägigen Judikate erhebliche Unklarheiten im Verhältnis von Art. 3 I zu Art. 6 I GG ergeben. Schon die Voraussetzungen für den Vorrang von Art. 6 I GG sind unklar; gänzlich aus dem System fallende Entscheidungen machen die Aufstellung von Regeln praktisch unmöglich. Das Bundesverfassungsgericht scheint der genaueren Bestimmung des grundrechtlichen Maßstabes gerade in neueren Entscheidungen keine besondere Bedeutung mehr beizumessen, weil es aus der isolierten Anwendung des objektiven Art. 6 I GG genau die gleichen Schlüsse zieht wie aus dem Prüfungsverbund. Untrennbar damit verbunden ist die Kritik an der Verwendung von Art. 6 I GG als objektive Wertentscheidung. Zum einen wird erst dadurch der Prüfungsverbund möglich, und zum anderen wird Art. 6 I GG durch die Objektivierung zum besonderen Gleichheitssatz und tangiert damit den Regelungsgegenstand von Art. 3 I GG, was zu einem problematischen Konkurrenzverhältnis zwischen den beiden Grundrechten führt. Es wurde zudem gezeigt, daß die Argumentation mit Werten zu Scheinbegründungen führt und eine rational nachvollziehbare Methode der Rechtsbegründung und -anwendung vermissen läßt. Auch ein verfassungsprozeßrechtliches Problem wurde dabei offenbar: Durch die Verbindung von Art. 3 I und Art. 6 I GG in Verfassungsbeschwerdeverfahren werden verfassungsrechtliche Bestimmungen (Art. 19 III, 93 I Nr. 4a GG) jedenfalls dann umgangen, wenn auf diesem Wege auch Nichtgrundrechtsträger unter maßgeblichem Einfluß von Art. 6 I GG beim Bundesverfassungsgericht Erfolg haben. Dieser letzte Einwand wiegt besonders schwer, wenn man bedenkt, daß das Bundesverfassungsgericht die komplizierte Abgrenzung zwischen Art. 3 I und Art. 6 I GG gerade aufgestellt hat, um Art. 6 I GG auch für Nichtgrundrechtsträger fruchtbar zu machen.

160

Zweiter Teil: Grundrechtsbezogene Analyse der Rechtsprechung II. Konsequenzen für den Fortgang der Untersuchung I. Freiheit

und Wert der Ehe

a) Die Gefahr der Polarisierung durch Wertsetzung Die Tatsache, daß die Wertbegründung per se Begründungsdefizite aufweist, wird bei Art. 6 I GG in besonders zugespitzter Form offenbar, weil dort mit der Ehe nur ein besonderes Institut unter vielen möglichen Lebensformen geschützt wird. Das Grundgesetz schützt zwar grundsätzlich jeden Glauben und jede Meinung, es greift aber nur eine menschliche Verbindung als besonders schützenswert heraus. Das ist zwar vor dem Hintergrund der Entwicklung des 19. und den ersten 70 Jahren des 20. Jahrhunderts verständlich; 355 die Wertsetzung droht aber zu polarisieren und Gräben aufzuwerfen, weil die Ehe nicht mehr die einzige - gesellschaftlich und verfassungsrechtlich - anerkannte besondere Lebensgemeinschaft darstellt. Wird das Gebrauchmachen von der Freiheit des Art. 6 I GG gleichzeitig als wertverwirklichender Freiheitsgebrauch verstanden, so droht die Gefahr, daß die Freiheit, dieses Grundrecht gerade nicht zu gebrauchen und in nichtehelicher Lebensgemeinschaft zu leben, als wertgefährdend und damit nicht schützenswert angesehen wird. 3 5 6 Hierin drückt sich eine Intoleranz gegenüber einer immer stärker werdenden Minderheit aus, die sich nur schwer verträgt mit der demokratischen Wurzel der Grundrechte als dem staatlichen Zugriff prinzipiell vorausliegende Freiheitsgewährleistung 357 - unabhängig von bestehenden Mehrheiten. Die Wertsetzung begründet auf diese Art und Weise eine grundrechtliche Rangordnung, die notwendigerweise auch die Güterabwägung im Kollisionsfall beeinflussen müßte. Eine Kollisionslösung aber kann sich nicht am abstrakten Rang eines Grundrechts orientieren, 358 sondern muß den Grad der individuellen Betroffenheit und - besonders hier - die Gemeinsamkeiten und Unterschiede bezogen auf den konkreten Sachverhalt herausarbeiten. Geschieht dies nicht, vermag die Berufung auf den verfassungsrechtlichen Wert "Ehe" im Grunde jede wie auch

355

Daß als Grund für den Exklusivschutz der Ehe hingegen nicht umfassend die geschichtliche Entwicklung von Ehe und nichtehelicher Lebensgemeinschaft zugrundegelegt werden kann, hat sich im 1. Teil Α. I., II. gezeigt. 356 Vgl. Merten VerwArch 73 (1982), 103/1 lOf, der mit Recht darauf verweist, daß die Objektivierung besonders die negative Freiheit, von einem Grundrecht gerade nicht Gebrauch zu machen, betrifft und damit die ursprünglich grundrechtsstützende zu einer grundrechtsgelahrdenden Theorie wird; vgl. auch Hellermann, S. 103f und oben 1. Teil C. IV. I. d). 357 Zu diesem Freiheitsverständnis noch gleich bei 2. a). 358 Bethge, Grundrechtskollisionen, S. 268f; Kutschern. S. 118; Hellermann, S. 103.

G. Zwischenbilanz

161

immer geartete verfassungsrechtliche Anerkennung der eheähnlichen Gemeinschaft zu verhindern. Sie verstellt den Blick auf mögliche differenzierte Lösungen, die die Rechtsstellung der nichtehelichen Lebensgemeinschaft stärken können, ohne die Ehe zu schädigen und die individuelle Entscheidung, die Ehe einzugehen, in Frage zu stellen. Die mit der Wertsetzung einhergehende Polarisierung bewirkt im übrigen möglicherweise das Gegenteil dessen, was sie eigentlich erreichen will. Sie schadet nicht nur der nichtehelichen Lebensgemeinschaft, sondern diskreditiert auch die Ehe, indem diese als allein zu schützender Wert hingestellt wird, obwohl sich immer größere Teile der Bevölkerung von ihm abwenden. Dies geschieht aber vielfach gerade deshalb, weil viele die Ehe für ein konservatives, überholtes Institut halten, 359 was sie - wie ihre soziale Dimension zeigt 360 - bei richtigem Verständnis gar nicht ist. Die Akzeptanz von Ehe und Nichtehe werden gleichermaßen steigen, wenn der Staat nicht ein Wertsetzungsmonopol für die eine oder die andere Lebensform beansprucht. Daß dies kein Plädoyer für völlige Gleichheit, sondern für Gleichwertigkeit ist, wird noch im dritten Teil der Untersuchung zu zeigen sein. b) "Wertewander durch Freiheit Nun kann man mit Recht sagen, daß auch Werte dem Wandel unterliegen. Die Soziologie spricht gerade mit Blick auf die letzten Jahrzehnte von einem enormen Wertewandel, und es steht außer Frage, daß dieser auch Ehe und Familie stark beeinflußt hat. 361 Dieser Wandel zeigt sich vor allem in der stärkeren Betonung sog. Selbstentfaltungswerte wie Emanzipation, Autonomie, Genuß, Selbstverwirklichung und Eigenständigkeit.362 Es leuchtet ein, daß diese Wertverschiebung auch die Lebensformen verändert und die nichteheliche Lebensgemeinschaft ist nur ein Indiz dafür. Selbstverständlich haben sich auch die Verhaltensweisen innerhalb der traditionellen menschlichen Zusammenschlüsse der Ehe und der Familie verändert; die stärkere Betonung der Gleichberechtigung innerhalb der Ehe und die Abkoppelung der Ehe von der Familie mögen dies bezeugen.363

359

Vgl. die Umfrage des BMJFG; vgl. 1. Teil C. I. 2. Dazu I.Teil D. 361 Dazu ζ. B. Henrich in: Festschrift Lerche. S. 239ff und Klein in: Klages/Hippler/Merbert. S. 5 79ff. 362 Eingehend dazu Klages, S. 17ff. 363 Henrich in: Festschriii Lerche, S. 24Iff. 360

11 Kingreen

162

Zweiter Teil: Grundrechtsbezogene Analyse der Rechtsprechung

Daraus kann aber nicht der Schluß gezogen werden, die Wertbegründung sei ungefährlich, weil Werte einem Wandel unterliegen, der Folge veränderter Anschauungen ist. Diese Argumentation würde Ursache und Wirkung verwechseln. Ursache des Wertewandels sind nämlich nicht die Werte selbst, sondern die Freiheit. Sie ist der Motor wirtschaftlicher, gesellschaftlicher und technischer Veränderungen, und sie bewirkt auch einen weltanschaulichen Wandel. Die nichteheliche Lebensgemeinschaft wurde lange Zeit als "Konkubinat" mit den Mitteln des Strafrechts verfolgt; heute wird sie weitgehend toleriert - ein Wandel, der ohne Freiheit undenkbar ist. So ist die Freiheit selbst der Wert, 364 aber die Verfassung schützt umgekehrt nicht nur werthafte Freiheit. Zum Freiheitsgebrauch gehört nicht nur die Chance geglückter Freiheit, sondern auch das Risiko des Scheiterns. 365 Wäre nur werthafte Freiheit geschützt, wären die diese Freiheit definierenden Werte nicht wandelbar. Erst "die Idee der Freiheit als unbedingte Instanz aller Regelsetzung ermöglicht es, auch dann, wenn ein Kanon nicht besteht, sich über Werte und Ziele zu verständigen. Wer frei sein will und andere Freiheit anerkennt, ist zur Verständigung verpflichtet." 366 Für das Verständnis der Grundrechte im allgemeinen und Art. 6 I GG im besonderen bedeutet dies, daß der grundsätzliche Verdienst der objektiven Funktion der Grundrechte als Beitrag zur Grundrechtsverwirklichung nicht in Frage gestellt wird. 3 6 7 Die Erweiterung der Grundrechtswirkungen ist schließlich nichts anderes als die Reaktion auf ein komplexeres Verständnis von individueller Freiheit, der Erkenntnis der (auch) freiheitssichernden Rolle staatlichen Rechts und damit letztendlich ein Nach- und Mitvollziehen der sozialen Wirklichkeit. Auch muß betont werden, daß hier nicht einem Wertagnostizismus das Wort geredet werden soll. Es wird nicht bezweifelt, daß die grundlegenden Entscheidungen der Verfassung auch Entscheidungen für bestimmte Werte sind; erst recht wenn man sie als Antwort auf die nationalsozialistische Vergangenheit versteht. 368 Dies gilt in gleicher Weise für den Wert Ehe als Versprechen einer besonderen menschlichen Bindung und gegenseitiger Verantwortlichkeit und damit als Staat und Gesellschaft stabilisierendes Subsystem. Es wird lediglich kritisiert, die Wertsetzung mit der Grundrechtsausübung zu verknüpfen, die Freiheit an Werten zu messen und diese dann in rechtliche

364

Kröger, S. 36f.

365

Maier, S. 881'. Κ rings, S. 25.

166

367 368

Vgl. auch Kaäelbach DVBI 1994, 627/6271'. Vgl. Gusy, Parlamentarischer Gesetzgeber, S. 59; Geiger BayVBI 1974, 297/297.

G. Zwischenbilanz

163

Begründungszusammenhänge einzuführen. Die Grundrechte sind nicht auf werthafte Freiheitsbetätigung ausgerichtet, sie sind kein Instrument für eine funktionierende Gesamtordnung, sondern um der Würde und der Freiheit des einzelnen willen gewährleistet und damit in erster Linie Selbstzweck.369

2. Der Primat der Abwehrfunktion

a) Freiheitsverständnis und Grundrechtsprüfung Die Grundrechte gewähren individuelle Freiheit nach dem bisher Gesagten als Eigenwert. "Was Freiheit ist, kann in letzter Instanz nur derjenige entscheiden, der frei sein will", heißt es bei Schmitt. 370 Dies bedeutet nicht unbegrenzte, wohl aber von staatlicher Seite nicht zu definierende Freiheit. Leitende Idee ist eine dem staatlichen Zugriff prinzipiell vorausliegende, unbegrenzte Freiheitsgewährleistung, der die prinzipiell begrenzte staatliche Befugnis zu Eingriffen in diese Sphäre gegenübersteht.371 Das Vorstaatliche an dieser Freiheit ist die Tatsache, daß ihr Gebrauch gegenüber dem Staat nicht rechtfertigungsbedürftig ist, der Staat hingegen seine Eingriffe rechtfertigen muß. Schlink hat dies zu Recht als die "eigentliche Pointe" dieses Freiheitsverständnisses bezeichnet.372 Gemeint ist also nicht "Vorstaatlichkeit" im zeitlichen Sinn, sondern eine "über die Einrichtung des Staates" gesetzte Freiheit. 373 An diesem "auszugrenzenden" 374 Freiheitsraum (=Schutzbereich) werden die Eingriffsbefugnisse des Staates gemessen. Aus diesem Freiheitsverständnis ergibt sich der aus dem Schutzbereich einerseits und dem staatlichen Eingriff andererseits bestehende Grundrechtstatbestand. Zwar ist unabhängig von diesem Verständnis wohl unstreitig, daß jedes Freiheitsrecht einen Schutzbereich hat, aber schon bei der Bestimmung dessen, was

369

Kröger, S. 35. Schon im Parlamentarischen Rat wurde der Bezug der Menschenwürde zu den Einzelgrundrechten deutlich; der Abg. Süsterhenn (CDU) sprach von den Grundrechten als vor- und überstaatlichen Rechten, die sich aus der Natur und dem Wesen des Menschen ergeben; vgl. JöR 1 n. F. (1951), S. 42. Zusammenfassend zur Menschenwürde als Fundament der Grundrechte Stern III/l, S. 6ff. 370 Freiheitsrechte und institutionelle Garantien, S. 27. 371 Sog. Verteilungsprinzip: Der Begriff stammt von Schmitt, Verfassungslehre, S. 126. Ihm folgend beispielsweise Böckenförde NJW 1974, 1529/1537: Schlink EuGRZ 1984, 457/467; Wahl/Masing JZ 1990, 553/563. 372 EuGRZ 1984,457/467. 373 Eckhoff S. 84. 374 Begriff von Forsthoff Rechtsstaat, S. 74. 11

164

Zweiter Teil: Grundrechtsbezogene Analyse der Rechtsprechung

ihn ausmacht, scheiden sich die Geister. Cum grano salis wird man zwischen engen und weiten Tatbestandstheorien unterscheiden können: 375 Das enge Tatbestandsverständnis ist dadurch gekennzeichnet, daß es nicht einen bestimmten vorstaatlichen Schutzbereich der Grundrechte gibt; vielmehr soll dieser erst aus den im Grundgesetz angelegten Beschränkungen definiert werden. Dies geht soweit, daß der Schutzbereich identisch ist mit dem tatsächlichen Grundrechtsschutz, so daß alle staatlichen Akte, die aus diesem Bereich herausfallen, per se verfassungswidrig sind. Häberle beschreibt dieses auch von ihm vertretene Verständnis damit, daß es keine rechtswidrigen Eingriffe gebe: "Eingriffe sind rechtswidrig, sie sind verfassungsrechtlich unzulässig."376 Das dieser von manchen so bezeichneten Innentheorie 377 zugrundeliegende Freiheitsverständnis wird bei F. Klein deutlich: Er lehnt den Ausdruck "Schranken" der Grundrechte ab, da sich mit ihm die Vorstellung verbinde, "daß hier die Grundrechte usw. - als etwas kraft Vorstaatlichkeit oder kraft verfassungsrechtlicher Gewährleistung an sich Feststehendes - eingeschränkt (relativiert) werden." Es gebe "nach reiner Logik keine Schranken der Grundrechtsbestimmungen, sondern nur Begriffe derselben." 378 Dem steht ein weites Tatbestandsverständnis gegenüber, das die Grundrechte nicht als definitive, sondern als prima facie-Positionen begreift. 379 Wenn also ein menschliches Verhalten in den Schutzbereich eines Grundrechts fällt, so ist es zunächst einmal erlaubt. Die Frage nach der Grundrechtsbeschränkung oder -ausgestaltung ist damit kein Element des Schutzbereichs mehr. Sie betrifft vielmehr die Einschränkbarkeit des Grundrechts, deren Prüfung sozusagen von außen an den Schutzbereich herangeführt wird. 380 Ein Eingriff ist damit nicht per se rechtswidrig, sondern nur - auf der Rechtsfolgenseite - rechtfertigungsbedürftig. Etwas pejorativ ist diese Position als "Eingriffs- und Schrankendenken" bezeichnet worden; 381 dieser Ausdruck kann aber durchaus ohne negativen Beigeschmack heute als sinnvolle Umschreibung dieser Ansicht angesehen werden. 382 Dieses Verständnis stellt individuelle Freiheit und staatliche Eingriffskompetenz auch im Prüfungsprogramm gegenüber, und gerade dies 375

Vgl. z. B. Alexy. S. 280ff.

376

Häberle, S. 233. Alexy, S. 250.

377

378

In: von Mangoldt/Klein. Vorb. vor Art. 1. Β XV Ib. Auf Kleins Äußerungen weisen in

diesem Zusammenhang auch Alexy. S. 249f und Eckhoff, 379 Vgl. zur Terminologie nur Alexy. S. 253ff. 380 381 382

S. 12f hin.

Deshalb auch als Außentheorie bezeichnet: Alexy. S. 250. Häberle, S. 3 und öfter. Schlink EuGRZ 1984. 457/457.

G. Zwischenbilanz

165

entspricht auch dem hiesigen Freiheitsverständnis einer vorstaatlichen und nicht staatlich vorgegebenen Freiheit. Entscheidend ist aber, daß durch die getrennte Untersuchung von Schutzbereich und Eingriff die verfassungsrechtliche Prüfung nachvollziehbarer und der Gedankengang transparenter wird. 383 Dieses gestufte Vorgehen führt "zu einer Disziplinierung und Vervollständigung des verfassungsrechtlichen Argumentierens" 384 und berücksichtigt, daß die Grundrechtsprüfung regelmäßig divergierende Interessen zu berücksichtigen hat, wobei man davon ausgehen kann, daß die Individualinteressen auf der Schutzbereichsebene, die entgegenstehenden Individual- oder Allgemeininteressen hingegen auf der Eingriffsseite auftauchen. Auf der Rechtsfolgenseite stellt sich dann die Frage nach der den Grundrechtseingriff rechtfertigenden Schranke. Dies ist der Ort einer eventuellen Güterabwägung, gewiß aber die Stelle, an der der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit als SchrankenSchranke ansetzt.385 Durch dieses Verständnis wird der Freiheitsgebrauch nicht durch entgegenstehende Interessen oder gar nebulose Werte definiert. Das kollidierende Verfassungsgut wird der individuellen Freiheit vielmehr gegenübergestellt mit der Möglichkeit einer den Einzelfall berücksichtigenden Lösung. Ein klares Prüfungsprogramm bietet hingegen die objektiv-rechtliche Grundrechtsprüfung nicht; sie kann es auch nicht, weil ihr die Regelungsdichte des Abwehrrechts fehlt: Im Vergleich zu der auf staatliche Umsetzung gerichteten objektiv-rechtlichen Seite der Grundrechte ist die Abwehrkomponente konkreter, da sie eine bereits vorhandene Rechtsposition, nämlich die staatlichem Zugriff vorausliegende Freiheit, sichert. 386 Die fehlende Möglichkeit, an eine staatliche Handlung anzuknüpfen, führt vor allem dazu, daß eine Verhältnismäßigkeitsprüfung und damit das Herzstück der Grundrechtsprüfung nicht ohne weiteres möglich ist, weil schon der feste Bezugspunkt, der Zweck des

383 Starck in: Handbuch des Staatsrechts Bd. VII, § 164 Rdnr. 36; Alexy, S. 280ff; Eckhoff.[ S. 10ff; Höfling, S. 173ff; ders. Jura 1994, 169/170: Kloepfer in: BVerfG und GG II, S. 406f. Deutliche Betonung der Mehrstufigkeit der Grundrechtsprüfung auch bei Jarass in: Jarass/Pieroth. Vorb. vor Art. 1 Rdnr. 12; Katz, Rdnrn. 627f und Pieroth/Schlink. Rdnrn. 9ff und öfter (hier wird die Unterteilung für jedes Freiheitsrccht durchgehalten, was - wie unschwer zu erkennen ist - die Transparenz der Prüfung ungemein steigert). 384 Kloepfer, aaO, S. 407. 385 Zum Grundsatz der Verhältnismäßigkeit noch gleich im 3. Teil B. III. 2. a). 386 Wahl/Masing JZ 1990, 553/559. Vgl. auch Schnapp. Soziale Grundrechte, S. l()f.: Danach bildet das Abwehrrecht einen "Schutzraum um das Individuum, in welchen der Staat nicht eindringen darf." Beim Teilhabcrecht, das ja überwiegend aus der objektiv-rechtlichen Grundrcchtsfunktion deduziert wird, bestehe hingegen ein "Vakuum".

166

Zweiter Teil: Grundrechtsbezogene Analyse der Rechtsprechung

Gesetzes, fehlt. 387 Das grundrechtliche Eingriffsverbot ist hingegen quasi selfexecuting, weil es keiner legislativen oder exekutiven Umsetzung mehr bedarf, sondern nur beachtet werden muß. 388 Hier zeigt sich, daß eine genauer strukturierte Prüfung und gerichtliche Überprüfungsintensität zusammenhängen: Wo eine klare, transparente Struktur fehlt, leidet auch die Gewißheit eines Anspruchs. Dies bedeutet wie gesagt keine grundsätzliche Ablehnung der objektiv-rechtlichen Grundrechtsfunktion, sondern nur eine Beschreibung wesensmäßiger Notwendigkeit. Daraus folgt aber, daß dort, wo eine Anknüpfung an eine positive staatliche Handlung möglich ist, das Grundrecht auch als Abwehrrecht geprüft werden sollte. Bei manchen Grundrechten wird dies bereits durch den Textbefund gestützt, der ihren Bauplan als Eingriffsabwehrrechte zutagetreten läßt: 389 Die Rede ist von Leben, Gesundheit und persönlicher Freiheit, in die nur aufgrund eines Gesetzes eingegriffen werden darf (Art. 2 II GG); mitunter werden Begriffe wie "Schranken"

( A r t . 14 I G G ) bzw. "Beschränkungen"

( A r t . 10 I I G G ) verwen-

det, um die grundsätzlich unbeschränkte Freiheit des einzelnen und die grundsätzlich beschränkte Eingriffskompetenz des Staates zu verdeutlichen. Insgesamt ist das Schrankensystem nur vor dem Hintergrund einer prinzipiell unbeschränkten Freiheit zu verstehen: Wären die Grundrechte nur nach Maßgabe bestimmter Werte und Kriterien geschützt, wäre ein solches System unnötig. 390 Allerdings ist hier Vorsicht am Platze, da gerade Art. 6 I GG diese Struktur nicht unmittelbar erkennen läßt. 391 So wird das Förderungsgebot von der Rechtsprechung zu Recht im leistungsrechtlichen Sinne verstanden; 392 bedauerlicherweise hat das Bundesverfassungsgericht - möglicherweise durch diesen Wortlaut inspiriert - seine Rechtsprechung aber in weitem Umfang auf die objektiv-rechtliche Seite des Grundrechts verlegt. Dieser Versuchung zu erliegen, ist in der Tat nicht schwer, wenn man sich die Schwierigkeiten bei der subjektiv-rechtlichen Prüfung des Art. 6 I GG und dabei besonders der dogmatischen Bewältigung der Schrankenlosigkeit des Grundrechts vergegen387

Robbers, Sicherheit. S. 170ff; Preu JZ 1991, 265/268. Grabitz, S. 18: Gusy, Parlamentarischer Gesetzgeber, S. 146. 389 Isensee in: Handbuch des Staatsrechts Bd. V, § 111 Rdnr. 9. 390 Starck in: Handbuch des Staatrechts Bd. VII, § 164 Rdnr. 44. 391 Vgl. Krebs, Vorbehalt des Gesetzes, S. 70ff, der zu Recht davon ausgeht, daß die Vielfalt in der Sprache des Grundgesetzes eher den Schluß auf eine Mehrfunktionalität zuläßt. Schlink EuGRZ 1984, 457/457 meint hingegen, das Grundgesetz spreche "eine klare Sprache"; Huster, S. 89f meint sogar, daß sich aus Text und Systematik des Grundgesetzes bereits die Unzulässigkeit der Innentheorie ergebe. Wie hier differenzierend Isensee in: Handbuch des Staatsrechts Bd. V, § 111 Rdnr. 9f. 392 Vgl. BVerfGE 42, 95/101f; 61, 18/25; aber auch BVerfGE 39, 316/326. 388

G. Zwischenbilanz

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wärtigt. 393 Gerade dies aber ist die Gefahr: Das Problem, ob überhaupt ein Eingriff vorliegt und wie dieser trotz der Schrankenlosigkeit des Grundrechts gerechtfertigt werden kann, wird durch den Umstieg auf eine andere Grundrechtsfunktion umgangen! b) Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts Die Judikate zu Art. 6 I GG passen im übrigen auch nicht zum sonstigen Vorgehen des Bundesverfassungsgerichts. In anderen Entscheidungen befürwortet es nämlich grundsätzlich eine gestufte, durch das Verständnis der Freiheit als vorstaatliche individuelle Position geprägte Grundrechtsprüfung und spricht sich auch für den Vorrang der subjektiv-rechtlichen Komponente des Grundrechts aus: Im Sinne einer Ausweitung des Wohnungsbegriffs in Art. 13 I GG über die Privatwohnung hinaus 394 formuliert das Gericht prägnant, die Bestimmung des Schutzgutes des Art. 13 I GG habe "seit jeher die juristische Präzision zugunsten des feierlichen Pathos einer einprägsamen Kurzformel zurücktreten lassen." 395 Es sei bedenklich, wenn der Schrankenvorbehalt des Art. 13 III GG den Wirkungsbereich des Grundrechts bestimme, um der Schwierigkeit bei der Schrankenziehung im Falle eines weiten Schutzbereichsverständnisses zu umgehen. Nach Ansicht des Gerichts "ist zunächst die materielle Substanz des Grundrechts zu ermitteln; erst danach sind unter Beachtung der grundsätzlichen Freiheitsvermutung und des Verfassungsgrundsatzes der Verhältnismäßigkeit und Zumutbarkeit die rechtsstaatlich vertretbaren Schranken der Grundrechtsausübung zu fixieren." 396 Das ist ebenso deutlich wie der vom Bundesverfassungsgericht befürwortete und vom überwiegenden Teil der Literatur gestützte Vorrang der subjektiven Grundrechtsfunktion. Im Mitbestimmungurteil heißt es grundsätzlich zu den Grundrechten: "Nach ihrer Geschichte und ihrem heutigen Inhalt sind sie in erster Linie individuelle Rechte, Menschen- und Bürgerrechte, die den Schutz konkreter, besonders gefährdeter Bereiche menschlicher Freiheit zum Gegenstand haben. Die Funktion der Grundrechte als objektiver Prinzipien besteht in der prinzipiellen Verstärkung ihrer Geltungskraft, 393

DazuB. I. l.b). Zum Problem Schmitt Glaeser in: Handbuch des Staatsrechts Bd. VI, § 129 Rdnr. 50; Kunig Jura 1992, 476/478f. 395 BVerfGE 32, 54/72. 396 BVerfG aaO. 394

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hat jedoch ihre Wurzel in dieser primären Bedeutung. Sie läßt sich deshalb nicht von dem eigentlichen Kern lösen und zu einem Gefüge objektiver Normen verselbständigen. in dem der ursprüngliche und bleibende Sinn der Grundrechte zurücktritt." 397

3. Fazit

Art. 6 I GG ist wie die anderen Grundrechte ein subjektives Recht. Seine Ausübung oder Nichtausübung unterliegt dem Belieben des einzelnen; diese Entscheidung darf vom Staat nicht bewertet und mit der Behauptung einer wie auch immer gearteten Funktion für die Gesamtordnung instrumentalisiert werden. In kaum zu übertreffender Deutlichkeit kommt die der eheähnlichen Gemeinschaft und der Ehe drohende Gefahr durch ein utilitaristisches Freiheitsverständnis in den Worten von Adam zum Ausdruck, der sich eine Rückkehr zum Weimarer Verständnis wünscht, in der (nur!) die Ehe "Grundlage des Familienlebens" war. Dann sei nämlich "der modische Streit über die Anerkennung von eheähnlichen Lebensverhältnissen und gleichgeschlechtlichen Partnerschaften zunächst einmal erledigt." Im nächsten Satz wird gleich das hinter dieser Äußerung stehende Freiheitsverständnis nachgeliefert: "Dann nämlich wäre klargeworden, daß der Staat weder Gefühle noch Absichten zu belohnen hat, [...] sondern Funktionen. Nur sie können den besonderen Schutz begründen, den die Verfassung in Artikel sechs versprochen hat." 398 Hier zeigt sich einmal mehr, wie wichtig ein Freiheitsverständnis ist, das von einer dem staatlichen Zugriff vorausliegenden Freiheit ausgeht und zwingend zu einer Grundrechtsprüfung führt, die der grundsätzlich unbegrenzten Freiheit auf der ersten Ebene des Grundrechtstatbestandes das staatliche Eingriffsrecht auf der zweiten Ebene gegenüberstellt und beide sodann gewichtet. Um es noch einmal zu betonen: Hier wird nicht behauptet, daß das eine oder andere Freiheitsverständnis allein und automatisch ein "richtiges" Ergebnis hervorbringt. Das

V)1 BVcrlGL 50. 290/337. Der Vorrang der subjektiven Seite der Grundrechte wird in der Literatur ζ. B. betont von Grabitz. Freiheit und Verfassungsrecht, S. 208ff; Lübbe-Wolff, S. 21 und ölkr: Isensee in: Handbuch des Staatsrechts Bd. V. § I I I Rdnr. 1 1; Stern ebd., § 109 Rdnrn. 41, 43: Kröger. S. 35: Starck in: von Mangoldt/Klein/Starck, Art. 1 Abs. 3 Rdnrn. 126ff; ders. in Ju S 1981. 237/2381: Merten VcrwArch 73 (1982). 103/1 lOf: Osse η bü hl NJW 1976, 2100/2105: />t'/cv-Jura 1994. 505/505ff: .Jeancl' I/eur JZ 1995. 161/165. Vgl. auch Henke DÖV 1984, 1/6 und Schlink LuGRZ 19X4. 457IT. die eine rein subjcktivrechtliche Sicht der Grundrechte vertreten. 3