Die Verfassung des Deutschen Reichs vom 11. August 1919: Ein systematischer Überblick [2. erg. u. verb. (5. bis 8. Tsd.). Reprint 2020 ed.] 9783111483115, 9783111116297

152 65 17MB

German Pages 216 [228] Year 1920

Report DMCA / Copyright

DOWNLOAD FILE

Polecaj historie

Die Verfassung des Deutschen Reichs vom 11. August 1919: Ein systematischer Überblick [2. erg. u. verb. (5. bis 8. Tsd.). Reprint 2020 ed.]
 9783111483115, 9783111116297

Table of contents :
Inhaltsverzeichnis
Vorwort zur ersten Auflage
Vorwort zur zweiten Auflage
Erster Teil. Die geschichtliche Entwicklung der neuen Reichsverfassung
I. Abschnitt. Die Zeit vom Herbst 1918 bis zur Einberufung der Nationalversammlung
II. Abschnitt. Der Zusammentritt der verfassunggebenden Nationalversammlung
III. Abschnitt. Die amtlichen Reichsverfassungsentwürfe und der Gang der Beratungen
IV. Abschnitt. Das Übergangsgesetz vom 4. März 1919
V. Abschnitt. Die gesetzgeberische Arbeit an der Reichsverfassung
Zweiter Teil. Das Recht der Verfassungsurkunde
I. Abschnitt. Die Rechtsquellen des Verfassungsrechts und die Verfassungsurkunde
II. Abschnitt. Die rechtliche Natur des Deutschen Reiches
III. Abschnitt. Unitarismus, Föderalismus, Partikularismus. Zentralisation und Dezentralisation
IV. Abschnitt. Das geitende Verfassungsrecht über das Verhältnis das Reichs zu den Ländern
V. Abschnitt. Die natürlichen Grundlagen des Reichs (Gebiet und Staatsangehörige)
VI. Abschnitt. Die Organisation des Reiches
VII. Abschnitt. Die Staatsfunktionen
Schluss
Verfassung des Deutschen Reiches

Citation preview

Die Verfassung des Deutschen Reichs vom 11. August 1919 Ein systematischer Überblick von

Dr, Fritz Stier-Somlo ordentlicher Professor des öffentlichen Rechts und der Politik an der Universität Cöln

Zweite ergflozte und verbesserte Auflage (5. bis 8. Tausend)

V ' l j

A'

B o n n 1920 A. M a r c u s & E. W e b e r s V e r l a g (Dr. jur. Albert Ahn)

Nachdruck verboten. Alle Rechte, besonders das der Übersetzung in fremde Sprachen» vorbehalten. Copyright 1920 bv A. Marcus und E, Webers Verlag in Bonn.

Herrn Geheimem Regierungsrat

Professor Dr. jur. et phil. Christian Eckert

dem ersten Rektor der neuerstandenen Universität Cöln

in herzlicher Freundschaft

Inhaltsverzeichnis. Seite

Vorworte

VII

Erster Teil. Die geschichtliche Entwicklung der neuen ReichsTerfassung. I. A b s c h n i t t .

Die Zeit vom Herbst 1918 bis zur Einberufung der Nationalversammlung II. Abschnitt. Der Zusammentritt der verfassunggebenden Nationalversammlung D a s Gesetz ü b e r die vorläufige Reichsgewalt vom 10. F e b r . 1919

1 19 19

III. A b s c h n i t t .

Die amtlichen Reichsverfassungsentwürfe und der Gang der Beratungen

29

IV. A b s c h n i t t .

Das Übergangsgesetz vom 4. Mftrz 1919. Legalisierung des vor- und nachrevolutionären Rechts V. A b s c h n i t t .

Die gesetzgeberische Arbeit an der Reichsverfassung .

51 71

Zweiter Teil. Das Recht der Yerfasgnngsnrkunde. I.

Abschnitt.

Die Rechtsquellen des Verfassungsrechts und die Verfassungsurkunde 75 II.

Abschnitt.

Die rechtliche Natur des Deutschen Reichs

79

III. A b s c h n i t t .

Unitarismus, Foederalismus, Partikularismus. Zentralisation und Dezentralisation IAT. A b s c h n i t t .

88

Das geltende Verfassungsrecht über das Verh<nis des Beichs zu den Ländern 94 V. Abschnitt. Die natürlichen Grundlagen des Reichs (Gebiet und Staatsangehörige) 108

Da» Gebiet Die Reichsangehörigen

VI

-

Erstes Hauptstück.

.108

Zweites Hauptstück.

.113

Erste Abteilung. Die Rechte der Reichsangehörigen Zweite Abteilung. Die Pflichten der Reichsangehörigen VI. A b s c h n i t t .

113 136

Die Organisation des Reichs Grundsätzliches Der Reichspräsident Die Reichsregierung

Der Reichstag Der Reichsrat

Die Staatsfunktionen Die Gesetzgebung Die Rechtsprechung Die Gerichte Die Richter Die Verwaltung

137

Erstes Hauptstück.

137

Zweites Hauptstück.

138

Drittes Hauptstück.

148

Viertes Hauptstück

152

Fünftes Hauptstück.

159

VII. A b s c h n i t t .

162

Erstes Hauptstück.

162

Zweites Hauptstück.

166

Erste Abteilung.

166

Zweite Abteilung.

167

Drittes Hauptstück.

Schluss Text der Reichsrerfassung

168 . . . .

169 175

Vorwort zur ersten Auflage. Auch der Weltkrieg und die deutsche Revolution von 1918 werden Geschichte werden. Sie liegen hinter uns. Deutschlands Zukunft liegt vor uns. Ihr zu dienen hat auch die Reichsverfassung die hohe Sendung. Sie gibt nicht nur das Gerüst für den Bau des Hauses, das sich das deutsche Volk neu errichtet, sondern auch die rechtlich geheiligten Formen seiner Grundeinrichtungen, die feste Stütze staatlicher Ordnung und Wirkungsmöglichkeit, die wohlerwogene Verteilung der unentbehrlichen Machtbefugnisse zur Leitung des Staates, die Abgrenzung der Lebenskreise von Einzelperson und Gemeinschaft. Sie prägt die grossen Grundsätze, die die Beziehungen beider beherrschen sollen, gewährt damit gleichzeitig Spiegelbilder des demokratisch-sozialen, nunmehr in Deutschland waltenden politischen Geistes. Die Aufgabe der vorliegenden Schrift ist, den Inhalt der Reichsverfassung, in ein wissenschaftliches System des Staatsrechts eingegliedert, in grossen Zügen vorzuführen. Es sollen hier nicht die politischen Strömungen verfolgt werden, die die Grundeinstellung beherrscht und zur Fassung der Bestimmungen geführt haben. Dieser interessante Vorwurf scheidet hier ebenso aus, wie die Absicht, jede einzelne Vorschrift auf ihren praktischen Wert zu prüfen, ihre Tragweite bis ins Einzelne zu bestimmen. Die vorangeschickte Darstellung der geschichtlichen Entwicklung der Reichsverfassung will das Verständnis für das geltende Recht durch die Einsicht in den Werdegang des Zustandegekommenen erschliessen und fördern. Die Gesetzgebungsarbeiten sind verwertet, wissenschaftlich beachtliches Schrifttum ist berücksichtigt und bearbeitet, juristische Konstruktion der neuen Einrichtungen in bescheidenem Masse versucht worden. C ö l n , den 2. September 1919.

Vorwort zur zweiten Auflage. Das grosse Interesse für die Reichsverfassung kam auch dieser Schrift zugute. Indem sie zum zweiten Mal hinausgeht, zeigt sie, wenn auch nur in knappster Form, die Spuren der Entwicklung seit dem letzten Herbste. Eigenart und Umfang

Vili des Buchs soIlteD aber möglichst gewahrt bleiben. Dem vielfach geäusserten Wunsch auf Beigahe des Wortlauts der Reichsverfassuug ist am Schlüsse des Werks stattgegeben worden. Der Verlockung, aus ihm eine bis ins Einzelne gehende Darstellung zu machen, konnte ich umso eher widerstehen, als die Ausführung d i e s e r Absicht an anderer Stelle der Verwirklichung entgegenreift. Eine Auseinandersetzung mit anderen Meinungen ist deshalb in diesem Buch unterblieben. C ö l n , Ende April 1920.

Fritz Stier-Somlo.

Erster T e i l . Die geschichtliche Entwicklung der neuen Reichsverfassung '). 1. Abschnitt.

Die Zeit vom Herbst 1918 bis zur Einberufung der Nationalversammlung. 1. Mit dem an den damaligen Reichskanzler Grafen von Bertling; gerichteten kaiserlichen Erlass vom 30. September 1918, der einer Botschaft an das deutsche Volk und den Reichstag gleichkam, begann die grundlegende Änderung der bisherigen Reichsverfassung. Der Kaiser erklärt: „Ich wünsche, dass das deutsche Volk wirksamer als bisher an der Bestimmung der Geschicke des Vaterlandes mitarbeite. Es ist daher mein Wille, dass Männer, die von Vertrauen des Volkes getragen sind, im weiten Umfang teilnehmen an den Rechten und Pflichten der Regierung. Ich bitte Sie, Ihr Werk damit abzuschliesssn, dass Sie die Geschäfte weiterführen und die von mir gewollten Massnahmen in die Wege leiten, bis ich den Nachfolger für Sie gefunden habe. Ihren Vorschlägen hierfür sehe ich entgegen." 1) F u r l i t z , Deutscher Geschichtskalender Lief. 49, 50, 55, f>7 (Die Deutsche Revolution, Bd. I), Lief. 52, 68, 69, 62 (Die Deutsche Keichsverfassung Leipzig 1919); M e n c k e - G l ü c k e r t , Die Novemberrevolution 1818. Ihre Entstehung und ihre Entwicklung bis zur Nationalversammlung (Deutsche Revolution I. Bd.) Leipzig 1919; F r i t e r s , Revolutionsgewalt und Notstandsrecht. Rechtsstaatliches und Naturrechtliches, Berlin 1919, S. 75ff; S c h m i d t , Die Grundlinien des deutschen Staatswesens, Leipzig 1919, S. 153ff; S t i e r S o ml o, Die Vereinigten Staaten von Deutschland (Demokratische Reichsrepublik). Ein Entwurf mit Begründung 1919, S. 37 ff; G i e s e , Die Verfassung des Deutschen Reichs, Taschenausgabe 2. Aufl., 1920, S. 1—62; O e s c h e y , Die Verfassung des Deutschen Reichs, TextAusgabe, 1919, S. 16—64; P O e t z s c h , Handausgabe der Reichsverfassung, 1919, S. 7—18. StenBer. = Stenographische Berichte der Sitzungen der deutschen verfassunggebenden Nationalversammlung 1919. 1 Stier-Sqmlo, Relchsrerfaasnog. 2.Aufl.

2 Erster Teil. Die geschichtl. Entivickhici;' d. neuen Reichsverfassung-. Die vieldeutige Forderung der „Demokratie" fand hier staatsrechtlichen Widerhall. Ein Systemwechsel in der Richtung der parlamentarischen Regierungsweise! Welche in der Kriegslage, in der Stimmung des deutschen Volkes, in seinem politischen Reifegrade, in der Lage der Parteien und Klassen liegenden Gründe dazu geführt haben, scheidet aus dieser, die staatsrechtliche Entwicklung zeigenden Darstellung aus und muss rein geschichtlichen und politischen Erörterungen vorbehalten werden. Aber der Geist politischer Umwandlung weht fühlbar in der Programmrede, die der neue Reichskanzler Prinz Max von Baden am 5. Oktober 1918 gehalten hat. Er spricht .von „grundlegender Umgestaltung der politischen Leitung", die das Deutsche Reich gemäss dem kaiserlichen Erlass vom 30. September erfahren habe und führt aus: „Es entspricht d e m W e s e n d e r n u n m e h r b e i nns> e i n g e f ü h r t e n R e g i e r u n g s w e i s e , dass ich dem Reichstag ohne Verzug vor der Öffentlichkeit die Grundsätze darlege, nach denen ich mein verantwortungsschweres Amt zu führen gedenke. D i e s e G r u n d s ä t z e s i n d , bevor ich mich zu der Übernahme der Kanzlergeschäfte entschloss, im E i n v e r n e h m e n m i t den v e r b ü n d e t e n R e g i e r u n g e n und mit den F ü h r e r n der M e h r h e i t s p a r t e i e n dieses h o h e n H a u s e s festgelegt worden. Sie enthalten mithin nicht nur mein eigenes politisches Glaubensbekenntnis, sondern anch das der weit überwiegenden Teile der deutschen Volksvertretung, also der deutschen Nation, die den Reichstag auf Grund des allgemeinen, gleichen ufad geheimen Wahlrechts nach ihrem Wunsch zusammengesetzt hat." Mit der neu eingeführten Regierungsweise konnte nur die parlamentarische gemeint sein: Betont wird die Übereinstimmung der politischen Grundsätze des Kanzlers mit denen der Parteiführer, der Mehrheit der Volksvertretung und d e s ganzen Volkes. Dass hiermit auch die verbündeten Regierungen einverstanden waren, geht aus seinen Worten klar hervor und man braucht das nicht, wie es geschehen ist, als eine Audeutung zu hetrachten, dass an den bundesmässigen Grundlagen des Reiches nichts geändert werden sollte 1 ). Die Idee der parlamentarischen Regierungsweise, der Mitbeteiligung der A r b e i t e r s c h a f t und der P a r t e i f ü h r e r als1) Dies war die Meinung von P i l o t y , Die Umformung der fieichsregierung und die Reichsverfassung, DJ Z. ( = Deutsche Juristonzeitung) 1918 Sp. 651—657. Es lag gar kein Grund für den neuen Reichskanzler vor, den Fortbestand der bundesmässigen Grundlagen zu sichern und überdies war deren teilweise Änderung gar nicht ausserhalb des Bereichs jeder Möglichkeit.

I. Abschnitt. Die Zi-it v Herbst 1918 b. z. Kinberuf. d. Nationalvers.

3

solcher, aber auch anderer geeigneter Persönlichkeiten an der Regierung kommt in dem folgenden Teile der Rede des Reichskanzlers zum Ausdruck: „Die Tatsache, dass ich die Überzeugung und den Willen der Mehrheit des Volkes hinter mir weiss, hat mir die K r a f t gegeben, in der schweren und ernsten Zeit, die wir miteinander erleben, die Leitung der Reichsgeschäfte auf mich zu nehmen. Die Schultern eines Einzelnen wären zu schwach, um allein die ungeheure Verantwortlichkeit tragen zu können, die der Regierung in der Gegenwart zufällt. Nur wenn das V o l k a n d e r B e s t i m m u n g s e i n e r G e s c h i c k e im w e i t e s t e n U m f a n g e t ä t i g e n A n t e i l nimmt, die Verantwortlichkeit sich also mit auf die Mehrheit seiner frei erwählten politischen Führer erstreckt, kann der leitende Staatsmann seinen Anteil an ihr im Dienste des Volkes und Y a t e i "l a n des mit Zuversicht übernehmen. Der Entschluss, dies zu tun, ist mir besonders dadurch erleichtert worden, dass in der neuen Regierung auch massgebende Vertrauensmänner der A r b e i t e r s c h a f t zu den höchsten Ämtern im Reiche gelangt sind. Ich sehe darin die sichere Bürgschaft dafür, dass die neue Regierung von dem festen Vertrauen der breiten Massen des Volkes getragen ist, ohne dessen überzeugungstreue Gefolgschaft ihr ganzes Handeln von vornherein zum Misslingen verurteilt wäre. Was ich heute ausspreche, sage ich also nicht nur in meinem Namen und in dem meiner amtlichen Mitarbeiter, sondern auch im N a m e n d e s d e u t s c h e n Volkes." Nach den Ausfuhrungen über das Friedensprogramm des Reichstages, die Resolution vom 19. Juli 1917 usw. sagt der Reichskanzler: „Ich war der Überzeugung (bei der Auswahl der nicht dem Parlament entnommenen Staatssekretäre), dass die E i n h e i t l i c h k e i t d e r R e i c h s l e i t u n g nicht nur gewährleistet werden sollte durch die blosse schematische Parteizugehörigkeit der einzelnen Regierungsmitglieder, sondern ich hielt f ü r fast noch wichtiger die Einheitlichkeit der Gesinnung. Von diesem Gesichtspunkte bin ich ausgegangen auch bei der Wahl meiner Mitarbeiter, die nicht dem Parlamente angehören." Aber die Hervorhebung der Möglichkeit, auch nicht dem Parlament angehörige Männer zu Mitgliedern der Regierung zu machen, wird stark zurückgedrängt durch die wiederholte Versicherung, den Partei- und Mehrheitswillen zu berücksichtigen : „Ich bin überzeugt, dass die Art, in der jetzt die

4 Erster Teil. Die geschichtl. Entwicklung d. neuen Reichs VerfassungReichsleitung unter Mitwirkung des Reichstages gebildet worden ist, nicht etwas Vorübergehendes darstellt und dass im Frieden eine Regierung n i c h t w i e d e r g e b i l d e t w e r d e n k a n n , d i e s i c h n i c h t s t ü t z t auf d e n R e i c h s t a g u n d d i e n i c h t a u s i h m f ü h r e n d e M ä n n e r e n t n i m m t . Der Krieg hat uns über das alte, vielfach zerrissene Parteileben hinausgeführt, das es so sehr erschwerte, einen einheitlichen entschlossenen Parteiwillen zur Durchführung zu bringen. M ehrhei t s b i l d u n g h e i s s t p o l i t i s c h e Willensbildung und unbestreitbares Ergebnis des Krieges ist, dass in Deutschland zum ersten Male grosse Parteien sich zu einem festen einheitlichen Programm zusammengeschlossen haben und damit in die Lage gekommen sind, die Schicksale des Volkes von sich aus zu bestimmen. D i e s e r G e d a n k e w i r d n i e m a l s erlöschen, diese Entwicklung niemals rückgängig g e m a c h t werden können." Die Verfassungsgesetzgebung f ü h l t e zunächst zur „Parlamentarisierung der höchsten Ämter", zur Beseitigung des Artikel 21 Abs. 2 1 ), um den zu Staatssekretären ernannten Mitgliedern des Reichstages die Beibehaltung dieser Mitgliedschaft zu ermöglichen. Nach jener Vorschrift verlor ein Mitglied des Reichstages Sitz und Stimme, wenn es ein besoldetes Reichsamt oder in einem Bundesstaat ein besoldetes Staatsamt annahm, oder im Reichs- oder Staatsdienst in ein Amt eintrat, mit dem ein höherer Rang oder ein höheres Gehalt verbunden war. Der Grand dieser Bestimmung lag in dem berechtigten Misstrauen der Wähler gegen Beamte und in der Vorbeugung einer Beeinflussung des Abgeordneten durch seine amtliche Beförderung. Die Erwägung hatte aber jetzt keinen Sinn mehr, wenn einerseits einem Reichstagsmitglied der Übergang in die Regierung nicht verschlossen, andererseits auch die unmittelbare Verbindung mit dem Reichstage aufrecht erhalten bleiben sollte s ). Dagegen konnte man sich noch nicht dazu aufraffen, den Artikel 9 Satz 2 der Reichsverfassung aufzuheben, der bestimmte, dass niemand gleichzeitig Mitglied des 1) Gesetz zur Abänderung der Reichsverfassung und des Gesetzes betreffend die Stellvertretung des Reichskanzlers vom 17. März 1878, vom 28. Oktober 1918 (RGBl. S. 1273). 2) Für Elsass-Lothringen ist eine ähnliche Bestimmung getroffen worden durch das Gesetz zur Abänderung des Gesetzes über die Verfassung Elsass-Lothringens vom 81. Mai 1911, vom 28. Oktober 1918 (RGBl. S. 1275). Ein Abgeordneter der zweiten Kammer, der zum Staatssekretär oder Unterstaatssekretär im Ministerium für ElsassLothringen ernannt wird, verlor danach seine Stellung als Abgeordneter nicht.

I. Abschnitt. Die Zeit v. Herbst 1918 b. z. Einberuf. d. Nationalvers. 5 Bundesrats und des Reichstages sein könne. Dadurch scheiterte die Möglichkeit, dass auch der Reichskanzler gleichzeitig Eeichstagsmitglied sei, da er gemäss Artikel 15 der Reichsverfassung Mitglied des Bundesrats sein musste. Ohne Fortfall des Art. 9 Satz 2 hätte das Reichstagsmitglied als Reichskanzler nur den formellen Vorsitz im Bundesrat, nicht aber die preussischen Stimmen fahren können 1 ). Jedenfalls hatten aber die Ereignisse dahin geführt, dass sich der Kaiser hinsichtlich der Zusammensetzung der Regierung an den Mehrheitswillen des Reichstages halten musste. Artikel l ö der Rcichsverfassung, der von der Ernennung des Reichskanzlers durch den Kaiser handelt, erhielt folgende Zusätze: „Der Reichskanzler bedarf zu seiner Amtsführung des Vertrauens des Reichstages. Der Reichskanzler trägt die Verantwortung f ü r alle Handlungen von politischer Bedeutung, die der Kaiser in Ausübung der ihm nach der Reichsverfassung zustehenden Befugnisse vornimmt. Der Reichskanzler unu seine Stellvertreter sind f ü r ihre Amtsführung dem Bundesrat und dem Reichstag verantwortlich *)." 1) Die damals hoebfluteude staatsrechtlich-politische Erörterung hat jetzt nur geschichtliches Interesse. Von dauerndem Wert bleiben aber die Schriften und Abhandlungen von: Max W e b e r , Parlament und Regierung im ueugeordneten Deutschland 1917 und Deutschlands künitigeStaatsform 1919; P i l o t y , Das parlamentarische System. Eine Untersuchung- seines Wesens und Wertes. 2. Aufl. 1917, sowie dessen Vorschläge über ein Reichsoberhaus im Archiv für öffentliches Recht, Bd. 38, S. 103 f.; ferner d e s s e l b e n Aufsatz, Verantwortliche Regierung und persönliches Regiment, DJZ. 1918, S. 716—721; A n s c h ü t z , Die Parlamentarisierung der Reichsleitung, daselbst 1917, Sp. 697 ff.; d e r s e l b e , Parlament und Regierung im Deutschen Reich 1918; A r n d t , Neuorientierung und ßeichsverfassung, ebenda 1917, S. 772; W i t t m a y e r , Deutscher Reichstag und Reichsregierung, 1918; sehr beachtenswert auch M e i n e c k e , Die Reform des preussischen Wahlrechts, Annalen für soziale Politik und Gesetzgebung 1917, Heft 1 und 2. Vergl. noch Gm e 1 i n, Zur Frage der Einführung der parlamentarischen Regierung im ßeich, Zeitschrift für Politik 1918, S. 294—307; Erich K a u f m a n n , Bismarcks Erbe in der Reichsverfassung 1917, S. 64 ff., der für unser bisheriges Reich die Ansicht von der Unmöglichkeit des Parlamentarismus vertritt; s- die Besprechung von Eduard R o s e n t h a i in der Deutschen Litcraturzeitung Nr. 23 und 24 vom 8. und 15. Juni 1918. Vgl. noch H a s b a c h , Die parlamentarische Kabinettsregierung, 1919, S. 19—35, 259ff ; T h o m a im Archiv f. Sozialwissenschaft Bd. 46 Heft 3 (1920 S. 830); Theodor V o g e l s t e i n , Das parlamentarische System, 1919, besonders S. 7 ff. und H ü b n e r , Die Staatsform der Republik 1920 S. 208 ff. 2) Gesetz zur Abänderung der Reichsverfassung vom 28. Oktober 1918 zu 2 (RGBl. S. 1274).

6 Erster Teil. D i e g e s c h i c h t l . E n t w i c k l u n g rl. n e u e n R e i c h s v e r f a s s u n g .

Damit war nicht nur die Verantwortlichkeit des Reichskanzlers, sondern auch das Bestimmungsrecht der Parteien oder ihrer Fraktionen bei seiner Ernennung: verfassungsmässig gesichert, sowie festgestellt, dass der Reichskanzler sein Amt niederlegen muss, wenn der Reichstag ihm sein Vertrauen entzieht. D a s „persönliche Regiment" hatte aufgehört; die Reichstagsmehrheit sollte die Entscheidung über die Berufung des Reichskanzlers und die Zusammensetzung der Regierung haben. Ein formelles Vorschlagsiecht des Reichstages lag darin zwar nicht, aber der Kaiser musste auf die programmmatische Richtung der Parlamentsmehrheit Rücksicht nehmen und der Reichskanzler als Leiter der Reichspolitik sich mit den Führern der Reichstagsmchrbeit verständigen." Als Stellvertreter des Reichskanzlers konnten in Zukunft auch Personen ernannt werden, die nicht als Staatssekretäre einer Reichszentralstelle vorstehen. Die Stellvertreter des Reichskanzlers mussten im Reichstage auf Verlangen jederzeit gehört werden 1 ). Die Verantwortlichkeit des Reichskanzlers, die dein Bundesrat und dem Reichstag gegenüber bestand, erstreckte sich nicht mehr bloss auf die von ihm gegengezeichneten allgemeinen Anordnungen oder besonderen Verfügungen des Kaisers, sondern auch auf dessen persönliche Handlungen politischen Charakters. Natürlich waren Reichskanzler und Stellvertreter auch für ihre eigenen Handlungen verantwortlich*). Die Herrschergewalt des Kaisers ist gleichzeitig weiter erheblich eingeengt worden. Nach der Reichsverfassung Art. 11 war bis dabin zur Erklärung des Krieges namens des Reichs die Zustimmung des Bundesrats erforderlich, es sei denn, dass ein Angriff auf das Bundesgebiet oder dessen Küsten erfolgt. Im letzteren Falle hatte der Kaiser allein das Recht, den Krieg zu erklären. Insoweit die Verträge mit fremden Staaten sich auf solche Gegenstände bezogen, die nach Art. 4 S ) in den Bereich der Reichsgesetzgebung gehörten, war zu ihrem Abschluss die Zustimmung des Bundesrats und zu ihrer Gültigkeit die Genehmigung des Reichstages erforderlich. Diese Vorschriften sind durch die folgenden ersetzt worden: .„Zur Erklärung des Krieges im Namen des Reiches ist die Zustimmung des Bundesrats und des Reichstages erforderlich. 1) § 2 d e s G e s e t z e s zur A b ä n d e r u n g der R e i c h s v e r f a s s u n g und des Gesetzes betreffend die Stellvertretung des Reichskanzlers v o m 17. März 1878, v o m 28. Oktober 1918 (RGBl. S. 1273). 2) Ü b e r e i n s t i m m e n d P i l o t v a. a. O., Sp. 719. 3) Im Art. 4 der R e i c h s Verfassung' w a r e n die A n g e l e g e n h e i t e n a u f g e f ü h r t , d i e der B e a u f s i c h t i g u n g u n d G e s e t z g e b u n g d e s R e i c h s u n t e r l a g e n . Es s o l l t e d u r c h die B e s t i m m u n g d e s Art. 11 Abs. 3 die Ausschaltung des Reichstages verhütet werden.

I. Abschnitt. Die Zeit v. Herbst 1918 b. z. Eiuberuf d. Nationalvers. 7 Friedensverträge sowie diejenigen Verträge mit fremden Staaten, welche sich auf Gegenstände der Reichsgesetzgebung beziehen, bedürfen der Zustimmung des Bundesrats und des Reichstages"'). Auch die Kominandogevvalt des Kaisers wurde in den Kalimeu der Regierungsbaudlungen einbezogen, für die der Reichskanzler dem Parlament verantwortlich sein sollte: die Ernennung, Versetzung, Beförderung und Verabschiedung der Offiziere und Beamten der Marine, der Offiziere und Militärbeamteu des Kontingents erfolgt unter Gegenzeichnung des Reichskanzlers bezw. des Kriegsministers des Kontingents. Die Kriegsminister sind dem Bundesrat und dem Reichstag für die Verwaltung ihres Kontingents verantwortlich 8 ). Die Ausfertigung der Gesetze vom 28. Oktober ist von einem kaiserlichen Schreiben vom selben Tage an den Reichskanzler begleitet gewesen, in dem u. a. folgende Sätze stehen: „Vorbereitet durch eine Reihe von Regierungsakten, tritt jetzt eine n e u e O r d n u n g in Kraft, welche grundlegende Rechte von der Person des Kaisers auf das Volk überträgt. Damit wird eine Periode abgeschlossen, die vor den Augen künftiger Geschlechter in Ehren bestehen wird. Trotz aller Kämpfe zwischen überkommenen Gewalten und emporstrebenden Kräften hat sie unserm Volke jene gewaltige Entwicklüng ermöglicht, die sich in den wunderbaren Leistungen dieses Krieges unvergänglich offenbart. In den furchtbaren Stürmen der vier Kriegsjahre aber sind alte Formen zerbrochen, nicht um Trümmer zu hinterlassen, sondern um neuen Lebensgestaltungen Platz zu machen. Nach den Vollbringungen dieser Zeit hat das deutsche Volk den Anspruch, dass ihm kein Recht vorenthalten wird, das eine freie und glückliche Zukunft verbürgt. Dieser Überzeugung verdanken die jetzt vom Reichstag angenommenen und erweiterten Vorlagen der verbündeten Regierungen ihre Entstehung. Ic-lr aber trete diesen Beschlüssen der Volksvertretung mit meinen hohen Verbündeten bei, in dem festen Willen, was an mir liegt, an ihrer vollen Auswirkung mitzuarbeiten, überzeugt, dass ich damit dem Wohle des deutschen Vaterlands diene. Das Kaiseramt ist Dienst am Volke. So möge die neue Ordnung alle guten Kräfte frei 1) Gesetz zur Abänderung der Reichsverfassung vom 28. Oktober 1918 zu 1 (RGBl. S. 1274) 2) Änderungen der Art. 53, 64, 66 der Reichsverfassung-durch das in der vorgehenden Anm. erwähnte Gesetz zu 4—6. Für Bayern galt dies nicht. Vgl. auch B r e d t , Verfassung- und Armee, DJZ 1918, Sp. 721.

8 Erster Teil. Die geschichtl. Entwicklung d. neuen Reichsverfassilng. machen, deren unser Volk bedarf, um die schweren Prüfungen zu bestehen, die über das Reich verhängt sind, und um aus dem Dunkel der Gegenwart mit festem Schritt eine hell» Zukunft zu gewinnen."

Von diesem Erlass hat P i l o t y 1 ) gesagt, dass er sehr stark einer p o l i t i s c h e n Abdankung gleiche. Der r e c h t l i c h e Thron verzieht des Kaisers und Königs trat schon am 9. November als Folge der ansgebrochenen Revolution ein2). Damit fiel e i n e s der Organe des deutschen Reichs fort. Das preuBsische Königtum, mit dem das Kaisertum unlöslich verknüpft war, ist beseitigt. Alle verfassungsmässigen Rechte und Pflichten des Kaisers- waren damit erloschcn. Obwohl der Verzicht des deutschen Kronprinzen auf alle Rechte aa der Krone Preussens und an der Kaiserkrone tatsächlich erst am 1. Dez. 1918 erfolgte, wurde schon am 9. Nov. in Berlin (im Reichsanzeiger) die Abdankung des Kaisers und der Verzicht des Kronprinzen bekanntgegeben. Nach dem Reichsstaatsrecht war nunmehr der minderjährige Sohn des Kronprinzen unter Regentschaft König von Preussen und Deutscher Kaiser geworden. Ein Regent tritt aber nicht an. Vielmehr verkündet Staatssekretär Scheidemann von einem Fenster des Reichstages aus am 9. November die deutsche Republik. Er begibt sich mit Ebert und Braun sowie zwei Mitgliedern des inzwischen gebildeten Arbeiterrats in die Reichskanzlei, um dem Reichskanzler mitzuteilen, sie hielten die Bildung einer sozialistischen Regierung für notwendig, da diese allein imstande sei, Deutschland zu retten. P r i n z Max v o n B a d e n legt das Amt des Reichskanzlers nieder und bittet nach Beratung mit den Staatssekretären unter Vorbehalt der gesetzlichen Genehmigung Ebert um dessen Übernahme. Diese Handlung entzieht sich der verfassungsrechtlichen Bewertung und ist aus der bisherigen Verfassung nicht zu begründen gewesen®). 1) Verantwortliche Regierung- und persönliches Regiment, DJZ. 1918, Sp. 721. 2) Vgl. den Bericht über die Tatsachen im einzelnen bei P u r l i t z , Deutscher Geschichtskalender, Abteilung „Die deutsche Revolution*, Heft 1 (1919), S. 1 ff., 24 ff., 32. Nur ein Verzicht auf die Würde als Deutscher K a i s e r , n i c h t auch auf die Würde als K ö n i g v o n P r e u s s e n war staatsrechtlich nicht möglich. Das ist mit Rücksicht auf die Veröffentlichungen des Grafen Schulenburg, der Darstellung der Vorgänge des 9. November in der „Deutschen Tageszeitung* vom 17. Juli 1919 und in der Erklärung des Prinzen Max von Baden (2. Morgenbl. d. Frankfurter Ztg. v. 9. August 1919)hier festzustellen. Ebenso Thoma, Der Thronverzicht des Kaiser». (Frankf. Ztg. v. 21. August 1919, Nr. 615 Erstes Morgenbl ). 3) G i e s e , RV., 2. Aufl., 1920, S. 9.

1. Abschnitt. Die Zeit v. Herbst 1918 b. z. Einberuf. d. Nationalvers. 9

Ebert wendet sich noch am selben Tage mit einer Kundgebung an die deutschen Bürger: Der bisherige Reichskanzler habe ihm unter Zustimmung der sämtlichen Staatssekretäre die Wahrnehmung der Geschäfte des Reichskanzlers übertragen. Er sei im Hegriffe, die neue Regierung, die eine Volksregierung sein werde, im Einvernehmen mit den Parteien zu bilden. Er bezeichnet sich als „durch den Willen des Volkes" berufenen Reicliskanzlcr. Das war die p o l i t i s c h e Revolution, die von der alten sozialdemokratischen Partei ausging, auf demokratischer Grundlage neu aufbauen wollte und folgerichtig eine Sanktionierung des neuen Zustandes durch eine deutsche Nationalversammlung erstrebte Der Arbeiter- und Soldatenrat (die Konstituante!) bcschliesst am Abend desselben 9. November, am folgenden Tage, in den Fabriken Arbeiterräte, in den Kasernen und Lazaretten Soldatenräte wählen zu lassen, die dann zur Wahl der provi sorischen Regierung zusammenzutreten hätten. Am 10. November wird nach Einigung der Mehrheitssozialisten mit der unabhängigen sozialistischen Partei die neue Regierung gebildet, hierauf in der ersten Sitzung des Berliner Arbeiter- und Soldatenrates eine Proklamation gebilligt, in der u. a. die Sätze stehen: „Das alte Deutschland ist nicht mehr. Die Dynastien haben ihre Existenz verwirkt. Die Träger der Krone sind ihrer Macht entkleidet. Deutschland ist Republik geworden, eine sozialistische Republik. D i e T r ä g e r d e r p o l i t i s c h e n M a c h t s i n d j e t z t A r b e i t e r - u n d S o l d a t e n r ä t e . Die Aufgabe der vorläufigen Regierung, d i e v o m A r b e i t e r - u n d S o l d a t e n r a t b e s t ä t i g t i s t , wird in erster Linie sein, den Waffenstillstand abzuschliessen und dem blutigen Gemetzel ein Ende zu machen". Die Arbeiter- und Soldatenräte bildeten hierauf einen V o l l z u g s a u s s c h u s s aus 28 Mitgliedern, 14 Soldaten und 14 Arbeitern (Sozialdemokraten beider Rieh1) W a l d e c k e r , Zur augenblicklichen staatsrechtlichen Lage, JW. ( = Juristische Wochenschrift) 1918, S. 747, nimmt ausserdem noch eine s o z i a l e , von der unabhängigen Sozialdemokratie und der Liebknechtgruppe entfachte Revolution an, die offensichtlich von der russischen Bewegung her beeinflusst, ihren Ausdruck in den Arbeiterund Soldatenräten fand und die rasche und konsequente Vergesellschaftung der kapitalistischen Produktionsmittel verlangte. Die beiden Strömungen sind gewiss vorhanden gewesen, aber sie sind m. E. nicht nur verschiedene Seiten e i n e r u n d d e r s e l b e n Bewegung, sondern auch ineinander übergegangen. Denn wenn sich die soziale Revolution in den Organisationen der Arbeiter- und Soldatenräte offenbart, so ist doch ihre, zunächst mit den Volksbeauftragten rivalisierende Tätigkeit nicht minder p o l i t i s c h e r Natur gewesen. Uber die Folgerungen, die W a l d e c k e r aus seiner Auffassung zweier Revolutionen ableitet, siehe dessen weitere Ausführungen JW. 1919, Sp. 132 ff.

10 Erster Teil. Die geschiehtl. Entwicklung d. neuen Reichsverfassung. fmigen) und zwar aus den Berliner Arbeiter- und Soldatenräten, der bis zum Zusammentritt der R c i c h s k o n f e r e n z sämtlicher Arbeiter- und Soldatenräte Deutschlands die Führung der R e i c h s g e s c h ä f t e tibernchmcn sollte. Nach dieser Versammlung trat das R e i c b s k a b i n e t t ( E b e r t , »Scheidemann, Landsberg, Haase, Dittmann, B a r t h ) zusammen und konstituierte sich als Körperschaft mit gleichen Rechten als R a t d e r V o l k s b e auftragten. Den Vorsitz führten E b e r t und Haase. Ihre Übereinstimmung und Mitunterschrift aller Regierungsakte war erforderlich. Man sprach auch von einer Doppelkanzlerschaft *). Mit dem in vieler Hinsicht bemerkenswerten „Aufruf an das deutsche V o l k " vom 12. November") gibt der R a t der Volksbeauftragten (auch „vorläufige R e g i e r u n g " „ K a b i n e t t " genannt) von der Übernahme der Regierungsgewalt cinschliessiieh. der gesetzgebenden Gewalt allgemeine Kenntnis. Schon die Zuständigkeitsabgrenzung gegenüber dem Berliner Vollzugsausschuss machte Schwierigkeiten. E r wollte seine oberste Gewalt in der deutschen Republik (und in Preussen) trotz der Einsetzung der Regierung E b e r t - H a a s e begründen. Am 12. November bezeichnet er sich in seiuem B e f e h l an alle Gross-Berliner Truppen als die „Spitze der ausführenden Milit ä r g e w a l t " , bemerkt freilich, dass die Reichsregierung seiner Bildung zugestimmt habe, wodurch er unbewusst seine staatsrechtliche Superiorität selbst in F r a g e stellt. E r fordert, widerspruchsvoll genug, die Truppen auf, s e i n e n Befehlen u n d denen der stellvertretenden Generalkommandos F o l g e zu leisten. I n der „amtlichen E r k l ä r u n g " vom selben T a g e heisst es, dass alle Behörden, auch die ausdrücklich genannten 1) W a l d e c k e r , a. a. O., S. 749. Die anfängliche alleinige Kanzlerherrschaft Eberts sei in eine regelrechte Doppelkanzlerschaft Ebert-Haase übergegangen. „Die neue Regierung hat sich auf die Art eingerichtet, dass sie einige Minister und Staatssekretäre von vorwiegend fachlicher Bedeutung als Gehilfen beibehalten, auch einige Stützen der früheren Mehrheitspolitik übernommen, aber im übrigen sämtliche leitende Posten unter die sozialdemokratische und xmabhängige sozialistische Partei aufgeteilt hat, unter besonderer' Berücksichtigung derjenigen Persönlichkeiten, welche einen Anteil an der Vorbereitung der Revolution und an dem heutigen Schicksal Deutschlands geltend machen können. J e drei Mitglieder der beiden sozialistischen Parteien bilden das eigentliche und entscheidende Kabinett und die heutige provisorische Regierung in Deutschland. Jedem Staatssekretär oder Minister aus anderem Lager werden zwei Mitglieder der sozialdemokratischen Parteien an die Seite gestellt". (Hugo Böttger.) 2) RGBL, S. 1303; vgl. hierüber An s c h ü t z , Das Programm der Reichsregierung, J W 1918, S. 751 f.; B a u m , Die sozialrechtlichen Bestimmungen itn Aufruf des Rats der Volksbeauftragten vom 12. November 1918, daselbst S.752 ff.: R o s e n b e r g , D J Z . 1918, Sp. 137.

I. Absch liitt. Du1 Zeit v. Herbst 1918 b. z. Kinberui d. Nutionalvers. 11

R e i c b s b e h ö r d e n , ihre Tätigkeit fortzusetzen, dnss alle Anordnungen dieser Behörde ini A u f t r a g e des Vollzugsrats* des Arbeiter- und Soldatenrats erfolgen. Jedermann habe den Anordnungen dieser Behörde Folge zu leisten. Aus eigener Machtvollkommenheit ernennt der Vollzugsrat. eine preussische Regierung, die in Übereinstimmung mit ihm am ]f>. November das Abgeordnetenhaus für aufgelöst und das Herrenhaus für beseitigt erklärte 1 ). Die Klärung der Machtverhältnisse herbeizuführen ist versucht worden durch eine, keineswegs deutliche, Vereinbarung vom 22. November: a) D i e p o l i t i s c h e G e w a l t l i e g t in d e n H ä n d e n d e r A r b e i t e r - u n d S o l d a t e n r ä t e d e r d e u t s c h e n sozial i s t i s c h e n R e p u b l i k . Ihre Aufgabe ist es, die Errungenschaften der Revolution zu behaupten und aufzubauen, sowie die Gegenrevolution niederzuhalten. b) Bis eine D e l e g i e r t e n V e r s a m m l u n g der Arbcitcrund Soldatenräte einen V o l l z u g s r a t der deutschen Republik gewählt hat, übt der B e r l i n e r Vollzugsrat die Funktionen der Arbeiter- und Soldatenräte der deutschen Republikim Einverständnis mit den Arbeiter- und Soldatenräten von Gross-Berlin aus. c) Die Bestellung des Rates der Volksbcauftragten durch den Arbeiter- und Soldatenrat von Gross-Berlin bedeutet die Übertragung der Exekutive der Republik. d) Die Berufung und Abberufung der Mitglieder des entscheidenden Kabinetts der Republik und — bis zur endgültigen Regelung der staatlichen Verhältnisse — auch Preussens, erfolgt durch den z e n t r a l e n V o l l z u g s r a t , dem auch das Recht der Kontrolle zusteht. e) Vor der Berufung der F a c h m i n i s t e r durch das Kabinett ist der Vollzugsrat zu hören. Sobald wie möglich wird eine R e i c h s v e r s a m m l u n g v o n D e l e g i e r t e n der Arbeiter- und Soldatenräte zusammentreten; der Termin wird noch bekannt gemacht werden. Im Anschluss hieran hat am 23. November der Vollzugsrat des Berliner Arbeiter- und Soldatenrats seine E r g ä n z u n g d u r c h M i t g l i e d e r a u s d e m R e i c h e beschlossen, soweit es sich um Erledigung der ihm vorläufig durch das ganze Gebiet der Republik zustehenden Geschäfte handelt. Jene ergänzenden Mitglieder waren von der Vetretung der Arbeiter- und Soldatenräte der nichtpreussischcn Bundesstaaten zu wählen. 1) P u r l i t z , Die deutsche Revolution, 1. Heft, S. 55f. und W a l d e c k e r , a. a. 0., S. 746, der auch darauf hinweist, das der Berliner Yollzugsrat sich am 18. November über die von ihm ernannte preussische Regierung' in näher dargelegter Weise hinwegsetzt, also „oberste Staatsgewalt" spielt.

12 Erster Teil. Die geschichtl. Entwicklung d. neuen Reichsverfassung.

Die näheren Bestimmungen über die Wahl der Delegierten und deren Verteilung auf die Einzelstaaten blieben der einzuberufenden Delegiertenkonferenz der Bundesstaaten überlassen. Wie jene Vereinbarung durch die Reichsregierung beurteilt worden ist, ergibt eine Auslassung der Deutschen Allgemeinen Zeitung vom 23. November: „Nach wie vor liegt die oberste politische Gewalt und die letzte Entscheidung in den Händen der A r b e i t e r - u n d S o l d a t e n r ä t e , die im Vollzugsrate des Gross-Berliner Arbeiter- und Soldatenrates so lange ihre Vertretung haben, wie die Arbeiter- und Soldatenräte aus der ganzen deutschen Volksrepublik einen g e m e i n s a m e n V o l l z u g s r a t gewählt haben werden. Dieser Vollzugsrat stellt gewissermassen einen E r s a t z f ü r d i e souver ä n e V o l k s v e r t r e t u n g dar und von seinem Willen hängt es ab, welcher Kurs gesteuert wird. Die ßeichsregierung (Rat der Volksbeauftragten) handelt im Einvernehmen mit dem Vollzugsrate und kann auch nur solange im Amte bleiben, wie sie sich in Übereinstimmung mit dem Willen dieses Vollzugsrates befindet. Solange sich aber die ßeichsregierung dieses Vertrauens der Arbeiter- und Soldatenräte sicher weiss, liegt in ihren Händen die g e s a m t e E x e k u t i v e . Der Vollzugsrat des Albeiter- und Soldatenrates hat bei der Ausführung der exekutiven Gewalt der ßeichsregierung nur k o n t r o l l i e r e n d m i t z u w i r k e n " . Von anderer Seite 1 ) wird jene Vereinbarung als die von der Berliner ßätegruppe erzwungene U n t e r w e r f u n g des Berliner Kabinetts unter deff Willen der als einziges ßevolutionsparlament anerkannten Delegiertenversammlung der deutschen Arbeiter- und Soldatenräte bezeichnet, T r ä g e r d e r p o l i t i s c h e n G e w a l t sei a l s o d e r n o c h zu w ä h l e n d e V o l l z u g s a u s s c h u s s dieser deutschen Räte, für den einstweilen der Berliner Vollzugsrat eintritt. Das Kabinett aber werde bestätigt als Träger einer von d e m Vollzugsa u s s c h u s s a b g e l e i t e t e n E x e k u t i v e , die sich nicht ohne Mitwirkung der Vollzugsrates in ihrem personellen Bestand ändern kann und von ihm kontrolliert wird; man werde annehmen dürfen, dass die Übertragung dieser beiden letzteren besonderen Mitwirkungsbefugnisse (oben S. 11 zu d) an den z e n t r a l e n Vollzngsrat sagen will, bis dieser gebildet sei, solle die Bestimmung zu b) auch hier gelten. Das Kabinett übe also keine Diktatur, sondern es sei ausführendes Organ geworden, dessen Tätigkeit fortlaufend überwacht werde. Gesetze erlasse es in Ubereinstimmung mit dem Berliner Vollzugsausschuss. Die beiden Vorsitzenden des Kabinetts seien eine Art 1) Waldecker, a. a. 0., S. 750.

I. Abschnitt. Die Zeit v. Herbst 1918 b. z. Einberuf. d. Nationalvers. 13 von Doppelministerpräsidenten. Bei dieser Konstruktion werde die Kontrolle der parlamentarischen Unterstaatssekretäre und Überwachungspersonen nicht mehr im Auftrage des Kabinetts," sondern des Berliner Vollzugsausschusses geübt. M. E. sind beide Auffassungen, wenn man sie an herkömmlichen staatsrechtlichen Einrichtungen messen will,.nur dann als richtig anzuerkennen, wenn sie besagen wollen, dass die Räteorganisation einem Parlamente entspricht, das die I n n e h a b u n g der ganzen Staatsgewalt beansprucht, deren A u s ü b u n g aber der Reichsregierung überträgt oder überlässt und zwar derart, dass n i c h t nur die Verwaltung, sondern auch die r e c h t s e t z e n d e G e w a l t (durch Verordnungen) von dem Kabinett geübt wird 1 ). Schon am 10. November hatte Ebert das Bekenntnis zur deutschen Nationalversammlung abgelegt, aber diesen Gedanken zunächst zurückstellen müssen, weil sonst infolge der Macht der Rätegruppe eine einheitliche Regierung anscheinend nicht hätte zustande kommen können. Ihm kam die Politik der Einzelstaaten zu Hilfe. Unter der Bezeichnung „ K o n f e r e n z d e r d e u t s c h e n B u n d e s s t a a t e n " — zugelassen waren auch Vertreter von Deutsch Österreich und Schleswig - Holstein, während vier Staaten nicht vertreten waren, — ist am 2 5 . November 1918 in Berlin eine Versammlung von Vertretern der damaligen revolutionären Regierungen in den bisherigen deutschen Einzelstaaten zusammengetreten, in der der Vorsitzende, Volksbeauftragter E b e r t , hinsichtlich der Verfassungsfrage erklärte: Die endgültige Regelung der Zusammenarbeit zwischen Reichsleitung und Bundesstaaten muss der N a t i o n a l v e r s a m m l u n g vorbehalten werden, zu deren baldigster Einberufung die damalige Regierung entschlossen sei. Vorerst müsse ein Provisorium zwischen Einzelstaaten und Reich geschaffen werden. Trotz der während der Beratungen zu Tage getretenen Gegensätze war infolge des stürmischenVerlangens der überwältigenden Mehrheit des in der Öffentlichkeit zum Ausdruck kommenden Willens des deutschen Volkes das Ergebnis der Beratungen einerseits ein Bekenntnis zur Nationalversammlung und zum Reich, andererseits die Bezeichnung der Räte als Repräsentanten des Volkswillens b i s z u m Z u s a m m e n t r i t t der N a t i o n a l v e r s a m m l u n g . Jetzt erst konnte der R a t der Volksbeauftragten am 3 0 . November die Verordnung über die Wahlen zur verfassunggebenden deutschen Nationalversammlung (Reichswahlgesetz) erlassen 8 ). 1) Vgl. hierzu Richard S c h m i d t , Die Grundlinien des Deutschen Staatswesens, S. 163 ff; Erwin J a c o b i , Das Verordnungsrecht im Reiche seit dem November 1918, Arch. f. öff. R., Bd. 39 (1920) S. 291 ff. 2) RGBl, S. 1345; Abänderungen vom 6., 19. u. 28 Dez. 1918, daselbst S. 1403, 1441, 1479; 14. u. 21. Jan. 1919_, RGBl. S- 32, 35 u. 93.

14 Erster Teil. Die geschichtl. Entwicklung d. neuen Reichsverfassimg.

Mit dem 1. Dezember konstituiert sich der R e i e h s a u s s c h u s s des Vollzugsrats der Arbeiter- und Soldatenräte. Am 0. Dezember wird E b e r t zum P r ä s i d e n t e n der sozialistischen deutschen Republik ausgerufen. Immer noch masst sich der Vollzugsrat eine mit dem Kabinett konkurrierende Verordnungsgewalt an. Am 9. Dezember kommt eine Verständigung zu Stande. Dannach hält der Vollzugsrat unbedingt an der durch die Revolution gegebenen Auffassung fest, dass ohne seine Zustimmung an der staatsrechtlich festgestellten Lage nichts geändert werden kann. Aus der Stellung des Vollzugsrats ergibt sich weiter das Recht zur Kontrolle. Dem Rat der Volksbeauftragten liegt die ihm übertragene Exekutiv» ob Ich vermag darin Neues nicht zu entdecken. Die staatsrechtliche Lage ist also dieselbe, wie am 22. November, nur schien es offenbar nötig, sie nochmals zu verkünden. In der Zeit vom 16. bis 20. Dezember tagt die D e l e g i e r t e n v e r s a m m l u n g ( R e i c h s k o n f e r e n z ) aller Arbeiterund Soldatenräte der ganzen deutschen sozialistischen Republik als „erstes deutsches P a r l a m e n t " A u c h sie erklärte, das» sie die ganze politische Macht in Deutschland darstelle, lehnte das R ä t e s y s t e m als Grundlage der Verfassung ab, beschlos» für den 19. Januar 1919 die Wahlen zur verfassunggebenden Nationalversammlung, und Ubertrug die gesetzgebende und vollziehende Gewalt bis zur endgültigen Regelung durch die Nationalversammlung dem Rate der Volksbeauftragten. Der Kongress bestellte ferner einen Z e n t r a l r a t der Arbeiterund Soldatenräte, der die Über wach ung des deutschen und preussischen Kabinetts zur Aufgabe hat. Ihm steht das Recht der Berufung und Abberufung der Volksbeauftragteu des Reichs und, bis zur endgültigen Regelung der staatlichen Verhältnisse, auch der Volksbeauftragten Preussens^ zu. Zur Überwachung der Geschäftsführung in den Reichsämtern werden vom Rat der Volksbeauftragteu Beigeordnete der Staatssekretäre bestellt. In jedes Reichsamt werden zwei Beigeordnete entsandt, die aus den beiden sozialdemokratischen Parteien zu entnehmen sind. Vor der Berufung der Fachminister und der Beigeordneten ist der Zentralrat zu hören. Alles schon bekannte Dinge! Die rechtliche Beurteilung ist daher dieselbe wie zuvor. Zu jenen Beschlüssen 1) Vgl. P u r l i t z ; Die deutsche Revolution, 1. Heft. S. 3 5 - 5 1 und 2. Heft, S. 158-164. 2) S. den eingehenden äusserst, interessauten Bericht, in dem auch die Fragen: Nationalversammlung oder Rätesystem und die Sozialisierung des Wirtschaftssystems behandelt wurden, bei P u r l i t z , Die deutsche Revolution, "2. Heft. S. 201-259.

I . A b s c h n i t t . D i e 5Ce.it v. H e r b s t 1918 b. •/.. E i n b e r u f . d. Nationalvei-s. 15-

geben Ebert uml Haase eine in der Presse als „authentisch" bezeichnete Erklärung- für das Kabinett ab, dieses verstehe unter der vorn Zentralrat zu handhabenden Überwachung, dass alle Gesetzentwürfe dem Zentralrat vorgelegt werden; dieser müsse, da er die Volksbeauftragtcn jederzeit abberufen könne, diesen das Recht lassen, a u c h o h n e s e i n e v o r g ä n g i g e G e n e h m i g u n g G e s e t z e zu e r l a s s e n . Ein Antrag, der demgegenüber für den Zentralrat ausdrücklich das Recht der vorherigen Zustimmung zu Gesetzen forderte, wurde in namentlicher Abstimmung abgelehnt. Das demokratische Prinzip schien sich durchzusetzen. Die in den Weihnachtstagen 1918 in Berlin sich abspielenden blutigen Vorgänge führen zu einer Krisis in der Reiehsregierung, die sich am 29. Dezember durch Ausscheiden der Unabhängigen (Haase, Dittmann, Barth) löst. Der Zentralrat bestimmt in gemeinsamer Sitzung mit der Regierung als neue Volkfbeauftragte Noske, Wissel und (den später ablehnenden) Lobe. Bei den amtlichen Mitteilungen ist vom Zentralrat zwar als von einer „höchsten Instanz" die Rede und er erklärt auch in einem Aufrufe am selben Tage, er habe dio Volksbeauftragten Ebert, Scheidemann, Landsberg, die ihre Ämter zur Verfügung gestellt haben, aufs neue bes t ä t i g t und die Regierung durch Hinzuwabi der neu erwählten drei Genossen vervollständigt. Aber es wird auch: von einem E i n v e r n e h m e n mit der bisherigen Regierung gesprochen; ein Ernennungsrecht des Vollzugsrates ist nicht deutlich in Anspruch genommen 1 ). Die staatsrechtliche Frage, ob der Berliner Arbeiter- und Soldatenrat, später der Reichsausschuss des Vollzugsrats und die Reichskonferenz oder ob der Rat der Volksbeauftragten als Inhaber der aus der Revolution hervorgegangenen Staatsgewalt anzusehen ist, hat geringe Bedeutung, wenn man darüber einig ist, dass die Legalität nicht nur seiner Verwaltungs-, sondern auch seiner Gesetzgebungsakte infolge der Übertragung1) Am 3. Januar 1919 traten die von der unabhängigen sozialistischen Partei gestellten Minister zurück: am 4. Januar haben auch die von den Mehrheitssozialisten entsandten Minister ihre Ämter dem Zentralrat zur Verfügung: gestellt. Am 6. Januar kommt es in Berlin und anderwärts zum Ausbruch eines bewaffneten Aufstandes. „Die Mehrheitssozialisten behaupten sich, die schon durch das Gesetz der Volsbeauftragten vom 12. Dezember 1918 in Aussicht genommene Volkswehr kommt zu greibaren Anfängen und gelangte sofort neben den zur Unterdrückung des Aufstandes herangezogenen Resten des alten Heeres zur Verwendung*. W a l d e c k e r , Zur staatsrechtlichen Lage JW 1919, S. 131, wo auch die einzelstaatliche Entwicklung skizziert ist.

16 Erster Teil. Die gesehichtl. Entwicklung d. neuen Reichsverfassung. der Staatsgewaltausübung auf ihn durch die Räteorganisation ausser Zweifel steht 1 ). Dagegen ist es wichtig, zu erkennen, dass die bisherige Verfassung des Deutschen Reiches zerstört •war. Bis dahin war der B u n d e s r a t der Souverän des Deutschen Reiches, die Reichsgewalt lag in seiner Hand,, soweit sie nicht durch besondere Bestimmungen dem Kaiser Ubertragen war. Dieser hatte nur die ihm ausdrücklich gewährten Befugnisse, alle andern standen im Zweifel dem Bundesrat zu. Er war gebildet worden aus Bevollmächtigten der Landesherren bezw. der Senate von Hamburg, Bremen und Lübeck. Die Landesherren haben teils formell abgedankt, teils sind sie abgesetzt worden, teils haben sie sich „freiwillig" bis zur Klärung der Frage der Staatsform durch die Nationalversammlung ihrer seitherigen staatsrechtlichen Stellung begeben. Auf jeden Fall sind 6ie aus der aktiven Teilnahme an der deutschen Staatsgewalt ausgeschieden s ), konnten keine Bevollmächtigten mehr in den Bundesrat senden und die in ihn früher gesandten hatten keine Vollmachtgeber und deshalb keine Vollmacht mehr. Die verbündeten Regierungen sind durch die deutsche Revolution ausser Wirksamkeit gesetzt worden. Der Rat der Volksbeauftragten hat zwar eine Verordnung vom 14. November 1918 (RGBl. S. 1311) erlassen, wonach der Bundesrat ermächtigt wird, die ihm nach den Gesetzen und Verordnungen deg Reichs zustehenden Verwaltungsbefugnisse auch fernerhin auszuüben. Diese mit Gesetzesk r a f t versehene Verordnung trat mit ihrer Verkündigung am 15. November 1918 in Kraft. Gegenüber den in der Öffent1) S. unten S. 25 f., 51 ff. Dagegen ist es wissenschaftlichpolitisch von dauernder Bedeutung, wer die Staatsumwälzung vollbrachte und sich der Staatsgewalt bemächtigte. „Die Deutsche Revolution von 1918 ist von einem meuternden Heer und einer radikalsozialistischen Arbeiterschaft gemacht worden". A n s c h ü t z in seinem lind Georg M e y e r s Lehrbuch des deutschen Staatsrechts, 7. Aufl., S. 1034.) Nach L u k a s (Die organisatorischen Grundgedanken der neuen Reichsverfassung 1920 S. 3) seien d i e s e die politischen Träger der Revolution gewesen und es erscheinen anstelle der „verbündeten Regierungen" die von den Arbeiter- und Soldatenräten repräsentierten sozialen Klassen als die politischen Träger der Reichsgewalt. Vom 9. November 1918 bis zum Zusammentritt der Nationalversammlung am 6. Februar 1919 sei das Deutsche Reich eine Republik mit Klassenherrschaft gewesen, die sich auf diese politisch bevorrechteten Klassen stützte und nicht etwa auf die Regierungen der Einzelstaaten. Das klingt bestechend. Ist aber nicht jede Staatsherrschaft in d e m Sinne eine Klassenherrschaft, dass sie den mit tatsächlicher Macht ausgestatteten Klassen und Gruppen zufällt? Stand damals nicht die Mehrheit des deutschen Volks hinter der „Reichsgewalt' ? 2) Siehe hierüber im einzelnen Purlitz, Die deutsche Revolution, Heft 1, S. 65—161.

1. Abschnitt. Die Zeit v. Herbst 1918 b. z. Einberuf. d. Nationalvers. 17

iichkeit sofort aufgetauchten Zweifeln wurde dann amtlich erklärt, dass die g e s e t z g e b e n d e n Befugnisse des Bundesrat» zwar beseitigt seien, nicht aber die verwaltenden. Nach der bisherigen Reichsverfassung hatte aber der Bundesrat ausser Zuständigkeiten auf dem Gebiete der Rechtspflege (Art. 76, 77) vor allem eine solche auf dem der Gesetzgebung, die von ihm in Übereinstimmung mit dem Reichstage ausgeübt wurde (Art. 5). Ein Bundesrat, dem seine Hauptfunktion entzogen ist, ist nicht mehr der Bundesrat der Reichsverfassung. Der Name mag geblieben sein, die sachliche Einrichtung besteht nicht mehr*). Man kann also jene Verordnung staatsrechtlich nur so werten, dass unter „Bundesrat" eine Körperschaft verstanden wird, die noch (ganz oder teilweise) aus den früheren Bevollmächtigten der deutschen Landesregierungen besteht und Verwaltungstätigkeit nach der Art und (vielleicht) dem Umfange der früheren Staatsordnung leistet. Zu beachten bleibt auch, dass der Vorsitz im Bundesrat nach Art. 15 Abs. 1 der bisherigen Reichsverfassung dem vom Kaiser zu ernennenden Reichskanzler zustand. Gab es keinen Deutschen Kaiser mehr, so konnte es auch keinen Reichskanzler mehr geben, oder nar einen Reichskanzler, der von einem nicht mehr regierenden Kaiser eingesetzt wurde 2 ). Auch die Wirksamkeit des R e i c h s t a g e s hatte aufgehört. Sein staatsrechtliches Dasein war erloschen. Die, übrigens wieder rückgängig gemachte, Verwahrung seines letzten Präsidenten gegen die Ausschaltung des Parlaments hatte, ebenso wie der Vorbehalt der Einberufung, nur theoretische Bedeutung. Die revolutionären Machthaber lehnten den Reichstag ab. Dagegen war, nachdem sich die überwältigende Mehrheit des deutschen Volkes für die Wahl einer später auch zustande gekommenen verfassunggebenden Nationalversammlung ausgesprochen hatte, das Schicksal des auf Grund der bisherigen Reichsverfassung gewählten Reichstages besiegelt 9 ). Die Verfassungsform D e u t s c h l a n d s w a r zus a m m e n g e b r o c h e n . Wie die Eingangsformel der Reichsverfassung vom 14. April 1871 erklärte, schliessen der König von Preussen im Namen des Norddeutschen Bundes, die Könige von Bayern und Württemberg, die Grossherzöge von Hessen und Baden „einen ewigen Bund, der den Namen Deutsches Reich führen wird". Der Bestand dieses Deutschen Reiches 1) Vgl. auch F r i t e r s , Revolutionsgewalt und Notstandsrecht 1919, S. 98 f. 2) S t i e r - S o m l o , Die Vereinigten Staaten von Deutschland (Demokratische Reichsrepublik) 1919, S. 40. 3) Anderer Meinung S t r u p p in DJZ. 1919, Sp. 86ff. Stier-Somlo, ReichsTerfassung. 2. Aufl.

2

18 Erster Teil. Die geschichtl. Entwicklung' d. neuen Reichs Verfassung. war nach Massgabe seiner Verfassung an das Vorhandensein der Monarchen gebunden. Mit der Abdankung, Absetzung oder freiwilligen vorläufigen Verzichtleistung der deutschen Fürsten im November 1918 haben die Staaten als mon a r c h i s c h e zu bestehen aufgehört. Mit der Beseitigung ihrer Oberhäupter sind die monarchischen Mitglieder des deutschen Bundesstaates fortgefallen. GewisB gehörten dem Deutschen Reiche auch die Republiken Hamburg, Bremen und Lübeck an. Aber gelbst angenommen, dass sie in ihrem Bestände und ihrer Verfassungsorganisation nach der deutschen Revolution unversehrt erhalten geblieben wären, so können sie doch natürlich nicht allein das Deutsche Reich darstellen, nachdem die Monarchien a l s s o l c h e zu bestehen aufgehört haben. Das b i s h e r i g e R e i c h können die bisherigen Einzelstaaten als Republik schon deshalb nicht darstellen, weil es 22 M o n a r c h i e n umfasst hatte. Die Staatsform ist daher aufgelöst. Vorläufig war ein werdender Staat mit einer provisorischen Staatsgewalt vorhanden, dessen Kennzeichen die Republik mit einem Reichspräsidenten an der Spitze, einer sich auf die Arbeitervolksmehrheit stutzenden Regierung war, die in Ermangelung einer normalen Volksvertretung die gesetzgebende und exekutive Gewalt in sich vereinigte und auch die rechtsprechende inne hatte, wenn sie auch ihre Ausübung in den Händen eines unabhängigen Richtertums beliess. Welche staatsrechtliche Rolle auch etwa der Reichskonferenz der Arbeiter- und Soldatenräte zugewiesen werden konnte, günstigstenfalls wäre es die eines recht unregelmässig zustande gekommenen Parlaments gewesen. Bezüglich der mit „Gesetzeskraft" erlassenen Verordnungen ist zu beachten, dass eine Übereinstimmung mit dem Berliner Vollzugsausschuss nicht erwähnt worden ist, „was darauf deutet, dass das Kabinett von sich aus gehandelt hat und nicht bloss als Exekutive den revolutionären Willen der Räte-Konstituante oder ihres Vollzugsrats ausführen wollte. Tatsächlich scheint aus den späteren Ereignissen der Schluss gezogen werden zu können, als hätte das Kabinett solchergestalt aus eigener Machtvollkommenheit gehandelt" Am 20. Januar wird der vom Staatssekretär des Innern Dr. Preuss verfasste v o r l ä u f i g e E n t w u r f e i n e r R e i c h s v e r f a s s u n g veröffentlicht, der zwischen Kabinett und Zentralrat einerseits und den Vertretern der gliedstaatlichen Regierungen andererseits beraten wurde. Mit dem Zusammentritt der Nationalversammlung ist ein höchst unerfreulicher und 1) W a l d e c k e r , a. a. O., S. 748.

II. Abschnitt. Das Gesetz über die vorläufige Reichsgewalt. 19 unsicherer staatsrechtlicher Zustand beseitigt worden, der dahin formuliert worden war, dass „das Kabinett nach seinem eigenen Willen Gesetzgebung und Vollziehung nur übt als jederzeit widerrufliche und kontrollierte subjektive Befugnisse gegenüber dem Zentralrat, der damit vom Kabinett als der eigentliche Träger der revolutionären Gewalt anerkannt ist, der er zu sein behauptet"

II. Abschnitt.

Der Zusammentritt der verfassunggebenden Nationalversammlung. Das Gesetz über die vorläufige Reicbsgewalt vom 10. Februar 1919 2). Die am 19. Januar gewählte verfassunggebende Nationalversammlung wurde durch Verordnung der Reichsregierung am 21. Januar berufen, um am 6. Februar in Weimar zusammenzutreten (RGBl, S. 93). An diesem Tage erklärte der Volksbeauftragte E b e r t : „Die provisorische Regierung verdankt ihr Mandat der Revolution; sie wird es in die Hände der Nationalversammlung zurücklegen. In der Revolution hat sich das deutsche Volk gegen eine veraltete zusammenbrechende Gewaltherrschaft erhoben. Sobald das Selbstbestjmmungsrecht des deutschen Volkes gesichert ist, kehrt es zurück auf den Wieg der Gesetzmässigkeit. Nur auf der breiten Heerstrasse der parlamentarischen Beratung und Beschlussfassung lassen 1) W a l d e c k e r , JW 1919, S. 133, wo auch die sorgenvolle Andeutung gemacht ist, die einfache Anknüpfung an das Gewesene im Sinne der politischen Revolution sei nicht möglich. Wir lebten (damals) in s t ä n d e s t a a t ä h n l i c h e n Zuständen, in einer Welt der subjektiven Rechtsverhältnisse und der Gegenseitigkeit. Die Revolution habe die in der alten Reichsverfassung liegenden Bindungen subjektiver Willkür beseitigt; an deren Stelle sei eine sich stündlich kaleidoskopartig verlagernde Welt der Vereinbarungen getreten. Mag diese Auffassung bis zum Zusammentritt der Nationalversammlung eine Stütze in den geschilderten Ereignissen vielleicht gehabt haben, so ist sie seither gegenstandslos geworden. Deshalb braucht auch hier auf die (für andere Rechtsverhältnisse gewiss noch sehr wichtige) rechtliche Stellung der Arbeiter- und Soldatenräte und auf die Haftbarkeit für ihre Massnahmen nicht eingegangen werden. (S. hierüber E c k s t e i n , JW. 1919, S. 187ff. und R e c h e n b a c h im Preuss. Verwaltungsblatt, Bd. 40 S. 400). 2) Vgl. hierzu Erwin J a c o b i , Das Verordnungsrecht im Reiche seit dem November 1918, Arch. f. öff. R., Bd. 39 (1920) S. 299 ff.

20 Erster Teil. Die geschichtl. Entwicklung d. neuen ReichVerfassung.

sich die unaufschiebbaren Veränderungen auch auf wirtschaftlichem und sozialem Gebiete vorwärts bringen, ohne das Reich und sein Wirtschaftsleben zu Grunde zu richten. E s beg r ü s s t d i e R e i c h s r e g i e r u n g in der N a t i o n a l v e r s a m m l u n g den h ö c h s t e n u n d e i n z i g e n S o u v e r ä n in D e u t s c h l a n d " . Der Alterspräsident Pfannkuch betonte: „Diese N a t i o n a l v e r s a m m l u n g ist d e r A u s d r u c k d e s W i l l e n s d e r d e u t s c h e n N a t i o n , s i e a l l e i n h a t von h e u t e a n in D e u t s c h l a n d zu e n t s c h e i d e n , sie a l l e i n t r ä g t d i e V e r a n t w o r t u n g für Deutschlands Zukunft". Zum Präsidenten wurde der sozialdemokratische Abg. Dr. David, zu Vizepräsidenten wurden die Abg. Fehrenbach (Christliche Volkspartei), Haussmann (Deutsch-Demokrat) und Dietrich (Deutschnational) gewählt. Der erste sachliche Gegenstand der Beratung der Nationalversammlung war der Entwurf, der dan» als G e s e t z ü b e r d i e v o r l ä u f i g e R e i c h s g e w a l t vom 10. Februar 1919 (RGBl. S. 169) verkündet wurde. Die einleitende Rede des Staatssekretärs Dr. Preuss lehnt jede» Zweifel darüber ab, dass es der Beruf der Nationalversammlung als T r ä g e r i n d e r S o u v e r ä n i t ä t d e s V o l k e s sei, von sich aus allein den neuen Verfassungzustand zu schaffen. Von dem „gar nicht stark genug zu betonenden Standpunkt der R e i c h s e i n h e i t aus", dürfe man Trieb und Hang zu engeren Gemeinschaften nicht lediglich bekämpfen. Das Verfassungswerk soll möglichst auf Verständigung beruhen, bevor es zustande kommt; aber es muss so schnell wie möglich eine rechtliche Ordnung begründet werden, die durch Sanktion der souveränen Nationalversammlung eine demokratisch anerkannte Gewalt ausüben kann und die dem Auslande gegenüber berechtigt ist, im Namen des deutschen Volkes zu sprechen und zu handeln '). Mit Rücksicht auf dieses Ziel wurde in diesem auf Grund eines Kompromisses mit den Einzelstaaten zustandegekommenen Gesetz Anspruch auf Vollständigkeit nicht erhoben, die Frage der Zuständigkeit zwischen Reich und Einzelstaaten wie auch andere Kompetenzfragen wurden absichtlich ausgeschaltet. Zunächst wird der Nationalversammlung die Aufgabe überwiesen, die künftige Reichsverfassung, sodann auch, sonstige dringende Reichsgesetze zu b e s c h l i e s s e n X§ 1); die souveräne Nationalversammlung hat mit niemandem zu v e r e i » 1) Entwurf eines Gesetzes über die vorläufige Reichsgewalt, Drucks. Nr. 2 , 7 , 1 0 ; StenBer. S. 12ff-, 18ff.; M e n c k e - G l ü c k e r t , Die Novemberrevolution 1918. Ihre Entstehung und ihre Entwicklung bis zur Nationalversammlung 1919, S. 144 ff.

II. Abschnitt.

Das Gesetz über die vorläufige Reichsgewalt.

21

b a r e n . Aber sie kann sich seibat beschränken. Dies geschieht zwar nicht für das Verfassungswerk selbst *), wenn auch den Einzelstaaten die Befugnis verliehen wird, in dem vorgesehenen S t a a t e n a u s s c h u s s vorzuberaten und zu dem Verfassungsentwurf Stellung zu nehmen. Bei den andern, n i c h t d i e Verf a s & u n g s g e s e t z g e b u n g betreffenden d r i n g e n d e n Gesetzen wird eine Zustimmung der einzelstaatlichen Vertretung, eine Ubereinstimmung zwischen dem Staatenausschuss und der Nationalversammlung vorgesehen. Es bedarf also die Einbringung von Vorlagen der Reichsregierung an die Nationalversammlung, soweit nicht die künftige Verfassung in Frage steht, die a l l e i n von der Nationalversammlung verabschiedet wird, der Zustimmung des Staatenausschusses. Dieser wird gebildet von Vertretern derjenigen deutschen Freistaaten, deren Regierung auf dem Vertrauen einer aus allgemeinen, gleichen, geheimen und direkten Wahlen hervorgegangenen Volksvertretung beruht 8 ). In dem Staatenausschusse hat jeder Freistaat mindestens eine Stimme. Bei den grösseren Freistaaten entfällt grundsätzlich auf eine Million Landeseinwohner eine Stimme, wobei ein Überschuss, der mindestens der Einwohnerzahl des kleinsten Freistaates gleichkommt, einer vollen Million gleichgerechnet wird. Kein Freistaat darf durch mehr als ein Drittel aller Stimmen vertreten sein. „Das historische Stimmgewicht der Einzelstaaten ist beseitigt und durch ein modernes Prinzip der Einflussverteilung ersetzt worden, das sich auf dem Verhältnis der Einwohnerzahl des Gliedstaates zum Ganzen aufbaut 3 ). Den Vorsitz im Staatenausschusse 1) Deshalb bemängelte es der Abg. Dr. H e i m für die Bayrische Yolkspartei, dass die Nationalversammlung bei der Verabschiedung der engültigen Reichsverfassung weder an die Zustimmung der Einzelstaaten noch des Staatenausschusses gebunden sei und zwar nicht einmal hinsichtlich der in Art. 78 Abs. 2 der bisherigen Seichsverfassung festgesetzten Sonderrechte der Einzelstaaten. Er neint, dass die im Entwurf vorgesehene Ermächtigung sogar so weit gehe, dass durch die Nationalversammlung die Beseitigung einzelner oder aller Bundesstaaten und die Schaffung der deutschen Einheitsrepublik möglich gemacht werde. Der bayrische Gesandte hat deshalb bei der Beratung erklärt, seine Regierung, die württembergische und badische gingen von der Voraussetzung aus, dass durch Annahme des Gesetzes der Entscheidung über die Sonderrechte der einzelnen Freistaaten nicht vorgegriffen werde. Diese Auffassung teilte der Volksbeauftragte Ebert (StenBer. S. 20 f.). Doch war die Kennzeichnung des Rechts der Nationalversammlung durch Dr. Heim zutreffend. 2) Bis zum 31. März 1919 konnten mit Zustimmung der Reichsregierung auch andere deutsche Freistaaten Vertreter entsenden. § 2 Abs. 1, § 4 Abs. 4, Satz 1 des Uebergangsgesetzes v. 4. März 1919. 3) A p e l t , Das Werden d.neuenReichsverfass.,DJZ. 1919,Sp. 205

22 Erster Teil. Die geschichtl. Entwicklung d. neuen Reichsverfassung. führt ein Mitglied der Reichsregierung 1 ). Der Staatenausschuss erinnert an den Bundesrat, unterscheidet sich aber von ihm in Bezug auf die Gesetzgebung in zwei Punkten. Wenn eine Übereinstimmung zwischen der Reicbsregierung und dem Staatenausschusse nicht zustande kommt, darf jeder Teil seinen Entwurf der Nationalversammlung zur Beschlussfassung vorlegen. Es ist der verantwortlichen Reichsregierung nicht durch einen Mehrheitsbeschluss des Staatenausschusses der Weg zur Nationalversammlung, weder bei der Verfassung noch bei den anderen Gesetzen abgeschnitten. Ferner kann, wenn bezüglich der „sonstigen dringenden Reichsgesetze" eine Übereinstimmung zwischen Nationalversammlung und Staatenausscbuss nicht zu erzielen ist, der Reichspräsident die Entscheidung durch eine Volksabstimmung herbeiführen 2 ). Die Mitglieder der Reichsregierung und des Staatenausschusses haben das Recht, an den Verhandlungen der Nationalversammlung teilzunehmen und dort jederzeit das Wort zu ergreifen, damit sie die Ansichten ihrer Regierung vertreten. Den Freistaaten wird zugesichert, dass ihr Gebietsstand nur mit ihrer Zustimmung geändert werden kann ( § 3 , § 4 Abs. 1, Satz 2), „d. h. die Einzelstaaten sollen sicher sein können, (iass nicht einfach durch Beschluss der Nationalversammlung ohne ihren Willen eine neue Einteilung der Landkarte von Deutschland jetzt ohne weiteres stattfindet" 3). Kriegserklärung und Friedensschluss erfolgen durch R e i c h s g e s e t z . Verträge mit fremden Staaten, die sich auf Gegenstände der Reichsgesetzgebung beziehen, bedürfen der Zustimmung der Nationalversammlung und des Staatenausschusses. Das internationale Vertragsrecht ist erhalten geblieben mit dem Hinzufügen, dass, s o b a l d Deutschland einem Völkerbund mit dem Ziele des Ausschlusses aller G e h e i m V e r t r ä g e beigetreten sein wird, alle Verträge mit den im Völkerbund vereinigten Staaten der Zustimmung der Nationalversammlung und des Staatenansschusses bedürfen 4 ). An die Spitze des Reichs wird ein R e i c h s p r ä s i d e n t gestellt. Er führt die Geschäfte des 1) § 2 Abs. 2. W e n n Deutsch-Österreich sich dem Deutschen Reiche (mit Zustimmung des Völkerbundes!) anschliesst, erhält es das Recht der Teilnahme am Staatenausschusse mit einer dem Abs. 2 entsprechenden Stimmenzahl. Das« es bis dahin mit beratender Stimme teilnimmt, ist falsch. Vgl. § 2 Abs. 3. 2) § 2 Abs. 4, § 4 Abs. 2. 3) Staatssekretär Dr. Preuss in den StenBer. S. 14. 4) § 6 Abs. 2—4. Auf die Nationalversammlung finden die Art. 21—23,26,32 der bisherigen Reichsverfassung entsprechende Anwendung mit der Massgabe, dass Art. 21 sich auch auf Soldaten bezieht. § 5.

II. Abschnitt.

Das Gesetz über die vorläufige Reichsgewalt.

23

Reichs, vertritt es völkerrechtlich, geht im Namen des Reichs Verträge mit auswärtigen Mächten ein, beglaubigt und empfängt Gesandte, verkündet die beschlossenen Reichsgesetze und Verträge im Reichsgesetzblatt. E r wird von der Nationalversammlung mit absoluter Mehrheit *) gewählt. Sein Amt dauert bis zum Amtsantritt eines neuen Reichspräsidenten, der auf Grund der künftigen Reichsverfassung gewählt wird 8 ). Er beruft für die Führung der Reichsregierung ein R e i c h s ministerium, dem sämtliche Reichsbehörden und die oberste Heeresleitung unterstellt sind. Über die innere Organitation des Reichsministerims sind zwar keine Bestimmungen getroffen, doch ist im Sinne der parlamentarischen Regierungsweise festgelegt worden: Die Reichsminister bedürfen zu ihrer Amtsführung des Vertrauens der Nationalversammlung; sie sind für die Führung ihrer Geschäfte verantwortlich; sie sind nicht bloss, wie früher grundsätzlich die Staatssekretäre, Gehilfen des Reichskanzlers. Alle zivilen und militärischen Anordnungen und Verfügungen des Präsidenten bedürfen zu ihrer Gültigkeit der Gegenzeichnung durch einen Minister 5 ). Als selbstverständlich wird vorausgesetzt, dass an der Spitze des Ministeriums der M i n i s t e r p r ä s i d e n t steht; der Name des Reichskanzlers ist hier noch vermieden. Bezüglich des Z e i t p u n k t e s d e s I n k r a f t t r e t e n s des Gesetzes ergab sich eine einzigartige staatsrechtliche Lage. Die normale Voraussetzung für die Wirksamkeit jedes von einem Parlament beschlossenen Gesetzes ist die Verkündigung. Letztere setzt aber eine Regierung voraus, die zu dieser Verkündigung befugt ist. Das Gesetz vom 10. Februar schuf aber erst die Regierung, die es verkünden konnte. Deshalb entsprach es der Natur der Dinge, dass die Verkündigung dieses Gesetzes nicht erst durch die demnächst zu schaffende Regierung erfolgen konnte. Es wurde daher beschlossen, dass «las Gesetz mit seiner Annahme durch die Nationalversammlung in dritter Lesung kraft der Souveränität des Parlaments in Wirksamkeit tritt. Seine Authentizität festzustellen lag ausnahmsweise dem P r ä s i d e n t e n d e r N a t i o n a l v e r s a m m l u n g ob. E r hatte es zu unterschreiben und unterschrieb es auch. DaB war eine verfassungsrechtliche Kuriosität! Von dem Zeitpunkte des Inkrafttretens ab kamen Gesetze sowie Verord1) Gemeint ist, dass der Gewählte mehr als die Hälfte der -abgegebenen Stimmen erhalten haben tnuss. Absolute Mehrheit ist .unbedingte, einfache Mehrheit relative Mehrheit, heisst es in den StenBer. S. 30 D bis 31 D. 2) § 6 Abs. 1 und 5, § 7. 3) §§ 8, 9.

24 Erster Teil. Die geschichtl. Entwicklung d. neuen Reicbsverfassungrangen, die nach dem bisherigen Reichsrecht der Mitwirkung des Reichstags bedürfen, nur durch Übereinstimmung zwischen der Nationalversammlung und dem Staatenausschusse zustande 1 ). Da8 Gesetz rom 10. Februar hatte von vornherein in allen Teilen nur provisorischen Charakter, wollte der endgültigen Regelung der Dinge nicht vorgreifen, die Wege, die bei Schaffung der Verfassung zu gehen sein würden, nicht sperren, die Sonderrechte der Einzelstaaten nicht beseitigen. Nach dem Willen der Mehrheit sollte „der Übergang vom revolutionären rechtlosen Zustande zum Zustande einer Rechtsordnung möglichst beschleunigt werden" 8 ). Diese staatsrechtlich bedeutsamen Einzelregelungen sind zwar durch die endgültige Reichsverfassung inzwischen überholt worden; aber auch für Gegenwart und Zukunft bleibt es bedeutsam, d a s s m i t d e m Z u s a m m e n t r i t t d e r N a t i o n a l v e r s a m m l u n g d i e s e als die e i n z i g e T r ä g e r i n d e r S o u v e r ä n i t ä t des deutschen V o l k e s a n e r k a n n t w o r d e n i s t , dass alle bisherigen Organisationen, insbesondere der Zentralrat der Arbeiter- und Soldatenräte n i c h t mehr als der Auftraggeber der Volksbeauftragten galt, mindestens nicht mehr nach Erlass des Gesetzes vom 10. Februar 1919®). 1) 8 10. 2) StenBer. S. 15, 20, 21, 26. S. oben S. 19 Anm. 2. 3) Diese Auffassung ist von Seiten der Regierung und TOXI der überwiegenden Mehrheit der Nationalversammlung zum Ausdruck gebracht worden. Vgl. StenBer. S. 20, 28. Anders nur die Vertreter der unabhängigen Sozialdemokratie, die folgenden Antrag gestellt haben: „ L e g t das Z e n t r a l o r g a n d e r A r b e i t e r un d S o l d a t e n r ä t e gegen ein in der Nationalversammlung in dritter Lesung beschlossenes Gesetz oder eine von der Nationalversammlung beschlossene Verordnung mit Gesetzeskraft innerhalb zweier Wochen nach dem Beschluss Ginspruch ein, 60 tritt das Gesetz oder die Verordnung nicht in Kraft, sondern es ist die Entscheidung durch eine V o l k s a b s t i m m u n g herbeizuführen. Der Einspruch ist bei der Nationalversammlung schriftlich einzulegen. Die.Nationalversammlung überweist ihn der Regierung; diese hat die Volksabstimmung zu veranlassen. Zur Abstimmung sind alle Wahlberechtigten befugt*. Die Ablehnung des Antrags beugte dem Versuch vor, die Reichsregierung von der Räteorganisation abhängig zu machen. Anstelle des von dem Parlamente gewählten Reichspräsidenten verlangte ferner die unabhängige Sozialdemokratie ein Kollegium von gleichberechtigten Männern von etwa fünf Köpfeil und wandte sich auch gegen den Staatenausschuss, den' sie, m. E. nicht ohne Grund, als ein Hindernis beim Aufbau einer e i n h e i t l i c h e n R e p u b l i k Deutschland ansah. Gewiss war es auch eine Lücke, dass nicht bestimmt wurde, wer im Freistaat die Stimmen entsendet, das Volk, das Parlament oder die Regierung und wer die Stimmen instruiert. Der Auftrag ist ein gebundener gewesen, denn nach § 3 haben die Mitglieder des Staatenaus-

II. Abschnitt. Das Gesetz über die vorläufige Iteiehsgewalt.

25

Es ist weiterhin von dauernder Bedeutung, dass die Wiederaufnahme der Bundesratseinricbtung in der Form de» S t a a t e n a u s s c h u s s e s d e n Grundgedanken verdunkelt, dass d a s n e u e R e i c h n i c h t e i n v e r t r a g s m ä s s i g e r B u n d i s t , dass die einheitliche, auf der Volkssouveränität beruhende Reichsgewalt stark u n i t a r i s c h e n Charakter hat und von verbürgten Sonderrechten der Einzelstaaten frei sein soll. Dass der Bundesratsgedanke jeder wirklichen parlamentarischen Regierung •tark hemmend entgegentreten muss, bleibt eine unantastbare Wahrheit. All das musste nachwirken und hat nachgewirkt -'). Nach Annahme des Gesetzes vom 10. Februar 1919 erklärte der Volksbeauftragte S c h e i d e m a n n : „Nachdem die Nationalversammlung zusammengetreten und die provisorische Verfassung verabschiedet ist, ist die geschichtliche Mission, die uns als vorläufiger Regierung zugefallen war, beendet. W i r l e g e n die M a c h t , die wir von der R e v o l u t i o n e m p f a n g e n h a t t e n , h i e r m i t in i h r e H ä n d e . " Der Abg. von P a y e r machte, weil wir ohne Regierung nicht sein könnten, ausschusses das Recht zur Teilnahme an Verhandlungen erhalten, damit sie die A n s i c h t e n i h r e r R e g i e r u n g , nicht ihre eigenen, vertreten. 1) Immerhin igt kennzeichnend, dass weder der Rat der Volksbeauftragten, noch der seit dem 19. Dezember 1918 als Aufsichtsorgan über ihr stehende Zentralrat der Arbeiter- und Soldatenräte Deutschlands den Einzelstaaten eine Vertretung eingeräumt hat. M e y e r - A n s c h ü t z , a.a.O. S. 1038, L u k a s , a.a.O. S. 3. Für den, der mit letzterem bis zum 6. Februar 1919 das Bestehen einer Klassenherrschaft annimmt, beginnt mit diesem Zeitpunkt „die Regierungsfortn der Demokratie". War es früher etwa eine Diktatur des Proletariats? 2) O t t o M a y e r , Zur vorläufigen Reichsverfassung, JW 1919 S. 210, ist auch dafür, dass die „Freistaaten" ihren Wirkungskreis behalten und ihn möglichst frei auf ihre Weise ausfüllen. Aber 4azu sei nicht nötig, dass das zu formalen Rechten und Sonderrechten dieser Staaten gestaltet sei, noch dass ihren Regierungen rechtliche Macht gegeben werde über die Ausübung der Reichsgewalt. Auch er scheint es zu bemängeln, dass die Zustimmung des Staatenausschusses wie ehemals rechtliche Bedeutung hat für die Gesetzesvorlagen, die die Regierung dem Reichstage machen will, für das Zustandekommen von Reichsgesetzen, für Kriegserklärung und Friedertschiuss, für Verträge mit fremden Staaten. Immerhin sieht, wie A p e l t , Das Werden der neuen Reichsverfassung, DJZ 1918, Sp. 205, richtig herausgefühlt hat, das Gesetz über die vorläufige Reichsgewalt das deutsche Reich nicht etwa als durch die Ereignisse der Revolution in seine Teile zerfallen an, die durch Verträge neu verbunden werden müssten, sondern es geht von ihm als von einer bestehenden staatsrechtlichen Einheit aus und will nur die Lücken schliessen, die in die alte Organisation gerissen werden sind.

26 Erster Teil. Die gesc.hiehtl. Entwicklung d. neuen Reichs Verfassung.

hieran! den Vorschlag, dass die Nationalversammlung die Volksbeauftragten ersucht, ihre Ämter solange weiterzuführen, bis auf Grund der vorläufigen Verfassung ein Reichspräsident .gewählt und ein Reicbsministerinra gebildet ist. Die Versammlung war damit einverstanden. S c h e i d e m a n n erklärte für seine Kollegen in der Regierung, dass sie bereit sind, dem Wunsche des Hauses nachzukommen1). Dienstag, den 11. Fehruar 1919 wurde in der Nationalversammlung ein Schreiben des „Zen t r a l r a t s d e r d e u t s c h e n s o z i a l i s t i s c h e n R e p u b l i k " verlesen, aus dem drei Punkte von staatsrechtlicher' Bedeutung sind: E r s t e n s die Erklärung: der Z e u t r a l r a t legt in der Erwartung, dass die Nationalversammlung ihre volle Souveränität durchführt, die ihm vom R e i c h s k o u g r e s s der A r b e i t e r - und S o l d a t e n r ä t . e ü b e r t r a g e n e G e w a l t in d i e Hände der deutschen N a t i o n a l v e r s a m m l u n g ; z w e i t e n s , dass er.die E i n g l i e d e r u n g d e r A r b e i t e r a n d S o l d a t e n r ä t ö in die k ü n f t i g e R e i c h s v e r f a s s u n g zur Stärkung der Arbeitervertretung und ihrer Produktionsinteressen sowie zur volkstümlichen Gestaltung des Wehrwesens verlangt; d r i t t e n s , dass er die schädliche Wiedererstarkung einzelstaatlicher Hobeitsrechte, dje über die Geltendmachung landsmannschaftlicher Selbstverwaltungs- und Kulturinteressen hinausgehn, auf das entschiedenste bekämpft. Am selben Tage wurde der Volksbeauftragte E b e r t von der Nationalversammlung mit 277 der abgegebenen 328 gültigen Stimmen zum R e i c h s p r ä s i d e n t e n gewählt. Er legte sein Abgeordnetenmandat für die Nationalversammlung nieder und berief auf Grund des § 8 des Gesetzes über die vorläufige Reichsgewalt ein R e i c h s m i n i s t e r i u m , zu dessen Präsidenten Scheidemann. Da auch der Abg. Dr. David zum Reichsminister (ohne Portefeuille) berufen wurde, legte er am 13. Februar das Amt des Präsidenten der Nationalversammlung nieder. Au seine Stelle wurde am 14. Februar der Abg. F e h r e n b a c h znm Präsidenten, der Abg. S c h u l z (Ostpreussen) zum Vizepräsidenten gewählt. Arn 21. Februar wurde in allen drei Beratungen das Gesetz über G e w ä h r u n g e i n e r E n t s c h ä d i g u n g an d i e M i t g i e d e r d e r v e r f a s s u n g g e b e n d e b N a t i o n a l v e r s a m m l u n g angenommen, das dann, vom 22. Februar 1919 datiert, verkündet wurde 1 ). 1) StenBer. S. 36, C, D. 2) RGBl. S. 241. E s bestimmt folgendes: Die Mitglieder der Nationalversammlung erhalten für die Dauer der Versammlung

II. Abschnitt. Am gebenden fassung gelegt 1 ).

Das Gesetz über die vorläufige Reichsgewalt.

27

21. Februar 1919 wurde endlich der verfassungNationalversammlung der E n t w u r f e i n e r V e r d e s D e u t s c h e n R e i c h e s zur Beschlussfassuug vorVor dem Bericht über seine ä u s s e r e n Schicksale

sowie 8 Tage nach deren Scliluss freie Fahrt auf den deutschen Eisenbahnen sowie vom 1. Februar 1919 ab eine monatliche Aufwandsentschädigung von monatlich 1000 M., die an jedem Monatsersten im Voraus zu zahlen ist. Tritt die Nationalversammlunglänger als eine Woche zu einer Vollsitzung nicht zusammen, während einer ihrer Ausschüsse tagt, erhalten dessen Mitglieder ausser der Aufwandsentschädigung ein Tagegeld von 20 M. für jeden T a g der durch das Sitztingsprotokoll des Ausschusses nachgewiesenen Anwesenheit (§§ 1, 2). Für jeden Tag, an dem ein Mitglied der Nationalversammlung der Vollsitzung ferngeblieben ist, wird von der Entschädigung ein Betrag von 30 M. abgezogen. Dieser Abzug findet aber nicht statt, wenn der Abgeordnete am gleichen Tage einer Ausschussitzung als Mitglied (also nicht als Gast oder Zuhörer) angewohnt hat. oder wenn das Fernbleiben durch Krankheit oder durch Geschäfte im Interesse der Nationalversammlung veranlasst ist. Die Entscheidung darüber, ob diese Voraussetzungen vorliegen, steht dem Präsidenten der Nationalversammlung zu, der auch die Bestimmung über den Nachweis der Anwesenheit trifft (» 3, § 5 Satz 1). Wenn eine ,Beurlaubung" durch den Präsidenten erfolgt, so ist daher stets eine begründete Abwesenheit anzunehmen. Natürlich ist, wenn ein Mitglied der Nationalversammlung nachträglich eintritt oder vorzeitig ausscheidet, die Entschädigung nach der Dauer seiner Zugehörigkeit zur Nationalversammlung ?u bemessen. Der Präsident 6etzt die Entschädigung für jedes Mitglied der Nationalversammlung fest und weist sie an (§4, §5 Satz 2). Die sogenannten Doppel mandatare betrifft die Vorschrift, dass ein Mitglied der Nationalversammlung in seiner Eigenschaft als Mitglied einer anderen Körperschaft. wenn beide Körperschaften gleichzeitig versammelt sind, nur für diejenigen Tage Vergütung beziehen darf, für welche ihm auf Grund des Gesetzes vom 22. Februar 1919 ein Abzug von der Entschädigung gemacht ist, oder eine Entschädigung nicht gewährt wird wegen nachträglichem Eintreten oder vorzeitigem Ausscheiden. Auch darf der Abgeordnete' in seiner Eigenschaft als Mitglied einer anderen politischen Körperschaft während der Dauer der freien Fahrt auf den Eisenbahnen keine Eisenbahnfuhrkosten annehmen (§ 6 Abs. 1). Unter politischer Körperschaft wird hier nur ein anderes Parlament zu verstehen sein, nicht etwa irgend eine Räteorganisatiou. Die Nationalversammlung gilt im Sinne dieser Bestimmung nicht als versammelt, wenn sie länger als eine Woche zu keiner Vollsitzung zusammentritt (Abs. 2 daselbst). Um nicht nach den Vermögens- oder Einkommensverhältnissen verschiedene Gruppen von Abgeordnetem zu schaffen, ist vorgesehen, dass ein Verzicht auf die Aufwandsentschädigung nicht zulässig ist. ÜWigens ist letztere auch nicht übertrag bar (§ 7). Stirbt ein Mitglied der Nationalversammlung unter Hinterlassung eines Ehegatten, so kann die Zahlung an diesen erfolgen, ohne dass dessen Erbrecht nachgewiesen zu werden braucht. Das gilt also auch beim Tode einer weiblichen Abgeordneten. Das Gesetz trat am 22. Februar 1919 in Kraft. 1) Drucksache Nr. 59.

28 Erster Teil. Die geschichtl. Entwicklung d. nenen Reichs Verfassung. ist auf den sog. v o r l ä u f i g e n E n t w u r f d e r k ü n f t i g e s R e i c h s v e r f a s s u n g , dessen ßcbon kurz Erwähnung geschah, einzugehn 1 ). D e r materielle Inhalt des e n d g i i l t g e n amtlichen Entwurfs ergibt sich aus dem Znsammenhang mit der Darstellung der nunmehr geltenden Reiclisverfassung.

1) Vgl. oben S. 18. Als zeitlich erster legte ich am 22. Dez. 191® der Öffentlichkeit einen vollständigen Entwurf einer Reichsverfassung vor in der Schrift „Verfassungsurkunde der Vereinigten Staaten von Deutschland (Demokratische Reichsrepublik)" Tübingen, 1919, J. C. B. Mohr (Dr. Paul Siebeck). Vgl. darüber Richard H e t z , Deutsche Rundschau (Berlin) Mai 1919 S. 319 ff. Die in meiner Schrift festgehaltene Grundauffassung eines Bundesstaates mit Berücksichtigung eines ausreichenden Foederalismus habe ich ausgebaut in den Abhandlungen „Die neue Reichsverfassung. Grundsätze und Umrisse" in der Kölnischen Zeitung vom 8., 9. und 10. Januar 1919,. Nrn. 18, 23, 24. Eine kritische Auseinandersetzung mit dem ersten Entwurf des Staatssekretärs Dr. Preuss findet sich von mir in der Aufsatzreihe „Die künftige Verfassung des deutschen Reichs* in der Kölnischen Zeitung vom 8., 9. und 10. Februar 1919, Nrn. 92r 96, 98. Einiges davon ist hier weiter unten wiedergegeben. Es sind dann noch erschienen: Kurt L ö w e n s t e i n und Fritz S t e r n , Entwurf einer deutschen Verfassung (Königsberg i. Pr., Telemann) 24 S.; A. R o t h , Entwurf einer Verfassung des Deutschen Reichs (Mannheim 1919, J. Bensheimer, 31 S.); Die deutsche Nation, Eine Zeitschrift für Politik, Sonderheft: Entwurf für. die Verfassung des neuen Deutschen Reichs, Ende Dezember 1918, 31 S.; Entwurf einer Verfassung des Deutschen Reichs, herausgegeben vom Verfassungsausschuss des Vereins Recht und Wirtsci aft e. V. in Berlin (Verlag' •on Reimar H o b b i n g in Berlin), 3'J S. Die hierzu fehlende Begründung hat teilweise nachgeliefert der Mitarbeiter jenes Entwurfs Erich K a u f m a n n in der Schrift: Grundfragen der künftigen Reichsverfassung (Berlin 1919, Vossische Buchhandlung) 52 S. sowie im März-Heft 1919 der Zeitschrift: Recht und Wirtschaft; B i n d i n g daselbst Aprilheft. Zu beachten sind ferner noch W e c k » Die neue Reichsverfassung. Ein Vorschlag 1919; B i n d i n g , Die staatsrechtliche Verwandlung des deutschen Reichs (Leipzig, 1919, Emanuel Reinicke) 50 S.; T h o m a , Deutsche Verfassungsprobleme, Annalen für soziale Politik usw. Bd. 6 S. 409ff.; M e i n e c k e , Bemerkungen zum Entwurf der Reichsverfassung, Februarheft der „Deutschen Politik"; H ü b n e r , Was verlangt Deutschlands Zukunft von der neuen Reichsverfassung? 1919; Kleinere Aufsätze v o n : G e r l a n d, Preuss. Verw.-Bl. Bd. 40 S. 321; v. Mi 1 tn er, Leipz. Zeitschr. i. d. Recht, 1919, Sp. 169. Bezüglich der Kritik des vorläufigen Entwurfs der Reichsverfassung von Dr. P r e u s s 6. unten S. 41 ff. Vgl. auch den privaten Verfassungsentwurf von Staatsminister Dr. D r e w s und die Schrift von Erich B r a n d e n b u r g , W i e gestalten wir mnsere künftige Verfassung? Leipzig 1919.

III. Abschnitt. Die »mtl. Reicheverfags.-Entwürfe u. d.Gang d.Berat. 29

III. Abacbnitt.

Die amtlichen Reichsverfassungsentwürfe und der Gang der Beratungen. 1. Der Staatssekretär Dr. Preuss hatte einen vorläufigen Entwurf, der übrigens nur einen allgemeinen Teil enthielt, •erfasst und mit einer D e n k s c h r i f t im Reichsanzeiger vom 20. Januar 1919 veröffentlicht.1.!. Der Entwurf zerfiel in vier Abschnitte, von denen der erstfc „Das ßeieh und die deutschen Freistaaten" behandelte. Er ist nur im Zusammenhang mit den leitenden Gedanken jener Denkschrift verständlich. Sie kennzeichnet die bisherige Reichsverfassung als den Versuch Bismarcks, die Formen des Föderalismus zu benutzen, um in ihnen die preussische Hegemonie fest zu verankern, der die Verbindung des deutschen Kaisertums und der preussische» Krone nur den äusseren Glanz und das feierliche Gepränge gegeben, während ihr die wirkliche Macht und K r a f t die künstliche Konstruktion des Bundesrats gesichert habe. Das Reich wurde gegründet auf den Bund der Dynastien und Regierungen mit der unvermeidlichen Zutat des demokratisch gestalteten Reichstages. Demgegenüber müsse die neue deutsche Republik unzweifelhaft als ein im wesentlichen einheitlicher Volksstaat auf das freio Selbstbestimmungsrecht der deutschem Nation in ihrer Gesamtheit gegründet werden. An Stelle der Untertänigkeit unter eine Dynastie trete das nationale Selbstbewusstsein eines sich selbst organisierenden Staatsvolkes. Die deutsche Republik — und darin wird sie durch den dem Charakter der Revolution entsprechenden Gedanken fortschreitender Sozialisierung bestärkt — könne nur die demokratische Selbstorganisation des deutschen Volkes als einer politischen Gesamtheit sein. Das neue Reich könne selbstverständlich kein Bund der Fürsten und einzelstaatlichen Regierungen sein, aber es k ö n n e e b e n s o w e n i g a u s e i n e n B u n d e d e r b i s h e r i g e n E i n z e l s t a a t e n in i h r e r n e u e n G e s t a l t a l s F r e i s t a a t e n h e r v o r g e h e n . Das Entscheidende sei nicht das Dasein dieser Einzelstaaten, sondern de« deutschen Volkes selbst als einer geschichtlich gegebenem 1) Herausgegeben im Auftrage des Reichsamt des Innerm, Terlag von Reimar Hobbing in Berlin. Eine andere Ausgabe erschien als Teil des Deutschen Geschichtskalenders im Verlage Felix Heiner-Leipzig unter dem Titel: Der Entwurf der deutschen Reichaverfassung (Januar 1919).

30 Erster Teil. Die geschichtl. Entwicklung d. neuen Reichsverfassung-

politischen Einheit. Es gebe so wenig eine preussische oder bayrische wie eine lippische oder reussische Nation, sondern nur eine d e u t s c h e , die sich in der deutschen demokratischen Republik ihre politische Lebensform gestalten soll. Wenn sich die bisherigen 25 Einzelstaaten in ihrer Verfassung und in ihrem territorialen Bestände ohne Rücksicht auf die künftige Reichsgestaltung jetzt nach der Revolution wieder konsolidieren, so sei die Möglichkeit freier Bahn für die politische Selbstorganisation des ganzen deutschen Volkes nach den inneren Lebensnotwendigkeiten des modernen Nationalstaates wieder beseitigt. Es würde eine geschichtlich verhängnisvolle, tragische Verschuldung des deutschen Volkes bedeuten, wenn es die glückliche Beseitigung seiner 22 Dynastien nicht besser für die neue Gestaltung seines politischen Schicksals zu verwerten wüsste als durch Schaffung eines Bundes von 25 Freistaaten. Es könne dem neuen deutschen Volksstaate zwar nichts ferner liegen, als sich dem Zuge des deutschen Volksgeistes zu widersetzen, der eine Abneigung gegen unbeschränkte Zentralisierung allen öffentlichen Lebens und gegen eine mechanische Leitung aller Verwaltung von einem einzigen Mittelpunkte aus besitzt. Aber das Eigenleben vornehmlich auf kulturellem Gebiet und in den Formen einer frei entwickelten Selbstverwaltung stehe nicht im Widerspruch mit der notwendigen und unentbehrlichen Staatseinheit in allen für das Gemeinleben des gesamten deutschen Volkes entscheidenden politischen und wirtschaftlichen Dingen. Wohl aber stehe damit in kaum überwindlichem Gegensatze die überkommene Gestaltung der bisherigen Einzelstaaten, in deren Abgrenzung die natürlichen Zusammenhänge der Landschaften und Stämme mit ihrer kulturellen Eigenart keineswegs auch nur annähernd zum Ausdrucke gelangten. Die Denkschrift entwickelt hier' b e i den Gedanken, dass die Einzelstaaten vielmehr samt und sonders l e d i g l i c h Zufallsbildungen rein dynastischer Hauspolitik seien, die fast überall die natürlichen Zusammenhänge der Landschaften und Stämme willkürlich durchschneiden, Zusammengehöriges trennen und Unzusammengehöriges verbinden. Nur die Republik habe die Möglichkeit, aber auch die Pflicht, Zusammengehöriges wieder zu vereinen; das gelte auch für die innere Gliederung der deutschen Landschaften und Stämme zu autonomem Eigenleben innerhalb des einheitlichen Reichsstaates. Als Kernproblem der künftigen inneren GestaltungDeutschlands ist die Frage nach dem Fortbestande eines preussischen Einheitsstaates innerhalb der künftigen deutschen Republik bezeichnet und diese Frage wird nach eingehender geschichtsphilosophischer Betrachtung verneint, die Umgestaltung der

III. Abschnitt. Die amtl. Reichsverfass -Entwürfen, d.Gang d. Berat. 31 territorialen Gliederung des Reichs auf Grund freier Selbstbestimmung der Bevölkerungen nach ihren wirtschaftlichen und kulturellen Bedürfnissen und Neigungen verlangt, unter Leitung, Vermittlung und Sanktionierung des Reichs. Diesen hier nur in knappster Form wiedergegebenen Gedanken entsprechen die im ersten Entwurf vorgesehenen Bestimmungen, von denen hier nur die wichtigsten hervorgehoben werden können. A l l e S t a a t s g e w a l t l i e g t b e i m d e u t s c h e n V o l k e (§ 2 Abs. 1). D a s Deutsche Reich soll bestehen aus seinen bisherigen Gliedstaaten sowie aus den Gebieten, deren Bevölkerung k r a f t des Selbstbestimmungsrechts Aufnahme in das Reich begehrt und durch ein Reichsgesetz aufgenommen wird (§ 1). Die Staatsgewalt wird in Reichsangelegenheiten durch die auf Gr-und der Reichsverfassung bestehenden Organe ausgeübt, in Landesangelegenheiten durch die deutschen Freistaaten nach Massgabe ihrer Landesverfassungen (§ 2 Abs. 2). Dem deutschen Volke steht es frei, o h n e R ü c k s i c h t a u f d i e b i s h e r i g e n L a n d e s g r e n z e n , neue deutsche Freistaaten innerhalb des Reichs zu errichten, s o w e i t d i e S t a m m e s a r t d e r B e v ö l k e r u n g , die w i r t s c h a f t l i c h e n V e r h ä l t n i s s e und geschichtlichen Beziehungen die Bildung solcher Staaten n a h e l e g e n . Neu zu errichtende Freistaaten sollen mindestens zwei Millionen Einwohner umfassen. Die Vereinigung mehrerer Gliedstaaten zu einem neuen Freistaat geschieht durch Staatsvertrag zwischen ihnen, der der Zustimmung der Volksvertretungen und der Reichsregierung bedarf. Will sich die Bevölkerung eines Landesteils aus dem bisherigen Staatsverbande loslösen, um sich mit einem oder mehreren anderen deutschen Freistaaten zu vereinigen oder einen selbständigen F r e i s t a a t innerhalb des Reichs zu bilden, so bedarf es hierzu einer Volksabstimmung. Sie wird auf Antrag der zuständigen Landesregierung oder der Vertretung eines oder mehrerer Selbstverwaltungskörper, die mindestens ein Viertel der unmittelbar beteiligten Bevölkerung umfassen, von der Reichsregierung angeordnet und von den zuständigen Landesbehörden durchgeführt. Entstehen bei der Zerlegung od^r Vereinigung deutscher Freistaaten Streitigkeiten über die Vermögensauseinandersetzung, so entscheidet hierüber auf Antrag einer Partei der Staatsgerichtshof für das deutsche Reich (§ 11). Die Abgrenzung zwischen Reich und Freistaaten war in der Denkschrift nach der Idee geplant, dass für die Funktionen höchstpotenzierter Selbstverwaltung die kleinsten der bisherigen Einzelstaaten viel zu klein, der Grossstaat Freussen aber viel zu gross und in sich selbst zu verschiedenartig ist.

32 Erster Teil. Die gegchichtl. Entwicklung d. neuen Reichsverfaseung.

Alle der nationalen Gemeinschaft als solcher natürlich zufallenden staatlichen Funktionen müsse die Verfassung der Republik im Reiche schärfer, ausschliesslicher und klarer, als die bisherige Reichsverfassung, konzentrieren. Dagegen finde die Autonomie und Selbstverwaltung der engeren Verbände, aufsteigend von den Gemeinden, ihre Krönung und vollste Entfaltung in den Freistaaten, die eben deshalb nach der Natur ihrer Bevölkerung und nach ihrer wirtschaftlichen Struktur innerlich einheitliche • Gebilde sein müssen. Deshalb müssen Reichsangelegenheiten, die ausschliesslich der Gesetzgebung und Verwaltung des Reichs unterliegen, sein: Die Beziehungen zum Ausland, die Verteidigung des Reichs zu Lande, zu Wasser und in der Luft, die Zölle, der Handel einschliesslich des Bank- und Börsenwesens sowie des Münz-, Mass- und Gewichtswesens, des öffentlichen Verkehrswesens und zwar der Eisenbahnen, soweit sie bisher Staatsbahnen waren: — „der schwere Fehler, der einst durch die Ablehnung des Reichseisenbahnwesens begangen wurde, muss endlich wieder gut gemacht werden", — die Binnenschiffahrt auf den mehreren deutseben Freistaaten gemeinsamen Wasserstrassen, die Post und Telegraphie: — „für das bayerische and württembergische Postreservat ist kein Platz mehr" — und der Verkehr mit Kraftfahrzeugen zu Lande und in der Luft (§ 3). In die gesetzgeberische Zuständigkeit des Reichs werden dann, was dem bisherigen Rechte entspricht, verwiesen: Die Staatsangehörigkeit, die Freizügigkeit, das Armenwesen, das Passwesen, die Fremdenpolizei, die Ein- und Auswanderung; das bürgerliche Recht, das Strafrecht und das gerichtliche Verfahren, das Versicherungswesen; aber auch das Arbeiterrecht, insbesondere Arbeiterversicherung und Arbeiterschutz; das Gewerberecht, die Seeschiffahrt, das Enteignungsrecht für Reichszwecke, das Presse-, Vereins- und Versammlungs- und das Gesundheitswesen. Neu ist und von besonderer Bedeutung die Zuständigkeit bezüglich der für das Reich zu erhebenden Steuern und Abgaben sowie der Einrichtung von Betrieben zu Reichszwecken, des Enteignungsrechts für diese, der Bodengesetzgebung, sowie Kirche und Schule (§ 4) Auf diese letzteren ist, auch hier unter möglichster Anlehnung an die eigene Ausdrucksweise des Entwurfs und der Denkschrift, einzugehen. a) Die ungeheuerliche finanzielle Belastung, unter deren furchtbarem Drucke die deutsche Republik ihr Dasein beginnt, macht es von vornherein unmöglich, irgendwelche zur Tragung dieser Last in grösserem Umfange geeignete Objekte

III. Abschnitt. Die amtl. Reichsverfass.-Entwürfe u. d.Gang d.Berat. 33 grundsätzlich den R e i c h s f i n . a n z e n zu entziehen. Das Reich muss unbedingt den Vortritt haben, um überhaupt bestehen zu können. Die Freistaaten, ebenso wie die kommunalen Selbstverwaltungskörper, müssen sich mit ihrem Finanz- und Steuerwesen in den Rahmen des Reichsfinanzsystems einpassen, indem sie einmal vom Reiche nicht beanspruchte Quellen f ü r sich erschliessen und sodann auf gewisse Reichssteuern Zuschläge legen können, innerhalb der vom Reiche zu normierenden Grenze. Ferner wird hier die Sozialisierungspolitik, die Einführung grosser Monopole, eventuell auf dem Wege der Enteignung, die Reichstätigkeit bedeutsam ausdehnen, ohne jedoch die ergänzende Tätigkeit der Einzelstaaten auszuschliessen. b) Die B o d e n g e s e t z g e b u n g als Gebiet der Sozialpolitik bedürfe in ganz besonderem Masse der Mitarbeit der Einzelstaaten und kommunalen Selbstverwaltungskörper, könne jedoch der allgemeinen Leitung und Normierung durch das Reich nicht entraten. Zur Wiederbevölkerung des platten Landes, zur Vermehrung landwirtschaftlich tätiger Arbeitskräfte sowie zur Erhöhung des landwirtschaftlichen Bodenertrages ist im Wege umfassender Innensiedlung die bestehende Grundbesitzverteilung in den Gebietsteilen zu ändern, in denen eine gesunde Mischung von Gross-, Mittel- und Kleinbesitz noch nicht besteht. Unwirtschaftlich genutzter Grossgrundbesitz, inbesondere der gebundene, ist zur Begründung ländlicher Heimstätten aufzuteilen, wenn nötig, iin Wege der Enteignung. Mittel- und Kleingrundbcsitz sind durch Schutz gegen Aufsaugung und Bewucherung zu festigen (§ 28). c) Bei der Regelung des Verhältnisses des Staates zu S c h u l e u n d K i r c h e dürfe die Eigenart der verschiedenen Landschaften und Stämme, die für eine Verletzung dieser ideellen Werte mit Recht ganz besonders empfindlich ist, keineswegs durch eine unverständig zentralisierende und schematisierende Gesetzgebung und Verwaltung verletzt werden; gerade auf diesen Gebieten müsse auf sie die schonendste Rücksicht genommen werden. Aber bei der grundlegenden Bedeutung dieser Gegenstände, insonderheit der Volksbildung auf allen ihren Stufen, von der Elementare s zur Hochschule, f ü r das ganze Gemeinleben, f ü r den geistigen und sittlichen Gehalt des Reiches dürfe sich dieses nicht mit seiner bisherigen Ohnmacht bescheiden; es müsse vielmehr auch hier die allgemeinen, dem ganzen deutschen Volke gemeinsamen Grundlinien ziehen, innerhalb deren der Eigenart und dem Eigenleben der engeren Gemeinschaften S t i e r - S o m l o , Reichsverfassung. S.Anfl.

J

34 Erster Teil. Die geschichtl. Entwicklung d. neuen Reichsverfaseungi freier Spielraum zu fruchtbarer und ihren Empfindungen entsprechender Betätigung zu geben ist: Jeder Deutsche hat volle Glaubens- und Gewissensfreiheit. Die freie Ausübung gottesdienstlieh er Handlungen ist innerhalb der Schranken der Sittlichkeit und der öffentlichen Ordnung gewährleistet. Niemand darf zu einer kirchlichen Handlung oder Feierlichkeit gezwungen werden. Niemand ist verpflichtet, seine religiöse Überzeugung oder seine Zugehörigkeit zu einer Religionsgemeinschaft zu offenbaren. Die Behörden haben nicht das Recht, danach zu fragen. Jede Religionsgesellschaft ordnet und verwaltet ihre Angelegenheiten selbständig, ist aber den allgemeinen Gesetzen unterworfen. Keine Religionsgemeinschaft geniesst vor anderen Vorrechte durch den Staat. Über die Auseinandersetzung zwischen Staat und Kirche wird ein Reichsgèsetz Grundsätze aufstellen, deren Durchführung Sache der deutschen Freistaaten ist (§ 19). Der Unterricht soll allen Deutschen gleichmässig nach Massgabe der Befähigung zugänglich sein (§ 20 Abs. "¿)l). Weiterhin ist das Verhältnis von Reich und Einzelstaaten von dem Gedanken beeinflusst, dass die Reichsgesetzgebung auf die Organisation der Einzelstaaten und ihrer Gemeinden eine gewisse Einwirkung ausüben müsse, wenn auch beschränkt auf das Unentbehrliche. Es soll nur die Gleichartigkeit zwischen dem Gefüge des Reichs und seiner einzelstaatlichen und kommunalen Glieder sichergestellt werden. Soweit diese Homogenität nicht in Frage kommt, ist der Autonomie die Freiheit zum Ausbau ihrer Verfassung und Verwaltung zvk lassen. Verlangt wird, dass jeder deutsche Freistaat eine L a n d e s v e r f a s s u n g haben muss, die u. a. auf den Grundsätzen de» Einkammersystems beruht; die Volksvertretung ist in allgemeiner, unmittelbarer, gleicher und geheimer Wahl unter Beteiligung der Frauen nach den Grundsätzen der Verhältniswahl zu wählen. Die Landesregierung muss dieser Volksvertretung verantwortlich und von ihrem Vertrauen a b h ä n g i g sein (§ 12 Nr. 1—2). Über V e r f a s s u n g s s t r e i t i g k e i t e n innerhalb eines deutschen Freistaates sowie über Streitigkeiten nicht privatrechtlicher Art zwischen verschiedenen deutschen Freistaaten entscheidet auf Antrag einer Partei der Staatsgerichtshof f ü r das Deutsche Reich, dessen Urteil erforderlichenfalls der Reichspräsident vollstreckt (§ 13). 1) Die §^19, 20 und 28 sind in dem zweiten Abschnitt über die Grundrechte des deutschen Volkes eingefügt, jedoch in § 4 ia Bezug genommen.

III. Abschnitt. Die anitl. Reichsvertass.-Entwürfe u. d. Gang d.Berat. 35

Was die A b g r e n z u n g d e r V e r w a l t u n g angeht, so erg ibt sich aus der Natur des Volksstaates nach der Meinung der Denkschrift die freiere Stellung und weitere Entfaltung der örtlichen Selbstverwaltung, im Gegensatze zu deren Einengung und Bevormundung durch den Obrigkeitsstaat. Zugleich weist diese örtliche Selbstverwaltung den Weg für die Einfügung der Wahl und einer gewissen Bodenständigkeit der V e r w a l t u n g s b e h ö r d e n . Nach der deutschen Entwicklung werde auch in Zukunft die Arbeit eines fachlich geschulten und in seiner Stellung gesicherten Berufsbeamtentums in weitem Umfang unentbehrlich sein. Selbstverständlich untersteht dieses Berufsbeamtentum künftig der politischen Leitung durch die aus Volkswahlen hervorgehenden und auf das Vertrauen des Volkes oder seiner Vertretung sich stützenden Organe. Aber die Bestellung durch Wahl werde sich eben auf diese leitenden politischen Organe der einzelnen Gemeinwesen von der Gemeinde bis hinauf zum Eeiche in der Hauptsache beschränken müssen. J e ausgedehnter der Wirkungskreis örtlicher Selbstverwaltung sei, desto bedeutungsvoller werde damit der Einfluss der Bestellung durch Wahlen. Zugleich werde damit die Bodenständigkeit eines entsprechend grossen und wichtigen Teiles des Personals der inneren Verwaltung gewährleistet. Auch wenn lokale Selbstverwaltungskörper leitende Beamte von auswärts berufen, so stellten sie doch durch ihren freien Willen die Verbindung mit dem örtlichen Gemeinwesen her. So soll denn jeder deutsche Freistaat, reichsveifassungsmässig gesichelt, eine Landesverfassung haben, die den Gemeinden und Genieindeverbänden die S e l b s t v e r w a l t u n g ihrer Angelegenheiten zuweist. Ihre Vorstände werden entweder unmittelbar nach den für die Volksvertretung geltenden Grundsätzen oder durch eine ans solchen Wahlen hervorgegangene Vertretung gewählt. Die Aufsicht des Staates beschränkt sich auf die Gesetzmässigkeit und Lauterkeit der Verwaltung und die Grundlagen der Finanzgebarung (§ 12 Nr. 3). Auch künftig werde das Reich eigene Mittel- und Unterbehörden nur für die Gebiete der eigenen und unmittelbaren Reichsverwaltung besitzen. Für den grossen Kreis der sonst noch der Regelung durch die Reichsgesetzgebung unterliegenden Gegenstände müsse sich das Reich auch künftig auf Zentralbehörden beschränken, während die Verwaltung die. er Angelegenheiten in mittlerer und unterer Instanz nach wie vor durch Landes- und Gemeindebehörden geschieht. Unbedingt erforderlich sei es, die A u s f ü h r u n g d e r R e i c h s g e s e t z e besser als bisher zu sichern; dazu gehöre eine

36 ErsterTeil. Die geschichtl.Entwicklung d. neuen Reichsverfassung'.

schärfere und klarere Gestaltung des Aufsichtsrechts der Reichszentralbehörden über die einzelstaatlichen Verwaltungsorgane innerhalb der Reichszuständigkeit. Bisher sei die V e r a n t w o r t l i c h k e i t d e s R e i c h s k a n zlers und der Reichsstaatssekretäre vor dem Reichstag für die sinngemässe Ausführung der Reichsgesetze', soweit sie den einzelstaatlichen Verwaltungen oblag, eine inhaltlose Form gewesen, weil die Reichsregierung jenen einzelstaatlichen Verwaltungen gegenüber im wesentlichen ohnmächtig war. Jetzt müsse das Aufsichtsrecht der verantwortlichen Reichsregierung über die Ausführung der Reichsgesetze durch die einzelstaatlichen Verwaltungen so verstärkt und wirksam gestaltet werden, dass jene Verantwortlichkeit zur Wahrheit wird, indem die formal verantwortliche Stelle auch die tatsächliche Macht zur Durchführung des gesetzgeberischen Willens erhält. Folgerichtig wurde vorgeschlagen: „Soweit die AnsfUhrnng der Reichsgesetze nicht den Reichsbehörden zusteht, sind die Landesbehörden verpflichtet, den Anweisungen der Reichsregierung Folge zu leisten. Die Reichsregierung hat die Pflicht und das Recht, die Ausführung der Reichsgesetze zu überwachen und kann zu diesem Zwecke in die deutschen Freistaaten Beauftragte senden, denen die Akten vorzulegen sind und jede gewünschte Auskunft erteilt werden muss. Bei Zuwiderhandlungen kann gegen die schuldigen Landesbeamten auf Grund der für die Reichsbeamten geltenden Disziplinarvorschriften vorgegangen werden (§ 8). Die Brücke zum neuen Rechtszustand sollten die teilweise in das Ubergangsgesetz vom 4. März 1919 [siehe unten S. 64—70] übernommenen und in der Reichsverfassung Art. 179 anklingenden Bestimmungen bewerkstelligen, wonach die bisherigen Reichsgesetze in Kraft bleiben, soweit ihnen nicht die Verfassung entgegensteht und dass die Befugnisse, die nach den bisherigen Reichsgesetzen dem Kaiser zustanden, auf den Reichspräsidenten unter verantwortlicher Mitwirkung der Reichsminister, die Verwaltnngsbefugnisse des Bundesrats auf die zuständigen Reichsministerien übergeben, die sie nach Anhörung der Reichsräte ausüben. Der Übergang von Befugnissen, die der bisherige Reichstag hatte, auf das Volks- und Staatenhaus war .ebenfalls vorgesehen (§ 6). Altes Recht (Ibernimmt der Satz, dass Reichsrecht Landesrecht bricht (§ 5), dass Reichsgesetze mit dem 14. Tage nach dem Ablauf des Tages in Kraft treten, an dem das betreffende Stück des Reichgesetzblatts in Berlin ausgegeben worden ist, wenn nicht in dem Gesetze selbst ein anderer Zeitpunkt für den Beginn seiner verbindlichen Kraft bestimmt wird (§ 7). Wichtig, aber ohne

III. Abschnitt. Die amtl. Reichsverfass.-Entwürfe u. d. Gang d. Berat. 37

grundsätzliche Bedeutung für das Verhältnis von Reich und Einzelstaaten, sind die Sätze, dass ein Reichsgesetz die Verw a l t u n g s r e e h t s p f l e g e in Fragen des Reichsrechts sowie die Errichtung von Verwaltungsgerichten des Reichs regelt (§ 9) und dass nach Massgabe eines Reichsgesetzes ein S t a a t s g e r i c h t s h o f für das deutsche Reich errichtet wird; endlich, dass bis zum Inkrafttreten dieses Gesetzes seine Befugnisse ein Senat von sieben Mitgliedern ausübt, den das Plenum des Reichsgerichts aus seiner Mitte wählt. Das Verfahren vor diesem Senat wird vom Plenum des Reichsgerichts geregelt (§ 10). Die Entwicklung seit der deutschen Revolution zeigte die Unerlässlichkeit einer Zulassung von V e r t r e t e r n d e r F r e i s t a a t e n bei der Bildung des Reichsstaatswillens. Der erste Entwurf gedachte die Frage so zu lösen, dass die Reg i e r u n g e n der deutschen Freistaaten das Recht haben sollen, zur Reichsregierung Vertreter zu entsenden (§ 14). In eigenartiger Forra war dies vorgesehen. Bei den einzelnen Reichsministerien sollten aus den Vertretern der Freistaaten nach Bedarf R e i c h s r ä t e gebildet werden, deren Gutachten vor der Einbringung von Gesetzesvorlagen beim Reichstag und vor dem Erlass der zur Ausführung der Reichsgesetze erforderlichen allgemeinen Verwaltungsvorschriften einzuholen ist. Die Vertreter der Freistaaten sind berechtigt, im Reichstag den Standpunkt ihrer Regierung zu dem Gegenstande der Verhandlung zur GeltuDg zu bringen und müssen zu diesem Zwecke während der Beratung auf Verlangen jederzeit gehört werden. (SS 15, 16). Dies führt bereits auf die Frage der o b e r s t e n O r g a n e , die im III. und IV. Abschnitt ihre rechtliche Bestimmung finden sollten. Dort wird vom Reichstag, hier vom Reichspräsidenten und der Reichsregierung gesprochen. Der R e i c h s p r ä s i d e n t soll vom ganzen deutschen Volke gewählt werden, sein Verhältnis zur Volksvertretung durch das parlamentarische System bestimmt sein, derart, dass er sein Kabinett unter Rücksicht auf die Mehrheitsverhältnisse der Volksvertretung bildet, deren Vertrauen die Minister für ihre Amtsführung besitzen müssen und der sie politisch verantwortlich sind. Die Ernennung des Reichskanzlers und der anderen Mitglieder der Reichsregierung ist die wichtigste Aufgabe des Reichspräsidenten. Seine rechtliche Stellung ist im übrigen die eines Vertretern des deutschen Volkes nach aussen, insbesondere in völkerrechtlicher Beziehung (Bundes- und Vertragsschliessung, durch die Mitwirkung des Reichstages beschränkt, Gesandschaftsrecht). Kriegserklärung und Friedensschluss erfolgt durch

38 Erster Teil. Die geschichtl. Entwicklung d. neuen ReichsverfasHung.

Reichsgesetz. Das Recht zur Ernennung von Beamten und Offizieren, zur Begnadigung, Durchflihrung der Exekution gegen Freistaaten, Anwendung bewaffneter Macht bei inneren Unruhen usw. unterstreichen die Ähnlichkeit der Stellung des Reichspräsidenten mit der des bisherigen Kaisers. Bei der Schaffung von Gesetzen ist dem Reichspräsidenten ein Veto eingeräumt: Kommt eine Übereinstimmung zwischen den beiden Häusern des Reichstages über eine Gesetzes vorläge nicht zustande, so ist der Reichspräsident berechtigt, eine Volksabstimmung iiber den Gegenstand der Meinungsverschiedenheit herbeizuführen (§§ 50—60, 62—64). Im Verhältnis des Reichspräsidenten zum Parlament musste der Fall der ausgleichbaren politischen Konflikte in dem Sinne der Entscheidung des Volkes geregelt werden. Der Präsident sollte befugt sein, durch Auflösung des Parlaments Berufung von der Volksvertretung an das Volk selbst einzulegen. In besonders schweren politischen Konfliktsfällen war auch dem Reichstag die Befugnis zugedacht, das Volk zu einem Urteil über die politische Haltung des Präsidenten anzurufen, indem der Reichstag durch Beschluss einer Zweidrittelmehrheit die Volksabstimmung über die Weiterfahrung der Präsidentschaft veranlasst. Bestätigt dabei das Volk die politische Haltung des Präsidenten, so schien es sich zur Vermeidung einer allzu grossen Häufung solcher Aktionen zu empfehlen, dieses durch Referendum erteilte Vertrauensvotum zugleich als Wiederwahl des Präsidenten für einen neuen Amtstermin gelten zu lassen. Dieser Amtstermin selbst wird bei solcher Möglichkeit, in ernsten und wichtigen Fällen auch während seiner Dauer an das Volk appellieren zu ködnen, auf einen längeren Zeitraum — sieben Jahre — bemessen, um im Amte des Reichspräsidenten ein Element ruhiger Dauer in den staatlichen Organismus einzufügen. (Denkschrift S. 26). Wichtig ist seine Befugnis, innerhalb einer bestimmten Frist Gesetzentwürfe zur nochmaligen Beratung und Beschlussfassung an den Reichstag zurückzuverweisen. Vor allem kommt die politische Verantwortlichkeit des Reichspräsidenten in der durch Reichstagsbeschluss herbeizuführenden Volksabstimmung über seine Absetzung zur Geltung, ebenso wie die politische Verantwortlichkeit des Reichskanzlers und der Reichsminister durch die Abhängigkeit ihrer Amtführung von der parlamentarischen Mehrheit. Wegen Verfassungs- oder Gesetzesverletzung kann der Reichspräsident (übrigens auch der Reichskanzler und die Reichsminister) durch Beschluss einer Zweidrittelmehrheit des Reichstages vor dem Staatsgerichtshof angeklagt werden. (§§ 60, 67, 73), Das p a r l a m e n t a r i s c h e S y s t e m kommt in den Vor-

III. Abschnitt. Die amtl. Reichsverfase.-Entwürfe u. d. Gang d. Berat. 3 ?

Schriften zum Ausdruck, dass der Reichskanzler und auf dessen Vorschlag die Reichsminister (zusammen bilden sie die Regierung) vom Reichspräsidenten ernannt werden, dass sie zu ihrer Amtsführung des Vertrauens des Volkshauses bedürfen und jeder von ihnen zurücktreten muss, wenn ihm das Volkahaus das Vertrauen durch einen ausdrücklichen Beschluss entzieht. Der Reichskanzler trägt dem Reichstag gegenüber die Verantwortung für die Richtlinien der Reichspolitik, jeder Reichsminister selbständig die Verantwortung für die Leitung des ihm anvertrauten Geschäftszweiges. Jedes Haus kann die Anwesenheit des Reichskanzlers und der Reichsminister verlangen; sie müssen im Reichstage auf Verlangen jederzeit gehört werden. (§ 68—72). Den Reichstag wollte der vorläufige Verfassungsentwurf mit zwei Kammern ausstatten. Das V o l k s h a u s sollte aus Abgeordneten des einheitlichen deutschen Volkes bestehen und nach dem später für die verfassunggebende Nationalversammlung bereits angewandten Wahlsystem gewählt werden. Das S t a a t e n h a u s sollte aus den Abgeordneten der deutschen Freistaaten zusammengesetzt sein. Die Abgeordneten sollten von den Landtagen der deutschen Freistaaten aus der Mitte der Staatsangehörigen nach Massgabe des Landesrechts gekoren werden. Bei der Bildung des Staatenbauses wäre grundsätzlich auf eine Million Landeseinwohner ein Abgeordneter entfallen, dagegen war nicht zu ersehen, auf wie viel Reichsangehörige ein Abgeordneter des Volkshauses kommen sollte, wie gross die Zahl der Mitglieder dieser Kammer zu sein hätte. Kein deutscher Freistaat hätte durch mehr als ein Drittel aller Abgeordneten vertreten sein dürfen. Im übrigen wurden die aus der bisherigen Reichsverfassung bekannten Rechtsätze über die Berufung, Vertagung, Schliessung und Auflösung des Reichstages, über Geschäftsgang, Disziplin, Geschäftsordnung, Wahl des Präsidenten usw. mit einigen Änderungen wiederholt. Nicht nur Beamte, sondern auch Militärpersonen bedürfen zur Teilnahme an den Reichstagswahlen eines Urlaubs nicht. Die Wahlperiode soll nicht mehr fünf, sondern drei Jahre dauern. Die Sitzungsperioden beider Häuser des Reichstages sollten die gleichen sein. Geheimsitzungen können stattfinden, wenn über Beziehungen des Reichs zu auswärtigen Staaten beraten wird. Zur Untersuchung der Frage, ob ein Mitglied des Reichstages das Recht der Mitgliedschaft verlofen hat, sollte beim Reichstag selbst ein W a h l p r ü f u n g s g e r i c h t gebildet werden. Es sollte bestehen aus der erforderlichen Zahl von Mitgliedern des Reichstages und des R e i c h s v e r w a l t u n g s g e r i c h t s oder, bis zu dessen Errichtung, des Reichsgerichts.

40 Erster Teil. Die geschichtl. Entwicklung d. neuen Reichsverfassung'.

Zum Beschluss eines jeden Hauses des Reichstages sollte di& Teilnahme von mindestens der Hälfte der gesetzlichen Zahl seiner Mitglieder nnd einfache Stimmenmehrheit erforderlich? sein, sofern nicht die Reichsverfassung ein anderes Stimmenverhältnis vorschreibt. Ein Reichsgesetz erfordert die Übereinstimmung der Mehrheitsbeschlüsse beider Häuser des Reichstages. Verfassungsänderungen können vorgenommen werden, wenn in beiden Häusern des Reichstages mindestens zwei Drittel der gesetzlichen Mitgliederzabi anwesend sind und mindesten» zwei Drittel der Anwesenden zustimmen. Nach Ablauf von fünf Jahren nach dem Inkrafttreten dieser Verfassung sollte jede Verfassungsänderung der Bestätigung durch eine V o l k s a b s t i m m u n g bedürfen. Die Vorschriften über die I m m u n i t ä t der Abgeordneten, über die Zulässigkeit wahrheitsgetreuer B e r i c h t e hinsichtlich der Verhandlungen de» Reichstages und über die Entschädigungen der Reichstagsmitglieder, denen auch freie Fahrt zukommen soll, entsprechen im grossen und ganzen dem bisherigen Rechtszustand. Hervorgehoben sei noch, dass jedes Haus des Reichstages da» Recht und auf Verlangen von einem Fünftel seiner Mitglieder die Pflicht bat, A a s s c h ü s s e zur U n t e r s u c h u n g von T a t s a c h e n e i n z u s e t z e n , wenn die Gesetzlichkeit oder Lauterkeit von Regierungs- oder Verwaltungsmassnahmen des Reichsangezweifelt wird. Die Ausschüsse' erheben in öffentlicher Verhandlang die Beweise, die sie oder die Antragsteller für erforderlich erachten. Alle Gerichte und Verwaltungsbehörden sind verpflichtet, dem Ersuchen dieser Ausschüsse um Beweiserhebungen Folge zu leisten. Alle behördlichen Akten sind diesen Ausschüssen auf Verlangen vorzulegen (§§ 30—57). Endlich hat der vorläufige Entwurf im II. Abschnitt „ D i e G r u n d r e c h t e d e s d e u t s c h e n V o l k e s " formuliert. Das ist grösstenteils altes Kulturgut. Wie in den meisten Verfassungsurkunden des Erdballs finden wir hier mit denselben oder ähnlichen Wendungen die Freiheit der Person,, des Eigentums, der Wohnung, der Meinungsäusserung, der Wissenschaft und ihrer Lehre und die Gleichheit vor dem Gesetz verbürgt. Hervorgehoben sei nur, was von dem allgemein Üblichen abweicht. Es wird besonders betont, das» alle Vorrechte oder rechtlichen Nachteile der Geburt, de» Standes, Berufes oder Glaubens beseitigt sind und dass ihre Wiederherstellung durch Gesetz oder Verwaltung verfassungswidrig ist. Die auf die Glaubens- und Gewissensfreiheit bezüglichen Sätze sind schon erwähnt worden. Auch die Beschränkung der Koalitionsfreiheit ist verboten. Fremdsprachigen Volksteilen innerhalb des Reichs darf durch die Gesetzgebung

III. Abschnitt. Die amtl.Reichsverfass.-Entwürfe u. d. Gang d. Berat. 41 und Verwaltung nicht ihre eigene volkstümliche Entwicklung beeinträchtigt werden. Sie dürfen insbesondere nicht im Gebrauch ihrer Muttersprache beim Unterricht sowie bei der inneren Verwaltung und der Rechtspflege innerhalb der von ihnen bewohnten Landesteile benachteiligt werden (§§ 18—29). 2. W a s die K r i t i k d i e s e s v o r l ä u f i g e n E n t w u r f s angeht, so sei hier nur das Wichtigste hervorgehoben. Er ist im Ergebnis stark u n i t a r i s c h 1 ) . Seine Durchführung hätte die Gefahr des Herabsinkens der bisherigen Emzelstaaten zu Provinzen des Reichs gebracht. Gleichzeitig war der Vorentwurf dem Einzelstaat Preussen feindlich gesinnt 8 ) in vielen Beziehungen, besonders in der, dass es in eine Reihe von' Freistaaten, von nicht gerade grosser Ausdehnung, zerschlagen werden sollte. Besonders scharf treten die Gedanken hervor, dass das bisherige Preussen kein Volksstaat, sondern eine dynastische Bildung sei, dass Zufälle der Hauspolitik (Käufe, Heiraten, Eroberungen) obgewaltet haben. Der preussischeStaat habe weder wirtschaftlich noch kulturell nach den Stammeszusammenhängen ein organisches Ganze gebildet. Er sei «in unvollkommener deutscher Staat, ein Notbau gewesen. Mochte er für einen gewissen inneren Zusammenhalt unentbehrlich gewesen sein, so habe er sich doch' heute überlebt. Die nationale Einheit dés ganzen Deutschlands sei Lebensfrage d e s deutschen Volkes und damit der deutschen Republik. Für die einzelnen, nach Stammesart, kulturellen und wirtschaftlichen Verhältnissen zusammenhängenden Landschaften Preussens sei die unmittelbare Unterstellung unter das Reich in jeder Beziehung förderlicher und besser als „die Mediatisierungdurch den dazwischen geschobenen Einheitsstaat". Nur durch dessen Ausschaltung erhielten sie die ihnen gebührende Gleichstellung mit den andern deutschen Staaten. Nur durch die 1) Dies betont auch An s c h ü t z . Der Anfbau der obersten Gewalten im Entwurf der deutschen Reichs Verfassung', DJZ. 1919 Sp. 199: „Das Werk des Staatssekretärs ist ausgeprägt lind unverschleiert unitarisch. Eine starke, im Verhältnis zu den Gliedstaaten unbedingt übermächtige Reichsgewalt, ein Reich, zu dem sich diö Gliedstaaten in der Tat nur verhalten wie Glieder oder Teile zum Ganzen, ein Reich, dessen Zuständigkeit in Gesetzgebung und Verwaltung weiter reicht und in dem der Einfluss der Einzelstaaten, auf die Bildung des Reichswillens geringer bemesben ist wie bisher." 2) Der frühere Staatsminister Dr. F r i e d b e r g meint in dem Aufsatz: Preussen in dem Entwurf der künftigen Reichsverfassung, DJZ. 1919 Sp. 193, „dass die zum Teil recht ungeschickte Ausdrucksweise, die ungeschichtliche Art der Betrachtung und die Oberflächlichkeit der Beweisgründe den Anschein erwecken müssen, als obdem Verfasser der Denkschrift die Antipathie gegen Preussen dieFeder geführt hätte*.

42 Erster Teil. Die gescbichtl. Entwicklung d. neuen Reichs Verfassung.

A u f l ö s u n g P r e u s s e n s könnten sich die mittel- und norddeutschen Kleinstaaten zu lebensfähigen Gemeinwesen zusammenschliessen. „Widernatürlichkeit und politischer Widersinn" lägen in dem Nebeneinanderbestehen der „unvollkommenen staatlichen Einigung von 40 Millionen Deutschen (gemeint sind die Preussen) Deben der vollkommeneren staatlichen Einigung von 70 Millionen". In- diesen Gedanken der Denkschrift ist Wahres mit Falschem verführerisch gemischt. Auf welche Weise deutsehe Staaten geschichtlich zusammengefügt worden sind, ist gewiss nicht gleichgültig; dass monarchische Hauspolitik den Einheitsstaat Preussen, so wie er bis zur Revolution bestand, m i t schüf ist richtig; aber u n z u t r e f f e n d ist es, dass Preussen — zunächst für sich als Einheitsstaat und nicht in seinem Verhältnis zum Reich betrachtet — ein unvollkommenes, notdürftiges, ungleichartiges Gemeinwesen gebildet hätte. Natür lieh sind, je grösser ein Staat isi, Nord und Süd, Ost und West in allen Formen und Inhalten ihrer gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Kultur weniger harmonisch; sie sind gewiss nicht einfarbig getönt. Aber aus dieser Mannigfaltigkeit der Landschaften und Stammesteile, aus diesen sich abschattenden Eigenheiten der Bewohner einzelner Provinzen kann doch nicht auf die Ungleichmässigkeit des G e s a m t s t a a t e s geschlossen werden. Rein praktisch gesehen, wuchsen die Teile Preussens, je länger es bestand, um so mehr in Verkehr und Wirtschaft, Handel und Industrie, Landwirtschaft und geistiger Kultur zu einem innerlich geschlossenen Staate zusammen. Die bei dem Verfasser der Denkschrift leicht Bpürbare Abneigung gegen das alte Preussen treibt ihn zu seltsamen, leicht widerlegbaren Geschichtskonstruktionen. Für ihn ist es nur das „harte und gewalttätige, aber feste und t a t k r ä f t i g e " Staatswesen. Aber wenn jene beiden ersten Eigenschaften gerade keinen Schmuck der neuen Staatsgestaltung zu bilden brauchen und auch nicht bilden werden, — warum soll von einem PFeussen, das von seinem dynastischen, bürokratischen nnd militaristischen Geist b e f r e i t ist, dasselbe gelten, nämlich dass es „eine Grundursache der politischen Leiden unserer jüngsten Vergangenheit", ferner dass es „ein unerträgliches Hemmnis nach aussen wie innen" sei. Unrichtig ist auch, dass der Zusammenhalt Preussens w e s e n t l i c h auf seiner dynastischen obrigkeitlichen Struktur beruhte. Gewiss a u oh darauf, weil es eben ein monarchisch-aristokratisches Gebilde war. Aber ebenso auf der politischen und wirtschaftlichen Machtstellung, auf der sich gegenseitig stützenden und kräftigenden Hilfe der einzelnen Staatsteile, die Menschen und

III. Abschnitt. Die aintl. Keichsverfass.-Entwürfe u. d.Gang d. Berat. 43 Waren, Urprodukte und Fabrikate austauschten. In der tiefgebenden Verflechtung der gegenseitigen Interessen, der wechselseitigen Abhängigkeit der innerhalb derselben Staatsgrenzen befindlichen AVirtschaftsfaktoren lagen und liegen die stärksten Gründe der preussischen Staatseinheit. Eine viele Jahrzehute dauernde gemeinsame Rechtsordnung, eine sehr lebhaft wirkende Verkehrsgemeinschaft hatten mindestens ebenso wie die Monarchie auf den Zusammenhalt gewirkt. Es ist vollkommen unrichtig, die preussischq Staatseinheit lediglich auf die Dynastie und den Obrigkeitsstaat zurückzuführen 1 ). Diese Grundfragen sind besonders wichtig wegen des V e r h ä l t n i s s e s P r e u s s e n s z u m R e i c h e . Würde es, in seinen bisherigen Grenzen beibehalten, das Gleichgewicht der Freistaaten innerhalb des Reiches stören? Ich schrieb schon im Januar und Februar 1919 in der Öffentlichkeit: „Die Tragik der Verhältnisse lässt ein Preussen in dem bisherigen Umfange und seiner bisherigen inneren Geschlossenheit im deutschen Gesamtstaat der Zukunft nicht mehr zu". Soll also 1) So schrieb ich am8. Februar 1919 in der Kölnischen Ztg. Nr.92. Am 1. März wendet sich auch F r i e d b e r g a. a. 0. gegen „die von dem Staatssekretär Dr. Preuss gemachte, manchen Kreisen imponierende Erfindung von dem Gegensatz des Obrigkeitsstaates und des Volksstaates". [Seine Werke „Das deutsche Volk und die Politik", B Obrigkeitsstaat und grossdeutscher Gedanke" können hier als bekannt, vorausgesetzt werden.] „Die ganze Gegenüberstellung beruht auf dem Unterschiede, ob die Obrigkeit von einem Herrscher aus e i g e n e m Recht oder ob sie durch den W i l l e n d e s V o l k e s , d. h. durch Vollcs•wahl geschaffen wird. Deshalb bleibt aber die Obrigkeit Obrigkeit*. F ü r den Staatsbürger mache es keinen Unterschied, ob er Befehle erhält von einer Behörde, die ihre Entstehung dem Willen eines Herrschers oder dem Volkswillen verdankt. Massgebend für das Regierungssystem sei die Art und Weise, wie das Beamtentum organisiert sei. Die deutsche Verwaltung sei stets mustergültig gewesen uud man könne von einem Zusammenbruch d i e s e s Systems jedenfalls nicht reden. Zusammengebrochen sei nicht das Regierungssystem, sondern die f a l s c h e P o l i t i k , die von den l e t z t e n R e g i e r u n g e n sowohl nach aussen wie auch teilweise nach innen betrieben wordeu ist. Zusammengebrochen sei die uferlose Kriegspolitik, das unerträgliche Verhältnis zwischen Militär- und Zivilgewalt, durch das die leitenden Staatsmänner in ihren politischen Entschlüssen lahmgelegt wurden und die Aussenpolitik in die Hände dilettantischer Militärpolitiker geriet. Auch gegen die Geschichtskonstruktion der Denkschrift werden lebhafte Bedenken geltend gemacht. Eingehend wird die Behauptung widerlegt, dass die Einzelstaaten nur Zufälligkeitsgebilde seien und der richtigen Zusammenfassung der Bevölkerung nach Volksstämmen nicht entsprächen, sowie ferner die Behauptung, dass Preussen aufgelöst werden müsse, weil 6onst seine Hegemonie bestehen bleibe. Vgl. auch die vorzügliche Schrift von Felix R ä c h f a h l , Preussen und Deutschland 1919, besonders S. 25 ff.

44 Erster Teil. Die geschichtl. Entwicklung d. neuen Reichsverfaesung.

Preussen aufgeteilt werden? Die Befürchtung liegt nahe, das» man dies bejahen mnss. Aber ich warnte schon mehrfach vor k l e i n e n Freistaaten, vor dem Kantönligeist und der Gefahr, aus dem Kreise der Grossmächte ausgeschaltet zu werden. Die Vorschriften in dem (oben S. 31) wiedergegebenen § 11 des vorläufigen Verfassungsentwurfs stimmten. bedenklich. Die Hegemoniestellung Preussens wird m. E. s t a a t s r e c h t l i c h schon aufgehoben durch das Ausscheiden des Kaisers, die Beseitigung der bisherigen Vorrechte Preussens (Vetorecht bei Gesetzesvorschlägen, über das Militärwesen, die Kriegsmarine and die direkten Steuern), das Fehlen des Bundesrats und einesvom Kajser und preussischen König ernannten Reichskanzlers, wie durch Übergang wichtiger Rechte des Kaisers auf den Reichspräsidenten. Ferner ist die t ä t s ä c h Ii c h e politische Beherrschungder Mittel- und Kleinstaaten durch Preussen bei der neuen staatsrechtlichen Lage schwer denkbar und noch schwerer durchführbar. Es ist also zur Beseitigung der b i s h e r i g e n Vormachtstellung Preussens, deren Gefahren für die auswärtige und innere Politik niemand verkennen kann, nicht nötig, Z w e r g r e p u bliken zu schaffen. Es ist eine ungeheure Verschwendung an Kraft und Geist, an Geld und Zeit, wenn Preussen in eine grössere Anzahl von Republiken gespalten würde, deren jede den gesamten Apparat der zentralen, mittleren und unteren Verwaltung wiederholt, eine selbständige Verfassungsurkunde r einen eigenen Präsidenten, eine eigene Volksvertretung hätte. Wenn aber Preussen nicht auf seinem bisherigen GeBamtumfang bestehen bleiben kann, w i e soll denn geteilt werden ? Gerade die Fülle von Plänen — eine rheinische, rheinisch-westfälische, süddeutsche, pfälzische, Donau-, Nord-, Ostsee-, mitteldeutsche, sächsische Republik usw. — läset vermuten, das» dieses Problem sobald nicht zur allseitigen Befriedigung gelöst werden kann. Deshalb habe ich schon im Februar 1919 einen anderen Gedanken in der Öffentlichkeit zur Erörterung gestellt. Wenn wir ausreichende Garantien schaffen, das» Preussen nicht jene politische und militärische Hegemonie erhält, die es vor dem Weltkriege besass, dann würde die Möglichkeit bestehen, eine Zerstückelung zu vermeiden, indem seine b i s h e r i g e n e i n z e l n e n P r o v i n z e n e i n e so w e i t g e h e n d e A u t o n o m i e ( S e l b s t r e g i e r u n g ) e r h i e l t e n , das» sie ihre Lebensaufgaben mit allen in ihrer Besonderheit liegenden Kräften erfüllen könnten. Es handelt sich also umeine weitgehende D e z e n t r a l i s a t i o n , nm die Schaffung von „Ländern", ähnlich den Kronländern des früheren österreichischen Staates, mit Anerkennung und Wahrung ihrer Eigenheit; aber doch im staatlichen Verbände Preussens. Das-

III. Abschnitt. Die amtl. Reichsverfass.-Eutwürfe u. d.Gang d. Berat. 45

'wesentliche würde sein, dass allen zu grösserer Selbständigkeit gelangten Provinzen, unbeschadet einer gemeinsamen preussischen Gesetzgebung, doch ein weitgehendes Statutarrecht zustehen könnte und dass sie vor allem auch in ihrer Verwaltung eine weitgehende Selbständigkeit genössen 1 ). Von besonderer Tragweite ist der Einfluss, d e r d e m R e i c h e h i n s i c h t l i c h der L a n d e s v e r f a s s u n g e n g e g e b e n w i r d . Er ist im ganzen zu billigen; er zeigt auch hier den Weg zum unitarischen Staat. Vermisst hatte ich, dass das Reich nicht jedem Freistaat die republikanische Staatsform verbürgt und nicht das Recht erhalten sollte, deren Beibehaltung durch die Bundesexekution zu erzwingen. Seltsam mutet es an in dem Entwurf einer R e i c h s v e r f a s s u n g , die Selbstverwaltung der Gemeinden und Gemeindeverbände und eine Beschränkung der Staatsaufsicht gesichert zu sehen. Das gehört doch in eine Verfassungsurkunde der E i n z e l s t a a t e n , ebenso der Satz, dass die Ortspolizei grundsätzlich Sache der Gemeinden oder Gemeindeverbände ist und dass jedes bewohnte Grundstück einer Gemeinde angehören rauss. Mit derartigen Bestimmungen verläset man die Grenze der Grosszügigkeit und gerät ins Kleinliche. Der im Vorentwurf gemachte Versuch, den bisherigen Ubelstand zu vermeiden, dass das Reich zur A u s f ü h r u n g s e i n e r G e s e t z e auf das Wohlwollen der einzelstaatlichen Behörden angewiesen war, hätte nur eine geringe Wirkung gehabt, wenn die Landesbehörden reichsverfassungsmässig verpflichtet worden wären, den A n w e i s u n g e n der Reichsregierung Folge zu leisten und wenn die Reichsregierung in die deutschen Freistaaten nur Beauftragte hätte senden können zur Akteneinsicht und Auskunfteinholung, mit der Wirkupg, dass bei Zuwiderhandlungen gegen die schuldigen Landesbeamten 1) So schrieb ich in der Kölnischen Zeitung vom 8. Februar 1919 Nr. 92. Inzwischen geht dieser Gedanke seiner Verwirklichung e n t g e g e n durch den am 16. Juli 1919 beratenen und einem Ausschuss der preuss. Landes Versammlung überwiesenen Gesetzentwurf über Erweiterung der Selbständigkeitsrechte der Provinzialverbände (Druck.«. Nr. 604, Sten. Ber. 3553 ff.). Die eingehende Behandlung dieser Frage hängt natürlich eng zusammen mit den sogenannten Sondevbestrebungen auf Ablösung östlicher und westlicher Gebiete von Preussen unter dein selbstverständlichen Vorbehalt des Verbleibens in dem Rahmen des Deutschen Reichs, und rechtfertigt «ich auch durch die ausserordentlich wichtigen politischen Ereignisse. Von diesen heb! sich das preiissische Staatsproblem scharf ab. Die weitere Entwicklung der Frage innerhalb der Nationalversammlung konnte nicht in dieser Schrift erörtert werden. D i e vielleicht nur scheinbar endgültige Regelung durch die Verfassungslirkunde gibt deren Art. 18.

46 Erster Teil. Die geschichtl. Entwicklung d. neuen Reicheverfassuug. auf Grnnd von Disziplinarvorschriften hätte vorgegangen werden können. Auf diese Weise wäre man nicht weiter gekommen 1 ). Gegen die Idee der R e i c h s r ä t e , deren G u t a c h t e n vor der Einbringung von Gesetzesvorlagen beim Reichstag und vor dem Erlass der Ausftthrungsvorscbriften zu den Reichsgesetzen einzuholen gewesen wäre, habe ich mich schon früher gewandt 2 ). Das Bedenken musste um so grösser sein, als der vorläufige amtliche Entwurf 8 ) ein S t a a t e n h a u s neben dem V o l k s h a u s vorgesehen hatte, das aus den Abgeordneten der deutschen Freistaaten bestehen und zusammen mit dem Volkshause den Reichstag bilden sollte. Hier war also bereits das einzelstaatlicbe Element vertreten. Ja, es hätte bei der Bedeutung der Volksvertretung im Falle parlamentarischer Regierungsweise eine unter Umständen ausschlaggebende Macht gehabt. Jedenfalls würde es den Einfluss und die Bedeutung der . . R e i c h s r ä t e " weit überstiegen haben, da diese doch nur hätten beraten, aber nicht entscheiden können. Jedes einzelstaatliche Mitglied des Staatenbauses würde also in der L a g e gewesen sein, Entschlüsse von grösster Tragweite durch seine Stimme mitherbeizuführen, dagegen ein Mitglied einer einzelstaatlichen R e g i e r u n g hätte sich nur gutachtlich äussern können. D i e beabsichtigte A u s d e h n u n g d e r r e i c h s u n u i i t t e l b a r e n A n g e l e g e n h e i t e n war auf das wärmste z u b i l l i g e n 4 ) . 1) Ich hatte vorgeschlagen: „Das Reich beaufsichtigt die Ausführung der Reichsgesetze in den Freistaaten durch die Reichsregierung. Werden hierbei Mängel festgestellt, so f o r d e r t d e r R e i c h s p r ä s i d e n t d i e R e g i e r u n g d e s F r e i s t a a t e s zu d e r e n s o f o r t i g e r A b s t e l l u n g auf. Bleibt dies ohne Erfolg, so wird auf Anrufen des Staatspräsidenten durch den R e i c h s s t a a t s g e r i c h t s h o f entschieden. Befindet dieser, dass die Verwaltung des Einzelstaats dem Wortlaut, dein Geist uud Sinn der Reichsverfassung oder der Reichsgesetzgebuug als Einheit nicht entspricht, dann sind die v o r der Entscheidung erfolgten Verwaltungsmassnahmen anfechtbar, die, n a c h der Entscheidung Reichsstaatsgerichtshofs noch vorgenommenen Massnahmen nichtig Bei wiederholten Zuwiderhandlungen tritt Buudesexekution ein." Vgl. meine Schrift, Die Verfassungsurkunde der Vereinigten Staaten von Deutschland 1919 S * 9 f 2) V g l auch A n s c h ü t z DJZ 1919 Sp. 118ff., 203 und in der Zeitschrift „Deutsche Politik» 1918 S. 112 ff. 3) Übereinstimmend mit meinem v o r h e r veröffentlichten Entwurf, a. a. 0 . S. 20 und 80 J'f. 4) Ich hatte in meinem vorher erschienenen Werke fast wörtlich dasselbe wie der vorläufige Entwurf vorgesehen, insbesondere auch die Zuständigkeit in Fragen des Volksschulrechts und des Verhältnisses von Staat und Kirche. „Was jenes betrifft, so muss das Schulrecht als einheitliche deutsche Angelegenheit behandelt werden, ans Gründen der gemeinsamen geistigen Kultur, aus Gründen der Vereinheitlichung aller auf Demokratisierung gerichteten Bestre-

III. Abschnitt. Die amtl. Reichsverfass.-Entwürfe u. d.Gatig d.Berat. 47 Auc.li deiu Zweikammersystem war zuzustimmen 1 ), ebenso der Aufnahme der Grundrechte 2 ') Dass man vorschreiben wollte, in Verwaltung und Rechtspflege innerhalb Deutschlands sollte für die fremdsprachigen Volksteile unter Umständen nicht die deutsche Sprache obligatorisch sein, war allerdings scharf abzulehnen. Das in den Grundrechten des vorläufigen Entwurfs angedeutete Agrarprogramm (s. oben S. 33) konnte freilich dort nicht auf die Dauer seinen Platz behaupten. Die Ausgestaltung des parlamentarischen Systems und die Stellung des Reichspräsidenten konnte im wesentlichen in der Fassung des Vorentwurfs gebilligt werden, doch hätte festgelegt werden müssen, dass die Staatsgewalt n i c h t bei einem mit überlegener Machtvollkommenheit ausgestatteten Präsidenten liegt, sondern bei der R e i c h s r e g i e r u n g und dass die positive Gestaltung des Grundcharakters dieser letzteren nicht ganz einer gewohnheitsrechtlichen Bildung überlassen bleiben darf. So wehig es a n g e h t , zukünftiger bungen (Einheitsschule), nicht zuletzt aber auch deshalb, «eil die einzelstnatlichen Sonderregelungen und der Rechtszu,stand in bezug auf die •weitestgehenden Befugnisse der Kultusministerien, gerade hier einen Tummelplatz willkürlicher bürokratischer Regelungen und zum Teil reaktionärer Massnahmen gezeitigt haben. Wie die Volksschulpflicht eine, allgemein deutsche ist, so müssen auch alle Einzelfragen von Reichs wegen geordnet werden, so insbesondere die Dauer der Schulpflicht, Schulaufsicht, Verwaltung der äusseren und inneren Angelegenheiten der Schule durch Staat und Gemeinde. Da der neue Volks- und Rechtsstaat auch darüber wird befinden müssen, ob die Volksschule wieder eine, konfessionelle, sei, ob insbesondere in ihr der Religionsunterricht obligatorisch erteilt werden soll, ist unerlässlich, auch die grosse Frage des Verhältnisses von Staat und Kirche, wenigstens grundsätzlich auf dem Wege, der Reichsgesetzgebung zur Lösung zu bringen. Die Forderung der grössten Rücksichtnahme auf religiöse Gefühle muss unter allen Umständen Gehör finden. Das Recht der deutschen Freistaaten, ihr Hochschulwesen selbständig zu regeln, bleibt unberührt. Die Einheitlichkeit in der äusseren und inneren Organisation für mittlere und höhere Schulen ist für das ganze Deutsche Reich zu erstreben" (So meine Schrift: Die Verfassungsurkunde der Vereinigten Staaten von Deutschland S. 18.19, 77. 80). Vgl. jetzt auch unten S. 126—129. 1) Ich hatte es ebenfalls vorher vorgeschlagen. (§§ 10,11 meines Entwurfs.) Das Staatenhaussvstem empfahlen auch M a x W e b e r in der Frankfurter Zeitung vom 28. November 1918, ohne das Bundesratssystem ganz von der Hand zu weisen; M e i n e c k e in dem erwähnten Aufsatze S. 6; Th. H e u s s in der Deutschen Politik 1918 S. 1640: F r i e d r e r g , DJZ. 1919 Sp. 198, dagegen A n s c h ü t z a: a. O. Sp. 118. Vgl. auch R a d b r u c h , Archiv für Sozialwissenschaft. Bd. 46 Heft 3 (1920 S. 834). 2) Auch A n s c h ü t z DJZ. 1919 Sp. 115 verlangte entschieden die Aufnahme von Grund- und Freiheitsrechten in die Reichsverfassung.

48 Erster Teil. Die geschieht!. Entwicklung d. neuen Reichsverfassung verfassungsmässiger Gestaltung Schranken aufzuerlegen, so gefährlich ist es, in wichtigen Punkten von einer unzweideutigen Festlegung des parlamentarischen Systems und des tatsächlichen Vorranges des Reichsministeriums gegenüber dem Reichspräsidenten in der materiellen Leitung des Reichs abzusehen. In Wirklichkeit werden doch auch die dem Reichspräsidenten zugewiesenen materiellen Befugnisse, wie die Ernennung und Entlassung der Reichsbeamten, das Begnadigungsrecht, das Eingreifen mittelst bewaffneter Macht innerhalb des Reichs, Reichsexekution usw. ohne die entscheidende Mitwirkung des Reichsministeriums nicht möglich sein. Da würde es doch zweckmässiger und ehrlicher gewesen sein, von vornherein zu erklären, dass dem Reichspräsidenten eine überragende Ehrenstellung, nicht aber eine irgendwie ausschlaggebende p o l i t i s c h e Machtstellung eingeräumt werden sollte. Der Gefahr, dass zwischen Kabinett und Reichspräsidenten eifersüchtige politische Kämpfe entstehen, musste von vornherein vorgebeugt werden 1 ) 2 ). 1) Scharfe Kritik an dem vorläufigen Entwurf ist noch geübt worden durch eine Reihe von Schriften, von denen hervorzuheben sind: E r i c h K a u f m a n n , Grundfragen der künftigen Reichsververfassung, 1919 und d e s s e l b e n Aufsätze im „Tag" vom 27. Februar 9. und 11. März 1919 über Reichsheer- und Reichseisenbahnen sowie über den Reichsrat; G m e l i n , Warum ist der Reichsverfassungsentwurf fUr uns Süddeutsche unannehmbar? Giessen 1919; Z o r n , Reich und Einzelstaaten im deutschen Staatsbau der Zukunft, im „Tag" vom 11. Februar 1919, Nr. 29; G ö p p e r t , Zur neuen Reichsverfassung im „Tag" vom 18. und 19. März 1919, Nr. 56, 57. Vgl. ferner: »Das Werk des Herrn Preuss oder Wie soll eine Reichsverfassung nicht aussehen?" Mit Beiträgen von J o h . V i k t o r B r e d t , Florens Chr. R a n g , Wilh v. F l ü g g e und Otto H o e t z s c h , nebst Gegenentwurf einer Reichsverfassung, herausgegeben von Joh. Victor B r e d t , Berlin 1919; Kritische Bemerkungen zum Regierungsentwurf der künftigen Reichsverfassung, Zeitschrift Die Deutsche Nation. Febr. Heft 1919 S. 15ff.; P o e t z s c h , Das Staatenhaus, daselbst März Heit S. 29 ff.; S t i e r - S o m l o , Die rechtliche Stellung des Reichspräsidenten, daselbst Juni Heft S.2;tff.; R o t h e n b ü c h e r in der Zeitschrift für Rechtspflege in Bayern Bd 15 (1919) Nr. 4. S. 65ff.; K o c h i n der Deutschen Allgem. Ztg. v. 15. Februar 1919, Abendausgabe, Beiblatt; G i e s e , in den Frankfurter Nachrichten Nr. 50, 52 vom 28. und 29. Januar 1919. Es ist wohl in der gesamten Öffentlichkeit und Presse der vorläufige Entwurf auf das schärfste angegriffen worden, besonders wegen seiner Stellung zum preussischen Staate. Auch der preussische Ministerpräsident hat sich mit grösster Entschiedenheit dagegen ausgesprochen, ebenso der preuss. Minister H e i n e in der Nationalversammlung vom 3. März und 29. Juli 1919 (StenBer. 457 f., 481, 1808 f.). 2) Am 25. Januar 1919 hat vor der von etwa hundert V e r t r e t e r n a l l e r d e u t s c h e n R e g i e r u n g e n besuchten K o n f e r e n z zur Erörterung des Entwurfs für die künftige Verfassung des

III Abschnitt. Die amtl. Reichsverfass.-Entwürfe u. d. Gang d. Berat. 49 Das Schicksal der deutschen Verfassung wurde zunächst Deutschen Reichs, Staatsekretär D r . P r e u s s eine Ansprache gehalten in der er u. a. sagte: „Die Pressäusserungen der letzten Tage Hessen mir keinen Zweifel darüber, dass e r n s t e M e i n u n g s v e r s c h i e d e n h e i t e n auch heute hier zum Ausdruck kommen werden. Diesem Ziel solke der Verfassungsentwurf von vornherein dienen, der, wie ich ohne weiteres zugebe, seiner Natur nach ein K o m p r o m i s s e n t w u r f ist und der versucht, eine m i t t l e r e L i n i e zwischen Einheit und Zersplitterung zu finden. A u f g a b e des Verfassungsentwurfs ist. den politischen und staatsrechtlichen Niederschlag der Revolution festzulegen. Der Entwurf geht eine M i t t e l s t r a s s e . Er hat der Versuchung widerstanden, den grosszügigen Gedanken einer vollkommenen deutschen Einheit zu verwirklichen, weil er sich sagen musste, dass die Verwirklichung an dem Widerstand der Tatsachen scheitern muss. Nach der geschichtlichen Entwicklung würde man in weiten Teilen Deutschlands, namentlich im Süden, den E i n h e i t s s t a a t nur als eine V e r p r e u s s u n g g a n z D e u t s c h l a n d s auffassen. Deshalb hat der Entwurf von vornherein darauf verzichtet, diesen Weg zu gehen, und er musste es auf sich nehmen, dass ihm all die S c h w ä c h e n nachgesagt wurden, die ein Kompromiss in sich schliesst: Den Unitaristen geht er nicht weit genug, den Partikularisten geht er zu weit. Aber wie einmal die Dinge in Deutschland liegen, wird man nicht umhin können, die mittlere Linie zu gehen. Eins darf dabei nicht aus dem Auge gelassen werden: D e r E i g e n a r t d e r d e u t s c h e n S t ä m m e muss freier Spielraum gelassen werden, der aber sein« notwendige Grenze gerade jetzt in der unbegrenzten Notwendigkeit eines s t a r k e n n a t i o n a l e n Z u s a m m e n h a l t s finden mus». Das alte königliche Preussen besteht nicht mehr, und die Lücke muss, we.nn das deutsche Volk noch eine politische Zukunft haben will, von dem Deutschen Reich als solchem ausgefüllt werden. Tritt als Erbe der preussischen Macht die Vi elu n d K l e i n s t a a t e r e i ein, so ist D e u t s c h l a n d p o l i t i s c h u n d w i r t s c h a f t l i c h r e t t u n g s l o s v e r l o r e n . Wenn die Republik ihre Aufgabe, die deutsche Nation politisch in ihrer schweren Lage über Wasser zu halten, nicht erfüllt, dann kommt mit mathematischer Sicherheit die Stunde der m o n a r c h i s c h e n R e a k t i o n . Die Einheit des Reichs in einer republikanischen Staatsform kann nur auf der Grundlage der Einheit der deutschen Nation begründet werden. Es g i b t n u r e i n e d e u t s c h e N a t i o n , es gibt keine preussische, keine bayrische Nation, und die Republik als Staatsform kann sich nur auf die nationale Einheit des Volkes stützen. Der Verfassunggentwurf will brechen mit den erhaltenen Uberbleibsein der auswärtigen Hoheit der Einzelstaaten. Die Festigung der Stellung und die Vertretung des Reichs nach aussen, dass es dem A u s l a n d g e g e n ü b e r n u r ein D e u t s c h e s R e i c h und keine einzelnen Stämme gibt, sind notwendig für den Bestand Deutschlands. Die allerneuesten Erfahrungen einer quasi - autonomen auswärtigen Politik eines süddeutschen Einzelstaats haben wohl nicht mit dazu beigetragen. dass man auf Grund praktischer Erfahrungen die Beibehaltung dieses Reservatrechts für wünschenswert hält. Die bisherigen Bestimmungen der Reichsverfassung bezüglich des H e e r e s waren in mancher Beziehung unzulänglich, denn die Militärkonventionen ersetzen, was an Einheit und verfassungsmässigen BestimStier-|Somlo, ReichsTerfaisnng. I. Aufl.

4

toO Erster Teil. Di© geschichtl. Entwicklung d. neuen Reichirerfassung. bestimmt durch

den Erlass

des Gesetzes über die vorläufige

munden fehlte. Jetzt würde dieses Ersatzmittel nicht mehr möglich ••in. Die Militärkonventionen Preussens mit den Einzelstaaten werden jetzt, wenn nicht ganz unmöglich sein, jedenfalls auf Schwierigkeiten stossen. Was ich vom militärischen Gebiet sagte, gilt auch Tom w i r t s c h a f t l i c h e n Gebiet. Überall sucht der Entwurf zu vereinheitlichen, was für die Gesamtheit des deutschen Volkes unbedingt notwendig ist, und im übrigen ist in diesem Rahmen den Einzelstaaten viel Raum gelassen. Allerdings verschärft er in gewisser Weise die Möglichkeit des Reichs, seine A u f s i c h t .auf den Gebieten, die seiner Kompetenz unterliegen, zur Geltung zu bringen. In diese Aufgabe, die nationale Existenz des Volkes als eine Einheit auch staatsrechtlich und organisatorisch zu vereinheitlichen, treten nun die bestehenden 25 Einzelstaaten ein. Ist es möglich, die aus innerer Notwendigkeit erwachsenen Aufgaben und die V e r t e i l u n g v o n K o m p e t e n z e n zwischen Einzelstaaten unter Aufrechterhaltung der 25 Einzelstaaten durchzuführen? Die s ü d d e u t s c h e Staatenbildung ist zwar auch nicht natürlich erwachsen, aber ich sehe keine Schwierigkeiten vom Standpunkte des Reichsinteresses, dass sie b l e i b t , w i e s i e ist. Die n o r d d e u t s c h e L a n d k a r t e zeigt in keiner Weise die auch nur verwaltungsmässig mögliche territoriale Gliederung, die den Aufgaben gewachsen sein würde, die den Einzelstaaten im Rahmen einer solchen internationalen Hauptfrage der sich einheitlich gestaltenden Verfassung gestellt würden. Überall kleine Gebietsstücke, einspringend in andere. Das alles hat sich nach den dynastischen Eigentumsrücksichten entwickelt. Es fragt sich: Ist diese Gestaltung für die sozialistische deutsche Republik eine Noli me tangere? Ich komme bei dieser Gelegenheit auf das, was in den letzten Tagen aus Gründen der Wahlagitation in den Vordergrund geschoben worden ist, den S c h r e c k e n s s c h r e i v on d e r Z e r s c h l a g u n g P r e u s s e n s . Wenn die deutsche Republik d e n E i n z e l s t a a t P r e u s s e n b e h ä l t und unter Entfernung der partikularistischen Bestrebungen bei allen anderen Freistaaten dem deutschen Volk nicht die Festigkeit seiner politischen Existenz gibt, dann muss der S c h r e i n a c h d e r m o n a r c h i s c h e n R e s t a u r a t i o n sich m i t e l e m e n t a r e r G e w a l t g e l t e n d m a c h e n . A b e r w e r a u c h heute guter Republikaner ist, muss sagen: Nötiger als das Bestehen der Republik ist, das» Deutschland besteht. Ich glaube, dass m i t d e r r e p u b l i k a n i s c h e n S t a a t s form D e u t s c h l a n d s ein ein h e i t l i c h e r Staat P r e u s s e n n i c h t v e r e i n b a r ist. Gerade wenn wir sehen, dass eine vollkommenere Vereinigung aller andern deutschen Einheitsstaaten zu einer schärferen Zentralisierung nicht in dem Masse vorhanden ist, wie man es nach der Revolution hätte erwarten sollen, ist es um 10 gefährlicher, den W i d e r s i n n , der in der Existenz des G r o s s i t a a t s P r e u s s e n s liegt, aufrecht zu erhalten. Es ist notwendig, dass das Reich der Erbe dieser preussischen Hegemonie wird. Der Entwurf enthält n i c h t s ü b e r e i n e Z e r s c h l a g u n g P r e u s s e n s , wie überhaupt nichts über eine Änderung des Staatsgebiets als solchem. Die Neugruppierung muss aus der Initiative des Volks selbst hervorgehen. Eine p r e u s s i s c h e H e g e m o n i e im alten Sinn, die verfassungsmässig irgendwie verankert wäre, ist nach L a g e der Dinge u n m ö g l i c h . Wenn aus Württemberg und andern süddeutschen Staaten Stimmen kommen, die das für wünschens-

IV. Abschnitt. Das Übergangggesetz Tom 4. März 1919.

51

Reichsgewalt vom 2. Februar 1919 1 ). Bevor der zweite, endgültige Verfassungsentwurf in der deutschen Nationalversammlung zur Beratung kam, musste eine weitere Entwicklungsstufe betreten werden. Von dieser ist nunmehr zu handeln.

IV. Abschnitt.

Das Übergangsgesetz vom 4. März 1919. Legalisierung des vor- und nachrevolutionären Rechts. 1. Die Frage, welcher Rechtszustand hinsichtlich des VerfassuDgsreehts in Deutschland bestand, ist auf dem breiteren Untergründe des Problems der Rechtmässigkeit der vor- und wert halten, dann erhält die Frage ein anderes Gesicht. Der § 11 will eine von der Bevölkerung gewünschte Umgruppierung der G e b i e t s g r e n z e n in geordnete Wege leiten, ohne Zerstörung des bestehenden Verwaltungsorganismus. Für mich gibt es eine viel bessere Macht. Geben Sie dem R e i c h d i e B e f u g n i s , nach Anhörung der Beteiligten durch die Reichsgesetzgebung U m g e s t a l t u n g e n v o r z u n e h m e n . Der Weg ist zweifellos besser. Ich •weifle aber, ob Ihnen der Weg besser gefallen wird". Die Tagespresse berichtete hierzu: Nach der Rede ist noch stärker als vorher in den Verhandlungen das Bekenntnis zum E i n h e i t s s t a a t hervorgetreten. Zugleich aber rang sich die Einsicht durch, dass solch ein Einheitsstaat nicht ohne weiteres zu erreichen sein wird, und dass darum auf die nun einmal vorhandenen Hemmungen die gebührende Rücksicht genommen werden muss. Mit besonderem Nachdruck bekannte sich das Mitglied der Reichsregierung L a n d s b e r g zu einem solchen Ideal des Einheitsstaates. Er gab dem Wunsche Ausdruck, dass alle bestehenden Staaten den Drang haben möchten, in Deutschland aufzugehen. Er wies darauf hin, dass in Frankreich und Italien der Gegensatz zwischen Nord und Süd sicherlich nicht minder stark sei als in Deutschland, dass dort aber das Zustandekommen eines Einheitsstaates in vollstem Umfange gelungen sei. Der preussische Minister F i s c h b e c k , gleichfalls ein Unitarier, vertrat den Standpunkt seines Kollegiums und wies darauf hin, dass gerade, wenn man den Einheitsstaat wolle, jeder Vorschlag, der eine Aufteilung Preussens beabsichtige, eine Umkehrung des leitenden Prinzips genannt werden mügpte. Der Ministerialdirektor Dr. F r e u n d sprach in solchem Zusammenhang von einer Reaktion zur künstlichen Kleinstaaterei und berichtete, dass bei einer Untersuchung über die Loslösungsabsichten von R h e i n l a n d - W e s t f a l e n sich herausgestellt habe, dass gerade die d o r t i g e A r b e i t e r s c h a f t ein G r o s s - P r e u s s e n g e w o l l t h a b e . Der württembergische Minister L i e s c h i n g sprach seine Furcht vor einer allzu nachdrücklichen Zentralisierung der gesamten Gewalt in Berlin aus; hingegen bekannte sich der Vertreter von R e u s s zum Einheitsstaat, in dem er erklärte, heute noch selbständig mitarbeiten zu wollen, dies aber in der Hoffnung, als Vertreter eines Einheitsstaates bald nicht mehr da zu sein. 1) Vgl. oben S. 19 ff.

52 Erster Teil. Die geschichtl. Entwicklung d. neuen Reichsverfassung.

nachrevolutionären Gesetzgebung in dieser Zeit des Ubergangs zu prüfen. Galt, und in welchem Umfange, das bisherige Recht weiter? Hat der Rat der Volksbeauftragten seit dem 9. November 1918 und später die Reichsregierung bis zum 10. Februar 1919 and nachher die Befugnis zum Erlass von Rechtsnormen besessen? Es ist von grösster Tragweite, nicht uur für die vergangene, sondern auch fllr die kommende Zeit, ob wir es mit Rechtssätzen zu tun haben, die die deutschen Staatsangehörigen verpflichten. Die Frage ist schon häufig praktisch geworden. Das Landgericht Hirschberg in Schlesien hat sich in einer Entscheidung vom 30. Dezember 1918 mit der Rechtsgiiltigkeit einer A m n e s t i e v e r o r d n u n g 1 ) beschäftigt und sie verneint. Die Verordnung sei in Ansehung der Begnadigung ein Regierungsakt, in Ansehung der Niederschlagung von Untersuchungen ein Gesetz. In erster Hinsicht sei sie ungültig, weil das Begnadigungs- und Strafmilderungsrecht bisher den Landesherren und Senaten der freien Städte, nicht aber (abgesehen vom Falle des § 484 der Strafprozessordnung) dem Kaiser zustand, die Befugnisse der Landesherren und Senate aber keinesfalls auf die vorläufige R e i c h s r e g i e r u n g übergangen sein können, welche sicherlich auch nicht das Recht habe, mittels eines Regierungsaktes Befugnisse der Regierungen der Einzelstaaten an sich reissen. Insoweit dagegen die Verordnung sich als ein Gesetz darstelle, sei sie ebenfalls ungültig. Ob die Reichsgewalt befugt ist, Gesetze auf Gebieten zu erlassen, die der einzelstaatlichen Gesetzgebung vorbehalten waren, mag dahingestellt bleiben; g e w i s s aber dürfte dies nur dasjenige Organ der Reichagewalt, dem überhaupt das Recht der Gesetzgebung zusteht. Der Rat der Volksbeauftragten habe sich selbst aber nur das Recht zur v o l l z i e h e n d e n Gewalt zugesprochen und den Träger der Reichssouveränität in dem sogenannteu Zentralrat erblickt. Von diesem Standpunkte aus konnte also nur d i e s e r Stelle das G e s e t z g e b u n g s r e c h t zugesprochen werden. Wenn man aber selbst bei der ausserordentlichen Unklarheit der augenblicklichen staatsrechtlichen Verhältnisse auch die Gesetzgebung zur „vollziehenden Gewalt" rechnen wollte (!) and annehme, dass der sogenannte „Träger der Souveränität" nur ein Aufsichts- und Kontrollrecht habe, so könnte doch das Gesetzgebungsrecht dem Raite der Volksbeaaftragten nur in demjenigen Umfange zustehen, wie es sich ans dem Wesen einer lediglich v o r l ä u f i g e n Regierung er1) Verordnung über die Gewährung von Straffreiheit und Strafmilderung vom 3. Dezember 1918 (RGBl. S. 1393).

IV. Abschnitt.

Das Cbergangsgesetz vom 4. März 1919.

53

gibt. Eine solche könne, wie anerkannt sei, Gesetze oder Verordnungen mit Gesetzeskraft überhaupt nur erlassen, soweit die Daseinsbedingungen des Staates das Eingreifen der gesetzgebenden Gewalt unbedingt erheischen. Bei der vorliegenden Verordnung könne davon ganz und gar nicht die Rede sein. Selbst beim weitesten Entgegenkommen gegenüber dem Standpunkte, dass die Machtbefugnisse der tatsächlichen Regierung von den Behörden bis zur Grenze aller Möglichkeit, und soweit es ihre Gewissenspflicht irgend zulässt, anerkannt werden müssen, folge mit überzeugender Notwendigkeit die Feststellung der Rechtsungültigkeit der Verordnung vom 3. Dezember 1918. Diese Überzeugung bat aber das O b e r l a n d e s g e r i c h t B r e s l a u nicht geteilt. EB hat jene Entscheidung des Landgerichts Hiischberg durch Beschluss vom 24. Januar 1919 aufgehoben und die Wirksamkeit jener Verordnung bejaht. Unter Berufung auf Georg M e y e r s Lehrbuch des deutschen Staatsrechts 1 ) wird ausgeführt, dass „mit der Zerstörung der alten gleichzeitig eine neue Staatsordnung geschaffen wurde, d. h. die Personen, welchc infolge der Revolution über die Gewaltmittel des Herrschers verfügen, erlassen die Normen, nach welchen die Beherrschten dem neuen Herrscher zu gehorchen haben. Dieser Schaffungsakt Ist vollendet, sobald die Beherrschten von der Vorstellung beherrscht werden, dass diese Normen für sie verbindlich sind, mögen sie damit einverstanden sein oder nicht". Da nun der Rat der Volksbeauftragteu im tatsächlichen Besitze der Reichsgewalt sich befinde, so haben die von ihm in Ausübung dieses tatsächlichen Besitzes der Reichsgewalt erlassenen Gesetze 1) Gemeir t sind wohl die Ausführungen, die. jetzt in der von A n s c h ä t z bearbeiteten 7. Auflage (1914 — 1919) S. 26ff. stehen: „Da mit der Existenz eines Staates notwendig auch das Vorhandensein einer höchsten Gewalt gegeben ist, so fällt die F r a g e nach der Berechtigung des S t a a t e s zusammen mit der F r a g e nach der Berechtigung der S t a a t s g e w a l t . Dagegen kann der Rechtsgrund der Staatsgewalt Gegenstand der Erörterung sein, o h n e dass die Berechtigung des Staates in F r a g e steht. Dies ist da der Fall, wo es sich nicht um eine Staatenbildung, sondern um eine Verfassungsänderung oder einen Thronwechsel in einem bestehenden Staate handelt. L e g i t i m heisst eine Staatsgewalt, welche dem bestehenden Rechte gemäss i s t ; i l l e g i t i m eine Staatsgewalt, welche gegen das bestehende Recht zur Herrschaft gelaugt ist. Der Begriff der Legitimität findet ebensowohl auf republikanische als auf monarchische Staatsverfassungen Anwendung. Die Befugnis zur A u s ü b u n g d e r S t a a t s g e w a l t ist aber nicht durch den r e c h t m ä s s i g e n E r w e r b , sondern durch den t a t s ä c h l i c h e n B e s i t z derselben bedingt. Die Staatsgewalt kann in keinem Momente eines Repräsentanten entbehren, der die Herr•ehaftsrecht« handhabt".

54 Erster Teil. Die geschieh tl. Entwicklung d. neuen Reichs Verfassung

lind Verordnungen verbindliche Kraft 1 ). Dieselbe Auffassung wie das Oberlandesgericht Breslau hat das b a y e r i s c h e O b e r s t e L a n d e s g e r i c h t in München durch Urteil rom 19. Dezember 1918 zum Ausdruck gebracht 2 ). Wie die 1) Auf die Ausführungen der Strafkammer Hirschberg über das Wesen u n d die Schranken einer sich selbst n u r als solche ansehenden v o r l ä u f i g e n Regierung ist das Besch werdegericht nicht eingegangen, m. G. mit Recht, denn die Bezeichnung schliesst die D a u e r der Regierungsgewalt t a t s ä c h l i c h nicht aus, wie denn auch ilie vorläufige Regierung mit dem 10. F e b r u a r 1919 iu eine w e i t e r e „vorläufige" R e g i e r u n g übergegangen ist. Vgl. die Entscheidungen bei K a r s t e n , DJZ. 1919, Sp. 175. 255. 2) Wiedergeben in der DJZ. 1919, Sp. 187: „Die Regierung des Volksstaats Bayern hat in der Verordnung vom 22. November 1918 die Niederschlagung von Strafverfahren verfügt und durch Verordnung vom 16. November 1918 die in der Verordnung de» Rats der Volksbeauftragten vom 3. Dezember 1918 enthaltenen Vorschriften, soweit sie weitergehen als die Vorschriften ihrer Vero r d n u n g vom 22. November 1918, auf Bayern erstreckt. Der Vertreter der Generalstaatsanwaltschaft hat diese Vorschriften über die Niederschlagung von Strafverfahren mit Rücksicht auf Titel VIII, § 4 der Verfassung des Königreichs Bayern nicht für rechtsgültig erachtet, denn diese Vorschrift.könne nur auf ordnungsmässigem Wege, also durch Gesetz g e ä n d e r t oder aufgehoben werden, da» aber nicht vorliege. Der Strafsenat des Obersten Landesgerichts ist dieser Ansicht nicht beigetreten und hat aus folgenden Gründen die Einstellung des Verfahrens v e r f ü g t : Die gesetzgebende Gewalt ist ein Ausfluss der Staatsgewalt. Sic; steht dem zu, der die Staatsgewalt tatsächlich inne hat, also zur'Zeit der Regierung des Volksstaat« Bayern. Die Anordnungen der Regierung haben deshalb verbindliche Kraft. Zwischen Gesetz und Verordnung kann kein Unterschied gemacht werden. Durch Verordnung vom 22. November u n d 16. Dezember 1918 hat die Regierung des Volksstaats Bayern die Niederschlagung von Strafverfahren wegen der dort g e n a n n t e n Straftaten verfügt. Damit hat sie sich auch die Berechtigung beigelegt, im Rahinen dieser Verordnungen, abweichend von der Bestimmung im Titel VIII, § 4 der Verfassung, a n h ä n g i g e strafgerichtliche Untersuchungen zu hemmen. Soweit die Niederschlagung von Strafverfahren v e r f ü g t ist, bleibt daher f ü r die Auwendung der Vorschrift in Titel VIII, § 4 kein Raum". Auch in der Entscheidung de» bayerischen Obersten Landesgerichts vom 25. Juni 1919, DJZ Sp. 668 ist die Rechtsgültigkeit der Reichsamnestie vom 8. Dezember 1918 vorausgesetzt. Andere F r a g e n als die Rechtsgültigkeit behandeln zwar die Aufsätze von C o n r a d , Das Reichsgericht und die Amnestieerlasse des Rates der Volksbeauftragten, DJZ 1919, Sp. 334, 590, 661, 742, 826, 917, 1008; die dort mitbehandelten zahlreichen Entscheidungen des Reichsgerichts gehen aber durchweg von der Rechtsgültigkeit der Amnestieverordnungen aus, da sie sonst nicht zur Entscheidung der erörterten strafrechtlichen und strafprozessualen F r a g e n hätten kommen können. S. auch zur V e r o r d n u n g über militärische Amnestie vom 7. Dezember 1918 die Entscheidung des K a m m e r g e r i c h t s vom 27. März 1919 DJZ 1919, Sp. 514, übrigens auch die Entscheidung des bayerischen Obersten Landgerichts vom 26. September 1918, daselbst S. 516.

IV. Abschnitt.

Da« Übergangsgesetz vom 4. Mftrz 1919.

ii

Gültigkeit der „Reichsnotverordnungen" 1 ) des Rates der Volksbeauftragten überhaupt, so bat man auch die der Verordnungen der preussischen Regierung vielfach bestritten, besonders diejenigen über die auderweite Regelung des Gemeindewahlrechts vom 24. und 31. Januar 1919 (GS. S. 13 und 15). Dio Rechtslage für Preussen ist grundsätzlich dieselbe wie im Reich und ist deshalb hier nicht weiter zu verfolgen. 2. Die Rechtsfrage ist auch in der Literatur eifrig besprochen worden. L o b e 2 ) geht davon aus, dass jede Gemeins c h a f t zur notwendigen Voraussetzung die O r d n u n g hat, durch die die Willenstätigkeit des einzelnen Gliedes der Gemeinschaft nnd dieser selbst geregelt wird. Diese ordnende T ä t i g k e i t aber ist wieder Machtbetätigung, Verwirklichung eines über den Gliedern der Gemeinschaft stehenden Willens. Wo immer dieser Wille seine Macht herleitet, sei es aus der zusammentreffenden Überzeugung der Gemeinschaftsglieder, s e i e s a u s d e r t a t s ä c h l i c h e n H e r r s c h a f t eines übermächtigen Einzelnen, der den anderen seinen Willen aufzwingt: sobald di« Willensmacht die Anerkennung derjenigen gewinnt, die ihr entgegenzutreten vermöchten, wird aus der tatsächlich errichteten Willensmacht d u r c h d e r e n A n e r k e n n u n g aufrechterhaltende Willensmacht, R e c h t s m a c h t , aus der von ihr gesetzten Ordnung R e c h t s o r d n u n g . Diese Anerkennung seitens des deutschen Volkes werde man aber den tatsächlichen Machthabern nicht absprechen können. Die Behörden nud das Heer haben sich ihnen zur Verfügung gestellt, di« Soldaten- und Arbeiterräte ganz Deutschlands, also die Vertreter der deutschen Arbeiterschaft, die die tatsächliche Herrschaft ausüben, haben sie als Regierungsorgane anerkannt. Solange sie diese Machtstellung innehaben, müssen Bie also f ü r 1) W e v l bemängelte den Erlaas von rund 40 „Reichsnotrerordnungen", DJZ 1919, Sp. 257, weil das bisherige Reichsstaatsrecht aie nicht kenne, betont auch, dass die Verordnung über Erbbaurecht rom 15. Januar 1919 eine Angelegenheit sei, die der Gesetzgebung des Reichs unterliege (Art. 4 Nr. 13 der bisherigen Reichsverfassung) und dass deshalb die Eigenmacht der Regierung, mittele einer blossen Verordnung eine im BGB. § 1012 ff. geregelte Materia abzuändern, keineswegs gerechtfertigt wird. Vgl. hierzu die angeführte Stelle aus Georg M e y e r - A n s c h ü t z , Lehrbuch des deutschen Staatsrechts oben S. 53 Antn. 1. Es ist ferner zu erwägen, das die Revolution auch den Reichstag, nicht nur den Bundesrat als solchen weggeschwemmt hat. S t i e r S o mlo, Verfassungsurkunde der Vereinigten Staaten von DeuUehlund, S. 39. 2) JW 1919, S. 18 f. unter Bezugnahme auf «eine hier mit «inbezogenen Ausführungen aus seinem Werke: Der unlautere Wettbewerb als Rechtsverletzung, I 146.

56 Erster Teil. Die geschichtl. Entwicklung d. neuen Reichsverfassung.

berufen erachtet werden, in der von ihnen beherrschten Gemeinschaft Ordnnng, d. h. Recht zu schaffen. Völlig belanglos sei dabei, ob sie diese Machtstellung auf die Dauer zu behaupten vermögen, oder durch neue Umwälzungen von andern Machthabern abgelöst werden. Besitzen sie die oberste Machtfülle über die Gemeinschaft, die bisher das Deutsche Reich bildete, so haben sie rechtlich unbeschränkt damit auch eine Macht über die Glieder dieser Gemeinschaft, die Bundesstaaten, und sind daran auch durch bisher bestehende Sonderrechte dieser Glieder nicht gehindert, da diese ebenfalls mit den Einzelverfassungen erledigt sind. Ubereinstimmend mit der wissenschaftlichen Lehre 1 ) hat ferner S c h w a l b 8 ) als festen Ausgangspunkt den Satz bezeichnet, dass nach einem gewaltsamen Umstürze der Staatsordnung diejenige Person oder Gruppe von Personen, die in den Besitz der Macht gelangt, als die rechtmässige Regierung anzusehen ist, sobald die übrigen Mitglieder der Volksgesamtheit sie als solche anerkennen und dass diese Anerkennung hinlänglich kundgegeben ist, wenn sie diese Anordnungen des neuen Machthabers ihrem Handeln als verbindlich zugrunde legen, gleichviel, ob sie sie billigen oder nicht*). Dagegen steht Zorn 4 ) auf dem Standpunkte, dass erst mit dem Zusammentritt der Nationalversammlung an die Stelle des Zustandes der Macht der Zustand des Rechts tritt, das» die Anordnungen der Volksbeauftragten nur tatsächliche Machterscheinungen o h n e r e c h t l i c h e G r u n d l a g e seien, auch 1) Siehe oben S. 53 f. und unten S. 58. 2) DJZ, 1919 Sp. 281. 3) Diese Voraussetzungen sind, so findet der Verfasser, in den Staaten, die einen revolutionären Wechsel der gesamten Staatsordnung vor uns durchgemacht haben, stets zur Rechtsbeständigkeit der neuen Regierung als ausreichend erachtet worden; sie gelten auch im zwischenstaatlichen Verkehr als ausreichend zur völkerrechtlichen Anerkennung. Sie waren für die von dem Gross-Berliner Arbeiter- und Soldatenrat eingesetzte Regierung der Volksbeauftragten am 12. November 1918 erfüllt. Das Vorgehen jenes Rat» wurde von den Arbeiter- und Soldatenräten des gesamten Reichsgebiets, die überall die unmittelbare Gewalt ausübten, gebilligt. Die Behörden und Militärbefehlshaber hatten sich der neuen Regierung zur Verfügung gesteht. Der Versuch des Präsidenten de» Reichstages, diese Körperschaft zu berufen, ist nicht zur Bedeutung eines Protestes gegen die Ausübung der Staatsgewalt durch die neue Regierung gediehen, da er auf deren Einspruch aufgegeben wurde. Die Bewegung der Spartakisten, so bedrohlich sie zeitweise war, sei über das Mass örtlicher Aufstände nicht hinausgewachsen. 4) Die Staatsumwälzung im Deutschen Reiche, DJZ. lSHfr 8p. 126 fT.

iV. Abschnit.

Das Übergangsgesetz vom 4. März 1919.

57

wenn sie als „mit Gesetzeskraft" erlassen bezeichnet werden. Durch den Umsturz der bisherigen Regierungsgewalt sei die Gesamtheit der RegieruEgsrechte zurückgefallen an das Volk. Hiergegen ist bereits eingewendet worden 1 ), dass bis zur Revolution in Deutschland R e g i e r u n g d u r c h d a s V o l k nicht Grundsatz des Verfassungsrechts war, sondern nur eine Forderung politischer Parteien, da auch nach der Reform vom 28. Oktober 1918 die „verbündeten Regierungen" Träger der Reichsgewalt geblieben waren. Eine Verkennung der staatsrechtlichen Lage bedeutet ea auch, wenn von einzelnen Schriftstellern nur „notwendige und dringliche" Verordnungen in die Zuständigkeit der Volksbeauftragten (und der Reichsregierung vor Erlass des Ubergangsgesetzes) verwiesen wurden. Abgesehen davon, dass über die F r a g e der Notwendigkeit und Dringlichkeit eben die Revolutionsgewalten sich zu entscheiden hatten, handelt es sich (wie schon in der erwähnten Entscheidung des Landgericht» Hirschberg vom 30. Dezember 1918, oben S. 52 f , S. 54 Anm. 1) um eine unrichtige Abgehätzung der Bedeutung des Ausdruckes einer „vorläufigen" Regierung. Es sollte damit keineswegs ausgesprochen sein, dass die Regierung nur vorläufige Dinge zu erledigen hat, oder die Dinge nur vorläufig erledigen wolle, sondern, dass sie ihre Macht späterhin durch andere Faktoren, als den revolutionären Besitz der Staatsgewalt, legalisieren lassen oder anderen abtreten wolle. Dagegen waren die von der vorläufigen Regierung getroffenen Anordnungen als endgültige gedacht*). 1) S c h w a l b a. a. 0. 2) Dies gegen A r n d t , Was ist heute in Deutschland und Preussen rechtens? DJZ. 1919 Sp. 78; S t r u p p , Die Rechtsteltung des Reichstages nach der Revolution, daselbst Sp. 86 und K o s e n b e r g , Die Kompetenz-Kompetenz in der neuen deutschen Republik, daselbst Sp. 137. Die Auffassung, der Rat d.er Volksbeauftragten sei u n b e a u f t r a g t e r G e s c h ä f t s f ü h r e r d e r V o l k s g e s a m t h e i t , ist unhaltbar, da jener „die Regierung als Beauftragter der innerhalb des Volkes zur Herrschaft gelangten Klasse übernommen hatte". Es ist auch vom rechtlichen Gesichtspunkte aus nicht folgerichtig, die Ausübung der Staatsgewalt an sich anzuerkennen, sie aber auf gewisse eilige Angelegenheiten beschränken zu wollen, obwohl ein sachlicher gesetzlicher Masstab über den zulässigen Umfang der Reichsgewalt gefehlt hat. Zutreffend weist S c h w a l b a. a. O. Sp. 284 auch auf andere wichtige Momente hin: die Aufnahme einer Bestimmung über das Wahlrecht der konstituierenden Nationalversammlung in dem Aufrufe vom 12. November 1918 schloss nicht die Erklärung in sich, sie in naher Frist zu berufen oder die Regiere ngstätigkeit auf Massnahmen zu ihrer Vorbereitung und zun) Friedensschlüsse beschränken zu wollen; eine Zusage der Volksbeauftragten,, die Macht au gegebener Zeit an die Nationalversammlung oder die

68 Erster Teil. Die geschichtl. Entwicklung: d. neuen Reichsrerfassung. 3. D i e r i c h t i g e A u f f a s s u n g , die bereits in der obigen Stellungnahme zur Rechtsprechung und zum Schrifttum deutlich gemacht wurde, ist, d a s s z u r R e c h t s v e r wirklichung die die tatsächliche Macht besitzende S t a a t s g e w a l t b e f u g t ( l e g i t i m ) u n d im B e s i t z e d e r ges e t z g e b e n d e n F u n k t i o n i s t . Was das Oberlandesgericht Breslau in seiner Entscheidung vom 24. Januar 1919, dag bayerische Oberste Landesgericht durch Urteil vom 19. Dezember 1918 ausdrücklich, dieses und das Reichsgericht in seiner ganzen Rechtsprechung zu den Amnestieerlasaen zur Geltung brachte, was unter den Schriftstellern Georg M e y e r A n s c h t i t z , L o b e , S c h w a l b und P o h l ' ) ausgesprochen haben ist herrschende Staatslehre. neue Regierung abzutreten, war nicht gleichbedeutend mit der Verpflichtung, sie bis dahin in deren Namen und als deren „Geschäftsführer" auszuüben. Auch die Nationalversammlung nimmt in dem Gesetze vom 10. Februar 1919 f ü r sich und den von ihr gewählten Präsidenten nur die v o r l ä u f i g e Reichsgewalt in Anspruch; man wird deshalb nicht behaupten, dass sie nicht in eigenem Nainen, sondern als Geschäftsführerin der von ihr in der neuen Reichsver-, fassung einzusetzenden Gewalten handeln wollte. Die im § 1 jenes Gesetzes ausgesprochene Begrenzung ihrer Aufgabe auf den Erlas» der künftigen Verfassung und „sonstiger dringender Reichsgesetze* hat nur die Bedeutung eines politischen Programms, nicht einer Beschränkung der Befugnis zur Gesetzgebung. Das trifft den Nagel auf den Kopf. Sp. 282 daselbst befinden sich zu billigend* Ausführungen darüber, dass nicht der Vollzugsausschuss des GrogsBerliner Arbeiter- und Soldatenrates, sondern der Rat der Volkibeauftragten als Inhaber der Staatsgewalt anzusehen war. Dieselben Schriftsteller haben die fehlende Berücksichtigung der Rechte der Einzelstaaten getadelt. (S. S ä n g e r , Die Revolution als Rechtsquelle, Recht und Wirtschaft 1919 S. 26, M e y e r , Reichseinheit und Rechtseinheit, daselbst S. 34.) Darin liegt aber die grundsätzliche Anerkennung des Rechtsetzungsrechts dtir Volksbeauftragten und n u r eine Bemängelung des Gebrauchs, den sie von diesem Rechte gemacht haben. Vgl. auch: „Die Erlasse der Regierung des Volksstaates Bayern" in den Blättern f ü r administrative Praxis 1919 S. 1 ff., dort wird ein Urteil des Obersten Landesgerichts vom 14. Dezember 1918 wiedergegeben, das den hier eingenommenen Staudpunkt teilt. 1) Archiv für öffentliches Recht Bd. 20 S. 179: „Für das Dasein oder Nichtdasein einer neuen Staatsgewalt ist es gleichgültig, ob sie staatsrechtlich betrachtet, „legitim" ist oder nicht . . . Keine Staatsgewalt, einmal existent geworden, ist von einer ihr bereits tatsächlich unterworfenen Einzelperson im juristischen Sinne anfechtbar. Für den privatrechtlichen Begriff der Anfechtbarkeit ist bei einer Untersuchung über die Entstehung des Staates kein Raum. L e g i t i m i t ä t ist kein W e s e n s m o m e n t der S t a a t s g e w a l t . * S t o e r k erklärte in v. Holtzendorffs Enzyklopädie 5. Aufl. S. 1049, dass die Staatsgewalt als eine Tatsache der Geschichte, o h n e Rücksicht auf Rechtmässigkeit oder U n r e c h t m ä s s i g k e i t

IV. Abschnitt.

Das Übergangsgesetz vom 4. März 1912.

59

Die Ansicht, dass die Übernahme der „vollziehenden Gewalt" nicht die gesetzgebende in sich geschlossen hat, geht fehl. Uber den Ausdruck mag man im Anschluss an die Lehre von der Gewaltenteiluug streiten; sicher ist aber, dass der Rat der Volksbeauftragten die g e s a m t e Gewalt übernommen hatte 1 ). i h r e s E n t s t e h u n g s p r o z e s s e s , die rechtliche Sanktion ihres Bestandes vom Volke empfängt. Vgl. auch P a u l , Die GesetzgebuugstJitigkeit der Revolutionsi-egierung und ihre rechtliche Grundlage, Leipziger Zeitschr. für Deutsches Recht, 1919 S. 34« ff. Er führt insbesondere aus: „Mit der Beseitigung der bisherigen legitimen Gewalten musste notwendigerweise Hand in Hand gehen die Einsetzung einer n e u e n Regierungsgewalt. Denn kein Staatswesen kein Volk kann auch nur einen Augenblick, geschweige denn für Wochen oder Monate, ohne Regierung sein. Der Staat stirbt nicht. In dem Augenblicke, wo die Träger der revolutionären Bewegung die bestehenden Monarchien im Reich über den Haufen warfen, mussten sie auf ihren Trümmern zugleich eine andere Staatsgewalt entst hen lassen, die imstande war, die Geschicke des Volkes nach ihrem Willen zu lenken. Dies ist geschehen durch Aufrichtung der sozialistischen Republik sowie dadurch, dass sie an deren Spitze den Rat der sog. Volksbeauftragten beriefen. Die Volksregierung . . . . ist da und durch ihr blosses Dasein allein schon sowie durch die N o t w e n d i g k e i t i h r e s B e s t e h e n s — ohne sie stünde das Volk nach dem Verschwinden der alten Regierungsgewalt vor einem staatsrechtlichen Nichts — erbringt sie den Beweis ihrer Recht»mässigkoit. Auf welchem Wege sie sich in den Besitz der Staatsgewalt gesetzt hat, darauf kommt es nicht an. Legitimität (Gesetzmässigkeit) des Erwerbs wird nicht gefordert." S. auch H o s e n b e r g , Die gesetzgebende Gewalt provisorischer Regierungen in der französischen Rechtsentwicklung, Leipziger Zeitschr. für Deutsches Recht, 1919 S. 121. Vor Erlass des Gesetzes vom 10. Februar 1919 meint er, dass die verfassunggebende Nationalversammlung in Deutschland ihre Befugnisse nicht aus der Verordnung der Volksbeauftragten vom 30. November 1918, sondern aus der Souveränität der Nation ableitet. Das Gesamtvolk besitzt kraft seiner Souveränität auch die Kompetenz-Kompetenz, die Befugnis, den Umfang der eigenen Hoheitsrechte selbst zu bestimmen. Die früherem Zweifel, ob eine provisorische Regierung Verordnungen erlasse* darf, die weder dringlich noch notwendig sind, ob die Rechtswirksamkeit dieser Verordnung von einer ausdrücklichen Bestätigung abhängig ist, ob die Versagung der Bestätigung rückwirkende Kraft hat, kann nunmehr nach Erlass des Übergangsgesetzes als erledigt angesehen werden. Vgl. auch S a n d e r , Das Faktum der Revolution und die Kontinuität der Rechtsordnung in der Oest. Zeitschr. f. öff. R., Bd. 1 (1919) S. 132 ff. 1) Ich habe an anderer Stelle, Verfassungsurkuude der Vereinigten Staaten von Deutschland 1919 S. 39 f f , nachgewiesen, das* mit der Revolution sowohl der Kaiser, wie der Reichstag, sogar aueh der Bundesrat (in seiner bisherigen staatsrechtlichen Struktur), ausser Wirksamkeit gesetzt war; die Befugnisse a l l e r bisherigen Staatsorgane haben die Volksbeauftragten übernommen, ja übernehmen müssen, um die äusserste Katastrophe zu vermeiden. Daas

60 Erster Teil. Die geschichtl Entwicklung d. neuen Reichsverfassung.

4. Die bisherige R e i c h s v e r f a s s u n g ist durch die Revolution insoweit geändert worden, als sie mit dem neuen (zunächst noch werdenden) Verfassungszustand im Widerspruch stand. A. Untergegangen ist vor allem Kaisertum 1 ), Bundesrat und Reichstag, der Reichskanzler als Reichsorgan, das ganze wie auch immer im einzelnen zu kennzeichnende System der konstitutionellen und erst am Schlüsse, unter der kurzea Führerschaft des Prinzen M a i von Baden, parlamentarischen Regierungsweise. Der Bestand des Deutschen Reichs nach Massgabe seiner Verfassung war an das Vorhandensein der Monarchien gebunden und da auch die Existenz und der bisherige Gebietsum'fang der ihrer monarchischen Form entkleideten Einzelstaaten vollkommen ins unsichere gestellt war, lag die Auffassung nahe, dass das Deutsche Reich a l s B u n d e s s t a a t durch die Revolution untergegangen ist und neu geschaffen werden musste"). An dieser Meinung ist festzuhalten. Der herrschenden Ansicht, dass Staaten durch Revolution nicht von selbst untergehen, sondern mit veränderter Verfassung fortdauern, wollte ich damit nicht widersprechen. Denn hier lag die Sache doch erheblich anders: • Es war gerade die Frage, ob noch ein b u n d e s staatliches Verhältnis vorhanden ist, wenn die in ihrer Eigenart erwachsene und ihr entsprechende G r u n d o r g a n i s a t i o n weggefallen, wenn der Umfang seines G e b i e t s infolge der kriegerischen Niederlage und der Abtrennungsbestrebungen im Reiche in Zweifel gestellt und damit die Abgrenzbarkeit der S t a a t s b e v ö l k e r u n g mindestens schwierig wurde. Wenn zum Staate eine bestimmte Regierung, ein Land und ein Volk gehört, so war das Weiterbestehen des bisherigen Deutschen Reichs als eines Bundesstaates mindestens zweifelhaft. Weil der Bundesstaat als Staaten Verbindung eine K o n s t r u k t i o n ist und nicht wie der Einheitsstaat ein natürlich-politisches Gebilde, besteht er, a l s e i n s o k o n s t r u i e r t e s G e m e i n w e s e n , mit dem Fortfall sie ihre Verordnungen „mit Gesetzeskraft" verkündet haben, beweist, dass sie auch die rechtsetzende Gewalt für sich beanspruchten; die Innehabung der Staatsgewalt bewies, dass dieser Anspruch (achlichen Rückhalt hatte. 1) Durch Elias» vom 28. November 1918 bestätigte der Kaiser a u s Ameroiigen die am 9. November 1918 erklärte Abdankung, die nur sein persönliches Recht auf die Krone Preussen und damit auf die Kaiserkrone für alle Zukunft aufgab. Alle Beamten und Soldaten wurden des Treueides entbunden, den sie ihm als Kaiser, König oder obersten Befehlshaber geleistet hatten. 2) S. m e i n e Verfassungsurkunde der Vereinigten Staaten von Deutschland, S. 38.

IV. Abschnitt.

Das Übergangsgesetz vom 4. März 1919.

61

aller Vorausetzungen jener künstliehen Gestaltung kaum mehr. Ich ergänze hier meine Lehre dahin: Das bisherige Deutsche Reich ist mit der Revolution zerfallen, ein neues ist entstanden und hat jetzt in der Reichsverfassung vom 11. August 1919 seine feste Ordnung erhalten. Gewiss, ich verkenne auch nicht, was gegen jene Lehre spricht: vor allem p r a k t i s c h die erwünschte Rechtskontinuität zwischen dem früheren und dem jetzigen Reich mit allen Konsequenzen, die in der Rechtsnachfolge liegen (z. B. Übernahme der Staatsschulden, ßeamtengehälter, obwohl diese Pflichten auch ohneRechtskontinaität b e s o n d e r s übernommen werden könnten und wohl auch übernommen sind). Aber auch t h e o r e t i s c h . Otto M a y e r 1 ) hat das Bedenken so formuliert: „War das Reich ein Bund mit starker Bundesgewalt, 80 würde die republikanische Revolution in den Einzelstaaten selbstverständlich gewisse Änderungen in seiner Verfassung nach sich ziehen, ein Untergang des Bundes, Reich genannt, wäre auch dann nicht notwendig. Die Einzelstaaten, jetzt „Freistaaten" genannt, würden die Reichsregierung nun auf ihre neue Art stellen und zusammen mit dem Reichstag, der verbliebenen Vertretung des deutschen Volkes, von welchem ihr Souverän einen Teil bildete, diese Verfassungsänderungen vornehmen. Die Revolution könnte auch zur Folge haben, dass «tliche „Freistaaten" sich von dem B u n d e (Reich genannt) lossagten, oder gar alle auseinandergingen; das wäre dessen Untergang. Umgekehrt wäre es auch möglich, dass bei dieser Gelegenheit die Gesamtheit des deutschen Volkes sich als Souverän eines republikanischen deutschen Gesamtstaats organisierte. Dann hörte der Bund nur auf, um dieser stärkeren Form der Zusammengehörigkeit Platz zu machen." Tatsächlich aber ist doch, was ich hiergegen geltend machen muss, der B u n d vorher aufgelöst, und erst nach geraumer Zeit, nämlich durch Verkündung der Reichsverfassung vom 11. August 1919 die Organisation des deutschen Volkes als Souverän eines republikanischen deutschen Gesamtstaates erfolgt. Ferner ist nicht, wie Otto M a y e r meint, der Reichstag „die verbliebene Vertretung des deutschen Volkes". Der Versuch des früheren Präsidenten des Reichstags (des bisherigen Deutschen Reichs), diese Körperschaft zu berufen, ist nicht nur nicht zur Bedeutung eines Protestes gegen die Ausübung der Staatsgewalt durch die neue Regierung gediehen, da er auf deren Einspruch aufgegeben wurde (wie S c h w a l b a. a. 0 . richtig 1) Archiv für öffentliches Recht Bd. 39, S, 102, anlässlich einer Besprechung meiner Schrift über: Die Verfassungsurkunde der Vereinigten Staaten von Deutschland 1919.

62 Erster Teil. Die geschichtl. Entwicklung d. neu«n Reichs Verfassung.

sagt), Bondern der frühere Reichstag — ein Organ des bisherigen Reichs — ist nicht aufgelebt und kann auch nicht wieder aufleben. Die verfassunggebende Nationalversammlung in Weimar ist n i c h t die Fortsetzung des bisherigen Reichstages und der auf Grund der neuen Reichsverfassüng zu wählende Reichstag wird es auch nicht sein, sondern die Volksvertretung eines n e u e n Reichs. Dass sich „die Gesamtheit des deutschen Volkes als Souverän eines republikanischen deutschen Gesamtstaates organisiert", ist nicht nur eine Möglichkeit, sondern inzwischen Rechtstatsache geworden 1 ). B. Es sprechen daher erhebliche Bedenken gegen die staatliche Fortgeltang des bisherigen Deutschen Reichs und die Annahme nur einer (allerdings recht gründlichen!) Änderung seiner Staatsform und Verfassungsstruktur. Es ist bloss richtig, dass die bundesstaatliche Gestaltung des Reichs zunächst bestehen blieb. Wieweit sie stärkere Abschwächungen durch die neue Reichsverfassung erhielt, wird noch klarzulegen sein. Dass aber Träger der Reichsgewalt nicht mehr die Gesamtheit der Gliedstaatsgewalten ist, sondern als solcher der das Volk vertretende Reichstag in Betracht kommt, kann nicht bezweifelt werden. Freilich sprach man auch von der ,,durch die Arbeiter- und Soldatenräte vertretenen gesamtdeutschen Volksklasse" als dem Träger der Reichsgewalt. ( S c h w a l b a. a. 0.). Das dürfte staatsrechtlich nicht zutreffen. C. Trotz der Revolution blieben feiner zunächst in Geltung a) die Verteilung der gesetzlichen Zuständigkeit zwischen Reich und Gliedstaaten; b) der Vorrang des Reichsrechts vor dem Landesrecht; nicht dagegen der Grundsatz, dass das Reich den Bestand seiner Gliedstaaten nicht ohne deren Zustimmung verändern und ihre Gleichberechtigung nicht verkürzen darf. Die Behauptung, dass dieser Grundsatz zwar nicht in der bisherigen Reichsverfassüng niedergelegt ist, aber aus dem körperschaftlichen Wesen des Reichs und den seiner Errichtung zu Grunde liegenden Verträgen sich ergibt, kann nicht bewiesen werden. Nur so Bind auch die 1) From'mhold, Die rechtliche Bedeutung der deutschen Nationalversammlung 1919. S. 9 f. ist freilich der Meinung, dass sie nicht die Bedeutung und den Zweck einer neuen Staatsgründung hat, sondern lediglich dem Deutschen Reiche eine neue Verfassung geben soll, deren Änderungen in erster Linie die gesetzgebende Gewalt des Reichs betreffen. Dem kann um so weniger zugestimmt werden, als der Ausgangs- und Kernpunkt die Wandlung der exekutiven Gewalt gewesen ist. Wie Otto Mayer auch P r e u s s in den Prot, des Verf.-Ausschusses S. 3 und StenBer. S. 1210 ff. So wie ich entscheidet sich G i e s e S. 11 f. (der mir zu Unrecht Unschlüssigkeit in der 1. Aufl. dieser Schrift bei der Frage des n e u e n R e i c h s vorwirft) und Kahl (Prot, des Verf.-Ausschusses S. 2).

IV. Abschnitt.

Das Übergangsgesetz rom 4. März 1919.

63

Darlegungen der amtlichen Denkschrift zum ersten Verfassungsentwurf (s. oben S. 2i»—32,35,36) erklärlich. Auch Art. 78 Abs. 2 der bisherigen Reichsverfassung über den Schutz Vertragsmässiger Sonderrechte blieb — trotz gegenteiliger Meinung der Vertreter von Bayern, Württemberg, Baden — an sich r e c h t l i c h nicht bestehen, weil er sowohl den unitarischen Tendenzen der neuen Reicbsgewalt wie den Plänen auf Beseitigung1 der hegciuouialen Stellung Preussens zuwiderlief und in den Bestrebungen, eine anderweitige Umgruppierung der Gebietsbestandteile der deutschen Gliedstaaten vorzunehmen, sein politisches Gegenstück fand. Da durch den Wegfall des bisherigen Bundesrats auch seine zu Verfassungsänderungen erforderliche Mehrheitsbestimmung wegfiel, war auch zunächst die reichsverfassungsmässige Schranke jener Grenzveränderungen innerhalb des Reichs erheblich abgeschwächt worden. Dadurch, dass der hier massgebende Art. 78 Abs. 1 gegenstandslos wurde, „konnten die Grenzen der Zuständigkeit zwischen den Gesetzgebungen des Reichs und der Gliedstaaten nun durch blosse Verordnungen dea Rats der Volksbeauftragten verschoben werden. Eine Ausnahme bestand nur, soweit diese Grenzen nicht auf allgemeinen Vorschriften der Reichsverfassung, sondern auf verfassungsmässigen oder Tertraglichen Sonderbestimmungen beruhten" 1 ). Deshalb ist die hieraus gezogene Folgerung richtig, dass allgemeine Vorschriften über den Inhalt der Verfassungen der Gliedstaaten, wie sie im Aufruf vom 12. November 1918 hinsichtlich des Wahlrechts getroffen wurden, nicht zu beanstanden sind, weil die Zuständigkeit der Reichsgesetzgebung durch einfache Verordnung der Volksbeauftragten auf das Gebiet des einzelstaatlichen Verfassungsrechts erstreckt werden konnte. Weil ich jedoch die Aufrechterhaltung eines die Gleichberechtigung der Einzelstaaten sichernden angeblich anerkannten Grundsatzes meinerseits nicht zugebe, kann ich der Ansicht nicht zustimmen, dass Vorschriften über Änderungen der Verfassung eines Einzelstaates unzulässig waren, weil sie eine einseitige Verschiebung der Zuständigkeitsgrenzen zu dessen Nachteil enthalten, somit seine Gleichberechtigung beeinträchtigt hätten. 5. Führt nach alledem die rechtliche Untersuchung zu dem Ergebnis, dass die mit Gesetzkraft erlassenen Verordnungen der revolutionären Reichsregierung gültig sind*)* 1) Schwalb, a. a. 0., Sp. 285. 2) Die auf einer interessanten soziologischen Auffassung aufgebaute gegenteilige Meinung von W a l d e c k e r , JW. 1919, S. 133ff. ist nieht überzeugend.

64 Erster Teil. Die geschichtl. Entwicklung d. neuen Reichsverfassung. und legt sie auch klar, inwieweit das bisherige Recht, insbesondere das uns hier in erster Reihe angehende Reichsverfassungsrecht in Kraft geblieben ist, so waren doch starke Strömungen erwachsen, die, wegen der politischen Unervvünsehtheit gewisser Anordnungen, zu einer heftigen Befehdung mancher Rechtssetzungen der revolutionären Regierung geführt haben und sich an die Möglichkeit ihrer Rechtsungültigkeit klammerten. Zur Überwindung aller Schwierigkeiten und zwecks Schaffung der Rechtssicherheit wurde in dem Ü b e r g a n g s g e s e t z vom 4. März 1919 (RGBl. S. 285) eine abschliessende Regelung getroffen. Auf dieses ist nunmehr, seine einzelnen Bestimmungen prüfend, näher einzugehen 1 ). A. Die bisherigen Gesetze und Verordnungen des Reichs bleiben bis auf weiteres in Kraft*), soweit ihnen nicht diese6 Gesetz oder das Gesetz über die vorläufige Reichsgewalt vom 10. Februar 1919 entgegensteht. (§ 1 Satz 1 des Übergangsgesetzes.) Die Revolution hat also n i c h t alle Gesetze beseitigt „an deren Beseitigung jemand gerade ein Interesse hatte". Die Worte des Gesetztextes „bis auf weiteres" bedeuten, dass nur im Falle einer Aufhebung durch die zur Zeit derselben zuständigen Org ine und in den dann zulässigen Formen die bisherigen Gesetze und Verordnungen des früheren Deutschen Reichs ihre Geltung verlieren; in der Regel werden also Gesetze nur durch Gesetze und Verordnungen nur durch Verordnungen aufgehoben werden können. Dadurch, dass die bisherigen Gesetze in Kraft gelassen wurden, ist auch die R e i c h s v e r f a s s u n g insoweit in Geltung geblieben, als dies nicht dem Gesetze über die vorläufige Reichsgewalt und dem Übergangsgesetze widerspricht. Aber auch die den Anordnungen des Rats der Volksbeauftragten oder der Reichsregierong widersprechenden Vorschriften der bisherigen Reichsverfassung traten ausser Wirksamkeit, weil diese nach dem Übergangsgesetz Rechtskraft erhielten und als jüngere Vorschriften der bisherigen Reichsverfassung vorgingen. Inwieweit das der Fall ist, muss in Zukunft bei jedem einzelnen Streitfalle 1) S. für das folgende: Drucksachen der Verfassunggebenden Nationalversammlung Nr. 43, 65, 74, 78, 93, 100. StenBer. S. 344 C—367 B, 371 B, 418 D—446 C, sowie Erwin J aco bl, a. a. O. S. 299ff. 2) Seltsam, dass noch besonders festgestellt werden musste, dass es „ein Recht der Revolution, ein historisches und natürliches Recht", das die Strafgesetze und die Vorschriften der Strafprozessordnung über Verhaftungen ausser Kraft gesetzt hätte, nicht gibt. Entscheidung des Landgerichts Weimar vom 20. Mai 1919 und hierzu El e e , DJZ 1919, Sp. 669, so auch Reichsgericht, Urteile vom 4. April und 6. Mai 1919, »Recht", S. 1011, 1012.

IV. Abschnitt.

Das Überg-angsg-esetz vom 4. März 1919.

65-

untersucht, werden, doch sind vor allem die Darlegungen oben S. 60 zu 4 zu beachten. Vgl. auch unten S. 70 zu E. B. In Kraft bleiben auch alle von dem Rate der Volksbeauftragten oder der Reiehsregierung bisher (d. h. bis zum Inkrafttreten des Übergangsgesetzes, am 7. März 1919) erlassenen und verkündeten Verordnungen (§ 1 Satz 2). Was das Verhältnis eines vorrevolutionären Gesetzes oder einer vorrevolutionären Verordnung einerseits und einer Verordnung des Rats der Volksbeauftragten andrerseits betrifft, so ist dahin zu entscheiden, das« jene nur in Kraft geblieben sind, wenn das Ubergangsgesetz nicht mehr im Wege steht. Da dieses die Reehtsgiiltigkeit der Verordnungen des Rats der Volksbeauftragten bestätigt, gelten die vorrevolutionären Rechtsnormen nur, wenn sie mit, den revolutionären Verordnungen nicht zusammeiistossen. Denn das jüngere Gesetz geht dem älteren vor. Ursprünglich waren von der Regierung nur Verordnungen gemeint, die in der Zeit zwischen dem 9. November 1918 und 1U. Februar 1919 (dem Tage der Annahme des Gesetzes über die vorläufige Reichsgewalt durch die Nationalversammlung) erlassen worden waren. Nun entstanden aber Zweifel tiber . die Angemessenheit einer solchen Regelung, weil die Reichsregierung kurz vor jenem Tage, bevor sie ihre Macht in die Bände der Nationalversammlung zurücklegte, einzelne besonders wichtige Verordnungen beschlossen h^tte, die aus drucktechnischen Gründen erst n a c h dem 10. Februar zur Veröffentlichung gelangen konnten. Es entstand die Staatsrechtsfrage, ob sie gleichwohl gültig sind. Der Reichsjustiz.minister L a n d s b e r g bejahte die Frage mit folgender Begründung. Die Verkilndungsbefugnis sei kein selbständiges Recht, nur ein Auffluss des Gesetzgebungsrechts. Wenn eine Verordnung beschlossen worden sei zu einer Zeit, wo die Regierung gesetzgeberische Befugnisse hatte, so hatte sie auch nach dem Zeitpunkt des Erlöschens dieser Befugnis das Recht zur Verkiindung. Er berief sich darauf, dass nach dem 9. November 1918 in der preussischen Gesetzsammlung noch mehrere Verordnungen des gestürzten preussischen Staatsministeriums und sogar eine königliche Verordnung verkündet worden sind, die vor dem 9. November erlassen worden waren. Ihre Rechtsgültigkeit sei aber von den neuen Machthabern nicht in Zweifel gezogen worden. Der Abg. Dr. A b l a s s vertrat eine andere Auffassung. Ein Gesetz erlangt Rechtskraft erst durch seine Publikation. Der Umstand, dass es vor dem 10. Februar beschlossen und erst nach diesem Tage veröffentlicht worden ist, lasse seine Gültigkeit ohne weiteres als zerstört erscheinen. Stier a o m i «

K « c n » T « r i » M u n s . J. Aufl.

5-

66 Erster Teil. Die geschichtl.Entwicklung d. neuen Reichsverfassung.

In dem Augenblicke, wo jenes Gesetz publiziert wurde, durfte die Veröffentlichung der Verordnungen nicht mehr erfolgen, weil dieser Vorgang im Widerspruch steht mit dem § 4 des Gesetze» über die vorläufige Reiehsgewalt'l. Die Ansicht des damaligen Reichsjustizministers ist in der Tat unhaltbar. Wenn es auch streitig ist, ob die Publikation von Rechtsverordnungen in derselben Weise erfolgen muss wie bei formellen Gesetzen2), so ist unbezweifelt, dass Rechtsverordnungen, weil sie verbindliche Kraft für die Untertanen haben sollen, der Verktindung bedürfen®). Um aus den Schwierigkeiten herauszukommen, ist § 1 Satz 2 des Übergangsgesetzes so gefasst worden, dass die Rechtsgültigkeit auch der n a c h dem 10. Februar erlassenen Verordnungen gedeckt wird. Vorausgesetzt sind Verordnungn sowohl des Rats der Volksbeauftragten als auch die der Reichsregierung, wenn sie erlassen u n d verkündet sind. Ein Verzeichnis dieser Verordnungen ist der Nationalversammlung innerhalb der Frist von einem Monat nach Inkrafttreten des Übergangsgesetzes vorzulegen gewesen. Das Verzeichnis war im Reichsanzeiger zu veröffentlichen; Verordnungen, die in diesem Verzeichnis fehlen, treten mit dieser Veröffentlichung ausser Kraft. (§ 1 Satz 3 und 5.) 4 ) Diese Verordnungen werden vielfach auch als „Gesetze" bezeichnet, z. B der Aufruf der Volksbeauftragten vom 12. November 1918 in der Verfügung des preussischen Justizministers vom 23. und 26. November 1918 über Gewährung von Straffreiheit. Das ist insofern nicht ganz unrichtig, „als mit Inkrafttreten der von dem Aufruf verkündeten Regierungsgewalt eine besondere, das 1) StenBer. S. 354 C, D; 360 C—361 C 2) S. über den Meinungsstreit die Literaturnachweise bei Georg M e v e r - A n s c h ü t z , Lehrbuch des deutsehen Staatsrecht» 7. Aufl., S. 637, auch S. 665. 3) S. auch A n s c h ü t z , Art. Verordnung, in v. S t e n g e l F l e i s c h m a n n s Wörterbuch des Deutschen Staats- uud Verwaltungsrechts, 2. Aufl. (1914), Bd. 3 S. 67.'). 4) In der Sitzung vom 27. Februar 1919 ist ein Antrag G r ö b e r angenommen worden, die Nationalversammlung wolle beschliessen, die im S 1 erwähnten Verordnungen, soweit dieselben seit dem 9. November 1918 ergangen sind, zur Prüfung der Notwendigkeit ihrer Aufrechterhaltung einem Ausschuss zu überweisen und zwar die Verordnungen vorwiegend sozialen Inhalts dem Ausschuss für Sozialpolitik, die Verordnungen vorwiegend wirtschaftlichen Inhalts dem Ausschuss für Volkswirtschaft, die übrigen Verordnungen dein Ausschuss für den Reichi-haushait (StenBer S.366 B, C; vergl. auch S. 418 C. 417 A). Ein „Verzeichnis der von dem Kate der Volksbeauftragten oder der Regierung erlassenen und verkündeten Verordnungen" ist ain 29. März 1919 als Drucksache Nr. 223 der verfassunggebenden Nationalversammlung vorgelegt wordeu.

IV. Abschnitt. Das Übergangsgesetz vom 4. März 1919.

67

Gesetz von d e r V e r o r d n u n g u n t e r s c h e i d e n d e F o r m zu b e s t e h e n aufhörte"»). C. Weil die d a m a l i g e R e i c h s r e g i e r u n g i h r e W i r k s a m k e i t nur als eine v o r l ä u f i g « ansah und d a d u r c h zum A u s d r u c k e brachte, dass sie sofort n a c h A n n a h m e des Gesetzes über die vorläufige R e i c b s g e w a l t vom 10, F e b r u a r 1919 i h r e Ä m t e r der N a t i o n a l v e r s a m m l u n g zur V e r f ü g u n g stellte, h a t sie dieser die Möglichkeit g e b e n wollen, Verordnungen, die sie n i c h t billigt, ausser K r a f t zu setzen, ohne dazu die Z u s t i m m u n g des Staatenausschusses zu b e d ü r f e n . D e m entspricht die Vorschrift des § 1 S a t z 4, d a s s eine V e r o r d n u n g v o n d e r R e i c h s r e g i e r u n g ausser K r a f t zu setzen ist, w e n n die Nationalversammlung dies i n n e r h a l b dreier Monate n a c h I n k r a f t t r e t e n des Gesetzes beschliesst. N a t ü r l i c h ist in dieser B e f u g n i s auch d a s R e c h t e n t h a l t e n , einen T e i l der V e r o r d n u n g seiner R e c h t s k r a f t zu entkleiden. D o c h muss sie gewissermassen teilbar sein; ist sie d a s nicht, so k a n n sie nur im ganzen aufgehoben w e r d e n ; z. B. k a n n n i c h t e t w a eine a n o r d n e n d e Vorschrift beibehalten, die sie sichernde S t r a f b e s t i m m u n g a b e r ausser K r a f t gesetzt w e r d e n . E s ist also n i c h t so, d a s s alle V e r o r d n u n g e n automatisch ausser K r a f t t r a t e n , die n i c h t innerhalb einer F r i s t ven drei Monaten die G e n e h m i g u n g d e r Nationalversammlung g e f u n d e n h a b e n . Meines Wissens ist in dieser S p e r r f r i s t keine einzige V e r o r d n u n g a u f g e h o b e n w o r d e n . Natürlich k a n n a u c h n a c h e r f o l g t e m Ablauf j e n e r d r e i m o n a t i g e n Frist g e g e n u n e r w ü n s c h t e V e r o r d n u n g e n v o r g e g a n g e n w e r d e n ; es g e n ü g t -ein auf A u t h e b u n g g e r i c h t e t e r A n t r a g eines Mitgliedes der N a t i o n a l v e r s a m m l u n g , doch ist d a n n ein G e s e t z erforderlich. D . D a s ü b e r g a n g s g e s e t z h a t ansser der Legalisierung der R e v o l u t i o n s g e s e t z g e b u n g d a s V e r t ' a s s u n g s r e c h t weiter entwickelt. D e s h a l b b e d ü r f e n seine übrigen Bestimmungen ebenfalls hier einer p r ü f e n d e n B e t r a c h t u n g . a) S o w e i t in den Gesetzen oder Verordnungen des R e i c h s 1) S c h -w a 1 Tj, a. a. 0., S. 286, der mit Recht darauf hinweist. dass auf der andern Seite durch die. im Übergangsgesetze gewählte Bezeichnung „Verordnungen" die gesetzgeberische Bedeutung' der Akte nicht voll zum Ausdruck gebracht wurde. Er empfiehlt daher f ü r die mit Gesetzeskraft erlassenen, aber einer besonderen Gesetzesform entbehrend enVer Ordnungen eine besondere Bezeichnung „Gesetzverordiumg", die in dem von der französischen Rechtssprache, f ü r die Kechtsver Ordnungen der Diktatur Napoleons III. angewandten „décret-loi" ein Gegenstück hätte. Ich bin kein Freund solcher Vermengung grundsätzlich zu scheidender Rechtsbegriffe. und Rechtssetzungsformen, auch nicht in der Bezeichnung.

68 Erster Teil. Die gescliichtl. Entwicklung d. neuen Reichsverfassung.

auf den Reichstag verwiesen wird, tritt an seine Stelle die Nationalversammlung (§ 2). b) Soweit in den Gesetzen und Verordnungen des Reichs auf den Bundesrat verwiesen wird, tritt an seine Stelle der Staatenausschuss (§ 3 Satz 1 ) I u der neuen Reichsverfassung ist statt dieses Ausdrucks ,,Reichsrat" gesetzt. Das Recht zur Mitwirkung an der Gesetzgebung sowie Befugnisse gegenüber der Nationalversammlung standen dem Staatenausßchusse nur im Rahmen des Gesetzes Uber die vorläufige Reichsgewalt zu. Es bedurften danach die Vorlagen der Reichsregierung (abgesehen von der Bestimmung des § 2 Abs. 4 des letzterwähnten Gesetzes) der Zustimmung des Staatepausschusses und Reichsgesetze konnten mit Ausnahme der künftigen Reichsverfassung nur durch Ubereinstimmung zwischen Staatenausschuss und Nationalversammlung zustande kommen, vorbehaltlich des Rechts des Reichspräsidenten, eine Volksabstimmung herbeizuführen, wenn, eine solche Übereinstimmung nicht zu erzielen war. Der Ausdruck „Befugnisse gegenüber der Nationalversammlung" wurde mit Rücksicht darauf gewählt, dass dem Bundesrat das Recht der Mitwirkung bei der Auflösung des Reichstags zustand, das — weder richterlicher noch gesetzgeberischer Natur —: ein Ausfluss seiner Verwaltungsbefugnisse war. Bei glatter Übernahme der Verwaltungsbefugnisse des Bundesrats auf den Staatenausschuss wäre die Annahme nicht ausgeschlossen gewesen, der Staatenausschuss habe auch das Recht, bei der Auflösung der Nationalversammlung mitzuwirken. Die Nationalversammlung wollte aber unauflösbar sein, wie sich aus ihrer Souveränität ergab. Welche Befugnisse des Staatenausschusses g e g e n ü b e r der Nationalversammlung gemeint waren, bleibt unklar. Der Bundesrat hatte solche nur in Ü b e r e i n s t i m m u n g mit dem Reichstag. Der Bundesrat war nach der herrschenden Meinung das eigentliche Organ der Gesetzgebung, beschloss über die dem Reichstag zu machenden Vorlagen und die von ihm gefassten Beschlüsse (Art. 7 Ziff. 1 der Reichsverfassung) mit rechtlicher Freiheit und durch seinen Beschluss erfolgte die Sanktion der Reichsgesetze 2 ). Weder in seiner Eigenschaft als Organ der 1) „Die Einsetzung des Staatenausschusses verdankt man einem Führer der unabhängigen Sozialdemokratie". Reiehsjustizminister L a n d s b e r g in der Sitzung der Nationalversammlung vom 27. Februar 1919 StenBer. S. 344. Doch galt dies nur bis zum Inkraftreten der neuen Reichsverfassung, weil diese wieder di« Bezeichnung „Reichsrat" aufnimmt. Art. 60— (¡7. 2) L a b a n d , Deutsches Reichsstaatsrecht, 7. Aufl., bearbeitet • o n Otto M a v e r , 1919, S. 65.

IV. Abschnitt. Das Ü b e r g a n g s g e s e t z vom 4. März 1919.

69

V e r w a l t u n g noch als Organ der R e c h t s p f l e g e hatte der Bundesrat „Befugnisse g e g e n ü b e r dem Reichstag" 1 ). c) E i n V e r o r d n u n g s r e c h t i s t d e m S t a a t e n a u s s c h u 6 s e n i c h t b e i g e l e g t w o r d e n ; es ist auch das aus dem Ermächtigungsgesetz vom 4. August 1914 hervorgegangene Verordnungsrecht des Bundesrats n i c h t auf den Staatenausschuss übergegangen 2 ). Da in § 3 jenes Gesetzes für den Reichstag und nach dem Übergangsgesetz für die Nationalversammlung das Recht vorbehalten war, innerhalb dreier Monate die Aussei kraftsetzung einer Verordnung zu verlangen, so wurde angenommen, es bestand „eine zusammenhängende Gewalt des Reichstages und der Nationalversammlung, jede der Verordnungen, die auf Grund des Ermächtigungsgesetzes und jede der Verordnungen, die im Revolutionszeitalter ergangen sind, vor das Forum der Nationalversammlung zu ziehen" 8 ). Im wesentlichen waren es die V e r w a l t u n g s b e f u g n i s s e des Bundesrats, die durch das Übergangsgesetz dem Staatenausschuss übertragen wurden. Dies ist nicht geradezu gesagt worden, allerdings, wie der Reichsjustizminister angab, nur deshalb nicht, weil man auch gewisse Vorrechte der Mitglieder des früheren Bundesrats, die nicht Verwaltungsbefugnisse sind, z. B. das Recht der Exterritorialität und das Recht der Steuerfreibeil, auf die Mitglieder des Staatenausschusses übertragen wissten wollte. Aber das hätte doch a u c h gesagt werden können! So fehlte es ganz an der Festsetzüng der 1) Vgl. a. a. 0., S. 6 5 - 6 9 . 2) Dies ist sehr wichtig w e g e n Art. 179 Abs.2 der Reichsverfassung, und nach dem aus den Gesetzgebungsmaterialien hervorgehenden deutlichen Willen des Parlaments zweifellos; doch ist anderer Mein u n g Erwin J a c o b i a. a 0 Arch f. off. R Bd. 39 (1920) S. 308. 3) Abg. Z o p h e i in der Sitzung vom 27. Februar 1919, StenBer. S. 349. Das Verordnungsrecht auf Grund des Ermächtigungsgesetzes bestand also zunächst weiter, aber es stand nicht n ehr dem aulgehobenen Bundesrat und auch nicht dem Staatenausschuss zu, weil diesem das Gesetz über die vorläufige Reiohsgewalt ein Verordnungsrecht nicht gab. Vgl. übrigens auch das Gesetz zur Durchführung der Waffenstillstandsbedingungen v o m 6. Mai 1919 (RGBl. S. 286), durch das die Reichsregierung ermächtigt wurde, während der T a g u n g der Nationalversammlung diejenigen wirtschaftlichen und finanziellen Massnahmen mit gesetzlicher Wirk u n g anzuordnen, die sich zur Durchführung der mit den G e g n e r n des Deutschen Reichs vereinbarten Waffenstillstandsbedingungen als notwendig 1 erweisen. Diese Verordnungen waren der Nationalversammlung alsbald zur Kenntnis zu bringen und auf ihr Verlangen aufzuheben. Das Gesetz trat am 7. März, am T a g e seiner Verkündigung, in Kraft.

70 Erster Teil. Die geschichtl. Entwicklung d. neuen Reichs Verfassung. Befugnisse des Staatenausschusses als Organ der Verwaltung, übrigens auch der Rechtspflege'). E. Die Befugnisse, die nach den Gesetzen oder Verordnungen des Reichs dem Kaiser zustehen, gehen auf den Reichspräsidenten über (§ 24 des Übergangsgesetzes). Weil auch die Reichsverfassung in gewissen Grenzen grundsätzlich in Kraft blieb (s. oben S. 64) ging auf den Reichspräsidenten auch das Recht über, für das Gebiet des Deutschen Reichs oder einen Teil davon ohne das Parlament den Belagerungszustand zu verhängen (Art. 68) 2 ), den Landsturm aufzurufen, den Grenzschutz aufzustellen, die militärische Verwendung der einzelnen Truppenteile, die militärischen Formationen zu bestimmen usw. (Art. 6 3 ff. der bisherigen Reichsverfassung); die Truppen sind verpflichtet, den Befehlen des Reichspräsidenten unbedingt Folge zu leisten; diese Verpflichtung ist in den Fahneneid aufzunehmen (Art. 67) 3 ). F. Keiner Erläuterung bedarf es, dass die Befugnisse, die nach den Gesetzen oder Verordnungen des Reichs dem Reichskanzler zustehen, auf das Reichsministerium übergehen. Soweit dieses nicht ein anderes bestimmt, werden sie von jedem Reichsminister für seinen Geschäftsbereich selbständig ausgeübt (§ 5 des Übergangsgesetzes). 1) Art. 5,76,77 der bisherigen Reichsverfassung s. oben S. 17ff. 2) So ist z. B. über das Gebiet der Freistaaten Braunschweig, Sachben und Bremen, auch über Vegesack, über Ha.nburg, Altona, Wandsbeck und Stettin der Belagerungszustand verhängt worden am 13., 23. und 24. April, 14. Mai, 25. und 30. Juni, 9. Juli 1919. (RGBl. S. 391, 429, 441, 463, 603, 637, 642) vgl. auch S c h l a v e r , Eine politisch und staatsrechtlich wichtige Entscheidung des Reichsmilitärgerichts, DJZ 1919, Sp. 487. Geraeint ist die vom 19. April 1919. Das Reichsmilitärgericht hat sich gegen L a b a n d (Reichsstaatsrecht, Bd. 4, S. 48), der neuerdings auch von Fl sc Ii m a n n (Wörterbuch des Staats- und Verwaltungsrechts, Bd. 1, S. 387), M e y e r - A n s c h ü t z (Verwaltungsrecht, § 68), O l s h a u s e n , (Goldt-Arch. Bd. 61, S. 496;, G o l d s c h m i d t (Verf. und Verf. der ausserdentlichen Kriegsgerichte 1915) und P ü r s c h e l (Belagerungszustandsgesetz, S. 28) vertretenen Auffassung angeschlossen, dass das Recht der Einzelstaaten zur Verhängung des Belagerungszustandes durch Art. 68 der bisherigen Reichsverfassung nicht berührt sei. Jetzt ist massgebend Art. 48 der Reichsverfassung. 3) S. auch das Gesetz über die Bildung einer vorläufigen R e i c h s w e h r vom 6. März 1919 (RGBl. S 295) nebst Ausführungsverordnung vom selben Tage (daselbst S. 296) und Ergänzungen vom 31. März (daselbst S. 369), ferner das Gesetz über die. Bildung einer vorläufigen R e i c h s m a r i n e vom 16. April 1919 nebst Ausführungsverordnung vom selben Tage (daselbs't S. 431, 432).

V. Abschnitt. Die gesetzgeberische Arbeit an der Reichsverfassung. 71 V. Abschnitt.

Die gesetzgeberische Arbeit an der Reichsverfassung. 1. Der unter dem 21. Februar 1919 an die verfassunggebende deutsche Nationalversammlung gebrachte E n t w u r f e i n e r V e r f a s s u n g d e s D e u t s c h e n R e i c h s (Drucksache Nr. 59) e n t b e h r t e , wie übrigens auch der Entwurf der Verfassung des Norddeutschen Bundes 1867 und des Deutschen .Reichs 1871, e i n e r s c h r i f t i c h e n B e g r ü n d u n g . Neben inneren Gründen lag das daran, dass die Verhandlungen im Staatenausschuss erst zwei T a g e vor der Einbringung zum Abschluss gekommen waren und die Ausarbeitung einer Begründung mit der nötigen Sorgfalt unter Mitwirkung der obersten Verwaltnngszweige mehrere Wochen gedauert und die Vertagung der Nationalversammlung f ü r diese Zeit erforderlich gemacht hätte, was jedoch nicht angängig war. Dagegen hat der damalige Reichsminister des Innern Dr. Preuss in der Sitzung der Nationalversammlung vom 24. Februar eine m ü n d l i c h e B e g r ü n d u n g vorgebracht, die bei der Darstellung des geltenden Rechts zu verwerten ist 1 ). Der endgültige Entwurf unterschied sich von dem vorläufigen in grundlegender Weise dadurch, dass die schon in dem ersteren erkennbare Milderuug des Gedankens einer grundsätzlich nnitarischen Reichsverfassung weitere Fortschritte machte und der föderalistische Charakter mehr zur Geltung kam 2 ), wobei allerdings zu zeigen sein wird, dass eine vertragsmässige Grundlage des zustandegekommenen Werkes nicht angenommen werden darf. Das V e r h ä l t n i s v o n R e i c h u n d E i n z e l s t a a t e n ist in manchen Beziehungen anders gedacht, die Zuständigkeitsabgrenzung klarer gezogen, für die Neubildung von Gliedstaaten eine genauere Regelung beabsichtigt. Dem Reichsrat, nach dem vorläufigen Entwurf nur zn gutachtlicher Tätigkeit berufen, wird ein stärkerer Einfluss eingeräumt, insbesondere bei der Einbringung von Gesetzesvorlagen und gegenüber den vom Reichstag beschlossenen Gesetzen (I. Abschnitt). Während die Bestimmungen über die G r u n d r e c h t e d e s d e u t s c h e n V o l k e s (II. Abschnitt), über den R e i c h s t a g (III. Abschnitt), den R e i c h s p r ä s i d e n t e n und die R e i c h s r e g i e r u n g (IV. Abschnitt), im wes e n t l i c h en dieselben blieben, wurden jetzt noch weitere hin1) StenBer. S. 284 B—293 A. 2) A p e 11, Das Werden der Deutschen Reichsverfassung, DJZ 1919, Sp. 208.

72 ErsterTeil. Die geschichtl. Entwicklungd. neuen Reichsverfassung.

zugefügt: über das Finanz- und Handelswesen (V. Abschnitt), das V e r k e h r s w e s e n und zwar A) die Post, die Tele^iapbie und das Fernsprechwesen, B) das Eisenbahnwesen, C) s die Wasserstrassen, D) das Kraftwagenwesen (VI. Abschnitt), die R e c h t s p f l e g e (VII. Abschnitt) und die die S o n d e r r e c h t e behandelnden Schlussbestimmungen (VJII. Abschnitt). Gegenüber den 73 Paragraphen des Vorentwurfs gab es jetzt 11 * Artikel. Die erste Beratung des Entwurfs fand in den Sirzungen vom 28. Februar, 3. und 4. März statt 1 ); hierauf wurde der Entwurf dem Verfassungsausschuss überwiesen, der seine Arbeiten am 5. März aufnahm und die Referate über die Einzelfragen verteilte*). Am 18. Juni beendete der Ausschuss seine Arbeit und liess einen mündlichen Bericht erstatten 3 ). Gegenüber dem Entwurf sind zahlreiche Änderungen vorgenommen worden. Äusserlich zerfiel der Text in zwei Hauptteile, von denen der erste „Aufbau und Aufgaben des Reichs' - , der zweite „Grundrechte und Grundpflichten der Deutschen" überschrieben war. Innerhalb des ersten sind in sieben Abschnitten behandelt: Reich und Länder, der Reichstag, der Reichspräsident und die Reichsregierung, der Reichsrat, die Reichsgesetzgebung, die Reichsverwaltung, die Rechtspflege. Die Grundgedanken des Entwurfs sind hier zwar überall festgehalten worden, die Änderungen im einzelnen sind aber ausser^ ordentlich zahlreich. Eine vollständige Umwälzung weist der zweite Hauptteil auf, der vielfach benutzt wurde, um nach Möglichkeit den politischen Gesamtströmungen, den aus der reformatorischen und revolutinären Ideenwelt hervorgegangenen Wünschen und Erwartungen programmatischen Ausdruck za verleihen, neben den herkömmlichen G r u n d r e c h t e n die Grundp f l i c h t e n zu formulieren, die „Einzelperson" wie das „Gemeinschaftsleben" (I. und II. Abschnitt, umfassend Ehe, Fa1) StenBer. S. 371 C - 4 0 7 A, 449 D - 4 8 1 D, 485 D - 5 0 2 A. 2) Es sollten berichten über den allgemeinen Abschnitt „Das Reich" die Abgeordneten Dr. Kahl und Dr Quarck, über „Gesetzgebung" Dr. Spahn und Dr. Heinze, über „Gliedstaaten" Dr. Beyerle und Koch-Cassel, über „Grundrechte" Dr. Naumann und Dr. Düringer, über „Kirche und Schule" Gröber und Meerfeld, über „Sozialisierung'" Katzenstein und Stegerwald. über „Reichstag" Schütze und Dr. Cohn, über „Reichspräsident" Fischer-Berlin und Dr. Ablass, über Reichsregierung" Dr. v. Delbrück und FischerBerlin, über „Finanz-und Handelswesen" Dr. Spahn und Kaufmann, über »Verkehrswesen" Dr. Zöphel und Vogel, über „Wasserstrassen" Koch-Cassel und endlich über „Rechtpflege, und Beamtenrecht" Trimborn und Dr. Ablass. Der amtliche Bericht des Verf.-Aueschusses ist erst im Februar 1920 in Carl Heytnanns Verlag in Berlin erschienen. 3) Drucksache Nr. 391.

V. Abschnitt. Die gesetzgeberische Arbeit an der Reichsverfassung. 73 milie, Bevölkerungspolitik, Erziehung, Selbstverwaltung, Beamtenstellung, persönlichen Staats- nnd Gemeindedienst, Militärdienst, und Steuerpflicht) betreffende Sätze niederzulegen, die als Richtschnur und Schranke für die Gesetzgebung, die Verwaltung und die Rechtspflege gedacht waren. Religion und Rcligionsgesellschaften, Bildung und Schule und das Wirtschaftsleben haben besondere Abschnitte (III. bis V.) erhalten. Ist in den beiden ersten die Kulturpolitik, so ist in dem letzten der Niederschlag von Ideen einer Wirtschaftspolitik zu finden, die auf Vergesellschaftung, sozialen Ausgleich. Prdduktionserhöhung und Konsumenteneinfluss gerichtet ist. Die Übergangs- und Schlussbestimmungen enthalten hier nicht nur besondere Regeln über Sonderrechte der Einzelstaaten, sondern auch eine Reihe anderer Vorschriften, die den Auschluss der Zeit o h n e Reichsverfassung an die Zeit m i t Reichsverfassung lückenlos herstellen wollen. Am 2. Juli 1 9 1 9 trat die Nationalversammlung in die z w e i t e Beratung des Verfassungsentwurfs ein und setzte die Beratungen fort am 3., bis 5., 7., 10., 11., 15. bis 18., 21, und 22. Juli 1 ). Die d r i t t e Beratung mit der Vollversammlung fand am 29. bis 31. Juli statt 8 ). An letzterem T a g e ist 1) StenBer. S. 1201 B bis 1236 A, 1239 A bis 1275 B, 1281 B bis 1323 B, 1318 C bis 1348 B, 1350 A bis 1351 D, 1462 B bis 1487 C, 1495 C bis 1507 B, 1556 B bis 1579 D, 1584 B bis 1614 A, 1621 B bis 1664 C, 1673 B bis 1719 B, 1747 D bis 1789 A, 1800 A bis 18:19 B. S. auch die Zusammenstellung des Entwurfs einer Verfassung des Deutschen Reichs nach den Beschlüssen des 8. Ausschusses mit den Beschlüssen der Nationalversammlung in zweiter Beratung. Drucks. Nr. 656. Berichterstatter waren für den Ersten Hauptteil die Abg. Dr. KaVl (1. Abschn.), Katzenstein (2.), v. Delbrück (3.), Haussmann (4.), Koch (5.), Quarck (6.), Spahn (7.); f ü r den Zweiten Hauptteil die Abg. Dr. Düringer (1. Abschn.), Beyerle (2.), Mausbach '3.), Weiss (4.), Sinzheimer (5.); f ü r die Übergangs- und Schlussbestiminungen Gröber. 2) StenBer. S. 2017 B bis 2083 D, S. 2088 D bis 2136 A, 2141 B bis 2195 A. Eine Zusammstellung des Textes der Entwürfe u n d der Beschlüsse des Ausschusses hat G. J. E b e r s angefertigt. (Berlin 1919). S. auch die Drucks. Nr. 780, die die Beschlüsse der Nationalversammlung in dritter Lesung wiedergibt und Bericht und Protokolle des 8. Ausschusses über deu Entwurf einer Verfassung des Deutschen Reichs (Berlin, Carl Heyrnanns Verlag, 1920). S c h r i i t t u m : Max Q u a r c k , Der Geist der neuen Reichsverfassung. Berlin 1919. Verlag f ü r Sozialwissenschaft. Erläuterungswerke von: A r n d t (Berlin 1919, Verlag wissenschaftlicher Verleger); C. B o r n h a k , Textausgabe mit Anmerkungen und Einleitung (München 1919, Verlag J. S c h w e i t z e r ) . ' F . G i e s e , Taschenausgabe, 2. Aufl. (Berlin 1920, Verlag Carl Heymann); H a u s s m a n n , T e x t a u s g a b e mit Einleitung (Stuttgart 1919, Verlag W. Kohlhainuier); K o r n , Die Verfassung des Deutschen Reich»

74 ErsterTeil. Die geschichtl.Entwicklung d. neuen Reichsverfasaung. die Reichs Verfassung mit 262 der abgegebenen 338 Stimmen endgiltig angenommen und „verabschiedet" worden. Sie ist mit dem Datum vom 11. A u g u s t 1919 am 14. August 1919 im Reichsgesetzblatt (S. 1383) veröffentlicht worden und an diesem Tage nach Art. 181 in Kraft getreten. (Berlin, 1919); O e s c h e y , Textausgabe mit Einleitung (München 1919, Verlag C. H. Beck); P o e t z s c h , Handausgabe (Berlin 1919 Verlag Otto Liebmann); S a e n g e r (Berlin 1919, Otto Eigners Verlag); Z ö p h e 1, Textausgabe mit kurzen Erläuterungen (Berlin 1920, Spaetb und Linde); Z w e i g e r t , Verfassung des Deutschen Reichs, Textausgabe mit Einleitung (Mannheim, 1919, Verlag Bensheimer.) _ — Tiefgehende Kritik übt mit hoher Sachkunde Otto L e n e l , Über die Reichsverfassung. Rede 1920.

I. Abschnitt. Die Reehtsquelleü d. Verfass.-Rcchts u. d.Verfase.-Urk. 75

Zweiter Teil*). Das Recht der Verfassungsurkunde. I. Abschnitt. Die R e c h t s q u e l l e n d e s V e r f a s s u n g s r e c h t s Verfassungsurkunde.

und

die

I. Bereits im ersten Teil dieser Schrift war nicht nur der rechtlichen Entwicklung nachzugehen, sondern eine Beschäftigung mit verfassungsrechtlichen Gedankengängen und Entwürfen notwendig, die den wichtigsten Ideengehalt des nunmehr zustandegekommenen Reichsverfassungswerkes vorwegnahmen und darauf in dieser Weise vorzubereiten, gleichzeitig die Darstellung des positiven Rechts zu entlasten bestimmt waren 1 ). Wir haben uns auch schon mit Gesetzen befassen müssen, die zur Überführung des bisherigen Verfassungszustandes in den neuen zu dienen hatten und Regelungen trafen, die für lange Zeit massgebend bleiben werden"). Sie bilden einen Teil des geltenden Verfassungsr e c h t s , das in seinem w e s e n t l i c h e n B e s t a n d in der Verfassungsurkunde niedergelegt werden sollte. Es ist nicht vollständig in ihr enthalten! Die Verfassung vom 11. August 1919 umfasst also keineswegs das ganze deutsche Reichsverfassungsrecht. Dies muss näher betrachtet werden. 1. S t a a t s v e r f a s s u n g bedeutet in inhaltlichem, materiellem Sinne so viel wie Grundordnung des Staates, die Summe aller Einrichtungen, durch die Land und Volk zu einer Einheit organisiert werden. Staatsverfassung ist also Organisation der Staatsgewalt. Im einzelnen besteht die Staatsverfassung aus einer Reihe von Rechtssätzen, die a) die o b e r s t e n O r g a n e des Staates bezeichnen, z. B. im bisherigen Deutschen Reich Kaiser, Bundesrat und Reichstag, im jetzigen Reich Reichspräsident, Reichstag, Reichsregierung und Reichsrat; *) Die im Folgenden angeführten Artikel sind sämtlich solche der Verfassung-surkunde, wenn nichts anderes vermerkt ist. 1) Siehe oben S. 29—51. 2) Siehe oben S. 19—28, 51—70.

76

Zweiter Teil.

Das Recht der Verfassungsurkunde.

b) die Voraussetzungen ihrer Entstehung, ihres Wechsels und der Beendigung ihrer Tätigkeit regeln, z. B. Wahl des Reichspräsidenten und des Reichstages, Berufung, Vertagung, Schliessung und Auflösung des letzteren, Berufung des Reichskanzlers und der anderen Reichsminister, Ernennung der Mitglieder des Reichsrats; c) den Wirkungskreis dieser obersten Organe (insbesondere die Staatsfunktionen der Gesetzgebung, Rechtssprechung und Verwaltung), ihre Zulässigkeit, ihr gegenseitiges Verhältnis ordnen; d) die Stellung des Einzelnen zur Staatsgewalt bestimmen, insbesondere die sogenannten Grundrechte festlegen; e) im Bundesstaat das Verhältnis von Reich und Einzelstaaten abgrenzen. Das V e r f a s s u n g s r e c h t beschränkt sich auf die Grundlinien des für den Staatenaufbau Erforderlichen. Es prägt Grundsätze oberster Art, während es in der Regel dem V e r w a l t u n g s r e c h t e den Ausbau im Einzelnen, die Ordnung der Staatsfunktionen im besonderen, die Beschäftigung mit den Helfern der Leiter der Staatsgewalt, nämlich den Beamten, und die folgerichtige Ausgestaltung des Verhältnisses von Staat und Einzelpersonen überlässt. Aber selbst das ganze V e r f a s s u n g s r e c h t ist nicht vollständig in der Verfassungsurkunde enthalten, sondern eben nur das Grundsätzliche. Vom Finanzrecht z. B., das das Reichsvermögen, die Finanzwirtschaft des Reichs, das Budgetrecht, die Rechnungskontrolle und die Entlastung umfas'st, vom Wehrwesen, von der Gerichtsbarkeit, vom Begnadigungsrecht, von den auswärtigen Angelegenheiten, ist nur ein verschwindend kleiner Bruchteil geregelt, im übrigen aber teils besonderen Verfassungsgesetzen a u s s e r h a l b der Verfassungsurkunde, teils Verwaltungsgesetzen, aber auch der Staatspraxis, dem Gewohnheitsrecht, der wissenschaftlichen Lehre Uberlassen. So steht ein sehr erheblicher Teil des geltenden deutschen Reichs-Verfassungsrechts nicht in der V e r f a s s u n g s u r k u n d e . Z. B. ist in ihr nicht geregelt das Recht der Reichsangehörigkeit, das sich vielmehr noch nach dem Gesetze vom 22. Juli 1913 richtet; (vgl. allerdings noch Art. 110 der Verfassungsurkunde), das ganze Reichsbehördensystem, das Reichsbeamtenrecht usw. Hieraus ergibt sich, dass das Gesetz vom 11. August 1919, das sich V e r f a s s u n g d e s D e u t s c h e n R e i c h s nennt, tatsächlich n i c h t die ganze deutsche Reichsverfassung enthält, also' nicht das vollständige Reichsverfassungsrecht im materiellen, inhaltlichen Sinne umfasst, sondern nur das im formellen Sinne, d. h. in dem einer geschriebenen Verfassungs-

1. Abschnitt. Die Rechtsquellen d. Verfass.-Rechts u. d.Verfass.-Urk. 77

urkunde. Nur das in dieser enthaltene Recht in systematischem Überblick zu zeigen, ist hier meine Aufgabe 1 ). 2. Die „Verfassung des Deutschen Reichs" bezieht sich auf die Grundorganisation des Bundesstaats „Reich", n i c h t auf die L ä n d e r innerhalb des Gebietes des Deutschen Reichs. Die Einzelstaaten mit der Bezeichnung „ L ä n d e r " sind in der Begrenzung des Weltfriedensvertrages vom 28. Juni 1919 geblieben und wie sie sich auch territorial später abgrenzen werden, sie haben eigene „Verfassungen" in m a t e r i e l l e m Sinne und sind bereits dabei, sich auch neue f o r m e l l e Verfassungen, nämlich V e r f a s s ' : n g s u r k u n d e n zu schaffen. (Bayern, Württemberg, Baden usw.). Danach lässt sich das auf dem Gebiet des Deutschen Reichs geltende Verfassungsrecht nur dann v o l l s t ä n d i g erkennen, wenn man ausser dem Reichsverfassungsrecht auch die Verfassungsrechte a l l e r deutscher L ä n d e r umfasst. Wie die Reichsverfassungs u r k u n d e nicht das ganze R e i e h s v c r f a s s u n g s r e c h t , so enthalten die V e r f a s s u n g « u r k u n d e n der einzelnen Länder auch nicht das ganze L a n d e s v e r f a s s u n g s r e c h t , sondern nur (iu demselben oben zu 1) dargelegten Sinne) einen Teil. Auch d i e Aufgabe schaltet jedoch hier aus, das einzelstaatliehe Verfassungsrecht, sei es in seiner ganzen Ausdehnung, sei es in der durch die Landesverfassungsurkunden beschränkten Gestalt vorzuführen. Lediglich die allgemeinen Beziehungen von Reich und Ländern gehören in den Rahmen unserer Erörterung. 3. In mancher Beziehung gibt die Reichsverfassung vom 11. August 1919 k e i n e s w e g s j e t z t s c h o n d i e endgültige Verfassungsgestalt erschöpfend wieder. Diese wird, auch nur in verhältnismässiger Vollständigkeit, erst dann erreicht sein, wenn die jetzt in der 1) D a s Wort „Verfassung" hat im politischen Sinne lind im t ä t l i c h e n Sprachgebrauch einen durch die geschichtliche Entstehung der geschriebenen Verfassungsurkunden erklärlichen weiteren Sinn. Man versteht darunter einmal den Inbegriff der konstitutionellen Staatseinrichtungen (uud muss wohl jetzt darunter auch die der parlamentarischen Regierungsweise, des sozialistischen Staatswesens begreifen), sodann die „konstitutionellen" g e s c h r i e b e n e n Verfassungsurkunden. Man denkt sich also gewöhnlich unter Verfassung sowohl die Summe der staatlichen Einrichtungen, an denen das Volk (Parlament. Selbstverwaltung, ev. Bätesystem) mitbeteiligt ist, als auch ff 2) Zustimmend L u k a s , Dieorganisatorischen (irundgedanken der neuen Reichsverfassung S. 4 Das deutsche Volk ist das Subjekt, das sich die Verfassung gibt, während es nach der bisherigen Reichsverrtissuna - die deutschen Regierungen waren u n d das deutsche Volk erschien dabei nur als das Objekt der fürsorglichen Tätigkeit seiner Regierungen. 3) Zu'Unrecht bestritten von G i e s e , RV. 2 Aufl. S. 65 Anm. 2 zu Art. 1 und S. 76 Anm. 1 zu Art n. d a g e g e n für die Übergangszeit d e r s e l b e a. a. O. S. 26 und Wandlungen im Staatscharakter der deutschen Länder in Deutsche Revue 1919, S 251 4) An die Stelle des pol tischen Prinzips der Furstensouveränität, wie es die deutsche Politik und das deutsche Staatsrecht während des g a n z e n 19 Jahrhunderts und bis zur Revolution beherrscht hat, ist das politische Prinzip der Volkssouveränitiit g e t r e t e n . L u k a s , a. a. 0 .

f

II. Abschnitt. Die rechtliche Natur des Deutschen Reiches.

83

Reichsangelegenheiten durch die Organe des Reichs auf Grund der Reichsverfassung, in L a n d e s a n g e l e g e n h e i t e n d u r c h d i e O r g a n e der L ä n d e r auf Grund der Landesverfassungen ausgeübt wird. Dass diese Ietzeren als Staatsverfassungen gemeint sind, ergibt sich auch aus der Vorschrift über Verfassungsstreitigkeiten innerhalb eines Landes (Art. 19). Besteht dort ein Gericht zu ihrer Erledigung, dann ist es zuständig; besteht keius, so entscheidet auf Antrag eines der streitenden Teile der S t a a t s g e n c h t s h o f für das Deutsche Reich, soweit nicht ein anderer Gerichtshof des Reichs zuständig ist. Dasselbe gilt bei Streitigkeiten nicht privatrechtlicher Art zwischen verschiedenen Ländern, oder zwischen dem Reich und einem Lande. Wäre dieses nur Teil des Reichs ohne Staatsnatur, so würde eine primäre Entscheidungsmöglichkeit durch ein Landesgericht undenkbar sein. c) Ist in den letzterwähnten Bestimmungen die eigene S t a a t s g e w a l t (auch die eigene Landesverfassung und Regierung), so ist durch Art. 2 Satz 1 das selbständige S t a a t s g e b i e t anerkannt. Denn es heisst dort, dass das Reichsgebiet aus den G e b i e t e n der d e u t s c h e n L ä n d e r besteht'). Hierhin gehört auch das weitgehende Bestimmungsrecht über Gliederung des Reichs, die Gebietsänderung der Länder nach Art. 18; ein unselbständiger Teil eines Reichs könnte solche Befugnis nicht haben. d) Den Einzelstaaten ist verblieben eine wenn auch beschränkte Befugnis zur G e s e t z g e b u n g (Art. 12 Abs. 1 Satz 1, teilweile auch Art. 10 und 11). e) Durch die grundsätzlich den Landesbehörden überlassene Ausführung der Reichsgesetze (Art. 14) ist die r e i c h s e i g e n e Verwaltung, ebenso wie im bisherigen Deutschen Reiche, g r u n d s ä t z l i c h zur Ausnahme gestempelt worden, mag sie auch in tatsächlicher Beziehung, vor allem im Steuer-, Eisenbahn- und Wassel strassenwesen eine bedeutende Ausdehnung gewinnen 2 ). Im Prinzip steht also die V e r w a l t u n g dem Einzelstaat (Lande) zu. 1) Auf Deutsch-Österreich ist der Satz gemünzt, daes andere Gebiete durch Reichsgesetz in das Reich aufgenommen werden können, wenn es ihre Bevölkerung- kraft des Selbstbestimmungsrechts begehrt (Art. 2 Satz 2). Lhrigens geschieht Deutsch Österreichs nur noch im Art. 61 Abs. 2 (Reichsrat) Erwähnung 2) Hierher gehört auch ciie Vorschrift des Art. 16, wonach die mit der unmittelbaren Ke:chsverwaltung in den Ländern betrauten Beamten in der Regel Landesangehörige sein sollen. D i e Beamten, Angestellten und Arbeiter der Reichsverwaltung sind auf ihren Wunsch in den Hcimatgebieten zu verwenden, soweit dies möglich ist und nicht Rücksichten auf ihre Ausbildung oder Er-

84

Zweiter Teil.

Das Recht der Verfassungsurkunde.

f ) Wenigstens teilweise und zeitlich begrenzt, erfolgte die Aufrechterhaltung der Sonderrechte (Art. 170, 171). g ) Der Name' „Staat" im Gegensatz zu ,.Reich" ist an vielen Stellen der Verfassungsurkunde gewählt worden, z. B. Art. 144 (Aufsiebt (Iber das gesamte Schulwesen), 147 (Genehmigung von Privatschulen), 150 (Schutz der Kunstdenkmäler), 154 (Anteil des Staates aim Erbgut), 155 (Überwachung der Bodenverteilung und -nutzung)1). G. Sicher ist freilich, dass der bisherigen Rechtslage gegenüber die einzelstaatliche Sphäre erheblich e i n g e s c h r ä n k t wurde: a) D a s R e i c h g r e i f t ein in den V e r f a s s u n g s bau d e r L ä n d e r . Die republikanische Verfassung und das dem Reichstagswahlrecht entsprechende Wahlrecht ist für die Landesvertretungen vorgeschrieben, freilich ohne die Altersgrenze festzusetzen. Ebenso gilt dasselbe Wahlrecht für die Gemeindevertretung, mit der Möglichkeit der Bestimmung einer Aufenthaltsdauer bis zu einem Jahre. Reichsrechtlich wird auch für jedes einzelne Land die parlamentarische Regierungsweise verbürgt (Art. 17). Das Imrimnitätsrecht auch der Landtagsabgeordneten ist in der Reichs Verfassung geregelt (Art. 36—38), ebenso ihre Freiheit von Urlaubsbewilligung, wenn sie Beamte oder Angehörige der Wehrmacht sind (Art. 39). b) Die landesstaatliche Zuständigkeit ist unbedingt beseitigt in der a u s w ä r t i g e n Verwaltung*) und in der W e h r verfassung, i m Z o l l - und H a n d e l s w e s e n , P o s t und T e l e g r a p h i e , in bedingter Weise für das E i s e n b a h n w e s e n und die Wasser strassen. In letzterer Beziehung ist zunächst nur eine .Verwaltungsgemeinschaft, nicht eine Finanzeinheit vorgesehen. Die Entwicklung wird aber auch dazu drängen, wie auch fordernisse des Dienstes entgegenstehen. Hierdurch wird die Ausdehnung der unmittelbaren Reichsverwaltung in den Ländern weniger fühlbar. Erwin J a c o b i , Einheitsstaat oder Bundesstaat 1919 S. 33. 1) Die Staatsnatur der Länder fehlt nicht etwa aus dem Grunde, dass das Reich die ausschliessliche oder konkurrierende Gesetzgebung in gewissen Angelegenheiten hat und für die Länder massgebende Grundsätze aufstellen kann (Art. 6—11), dass es die Aufsicht in den Angelegenheiten ausübt, in denen ihm das Recht der Gesetzgebung zusteht (Art. 15). Denn diese Regelungen betreffen nur die notwendige Zuständigkeitsverteilung. Dass Reichsrecht Landrecht bricht (Art. 13), beweist nur den Vorrang des Reichs, beseitigt aber die Staatsnatur des Landes ebenso wenig wie die Geltung jenes Satzes sie nach der bisherigen Reichsverfassung beseitigt hatte. 2) Deshalb ist die Erhebung des Kompetenzkonflikts in Prozessen gegen fremde Staaten nicht mehr zulässig. D e l i u s , DJZ 1919, Sp. 924.

II. Abschnitt. Die rechtliche Natur des Deutschen Reiches.

85

die grosse Reichfinanzreform die Kompetenz der Länder auf dem Gebiete des Steuer- und Abgabewesens erheblich einschränkt (Art. 78—101, 169, 170, 171). c) Das Seich kann seine Z u s t ä n d i g k e i t gegen den Willen der Einzelstaaten durch v e r f a s s u n g ä n d e r n d e s Ges e t z e r w e i t e r n (Art. 76). Es genügt, wenn zwei Drittel der gesetzlichen Mitgliederzahl des Reichstags anwesend sind und wenigstens zwei Drittel der Anwesenden zustimmen. Auch Beschlüsse des Reichsrats auf Abänderung der Verfassung bedürfen einer Mehrheit von zwei Dritteln der abgegebenen Stimmen. Soll auf Volksbegehren durch Volksentscheid eine Verfassungsänderung beschlossen werden, so ist die Zustimmung der Mehrheit der Stimmberechtigten erforderlich. Hat der Reichstag entgegen dem Einspruch des Reichsrats eine Verfassungsänderung beschlossen, so darf der Reichspräsident dieses Gesetz nicht verkünden, wenn der Reichsrat binnen zwei Wochen den Volksentscheid verlangt. Eine Reichsverfassungsänderung ist vor allem notwendig für die Ausdehnung der unmittelbaren Reichsverwaltung, soweit nicht einfaches Reichsgesetz genügt (vgl. z. B. Art. 84, 89, 97), sowie für die Ausdehnung der Reichgesetzgebung und Reichsaufsicht auf Gebiete, die durch besondere Bestimmungen der Verfassung vorläufig den Ländern zugewiesen sind 1 ). III. D a s D e u t s c h e R e i c h ist a u f g e b a u t auf d e r G r u n d l a g e der D e m o k r a t i e und des P a r l a m e n t a rismus-)Die Demokratie hat ihre politische, wirtschaftliche und gesellschaftliche Seite, von denen in einer Staatsverfassung vor allem die zwei erstgenannten zur Ausprägung kommen können, und tatsächlich auch gelangt sind. P o l i t i s c h e Demokratie bedeutet e i n m a l die allen mündigen und gleichberechtigten Männern und Frauen rechtlich und tatsächlich gewährte Möglichkeit, unmittelbar oder mittelbar an der Staatsgewalt teilzunehmen. Es ist die „Selbstbestimmung des Volkes' 1 ; jeder muss ein Teil des Volksganzen, der Staat die Sache jedes Einzelnen sein. Das Volk wählt seine Vertretung nach freiestem Wahlrecht, entscheidet massgebend Uber den Gang der Politik, die Gesetzgebung und Verwaltung des Landes. S o d a n n prägt sich in der politischen Demokratie 1) Vgl. J a c o b i , Einheits- oder Bündestaat, 1919 S. 10. 2) Vgl. hierzu StenBer. S. 391 B—D; 392 A, C; 398 C, D ; 401 A, D, 403 D; 404 A ; 451 A und C; 464D; 456 A; 491A; 496 D; besonder» 207-2 A, ß ; 2073 C, D; 2075 A - D ; 2076 A ; 2078 A, C; 2081 D; 2082 A ; 2083 B, C; 2089 D; 2092 A; 2093 A. B, C 2094 A—D; 2095 A - D ; 2096 A.

86

Zweiter Teil.

Das Recht der Ver£asisurig,surkuiide.

der Gesamtcharakter des Staatswesens aus, bestimmt durch die Grundsätze der weitestgehenden persönlichen Gleichheit Freiheit, Öffentlichkeit und Mehrheitsentscheidung in Verfassung und Verwaltung. Die w i r t s c h a f t l i c h e Demokratie bedeutet die mittelbare oder unmittelbare Beteiligung aller mündigen Männer und Frauen an der ökonomischen Machtausübung innerhalb Gesellschaft und Staat, beherrscht von der Idee der Gleichheit hinsichtlich Produktionsvermögen und Genussvermögen. Die neue deutsche Reichsverfassung bringt die politische Demokratie zum sichtbarsten und wirksamsten Ausdruck. Das V o l k i s t zum S o u v e r ä n e r h o b e n , von ihm geht die Staatsgewalt aus. Durch das denkbar weit gehende Wahlrecht beruft es den R e i c h s p r ä s i d e n t e n , schafft es die V o l k s v e r t r e t u n g . Die Mehrheit des Parlaments ist wieder entscheidend für die Zusammensetzung der R e i c h s r e g i e r u n g , die des Vertrauens des Reichstags bedarf, ihm verantwortlich ist und zurücktreten muss, weun sie sein Vertrauen entbehrt. Bei Konflikten zwischen Reichsregierung und Parlament entscheidet letzten Endes das Volk. Der für wichtige Fälle vorgesehene unmittelbare V o l k s e n t s c h e i d und das V o l k s b e g e h r e n erweitert die demokratische Grundlage. Das M e h r h e i t s p r i n z i p , durch da9 Frauenstimmrecht gestärkt, ist durch das Verhältniswahlrecht und die Untersuchungsausschüsse absichtlich geschwächt worden, damit auch die Mehrheit die Minderheit nicht vergewaltige; die Demokratie solle sich als Mehrheitsherrschaft nach Möglichkeit mit den Rechten auf Leben und Wirksamkeit der Minderheit vertragen. Ministeranklage, Anklage und Absetzbarkeit des Reichspräsidenten, Einführung des Petitionsrechts weisen wieder auf Verstärkung der Demokratie hin. Die neue Reichsverfassung unternimmt es auch, die politische Demokratie zur w i r t s c h a f t l i c h e n auszubauen. Die Demokratie der Reichsverfassung und damit Deutschlands ist eine p a r l a m e n t a r i s c h e und eine weitgehend s o z i a l i s t i s c h e geworden: a) Anstelle des in anderen Ländern erkennbaren aristokratischen bezw. bürgerlichen P a r l a m e n t a r i s m u s ist in Deutschland der demokratische Volksparlamentarismus zur Geltung gelangt ')• Mit ihm können ernste Gefahren einer blossen Partei- und Fraktionsherrschaft verbunden sein. Alle diejenigen, die nicht zu den regierenden Parteien gehören, würden von der 1) Die Zeit vom 30. September bis 9. November 1918 kann, hier ausser Betracht bleiben. Siebe oben S. 1 ff.

II. Abschnitt. Die rechtliche Natur des Deutscheu Reiches.

87

Mitberatung und Mitentschliessung ausgeschlossen. Die Abhängigkeit des Beamtentums (nicht nur der leitenden Persönlichkeiten) von Parteimomenten liegt nahe und dadurch ist daa Fehlen der Unparteilichkeit möglich; bedenklich wäre die Auswahl der Beamten vom Parteiinteresse aus, ohne Rücksicht auf die Sachkunde. Eine Überspannung der Parteiherrschaft würde auch bewirken, dass eine Sammlung a l l e r lebendigen Kräfte nicht zustande kommt, eine feste Staatsgewalt und ein ruhiges, stetiges Staatsleben fehlt. Auch die Gefahr des Hineinredens der Niclitsacliverständigen in die Staatsverwaltung lind dadurch des teüweisen Lähmens der Amtstätigkeit, besonders in auswärtigen Angelegenheiten, ist unverkennbar. Den Nacuteilen des demokratischen Volksparlamentarismua «tehcn aber Vorteile gegenüber. Zwischen Volksvertretung und Voiksregierung ergibt sich eine leichtere und fruchtbarere Zusammenarbeit als früher, die auf Offenheit, gegenseitiger Förderung und Gleichberechtigung beruht. Die frühere Abgeschlossenheit der (mit einer hochmütigen Obrigkeitsverwalttung unzertrennlichen) Regierung von dem Parlament ist beseitigt. Die Gewähr für die Durchsetzung des politischen Willens der Mehrheit des deutschen Volkes ist stärker als bei jedem anderen System. b) Das s o z i a l i s t i s c h e Element gelangt zum Ausdruck in der gesetzgeberischen Zuständigkeit des Reichs über Vergesellschaftung von Naturschätzen und wirtschaftlichen Unternehmungen sowie über die Erzeugung, Herstellung, Verteilung und Preisgestaltung wirtschaftlicher Güter für die Gemeinwirtschaft (Art. 6 Ziff. 13), darin, dass das Reich durch Gesetz für die Gesellschaftung geeignete private wirtschaftliche Unternehmungen unter gewissen Voraussetzungen in Gemeineigentum überführen kann (Art. 156), in der Verankerung des Rätesystems (Art. 165). In derselben Richtung wirkt der Geist «iner teils bereits in die Wege geleiteten, teils geplanten Wirtschafts , Finanz- und Sozialgesetzgebung. Sie ist daraufhin zu überwachen, ob sie nicht Uber das berechtigte Ziel hinausgeht, die Gleichheit, gerechte Behandlung und Stärkung des Staatsbewusstseins der Arbeiter herbeizuführen und zu verhüten, dasa sie eine drückende Diktatur der Handarbeiter Uber die geistigen Arbeiter, bestimmter gesellschaftlicher Schichten über die andern, die Vorherrschaft des Proletariats aufrichtet.

88

Zweiter Teil.

Das Recht der Verfassun gsurkunde.

III. Abschnitt.

Umtarismus, Föderalismus, Partikularismus. Zentralisation und Dezentralisation. I. Vom E i n h e i t s s t a a t sprechen wir, wenn das Volk eine Rechtseinheit, Machteinheit und Willenseinheit bildet, mit einer einheitlichen Verfassung und Verwaltung und einer einheitlichen Staatsgewalt. Im Gegensatz zum Einheitsstaat in diesem Sinne stehen die Staatenverbindungen der verschiedensten Art, alsö auch der Bundesstaat1). Unitarismus im Sinne der bisherigen und der neuen Reichsverfassung bedeutet daher nicht Gleichsetzung mit Einheitsstaat in diesem Sinne; davon konnte weder früher die Rede sein, noch ist daran jetzt gedacht worden. Dagegen meint man, wenn vom unitarischen Charakter der Reichsverfassung die Rede ist, dass ein zusammengesetzter Staat geschaffen worden ist, „ d e r d i e E i n z e l s t a a t e n f o r t b e s t e h e n lässt, sie aber als solche bei der Bildung und dem Vollzug seines Willens fast ganz ausser Acht lässt". DaB gegenteilige System bezeichnet man als „föderalistisch" *). Während der Geltung der bisherigen Reichsverfassung war der Zug nach dem Einzelstaat unverkennbar. „Die einheitsstaatlichen Züge der Verfassung sind verstärkt, die bundischen geschwächt worden, und zwar sowohl in Bezug auf den Bestand und die Tragweite der Kompetenzen des Reichs wie in Bezug auf die Stellung seiner verfassungsmässigen Hauptorgane" $ ). Die 1) Vgl. S t i e r - S o m l o , Politik, 4. Aufl. 1919, S. 138ff. und auch die kritische Darstellung bei M e y e r - A n s c h ü t z , Lehrbuch de* deutschen Staatsrechts, 7. Aufl. S. 2—12. 2) A n s c h ü t z , D e r A u f b a u der obersten Gewalten im Entwurf einer Reichsverfassung, D J Z . 1909, Sp. 203. 3) S. T r i e p e l , Die Reichsaufsicht. Untersuchungen zum Staatsrecht des Deutschen Reichs 1917 S. 298 ff., 714 ff. W i e weit der Föderalismus in der bisherigen Reichsverfassung und Reichspraxis cur Geltung kommt, ist untersucht a. a. O. S. 175, 178 f., 467 f., 521, 523, 526, 548, 561 ff., 601 ff., 616 ff., 641, 642, 656, 670, 685, 698. S. auch d e s s e l b e n Verfassers Unitarismus und Föderalismus im Deutschen Reich 1907, ferner seine Abhandlung, Die Kompetenz des Bundesstaates und die geschriebene Verfassung, Festgabe für L a b a n d , Bd. 2. S. 247 ff.; R e h m , Unitarismus und Föderalismus in derdeutschen Reichsverfassung, 1898; D e r s e l b e , Allgemeine Staatslehre, 1907, S. 43; vgl. auch L a b a n d , Die W a n d l u n g e n der deutschen Reichsverfassung, 1895 und im Jahrbuch des öffentlichen Rechts, 1907, S. 1 ff., ferner in dem Artikel „Reichsverfassung" zu § 5 in v . S t e n g e ^ F l e i s c h m a n n s Wörterbuch des Staats- und Verwaltungsrechts 2. Aufl. Bd. 3, S. 258; B o r n h a k , Archiv für öffentliches Recht Bd. 26 (1910)» S. 373 ff.

III. Abschnitt.

Unitarismus, Föderalismus, Partikularismus usw.

89

Frage, ob die neue Reichsverfassung unitarisch oder föderalistisch ist, führt zunächst zu der Vorfrage, ob man überhaupt von „föderalistisch" sprechen kann, wenn, wie oben (S. 81 f.) dargelegt, ein foedus = Bund überhaupt nicht geschlossen worden ist, vielmehr das einheitliche deutsche Volk durch seine verfassunggebende Nationalversammlung die neue Staatsform und Staatsverfassung zwar unter tatsächlicher, . nicht aber rechtlicher Mitwirkung des Einzelstaaten gestaltet hat. Die Verfassung ruht auf Gesetz, hat also eine staatsrechtliche Grundlage, nicht auf Vertrag, hat nicht etwa eine völkerrechtliche Basis. Sicherlich hat dadurch der Begriff des „Förderalismus" eine gewisse Abschattung erfahren; er kann aber beibehalten werden, wenn man erwägt, dass die in der Wissenschaft mit Recht herrschende Auffaßsung vom Bundesstaate den Staatscharakter des Reichs wie der Länder und die Beteiligung dieser bei der Bildung des Reicbsstaatswillens verlangt, all dies aber für das neu geschaffene Reich, wenn auch letzteres in vermindertem Masse, zutrifft. Föderalismus b e d e u t e t d e m n a c h in A n w e n d u n g a u f d i e g e l t e n d e R e i c h s v e r f a s s u n g die A n e r k e n n u n g des S t a a t s c h a r a k t e r s d e r L ä n d e r u n d i h r e A n t e i l n a h m e a n d e r Bild u n g d e s R e i c h s w i l l e n s . Insofern ist demnach die neue Reichsverfassung „föderalistisch", als in ihr diese Anerkennung zu finden ist, während allerdings in dem, gegenüber früher erheblich eingeschränkten Masse der landesstaatlichen Mitwirkung wiederum ein unitarisches Moment enthalten i s t ' ) . 1) Die geschichtliche Entwicklung (s. oben S. 41 ff.) hat gelehrt, dass der vorläufige Entwurf den unitarischen Standpunkt scharf betonte, ja ihn für den einzig möglichen betrachtete; dass dagegen ein Kompromiss zwischen ihm uud dum Föderalismus in dem endgültigen Entwurf geschaffen wurde. Träger des föderalistischen Gedankens war unter den Parteien zunächst das Z e n t r u m / Für jenen Gedanken wurde geltend gemacht „die Mannigfaltigkeit des deutschen Lebens in Nord uud Süd, in Ost und West, die verschiedenartige Zusammenfassung und Veranlagung des deutschen Volkes in seinen einzelnen Stämmen, dem Reichtum an politischen und külturellen Wirkungen des deutschen Lebens in seineu zahlreichen landschaftlichen und örtlichen Brennpunkten" (Abg. Dr. Spahn. StenBer. S. 377 C.). Für einen „gesunden Föderalismus" «prach der Bundesstaat, der „dem Wesen des deutschen Volkes gemäss, seinem Streben nach Freiheit in der Genossenschaft entsprechend ist; er ist Hort hoher Kulturwerte, ein Quell innerer Bereicherung, eine Pflanzstatte des Heimatsgefühls und bodenständiger Art und Sitte, ein Wirkungsfeld des politischen Lebens im übersehbaren Kreise und damit ein Ansporn des Einzelnen und eine politische Betätigungsmöglichkeit für eine schollenanhängliche Bevölkerung, eine Bürgschaft auch des konfessionellen Friedens" (Abg. Dr. Beyerle StenBer. S. 567 A. Auch die d e u t s c h n a t i o n a l «

•90

Zweiter Teil. Das Recht der Verfassungsurkunde.

Schliessslich wurde es möglich, die verschiedenen Kräfte auf der mittleren Linie zu vereinigen: Stärkung der Reichsgewalt war letzten Endes der Wunsch der ganzen Nationalversammlung. Er wurde durch den gegenüber dem bisherigen Zustand stark unitarischen Ausbau zu gesetzlicher Geltung gebracht (s. unten S. 94ff.). Daneben wurde, den wirkliehen politischen Kräften gemäss, wie insbesondere durch die Regierungen der Einzelstaaten und durch die Volksvertreter aus denselben (Gebieten deutlich fühlbar, a u c h d e n G l i e d s t a a t e n e i n b e s t i m m t e r L e b e n s k r e i s innerhalb des Deutschen Reichs belassen. Partei wollte die Einzelstaaten ,dagegen schützen, dass sie durch einen Machtspruch ihrer Eia-enseiiatt als Bundesstaat entkleidet oder eines grossen Teils ihres Territoriums beraubt werden", anderseits „sollte die Möglichkeit u'euvoen werden, neue staatliche Gebilde zu schaffen". (Abg. Dr. v * D e i b r ü c k , StenBer S. 388 C, D.) Von dieser Seite wurde den Einzelstaaten nachgerühmt: sie haben sich in del- Zeit des Chaos uua der Revolution ein bedeutender Machtfaktor herausgestellt: man dü.fe nicht unbeachtet lassen, was sie vorher in jahrhundertelanger und jahrzehntelanger treuer Zusammenarbeit geleistet und geschaffen haben; tun verschiedenartigen Landesteile haben sich gegenseitig kennen und in ihren Interessen verstehen gelernt, haben sich auf diese letzteren eingestellt; bei. dieser eigenartigen Entwicklung sind immerhin neue materielle und kulturelle Werte geschaffen worden Wenn sicu die Einzelstaaten je.tzt auf sich besinnen, sei die Ursache uicnt ein ro.chsi'eihdlicher Partikularismus, nicht der unheilvolle Gegensatz zwischen Nord und Süd, nicht mangelndes deutsch nationales Empfinden, sondern die Notwendigkeit, beim Mangel oder beim Versagen einer starken Zentralgewalt wenigstens im eigenen Hause Ordnung v.u schaffen und sich zu behaupten (Abg Dr. Düriuser, StenBer S 471 C, D, 472 A.). Im Gegensatz hierzu haben den einseitigsten Unitarismus die soziald e m o k r a t i s c h e n P a r t e i e n verfochten; aus politischen Gründen und aus ihrer ganzen Wirtschaft l i e h e n Auffassung heraus waren sie Anhänger und Befürworter des Einheitsstaates (Abg. F.scher-Berlin, Justizininister Heine, Reichsminister i >r. David, StenBer S 372 B bis .373 C, 458 A, B, 500 A bis C). Eine Mittelstellung nahmen die d e u t s c hd e m o k r a t i s c h e P a r t e i und die d e u t s c h e V o l k s p a r t e i ein. Jene betonte, die bundesstaatliche Gliederung mit dem Gedanken der Reichseinheit vereinen zu wollen (.Abg Köch-Cass' l, StenBer. 3^3 D), während diese ihre Wünsche genauer formulierte: Die Gliedstaaten sollen an der Bildung des Reichswillens teilnehmen; er soll nicht lediglich durch den Reichstag beherrscht sein; es dürfen nicht einzelne Gliedstaaten vergewaltigt werden; ein Teil der Kleinstaaten müsse sich zu lebenskräftigen grösseren Gebilden vereinigen. Die Entwicklung habe sich mit freiem Willen der Gliedstaaten zu vollziehen (Abg. Dr. Heinze, StenBer S. 398 B.> Auch die Erörterungen in der zweiten und drttten Beratung in der Vollversammlung haben sich diesen verschiedenen Parteipunkien entsprechend mit.den Problemen des Einheitsstaates, des Militarismus und Föderalismus beschäftigt (StenBer. 1240 B bis 1444 C, 124Ö B bis 1248 A, 1249 B, C, 1257 A; 2073 D, 2074 A, 2076 C, D; 2077 A, 2078 A, 2082 B, 2090 A, B; 2093 D, 2094 A, 2097 B).

III. Abschnitt. Unitarismus, Föderalismus, Partikularismus usw.

91

D i e Reichsverfassung, insbesondere ihr erster Abschnitt dea Ersten Hauptteils über „ R e i c h und L ä n d e r " ' ) ist in der T a t ein Kompromiss, der sich aus gewissen Bestimmungen über den Reichsrat, die Reichsgesetzgebung und die Reichsverwaltung, über Religion und Religionsgemeinschaften, K i r c h e und ¡Schule sowie'aus den Übergangs- und Sonderbestimmungen nachweisen lässt. W i e die unoeanigte Durchführung des Unitarismus den Buudesstaat beseitigt, und einen Einheitsstaat an die Stelle gesetzt hätte, so würde ein weiteres Entgegenkommen gegenüber den Wünschen der Gliedstaaten die K r a f t der Reichsstaatsgewalt geschwächt und die Durchführung des sozialen und wirtschaftlichen Programms der Mehrheitsparteien anmöglich gemacht haben. I I . Dem Gegensatz von Unitarisinus und Föderalismus entspricht bis zu einem weitgehenden Masse der von Z e n t r a lismus und Partikularismus, nur dass in diesem B e g r i f f s p a a r noch viel mehr als iu jenem, über die staatsrechtlichen und politischen Verschiedenheiten hinaus, diejenigen der Stammeseigentümlichkeiten, der kulturellen Sonderbedürfnisse, die Ausprägung von geographischer und ethnographischer Eigenart und Selbstbehauptung znm Ausdrucke kommen. Z w a r kann politischer Partikularismus und föderalistische Tendenz zusammenfallen; aber jener braucht nicht im entferntesten reichsfeindlich, also in diesem F a l l e antiuuitarisch zn sein. Ein Partikularismus, dem es um j e n e L i e b e zur engeren Heimat und um Festhalten an deren Selbständigkeit zu tun ist, gelangt zu einem ausgeprägten Staatsbewusstsein, d a s sich keineswegs zu dem Streben nach einer starken R e i c h s g e w a l t feindlich verhält. Umgekehrt mag auch der Unitarismus, soweit er, nicht einseitig, überhaupt noch die bundesstaatliche Natur des Reichs aufrecht erhält und" nicht zum r e i n e n Einzelstaat übergeht, für ein Eigenleben der deutschen Stämme und Landschaften volles Verständnis zu 1) „Die Überschrift „Reich und Länder", letztere im Sinne von Einzelstaateri, bedeutet dm staatsrechtliche Feststellung, dass.daS durch diese Verfassung zu schaffende Staatengebilde k e i n e n E i n h e i t s s t a a t darstellt, sondern nach wie vor eine S t a a t e n v e i b in du n g , ein Staatensvstem Da^s die Herstellung des deutschen Einheitsstaates ein letztes politisches Ziel sei, wurde von mehrfacher Seite und bei verschiedenen Gelegenheiten zum Ausdruck gebracht. Dass aber gegenwärtis'. d. h. unter den gegebenen realpolitischen Verhältnissen, die Struktur der Staatenverbindung beibehalten werden müsse, war nicht Gegenstand einer Meinungsverschiedenheit. Welche rechtliche Natur hinwiederum diese Staatenverbindung an sich trage, war nicht Feststellungsaufgabe des Gesetzgebers. Es kann darüber keinZweifel sein: auch das n e u e R e i c h ist B u n d e s s t a a t " . (Abg. Dr. Kahl, StenBer. 1294 D, 1205 A.)

92

Zweiter Teil.

Das Recht der Verfassungsurkunde.

besitzen und kann zu entsprechender Freiheitsgewährung bereit sein1). III. Wieder eine andere Frage ist die der Z e n t r a l i s a t i o n und D e z e n t r a l i s a t i o n . Der bisherige deutsche Bundesstaat bat gezeigt, dass diese Staatenverbindung eine weitgehende Zentralisation keineswegs ausachloss2). Umgekehrt ist auch für den Einheitsstaat eine weitgehende Dezentralisation möglich und je nach den politischen Verhältnissen mehr oder minder dringend erforderlich. Es handelt sich für Deutschland um die Fortsetzung der vom Freiherrn von Stein begonnenen Reform der Selbstverwaltung bis zu weitgehender Selbständigkeit der Provinzen, Abbau der allzu straffen Staatsaufsicht gegenüber Gemeinden und Gemeindeverbänden, überhaupt um Verlegung der Entschliessungen, die eine örtliche Beurteilung erfordern oder zulassen, von dem Mittelpunkte des Staates, also vom grünen Tisch der zentralen Regierung, in die Peripherie. IV. Für alle diese Grundfragen entzündete sich der Meinungsstreit an dem grossen Problem des V e r h ä l t n i s s e s z w i s c h e n R e i c h u n d P r e u s s e n . Die Auffassung der dem vorläufigen Entwurf beigegebeneu Denkschrift und den einsetzenden politischen Kampf sowie den Entscbluss der Reichsregierung, im endgültigen Verfassungsentwurf einen Mittelweg zu finden, haben wir bereits kennen gelernt 8 ). Je naoh der Parteistellung ist dann in den weiteren Beratungen einerseits verlangt worden, dass Preussen im Reiche aufgeht, dass es nicht nur seine begemoniale Stellung, soweit sie noch besteht, aufgebe, sondern sich auch eine Aufteilung gefallen lasse, andererseits, dass Preussen als Grossstaat das Bollwerk 1) Dass Partikularismus und Unitarisinus nur relative Begriffe sind, bemerkt L u k a s , Die organisatorischen Grundgedanken der neuen Reichsverfassung, 1920 S. 7: „Je nach dem Standpunkte des Beschauers wird eine und dieselbe Gestaltung des Föderalismus in dem einen Falle als Erzeugnis unitarischen, in dem ande/en Falle als Erzeugnis partikularistischen Geistes gelten." 2) „Hätte das I^eich nicht alle die Befugnisse, die es gehabt hat, immer in so streng zentralistischem Sinne ausgeübt, hätte e» nicht immer versucht, da, wo es zuständig war, alles bis zur letzteu Beamtenstelle und bis zur letzten Lieferung eines Fuders Heu bis in die letzten Enden der deutschen Bundesstaaten selbst von Berlin aus zu regeln, hätte es auch da, wo es zuständig war, dezentralistisch gearbeitet, es wäre niemals zu dieser masslosen Erbitterung gegen Preussen und Berlin in den süddeutschen Staaten gekommen* (Abg. Koch-Cassel, StenBer. 394 A ) 3) Vgl. oben S. 29—51 und die Ausführungen desReichsminister» Dr. Preuss in der mündlichen Begründung des Entwurfs, StenBer. S. 284 C bis 285 289 C.

III. Abschnitt. Unitarismus, Föderalismus. Partikularismus usw.

93

für das Reich wie auch für die sonst vermeintlich haltlosen Einzelstaaten abgeben solle. Alle diese Erörterungen, Wünsche und Pläne waren teils grundsätzlicher Natur, teils schlössen sie sich an Erwägungen an, die angestellt werden mussten, um die konkrete Ausgestaltung des Zuständigkeitsbereichs des Reichs und seiner Länder abzugrenzen, bei der Einrichtung der obersten Reichsorgane sei es mehr unter Berücksichtigung des Gesamtstaates, sei es seiner Glieder, zu verfahren. Dabei führte die Behandlung der preussischen Frage, wenn sie nicht vom föderalistischen, sondern vom unitarischen Standpunkt vorgenommen wurde, gerade mit Rücksicht auf die Stärkung der Reichsgewalt bald zur Idee der unverminderten Erhaltung der territorialen und teilweise auch der politischen Macht des bisherigen grössten Einzelstaates, bald zur Förderung seines Aufgehens in Grossdeutschland1). Die in der Reichsverfassung erfolgte Lösung ist in drei Richtungen erfolgt: a) durch die Übertragung von Staafshoheitsrechten, die bisher von Preussen infolge der Personalunion des Königs und Kaisers tatsächlich von ihm besessen und ausgeübt worden waren, auf das Deusche Reich; b) durch die gleicbmässig, auch für alle andern Einzelstaaten durchgeführte Beschränkung der partikularen Staatsgewalten zugunsten der Reichsstaatsgewalt und, damit eng zusammenhängend, c) durch die Regelung der territorialen Verhältnisse bezw. die Möglichkeit der Gebietsänderungen s ). 1) Vgl. auch die Darlegungen in der zweiten Beratung in der Vollversammlung 1203 C, D; 1205 D, 1210 A. 1211 C, 1212 A,B, 1213 C,D; 1214 B, C; 1217 D, 1221 A, 1240 B, C, D; 1251 A bis D; 1243 B, C, D; 1244 B, 1246 C; für die dritte Beratung sind die Stellen oben Anin. 2, S. 73 angegeben. 2) Es muss freilich auch hier hervorgehoben werden, dasa die Ordnung in der Beichsverfassung keine endgültige ist. Die Ereignisse sind durchaus noch an Flusse und hierauf ist auch die Verfassungsbestimmung über die Zusammenlegung und Abtrennung von Gebietsteilen einzelner Länder zugeschnitten. Ausserdem wird es darauf ankommen, ob, wie sehr wahrscheinlich, die Dinge sich in der Richtung eines stärkeren Unitarismus entwickeln werden, wozu die einheitliche Gesetzgebung, die Sozialisierung, das Verkehrswesen, die auswärtige Politik und nicht zuletzt da# Finanz- und Steuerwesen drängen.

94

Zweiter Teil. Das Hecht der Verfassungsurkunde.

IV. Abschnitt.

Das geiteDde Verfassungsrecht über das Verhältnis das Reichs zu den Ländern. Das hierdurch gewonnene Gesamtbild stimmt mit der konkreten rechtlichen Fassung überein, die der Abschnitt „Reich und Länder" bietet, der das Verhältnis des Reichs zu den Einzelstaaten regelt. „Unitarische" und „föderative" Elemente sind in der Verfassung gemischt. I. D a s u n i t a r i s c h e E l e m e n t k o m m t z u m A u s d r u c k in d e r U n t e r o r d n u n g d e r L ä n d e r unter das Reich. Sie zeigt sich im folgenden:

1. In der Gesetzgebung: A. R e i c h s r e c h t b r i c h t L a n d r e c h t . (Art. 13 Abs. 1). *) „Landrecht" bedeutet hier nicht eine bestimmte Kodifikation, sondern Landesrecht, einzelstaatliches Recht. Das Rangverhältnis ist ohne Vorbehalt. „Das Reicbsrecht ist absolutes, nicht bloss subsidiäres gemeines Recht; es gilt nicht nur für den Fall, dass das Landesrecht keine abweichende Rechtsnorm aufgestellt hat, sondern es setzt sich in seinem Herrschaftsgebiete ganz an die Stelle des Landesrechts. Reichsrecht bricht Landrecht, heisst, dass, wenn in der Zwischenzeit die Länder auf einem von der Reichsgesetzgebung belegten Gebiete von der Verfassung abweichende Ordnungen getroffen haben sollten, sie diese nach Einführung der Reichsverfassung zu revidieren und mit dem Reichsverfassungsrechte insofern in Einklang zu setzen haben, als nicht die Reichsverfassung selbst bestimmte Vorbehalte zu ihren Gunsten macht. Die Verfassung ist Norm und Schranke für die Bildung des Landrechts" 2 ). Bestehen Zweifel oder Meinungsverschiedenheiten darüber, ob eine landesrechtliche Vorschrift mit dem Reichsrechte vereinbar ist, so kann die zuständige Reichs- oder Landeszentralbehörde nach näherer Vorschrift eines Reichsgesetzes die Entscheidung eines obersten Gerichtshofs des Reichs anrufen (Art. 13 Abs. 2) 3 ). Gemeint sind hier Fälle, 1) Dieser Grundsatz bildet eine notwendige Voraussetzung für das Bestehen einer über den Einzelstaaten stehenden Gesamtstaatsa'ewalt S hierüber L u k a s . Staatsrechtslehre und völkerrechtlicher Zwang, Festgabe für Güterbock 1910, S. 184 ff. 2* Abg. Dr.' Kahl, StenBer. S. 1207 A, B 3) Im Februar 1920 hat z.B. der hayr Landtag beschlossen, dass das Eheverbot der Lehrerin aufrecht zu erhalten sei. Das wider-

IV. Abschnitt. Verfassungsrecht ü. d.Verhältnisy. Reich U.Ländern. 95 in denen, ausserhalb des Rechtsstreits über ein konkretes Rechtsverhältnis zwischen bestimmten Privatparteien, Zweifel oder Meinungsverschiedenheiten u n t e r B e h ö r d e n darüber entstehen, ob eine landesrechtliche Vorschrift mit dem Reichsrechte vereinbar sei oder nicht 1 ). Die allgemein anerkannten Regeln des V ö l k e r r e c h t s gelten als bindende Bestandteile des deutschen Reichsrechts. Art. 4 ist eine Verbeugung vor dem Geiste der internationalrechtlichen Verständigung. Ob es überhaupt „allgemein anerkannte" Regeln des Völkerrechts gibt., haben Wissenschaft und Rechtsprechung festzustellen; jedenfalls ist es zur Zeit unsicher, was unter solchen zu verstehen ist. Ob der Völkerrechtssatz auf V e r t r a g oder G e w o h n h e i t s r e c h t beruht oder ein allgemein anerkannter G r u n d s a t z ist, ist einerlei. Die allgemeine Anerkennung einer Völkerrechtsregel bedeutet aber nicht, dass ausnahmslos jeder Staat der Welt ihn anerkannt haben müsse, sondern dass er entweder durch die überwiegende Mehrheit aller Kulturstaaten vertraglich festgesetzt oder als Gewohnheitsrecht oder „Grundsatz" anzusehen ist. Deshalb war die Erklärung des Reichsminister» Dr. David unrichtig: wenn das deutsche Volk eine Völkerrechtsregel nicht anerkenne, dann sei sie nicht a l l g e m e i n anerkannt, die Entscheidung liege beim deutschen Volke 8 ). spricht Art. 128 Abs. 2 RV., wonach alle Ausnahmebestimmungen gegen weibliche Beamte beseitigt werden. Es müßte Art. 13 Abs. 2 RV. ztfr Anwendung 1 kommen. 1) Eine Entscheidung: in solchen Fällen herbeizuführen, war bisher nur auf dem Umwege möglich, das streitig gewordene Rangverhältnis beider Rechtsquellen gewi.ssermassen durch eine künstliche Operation auf den Prozessweg hiniiberzuschieben. Dies ist in einem berühmt gewordenen Falle über die Gültigkeit einer Lübecker Streikverordiinng zu dem Erfolge gediehen, dass zuletzt das Reichsgericht diese Verordnung als nicht vereinbar mit dem Reichsrechte, bezeichnete Für solche Fälle soll iu Zukunft eine unmittelbare Entscheidung ermöglicht werden Über die gesamte Rechtslage und Bedürfnisfrage. ist unter Nr. 115 der Drucksachen' des Verfassungsausschusses eine orientierende Denkschrift desReichsmimste.rs des Innern vom 2. April 1919 vorgelegt worden. Die Frage hat auch den Verfasstmgsaussctiuss eingehend beschäftigt. Vgl. Deutscher Geschichtskalender, Die deutsche Reichsverfassung 3. Heft, Die Beratungen im Aus*chuss S 146 f , 15T f. Wenn ein P a r t e i e n s t r e i t über rlieFrage entsteht, ob eine landesrechtlicheVorSchrift mit dem Reichsrechte verein nar ist, so entscheidet der Prozessrichter Daran ist durch Art 13 Abs. 2 nichts geändert, es soll nicht in die Unabhängigkeit und ¡Selbständigkeit der Gerichte eingegr fien werden. Kahl a. a. O 2) Beratungen im Ausschluss S 144. Im übrigen liegt dasVorbild für Art. 4 im Art. 6 der Verfassung der Vereinigten Staaten von Nordamerika vor, nach dem die von der Union geschlossenen-

96

Zweiter Teil. Das Recht der Verfassungsurkunde.

Man hat Bedenken gegen Art. 4 gefunden, weil durch ihn das Völkerrecht als zwischenstaatliches Recht unmittelbar den ß a n g von innerstaatlichem Recht erhalten würde, während bisher die Verbindlichkeit des Völkerrechts für die Staatsangehörigen nur auf Akten der eigenen Staatsgesetzgebung beruhte. Während das letztere nicht ganz richtig ist, bleibt zu beachten, dass Völkerrecht dem Reichsrecht n i c h t vorgeht. Die Aufnahme des Artikels geschah schliesslich nach eingehender Begründung auf den ausdrücklichen Wunsch des Auswärtigen Amtes und des Reichsjustizamtes. Man legte in diesen beiden Reichsbehörden grosses Gewicht auf die Rückkehr zur ursprünglichen, in der angloamerikanischen Rechtssprechung Verträge, zusammen mit der Verfassung und den Bundesgesetzen, das höchste Gesetz des Landes bilden. „Diese Norm wurzelt in der Rechtsüberzeugung, dass das Völkerrecht einen Teil des Landesrechts ausmacht und daher die Einzelnen unmittelbar berechtigt und verpflichtet. Diese Auffassung war früher in der angelsächsischen Welt herrschend, wurde aber allmählich eingeschränkt und ist besonders in England verlassen worden, das sich der kontinentalen Meinung wesentlich genähert hat." Diese hat in Deutschland unter Führung von T r i e p e 1 (Völkerrecht und Landesrecht 1899) ihre theoretische Begründung erfahren. Danach sind Völkerrecht und Landesrecht zwei völlig getrennte Rechtskreise. Das Völkerrecht wendet sich nur an die Staaten als solche, während der Einzelne Ausschliesslich dem Staate und seinen Normen unterworfen ist. Ein völkerrechtlicher Satz müsse daher, um Behörden und Bürger zu berechtigen und zu verpflichten, vorerst in Landesrecht umgewandelt, in staatsrechtliche Formen umgegossen werden. Diese Ansicht vertrat auch das Reichsgericht und das Reichsmilitärgericht, v. V e rd r o s s , Reichsrecht und internationales Recht. Eine Lanze für Art. 3 des Regierungsentwurfs der deutschen Verfassung, DJZ. 1919 S. 291 machte darauf aufmerksam, dass die behauptete völlig« Scheidung von nationalem und internationalem Recht sich als widerspruchsvoll erWeist, wenn ihr von derselben Theorie der Satz gegenübergestellt wird, dass zum Zustandekommen einer völkerrechtlichen Norm die A n e r k e n n u n g durch die betroffenen Staaten erforderlich ist. Denn unter dieser Voraussetzung gibt es überhaupt keine völkerrechtliche Regel, die nicht in einer staatsrechtlichen Form in die Erscheinung getreten ist, da die s t a a t l i c h e Anerkennung doch nur in staatsrechtlicher Form erfolgen kann, mag diese, nun Staatsvertrag oder Gewohnheitsrecht sein. Bei einem Widerstreit zwischen staatlich anerkanntem Völkerrecht und Gesetzesrecht handelt es sich daher in Wahrheit nicht um einen Widersprach zwischen zwei getrennten Rechtskreisen, sondern um einen solchen zwischen verschiedenen Willenserklärungen desselben Staates. Diese Auffassung geht m. E. insofern fehl, als „allgemein* anerkanntes Völkerrecht nicht von j e d e m Staat anerkannt zu sein •braucht, wie auch der Text oben S. 95 angibt. Nicht verwertbar ist hier auch der an sich richtige Satz, dass im parlamentarischen Volksstaate ein Auseinanderhalten von Vertragsrecht und Gesetzesrecht unhaltbar sei. Vgl. auch M e t t g e n b e r g , Die deutsche Auffassung vom Völkerrecht in der Reichsverfassung, Leipz.-Z. 1919 S. 963.

IV. Abschnitt. D.Verfass.-Recbt ü. d.Verhältn. d.Reichs z. d.Ländern 97

ond Staatenpraxis seit langem geltenden Bestimmung 1 ). Man glaubte, das verfassungsmässige Bekenntnis zum Werte und zur Geltung des Völkerrechts entziehe den Gegnern die Verdächtigung, als ob es in Deutschland weniger gelte als im angloamerikanischen Rechtsgebiet 2 ). B. D a s R e i c h k a n n im W e g e d e r V e j f a s s u n g s ä n d e r u n g e i n s e i t i g , a u c h g e g e n den W i l l e n d e s bet r o f f e n e n L a n d e s , Uber d e s s e n B e s t a n d v e r f ü g e n 3 ) . Ohne Verfassungsänderung hat das Reich die Existenz der Länder zur einseitigen Verfügung, w e n n d a s G e b i e t des betreffenden Landes einem" anderen Lande a n g e g l i e d e r t oder zur Neubildung von Ländern verwendet w e r d e n soll. (Art. 18) 4 ). Bei Abschluss eines F r i e d e n s v e r t r a g e s kann das Reich völkerrechtlich durch Staatsvertrag, staatsrechtlich auf Grund einfachen Reichsgesetzes den Bestand eines Landes auch o h n e dessen Zustimmung durch Abtretung seines Gebiets an das Ausland vernichten 9 ). C. D a s R e i c h b e s t i m m t d e n C h a r a k t e r j e d e r e i n z e l s t a a t l i c h e n V e r f a s s u n g 9 ) . Art. 17 verlangt, dass jedes Land eine r e p u b l i k a n i s c h e Verfassung habe. Es darf seine eigene Staatsform nicht abweichend bestimmen. Unter den Begriff der „freistaatlichen Verfassung" fällt nicht die „Räterepublik" 7 ). Die Volksvertretung jedes Landes muss in allgemeiner, gleicher, unmittelbarer und geheimer Wahl von allen reichsdeutschen Männern und Frauen nach den Grundsätzen der Verhältniswahl gewählt werden. „Arbeiterand Bauernräte" sind also keine Volksvertretung. Für das aktive Wahlrecht ist hier keine Altersgrenze angegeben. Sodann muss jedes Land auqh eine p a r l a m e n t a r i s c h e Reg i e r u n g s w e i s e haben. Dies wird durch die Worte ausgedrückt : Die Landesregierung bedarf des Vertrauens der Volks1) Dass der Grundsatz in Nordamerika eingeschränkt, in England verlassen ist, scheint man nicht gewusst haben. S. oben ß. 95 Anm. 2. 2) StenBer. 1207, C, D. Aber dort gilt ea gar nicht mehr oder nur begrenzt! 3) L u k a s , Die organisatorischen Grundgedanken usw. S. 8; G i e s e RVS S. 65; für das bisherige Deutsche Reich Mever-Ane c h ü t z , LehrbuchS. 242, 693 f: L a b a n d , Reichsstaatsrecht I (1911) S. 200 f. für den Fall des Friedensvertrages. 4) Art. 18 Abs. 2> L u k a s a. a. 0. S. 9. 5) a. a. 0., wo auch S. 10 weitere Fälle einseitiger Verfügung über die Länder durch das Reich bezeichnet werden. 6) In der bisherigen RV. war dies grundsätzlich ausgeschlossen; Ausnahmen bei T r i e p e l , Reichsaufsicht 1917 S. 359, 365 ff., 454 ff.; auch G m e l i n , Z. f. Politik Bd. 11 S. 302. 7) StenBer. 1255 D, 1255 A, C; 1255 C. S i i e r - 8 o m l ® , RaiahaverfaSBung. S. A u f l . 1

98

Zweiter Teil.

Das Recht der Verfassungsurkunde.

Vertretung (Art. 17 Abs. 1 Satz 3). Ferner gelten die Grundsätze für die Wahlen zur Volksvertretung auch für die Gem e i n d e w a h l e n , jedoch kann durch Landesgesetz die Wahlberechtigung von der Dauer des Aufenthaltes in der Gemeinde bis zu einem Jahre abhängig gemacht werden (Art. 17 Abs. 2)'). Durch die im Zweiten Hauptteil erfolgte Aufnahme von „Grundrechten und Grundpflichten der Deutschen" in die Reichsverfassung werden solche, soweit sie in den einzelstaatlichen Verfassungen schon vorhanden gewesen sind, gegenstandslos; soweit sie noch nicht vorhanden gewesen sind, Bestandteile der Landesverfassungen; die niedergelegten Grundsätze und aufgestellten Schranken sind auch für die Landesgesetzgebung und Landesverwaltung unbedingt massgebend. Wenn n a c h Inkrafttreten der neuen Reichsverfassung einzelne Landesverfassungen ebenfalls zur Aufstellung von Grundrechten und Grundpflichten schreiten sollten, so ist der Satz wirksam, dass Reichsrecht Landrecht bricht; es sind auch die Vorschriften des Art. 12 Abs. 2 und 13 Abs. 2 anwendbar, d. h. es kann die Reichsregierung gegen sozialisierende Landesgesetze, sofern dadurch das Wohl der Gesamtheit im Reich berührt wird, Einspruch erheben oder die Vereinbarkeit mit dem Reichsrecht durch Entscheidung eines obersten Reichsgerichtshofs feststellen lassen.

D. Das Reich kann die Sphäre seiner Wirksamkeit durch v e r f a s s u n g ä n d e r n d e s G e s e t z zu Ungunsten der Länder erweitern (Art. 7ö)8). E. Das Reich hat das G e s e t z g e b u n g s r e c h t und zwar in verschiedener Stärke: a) a u s s c h l i e s s l i c h (d.h. die Länder sind n i c h t z u s t ä n d i g ) und u n b e d i n g t in bestimmten Angelegenheiten 3 ). Durch die ausschliessliche Gesetzgebungsgewalt des Reich» soll aber die Möglichkeit der Delegation, d. h. der Übertragung 'tand Überlassung solcher Gebiete an die Landesgesetzgebung im Einzelfalle n i c h t aufgehoben sein 4 ); 1) Bedenken gegen diese Bestimmung f. besonder» StenBer. S. 1255 ff. 2) S. oben S. 85 und unten S. 152 f. 3) Es sind dies nach Art. 6 die Beziehungen zum Ausland; das Kolonialwesen, die Staatsangehörigkeit, die Freizügigkeit, die Ein- und Auswanderung und die Auslieferung, die Wehrverfassung, das Münzwesen, das Zollwesen sowie die Einheit des Zoll- und Handelsgebiets und die Freizügigkeit des Warenverkehrs, das PostUnd Telegraphenwesen einschliesslich des Fernsprechwesens. Dass auf diesen" Gebieten die Länder kein Recht zur Gesetzgebung^ laben, spricht Art. 12 Abs. 1 Satz 2 ausdrücklich aus. 4) StenBer. S. 1206 C.

IV. Abschnitt. D.Verfass.-Reclit ü.d.Verhältn. d.Reichs z.d.Ländern. 99 b) mit V o r r a n g in gewissen Rechtsstoffen 1 ). Die Länder behalten in diesen Materien das Recht der Gesetzgebung so lange und soweit das Reich nicht von ihm Gebrauch gemacht hat (Art. 12 .A.bs. 1 Satz 1). E s ist das die sogenannte konkurrierende Gesetzgebung*); c) b e d i n g t ; soweit ein Bedürfnis für den Erlass e i n h e i t l i c h e r Vorschriften vorhanden ist, hat das Reich die G e s e t z g e b u n g über die Wohlfahrtspflege und den Schutz der. öffentlichen Ordnung und Sicherheit. Diese beiden Gegenstände sind eben in der Regel Sache der Landesgesetzgebung. (Art. 9 ; sogenannte B e d a r f s g e s e t z g e b u n g ) ; d) das Reich kann G r u n d s ä t z e im W e g e der Gesetzgebung aufstellen für: die Rechte und Pflichten der 1) Es sind dies nach Art. 7: das bürgerliche Recht, das Strafrecht, das gerichtliche Verfahren einschliesslich des Strafvollzugs sowie die Amtshilfe zwischen Behörden, das Passwesen und dieFremdenpolizei; das Armenwesen und die Wandererfürsorge, das Presse-, Vereins- und Versamnalungswesen, die Bevölkerungspolitik, die Mutterschafts-, Säuglings-, Kinder- und Jugendfürsorge, das Gesundheitswesen, das Veterinärwesen und der Schutz der Pflanzen gegen Krankheiten und Schädlinge, das .Arbeitsrecht, die Versicherung u n d der Schutz der Arbeiter und Angestellten sowie der Arbeitsnachweis, die Einrichtung beruflicher Vertretungen f ü r das Reichßgebiet, die Fürsorge für die Kriegsteilnehmer und ihre Hinterbliebenen, das Enteignungsrecht; der Handel, das Mass- und Gewichtswesen, die Ausgabe von Papiergeld, das Bankwesen sowie das Börsenwesen, der Verkehr mit Nahrungs- und Genussmitteln sowie mit Gegenständen des täglichen Bedarfs, das Gewerbe und der Bergbau, das Versicherungswesen, die Seeschiffahrt, die Hochsee- u n d Küstenfischerei, die Eisenbahnen, die Binnenschiffahrt, der Verkehr mit Kraftfahrzeugen zu Lande, zu Wasser und in der Luft sowie der Bau von Landstrassen, soweit es sich um den allgemeinen Verkehr und die Landesverteidigung handelt, das Theater- und Lichtspielwesen, die Vergesellschaftung von Naturschätzen und wirtschaftlichen Unternehmungen, sowie die Erzeugung, Herstellung, Verteilung und Preisgestaltung wirtschaftlicher Güter f ü r die Gemeinschaft. In letzter Beziehung, also soweit es sich um die S o z i a l i s i e r u n g handelt, steht der Reichsregierung, falls sich Landesgesetze hierauf bezieben, und insofern dadurch das Wohl der Gesamtheit im Reich berührt wird, ein Einspruchsrecht zu (Art. 12 Abs. 2). £ s fehlt zwar eine Bestimmung darüber, welche Instanz zu entscheiden soll, sobald dieser Einspruch erhoben ist. Es ist aber anzunehmen, dass die R e i c h s r e g i e r u n g —unter Kontrolle des Reichstags — entscheidet, also nicht etwa ein Gericht, z. B. haben darüber, ob die Volkse r n ä h r u n g durch die Massnahmen einer einzelstaatlicben Sozialisierung' gefährdet wird, das letzte Wort Reichsregierung u n d Reichstag zu sprechen, da es sich um eine tatsächliche und politische, nicht eine Rechtsfrage handelt. Stenßer. S. 1252 B bis 1254 A. 2) Vgl. hierüber J a c o b i , Einheitsstaat und Bundesstaat. 1919 S. 9; G i e s e , RV., Anm. 1 zu Art. 7.

100

Zweiter Teil. Das Recht der Verfassungsurkunde.

Religionsgesellschaften 1 ), das Schulwesen*) einschliesslich des Hochschulwesens nnd des wissenschaftlichen Büchereiwesens, das Recht der Beamten aller öffentlichen Körperschaften s ), das Bodenrecht 4 ), die Bodenverteilung, das Ansiedlungs- und Heimstättenwesen, die Bindung des Grundbesitzes, das Wohnungswesen und die Bevölkerungsverteilung, das Bestattungswesen (A.rt. 10, vgl. auch Art. 146 Abs. 2 Satz 3). Die Bedeutung der erstbezeichneten Vorschrift liegt darin, dass die Landesgesetzgebung und das Landesverordnungsrecht ebenso wie die Praxis der Landesverwaltung sich nach diesen Grundsätzen richten müssen; e) das F i n a n z w e s e n berühren drei besondere Reichskompetenzen: aa) das Reich hat die G e s e t z g e b u n g über die Abgaben und sonstigen Einnahmen, soweit sie ganz oder teilweise für seine Zwecke in 'Anspruch genommen werden. Nimmt das Reich Abgaben oder sonstige Einnahmen in Anspruch, die bisher den Ländern zustanden, so hat es auf die Erhaltung der Lebensfähigkeit de; Länder Rücksicht zu nehmen (Art. 8). Diese Vorschrift begründete auch die Zulässigkeit der R e i c h s e i n k o m m e n s t e u e r , die durch Gesetz vom 29. März 1920 eingeführt wurde. Zu beachten bleibt auch Art. 169 Abs. 2, wonach für eine angemessene Ubergangszeit die Erhebung und Verwaltung der Zölle und Verbrauchssteuern den Ländern vom Reich auf ihren Wunsch belassen werden kann; bb) das Reich kann im Wege der Gesetzgebung Grunds ä t z e über die Zulässigkeit und Erhebungsart von L a n d e s a b g a b e n aufstellen, saweit sie erforderlich sind, um Schädigung der Einnahmen oder der Handelsbeziehungen des Reiches, Doppelbesteuerungen, übermässige oder verkehrshindernde Belastung der Benutzung öffentlicher Verkehrswege und Einrichtungen mit Gebühren, steuerliche Benachteiligungen eingeführter Waren gegenüber den eigenen Erzeugnissen im Terkehre zwischen den einzelnen Ländern und Landesteilen oder Ausfuhrprämien auszuschliessen oder wichtige Gesellschaftsinteressen zu wahren (Art. 11); 1) Im Falle des Art. 138 Abs. 1 ist sogar eine Verpflichtung des Reichsgesetzgebers festgelegt. 2) Auch Art. 146 Abs. 2 zeigt eine Verpflichtung des Reichsgesetzgebers. 3) Tgl. Art. 128 Abs. 3. 4) Die Regelung der privatrechtlichen Verhältnisse des Grund und Bodens T'ird durch Art. Z Nr. 1 festgestellt; hier handelt es sich um die öi»entlichrechtlichen Verhältnisse. L u k a s a. a. 0. S. 1fr; Gies«, RT., Anm. l l . a u Art. 10.

IV.Abschnitt. D.Verfass.-Rechtü. d.Yerhältn. d.Reichsz. d. Ländern. 101

cc) das Reich trifft durch G e s e t z die Vorschriften Aber die Einrichtung der A b g a b e v e r w a l t u n g der Länder, soweit es die einheitliche und gleichmässige Durchführung der Reichsabgabengesetze erfordert, die Einrichtung und Befugnisse der mit der Beaufsichtigung der Ausführung der Reichsabgabengesetze betrauten Behörden, die Abrechnung mit den Ländern, die Vergütung der Verwaltungskosten bei Ausführung der Reichsabgabengesetze (Art. 84) 2. Das unitarische Element zeigt sich ferner in der Reichsanfsicht *). Die Reichsaufsicht wird durch die Reichsregierung in d e n Angelegenheiten ausgeübt, in denen dem Reich das Gesetzgebungsrecht zusteht (Art. 15 Abs. 1). Das bedeutet, dass die Reichsaufsicht sich nicht bloss auf denjenigen Gebieten, betätigen kann, die bereits durch die Reichsgesetzgebung geregelt sind, sondern unbeschränkt in allen Angelegenheiten, in denen dem Reich das Recht der Gesetzgebung zusteht, also vorwiegend auch dann schon, wenn von dieser Zuständigkeit vom Reich noch kein Gebrauch gemacht worden ist 8 ). Die M i t t e l der Reichsaufsieht sind: a) Erlass a l l g e m e i n e r Anweisungen an die Landesbehörden zur Ausführung der Reichsgesetze. Art. 15 Abs. 2, Satz 1. Die allgemeinen Ausführungsvorschriften der Reichsregierung sind auch für die einzelnen Landesbehörden unmittelbar verbindlich. Aber Anweisungen im E i n z e l f a l l e 4 ) können an die mittleren und unteren Landesbehörden nicht erlassen werden, denn sonst könnten sie widersprechende Anweisungen von zwei Seiten erhalten. Ausserdem würde dadurch die Landeszentralbehörde die nötige Autorität verlieren; sie würde als die untergebene Behörde gegenüber der Reichsregierung erscheinen. 1) Trotz Art. 83 und 84 ist die Einführung1 der reichseigenen Steuerverwaltung für alle Reichssteuern ohne Verfassungsänderung zulässig. Die Vorschrift des Art. 84 verliert ihre Bedeutung dadurch, dass die Verwaltung a l l e r Reichsabgaben auf das Reich übergeht. Vgl. Gesetz über die Reichsfinanzverwaltung vom 10. September 1919, außer Kraft gesetzt durch § 444 der Reichsabgabenordnung vom 13. Dezember 1919 (RGBl. S. 1993) mit Ausnahme des § 46; s.1 noch §§ 8 -46 der Reichsabgabenordnung über die Behörden; Erich K a u f m a n n , JW. 1919 S. 901 ff. und „Recht, und Wirtschaft", Dezemberheft 1919. 2) Das Hauptwerk über diese Einrichtung für das bisherige Recht ist von T r i e p e 1, Die Reichsaufsicht, 1917. 3) Abg. Dr. Kahl, StenBer. 1218 A. 4) Nach bisherigem Reichsstaatsrecht waren sie in erster Reihe an die Regierungen der Einzelstaaten zu richten, die dann ihre Landesbehörden anwiesen. L a b a n d , Staatsrecht des Deutschen Reichs, 5. Aufl. Bd. 2 S. 207.

102

Zweiter Teil.

Das Recht der Verfassungsurkuade.

b) Die Reichsaufsicht erfolgt ferner durch Ü b e r w a c h u n g der A u s f ü h r u n g der R e i c h s g e s e t z e mittels E n t s e n d u n g von B e a u f t r a g t e n zu den Landeszentralbehörden und, mit i h r e r Zustimmung, zu den unteren Behörden (Art. 15 Abs. 2 Satz 2) In letzterem Falle wird auch das Recht anzunehmen sein, Akten der Landesbehörde einzusehen nnd unter Vermittlung der Landeszentralbehörden Zeugen und Sachverständige zu vernehmen, obwohl dies nicht ausdrücklich vorgeschrieben ist. Die Entsendung wird freilich auch möglichst nach vorherigem Einvernehmen mit der Landeszentralbehörde geschehen müssen, um Kollisionen zu vermeiden. c) E r s u c h e n um B e s e i t i g u n g der bei Ausführung der Reichsgesetze hervorgetretenen Mängel. Bei Meinungsverschiedenheiten kann sowohl die Reichsregierung als auch die Landesregierung die Entscheidung des Staatsgerichtshof» anrufen, falls nicht durch Reichsgesetz ein anderes bestimmt ist (Art. 15 Abs. 3). d) Die Gesetzgebung auf den Gebieten - der F i n a n z a u f s i c h t , wie sie in Art. 84 vorgesehen ist, greift dem Art. 15 über die Reichsaufsicht in keiner Weise vor, Iässt vielmehr der Gesetzgebung über die Finanzaufsicht hinsichtlich der Organisation und der Befugnisse völlig freie Hand, auch über die Beschränkungen des Art. 15 hinaus-). 3. In der Ter waltung zeigt sich das unitarische Element: a) Die a u s w ä r t i g e Verwaltung 8 ) und R e i c h s v e r 1) Ausnahmsweise bestand schon (nach Art. 36 Abs. 2 und 3 der bisherigen Reichs Verfassung') eine solche Befugnis des Reichs, nach T r i e p e l , Reichsaufsicht, 1917, S. 574f. sogar eine allgemeine Zulässigkeit. Doch ist das bestreitbar. 2) Äusserung des RegierungsVertreters, Geheimrat Carl, Beschlüsse des Ausschusses S. 159. 3) Art. 78 Abs. 1. Eine Ausnahme betrifft Verwaltungsverträge des Grenzverkehrs, um Grenzangelegenheiten zu regeln, di* in keiner Weise in die Politik eingreifen. (StenBer. S. 286 D). Vereinbarungen mit fremden Staaten übej* Veränderung der Reichsgrenzen werden nach Zustimmung des beteiligten Landes durch das Reich abgeschlossen. Die Grenzveränderungen dürfen nur auf Grund eines Reichsgesetzes erfolgen, soweit es sich um blosse Berichtigung der Grenzen unbewohnter Gebietsteile handelt (Art. 78 Abs. 3). Bedenklicher ist schon, dass in Angelegenheiten, deren Regelung der Landesgesetzgebung zusteht, die Länder mit auswärtigen Staaten Verträge schliessen können. Einerseits ist aber die Zuständigkeit der Länder, in Bezug auf die Gesetzgebung eng gezogen, andererseits bedürfen solche Verträge der Zustimmung des Reichs. (Art. 78 Abs. 2). Einzelne Länder haben b e s o n d e r e wirtschaftliche und aus der Nachbarschaft zum Ausland sich ergebende Interessen. Um diese zu vertreten, trifft das Reich im Einvernehmen mit den beteiligten Ländern die erforderlichen Einrichtungen und Massnahmen

IV.Abschnitt. D. Verfass.-Recht ü. d.Verhältn.d. Reichs z. d. Ländern. 103 t e i d i g u n g 1 ) ist Sache des Reichs. Weggefallen sind die sämtlichen Reservatrechte auf dem Gebiete des Heerwesens*). Es gibt nur noch ein e i n h e i t l i c h e s R e i c h e h e e r , keine Bundeskontingente. Die Bestimmungen des Versailler Vertrags vom 23. November 1870 sind beseitigt. Neben dem Reichakriegeinimsterium ist kein Kriegsministerium der Länder mehr (Art. 78 Abs. 4). Auch das Einspruchsrecht des Reichs gegen die Sozialisierung und gemeinwirtschaftliche Gesetzgebung der Länder (Art. 12 Abs. 2) bedeutet eine Erweiterung der Reichszuständigkeit. L u k a s , a. a. 0. S. 15. Das G e s a n d s c h a f t s r e c h t gegenüber dem Auslande besitzt nur das Reich. Das Gesandschaftsrecht d e r L ä n d e r u n t e r e i n a n d e r ist nicht berührt worden, doch werden sie wohl auf ihre Gesandschaften innerhalb Deutschlands verzichten. Vgl. auch Friedrich Z a h n , Bayern und die Reichseinheit, 1919, Folgerungen für die Reichseinheit auf föderativer Grundlage, daselbst S. 74 ff. 1) Art.79 Satz 1 und 2. Die Wehrverfassung des deutschen Volkes wird unter Berücksichtigung- der besonderen landsmannschaftlichen Eigenarten durch ein Reichsgesetz einheitlich geregelt. Es regelt die Gliederung der Reichswehr nnd die Befehlsverhältnisse, ferner das Dienstverhältnis zwischen den Reichswehrmitgliedern und dem Reich. Ferner werden die Rechte und Pflichten der Angehörigen der Reichswehr festgesetzt. Der Aufbau der Bestimmungen i^t auf Grund des Friedensvertrags erfolgt. Es sind 7 Infanterie- und 3 Reiterdivisionen vorgesehen. Vgl. oben S. 70 Anm. 3 und unten S. 111. 2) Der endgültige Entwurf hatte im Art. 5 Abs. 3 bestimmt: „Durch dieses Gesetz sollen den obersten Kommandostellen in den einzelnen Gliedstaaten und Landesteilen selbständige, auf die Pflege der besonderen Stammestüchtig-keit und landsmannsch&ftlichcn Eigenarten gerichtete V e r w a l t u n g s b e f u g n i s s e eingeräumt werden, deren Ausübung der Aufsicht desReiches unterliegt". Gestützt auf die bisherigen Reservatrochte sollten die Einzelstaats-Kriegsministerien, also die Kriegsverwaltungen, aufrecht erhalten bleiben. Abg. 4 bestimmte: „Soweit nach den bisherigen Verfassungsgrundlagen selbständige Landesmilitärverwaltungen bestanden haben, dürfen die betreffenden Staaten in ihren hieraus sich ergebenden Sonderrechten ohne ihre Zustimmung nicht beschränkt werden. Die hiernae'h fortbestehenden Landesverwaltungen bleiben jedoch dem Reiche gegenüber unmittelbar verantwortlich. Die Sonderrechte Bayerns auf dem Gebiet« des Heer wesens" aus dem Bündnisvertrage vom November 1870 (RGBl. 1871-S. 9) können nur mit seiner Zustimmung aufgehoben oder eingeschränkt werden, jedoch wird Bayern die Verwendung der ihm zugewiesenen Reichsmittel dem Reiche gegenüber nachweisen". Hiergegen s.StenBer. S. 287A, 394C, 397B, 463C,D. Abgemildert hiess es noch in der Fassung des Ausschusses Art. 79 Abs. 2: „Die Verwaltung führt der Reichswehrminister. Den obersten Komm andostellen in den einzelnen Ländern und Landesteilen sollen selbständige, auf die Pflege der besonderen Stammestüchtigkeit und landsmannschaftlichen Eigenarten gerichtete Verwaltungsbefugnisse eingeräumt werden, deren Ausübung der Aufsicht des Reiches unterliegt". In der zweiten Beratung des Reichstages ist in der Vollversammlung statt „Kommandostellen" Befehlsstellen* gesetzt worden, in der dritten Beratung ist aber all dies fortgefallen.

104

Zweiter Teil.

Da« Recht der Verfassungsurkunde.

•orhanden. Das gesamte Heerwesen ist dem Reiche unterstellt1).. Auch das K o l o n i a l w e s e n * ) ist Sache des Reichs. b) Alle deutschen Kauffahrteischiffe bilden eine einheitliche H a n d e l s f l o t t e 8 ) . c) Deutschland bildet ein Zoll- und Handelsgebiet, umgeben ron einer gemeinschaftlichen Zollgrenze. Diese fällt zusammen mit der Grenze gegen das Ausland. An der See bildet das Gestade des Festlandes und der zum Reichsgebiet gehörigen Inseln die Zollgrenze. Für deren Lauf an der See und an anderen Gewässern können Abweichungen bestimmt werden. Fremde Staatsgebiete oder Gebietsteile können durch Staatsverträge oder Übereinkommen dem Zollgebiet angeschlossen werden. Nach besonderem Erfordernis können aus diesem Teile ausgeschlossen werden. Für Freihäfen kann der Ausschluss nur durch ein verfassungänderndes Gesetz aufgehoben werden. Zollanschlüsse können durch Staatsverträge oder Ubereinkommen einem fremden Zollgebiet angeschlossen werden. Alle Erzeugnisse der Natur sowie des Gewerbe- und Kunstfleisses, die sich im freien Verkehre des Reichs befinden, dürfen über die Grenzen der Länder und Gemeinden ein-, ausund durchgeführt werden. Ausnahmen sind auf Grund eines Reichsgesetzes zulässig 4 ). Die Zölle und Verbrauchssteuern werden durch Reichsbehörden verwaltet. Bei der Verwaltung von Reichsabgaben durch Reichsbehörden sind Einrichtungen vorzusehen, die den Ländern die Wahrung besonderer Landesinteressen auf dem Gebiete der Landwirtschaft, des Handels, des Gewerbes und der Industrie ermöglichen6)., 1) Vgl. unten S. 111 f. Zu beachten ist die Verordnung betr. Übertragung von Befugnissen, die dem Kaiser und König von Preussea als Kontingentsberrn zustanden, vom 1. Februar 1919t (RGBl. S. 173), und die Verordnung betr. die Übertragung des Oberbefehls über die Wehrmacht des Deutschen Reichs auf den Reichswehrminister vom 20. August 1919 (RGBl. S. 1475). Eine Ausnahme von dem Grundsatz, dass die Heeresverwaltung ausschliesslich "Reichssache ist, bedeutet Art. 48 Abs. 4, der bei Gefahr im Verzug den Landesregierungen die Befugnis zu einstweiliger Verfügung über die bewaffnete Macht zum Zwecke der Wiederherstellung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung gibt. 2) Art. 80. Das Konsulats wesen in d e n E i n z e l S t a a t e n ist „ein Luxus, der schon wegen der Kosten verschwinden muss." Abg. Koch-Calssel im Ausschuss, Beratungen S. 146. 3) Art. 81. Die Handelsflagge ist schwarz-weiss-rot mit den Reichsfarben in der oberen inneren Ecke. Art. 3 Satz 2. 4) Art. 82. 6) Art. 83. Jedoch wird der Zeitpunkt des Inkrafttretens der Bestimmung erst durch die Reichsregierung festgesetzt (Art. 169 Ab s. 2). Vgl. Gesetz über den Eintritt der Freistaaten Bayern, Württemberg und Baden in die Biersteuergemeinschaft v. 24. Juni «nd 5- Juli 1919 (RGBl. S. 345, 599, 601, 635).

IV. Abschnitt. D. Verf ass.-Recht ü. d. Yerhältn. d.Reichs z. d. Ländern 105 d) Das P o s t - und T e l e g r a p h e n w e s e n samt dem Fernsprechwesen ist ausschliesslich Sache des Reichs. Die Postwertzeichen sind für das ganze Reich einheitlich 1 ). Die Post- und Telegraphenverwaltungen Bayerns und Württembergs gehen spätestens am 1. April 1921 auf das Reich über 2 ). e) Für das E i s e n b a h n w e s e n und dem W a s s e r s t r a s s e n v e r k e h r i s t Reichsverwaltung in Aussicht genommen s ). 4. Auch i n der Rechtspflege kommt das unitarische Element zur Geltung: a) Es sind nicht nur die Bestimmungen über die Unabhängigkeit der Richter, die lebenslängliche Ernennung der Richter der ordentlichen Gerichtsbarkeit für die Länder massgebend 4 ), sondern auch die bisher einzelstaatlich geltenden Sätze: „Ausnahmegerichte sind unstatthaft. Niemand darf seinem gesetzlichen Richter entzogen werden". Die gesetzlichen Bestimmungen über Kriegsgerichte und Standgerichte werden hiervon nicht berührt. Die militärischen Ehrengerichte sind aufgehoben 5 ). b) Aufzuheben ist die M i l i t ä r g e r i c h t s b a r k e i t , ausser für Kriegszeiten und an Bord der Kriegsschiffe 6 ). c) Im Reiche und in den Ländern müssen nach Massgabe der Gesetze V e r w a l t u n g s g e r i c h t e bestehen zum Schutze der Einzelnen gegen Anordnungen und Verfügungen der Verwaltungsbehörden 7 ). 1) Art. 88 Abs. 1 und 2. 2) Soweit bis zum 1. Oktober 1920 noch keine Verständigung über die Bedingungen der Übernahme erzielt ist, entscheidet der Staatsgerichtshof. Bis zur Übernahme bleiben die bisherigen Rechte und Pflichten Bayerns und Württembergs in Kraft. Der Post- und Telegraphenverkehr mit den Nachbarstaaten des Auslandes wird jedoch ausschliesslich vom Reiche geregelt (Art. 170). Das Gesetz zur Ausführung dieses Art. ist am 25. April 1920 von der Nationalversammlung angenommen worden. 3) Art. 89 -101. Die Staatseisenbahnen, Wasserstrassen und Seezeichen gehen spätestens am 1. April 1921 auf das Reich über. Art. 171. Die Nationalversammlung beschloss am 25. April 1920 da» Gesetz betr. den Staatsvertrag über den Übergang der Eisenbahnen auf das Reich mit Wirkung vom 1. April 1920. 4) Art. 102—104. 5) Art. 105. Ob die Standgerichte nur insoweit zulässig sind, als sie auf bisherigem Recht beruhen oder ob für sie auch neue reichsrechtliche Bestimmungen getroffen werden können, mag zweifelhaft sein. Selbst wenn man letzteres annimmt, ist Reichg e s e t z erforderlich; Verordnung reicht m. E. nicht aus. 6) Art. 106. Das Nähere regelt ein Reichsgesetz. 7) Art. 31 Abs. 2, 107. Die Verwaltungsgerichte entscheiden aber nicht nur über Klagen gegen Anordnungen und Verfügungen der Verwaltungsbehörden, sondern dienen auch zum Schutze de» objektiven Rechts und s c h a f f e n zum Teil erst Rechte, z. B. Erteilung von Konzessionen.

106

Zweiter Teil.

Das Hecht der Verfassungsurkunde.

d) Die Reichsjustizhohcit ist vermehrt durch die Bestimmungen, dass ein Staatsgerichtshof für das Deutsche Reich> und ein Wahlprüfuugsgericht zu bilden ist'). e) Die R e c h t s h i l f e p f l i c h t der Einzelstaaten igt erweitert. Der Reichstag hat das Recht und auf Antrag von einem Fünftel seiner Mitglieder die Pflicht, Untersuchungsansschüsse einzusetzen. Die Gerichte und Verwaltungsbehörden sind verpflichtet, dem Ersuchen dieser Ausschüsse um Beweiserhebung Folge zu leisten; die Akten der Behörden sind ihnen auf Verlangen vorzulegen 8 ) 3 ). II. Das föderative Element kommt in der Verfassung ebenfalls zum Ausdruck: 1. D i e S t a a t l i c h k e i t der L ä n d e r ist anerkannt 4 ). 2. D i e B e f u g n i s d e r G e s e t z g e b u n g in den Schranken der Reichszuständigkeit wird klar bestimmt 6 ). 3. Die Länder haben eigene G e b i e t s h o h e i t . Sie wird erkennbar einmal in der Bestimmung, dass das Reichsgebiet a a s den G e b i e t e n d e r d e u t s c h e n L ä n d e r besteht (Art. 2 Abs. 1) und aus der Regelung des Art. 1H über die Gliederung des Reichs in Länder. Die ausserordentlich vielgestaltige und mit politischen Elementen wichtigster Art durchsetzte Geschichte dieser Bestimmung soll hier nicht gegeben werden. Eine Beschränkung auf die letzte Fassung ist geboten. Jene Ländergliederung soll unter möglichster Berücksichtigung des Willens der beteiligten Bevölkerung der wirtschaftlichen und kulturellen Höchstleistung des Volkes dienen (daselbst Abs. 1 Satz 1). Demnach ist der ursprüngliche Grundsatz verlassen worden, dass es dem deutschen Volke frei steht, ohne Rücksicht auf die bisherigen Landesgrenzen neue Freistaaten innerhalb des Reichs zu errichten, soweit die Stammesart der Bevölkerung, die wirtschaftlichen Verhältnisse und geschichtlichen Beziehungen die Bildung solcher Staaten n a h e l e g e n . Nach dem Verfassungstext ist es vielmehr notwendig, dass die Gliederung, sei es Zusammenfassung, sei es Teilung, dem Zwecke der wirtschaftlichen und kulturellen Höchstleistung d i e n e n soll. Sodann hat die Änderung des Gebiets von 1) Art. 108, 81; vgl. auch unten S. 166. 2) Art. 34 Abs. 1, Satz 1 und Abs. 2; vgl. auch Art. 7 Nr. 3 über die Amtshilfe zwischen Behörden. 3) Hier sei noch erwähnt, dass die R e i c h s f a r b e n schwarzrot-gold sind. Art. 3 Satz 1. 4) S. Art 1 Abs. 2 und oben S. 82 ff. Die staatsrechtliche Frage, ob die Länder Souveränität haben, wurde von verschiedenen Standpunkten aus vom Abg. Dr. Kahl und dem Vertreter de« Reichsministers Dr. Preuss verneint. StenBer. S. 1255 D, 1256 C. Eg ist hier nicht der Ort auf sie einzugehen. Sie bleibt umstritten. 5) S. oben S. 98f.; Art. 7, 10, 11, 12 Abs. 1 Satz 1.

IV'.Abschnitt. D.Verfass.-Reclit ü.d.Verhältnd.Reichs z.d.Ländern. 107 L ä n d e r n und ihre Neubildung innerhalb des Reichs durch v e r f a s s u n g ä n d e r n d e s G e s e t z (dessen Voraussetzungen d e r Art. 76 geregelt hat) zu erfolgen, wenn die unmittelbar beteiligten Länder n i c h t zustimmen; stimmen sie zu, so bedarf es nur eines einfachen Reichsgesetzes, ebenso wie in dem Falle, dass zwar eines der beteiligten Länder nicht zustimmt, die Gebietsänderung oder Neubildung aber durch den Willen der Bevölkerung gefordert wird und ein überwiegendes Reitehsinteresse sie erheischt (a. a. 0 . Abs. 1 Satz 2, Abs. 2 und 3). Der Wille der Bevölkerung ist durch A b s t i m m u n g festzustellen, die die Reichsregierung anordnet, wenn ein Drittel der zum Reichstag wahlberechtigten Einwohner des abzutrennenden Gebiets es verlangt (Abs. 4). Zum Beschluss einer Gebietsänderung oder Neubildung sind drei Fünftel der abgegebenen Stimmen, mindestens aber die Stimmenmehrheit der Wählberechtigten erforderlich. Auch wenn es sich nur um Abtretung eines Teiles eines preussischen Regierungsbezirks, eines bayerischen Kreises oder in andern Ländern eines entsprechenden Verwaltungsbezirks handelt, ist der Wille der Bevölkerung des ganzen in Betracht kommenden Bezirks festzustellen. Wenn ein räumlicher Zusammenhang des abzutrennenden Gebiets mit dem Gesamtbezirke nicht besteht, kann auf Grund eines besonderen Reichsgesetzes der Wille der Bevölkerung des abzutrennenden Gebietes als ausreichend erklärt werden. Nach Feststellung der Zustimmung der Bevölkerung hat die Reichsregierung dem Reichstag ein entsprechendes Gesetz zur Beschlussfassung vorzulegen (Abs. 5 und 6)'). Eine Vermögensauseinandersetzung hat stattzufinden. Entsteht hierüber bei der Vereinigung oder Abtrennung Streit, so entscheidet auf Antrag einer Partei der Staatsgerichtehof für das Deutsche Reich (Abs. 7). 4. In der E i n r i c h t u n g d e s R e i c h s r a t s ist das föderative Element stark zum Ausdruck gekommen. Vgl. unten S. 159 ff., ebenso 5. in der e i g e n e n V e r w a l t u n g , soweit keine reichseigene Verwaltung besteht (vgl. oben S. 82 f. zu b, S. 8 3 zu e); a) allgemein wird die Staatsgewalt in Landesangelegenheiten durch die Organe der Länder ausgeübt (Art. 5 ; s. auch oben S. 82 f.), insbesondere b) in Verkebrsangelegenheiten, solange und soweit die Reichsverwaltung noch nicht durchgeführt ist (Art. 89—101); 1) Die Bestimmungen des Art. 18 Abs. 3—6 treten jedoch «rst z w e i Jahre nach Verkündung der Beichsrerfassung (14. August 1919) in Kraft (Art. 167). Diese Sperrfrist ist von grösster Bedeutung.

108

Zwe.ter Teil.

Das Recht der Verfassungsurkunde.

c) hinsichtlich der auswärtigen Verwaltung besteht noch eine beschränkte Zuständigkeit (Art. 78 s. oben S. 102 Anm. 3). 6. Die Reichsgesetze werden d u r c h die L a n d e s b e h ö r d e n a u s g e f ü h r t , soweit die Reichsgesetze nicht etwas anderes bestimmen (Art. 14). Auf diese Weise wird der Grundsatz aufrecht erhalten, der schon im bisherigen Reiche galt, der die ganze Landesverwaltung den Einzelstaaten zuweist, soweit nicht reichseigene Verwaltung besteht. 7. Die Sonderrechte, wie sie in Art. 170, 171 wenigstens zeitweilig aufrecht erhalten werden, enthalten nicht minder förderative Elemente. III. In dem o r g a n i s c h e n Z u s a m m e n s c h l u s s u n d g e g e n s e i t i g e n V e r h ä l t n i s des unitarischen und förderativen Elementes zeigt sich der bundesstaatliche Charakter des 'Reiches. Mit Recht hat der Berichterstatter über den ersten Abschnitt, Abg. Dr. Kahl, betont, „dass der gerechte Ausgleich der staatlichen Ansprüche zwischen Reich und Ländern das schwierigste, aber auch wichtigste Problem des n e u e n V e r f a s s u n g s w e r k e s i s t ; dass einerseits die Reichsfreudigkeit der Länder nur dann erhalten werden kann, wenn ihr staatliches Eigenleben nach dem Massstabe geschichtlicher Gerechtigkeit gesichert bleibt, dass aber andererseits nur eine festgefügte Reichseinheit und eine starke Reichsgewalt diejenige Kräfteentwicklung des deutschen Volkes auslösen und verbürgen, die wiederum aus der Tiefe zur Höhe führen kann" 1 ). V. Abschnitt.

Die natürlichen Grundlagen des Reichs (Gebiet und Staatsangehörige). Erstes Hauptstück. Das Gebiet. I. G r u n d s ä t z l i c h e s . Auch im neuen Deutschen Reich gibt es, wie im bisherigen, eine doppelte Gebietshoheit: die 1) StenBer. S. 1208 D. Vgl. Z a h n , Bayern und die Reichseinheit, 1919, wo die politische, wirtschaftliche, finanzielle und kulturelle Gemeinschaft gut hervorgehoben ist und F e s t e r , Das Selbstbestimmungsrecht und der deutsche Einheitsstaat, 1919, mit vergleichendem Ausblick auf das Ausland. Lehrreich Fritz F l e i n er, Zentralismus und Foederalismus in der Schweiz 1918. Sehr gut im Sinne eines deutschen Föderativstaats V e r v i e r s , Die Grundlagen des Gegenwartsstaats und der Neuaufbau der Deutschen Verfassungen, Blätter für administrative Praxis (München) 1919. S. 69 ff.. 135 ff.

V. Abschnitt. Die natürl. Grundlagen des Reichs. Grundrechte. 109

des Reichs und die der Länder. Jene äussert sich darin, dass die Länder mit ihrem Gebiet der Reichsgebietshoheit unterworfen sind; diese darin, dass ihre Angehörigen auch der Landesgebietshoheit Untertan sind. Die Reichsgebietshoheit reicht soweit, wie die Reichsgewalt, ist also insofern beschränkt, als die Gebietshoheit der Länder besteht. Die reichseigene Verwaltung macht vor den Landesgrenzen nicht halt. Die Landesverwaltung erstreckt sich nur auf das Gebiet des betreffenden Landes, darf also in das eines anderen Landes nicht übergreifen. Erforderlichenfalls ist den Behörden die gegenseitige Rechts- und Amtshilfe zu gewähren. II. U m f a n g . Das Reichsgebiet besteht aus den Gebieten der Länder, die zur Zeit der Verkündung der Reichsverfassung zu ihm gehört haben. Es sind hierbei die Vorschriften des Friedensvertrages vom 28. Juni 1919 zu beachten : 1. Nicht zum Reichsgebiet gehört bis auf weiteres das S a a r b e c k e n . Deutschland verzichtete zugunsten des Völkerbundes, der insoweit als Treuhänder gilt, auf d i e R e g i e r u n g dieses Gebietes, nicht auf seine S o u v e r ä n i t ä t . Nach Ablauf von einer Frist von fünfzehn Jahren nach Inkrafttreten des Friedensvertrages (Art. 400 desselben) soll die Bevölkerung dieses Gebiets sich darüber entscheiden, unter welche Souveränität sie zu treten wünscht. (Siehe Abschnitt IV Art. 49 des Friedensvertrages). Die Bestimmungen der dazu gehörigen Anlage Kapitel II „Regierung des Saarbeckens" lassen keinen Zweifel darüber, dass für die bezeichnete Frist Deutschlands Staatsgebietshoheit im Saarbecken aufgehoben ist. Der Völkerbund übt auf fünfzehn Jahre deutsche Hoheitsrechte aus. 2. E l s a s s - L o t h r i n g e n trat mit dem 11. Dezember 1918 unter die französische Souveränität. Auch auf M e m e l musste Deutschland verzichten (Art. 51 und 99 des Friedensvertrages). 3. Der Tschecho-Slowakei und Polen mussten gewisse Grenzstreifen überlassen werden. Sie treten mit der vorgesehenen Festsetzung der Linien aus der deutschen Gebietshoheit heraus (Art. 83, 87 des Friedensvertrages). 4. Auch das Gebiet der Freien Stadt D a n z i g fällt nicht mehr unter die deutsche Gebietshoheit (Art. 100 daselbst), ebenso nicht der Teil O b e r s c h l e s i e n s , der jenseits derauf Grund der Volksabstimmung von den allierten und assozierten Hauptmächten festgesetzten Grenzlinie gelegen ist (Art. 88 Abs. 20 a. a. 0.). 5. Dagegen bleiben bis zum Ergebnis der hierüber in Aussicht genommenen Vol k s a b s t i m m u n g deutsches Reichsgebiet: gewisse Teile O b e r s c h l e s i e n s (Art. 88 Abs. 1—19)

110

Zweiter Teil.

Das Recht der Verfassungsurkunde.

und O s t p r e u s s e n s (Art. 94 ff.) sowie von S c h l e s w i g (Art. 109 daselbst). 6. Auch in den überseeischen Besitzungen (bisherigen K o l o n i e n ) hat Deutschland keine Gebietshoheit mehr (Art. 119 ff.). III. J e d e r T e i l d e s D e u t s c h e n R e i c h e s g e h ö r t zu einem der d e u t s c h e n L ä n d e r , j e d e s Land ist Teil des Reichsgebiets1). A. Wenn ein Land ganz oder teilweise an das Auslaud abgetreten oder aus dem Reich sonst ausgeschlossen werden soll, so bedarf es eines verfassungändernden Reichsgesetzes u n d der Zustimmung des Landes. Die Veränderungen der Reichsgrenze, soweit sie durch Vertrag mit fremden Staaten erfolgen, können nur durch das Reich vorgenommen werden und auch das nur, wenn das beteiligte Land zustimmt. Es genügt einfaches Reichsgesetz (Art. 78 Abs. 3 Satz 1). B. Wenn ausländische Gebiete in das Reich aufgenommen werden sollen, genügt (infolge Art. 2 Satz 2) einfaches Reichsgesetz, vorausgesetzt, dass die Bevölkerung des aufzunehmenden Gebiets dies kraft des Selbstbestimmungsrechts verlangt. Wie dieses Recht nachzuweisen ist, bleibt in der Reichsverfassung offene Frage. Handelt es sich um eine blosse Berichtigung der Grenze u n bewohnter Gebietsteile, dann bedarf es keines Reichsgesetzes, wohl aber um Zustimmung von Reich und Land. Handelt es sich nicht bloss um eine Berichtigung der der Grenze u n bewohnter Gebietsteile, dann ist ausser jener Zustimmung ein Reichsgesetz erforderlich (Art. 78 Abs. 3 Satz 2). C. Wenn die einzelnen Länder ihre Grenzen innerhalb des Reichs verändern wollen, so ist zwei Jahre nach Inkrafttreten der Reichsverfassung das im Art. 18 vorgeschriebene Verfahren einzuschlagen (s. oben S. 106 f.) ! ). Es ist also ein Zusammenwirken von Reich und Ländern notwendig. Dagegen ist, als Folge jener Vorschrift, das Reich rechtlich nicht in der Lage, einseitig von sich aus die einzelnen Länder untereinander zu vergrössern oder zu verkleinern, zu vereinigen oder aufzuteilen. D. Bei einem Friedensschluss hat das Reich auch hinsichtlich des Gebiets die alleinige Zuständigkeit, die es durch 1) Vgl. zum Folgenden noch die eingehenden Sonderuntersuchungen von L u k a s , a. a. O. S. 11—13. 2) Am 14. F e b r u a r 1920 ist zwischen Bayern und Koburg ein Vertrag auf Vereinigung geschlossen u n d am 26 April das eut•prechende Gesetz von der Nationalversammlung angenommen worden. Uber den Gesamtstaat Thüringen R o s e n t h a l DJZ. 1920Sp. 380 ff. Das Gesetz betr. das L a n d Thüringen ist von der Nationalversammlung am 23. April 1920 beschlossen worden.

V. Abschnitt. Die natiirl. Grundlagen des Reichs. Grundrecht! 1 .

111

Reichsgesetz ausübt (Art. 45 Abs. 2). Insofern nach dem Ge«agteu die Gebietsfragen Gegenstand der Reichsgesetzgebung sind, können Bündnisse und Verträge mit fremden Staaten, die sich auf das Gebiet beziehen, unter Art. 45 Abs. 3 fallen, d. h. der Zustimmung des Reichstages bedürfen. E. Eine P e r s o n a l u n i o n zwischen mehreren Ländern ist in Zukunft nicht mehr möglich, weil keine Monarchen mehr bestehen. Das Besondere der Personalunion war, dass mehrere Staaten einen gemeinsamen Träger der Staatsgewalt hatten und zwar infolge d y n a s t i s c h e r Erbfolgeordn u n g e n und v o r ü b e r g e h e n d insofern, als das Verhältnis mit dem Aussterben der Dynastie endete. Für die neue Reichsverfassung könnte die Frage entstehen ob mehrere Länder einen gemeinsamen Staatspräsidenten haben könnten. Die Voraussetzungen hierzu sind in der bisherigen deutschen Staatsentwicklung noch nicht geklärt. F. R e a l u n i o n , d. h. die grundsätzlich d a u e r n d e , durch Staatsgrundgesetz oder Vertrag erfolgende Vereinigung mehrerer Länder unter Wahrung ihrer Selbständigkeit als Staaten, und V e r w a l t u n g s g e m e i n s c h a f t e n sind an sich inlässig, erfordern aber das Einvernehmen des Reichs mit den beteiligten Ländern. IV. A u s d e r R e i c h s g e b i e t s h o h e i t f o l g t ]. D a s R e i c h h a t s e i n G e b i e t u n d d a s G e b i e t » H e r L ä n d e r zu s c h ü t z e n . A. „Die Verteidigung des Reichs ist Reichssache u (Art. 79 Satz 1). Sie erfolgt im Interesse des Reichsgebiets oder der Länder oder ihrer Teile, gleichviel ob sie es fordern oder wünschen oder nicht. B. Eisenbahnen, die für die Landesverteidigung als notwendig erächtet sind, kann das Reich, auch wo es die Eisenbahnen noch n i c h t in seine Verwaltung übernommen hat, k r a f t Reichsgesetzes, auch g e g e n den Widerspruch der Länder, deren G e b i e t durchschnitten wird, jedoch unbeschadet der Landeshoheitsrechte, auf eigene Rechnung anlegen oder den Bau einem andern zur Ausführung überlassen; erst recht gilt dies n a c h Übernahme in die Reichseisenbahnverwaltung (Art. 94 Abs. 2). Jede Landeseisenbahnverwaltung nauss sich den Anschluss anderer Bahnen auf deren Kosten gefallen lassen (a. a. 0 . Abs. 3). C. Das Reich hat auch die Gesetzgebung und Aufsicht über die Eisenbahnen, die Binnenschiffahrt, den Verkehr mit Kraftfahrzeugen zu Land, zu Wasser und in der Luft, sowie den Bau von Landstrassen, soweit es sich um die L a n d e s • e r t e i d i g u n g handelt (Art. 7 Nr. 19, Art. 15 Abs. 1).

112

Zweiter Teil. Das Recht der Verfassungsurkunde.

D. Auch die Erklärung des B e l a g e r u n g s z u s t a n d e s erfolgt ohne Rücksicht auf die Grenzen und Gebietshoheit der Länder (Art. 48). Dasselbe gilt hinsichtlich aller Massnahmen die als Folge der Wehrverfassung und des Oberbefehls über die gesamte Wehrmacht des Reichs erforderlich sein werden. (Art. 6 Nr. 4, Art. 47 und oben S. 103). Die Kriegserklärung, die sich ebenfalls auf das Rei,ch und die Länder bezieht, erfolgt durch Reichsgesetz. (Art. 45 Abs. 2). 2. K e i n L a n d d a r f e i n e m a u s l ä n d i s c h e n S t a a t e eine V e r l e t z u n g der G e b i e t s h o h e i t o d e r e i n e v e r t r a g s m ä s s i g e B e s c h r ä n k u n g g e s t a t t e n , z. B. Eisenbahnverbindungen, Truppendurchmärsche, ZollkartellKonventionen. 3. Die P $ s s - u n d F r e m d e n p o l i z e i unterliegt der Gesetzgebung und Aufsicht des Reiches 1 ). Es hat auch über den Eintritt von Angehörigen fremder Staaten in das Reichsgebiet zu bestimmen8). Ein- und Auswanderung, Zollwesen sowie Einheit des Zoll- und Handelsgebiets und die Freizügigkeit des Warenverkehrs, die Seeschiffahrt, die Hochsee- and die Küstenfischerei, der Abschluss von Handels- und Schiffahrtsverträgen, der Erlass von Einfuhr- und Ausfuhrverboten v und die Aufrichtung von Grenzsperren sowie die Erhebung von Schiffahrtsabgaben sind Sache des Reichs 1 ). 4. S o w e i t r e i c h s e i g e n e V e r w a l t u n g besteht, können die Verwaltungsbezirke auch in Zukunft ohne Rücksicht auf die Landesgrenzen bestimmt werden 4 ). 1) Art. 7 Nr. 4, Art. 15 Abs. 1). Vgl. Gesetz über das Passwesen vom 12. Oktober 1867 (Bundesgesetzbl. S. 33); Verordnung vom 21. Juni 1916 betreffend ander weite Regelung der Passpflieht (RGBl. S. 699), Abänderung durch Verordnung vom 10. Juni 1916 (RGBl. S.516). 2) S. L a b a n d , Reichsstaatsrecht 1919 S. 41 für dag bisherige Reich. 3) Art. 6 Nr. 1, 3 und 6; Art. 7 Nr. 18; Art. 45 Abs. 1 *nd 3; Art 90, s. auch Art. 11 Nr. 1, 2, 4 und 6. 4) L a b a n d a.a.O. S. 42. Er führt dort insbesondere auf: die Oberpostbezirke, die Bezirke der Disziplinarkammern und der Berufsgenossenschaften. Er hebt auch hervor das Recht der A u s w e i s u n g von Ausländern nach dem Strafgesetzbuch § 39 Nr. 2, SS 284, 362. Es bleibt hierbei und bei der Wirkung der Ausweisung obwohl sie von der Behörde eines Landes ausgeht, auf das ganze Reichsgebiet. Der Schutz des Reichsgebiets gegen hochverräterische Unternehmungen bleibt weiter durch § 81 Strafgesetzbuchs bestehen.

V. Abschnitt. Die natürl. Gründl, d. Reichs. D. Reichsangehörig. IIS

Zweites HauptstUck. Die Reichsangehörigen. Der bisherige B e g r i f f d e r R e i c h s - u n d L a n d e s a n g e h ö r i g k e i t bleibt unverändert. Die Staatsangehörigkeit im Reich und in den Ländern wird nach den Bestimmungen eines Reichsgesetzes erworben und verloren. (Art. 110 Abs. 1, Satz 1). Bis auf weiteres gilt das Gesetz vom 22. Juli 1913, unter Beibehaltung des Grundsatzes: Jeder Angehörige eines Landes ist zugleich Reichsangehöriger. (Art. 110 Abs. 1, Satz 2). Erste A b t e i l u n g . Die Rechte der Reichsangehörigen.

I. G r u n d s ä t z l i c h e s u n d G e s c h i c h t l i c h e s . An der Spitze stehen die sogenannten Grandrechte. Ihre Aufnahme in die Reichsverfassung ist von grösster Bedeutung. Die geschichtliche Entwicklung zeigt uns hier bezeichnende Unterschiede. 1. Schon unter Karl I. sind 1627 in England Grundrechte als „Petition of rights" formuliert worden, als Verbriefung der persönlichen Freiheit, 1679 als „Habeas corpus"Akte unter Karl II. hinsichtlich der Bestimmungen ttber Behandlung der Verhafteten und endlich in der „Bill and declaration of rights and liberties of subjects" 1689 insoweit, als die Vorführung des Verhafteten innerhalb 24 Stunden anbefohlen wurde. Letztere Bill war gleichsam die Gegengabe Wilhelms von Oranien für die Königskrone. Die Menschen- und Bürgerrechte wurden in dieser Form also zuerst in England gestaltet und dann von den englischen Auswanderern nach Amerika gebracht und dort zum Bestandteil von Verfassungsurkunden gemacht 1 ). Voranging der amerikanische Einzelstaat Virginien. Die Deklaration bei der Losreissung der Vereinigten Staaten von Nordamerika vom 4. Juli 1776 enthält ebenfalls Grundrechte. Nachahmungen stellen dar: die französischen Menschenund Bürgerrechte von 1789, wenn auch französischer Geist darin lebt 2 ). Von hier aus haben dann diese Freiheits- oder Grundrechte ihren Weg über die französischen Verfassungaurkunden in das Verfassungswerk fast aller konstitutionellen 1) Vgl. die führende Schrift in dieser Frage von Georg J e l l i n e k , Die Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte, 3. Aufl. 1919 mit Aufschluss über wichtige wissenschaftliche Streitpunkte. 2) Vgl. J e l l i n e k , a. a. 0. insbesondere IV—XVI. S t i e r - S o m l o Beichsyerfusong. 8. Aufl.

$

114

Zweiter Teil.

Das Recht der Verfassungsurkunde.

Staaten genommen. Die sogenannten „Grundrechte des deutschen Volkes" sind anch in der Verfassungsurkunde der Frankfurter Nationalversammlung vom 27. Dezember 1848 formuliert. Fast alle deutschen Landesverfassungen folgen ihr und anch die preussische Verfassungsurkunde gibt sie in Artikel 3 — 1 2 als „Rechte der Preussen" wieder. Die Tragweite der bisher in den zahlreichen Verfassungen der Welt ausgeprägten Grundsätze ist sehr verschieden. Teilweise sind sie rein programmatisch, enthalten Versprechungen, unverbindliche politische Aussprüche; teilweise haben sie die Natur von Richtlinien, mitunter sogar von bindenden Normen für die Bpätere Gesetzgebung und Verwaltung; zuweilen begründen sie anch für die Gegenwart subjektive öffentliche Rechte oder dienen zu ihrem Schutze. Ihr Grundgedanke war ursprünglich die Bewahrung des Einzelnen gegen die Allmacht de» Staates, Sicherung einer vor staatlichem Zugriff behüteten Lebenssphäre. Sie führten dadurch vor allem zur Ausprägung des Freiheitsverhältnisses des Einzelnen gegenüber der Staatsverwaltung. 2. Die b i s h e r i g e d e u t s c h e R e i c h s v e r f a s s n n g hatte aus verschiedenen Gründen von der Aufnahme der Grundrechte abgesehen. Bismarcks Stellung zum damaligen Liberalismus und zum Bundesstaate führte zn einer Ablehnung der jener politischen Gesamtrichtung gemässen Auffassung von der Aufnahme solcher Bestimmungen; es bestand damals auch eine „Tendenz der realpolitischen Abkehr von der PrinzipienVerfolgung". 3. Die n e u e R e i c h s v e r f a s s u n g nimmt sie wieder auf. Dies ist grundsätzlich zu billigen. (S. oben S . 47). Damit soll aber nicht das Einverständnis mit der erfolgten Regelang in allen Einzelheiten bekundet werden. Die wechselvolle parlamentarische Geschichte des zweiten Hauptteils der Verfassungsurkunde kann hier nicht gegeben werden. Hervorgehoben sei nur, dass Sich der endgültige Entwurf im wesentlichen an das Uberlieferte gehalten hat, dass aber im Verfassungsansschuss ein insbesondere von Friedrich N a u m a n n energisch aufgenommener Versuch in die Erscheinung trat, idie Grundrechte zn einem Bekenntnis der Errungenschaften der Revolution und der neuen Zeit, also zn einem deutschrepublikanischen Staatsgrundbekenntnis auszugestalten. Damit verband sich die Absicht, dem alten Gedanken des auf Gleichheit begründeten Rechtsstaates den neuen Gedanken vom nationalen Volksstaate der Gegenwart hinzuzufügen 1 ). Von 1) Wenn auch die die grössten Selbstverständlichkeiten mit

V. Abschnitt. Die natürl. Gründl, d. Reichs. D. Reichsangehörig. 115 anderer Seite ist die Aufgabe der Grundrechte betont worden, einen Schutz zu bieten g e g e n Überstürzungen und Vergewaltigung der Minderheiten, auch auf dem Gebiete der Religion; eine Staatsidee zu Grunde zu legen, die sich von dem rein theoretischen sozialistischen Ideal ebenso fernhält, wie von dem bloss individualistischen, während andere wieder die Verankerung kommunistischer Einrichtungen verlangten. Die Verquickung politischer und wirtschaftlicher Elemente kam hinzu. E s spielten also eine ganze Anzahl wohl innerlich zusammengehöriger, aber sachlich zu trennender Erwägungen, Wünsche und Bestrebungen eine Rolle, die den Grundrechten der Reichsverfassung einen zum Teil anderen Charakter verleihen, als ihn die Grundrechte der früheren Verfassungen besassen. Jene, gegliedert in fünf Abschnitten über die Einzelperson, das Gemeinschaftsleben, Religion und Religionsgesellschaften, Bildung und Schule, endlich das Wirtschaftsleben, enthalten nicht nur quantitativ viel mehr, als alle ihre Vorgänger in der Welt, sondern sie sind auch von denkbar verschiedener politischer und rechtlichcr Bedeutung, lassen Bedenken, Unklarheiten und Unsicherheiten über den Grad der Rechtswirksamkeit, ihre Tragweite und Durchführbarkeit übrig 1 ). Immerhin wird eine umfassende Form dieser Grundrechte zum Teil berechtigten Spott ausgelöst hat, so bleibt doch die Idee, einen „BürgerkatechismuB zu schaffen, der dem Volk, die ethischen Gedanken unseres Staatsund Volkslebens nahe bringt" beachtenswert. ( R o c h , Die Grundrechte in der Verfassung, DJZ. 1919, Sp. 612). Abg. Dr. D ü r i n g e r bat auf die Grundrechte Gewicht gelegt, weil es gegenüber der in der Welt verbreiteten falschen Auffassung von Deutschlands seelischer und geistiger Verfassung von Bedeutung sei, „dass das deutsche Volk auch in seiner Verlassung sich zu seinem wahren Charakter, zu seinem eigensten innersten Wesen bekennt, dass es, unbekümmert um die Auffassung überspannter urteilsloser Ästheten, das religiöse Empfinden der eminenten Mehrheit der deutschen Volksgenossen schützt, dass es auch in seiner Verfassung klar zum Ausdrucke bringt, dass Nächstenliebe und soziale Gesinnung ihm wertvoller sind, als Herrenmoral und Ubermenschehtum, dass die Ehe die Grundlage der Familie ist und nicht das zügellose Sichausleben angeblich freier Geister jenseits von Gut und Böse, dasB Gesetz und Recht, Unabhängigkeit der Rechtspflege die Pfeiler des Reichs sind und nicht das geniale Verbrechertum oder die Raubtiermoral der blonden Bestie. Deshalb hat eine ausführliche, eindrucksvolle Darlegung der Grundrechte und Grundptlichten in der Verfassung auch eine politische Bedeutung." (StenBer. S. 2091 D). Vgl. auch D ü r i n g e r , Grundrechte und Grundpflichten, JW. 1919 S. 701 ff. 1) S. K o c h a. a. 0., dessen pessimistische Auffassung über die befürchtete Verwirrung in Gesetzgebung und Rechtssprechung, die infolge eines Teiles der Grundrechte und Grundpflichten eintreten wird, durchaus auch die meinige ist.

116

Zweiter Teil. Das Recht der Verfassungaurkunde.

bald einsetzende umfassende und tiefgehende wissenschaftliche Arbeit die Aufgabe haben, das schlimmste zu verbaten, das Mass der rechtlichen Anwendbarkeit festzustellen und durch sorgfältige Einzelforschung dem Rechtsleben und der politischen Entwicklung zu dienen. II. Die G l i e d e r u n g d e r G r u n d r e c h t e soll hier nicht ausschliesslich nach der in der Reichsverfassung getroffenen Einteilung vorgenommen werden. Die Wissenschaft findet hier eine bedeutende, zur Zeit noch nicht zu überwältigende Arbeit hinsichtlich der Systematisierung und Gruppierung nach einheitlichen Grundsätzen vor. Im nachfolgenden wird zunächst dasjenige vorangestellt, was an überliefertes Verfassungsrecht anklingt, wobei auch die Abweichungen vom Landläufigen angemerkt sind. Dann tritt das in Form oder Inhalt ganz oder teilweise Neue und Originelle hervor. 1. Auf den Ausspruch der G l e i c h h e i t aller D e u t s c h e n vor dem Gesetze folgt die Erklärung, dass Männer und Frauen grundsätzlich d i e s e l b e n staatsbürgerlichen Rechte und Pflichten haben. (Art. 109 Abs. 1 und 2). Damit wollte man gewiss nicht sagen, „dass sich die Bestimmungen über die Wehrpflicht oder Deichpflicht auf die Frauen, wie die über die Schwangerschaftsfürsorge auf die Männer übertragen lassen". Die E h e beruht auf der G l e i c h b e r e c h t i g u n g b e i d e r Geschlechter. (Art. 118 Abs. 1, Satz 2.) Da muss aber das eheliche Güterrecht des BGB. und manches andere geändert werden! Die Ausnahmebestimmungen gegen weibliche Beamte sind beseitigt (Art. 128). Damit sind hauptsächlich die Lehrerinnen betroffen. Öffentlichrechtliche V o r r e c h t e oder Nachteile der Geburt oder des S t a n d e s sind a u f z u h e b e n (Art. 109 Abs. 3). Sie sind also noch nicht aufgehoben, sondern es wird den Ländern eine Anweisung erteilt. Nicht beseitigt sein soll wohl durch die Vorschrift das Beamtensteuerprivileg 1 ) und das Anerbenrecht. Adelsb e z e i c h n u n g e n gelten nur als Teil des Kamens und dürfen nicht mehr verliehen werden; T i t e l nur, wenn sie ein Amt oder einen Beruf bezeichnen. Akademische G r a d e sind hierdurch nicht betroffen. Titel, die im Zusammenhang mit einem Beruf als Bezeichnung verliehen werden, sind aber nicht verboten, wie etwa der Titel des Geheimen Oberregierungsrats an einen vortragenden Rat im Ministerium. 1) Es wird aber durch das Beichseinkommensteuergesetz vom. 29. März 1920 aufgehoben.

V, Abschnitt. Die natiirl. Gründl, d. Reichs. D. Reicbsangehörig. 117

Auch der Professortitel kann weiter verliehen werden'). Kein Deutscher darf von einer ausländischen Regierung Titel oder Orden annehmen (a. a. 0 . Abs. 4—6). 2. Jeder Deutsche hat das Hecht, im' Reich zu leben; er hat das Recht der F r e i z ü g i g k e i t , des G r u n d s t ü c k s e r w e r b s und des Gewerbebetriebes*); des Aufenthalts oder der Niederlassung (Art. 111); er darf nicht des Landes v e r w i e s e n 3 ) und nicht einer ausländischen Regierung zur Verfolgung oder Bestrafung ü b e r l i e f e r t werden (Art. 112 Abs. 3; s. auch Art. 6 Nr. 3). 3. Gesichert ist die U n v e r l e t z l i c h k e i t der P e r s o n . Eine Beeinträchtigung oder Entziehung der persönlichen Freiheit durch die öffentliche Gewalt ist nur auf Grund von Gesetzen zulässig (Verhaftung, Schutzhaft); Personen, denen die Freiheit entzogen ist, sind spätestens am darauf folgenden Tage in Kenntnis zu setzen, von welcher Behörde und aus welchen Gründen die Entziehung der Freiheit angeordnet worden ist; unverzüglich soll ihnen Gelegenheit gegeben werden, Einwendungen gegen ihre Freiheitsentziehung vorzubringen (Art. 114). Ausnahmegerichte sind unstatthaft. N i e m a n d darf seinem g e s e t z l i c h e n R i c h t e r entzogen w e r d e n (Art. 105 Satz 1 und 2). U n v e r l e t z l i c h ist auch' d i e W o h n u n g jedes Deutschen. Sie ist für ihn eine „Freistätte". Doch sind Ausnahmen „auf Grund von Gesetzen" zulässig (Art. 115)4). Unverletzlich ist ferner das B r i e f g e h e i m n i s sowie das Post-, Telegraphen- und Fernsprecbgeheimms. Ausnahmen sind durch Reichsgesetz zugelassen (Art. 117). Das 1) Die Bestimmung findet keine Anwendung auf Orden und Ehrenzeichen, die für .Verdienste in den Kriegsjahren 1914 — 1919 verlieben wurden (Art. 175). Vgl. auch J a c o b i , Sind die bisherigen Bestimrpungen über den „Adelsstand" durch Art. 109 RV. beseitigt? DJZ. 1919 Sp. 1018, und Opet, Die Adelsbezeichnung nach der neuen Reichsverf., daselbst 1920 S. 136, auch S c h i e d e r m a i e r , Welchen Namen haben die Angehörigen des aufgehobenen bayrischen Adels zu führen? Leipz. Z. 1919 S. 771 und Mayer daselbst 1920 Nr. 3. 2) Mit reichsgesetzlich zulässigen Einschränkungen — gerade auf die kommt es an! 3) Freizügigkeitsgesetz vom 1.November 1867 § 1. Die die Aufenthaltsbeschränkungen zulassenden Vorschriften dieses Gesetzes, insbesondere §§ 3—5 bleiben in Kraft. Vgl. auch die Anordnung betr. den Zuzug von ortsfremden Personen und von Flüchtlingen vom 23. Juli 1919 (RGBl. S. 1353), die eine Beschränkung der Freizügigkeit bedeutet. S. auch K e l l n e r , Das Verhältnis des Freizügigkeitsgesetzes zur Verordnung über die Erwerbslosenfürsorge, Preuss. Verw. Bl. Bd. 40 S. 498. 4) Über die Gültigkeit der Wohnungsbeschlagnahme vgl. Harn i e r im Anschluss an die Rechtsprechung, DJZ. 1920 Sp. 302 und Mannheimer, daselbst Sp. 389. Vgl. auch Gesetz über Massnahmen gegen Wohnungsmangel.

118

Zweiter Teil. Das Recht der Verfassungsurkunde.

E i g e n t u m , wird von der Verfassung g e w ä h r l e i s t e t ; aber sein Inhalt und seine Schranken ergeben sich aus den Gesetzen 1 ). Das E n t e i g n u n g s r e c h t wird ausserdem geregelt 2 ). Das E r b r e c h t wird nach Massgabe des bürgerl i c h e n Rechts gewährleistet. Aber der Staat hat einen Anteil am Erbgut, der sich „nach den Gesetzen" bestimmt. (Art. 153 Abs. 1 und 2, Art. 154). So hebt der zweite Satz der Verfassungsbestimmungen den ersten meist auf. Die f r e i e M e i n u n g s ä u s s e r u n g ist durch Wort, Schrift, Druck und Bild oder in sonstiger Weise „innerhalb der Schranken der allgemeinen Gesetze" für den Deutschen frei s ). Neu ist, dass ihn an diesem Rechte kein Arbeits- oder Anstellungsverhältnis hindern und niemand ihn benachteiligen darf, wenn er von diesem Recht Gebrauch macht. D i e F r e i h e i t d e r K u n s t , d e r W i s s e n s c h a f t und i h r e r L e h r e dient auch zum Schutze persönlicher Betätigung. Eine Z e n s u r findet nicht statt, doch können für Lichtspiele durch Gesetz abweichende Bestimmungen getroffen werden. Auch sind zur Bekämpfung der Schund- und Schmutzliteratur sowie zum Schutze der Jugend bei öffentlichen Schaustellungen und Darbietungen gesetzliche Massnahmen zulässig (Art. 118, 142 Satz 1). Nach altem Grundsatz ist der Einzelne anch dadurch geschützt, dass eine Handlung nur dann mit Strafe belegt werden kann, wenn die Strafbarkeit gesetzlich bestimmt war, b e v o r die Handlung begangen wurde (Art. 116). Eine rückwirkende Kraft haben also die Strafgesetze nicht; das muss auch für das Verwaltungsstrafrecht gelten. 3. Jeder Deutsche kann a u s w a n d e r n — wenn ihn kein Reichsgesetz beschränkt (Art. 112 Abs. 1). Es wird sich jetzt und in Zukunft hauptsächlich um Massnahmen gegen die Steuerflucht*) handeln. 1) Vgl. Stier-Soralo, Rechtsstaat, Verwaltung und Eigentum 1911 S. 15—28, wo die Geschichte und Dogmatik des Grundsatzes über die Unverletzlichkeit des Eigentums in den deutschen Verfassungsurkunden untersucht wird. 2) Vgl. Grünebaum, Ein Reichsenteignungsgesetz, DJZ. 1919 Sp. 788 und hierzu Marwitz, JW. 1920 S. 123. 3) Vgl. hierzu E b n e r , Die neue Pressfreiheit, DJZ. 1919 Sp. 503; d e r s e l b e , Die Aufhebung der Zensur und die Zeitungsanzeige, DJZ. 1919 S. 94; v. V o l k m a n n und B ö t t g e r , Die Rechts» Verordnungen des Rates der Volksbeauftragten vom 12. November 1919, Berlin 1919 S. 3, 29, 38—40. 4) Vgl. die Bestimmungen, die der A u s l a n d s f l u c h t und der K a p i t a l a b w a n d e r u n g entgegentreten: Die Verordnung über die Massnahmen gegen die Kapitalabwanderung in das Ausland vom 21. November 1918 und über die Post- und Telegrammüberwachung im Verkehr mit dem Auslande vom 15. November 1918; Verordnung über Ermächtigung des Reichsschatzamts zu vorläufigen Mass

V. Abschnitt. Die natürl. Gründl, d. Reichs. D Reichsangehörig. 119 5. D i e F r e i h e i t d e s G l a n b e n s , d e s G e w i s s e n s u n d d e r u n g e s t ö r t e n R e l i g i o n s ü b u n g wird gewährleistet. Natürlich „bleiben die allgemeinen Staatsgesetze, (im Reich und in den Ländern!) hiervon unberührt". Die bürgerlichen und staatsbürgerlichen Rechte und Pflichten werden durch die Ausübung der Religionsfreiheit (doch wohl auch der Glaubens-und Gewissensfreiheit) weder bedingt noch beschränkt. D e r Genuas bürgerlicher oder staatsbürgerlicher Rechte sowie die Zulassung zu öffentlichen Ämtern sind unabhängig von dem religiösen Bekenntnis. Dies gilt schon seit dem Gesetz betreffend die Gleichberechtigung der Konfessionen in bürgerlicher und staatsbürgerlicher Beziehung vom 3. Juli 1869. ( V g l . Art. 135, 136 Abs. 1 und 2.) Neu ist, dass n i e m a n d v e r p f l i c h t e t ist, seine r e l i g i ö s e Ü b e r z e u g u n g zu o f f e n b a r e n 1 ) . Die Behörden haben nur soweit das Recht, nahmen gegen die Steuer- und Kapitalflucht vom 28. Dezember 1918; Verordnung zur Ergänzung der Verordnung über Massnahmen gegen Kapitalabwanderung in das Ausland vom 21. November 1918 o hat sie trotzdem die Vorlage unter Darlegung ihres Standpunkte« beim Reichstag einzubringen. Der Reichswirtschaftsrat kanu die Vorlage durch eines seiner Mitglieder vor dem Reichstag vertreten lassen (Art. 165 Abs. 4 und 5; vgl. die ähnliche Regelung für den Reichsrat in Art. 69). 2) Vgl. das Reichssiedlungsgesetz vom 11. August 1919 (RGBL 8. 1429), die Kleingarten- und Kleinpachtlandordnung vom 31. Juli 1919 (RGBl S. 1371) §§ 3 - 5 . S. auch preussische Verordnung betr. das gesetzliche Vorkaufsrecht an land- und forstwirtschaftliche Besitzungen vom 31. Dezember 1918 (GS. 1919 S. 3). 3) Vgl. Z e l t e r , Die Aufhebung der Fideikommisse, DJZ. 1919, Sp. 633; s. auch die preuss. Verordnung über Familiengüter vom 10. März 1919 (GS. S. 39). Dazu Ausführungsbestimmung des Justizministers vom 10. Juni 1918 und Rundverfügung vom selben Tag* (JMB1. 320f.), siehe auch S e e l m a n n und E s c h e n b a c h , JW. 1919 8. 476—479, hierzu B r a u e r und wieder S e e 1 in a n n , daselbst S. 927 f.

136

Zweiter Teil.

Das Recht der Verfassungsurkunde.

Aufwendung auf daB Grundstück entsteht, ist für die Gesamtheit nutzbar zu machen (Abs. 3 daselbst). d) Alle Bodenschätze und alle wirtschaftlich nutzbaren Naturkräfte stehen unter der Aufsicht des Staates. Private Kegale sind im Wege der Gesetzgebung auf den Staat überzuführen (a. a. 0 . Abs. 4). 18. Besonders gedacht ist zweier Gesellschaftsgruppen: der g e i s t i g e n Arbeiter und des Mittelstandes. A. Die geistige Arbeit, das Recht der Urheber, der -Erfinder und Künstler geniessen den Schutz und die Fürsorge des Reichs. Den Schöpfungen deutscher Wissenschaft, Kunst und Technik ist durch zwischenstaatliche Vereinbarung auch im Ausland Geltung und Schutz zu verschallen (Art. 158). B. Der selbständige Mittelstand in Landwirtschaft, Gewerbe und Handel ist in Gesetzgebung und Verwaltung zu fördern und gegen Überlastung und Aufsaugung zu schützen (Art. 164). Beide Grundsätze enthalten nur Richtlinien, haben nicht unmittelbare rechtliche Bedeutung. Zweite Abteilung.

Die Pflichten der Reichsangehörigen. I. Neben der allgemeinen G e h o r s a m s p f l i c h t gegenüber den Gesetzen und Verordnungen des Reichs und des Landes und neben II. der T r e u p f l i c h t , die strafrechtlich besonders durch die Bestimmungen über den Hoch- und Landesverrat zum Ausdrucke kommt — natürlich fallen d i e Vorschriften fort, die mit der monarchischen Staatsform zusammenhängen — sind nogh ausgesprochen: III. die allgemeine A b g a b e n p f l i c h t . Danach tragen alle Staatsbürger ohne Unterschied im Verhältnis ihrer Mittel zu allen öffentlichen Lasten nach Massgabe der Gesetze bei (Art. 134); IV. die W e h r p f l i c h t nach den Bestimmungen des Reichswehrgesetzes, das auch vorschreibt, wie weit für Angehörige der Wehrmacht zur Erfüllung ihrer Aufgaben und zur Erhaltung der Manneszucht einzelne Grundrechte einzuschränken sind (Art. 133 Abs. 2; Art. 6 Nr. 4); V. die p e r s ö n l i c h e D i e n s t p f l i c h t für den Staat und die Gemeinde nach Massgabe der Gesetze (Art. 133 Abs. 1)» und mit letzterer teilweise zusammenfallend; VI. die Pflicht zur Übernahme e h r e n a m t l i c h e r T ä t i g k e i t e n (Art. 132); VII. die a l l g e m e i n e S c h u l p f l i c h t . Ihrer Erfüllung

VI. Abschnitt.

Die Organis. d. Reiches.

Grundsätzliches.

137

dient grundsätzlich die Volksschule mit mindestens acht Schuljahren und die anschliessende Fortbildungsschule bis zum vollendeten 18. Lebensjahre \rt. 145 Satz 1 und 2). VIII. Eine besondere A r b e i t s p f l i c h t . Jeder Deutsche hat unbeschadet seiner persönlichen Freiheit die sittliche Pflicht, seine geistigen und körperlichen Kräfte so zu betätigen, wie es das Wohl der Gesamtheit erfordert (Art. 163 Abs. 1)»). VI. Abschnitt.

Die Organisation des Reiches. Erstes

Hauptstück.

Grundsätzliches. I. Die obersten O r g a n e d e s R e i c h s sind: der Reichspräsident, der Reichstag, die Reichsregierung und der Reichsrat. Ihre staatsrechtlichen Funktionen und Aufgaben sind grundsätzlich geschieden; aber nur in ihrem Zusammenwirken kann die Staatstätigkeit in Gang gehalten werden. Ihre gegenseitigen Beziehungen ergeben daher notwendige Verknüpfungen. Durch ihr verfassungsmässiges Ineinandergreifen kommt das Balancieren der Kräfte zum Ausdruck, die den Staat in Gleichgewicht halten. Deshalb ist zwar die Darstellung jedes einzelnen obersten Reichsorgans aus Gründen der Klarheit und Übersichtlichkeit geboten, es ist aber nicht möglich, rechtliche Stellung und Zuständigkeit jedes einzelnen Organs in vollkommener Isolierung zu zeigen. Ihr Ineinanderwirken gibt erst ein anschauliches Bild der staatspolitischen Wirksamkeit. I I . Im Sinne der hergebrachten Staatslehre ist für daB neue Reichsverfassungsrecht massgebend, dass die I n n e h a b u n g der Staatsgewalt und ihce Eigenschaft der Souveränität b e i m V o l k e liegt, dass dagegen Reichspräsident, Reichstag und die Reichsregierung sie a u s ü b e n , soweit der V o l k s e n t s c h e i d nicht eine unmittelbare Ausübung der Staatsgewalt bewirkt. Im Reichsrat kommt nicht die R e i c h s g e w a l t zum Ausdruck, sondern er ist ein Reichsorgan, das in erster Reihe zur Geltendmachung deB Willens der Landesregierungen bestimmt ist. Dass er nicht ausschliesslich diese Aufgabe hat, ergibt sich daraus, dass den Vorsitz ein R e i c h s minister führt und dass der Reichsrat bei dem Er. 1) Schon das Sozialisierungsgesetz vom 23. März 1919 (RGBL S. S i l ) bestimmte wörtlich in seinem $ 1 Abs. 1 dasselbe.

138

Zweiter Teil. Das Recht der Verfassungsurkunde.

lass von Ausführungsbestimmungen mitzuwirken hat, wenn die Ausführung der Reichsgesetze den Landesbehörden zusteht ( A r t . 65 Satz 1, A r t . 77 Satz 2). I I I . Die B i l d u n g d e s R e i c h s w i l l e n s erfolgt nach Massgabe der Einzelvorschriften teils durch den R e i c h s p r ä s i d e n t e n (auf dem Gebiete der Verwaltung und der Mitwirkung bei der Gesetzgebung sowie bei dem Inganghalten der übrigen Organe), teils durch den R e i c h s t a g (durch Beschliessung der Gesetze, Mitwirkung bei der Verwaltung und teilweise, w i e bei der Wahlprüfung, sogar bei der Rechtssprechung), töils endlich durch die R e i c h s r e g i e r u n g (auf dem Gebiete der Verwaltung, der Gesetzgebung durch Initiat i v e und Rechtsetzung durch Erlass allgemeiner Verwaltungsvorschriften).

Zweites Der

Hauptstück.

Reichspräsident.

I . Im schweizerischen Bundesrat ist der Bundespräsident lediglich Vorsitzender des aus sieben Mitgliedern bestehenden Kollegiums, das durch die Bundesversammlung g e w ä h l t w i r d . E r ist von Amts wegen Vorsteher des politischen Departements. Jährlich wird er von der Bundesversammlung gewählt. Es besieht dort die u n i t a r i s c h e Direktorialverfassung. Diese RechtBeinrichtung eignet sich nicht für das deutsche V o l k , das e i n e s sichtbaren Staatsoberhaupts bedarf 1 ). Das Kollegialprinzip ist im R e i c h s t a g zur Auswirkung gelangt. Ein f o e d e r a l i s t i s c h e » Direktorium stand für die neue Reichsverfassnng von vornherein ausserhalb des Bereichs politischer Möglichkeit, mochte im übrigen das Verhältnis zwischen Reich und Einzelstaaten w i e immer geregelt w e r d e n 2 ) . Aber auch die fast diktatorische Stellung, die die Verfassung der Vereinigten Staaten von N o r d a m e r i k a 3 ) ihrem Präsidenten einräumt, entspricht nicht dem Geiste der deutschen Republik. Diesem am geinässesten ist ein Staatsoberhaupt, das drei Funktionen in eich vereinigt. D i e e i n e besteht in der würdigen Ver1) Übereinstimmt Erich K a u f m a n n , Grundfragen der künftigen Reichsverfassung 1919 S. 18: „Für die Regierung eines grossen Staates kommt diese Organisationsform . . . gar nicht in Betracht, da er eine einheitliche Spitze braucht" und P o e t z s c h , Handausgabe der RV. S. 63. 2) L u k a s a. a. 0. S. 5. 3) Vgl. über den Präsidenten der Union H ü b n e r , Die Staatsform der Republik 1920 S. 121 ff., daselbst über den Präsidenten in Frankreich und in der Schweiz S. 170 ff., 230 ff

VI. Abschnitt. Die Organis. d. Reiches. Der Reichspräsident. 139 t r e t u n g d e s R e i c h s nach aussen und verleiht ihm eine überragende Ehrenstellung. Die a n d e r e zeigt sich in Mitwirkungsrechten bei der Ausübung der Staatsgewalt, wobei solche, die früher dem Kaiser zustanden, erkennbar werden. E n d l i c h fällt ihm eine v e r m i t t e l n d e R o l l e zu zwischen Volk und Reichstag, Volk und Regierung. Die parlamentarische Regierungsweise kann seines Amtes der Verknüpfung und Mässigung, der Herstellung des Gleichgewichtes der politischen Kräfte nicht entbehren. Diesem Grundsatze entsprechend sind seine Zuständigkeiten geordnet. II. E n t s t e h u n g u n d B e e n d i g u n g d e r A m t s Stellung. Stellvertretung. A. Der Reichspräsident wird vom ganzen Volke g e w ä h l t . (Art. 41 Abs. 1). Dadurch bildet er das wünschenswerte Gegengewicht gegenüber dem Reichstag. Die sog. echte parlamentarische Regierungsweise setzt ein Gleichgewicht /wischen gesetzgebender und vollziehender Gewalt voraus, während man die unechte, wie in Frankreich, darin findet, dass dort die Exekutive vollkommen von der Legislatur beherrscht wird. Indem die Reicbsverfassung die echte parlamentarische Regierungsweise zu verwirklichen beabsichtigte, musste sie sich nach einer Bürgschaft für die politische Unabhängigkeit des Reichspräsidenten vom Reichstag umsehen und fand sie in seiner unmittelbaren Wahl durch das Volk. Demselben Zweck dient übrigens auch sein Recht, in gewissen Fällen an das Volk zu appellieren (Art. 76 Satz 1 in Verbindung mit Art. 73 Abs. 1). Nur weil seine Berufung unmittelbar auf den Volkswillen zurückzuführen ist, steht ihm die (durch die Bestimmungen der Reichsverfassung gestützte und ausgebaute) Autorität zur Seite, die ihn zur Erfüllung dieser Aufgabe befähigt. Eine mittelbare Wahl, die mit Recht abgelehnt worden ist, würde den Reichspräsidenten nicht so stark, wie es nötig ist, im ganzen deutschen Volk verwurzeln und ihm „viel von seiner Glorie" nehmen 1 ). Wählbar zum Reichspräsidenten ist jeder Deutsche, massgebend ist also die Staatsangehörigkeit. -Geborener Deutscher braucht er nicht zu sein; z. B. kann ein Deutsch-Österreicher oder «in Deutsch-Balte nach erfolgter Einbürgerung (Naturalisation) Reichspräsident werden; ein Zeitraum, der seit Erwerb der Staatsangehörigkeit verflossen sein müsste, wurde nicht vor1) Als einen der Gründe für seinen am 13. Mär« 1920 unternommenen erfolglosen Staatsstreich führte Dr. Kapp die Absicht der damaligen Mehrheitsparteien an, unter Abänderung der Reichsverfassung den Reichspräsidenten nicht vom Volke, sondern rom Reichstag wählen zu lassen.

140

Zweiter Teil. Das Recht der Verfassungsurkunde.

geschrieben. Zur Wählbarkeit gehört auch die Vollendung des 35. Lebensjahres (Art. 41 Abs. 2 und 3). Wahlsystem und Wahlverfahren hat die Reichsverfassung offen gelassen. Hierüber wird ein besonderes Reichsgesetz bestimmen1). B. Bei der Übernahme seines Amtes hat der Reichspräsident vor dem Reichstage folgenden E i d zu leisten: „Ich schwöre, dass ich meine Kraft dem Wohle des deutschen Volkes widmen, seinen Nutzen mehren, Schaden von ihm wenden, die Verfassung und die Gesetze des Reiches wahren, meine Pflichten gewissenhaft erfüllen und Gerechtigkeit gegen jedermann üben werde" (Art. 42). Bis zum Amtsantritt des ersten Reichspräsidenten wird sein Amt von dem auf Grund des Gesetzes über die vorläufige Reichsgewalt vom 10. Februar 1919 gewählten Reichspräsidenten geführt (Art. 180 Satz 2). Dementsprechend hat Reichspräsident Ebert am 21. August 1919 vor der Nationalversammlung den Eid auf die Verfassung geleistet. Von der verfassungsrechtlichen Möglichkeit der Beifügung einer religiösen Beteuerung machte er keinen Gebrauch. An seine Stelle wird der auf Grund der Verfassung zu wählende Reibhspräsident treten. (Art. 179 Abs. 1, Satz 2). Das Volk kann ihn selbst wiederwählen. Wiederwahl ist zulässig (Art. 43 Abs. 1) und zwar unbegrenzt, worin nicht zu Unrecht ein „monarchisches" Element gesehen wurde. Der Vorschlag, das erpte Mal den Präsidenten nur auf drei Jahre zu wählen, drang nicht durch. Das Amt dauert sieben Jahre. Vor Ablauf der Frist kann der Reichspräsident auf Antrag des R e i c h s t a g e s durch Volksabstimmung abgesetzt werden. Der Beschluss des Reichstages erfordert Zweidrittelmehrheit. Durch den Beschluss ist der Reichspräsident an der ferneren Ausübung des Amtes verhindert (Suspension vom Amt). Die Ablehnung der Absetzung durch die Volksabstimmung gilt als neue Wahl 2 ) und hat die Auflösung de» Reichstags zur Folge (Art. 43 Abs. 2). C. Der Reichspräsident wird auf kürzere Zeit durch den Reichskanzler v e r t r e t e n ; dauert die Verhinderung voraussichtlich längere Zeit»), so ist die Vertretung durch ein 1) Ein Vorentwurf ist im Januar 19'20 veröffentlicht worden. Vgl. K a i s e n b e r g , PrVerwBl. Bd. 41 S.213. Die Nationalversammlung nahm den endgültigen Gesetzentwurf am 22. April an. 2) Beginnt damit eine neue Wahrperiode? Ist er also von der Volksabstimmung gerechnet auf weitere sieben Jahre gewählt, oder kann er nur bis zum Ablauf von sieben Jahren von der ursprünglichen Wahl gerechnet, sein Amt bekleiden? M. E. gilt das erstere. 3) Was unter „längerer Zeit' zu verstehen ist, bleibt unbestimmt; es können, einige Wochen oder auch Monate sein. Es wäre gut, «ine genaue Zeitbestimmung anzusetzen.

VI Abschnitt. Die Org-anis. d. Reiches. Der Reichspräsident.

141

Reichsgesetz zu regeln. Die F ä l l e d e r V e r t r e t u n g sind: Verhinderung (körperliche oder geistige Erkrankung, längere Reisen oder Abwesenheit von Deutschland) und vorzeitige Erledigung der Präsidentschaft bis zur Durchführung der neuen Wahl (Art. 51), insbesondere durch Tod, Amtsverzicht, Absetzung 1 ). III. D i e r e c h t l i c h e S t e l l u n g d e s R e i c h s präsidenten. 1. I m a l l g e m e i n e n : Er ist Staatsoberhaupt, nicht Reichsbeamter, steht also ausserhalb und oberhalb der Beamtenschaft. Er hat keinen Sitz im R e i c h s r a t , denn dieser vertritt die deutschen Länder, der Reichspräsident das Reich. Er kann auch nicht zugleich Mitglied des R e i c h s t a g e s s e i n (Art. 44), denn er ist, wie dieser, vom g a n z e n V o l k e gewählt und hat auch Aufgaben ihm g e g e n ü b e r wahrzunehmen. Der Reichskanzler und die Reichsminister sind nicht seine Untergebenen; es besteht kein Unterordnungsverhältnis; die Reichsregierung ist ebenfalls selbständiges oberstes Organ des Reichs, der aktive Ausschuss der Mehrheit der Volksvertretung. Reichskanzler und Reichsminister sind nicht dem Reichspräsidenten, sondern dem R e i c h s t a g gegenüber verantwortlich. Im übrigen ist sein Verhältnis zum Ministerium in den Vorschriften begründet, die aus dem Grundgedanken der parlamentarischen Regierungsweise folgen 8 ). 2. I m b e s o n d e r e n : A. D i e V e r a n t w o r t l i c h k e i t . a) Der Reichspräsident ist p o l i t i s c h u n v e r a n t w o r t l i c h . Dies ergibt sich daraus, dass die Verantwortlichkeit der Reickskanzler und die Reichsminister zu tragen haben. Alle Anordnungen und Verfügungen des Reichspräsidenten, auch solche auf dem Gebiete der Wehrmacht, bedürfen zu ihrer Gültigkeit der Gegenzeichnung durch den Reichskanzler oder den zuständigen Reichsminister 3 ). Durch die Gegenzeichnung wird die Verantwortlichkeit übernommen. (Art. 50). 1) Stirbt beim Fehlen des Reichspräsidenten der Reichskanzler, so ist für jenen kein verfassungsmässiger Vertreter da. Es muss dann sofort ein neuer gewählt werden. Schwarz (DJZ. 1920 Sp. 219) will die Lücke durch die vermutete Zuständigkeit des Reichstag« ausgefüllt wissen. 2) S. unten 146 f., 148 ff. 3) Das gilt auch für die Anordnung des Reichspräsidenten, die den Reichstag auflöst. Für diesen Fall forderten Entbindung von dem Erfordernis ministerieller Gegenzeichnung A n s c h ü t z DJZ. 1919, Sp. 204; T h o m » , Annalen f. soz. Politik Bd. VI, S.430;

142

Zweiter Teil.

Das Recht der Verfassungsurkund«.

b) S t r a f r e c h t l i c h ist er v e r a n t w o r t l i c h , doch kann er ohne Zustimmung des Reichstages nicht verfolgt werden, (Art. 4 3 Abs. 3). Im Falle dieser Zustimmung ist zwar ein Unterschied gegenüber der Zeit w ä h r e n d der Amtsführung und n a c h h e r in der Verfassungsurkunde nicht gemacht worden. E s sind aber m. E . folgende Möglichkeiten zu unterscheiden : aa) Eine schwere Strafrechtsverletzung wird w ä h r e n d der Amtsdauer begangen und kommt auch während dieser zur Kenntnis der Öffentlichkeit oder der Behörden. Dann wird der Reichspräsident abgesetzt werden und die strafrechtliche Verfolgung wird nachfolgen müssen. bb) Die schwere Strafrechtsverletzung wird zwar w ä h r e n d der Amtadauer begangen, kommt aber erst n a c h Beendigung: der Amtsdauer zur Kenntnis. Man wird dann wieder unterscheiden müssen: a) E s stehen Handlungen in Frage, derentwegen eine Absetzung (Alt. 43) oder eine Anklage während der Amtszeit (gemäss Art. 59) hätte erhoben werden können; dann bedarf es der Zustimmung des Reichstages. Dies ist zu folgern aus der Verbindung von Art. 4 3 Abs. 3 und 5 9 Satz 1, wo schuldhafte Verletzung der Reichsverfassung „oder eines Reichsgesetzes", also auch eines R e i c h s s t r a f g e s e t z e s , in Rede steht. ß) Oder aber es sind nicht Handlungen in F r a g e / derentwegen eine Absetzung (Art. 43) oder eine Anklage w ä h r e n d , der Amtszeit gemäss Art. 5 9 hätte erhoben werden können. Dann bedarf es der Zustimmung des Reichstages zur strafrechtlichen Verfolgung nicht. Denn Art. 5 9 und dessen Nichtanwendbarkeit deckt den Präsidenten nicht und es komipt seine strafrechtliche Verantwortlichkeit als einfacher Bürger in Betracht. cc) Die Strafrechtsverletzung wird n a c h Beendigung des Amtes begangen; dann ist es zu halten wie in dem letzterwähnten Falle, aus denselben Gründen. c) Eine d i s z i p l i n a r e Verantwortlichkeit ergibt der Satz, dass der Reichstag berechtigt ist, den Reichspräsidenten vor dem Staatsgerichtshof des Deutschen Reich» anzuklagen. Erforderlich ist ein Antrag auf Erhebung der Anklage, der von mindestens 100 Mitgliedern des Reichstags unterzeichnet sein muss und der Zustimmung der für Verfassungsänderungen vorgeschriebenen Mehrheit bedarf. Als strafbare K a u f m a n n , a. a. O. S. 22 und B ü h l e r in der Köln. Ztg. Morgenansgabe v. 19. März 1919. L u k a s , a. a. 0. S. 33 hat gezeigt, dass es praktisch-politisch auf dasselbe hinauskommt, ob im Falle eines Konflikts des Staatshaupts mit Parlament u n d Kabinett die Auflöaungsverfügung der Gegenzeichnung bedarf oder nicht.

Tl. Abschnitt. Die Orgaiiis. d. Reiches.

Der Reichspräsident.

149

Handlung wird bezeichnet die Verletzung der Reichsverfassung oder eines Reichsgesetzes (Art. 59). Es braucht also nicht etwa ein Verfassungsgesetz zu sein, man denke nur an ein Amtsverbrechen nach dem Strafgesetzbuch z. B. Bestechung. Doch ist zu beachten, dass der Antrag nur bei R e c h t s verletzung, nicht bei p o l i t i s c h e n Meinungsverschiedenheiten und Unglücksfällen, die das Land betroffen haben und dem Reichspräsidenten zur Last gelegt werden könnten, zugelassen ist. Staatsanwaltschaft als Ankläger, Verfahren und Strafen sind offen gelassen. Einzelheiten regelt das Reichsgesetz über den Staatsgerichtshof. d) Die b ü r g e r l i c h - r e c h t l i c h e H a f t b a r k e i t des Reichspräsidenten wird, obwohl er nicht Beamter im eigentlichen Sinne, sondern Staatsoberhaupt ist, nach den Vorschriften zu beurteilen sein, die hinsichtlich der Beamtenhaftpflicht bestehen, (s. Art. 131 und Reichsbeamtenhaftpflichtgesetz vom 22. März 1910, RGBl. S. 798). B. V ö l k e r r e c h t l i c h e V e r t r e t u n g . Hierin cnd in der Zuständigkeit, im Namen des Reichs Bündnisse und andere Verträge mit auswärtigen Mächten zu schliessen, Gesandte zu beglaubigen und zu empfangen, besteht die vornehmste Aufgabe des Reichspräsidenten (Art. 45)'). Hier zeigt sich u. a. auch, dass die auswärtige Politik lediglich Reichsangelegenheit ist. C. D e r R e i c h s p r ä s i d e n t e r n e n n t u n d e n t lässt die R e i c h s b e a m t e n und die Offiziere, letzteres natürlich nur nach Massgabe des verbürgten 'Beamtenrechts (Art. 129). Das Gesetz kann etwas anderes bestimmen. Er hat auch das Delegationsrecht, d. h. er kann das Ernennungsund Entlassungsrecht durch andere Behörden ausüben lassen (Art. 46). Zu beachten ist die in anderem Zusammenhange bereits erwähnte Vorschrift, dass die mit der unmittelbaren Reichsverwaltung in den Ländern betrauten Beamten in der Regel Landesangebörige sein sollen und dass die Beamten {1er Reichsverwaltung auf ihren Wunsch in ihren Heimatgebieten. EU verwenden sind, soweit dies möglich ist und nicht Rücksichten auf ihre Ausbildung oder Erfordernisse des Dienste» entgegenstehen (Art. 16). D. D e r R e i c h s p r ä s i d e n t hat den Ober1) Auch hier sei darauf hingewiesen, dass Bündnisse und Verträge mit fremden Staaten, die sich auf Gegenstände der Reichsgesetzgebung beziehen, der Zustimmung des Reichstages bedürfen Und dass Kriegserklärung und Friedensschluss n u r durch Reichsgeset« erfolgen (Art. 45 Abs. 2 und 3).

144

Zweiter Teil.

Das Recht der Verfassungsurkunde.

befehl über die gesamte W e h r m a c h t des E e i c h e s (Art. 47). a) Man ging bei der Schaffung dieser Vorschrift davon aus, dass die politische und militärische Leitung des Reichs in e i n e r Hand liegen muss. Da der Reichspräsident die oberste politische Leitung hat, so muss ihm auch die letztinstanzliche Entscheidung über militärische Fragen zustehen. Er soll keineswegs auch persönlich die Truppen führen. Er bleibt aber die höchste und letzte Instanz auf dem Gebiete des Militärkommandos 1 ). Von diesem Gesichtspunkte aus bestanden auch keine Bedenken, die militärischen Anordnungen des Reichspräsidenten schlechthin, also auch, soweit sie reine Kommandoakte sind, der Gegenzeichnung zu unterwerfen (Art. 50). Ohne diese würde der Reichspräsident eine zu starke selbstherrliche militärische Macht erhalten haben. b) Der Reichspräsident hat auch den O b e r b e f e h l s h a b e r zu ernennen. Dies wird besonders nötig, weil ausser der eigentlichen technischen Truppenführung auch Anordnungen des militärischen Befehls in Frage kommen, für die der Reichspräsident letzte Instanz sein muss, z. B. Ordnung der Disziplin, Beschwerdeangelegenheiten, Mobil- und Demobilmachung, Exerzier- und sonstige technische Reglements, Inspektionsbefehle nnd ähnliches. Ausserdem stösst es bei grösseren kriegerischen Unternehmungen auf Schwierigkeiten, die Führung der gesamten Wehrmacht — Feld und Heimat — in eine einzige Hand zu legen. Die Geschäfte sind hier so umfangreich und die Verhältnisse so verschiedenartig, dass ein Einzelner sie in ihrer Gesamtheit kaum übersehen kann. Mit der Teilung der Führung erwächst aber die Notwendigkeit, die Zuständigkeiten der Führer untereinander abzugrenzen und ein Stelle zu haben, in der dieselben auslaufen. Diese Stelle wird wegen des engen Zusammenhanges der militärischen und politischen Angelegenheiten nur der Reichspräsident sein können, der auch in dieser Beziehung an die Stelle des Kaisers der bisherigen Verfassung tritt*). E. An die Bogenannte B u n d e s e x e k u t i o n der bisherigen ReichsverfasBting erinnert Art. 48 Abs. 1. Wenn 1) In den einzelnen Ländern gibt es Reichswehrbefehlstellen und Landeskommandanten, die im Auftrage des Reichswehrministers zeichnen. So ist z. B. das bayerische Eontingent der Reichswehr am 25. August 1919 in Gegeuwart des Reichspräsidenten Ebertund des damaligen Reichswehrministers Noske an das Reich übergeben worden. 2) Erklärung des militärischen Vertreters der Reirhsregierung im Verfassungsausschuss.

VI. Abschnitt. Die Organig. des Reiche«. Der Reichspräsident.

145

ein Land die ihm nach der Reichsverfaseung oder den Reichsgesetzen obliegenden Pflichten nicht erfüllt, kann der Reichspräsident es dazu mit Hilfe der bewaffneten Macht anhalten (Reichsexekution). Eng schliessen sich (Abs. 2 daselbst) die Bestimmungen an, die dem bisherigen B e l a g e r u n g s z u s t a n d s r e c h t e entsprechen. Sie sind nicht erschöpfend, sodass auf ein noch zu erlassendes Reichsgesetz verwiesen wird. Der Reichspräsident kann, wenn im Deutschen Reiche die öffentliche Sicherheit und Ordnung erheblich gestört oder gefährdet wird, die zur Wiederherstellung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung nötigen Massnahmen treffen, erforderlichenfalls mit Hilfe der bewaffneten Macht einschreiten. Zu diesem Zwecke darf er vorübergehend die Grundrechte der Unverletzlichkeit, der Person und der Wohnung, des Briefgeheimnisses, der freien Meinungsäusserung, des Vereins- nnd Versammlungsrechts und des E i g e n t u m s , ganz oder teilweise ausser Kraft setzen 1 ). Die allgemeine Bestimmung des Art. 50 bürgt schon für die Verantwortlichkeit der Reicbsregierung hinsichtlich der vorgesehenen Massnahmen, sodass es einer besonderen Bestimmung hierfür nicht bedurfte. Überdies wird die Entscheidung bei durchgeführter parlamentarischer Regierungsweise tatsächlich in der Hand des Reichskanzlers und der Reichsminister liegen. Von allen, die Reichsexekution betreffenden and den anderen hier erwähnten Massnahmen bat der Reichspräsident unverzüglich dem Reichstag Kenntnis zu geben. Dort werden sie von dem verantwortlichen Reichsminister zu vertreten sein. Die Massnahmen siud auf Verlangen des Reichstages ausser Kraft zu Betzen (Art. 48 Abs. 3). F. Der Reichspräsident übt für das Reich das B eg n a d i g u n g s r e c h t aus, d. h. soweit es dem Reiche und 1) Vgl. die Verordnungen des Reichspräsidenten vom 13. und 29. Januar und 2. März 1920 (RGBl. S. 207, 195, 357) auf Grund Art. 48 Abs. 2 RV. Ausserordentliche Kriegsgerichte und Standgerichte sind zwar nach Art. 105 Satz 2 zulässig, doch können nur die b i s h e r i g e n gesetzlichen Bestimmungen über sie Anwendung finden; nur auf sie trifft die Wendung zu, dass sie „unberührt" bleiben. N e u e s materielles und Prozessrecht über ausserordentliche Kriegs-'und Standgerichte ist m. E . unzulässig. Doch wird dies im neuesten Deutschland nicht immer beachtet; vgl. Verordnung des Reichspräsidenten auf Grund de» Art. 48 Abs. 2 für die Regierungsbezirke Düsseldorf, Arnsberg und Münster vom 11. Januar 1920, Zusatzverordnung desselben vom 13. Jan. und Zusätze des Reichswehrministers und Befehlshabers des Wehrkreisbezirks VI. Bei Gefahr im Verzuge kann auch eine L a n d e s r e g i e r u n g für ihr Gebiet einstweilige Massnahmen derselben Art treffen, die auf Verlangen des Reichspräsidenten oder des Reichstages ausser Kraft zu setzen sind (a. a. 0 . Abs. 4). S t i e r - S o m l o , Reichsverfassung. 2. Aufl.

IQ

146

Zweiter Teil.

Da« Kecht der Verfassungsurkunde.

nicht den Ländern zusteht. Dagegen bedürfen R e i c h s a m n e s t i e n eines Reichsgesetzes'). Freilich steht der Begriff der Amnestien rechtlich nicht fest. Wird also sein Vorhandensein in einem konkreten Falle verneint, so kann der Reichspräsident die Handlung als „Begnadigung" vornehmen (s. Art. 49). IV. V e r h ä l t n i s z u r R e i c h s r e g i e r n n g . A. Der Reichspräsident e r n e n n t d e n R e i c h s k a n z l e r u n d auf s e i n e n V o r s c h l a g die Reichsminister u n d e n t l ä s s t s i e (Art. 53). Freilich ist das Ernennungsrecht nur ein formales, weil die politische Lage ihn zur Berufung des die Mehrheit in der Volksvertretung leitenden Politikers führen m u s s . Es wird der Reichskanzler sich auch keine ihm nicht genehmen Ministerkollegen aufdrängen lassen, sondern lieber auf die Kabinettsbildung verzichten. Der Reichspräsident ist daher g e b u n d e n an den engen Kreis der bei der politischen Lage im Augenblick der Bildung der Reichsregierung für diese überhaupt in Frage kommenden Personen. Es hängt von der besonderen Konstellation ab, ob er einen ganz bestimmten Parteiführer als Reichskanzler und genan bezeichnete Personen als Reichsminister nehmen muss, oder ob er die Freiheit der Wahl zwischen mehreren besitzt. Ist das letztere der Fall, sind zwei oder mehrere geeignete und durch dieselbe Parlamentsmehrheit getragene Persönlichkeiten vorhanden, so wird ihm ein möglicherweise im Ergebnis sehr wichtiger Spielraum gegönnt sein. Vielleicht wird er von diesem in d e n Fällen Gebrauch machen, in denen nicht Parlamentsmitglieder zu Ministern berufen werden sollen. Auch die „Entlassung" des Reichsministeriums wird nur eine formelle Sache, nicht das Ergebnis s e i n e r Entscheidung werden. Das demokratische und parlamentarische System bedingt in Konsequenz der Volkssouveränität die Herrschaft der Mehrheit in der Volksvertretung. Da nur ein dieser Mehrheit entsprechendes Mipisterium berufen werden kann, vermag dieses auch bloss solange im Amte zu bleibeD, als es das Vertrauen der Mehrheit besitzt. Letzten Endes liegt die Entscheidung darüber, . wie das Kabinett zusammengesetzt werden soll, bei den Wählern. B. D i e G e s c h ä f t s o r d n u n g d e r R e i c h s r e g i e r u n g muss vom Reichspräsidenten genehmigt werden (Art. 55). V. D a s V e r h ä l t n i s zum R e i c h s t a g und Reichsrat. A. Der Reichspräsident hat das Recht zur vorzeitigen 1) Vgl. die Schriften von S. L ö w e n s t e i n , Die Reichsamnestien •der Friedensverträge und Revolutionsgesetze im Deutschen Reich* 1919; A l s b e r g , Die Reichsamnestiegesetze, 1919.

VI. Abschnitt. Die Organis, des Reiches. Der Reichspräsident.

145

ein Land die ihm nach der Reichsverfassung oder den Reichsgesetzen obliegenden Pflichten nicht erfüllt, kann der Reichspräsident es dazu mit Hilfe der bewaffneten Macht anhalten (Reichsexekution). Eng schliessen sich (Abs. 2 daselbst) die Bestimmungen an, die dem bisherigen B e l a g e r u n g s z u s t a n d s r e c h t e entsprechen. Sie sind nicht erschöpfend, sodass auf ein noch zu erlassendes Reichsgesetz verwiesen wird. Der Reichspräsident kann, wenn im Deutschen Reiche die öffentliche Sicherheit und Ordnung erheblich gestört oder gefährdet wird, die zur Wiederherstellung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung nötigen Massnahmen treffen, erforderlichenfalls mit Hilfe der bewaffneten Macht einschreiten. Zu diesem Zwecke darf er vorübergehend die Grundrechte der Unverletzlichkeit, der Person und der Wohnung, des Briefgeheimnisses, der freien Meinungsäusserung, des Vereins- und Versammlungsrechts und des E i g e n t u m s , ganz oder teilweise ausser Kraft setzen 1 ). Die allgemeine Bestimmung des Art. 50 bürgt schon für die Verantwortlichkeit der Reichsregierung hinsichtlich der vorgesehenen Massnahmen, sodass es einer besonderen Bestimmung hierfür nicht bedurfte. Überdies wird die Entscheidung bei durchgeführter parlamentarischer Regierungsweise tatsächlich in der Hand des Reichskanzlers und der Reichsminister liegen. Von allen, die Reichsexekution betreffenden und den anderen hier erwähnten Massnahmen hat der Reichspräsident unverzüglich dem Reichstag Kenntnis zu geben. Dort werden sie von dem verantwortlichen Reichsminister zu vertreten sein. Die rMassnahmen sind auf Verlangen des Reichstages ausser Kraft zu setzen (Art. 48 Abs. 3). F. Der Reichspräsident übt für das Reich das B eg n a d i g u n g s r e c h t aus, d. h. soweit es dem Reiche und 1) Vgl. die Verordnungen des Reichspräsidenten vom 13. und 29. Januar und 2. März 1920 (RGBl. S. 207, 195, 357) auf Grund Art. 48 Abs. 2 RV. Ausserordentliche Kriegsgerichte und Standgerichte sind zwar nach Art. 105 Satz 2 zulässig, doch können nur die b i s h e r i g e n gesetzlichen Bestimmungen über sie Anwendung finden; nur auf sie trifft die Wendung zu, dass sie „unberührt" blei ben. N e u e s materielles und Prozessrecht über ausserordentliche Kriegs- und Standgerichte ist m. E. unzulässig. Doch wird dies im neuesten Deutschland nicht immer beachtet; vgl. Verordnung des Reichspräsidenten auf Grund des Art. 48 Abs. 2 für die Regierungsbezirke Düsseldorf, Arnsberg und Münster vom 11. Januar 1920, Zusatzverordnung desselben vom 13. Jan. und Zusätze des Reichswehrministers und Befehlshabers des Wehrkreisbezirks VI. Bei Gefahr im Verzuge' kann auch eine Land e s r e g i e r u n g für ihr Gebiet einstweilige Massnahmen derselben Art treffen, die auf Verlangen des Reichspräsidenten oder des Reichstages ausser Kraft zu setzen sind (a. a. 0. Abs. 4). S t i e r - S o m l o , Reichsverfassung. 2. Aufl.

10

146

Zweiter Teil.

Das Recht der Verfassungsurkunde.

nichtden Ländern zusteht. Dagegen bedürfen R e i c h s a m n e s t i e n eines Reichsgesetzes x ). Freilich steht der Begriff der Amnestien rechtlich nicht fest. Wird also sein Vorhandensein in einem konkreten Falle verneint, so kann der Reichspräsident die Handlung als „Begnadigung" vornehmen (s. Art. 49). IV. V e r h ä l t n i s z u r R e i c h s r e g i e r u n g. A. Der Reichspräsident e r n e n n t d e n R e i c h s k a n z l e r und auf s e i n e n Vorschlag die Reich sniinister u n d e n t l ä s s t s i e (Art. 53). Freilich ist das Ernennungsrecht nur ein formales, weil die politische Lage ihn zur Berufung des die Mehrheit in der Volksvertretung leitenden Politikers führen m u s s . Es wird der Reichskanzler sich auch keine ihm nicht genehmen Ministerkollegen aufdrängen lassen, sondern lieber auf die Kabinettsbildung verzichten. Der Reichspräsident ist daher g e b u n d e n an den engen Kreis der bei der politischen Lage im Augenblick der Bildung der Reichsregierung für diese überhaupt in Frage kommenden Personen. Es hängt von der besonderen Konstellation ab, ob er einen ganz bestimmten Parteiführer als Reichskanzler und genau bezeichnete Personen als Reichsminister nehmen muss, oder ob er die Freiheit der Wahl zwischen mehreren besitzt. Ist das letztere der Fall, sind zwei oder mehrere geeignete und durch dieselbe Parlamentsmehrheit getragene Persönlichkeiten vorhanden, so wird ihm ein möglicherweise im Ergebnis sehr wichtiger Spielraum gegönnt sein. Vielleicht wird er von diesem in d e n Fällen Gebrauch machen, in denen nicht Parlamentsmitglieder zu Ministern berufen werden sollen. Auch die „Entlassung" des Reichsministeriums wird nur eine formelle Sache, nicht das Ergebnis s e i n e r Entscheidung werden. Das demokratische und parlamentarische System bedingt in Konsequenz der Volkssouveränität die Herrschaft der Mehrheit in der Volksvertretung. Da nur ein dieser Mehrheit entsprechendes Ministerium berufen werden kann, vermag dieses auch bloss solange im Amte zu bleiben, als es das Vertrauen der Mehrheit besitzt. Letzten Endes liegt die Entscheidung darüber, wie das Kabinett zusammengesetzt werden soll, bei den Wählern. B. D i e G e s c h ä f t s o r d n u n g d e r R e i c h s r e g i e r u n g muss vom Reichspräsidenten genehmigt werden (Art. 55). V. D a s V e r h ä l t n i s zum R e i c h s t a g und Reichsrat. A. Der Reichspräsident hat das Recht zur vorzeitigen 1) Vgl. die Schriften von S. L ö w e n s t e i n , Die Reichsamnestieu der Friedensverträge und Revolutionsgesetze im Deutschen Reich, 1919; A l s b e r g , Die Reichsamnestiegesetze, 1919.

VI. Abschnitt.

Die Organis. d. Reichs.

Die Reichsregierung.

151

dem Staatsgerichtshof für das Deutsche Reich anzuklagen, weil sie schuldhaftcrweise 1 ) die Reichsverfassung oder ein Reichsgesetz verletzt habeu. Gemeint ist hier lediglich die politische Verantwortlichkeit. Im übrigen gilt dasselbe wie bei der A n k l a g e des Reichspräsidenten (s. oben S . 1 4 2 zu c). Auch hier fehlen Vorschriften über Staatsanwaltschaft, Strafen und V e r f a h r e n ; sie werden durch das Reichsgesetz über den Staatsgerichtshof geregelt (Art. 5 9 ) . I V . V e r h ä l t n i s z u m R e i c h s r a t . Die Reichsregierung IUU6S ihn auf Verlangen von einem Drittel seiner Mitglieder einberufen (Art. 6 4 ) ; ein Mitglied der Reichsregierung führt den Vorsitz im Reichsrat und in seihen Ausschüssen. An den Verhandlungen dieser beiden teilzunehmen haben die Mitglieder der Reichsregierung das R e c h t und auf Verlangen die P f l i c h t . S i e müssen während der Beratung auf Verlangen j e d e r z e i t gehört werden (Art. 65). D i e Reichsregierung ist befugt, im Reichsrat Anträge zu stellen (Art. 6 6 Abs. 1). Dieser ist von den Reichsministerien über die Führung der R e i c h s g e s c h ä f t e auf dem Laufenden zu halten. Zu Beratungen über wichtige Gegenstände sollen von den ReichsminiRterien •die zuständigen Ausschüsse des Reichsrats zugezogen werden (Art. 6 7 ) . V. W a s die M i t w i r k u n g d e r R e i c h s r e g i e r u n g b e i d e r G e s e t z g e b u n g angeht, so besteht die sogenannte Initiative (Einbringung von Gesetzentwürfen Art. 6 8 Abs. 1 ) * ) . D a s weitere zu diesem Punkt ist unten geschildert (s. S . 1 6 2 f.). D a s V e r o r d n u n g s r e c h t steht der Reichsregierung grundsätzlich zu, soweit es sich handelt a) um die Ausführung der Reichsgesetze (Art. 7 7 ) ; b) um Festsetzung der Grundsätze und Gebühren für die Benutzung der Verkehrseinrichtnngen a u f dem Gebiete des Post-, Telegraphen- und Fernsprechwesens (Art. 8 8 Abs. 3 ) ; c ) um den Bau, den Betrieb und d e n Verkehr von Eisenbahnen (Art. 91). Die nach den bisherigen Vorschriften dem Staatenausscbuss zustehende B e f u g n i s zum E r l a s s von Verordnungen geht allgemein auf die R e i c h s regierung über (Art. 1 7 9 Abs. 2 ) a ) . 1) Die Schuld kann sowohl rechtswidriger Vorsat/, alti Fahrlässigkeit sein. Im Falle rein objektiver Verfassungsverletzung ist «in Feststellungsurteil des Staatsgerichtshofs nicht vorgesehen. So B i n d i n g , Zum Werden und Leben der Staaten, 1920, S 408. 2) Beim Verhältnis der Reichsregierung zum Reichstag kommt noch in Frage, dass Reichskanzler, Reichsminister und die von ihnen bestellten Beauftragten zu den Sitzungen des Reichstags und seiner Ausschüsse Zutritt und das Recht auf Gehör haben (Art. 33 Abs. 2 S. 1, Abs. 3). 3) Vgl. £rwin J a c o b i , Das Verordnungsrecht im Reiche seit

152

Zweiter Teil.

Das Recht der Verfassungsurkunde.

VI. Die Zuständigkeit der Reichsregierung a u f d e m Gebie'te der V e r w a l t u n g ergibt sich aus ihrer Rechtstellung als oberster Verwaltungsbehörde in allen Angelegenheiten der r e i c h s e i g e n e n V e r w a l t u n g und aus den Funktionen, welche sich aus der R e i c h s a u f s i c h t über die Länder ergeben. Vgl. die in anderem Zusammenhang erörterten und in Bezug genommenen Vorschriften des 6. Abschnitts „Die Reichsverwaltung" (Art. 78—101) 1 ). Viertes Hauptstück.

Der Reichstag. I. R e c h t l i c h e Natur. Der Reichstag ist der Träger der Souveränität des Reiches2). Er übt die beim Reichsvolke liegende Staatsgewalt zum wesentlichen Teil aus. Er besteht aus den Abgeordneten des deutseben Volkes, vertritt nicht die Länder. Er übt die K o n t r o l l e aus g e g e n ü b e r der mit den politischen Grundsätzen und Absichten seiner Mehrheit notwendigerweise übereinstimmenden R e i c h s r e g i e r u n g und wacht auch über die Verfassungs- und Gesetzmässigkeit der Handlungen des R e i c h s p r ä s i d e n t e n . II. Die W i l l e n s b i l d u n g d e s R e i c h s t a g e s äussert sich 1. in der B e s c h l u s s f a s s u n g über A. die einfachen Reichsgesetze (Art. 68, 73, 74) und die v e r f a s s u n g ä n d e r n d e n Reichsgesetze, bei letzteren dem November 1918, Arch. f. öff. Recht Bd. 39 (1920) S. 273 ff, 329 ff. Das Verordnungsrecht der Reichsregierung aus § 1 des Gesetzes vom 17. April 1919 ist aufrechterhalten; ein neues a l l g e m e i n e s Verordnungsrecht wird n i c h t eingeführt. Art. 179 RV. gibt nicht das Recht zum Erlass von R e c h t s Verordnungen, sondern n u r von allgemeinen V e r w a l t u n g s v o r s c h r i f t e n , V e r w a l t u n g s Verordnungen. R e c h t s Verordnungen sind n u r auf Grund vereinzelter b e s o n d e r e r Ermächtigung der Reichsverfassung zugelassen, Art. 88 Abs. 3, Art. 91. Eine allgemeine Ermächtigung zum Erlass von R e c h t s Verordnungen enthält § 28 des Ausführungsgesetzes zum Friedensvertrage vom 31. August 1919, wenn auch mit den Be-~ schränkungen, dass sie n u r während einer Vertagung der Nationalversammlung und mit Zustimmung des Reichsrats, sowie eines von der Nationalversammlung zu wählenden Ausschusses von 15 Mitgliedern erlassen werden können. 1) Besondere Rechte einzelner Minister: Art. 88, Abs. 91 Satz 2 r Verordnungsrecht des Reichspostministers und des Reichsministers f ü r Eisenbahnen. 2) Uber das Problem der Bildung der Parlamente u n d der Volksversammlung des Freistaats in B i n d i n g , Zum Werden u n d u n d Leben der Staaten, 1920 S. 297—317; über die Verschiebung der konstitutionellen Ordnung durch die Verhältniswahl S m e n d i n d e r Festgabe f ü r Bergbohm 1920 S. 278—287.

VI. Abschnitt.

Die Organi». d. Reichs.

Die Rcichsregierung.

151

dem Staatsgeriehtshof für das Deutsche Reich anzuklagen, weil sie seiiuldhafterweise 1 ) die Reichsverfassung oder ein Reichsgesetz verletzt haben. Gemeint ist hier lediglich die politische Verantwortlichkeit. Im übrigen gilt dasselbe wie bei der Anklage des Reichspräsidenten (s. oben S. 142 zu c). Auch hier fehlen Vorschriften über Staatsanwaltschaft, Strafen und Verfahren; sie werden durch das Reichsgesetz über den Staatsgerichtshof geregelt (Art. 59). IV. V e r h ä l t n i s z u m R e i c h s r a t . Die Reiclisregierung muss ihn auf Verlangen von einem Drittel seiner Mitglieder einberufen (Art. 64); ein Mitglied der Reichsregierung führt den Vorsitz im Reichsrat und in seinen Ausschüssen. An den Verhandlungen dieser beiden teilzunehmen haben die Mitglieder der Reichsregierung das Recht und auf Verlangen die Pflicht. Sie müssen während der Beratung auf Verlangen jederzeit gehört werden (Art. 65). Die Reichsregierung ist befugt, im Reichsrat Anträge zu stellen (Art. 66 Abs. 1). Dieser ist von den Reichsministerien über die Führung der Reichsgeschäfte auf dem Laufenden zu halten. Zu Beratungen über wichtige Gegenstände sollen von den Reichsministerien die zuständigen Ausschüsse des Reichsrats zugezogen werden (Art. 67). V. Was die M i t w i r k u n g d e r R e i c h s r e g i e r u n g b e i d e r G e s e t z g e b u n g angeht, so besteht die sogenannte Initiative (Einbringung von Gesetzentwürfen Art. 68 Abs. 1)*). Das weitere zu diesem Punkt ist unten geschildert (s. S. 162 f.). Das V e r o r d n u n g s r e c h t steht der Reichsregierung grundsätzlich zu, soweit es sich handelt a) um die Ausführung der Reichsgesetze (Art. 77); b) um Festsetzung der Grundsätze und Gebühren für die Benutzung der Verkehrseinrichtungen auf dem Gebiete des Post-, Telegraphen- und Fernsprechwesens (Art. 88 Abs. 3); c) um den Bau, den Betrieb und den Verkehr von Eisenbahnen (Art. 91). Die nach den bisherigen Vorschriften dem Staatenausschuss zustehende Befugnis anm Erlass von Verordnungen geht allgemein auf die Reichsregierung über (Art. 179 Abs. 2) 8 ). 1) Die Schuld kann sowohl rechtswidriger Vorsatz als Fahrlässigkeit sein. Im Falle rein objektiver Verfassung^Verletzung ist •in Feststellungsurteil des Staatsgerichtshofs nicht vorgesehen. So B i n d i n g , Zum Werden und Leben der Staaten, 1920, S 408. 2) Beim Verhältnis der Reichsregierung zum Reichstag kommt noch in Frage, dass Reichskanzler, Reichsminister und die von ihnen bestellten Beauftragten zu den Sitzungen des Reichstagg und «einer Ausschüsse Zutritt und das Recht auf Gehör haben (Art. 33 Abs. 2 S. 1, Abs. 3). 3) Vgl. Erwin J a c o b i , Dat Verordnuugerecht im Raiehe seit-

152

Zweiter Teil.

Das Kecht der Verfassungeurkunde.

VI. Die Zuständigkeit der Reichsregierung a u f d e m G e b i e t e d e r V e r w a l t u n g ergibt sich aus ihrer Rechtstellung als oberster Verwaltungsbehörde in allen Angelegenheiten der r e i c h s e i g e n e n V e r w a l t u n g und aus den Funktionen, welche sich aus der R e i c h s a u f s i c h t Uber die Länder ergeben. Vgl. die in anderem Zusammenhang erörterten und in Bezug genommenen Vorschriften des 6. Abschnitts „Die Reichsverwaltung" (Art. 7 8 — 1 0 1 ) Viertes

Hanptstück.

Der Reichstag. I. R e c h t l i c h e N a t u r . Der Reichstag ist der Träger der Souveränität des Reiches 8 ). E r übt die beim Reichsvolke liegende Staatsgewalt zum wesentlichen Teil aus. E r besteht aus den Abgeordneten des deutschen Volkes, vertritt nicht die Länder. E r Übt die K o n t r o l l e aus g e g e n ü b e r der mit den politischen Grundsätzen und Absichten seiner Mehrheit notwendigerweise übereinstimmenden R e i c h s r e g i e r u n g und wacht auch über die Verfassungs- und Gesetzmässigkeit der Handlungen des R e i c h s p r ä s i d e n t e n . II. Die W i l l e n s b i l d u n g d e s R e i c h s t a g e s äussert sich 1. in der B e s c h l n s s f a s s u n g über A. die einfachen Reichsgesetze (Art. 68, 73, 74) und die v e r f a s s u n g ä n d e r n d e n Reichsgesetze, bei letzteren dem November 1918, Arch. f. öff. Recht Bd. 39 (1920) S. 273 ff, 329 ff. Das .Verordnungsrecht der Reichsregierung aus § 1 des Gesetze» vom 17. April 1919 ist aufrechterhalten; ein neues a l l g e m e i n e s Verordnungsrecht wird n i c h t eingeführt. Art. 179 RV. gibt nicht das Recht zum Erlass von R e c h t s Verordnungen, sondern nur von allgemeinen Verwaltunigsvorschriften, V e r w a l t u n g s Verordnungen. R e c h t s Verordnungen sind nur auf Grund vereinzelter b e s o n d e r e r Ermächtigung der Reichsverfassung zugelassen, Art. 88 Abs. 3, Art. 91. Eine allgemeine Ermächtigung' zum Erlass von R e c h t s Verordnungen enthält § 28 des Ausführungsgesetzes zum Friedensvertrage vom 31. August 1919, wenn auch mit den Beschränkungen, dass sie nur während einer Vertagung der Nationalversammlung und mit Zustimmung des Reichsrats, sowie eines von der Nationalversammlung zu wählenden Ausschusses von 15 Mitgliedern erlassen werden können. 1) Besondere Rechte einzelner Minister: Art. 88, Abs. 91 Satz 2 r Verordnungsrecht des Reichspostministers und des Reichsministers für Eisenbahnen. 2) Über das Problem der Bildung der Parlamente und der Volksversammlung des Freistaats in B i n d i n g , Zum Werden und und Leben der Staaten, 1920 S. 297—317; über die Verschiebung der konstitutionellen Ordnung durch die Verhältniswahl S m e n d in der Festgabe für Bergbohm 1920 S. 278—287.

VI. Abschnitt. Die Organisation des Reichs.

Der Reichstag.

153

mit gewissen Besonderheiten (Art. 76). D i e F o r m des Gesetzes ist n i c h t nur vorgeschrieben f ü r Rechtsregeln, sondern a u c h f ü r : K r i e g s e r k l ä r u n g und l'riedensschluss, die Feststellung des H a u s h a l t s p l a n e s , B e s c h a f f u n g von Geldmitteln im W e g e des Kredits und Ü b e r n a h m e einer Sicherheitsleistung zu L a s t e n des R e i c h s (Art. 45, 85, 87). F e r n e r ist sie vorgesehen u. a . in f o l g e n d e n F ä l l e n : f ü r die n ä h e r e B e s t i m m u n g über die R e i c h s t a g s w a h l e n (Art. 2 2 Abs. 2 ) , über die W a h l des Reichsp r ä s i d e n t e n (Art. 4 1 Abs. 3 ) , in der Angelegenheit des Bel a g e r u n g s z u s t a n d e s und bei ähnlichen Massnahmen, sowie d e r Reichsexekution (Art. 4 8 Abs. 5), bei Reichsamnestien (Art. 4 9 Abs. 2), bei R e g e l u n g der V e r t r e t u n g des Reichspräsidenten bei voraussichtlich l ä n g e r e r V e r h i n d e r u n g (Art. 5 1 Abs. 1 Satz 2), f ü r d a s V e r f a h r e n beim Volksentscheid und beim Volksbeg e h r e n (Art. 7 3 Abs. 5), bei Vorschriften über die E i n r i c h t u n g d e r A b g a b e n v e r w a l t u n g der L ä n d e r usw. (Art. 84), b e i R e g e lung der R e c h n u n g s f ü h r u n g des Reichsfinanzministers (Art. 86 S a t z 2), bei A n l e g u n g von Reichseisenbahnen auf eigene R e c h n u n g (Art. 9 4 Abs. 2), bei H e r a n z i e h u n g von Beteiligten zu B e i t r ä g e n f ü r die U n t e r h a l t u n g und den Ausbau des deutschen W a s s e r s t r a s s e n n e t z e s (Art. 99 Abs. 6), zur Bestimmung d e r K o s t e n d e c k u n g f ü r U n t e r h a l t und Bau von Binnenschiffahrtsw e g e n (Art. 100), f ü r die R e g e l u n g d e r Militärgerichtsbarkeit in Kriegszeiten u n d an Bord der Kriegsschiffe (Art. 106), f ü r die E r r i c h t u n g eines S t a a t s g e r i c h t s h o f e s (Art. 108) u s w . ; B. Aussetzung der V e r k ü n d u n g eines Gesetzes (Art. 7 3 Abs. 2 ) ; C. Schluss seiner T a g u n g u n d T a g seines W i e d e r z u s a m m e n t r i t t s (Art. 2 4 Abs. 3 ) ; D. Ausschluss d e r Öffentlichkeit der V e r h a n d l u n g e n (Abs. 29 Satz 2 ) ; E . Absetzung des Reichspräsidenten (Art. 4 3 Abs. 2) u n d seine A n k l a g e (Art. 5 9 ) ; F . A u s s e r k r a f t s e t z u n g von Massnahmen des Belagerungszustandes (Art. 4 8 Abs. 3 und 4 ) ; G. E n t z i e h u n g des Vertrauens g e g e n ü b e r dem Reichsk a n z l e r oder den Reichsministern (Art. 54). 2. D e r R e i c h s t a g h a t die Z u s t i m m u n g zur s t r a f r e c h t lichen V e r f o l g u n g des Reichspräsidenten (Art. 4 3 Abs. 3), zu Bündnissen u n d V e r t r ä g e n mit f r e m d e n S t a a t e n , die sich auf G e g e n s t ä n d e der Reichsgesetzgebung beziehen (Art. 4 5 Abs. 3 ) r zu erteilen. E r hat 3. die M i t w i r k u n g beim W a h l p r ü f u n g s g e r i c h t (Art. 3 1 ) ; 4. die G e n e h m i g u n g bei A u s n a h m e n von d e r A b g e o r d n e t e n - I m m u n i t ä t (Art. 3 7 ) ;

154

Zweiter Teil.

Das Recht der Verfassungsurkunde.

5. die K e n n t n i s n a h m e von der Reichsexekution, vom Belagerungszustand und ähnlichen Massnahmen {Art. 48). Über die Verwendung aller Reichseinnahmen legt der Reichsfinanzminister in dem folgenden Rechnungsjahre Rechnung. Der Reichstag entlastet ihn, d. h. anerkennt die Erfüllung gesetzlicher Verpflichtungen (Art. 86). Hierher ist auch das Recht zu schriftlichen Bitten und Beschwerden an die Volksvertretung zu rechnen (Art. 126), weil sie Anlass geben, sie der Reichsregierung zur Kenntnisnahme oder Erwägung mitzuteilen, oder Abhilfe von Ubelständen in Anregung zu bringen. 6. Das B u d g e t r e c h t steht nach Massgabe des Art. 85 dem Reichstag zu. Alle Einnahmen und Ausgaben des Reichs müssen für jedes Rechnungsjahr veranschlagt und in den Haushaltsplan eingestellt werden. Dieser wird vor Beginn de» Rechnungsjahres durch ein Gesetz festgestellt. Die Ausgaben werden in der Regel für ein Jahr bewilligt. .Sie können in besonderen Fällen auch für eine längere Dauer bewilligt werden. Im übrigen sind Vorschriften im Reichshaushaltsgesetz unzulässig, die über das Rechnungsjahr hinausreichen oder sich nicht auf die Einnahmen nnd Ausgaben des Reichs oder ihre Verwaltung beziehen. Der Reichstag kann im Entwürfe de» Haushaltsplans ohne Zustimmung des Reichsrats Ausgaben nicht erhöhen oder neu einsetzen. Die fehlende Zustimmung kann ersetzt werden (Art. 85). 7. Der Reichstag allein hat das Recht, im W e g e d e » K r e d i t s G e l d m i t t e l bei ausserordentlichem Bedarf and in der Regel nur für Ausgaben zu werbenden Zwecken z» beschaffen, ferner eine Sicherheitsleistung zu Lasten des Reich» zu übernehmen, jedesmal durch Gesetz (Art. 87). 8. Er hat die K o n t r o l l e der Reichsregierung (Art. 54, 56, 126), das Recht zur Anklage des Reichskanzlers und der Reichsminister (Art. 59) und kann die Anwesenheit des Reichskanzlers und Reichsministers verlangen (Art. 33 Abs. 1). III. W e i t e r e R e c h t e d e s R e i c h s t a g e s : 1. Die W a h l p r ü f u n g in den besonderen Formen de» Wahlprüfungsgerichts (Art. 31). Bis zur Errichtung des Reichsverwaltungsgerichts tritt an seine Stelle für die Bildung des Wahlprüfungsgerichts das Reichsgericht (Art. 166). 2. Er w ä h l t s e i n e n Präsidenten, dessen Stellvertreter und seine Schriftführer (Art. 26 Satz 1). 3. Er gibt sich seine G e s c h ä f t s o r d n u n g , durch die er seine Disziplin regelt (daselbst Satz 2). 4. Er kann U n t e r s u c h u n g s a u s s c h ü s s e einsetzen (Art. 34). Auf Antrag von einem Fünftel seiner Mitglieder muss er dies tun. Diese Ausschüsse erheben in öffentlicher

VI. Abschnitt. Die Organisation des Reichs.

Der Reichstag.

153

mit gewissen Besonderheiten (Art. 76). Die Form des Gesetze» ist nicht nur vorgeschrieben für Rechtsregeln, sondern auch für: Kriegserklärung und Friedensschluss, die Feststellung des Haushaltsplanes, Beschaffung von Geldmitteln im Wege des Kredits und Übernahme einer Sicherheitsleistung zu Lasten des Reichs (Art. 45, 85, 87). Ferner ist sie vorgesehen u. a. in folgenden Fällen: fttr die nähere Bestimmung über die Reichstagswahlen (Art. 22 Abs. 2), über die Wahl des Reichspräsidenten (Art. 41 Abs. 3), in der Angelegenheit des Belagerungszustandes und bei ähnlichen Massnahmen^ sowie der Reichsexekution (Art. 48 Abs. 5), bei Reichsamnestien (Art. 49 Abs. 2), bei Regelung der Vertretung des Reichspräsidenten bei voraussichtlich längerer Verhinderung (Art. 51 Abs. 1 Satz 2) r für das Verfahren beim Volksentscheid und beim Volksbegehren (Art. 73 Abs. 5), bei Vorschriften über die Einrichtung der Abgabenverwaltung der Länder usw. (Art. 84), bei Regelung der Rechnungsführung des Reichsfinanzministers (Art. 86 Satz 2), bei Anlegung von Reichseisenbahnen auf eigene Rechnung (Art. 94 Abs. 2), bei Heranziehung von Beteiligten zu Beiträgen für die Unterhaltung und den Ausbau des deutschen Wasserstrassennetzes (Art. 99 Abs. 6), zur Bestimmung der Kostendeckung für Unterhalt und Bau von Binnenschiffahrtswegen (Art. 100), für die Regelung der Militärgerichtsbarkeit in Kriegszeiten und an Bord der Kriegsschiffe (Art. 106), für die Errichtung eines Staatsgerichtshofes (Art. 108) usw.; B. Aussetzung der Verkündung eines Gesetzes (Art. 7 $ Abs. 2); C. Schluss seiner Tagung und Tag seines Wiederzusammentritts (Art. 24 Abs. 3); D. Ausschluss der Öffentlichkeit der Verhandlungen (Abs. 29 Satz 2); E. Absetzung des Reichspräsidenten (Art. 43 Abs. 2) und seine Anklage (Art. 59); F. Ausserkraftsetzung von Massnahmen des Belagerungszustandes (Art. 48 Abs. 3 und 4); G. Entziehung des Vertrauens gegenüber dem Reichskanzler oder den Reichsministern (Art. 54). 2. Der Reichstag hat die Z u s t i m m u n g zur strafrechtlichen Verfolgung des Reichspräsidenten (Art. 43 Abs. 3), zu Bündnissen und Verträgen mit fremden Staaten, die sich auf Gegenstände der Reichsgesetzgebung beziehen (Art. 45 Abs. 3), zu erteilen. Er hat 3. die M i t w i r k u n g beim Wahlprüfungsgericht (Art. 31);. 4. die G e n e h m i g u n g bei Ausnahmen von der Abgeordneten-Immunität (Art. 37);

154

Zweiter Teil.

Das Recht der VerfassuiigsiirUunde.

5. die K e n n t n i s n a h m e von der Reichsexckution, vom Belagerungszustand und ähnlichen Massnahmen (Art. 48). Über die Verwendung aller Reichseiunahmen legt der Reichsfinanzminister in dem folgendeu Rechnungsjahre Rechnung. Der Reichstag entlastet ihn, d. h. anerkennt die Erfüllung gesetzlicher Verpflichtungen (Art. 86). Hierher ist auch das Recht zu schriftlichen Bitten und Beschwerden an die Volksvertretung zu rechnen (Art. 126), weil sie Anlass geben, sie der Reichsregierung zur Kenntnisnahme oder Erwägung mitzuteilen, oder Abhilfe von Übelständen in Anregung zu bringen. 6. Das B u d g e t r e c h t steht nach Massgabe des Art. 85 dem Reichstag zu. Alle Einnahmen und Ausgaben des Reichs müssen für jedes Rechnungsjahr veranschlagt und in den Haushaltsplan eingestellt werden. Dieser wird vor Beginn des Rechnungsjahres durch ein Gesetz festgestellt. Die Ausgaben werden in der Regel für ein Jahr bewilligt. Sie können in besonderen Fällen auch für eine längere Dauer bewilligt werden. Im übrigen sind Vorschriften im Reichshaushaltsgesetz unzulässig, die über das Rechnungsjahr hinausreichen oder sich nicht auf die Einnahmen nnd Ausgaben des Reichs oder ihre Verwaltung beziehen. Der Reichstag kann im Entwürfe des Haushaltsplans ohne Zustimmung des Reichsrats Ausgaben nicht erhöhen oder neu einsetzen. Die fehlende Zustimmung kann ersetzt werden (Art. 85). 7. Der Reichstag allein hat das Recht, im W e g e d e s K r e d i t s G e l d m i t t e l bei ausserordentlichem Bedarf und in der Regel nur für Ausgaben zu werbenden Zwecken zu beschaffen, ferner eine Sicherheitsleistung zu Lasten des Reichs zu übernehmen, jedesmal durch Gesetz (Art. 87). 8. Er hat die K o n t r o l l e der Reichsregierung (Art. 54, 56, 126), das Recht zur Anklage des Reichskanzlers und der Reichsniinister (Art. 59) und kann die Anwesenheit des Reichskanzlers lind Reichsministers verlangen (Art. 33 Abs. 1). III. W e i t e r e R e c h t e d e s R e i c h s t a g e s : 1. Die W a h l p r ü f u n g in den besonderen Formen des Wahlprüfungsgerichts (Art. 31). Bis zur Errichtung des Reichsverwaltungsgerichts tritt an seine Stelle für die Bildung des Wahlprüfungsgerichts das Reichsgericht (Art. 166). 2. Er w ä h l t s e i n e n P r ä s i d e n t e n , dessen Stellvertreter und seine Schriftführer (Art. 26 Satz 1;. 3. Er gibt sich seine G e s c h ä f t s o r d n u n g , durch die er seine Disziplin regelt (daselbst Satz 2). 4. Er kann U n t e r s u c h u n g s a u s s c h ü s s e einsetzen (Art. 34). Auf Antrag von einem Fünftel seiner Mitglieder muss er dies tun. Diese Ausschüsse erheben in öffentlicher

VI Abschnitt.

Die Organisation des Reiches.

Der Keichsrat.

159'

während der Vertagung Sitzungen halten können, ist nicht ausdrücklich g e r e g e l t ; es kann hierüber die Geschäftsordnung bestimmen. Auch ist der Reichstag dies für einen besonderen Fall zu beschliessen befugt. Ausserdem ist ein s t ä n d i g e r A u s s c h u s s vorgesehen, den der Reichstag zur Wahrung der Rechte der Volksvertretung gegenüber der Regierung bestellt für die Zeit, ausserhalb der T a g u n g und nach Beendigung der Wahlperiode iArt. 35 Abs. 2). D. Die Verhandlungen des Reichstages siud öffentlich, doch kann auf Antrag von fünfzig Mitgliedern mit Zweidrittelmehrheit die Öffentlichkeit, ausgeschlossen werden (Art. 29). Näheres bestimmt die Geschäftsordnung. Wahrheitsgetreue 1 ) Berichte, d. h. erzählende Darstellungen ohne eigene Betrachtungen, über die V e r h a n d l u n g e n 2 ) in den öffentlichen Sitzungen 3 ) des Reichstages, eines Landtages oder ihrer Ausschüsse bleiben von j e d e r Verantwortlichkeit frei 4 ). E. Zu einem B e s c h l ü s s e d e s R e i c h s t a g e s ist einfache Stimmenmehrheit erforderlich, also absolute Mehrheit; der Gewählte muss mehr als die Hälfte der abgegebenen gültigen Stimmen erhalten haben. Die Verfassung kann ein anderes Stimmenverhältnis vorschreiben. Das ist z. B. der Fall bei Ausschluss der Öffentlichkeit (Art. 29), Verfassungsänderung (Art. 76), Aussetzung der Verkündigung eines Gesetzes (Art. 72, 7 3 Abs. 2), Beschluss auf Einspruch des Reichsrats gegen ein Gesetz (Art. 74). Für die vom Reichstag vorzunehmenden Wahlen kann die Geschäftsordnung Aussnahmen von dem Grundsatz der einfachen Stimmenmehrheit zulassen. Die Beschlussfähigkeit wird durch die Geschäftsordnung geregelt (Art. 32). Fünftes

Hauptstück.

Der Reichsrat. I. Die Vertretung der deutschen L ä n d e r bei der Gesetzgebung und Verwaltung des Reiches steht dem R e i c h s r a t zu. Er unterscheidet sich vom früheren Bundesrat dadurch, 1) Das ist m e h r , als w o r t g e t r e u . Es muss das Für und Wider klar zum Ausdrucke kommen; einseitige und ausführliche Hervorhebung' g e w i s s e r Reden unter Streichung anderer Reden ist nicht „wahrheitsgetreu". 2) Reden, Debatten, auch Abstimmungen. 3) Berichte über Geheimsitzungen haben also nicht dieses Privileg. 4) Neben der strafrechtlichen könnte auch eine bürgerlichrechtliche Verantwortlichkeit (Schadenersatz) in Betracht kommen..

160

Zweiter Teil. Das Recht der Verfassungsurkunde.

dass er weder bei der Gesetzgebung noch bei der Verwaltung eine r e c h t l i c h e n t s c h e i d e n d e Mitwirkung hat, eine rechtseprechende Aufgabe ihnl «überhaupt nicht zugeteilt ist x ). Der tatsächlich-politische Einfluss des Reichsrats ist zwar durch die unitarische Richtung der neuen Reichsverfassung stark begrenzt, aber dennoch nicht zu unterschätzen. II. Der Reichsrat s e t z t s i c h z u s a m m e n aus den Vertretern der Länder und dem den Vorsitz fahrenden Mitglied der Reichsregierung. Im Reichrat hat jedes Land mindestens eine Stimme. Bei den grösseren Ländern entfällt auf eine Million Einwohner eine Stimme. Ein Überschuss, der mindestens der Einwohnerzahl des kleinsten Landes gleichkommt, wird einer vollen Million gleichgerechnet. Kein Land darf durch mehr als zwei Fünftel aller Stimmen vertreten sein. Die Stimmenzahl wird durch den Reichsrat nach jeder allgemeinen Volkszählung neu festgesetzt (Art. 61 Abs. 1 und 3, Art. 65 Satz 1). In den A u s s c h ü s s e n des Reichsrats führt kein Land mehr als eine Stimme. Die Vertreter der Länder im Reichsrat sind die Mitglieder ihrer Regierungen. Nur für Preussen ist bestimmt, dass die Hälfte der Stimmen von den preussischen Provinzialverwaltungen zu bestellen ist (Art. 62, 63 Abs. 1). Bis zum Erlass des hier vorgesehenen Landesgesetzes, aber höchstens auf die Dauer eines Jahres, können die sämtlichen preussischen Stimmen im Reichsrat von Mitgliedern der Regierung abgegeben werden (Art. 168). Die Länder sind berechtigt, so viele Vertreter in den Reichsrat zu entsenden, wie sie Stimmen führen. (Art. 63 Abs. 2). Aus der Hervorhebung, dass die Vollsitzungendes Reichsrates öffentlich sind und die Öffentlichkeit nur für einzelne Beratungsgegenstände ausgeschlossen werden könne (Art. 66 Abs. 2) ergibt sich, dass die Ausschusssitzungen des Reichsrats nicht öffentlich sind. Bei der Abstimmung in den Vollsitzungen wie in den Ausschüssen entscheidet die einfache Mehrheit der Abstimmenden (Art. 66 Abs. 4). Bei Stimmengleichheit entscheidet nicht die Stimme des Vorsitzenden, sondern der Antrag gilt als abgelehnt (anders bei der Reichsregierung, Art. 58 Satz 2). III. Die E i n b e r u f u n g des Reichsrats ist Sache der Reichsregierung. Sie muss erfolgen, wenn dies von einem Drittel der Reichsratsmitglieder verlangt wird (Art. 64). IV. D e r R e i c h s r a t h a t f o l g e n d e R e c h t e : A. den Geschäftsgang durch eine Geschäftsördnung zu regeln (Art. 66 Abs. 2); 1) S. Art. 5, 76, 77, 78 der f r ü h e r e n Keichsverfassung und oben S. 17 f., 60 ff.

VI. Abschnitt.

Die Organisation des Reiches.

Der Reichsrat.

159

während der Vertagung Sitzungen halten können, ist nicht ausdrücklich geregelt; es kann hierüber die Geschäftsordnung bestimmen. Auch ist der Reichstag dies für einen besonderen Fall zu beschliessen befugt. Ausserdem ist ein s t ä n d i g e r A u s s c l i u s s vorgesehen, den der Reichstag zur Wahrung der Rechte der Volksvertretung gegenüber der Regierung bestellt für die Zeit ausserhalb der Tagung und nach Beeudigung der Wahlperiode (Art. 35 Abs. 2). D. Die Verhandlungen des Reichstages sind öffentlich, doch kann auf Antrag von fünfzig Mitgliedern mit Zweidrittelmehrheit die Öffentlichkeit ausgeschlossen werden (Art. 29). Näheres bestimmt die Geschäftsordnung. Wahrheitsgetreue 1 ) Berichte, d. h. erzählende Darstellungen ohne eigene Betrachtungen, über die V e r h a n d l u n g e n 2 ) in den öffentlichen Sitzungen 3 ) des Reichstages, eines Landtages oder ihrer Ausschüsse bleiben von jeder Verantwortlichkeit frei 4 ). E. Zu einem B e s c h l ü s s e d e s R e i c h s t a g e s ist einfache Stimmenmehrheit erforderlich, also absolute Mehrheit; der Gewählte muss mehr als die Hälfte der abgegebenen gültigen Stimmen erhalten haben. Die Verfassung kann ein anderes Stimmenverhältnis vorschreiben. Das ist z. B. der Fall bei Ausschluss der Öffentlichkeit (Art. 29), Verfassungsänderung (Art. 76), Aussetzung der Verkündigung eines Gesetzes (Art. 72, 73 Abs. 2), Beschluss auf Einspruch des Reichsrats gegen ein Gesetz (Art. 74). Für die vom Reichstag vorzunehmenden Wahlen kann die Geschäftsordnung Aussnahmen von dem Grundsatz der einfachen Stimmenmehrheit zulassen. Die Beschlussfähigkeit wird durch die Geschäftsordnung geregelt (Art. 32). Fünftes

Hauptstüek.

Der Reichsrat. I. Die Vertretung der deutschen Länder bei der Gesetzgebung und Verwaltung des Reiches steht dem R e i c h s r a t zu. Er unterscheidet sich vom früheren Bundesrat dadurch, 1) Das ist m e h r, als w o r t getreu. Es muss das Für und Wider klar zum Ausdrucke kommen; einseitige und ausführliche Hervorhebung- gewisser Reden unter Streichung anderer Reden ist nicht „wahrheitsgetreu". 2) Reden, Debatten, auch Abstimmungen. 3) Berichte über Geheimsitzungen haben also nicht dieses Privileg. 4) Neben der strafrechtlichen könnte auch eine bürgerlichrechtliche Verantwortlichkeit (Schadenersatz) in Betracht kommen.

160

Zweiter Teil. Das Recht der Verfassungsurkunde.

dass er weder bei der Gesetzgebung noch bei der Verwaltung eine r e c h t l i c h e n t s c h e i d e n d e Mitwirkung hat, eine rechtssprechende Aufgabe ihm überhaupt nicht zugeteilt ist*). Der tatsächlich-politische Einfluss des Reichsrats ist zwar durch die unitarische Richtung der neuen Reichsverfassung stark begrenzt, aber dennoch nicht zu unterschätzen. II. Der Reichsrat s e t z t s i c h z u s a m m e n aus den Vertretern der Länder und dem den Vorsitz führenden Mitglied der Reichsregierung. Im Reichrat hat jedes Land mindestens eine Stimme. Bei den grösseren Ländern entfällt auf eine Million Einwohner eine Stimme. Ein Überschuss, der mindestens der Einwohnerzahl des kleinsten Landes gleichkommt, wird einer vollen Million gleichgerechnet. Kein Land darf durch mehr als zwei Fünftel aller Stimmen vertreten sein. Die Stimmenzahl wird durch den Reichsrat nach jeder allgemeinen Volkszählung neu festgesetzt (Art. 61 Abs. 1 und 3, Art. 65 Satz 1). In den A u s s c h ü s s e n des Reichsrats führt kein Land mehr als eine Stimme. Die Vertreter der Länder im Reichsrat sind die Mitglieder ihrer Regierungen. Nur für Preussen ist bestimmt, dass die Hälfte der Stimmen von den preussischen Provinzialverwaltungen zu bestellen ist (Art. 62, 6 3 Abs. 1). Bis zum ErlasB des hier vorgesehenen Landesgesetzes, aber höchstens auf die Dauer eines Jahres, können die sämtlichen preussischen Stimmen im Reichsrat von Mitgliedern der Regierung abgegeben werden (Art. 168). Die Länder sind berechtigt, so viele Vertreter in den Reichsrat zii entsenden, wie sie Stimmen führen. (Art. 6 3 Abs. 2). Aus der Hervorhebung, dass die Vollsitzungen des ReichBrates öffentlich sind und die Öffentlichkeit nur für einzelne Beratungsgegenstände ausgeschlossen werden könne (Art. 66 Abs. 2) ergibt sich, dass die Ausschusssitzungen des Reichsrats nicht öffentlich sind. Bei der Abstimmung in den Vollsitzungen wie in den Ausschüssen entscheidet die einfache Mehrheit der Abstimmenden (Art. 6 6 Abs. 4). Bei Stimmengleichheit entscheidet nicht die Stimme des Vorsitzenden, sondern der Antrag gilt als abgelehnt (anders bei der Reichsregierung, Art. 58 Satz 2). III. Die E i n b e r u f u n g des Reichsrats ist Sache der Reichsregierung. Sie muss erfolgen, wenn dies von einem Drittel der Reichsratsmitglieder verlangt wird (Art. 64). IV. D e r R e i c h s r a t h a t f o l g e n d e R e c h t e : A. den Geschäftsgang durch eine Geschäftsordnung zu regeln (Art. 66 Abs. 2); 1) S. Art. 6, 76, 77, 78 der f r ü h e r e n Eeichsverfassung und oben S. 17 f., 60 ff.

TL Abschnitt. Die Organisation des Reiches. Der Reichgrat. 161 B. von den Reichsministerien über die Führung der Reichsgeschäfte auf dem Laufenden gehalten zu werden (Art. 67); C. Zustimmung bei Einbringung von G e s e t z v o r l a g e n der Reichsregierung (Art. 68 Abs. 1, Art. 69 Abs. 1 Satz 1). Eigenes Initiativrecht bei e i n f a c h e n G e s e t z e n ( A r t . 69 Abs. 2) und bei verfassungsändernden Gesetzen (Art. 76 Abs. 1 Satz 3); D. Einspruchsrecht gegen die vom Reichstag beschlossenen Gesetze (Art. 74); E. Verlangen eines Volksentscheids, wenn der Reichstag entgegen dem Einspruch des Reichsrats eine Verfassungsänderung beschlossen hat (Art. 76 Abs. 2); F . Zustimmung zu Verordnungen der Reichsregierung, a) wenn die Ausführung der Reichsgesetze den Landesbehörden zusteht (Art. 77), b) wenn es sich um Festsetzung von Grundsätzen und •Gebühren für die Benutzung der Verkehrseinrichtungen bei dem Post-, Telegraphie- und Fernsprechwesen handelt (Art. 88 Abs. 3), c) wenn Bau, Betrieb und Verkehr der Eisenbahnen in Frage stehen (Art. 91); G. Zustimmung bei Errichtung des B e i r a t s beim PoBt-, Telegraphie- und Fernsprech-, Eisenbahn- und WaBserstrassenwesen (Art. 88 Abs. 4, Art. 93, 98); H. Zustimmung, wenn der Reichstag im Entwürfe,des Haushaltsplans Ausgaben erhöhen oder neu einsetzen will (Art. 85 Abs. 4); J. alljährliche Erteilung der Entlastung an das Kabinett bezüglich Verwendung der Reichseinnahmen (Art. 86); K. Nachfolge in die in einzelnen Gesetzen oder Verordnungen des Reichs dem früheren Bundesrat und dem späteren Staatenausschuss übertragenen Verwaltungsbefugnisse *); V. D i e M i t g l i e d e r d e s R e i c h s r a t s haben folgende Rechte: A. im Reichsrat Anträge zu stellen (Art. 66 Abs. 1); B. den Antrag auf Einberufung des Reichsrats einzubringen (Art. 64). Ihre Pflichten richten Bich nach dem Landesrecht. 1) Diese hat die Vorlage unter Darlegung ihres Standpunktes beim Reichsrat einzubringen (Art. 69 Abs. 2 Satz 2, Abs. 2). 2) § 3 des Übergangsgesetzes vom 4. März 1919 (RGBl. S. 285) bezw. Art. 179 Abs. 1, ausgenommen den Erlass von Verordnungen, Art. 179 Abs. 2. Auch sind dem Reichsrat in den Vorschriften über den „gemeinwirtschaftlichen Aufbau" der Kohlen- und Kaliwirtschaft Und in der Reichsabgabenordnung Befugnisse «ingeräumt. S t i e r - S o m l o , ReicbSYerfassnng. 3. Aufl.

IX

162

Zweiter Teil.

Dag Recht der Verfassungsurkuude.

VI. Die A u s s c h ü s s e d e s R e i c h s r a t s sollen zu Beratungen über wichtige Gegenstände von den Reichsministerie n zugezogen werden (Art- 67 Satz 2). VII. Zu beachten ist, dass die Länder auch ausserhalb des Reichsrats vertreten sind durch B e v o l l m ä c h t i g t e " , welche sie in die Sitzungen des Reichstages und seiner Ausschüsse entsenden und die den Standpunkt ihrer Landesregierung zum Gegenstande der Verhandlung darlegen. Auf ihr Verlangen müssen die Regierungsvertreter während der Beratung auch ausserhalb der Tagesordnung gehört werden (Art. 33 Abs. 2 und 3). VII. Abschnitt.

Die Staatsfunktionen. Erstes Hauptstück. Die Gesetzgebung, I. Die gesetzgebende Gewalt im Reiche wird durch den R e i c h s t a g oder unmittelbar durch das V o l k selbst ausgeübt. Die Mitwirkung der anderen obersten Reichsorgane (Reichspräsident, Reichsrat) und des Reichswirtschaftsrates ist nur fördernd oder hemmend, aber nicht entscheidend. Der Regelfall ist, dass die Reichsgesetze vom Reichstag beschlossen werden. Die Ausfertigung und Verkündung durch den Reichspräsidenten ist seine Pflicht; darin liegt keine Sanktion, die vielmehr mit der Verabschiedung des Gesetzes durch den Reichstag erfolgt, wenn nicht durch Volksentscheid in einem der vorgesehenen Fälle eine Aufhebung des Reichstägsbeschlusses erfolgt (Art. 68 Abs. 2, Art. 70, 73 und 76). II. D e r W e g d e r G e s e t z g e b u n g . 1. Die Initiative hat: A. D i e R e i c h s r e g i e r u n g . Will sie Gesetzesvorlagen bei dem Reichstag einbringen, so bedarf es der Z u s t i m m u n g des Reicbsrats. Kommt eine Übereinstimmung zwischen der Reichsregierung und dem Reichsrat nicht zustande, so kann die Reichsregierung die Vorlage gleichwohl einbringen, hat aber hierbei die abweichende Auffassung des Reichsrats darzulegen (Art. 69 Abs. 1 Satz 2). Sozialpolitische und wirtschaftspolitische Gesetzentwürfe von grundlegender Bedeutung sollen von der Reichsregierung vor ihrer Einbringung dem R e i c h 8 w i r t s c h a f t s r a t zur Begutachtung vorgelegt werden. B. Der Reichswirtschaf tsrat hat das Recht, s e l b s t s o l c h e G e s e t z e s v o r l a g e n z u b e a n t r a g e n . Stimmt ihnen die

VII. Abschnitt.

Die Staatsfunktionen.

Die Gesetzgebung.

163

Reichsregierung nicht zu, so hat sie trotzdem die Vorlage nnter Darlegung ihres Standpunkts beim Reichstag einzubringen. Der Keiehswirtschaftsrat kann die Vorlage eines seiner Mitglieder vor dem Reichstag vertreten lassen (Art. 165 Abs. 4). C. D e r R e i c h s t a g . Gesetzvorlagen werden aus seiner Mitte eingebracht (Art. 68 Abs. 1). Danach ist es möglich, dass ein einzelnes Reichstagsmitglied einen Entwurf vorlegt. D. D e r R e i c h s r a t . E r kann eine Gesetzesvorlage beschliessen. Beim Reichstag e i n b r i n g e n kann er sie nicht, sondern die Reichsregierung. Stimmt diese mit der Vorlage nicht Uberein, so bringt sie ihren Standpunkt dem Reichstage gegenüber zum Ausdruck (Art. 69 Abs. 2) 1 ). 2. D i e B e r a t u n g erfolgt im Reichstag und in seinen Ausschüssen. Die formelle Behandlung regelt die Geschäftsordnung. Die Beschlussfassung ist lediglich Sache des Reichstages. 3. Zwischen Beschlussfassung und Verkündung schieben sich fakultativ ein: das M i n d e r h e i t s v e t o des Reichstags oder ein E i n s p r u c h d e s R e i c h s r a t s oder die V o l k s a b s t i m m u n g . Hierbei ist der R e i c h s p r ä s i d e n t beteiligt. A. Die Ausfertigung eines beschlossenen Reichsgesetzes und seine Verkündung hat der Reichspräsident binnen Monatsfrist im Reichsgesetzblatt vorzunehmen (Art. 70). Diese Verkündigung ist um zwei Monate auszusetzen, wenn ein Drittel des Reichstags es verlangt. Die Bedeutung dieser aufschiebenden Handlung ist vor allem, dass das Gesetz dem Volksentscheid unterbreitet werden m u s s , wenn ein Zwanzigstel der Stimmberechtigten es beantragt (Art. 73 Abs. 2); dann aber auch, dass in der Überlegungsfrist der Reichstag seinen Beschluss aufheben oder der Reichsrat zu einem Einsprach oder der Reichspräsident sich zur Herbeiführung eines Volksentscheids veranlasst sehen kann. (Art. 73 Abs. 1, Art. 74 Abs. 1). Jenes Minderheitsveto ist aber gegenstandslos, wenn der Gesamtreichstag (d. h. die absolute Mehrheit) u n d der Reichsrat das Gesetz für dringlich erklären und der Reichspräsident sich unbeschadet jenes Verlangens nach Aussetzung zur Verkündung bewogen fühlt (Art. 72 Satz 2). B. Der binnen zwei Wochen nach der Schlussabstimmung im Reichstag bei der Reichsregierung einzubringende und spätestens in zwei weiteren Wochen zu begründende E i n s p r u c h d e s R e i c h s r a t s hindert zunächst ebenfalls die Ausfertigung und Verkündnng. Das Gesetz muss dem Reichstag zur 1) Die Einleitungsformel der Reichsgesetze spricht von einer „Zustimmung des Reichsrats". Das ist staatsrechtlich bedenklich. Vgl. auch S c h a n z e , DJZ. 1920 Sp. 384.

164

Zweiter Teil. Das Recht der Verfassungsurkunde.

nochmaligen Beschlussfassung vorgelegt werden. Kommt hierbei eine Ubereinstimmung zwischen Reichstag und Reichsrat zustande*), so gilt nicht das früher, sondern das neu beschlossene Gesetz. Sodann ist zu unterscheiden: a) Entweder die Übereinstimmung ist auf Seiten des Reichstages mit absoluter, also nicht qualifizierter, Mehrheit abgelehnt worden, so kann der Reichspräsident binnen drei Monaten Uber den Gegenstand der Meinungsverschiedenheit einen V o l k s e n t s c h e i d anordnen (Art. 74 Abs. 3 Satz 2). Macht der Präsident von seinem Rechte zur Anordnung eines Volksentscheids keinen Gebrauch, so gilt das Gesetz als nicht zustande gekommen. b) Oder der Reichstag hat mit Zweidrittelmehrheit entgegen dem Einspruch des Reichsrats beschlossen; dann hat der Präsident das Gesetz binnen drei Monaten in der vom Reichstag beschlossenen Fassung zu verkünden o d e r den V o l k s en t s c h e i d anzuordnen (Art. 74 Abs. 3 Satz 4). C. Ausser den bereits erwähnten Fällen des Volksentscheids 2) kommt die u n m i t t e l b a r e Volksabstimmung noch in Frage g e g e n ü b e r e i n e m s c h o n b e s c h l o s s e n e n Gesetze: a) wenn der Reichspräsident es binnen eines Monats bestimmt (Art. 73 Abs. 1); b) wenn der Reichspräsident über den Haushaltsplan, über Abgabegesetze und Besoldungsordnungen einen Volksentscheid veranlassen will (Art. 73 Abs. 4); c) wenn die Verkündigung eines Gesetzes auf Antrag von mindestens einem Drittel des Reichstags ausgesetzt worden ist und ein Zwanzigstel der Stimmberechtigten es beantragt (Art. 73 Abs. 2). Hier ist also der Volksentscheid o b l i g a t o r i s c h . d) Wenn der Reichstag entgegen dem Einspruch des Reichsrats eine V e r f a s s u n g s ä n d e r u n g beschlossen hat, so darf der Reichspräsident dieses Gesetz nicht verkünden, wenn der Reichsrat binnen zwei Wochen den Volksentscheid verlangt (Art. 76 Abs. 2). 1) Diese Übereinstimmung bedeutet nicht, dass beide das Oesetz beschliessen, sondern dass sich der Reichstag dem Standpunkt des Reichsrats anbequemt; die Beschlussfassung liegt auch hier allein beim Reichstag. 2) Vgl. H a s b a c h , Die Demokratie 1912, S. 90ff., 141—168 O. J e l l i n e k , Allgemeine .Staatslehre, 1914 (3. Auflage), S. 619ff. 729 ff.; Curti, Der W eltgang des Referendums, Archiv für öffentliches Recht, 1911, S. 36; Julius C u r t i u s , Uber die Einführung von Volksinitiative und Volksreferendum in die neuen Verfassungen der deutschen Staaten, besonders S. 4 ff., 29 ff. Über das Verfahren beim Volksentscheid und Volksbegehren s. Eaisanberg, DJZ. 1920 Sp. 386.

VII. Abschnitt.

Die Staatsfunktionen.

Die Rechtsprechung.

165

D. V e r s c h i e d e n h i e r v o n i s t d a s V o l k s b e g e h r e n , wenn der Reichstag mit einem Antrag noch n i c h t b e f a s s t w o r d e n i s t . Ein Volksentscheid ist herbeizuführen, wenn ein Zehntel der Stimmberechtigten das B e g e h r e n nach Vorlegung eines Gesetzentwurfs stellt. Dem Volksbegehren muss ein ausgearbeiteter Gesetzentwurf zugrunde liegen. Er ist von der Regierung unter Darlegung ihrer Stellungnahme dem Reichstag zu unterbreiten. Der Volksentscheid findet nicht statt, wenn der begehrte Gesetzentwurf im Reichstag unverändert angenommen worden ist (Art. 73 Abs. 3). Das Verfahren beim Volksentscheid und beim Volksbegehren regelt ein Reichsgesetz (a. a. 0 . Abs. 5). Durch den Volksentscheid kann ein Beschluss des Reichstages nur dann ausser Kraft gesetzt werden, wenn sich die Mehrheit der Stimmberechtigten an der Abstimmung beteiligt (Art. 75). III. Besonderheiten bestehen bei der V e r f a s s u n g s ä n d e r u n g . (S. schon oben S. 1 6 4 C d , ferner S. 85, 152f.) Die Verfassung kann im Wege der G e s e t z g e b u n g geändert werden'). Es kommen jedoch Beschlüsse des Reichstags bei Abänderung der Verfassung nur zustande, wenn zwei Drittel der gesetzlichen Mitgliederzahl anwesend sind und wenigstens zwei Drittel der Anwesenden zustimmen. Auch Beschlüsse des Reichs 1 rats auf Abänderung der Verfassung bedürfen einer Mehrheit von zwei Dritteln der abgegebenen Stimmen. Soll auf Volksbegehren durch Volksentscheid eine Verfassungsänderung beschlossen werden, so ist die Zustimmung der Mehrheit der Stimmberechtigten erforderlich (Art. 76 Abs. 1). IV. Soweit nichts anderes bestimmt ist, treten Reichsgesetze mit dem vierzehnten Tage nach Ablauf des Tages in Kraft, an dem das Reichsgesetzblatt in der Reichshauptstadt (nicht notwendigerweise in Berlin!) ausgegeben worden ist (Art. 71). Zweites Hauptstück.

Die Rechtsprechung. Erste Abteilung.

Die Gerichte. I. Die Gerichtshoheit ist entweder eine reichsstaatliche oder eine landesstaatliche 1 ). 1) Die verfassungsändernden Reiehfgesetze enthalten Verassungs r e c h t, auch wenn sie den T e x t der VerfassungsUrkunde nicht ändern. Art. 18 Abs. 2 und 3 zeigt, dass ausnahmsweise eine Verfassungsänderung auch durch e i n f a c h e s Gesetz «folgen kann. ; 9) Di« Rechtspflege ist nicht ganz zur Seichssache geworden

166

Zweiter. Teil.

Das Recht der Verfassungsurkunde.

A. R e i c h s staatlich ist die Gerichtshoheit soweit, als K e i c h s gerichte in Wirksamkeit treten. Von den Reichsgerichten sind in der Verfassung erwähnt: a) das R e i c h s g e r i c h t , das die ordentliche Gerichtsbarkeit ausübt und zwar in Zivil- und Strafsachen 1 ); b) das R e i c h s v e r w a l t u n g s g e r i c h t 2 ) ; c) der R e i c h s s t a a t s g e r i c h t s h o f 3 ) ; d) die K r i e g s g e r i c h t e und die S t a n d g e r i c h t e (Art. 1 0 5 Satz 2), die weiter bestehen bleiben 4 ); e) die M i l i t ä r g e r i c h t e in Kriegszeiten und an Bord der Kriegsschiffe (Art. 1 0 6 ) ; im übrigen sind sie aufzuheben 5 ); das nähere regelt ein Reichsgesetz; f) das W a h l p r ü f u n g s g e r i c h t (Art. 31, 166); g)die m i l i t ä r i s c h e n Ehrengerichte sind aufgehoben (Art. 105 Satz 4). A u s n a h m e g e r i c h t e sind unstatthaft. h) Im übrigen bestehen vorhandene Verwaltungsgerichte siehe G r o s s m a n n , DJZ. 1919, Sp. 494. Vgl. die Denkschrift von Mügel, Grundzüge einer landesrechtlichen Justizreform 1919, dazu de Niem in der Deutschen Richterzeitung, 1919, S. 82, S c h r ö d e r DJZ. 1919 Sp. 8-54 und Friedrich S t e i n in der Leipziger Zeitschrift für Deutsches Recht, 1919, Sp. 524; v o n T r e s k o w , Praktische Vorschläge zu einer zeitgemässen Justizreform, JW. 1919, S. 548. 1) Art. 103, siehe jedoch auch Art. 166 und oben S. 105, 146 f. zu A. 154 zu III, 1. 2) Art. 31 Abs. 2, 107; vgl. D a m m e , Der Vorentwurf eine« Gesetzes über das Reichs verwaltungsge,rieht DJZ. 1920 Sp. 182, B r e d t , PrVerwBl. Bd. 41 S. 201 und v. D u l t zig, daselbst S. 253. 3) Art. 108; erwähnt ist er in Art. 15 Abs. 3; Art. 18 Abs. 7; Art.19 Abs. 1; Art. 59 Satz 1 u. 3; Art. 90, 170, 171; lediglich einen „obersten Gerichtshof des Reiches" erwähnt Art. 13 Abs. 2. Vgl. den Entwurf eines Gesetzes über Errichtung eines Staatsgerichtshofs (Drucksachen Nr. 355, 380—391 671. 946); erste Beratung StenBer 1996 A bis 2033 D, 2040 A bis 2066 D; T r i e p e l , DJZ. 1919 Sp. 366 ferner D. StrafrechtsZtg. 1919 Heft 3/4; B i n d i n g in „Recht u. Wirtschaft" 1919 Juniheft; Das demokratische Deutschland 1918/19 Heft 23; Erich K a u f m a n n , Untersuchungsausschuss und Staatsgenchtshof, 1920 S. 40ff., 56 ff.; B i n d i n g , Zum Werden und Leben der Staaten 1920 S. 407 ff Reichsgesetz zur Verfolgung von Kriegsvergehen v. 18. Dezbr. 1919 (RGBl. S. 2125), das infolge des Ergänzungsgesetzes vom 24. März 1920 (RGBl. S. 341) erhöhte Bedeutung gewonnen hat, nachdem der bisher feindliche Verband auf die Auslieferung und Aburteilung im Ausland Mitte Februar 1920 verzichtet hat. Sieh« auch K a h l , Untersuchungsausschuss und Staatsgerichtshof, DJZ. 1920 Sp. 1 ff.; d e r s e l b e über das Ergänzungsgesetz daselbst Sp. 337. 4) Siehe jedoch oben S. 145 Anm. 1. 5) Vgl. hierzu DJZ. 1919 Sp.324f. und 1920 Sp.217. E r h a r d t , Abrüstung und Überleitung der MilitärJustiz, J W . 1920 S. 39. Der Nationalversammlung ist unter dem 29. März 1920 der Entwurf eines Gesetzes betr. Aufhebung der Militärgerichtsbarkeit zugegangen (Drucks. Nr. 2525). Hier überVe 11 k a m p, D AllgZ. v. 20. April 1920 Nr .188.

VIT. Abschnitt. Die Staatsfunktionen

Die Rechtsprechung.

167

•weiter, insoweit sie nicht aufgehoben werden. Hierher gehört das Bundesamt für das Hoimatwesen, das Patentamt, Reichsversicherungsamt, Reichsoberschiedsgericht der Angestelltenversicherung, Reichsmilitärversorguugsgericbt'), Reichsfinanzhof usw. B. L a n d e s g e r i c h t e : a) Diejenigen, durch die die o r d e n t l i c h e G e r i c h t s b a r k e i t ausgeübt wird in bürgerlich-rechtlichen und Strafsachen (Art. Iu3). Es sind das die Amts-, Land- und Oberlandesgerichte, ferner die besonderen Gerichte, wie Gewerbeund Kaufmannsgerichte; b) die V e r w a l t u n g s g e r i c h t e , die nach Art. 107 nach Massgabe der Gesetze zum Schutze der Einzelnen gegen Anordnungen und Verfügungen der Verwaltungsbehörden bestehen bleiben. Hierzu gehören insbesondere für Preussen die ordentlichen Verwaltungsgerichte (Kreisausschuss, Be/.irksausschuss, Oberverwaltungsgericht), die Gerichte für landwirtschaftliche Auseinandersetzungssachen. Zweite Abteilung. Die Richter.

Die rechtsprechende Gewalt wird durch unabhängige, nur dem Gesetz unterworfene Richter ausgeübt*). Ihre Rechtsverhältnisse werden durch Reichsrecht geregelt, soweit die Reichsgerichtshoheit, durch die Landesgesetze, soweit die Landgericbtshoheit in Betracht kommt. Jedoch hat die Verfassung Art. 104 die folgenden Grundsätze f ü r das Gebiet des ganzen Reichs aufgestellt: Die Richter der ordentlichen Gerichtsbarkeit werden auf Lebenszeit e r n a n n t ' ) . Sie können wider ihren Willen nur k r a f t richterlicher Entscheidung und 1) Vgl. Verordnung der Reichsregierung über Änderung des Verfahrens in Militär Versorgungssachen vom 1. Februar 1919 (RGBl. S. 149), Bestimmungen des Reichsarbeitsministers über die Militärversorgungsgerichte und das Reichsmilitärversorgungsgericht usw. vom 18. Februar 1919 (RGBl. S. 217). Diese und andere einschlägige Rechtsnormen sind verarbeitet bei v. O l s h a u s e n - D o r n , Versorgungsansprüche der Kriegsbeschädigten und Hinterbliebenen vor den Militärspruchbehörden, 1919. 2) H a r t w i g , Die richterliche Unabhängigkeit DJZ. 1919, Sp. 1015. 3) Gegen ein Wahlrichtertum zutreffend v o n L e w i n s k i , DJZ. 1919, Sp. 146; s. auch V o l k m a r , Die Gerichtsverfassung im neuen Deutschland, daselbst Sp. 268. Vgl. B i t t i n g e r , Frauen als Richter? Leipziger Zeitschr. für Deutsches Recht, 1919, Sp. 676. — W a c h , Die Reichsverfassung und die Justiz, JW. 1920 S. 4ff.; R e i c h e l , Bestellung und Stellung des Richters in der Schweiz und im künftigen Deutschland 1919.

168

Zweiter Teil. Das Recht der Verfassungsurkunde.

mir ans den Gründen und unter den Formen, welche die Gesetze bestimmen, dauernd oder zeitweise ihres Amtes enthoben oder an eine andere Stelle oder in den Buhestand versetzt werden. Die Gesetzgebung kann Altersgrenzen festsetzen, bei deren Erreichung Richter in den Ruhestand treten. Die vorläufige Amtsenthebung, die kraft Gesetzes eintritt, wird hierdurch nicht berührt. Bei einer Veränderung in der Einrichtung der Gerichte oder ihrer Bezirke kann die Landesjustizverwaltung unfrei' willige Versetzungen an ein anderes Gericht oder Entfernungen vom Amte, jedoch nur unter Belassung des vollen Gehalts, verfügen. Bei Handelsrichtern, Schöffen und Geschworenen finden diese Bestimmungen keine Anwendung. Drittes Hauptstück.

Die Verwaltung. I. Ebenso wie nach bisherigem Rechte, grenzt sich die Verwaltungstätigkeit des Reiches von der der Einzelstaaten durch die Linie ab, welche zwischen der Reichs- und Landesstaatsgewalt gezogen ist. Nur hat das Reich durch Übernahme und durch Inaussichtstellung der Übernahme weitester Gebiete der reichseigenen Verwaltung das Mass der einzelstaatlichen Verwaltung sehr eingeengt. Dabei bleibt jedoch der Grundsatz bestehen, dass die Ausführung der Reichsgesetze (mit den in der Verfassung bestimmten Ausnahmen) Sache der Länder ist. (Vgl. auch Art. '15 Abs. 2 und 3.) II. Die r e i c h s e i g e n e V e r w a l t u n g wird ausgeübt durch die Reichsregierung und den ihr unterstehenden Behördenorganismus, die Landesverwaltung durch die ihr unterstehenden Beamten (Art. 5). In welcher Weise und mit welcher Zuständigkeit im einzelnen, ist bei der Erörterung der rechtlichen Stellung des Reichspräsidenten, der Reichsregierung und des Reichsrates zur Sprache gelangt 1 ). 1) Alles andere gehört in das Verwaltungsrecht. Von n i c h t obersten Reichsorganen hat die Verfassung nur bestimifat über gewisse B e i r ä t e und über Arbeiter- und W i r t s c h a f t s r ä t e (Art. «8, 93, 98, 165, oben S. 133 f., 161).

Schiusa. I. Die B e d e u t u n g d e r R e i c h s v e r f a s s u n g 1 ) liegt in der rechtlichen Festlegung der Grundorganisation des Staates, in der Schaffung eines festen Rückgrates für das politische, wirtschaftliche, soziale und kulturelle Leben des Volkes. Sein staatliches Dasein hat ohne die Verfassung keinen Halt und keine Begrenzung. Sie ist auch der Niederschlag des politischen Geistes eines Volkes, der hauptsächlichsten Strömungen, die in ihm zur Zeit seiner Entstehung walten. Sie verwurzelt den Bundesstaat, sichert seine auf den Einheitsstaat genommene Rich'tung, begründet und befestigt dife republikanische Staatsform und ihre obersten Organe, den demokratischen Inhalt seiner Einrichtungen und die parlamentarische Regierungsweise. Sie sucht die Mehrheitsherrschaft zu vereinigen mit einem Schutze der Minderheit im Verhältniswahlrecht zum Reichstage und in der Gesetzgebung (Minderheitsveto), sowie in den Untersuchungsausschüssen. In den Grundrechten and. Grnndpflichten ist versucht worden, den politischen, sittlichen und wirtschaftlichen Geist, der im deutschen Volke leben soll, grundsatzmässig wiederzuspiegeln. Davon, ob dieser Geist den Weg zur Freiheit, zur Schaffensfreude, zur Gleichheit, zur Erhöhung der persönlichen Kulturwerte und des Gemeinschaftsdäseins findet, oder ob er in die Irre gehen wird, hängt die Zukunft Deutschlands ab. Gegen alle Gefahren ist die Reichsverfassung noch lange nicht gesichert. Die Folge des am 13. März 1'920 ins Werk gesetzten verunglückten S t a a t s s t r e i c h s d e s Dr. K a p p war n. a. eine starke politisch-wirtschaftliche mit der Parole des Generalstreiks eingeleitete Bewegung nach links, erkennbar in der Richtung des nur schwach verdeckten Ziels einer R ä t e 1) Sie ist als solche auch rechtlich geschützt. Vgl. K e r n , Die Verfassung als Angriffsobjekt des Hochverrats, DJZ. 1919 Sp. 566. Tgl. auch H e d e m a n n , Die Bedeutung der neuen Verfassung für das bürgerliche Kecht DJZ. 1919 Sp. 769; K i e s o w , Einwirkung der Reichsverfassung auf das Strafrecht und das Verfahren in Zivil»nd Strafsachen, daselbst Sp. 870.

170

Reichsver i assung.

r e p u b l i k und der D i k t a t u r d e s P r o l e t a r i a t s . Wäre es erreicht worden, so würde der geltenden Reichsverfassung ihre d e m o k r a t i s c h e Grundlage im Sinne der Herrschaft des ganzen Volkes und der Bestellung der Regierung aus dem Kreise der zur Parlamentsmehrheit gehörigen Personen entzogen worden sein. Die Sorge um diese wesentlichsten Elemente der bestehenden Reichsverfassung war nicht unbegründet. Die politische L a g e zu entwirren ist zuerst am 20. März 1 9 2 0 versucht worden durch ein Kompromiss, das die Vertreter der Mehrheitsparteien im Einvernehmen mit der Regierung einerseits und die Generalkommission der Gewerkschaften des Gewerkschaftsbundes und der am Generalstreik beteiligten Organisation der Arbeiter, Angestellten und Beamten andererseits abgeschlossen haben. An dieser Stelle ist nur der für die staatsrechtliche Gestaltung wesentlichen Punkte zu gedenken. Die bei der Verhandlung anwesenden Vertreter der Mehrheitsparteien versprachen ( a l s P u n k t 1) bei ihren Fraktionen dafür einzutreten, „dass bei der bevorstehenden Neubildung der Regierungen im Reich und in Preussen die Personenfrage von den Parteien nach Verständigung mit den am Generalstreik beteiligten gewerkschaftlichen Organisationen der Arbeiter, Angestellten nnd Beamten gelöst wird" und tatsächlich hat sich bei der Berufung einzelner Minister in das am 27. März 1920 gebildete Reichskabinett der Einfluss jener Organisationen stark geltend gemacht. Doch kann man darin nicht einen Vorstoss, geschweige dann eine Beseitigung des Art. 5 3 erblicken, wonach der Reichspräsident den Reichskanzler und auf dessen Vorschlag die Reichsminister ernennt und entlässt. Der p a r l a m e n t a r i s c h e n R e g i e r u n g s w e i s e entspricht es, dass diese Ernennungen und Entlassungen sich nach den Parteiverhältnissen und den Parteiansprüchen richten; werden diese ihrerseits durch andere politische Faktoren, hier durch die Gewerkschaftsorganisationen, beeinflusst, so ändert das an der s t a a t s r e c h t l i c h e n L a g e nichts (vgl. auch oben S. 149 Anm.4). Wenn eodann vereinbart wurde, dass den erwähnten Organisationen ein entscheidender Einfluss auf die Neuregelung der wirtschaftlichen und sozialpolitischen Gesetzgebung u n t e r W a h r u n g d e r R e c h t e d e r V o l k s v e r t r e t u n g eingeräumt wird, so kann man hiergegen nicht geltend machen, dass den Gewerkschaften eine Mitwirkung bei der Gesetzgebung in der Reichaverfassung nicht eingeräumt sei. Denn einmal ist auch hier nicht von einer staatsrechtlich entscheidenden Stelle, sondern von vereinzelten Vertretern der Mehrheitsparteien ein E i n t r e t e n f ü r d i e s e F o r d e r u n g , nicht ihre sofortige gesetzliche Verwirklichung versprochen worden. Zu letzterer

Reichsverfassung.

171

fehlte den Vertretern jede staatsrechtliche Zuständigkeit und politische Macht, die vielmehr beim Reichstage liegt. Sodann ist nur eiu p o l i t i s c h e r Eiufluss auf eine gesetzliche Neuregelung denkbar, den die zur Zeit eine starke Macht darstellenden Organisationen ohnedies besitzen, da ein s t a a t s r e c h t l i c h e r Einfluss eine Verfassungsänderung, die im „Kompromiss" nicht wirksam hätte verabredet werden können, voraussetzt. Endlich sind wörtlich die Rechte der Volksvertretung gewahrt, also a l l e Rechte, die ihnen die Reichsverfassung gibt, demnach auch das Recht der a l l e i n i g e n Beschlussfassung. Rein politischer Natur, die die Verfassung nicht berühren, sind die folgenden Forderungen: 2. S o f o r t i g e E n t w a f f n u n g u n d B e s t r a f u n g aller am P u t s c h oder am Sturz der verfassungsmässigen Regierung Schuldigen sowie der Beamten, die sich ungesetzlichen Regierungen zur Verfügung gestellt haben. 3. G r ü n d l i c h e R e i n i g u n g der gesamten öffentlichen V e r w a l t u n g e n und Betriebsverwaltungen von g e g e n r e v o l u t i o n ä r e n Persönlichkeiten, besonders solchen in leitenden Stellen, und ihr Ersatz durch zuverlässige Kräfte. Wiedereinstellung aller in öffentlichen Diensten aus politischen oder gewerkschaftlichen Gründen gemassregelten Organisationsvertreter. 4. Schnellste Durchführung der V e r w a l t u n g s r e f o r m auf d e m o k r a t i s c h e r Grundlage unter M i t b e s t i m m u n g auch der g e w e r k s c h a f t l i c h e n Organisation der Arbeiter, Angestellten und Beamten. 5. Sofortiger A u s b a u der bestehenden und Schaffung neuer S o z i a l g e s e t z e , die den Arbeitern, Angestellten und Beamten volle soziale und wirtschaftliche Gleichberechtigung gewährleisten. Schleunige Einführung eines freiheitlichen Beamtenrechts. 6. Sofortige Inangriffnahme der S o z i a l i s i e r u n g der dazu reifen Wirtschaftszweige, unter Zugrundleguug der Beschlüsse der Sozialisierungskonimission, zu der die Berufsverbände zuzuziehen sind. Die Einberufung der Sozialisierungskonimission erfolgt sofort. Übernahme des Kohlensyndikat» und des Kalisyndikats durch das Reich 1 ). 7. Wirksamere E r f a s s u n g , g e g e b e n e n f a l l s E n t e i g n u n g der verfügbaren L e b e n s m i t t e l und verschärfte Bekämpfung des W u c h e r s und Schiebertums in Stadt und Land Sicherung der Erfüllung der Ablieferungsverpflichtungen durch 1) Vgl. oben S. 133 mit Anm. 5, S. 134 mit Anm. 2.

172

Beichsverfassung.

Gründung von Lieferungsverbänden und Verhängung fühlbarer Strafen bei böswilliger Verletzung der Verpflichtungen. 8. A u f l ö s u n g aller der Verfassung nicht treugebliebenen; g e g e n r e v o l u t i o n ä r e n m i l i t ä r i s c h e n F o r m a t i o n e n und Ersatz aus den Kreisen der zuverlässigen republikanischen Bevölkerung, insbesondere der o r g a n i s i e r t e n A r b e i t e r , Angestellten und Beamten ohne Zurücksetzung irgendeines Standes. Bei dieser Reorganisation bleiben erworbene Rechtsansprüche treugebliebener Trappen und Sicherheitswehren unangetastet. Bei Funkt 4 bleibt Art. 130 Abs. 2 zu beachten, wonach allen Beamten die Freiheit ihrer politischen Gesinnung gewährleistet ist, ferner Art. 129 Abs. 1, der die Lebenslänglichkeit der Beamtenstellung grundsätzlich ausspricht und die wohlerworbenen Rechte der Beamten für unverletzlich erklärt. Zu Punkt 4 kann die in Anspruch genommene Mitbestimmung nur nach einer Verfassungsänderung in Frage kommen, ebenso zu Punkt 6, wobei an eine Erweiterung des Art. 156 zu denken ist. (Vgl. oben S. 133 f.) Zu Punkt 7 ist in betreff der Enteignung der Lebensmittel auf die Voraussetzungen des Art. 153 Abs. 2 zu verweisen. Bei Punkt 8 ist die Bestimmung des Art. 79 zu beachten. — Die revolutionäre Bewegung im Ruhrgebiet versuchte man durch den sog. B i e l e f e l d e r V e r t r a g vom 24. März 1920 zu beenden. Er-wiederholt die obigen Punkte des Berliner Kompromisses und fügt einige weitere hinzu, von denen die folgenden hervorzuheben sind: 9. Die v e r f a s s u n g s m ä s s i g e n B e h ö r d e n walten ihre» Amtes nach den gesetzlichen Vorschriften. Die jetzt bestehenden Vollzugs- oder Aktionsausschüsse haben in Gemeinschaft mit den Gemeindebehörden die O r t s w e h r e n a u f z u s t e l l e n und die W a f f e n a b g a b e zu regeln. Dies muss spätestens innerhalb ziehn Tagen geschehen. Danach tritt an die Stelle jener Ausschüsse ein aus der organisierten Arbeiter-, Angestellten- und Beamtenschaft und den Mehrheit6parteien gebildeter Ordnungsausschuss, der im Einvernehmen mit den zuständigen Gemeindeorganen bei der Durchführung des Sicherheitsdienstes mitwirkt. 10. Zur U n t e r s t ü t z u n g der ordentlichen S i c h e r h e i t s o r g a n e wird, soweit erforderlich, eine O r t s w e h r in Stärke bis zu 3 auf 100U Einwohner aus den Kreisen der republikanischen Bevölkerung, insbesondere der organisierten Arbeiter, Angestellten und Beamten g e b i l d e t . Für die Zeit, während der sie zum Dienst eingezogen sind, werden sie, soweit nicht der Staat die Kosten übernimmt, von der Gemeinde bezahlt.. Durch die Bildung der Ortswehren sind die E i n w o h n e r wehren aufgehoben.

Reichs Verfassung.

173

11. Die sämtlichen Beteiligten verpflichten sich, ihren ganzen Einfluss dahin auszuüben, dass die A r b e i t e r s c h a f t r e s t l o s zur gewohnten A r b e i t s o f o r t z u r ü c k k e h r t . Die Arbeitgeber sind gehalten, die zurückkehrenden Arbeiter wieder einzustellen. 12. Es erfolgt s o f o r t i g e A b g a b e der W a f f e n und M u n i t i o n , sowie die Rückgabe des requirierten und erbeuteten Heeresgeräts an die Gemeindebehörden. 13. A l l e G e f a n g e n e n s i n d s o f o r t , spätestens bis zum 27. März, mittags 12 Uhr, zu e n t l a s s e n . 14. Bei loyaler Einhaltung dieser Vereinbarungen wird ein E i n m a r s c h d e r R e i c h s w e h r in das rheinisch-westfälische Industriegebiet n i c h t e r f o l g e n . Nach der Erklärung des Bevollmächtigten des Wehrkreiskommandos 6 und des Reichskommissars wird das Wehrkreiskommando in politisch-militärischen Angelegenheiten nur auf schriftliche Anweisung des gesammten Reichswehrrainisteriums handeln. Ferner erklärt ¿ e r Reichskommissar, dass er einen Vertrauensmann der Arbeiterschaft berufen werde, der bei allen militärisch-politischen Handlungen, übel* die der Reicbskommissar mitzubefinden hat, gehört werden soll. 15. Der v e r s c h ä r f t e A u s n a h m e z u s t a n d soll s o f o r t a u f g e h o b e n werden, der allgemeine Ausnahmezustand dann, wenn die unter Ziffer 9 bis 12 festgelegte Regelung erfolgt ist. Die G r u n d l a g e n der R e i c h s v e r f a s s u n g werden d u r c h a l l d i e s n i c h t e r s c h ü t t e r t . Die Vollzugs- oder Aktionsausschüsse und die vorgesehenen Ordnungsausschüsse widersprechen aber dem geltenden Recht, da sie die Zuständigkeiten der Staats- und Kommunalbehörden für sich in An-. Spruch nehmen, jene sogar „Oberbürgermeister und andere Beamte abgesetzt, neue eingesetzt, Personen in Schutzhaft genommen, rote Bataillone ausgerüstet, den Arbeitgebern die Bezahlung der Streiktage, den Gemeinden die Besoldung und und Verpflegung der Roten Armee auferlegt, Zeitungen und Versammlungen verboten haben". (Abg. M o l d e n h a n e r in der Köln. Ztg. v. 27. März 1920 Nr. 297). Gewiss, das steht nicht „alles auf dem Boden der Verfassung". Die d a u e r n d e Aufrechterhaltung dieser Zustände wäre nicht nur „gemässigter Bolschewismus", sondern Vernichtung der jetzigen Reichsverfassung, die keine Diktatur des Proletariats kennt 1 ). 1) Die durch den Kapp-Putsch, die Ausrufung des General Bureiks und den kommunistisch-anarchistischen Aufruhr im Ruhrgebiet seit Ende März bis Mitte April 1920 geschaffene, überaus verhängnisvolle Lage hat, bei all ihrer Bedeutung innen- und aussen-

174

Reichs Verfassung.

Die B e u r t e i l u n g des Verfassungswerkes sehwankt in der Öffentlichkeit zwischen begeistertem Lob und harter Verdammung, j e nach den subjektiven Grundanschauungen, die man in ihm verwirklicht oder abgelehnt findet, je nach der Neigung f ü r oder gegen die republikanische oder monarchische Staatsform, nach der Art der schliesslichen Lösung oder mindestens vorläufigen Regelung der überaus zahlreichen politischen, kulturellen und wirtschaftlichen Probleme. Die W i s s e n s c h a f t wird ihr Urteil erst nach geraumer Zeit endgültig fällen können. Schon heute vermag sie jedoch zu sagen, dass die Unfertigkeit, die absichtliche und, teilweise, zweifellos unabsichtliche Lückenhaftigkeit der Verfassungsurkunde, die Unbestimmtheit und Zweifelhaftigkeit vieler ihrer Vorschriften besonders in dem Zweiten Hauptteil über die Grundrechte und Grundpflichten der Deutschen, zu schwersten Bedenken Anlass gibt; dass dagegen der Erste Hauptteil über Aufbau und Aufgaben des Reichs wohl durchdacht, innerlich geschlossen und, bis auf Einzelheiten, wie die allerdings sehr wichtige Ordnung der Gebietsfrage, trefflich gelungen ist. Die Fülle des in Deutschland Unerprobten wie die Ausgestaltung der Reichspräsidentenstellnng, des Parlamentarismus, der Ministerverantwortlichkeit, des Gesetzgebungsweges, des Volksentscheids und Volksbegehrens sowie des Rätesystems wird gerade wegen ihrer Neuheit eher das Lob der K ü h n h e i t und des Mutes, als den Tadel des Sprunges in? Dunkle ernten müssen. Die von Grund aus veränderte Zeit verlangte eine gewandelte Staatsform und Staatsverfassung. Sie steht in ihren Grundlagen fest, umfasst eine Fülle von Einzelregelungen. Ihr Ausbau und ihre Verbesserung ist Aufgabe d e r nahen und ferneren Zukunft. politischer Art, staatsrechtlich erkennbare Wirkungen nicht gehabt. Den mehrerwähnten Bielefelder Vereinbarungen vom 24. März folgten, sie erweiternd, die in Münster am 31. März getroffenen. Die Vollversammlung der Vollzugsräte lür das Industriegebiet Rheinland und Westfalen beschloss am 1. April 1920 die Anerkennung und sofortige Durchführung der beiden Vereinbarut gen. Eine, die verfassungsmässige Reichsregierung' behindernde „Nebenregierun g", sei es der Gewerkschaften, sei es der Vollzugsräte, bestand ni cht.. So bietet diese aufgewühlte Zeitperiode zu staatsrechtlicher Betrachtung kaum Anlass.

Verfassung des Deutschen Reiches. Vom 11. August 1919. (RGBl. S. 1383.) Das Deutsche Volk, einig in seinen Stämmen und von dem Willen beseelt, sein Reich in Freiheit und Gerechtigkeit zu erneuen und zu festigen, dem innern und dem äussern Frieden zu dienen und den gesellschaftlichen Fortschritt zu fördern, hat sich diese Verfassung gegeben. Erster

Hauptteil.

Aufbau und Aufgaben des Reichs. Erster Abschnitt.

Reich und Länder. Art. 1. Das Deutsche Reich ist eine Republik. Die Staatsgewalt geht vom Volke aus. Art. 2. Das Reichsgebiet besteht aus den Gebieten der deutschen Länder. Andere Gebiete können durch Reichsgesetz in das Reich aufgenommen werden, wenn es ihre Bevölkerung kraft des Selbstbestimmungsrechts begehrt. Art. 3. Die Reichsfarben sind schwarz-rot-gold. Die Handelsflagge ist schwarz-weiss-rot mit den Reichsfarben in der obern innern Ecke. Art. 4. Die allgemein anerkannten Regeln des Völkerrechts gelten als bindende Bestandteile des deutschen Reichsrechts. Art. 5. Die Staatsgewalt wird in Reichsangelegenheiten durch die Organe des Reiches auf Grund der Reichsverfassung, in Landesangelegenheiten durch die Organe der Länder auf Grund der Landesverfassungen ausgeübt. Art. 6. Das Reich hat die ausschließliche Gesetzgebung über: 1. die Beziehungen zum Ausland; 2. das Kolonialwesen; 3. die Staatsangehörigkeit, die Freizügigkeit, die Einund Auswanderung und die Auslieferung;

Reichsverfassung.

4. die Wehrverfassung; 5. das Münzwesen; 6. das Zollwesen sowie die Einheit des Zoll- und Handelsgebietes und die Freizügigkeit des Warenverkehrs ; 7. das Post- und Telegraphenwesen einschließlich des Fernsprechwesens. Art. 7. Das Reich hat die Gesetzgebung über: 1. das bürgerliche Recht; 2. das Strafrecht; 3. das gerichtliche Verfahren einschliesslich des Strafvollzugs sowie die Amtshilfe zwischen Behörden; 4. das Passwesen und die Fremdenpolizei; 5. das Armenwesen und die Wandererfürsorge; 6. das Presse-, Vereins- und Versammlungswesen; 7. die Bevölkerungspolitik, die Mutterschafts-, Säuglings-, Kinder- und Jugendfürsorge; 8. das Gesundheitswesen, das Veterinärwesen und den Schutz der Pflanzen gegen Krankheiten und Schädlinge; 9. das Arbeitsrecht, die Versicherung und den Schutz der Arbeiter und Angestellten sowie den Arbeitsnachweis ; 10. die Einrichtung beruflicher Vertretungen für das Reichsgebiet; 11. die Fürsorge für die Kriegsteilnehmer und ihre Hinterbliebenen; 12. das Enteignungsrecht; 13. die Vergesellschaftung von Naturschätzen und wirtschaftlichen Unternehmungen sowie die Erzeugung, Herstellung, Verteilung und Treisgestaltung wirtschaftlicher Güter für die Gemeinwirtschaft; 14. den Handel, das Mass- und Gewichtswesen, die Ausgabe von Papiergeld, das Bankwesen sowie das Börsenwesen; 15. den Verkehr mit Nahrungs- und Genußmitteln sowie mit Gegenständen des täglichen Bedarfs; 16. das Gewerbe und den Bergbau; 17. das Versicherungswesen; 18. die Seeschiffahrt, die Hochsee- und Küstenfischerei; 19. die Eisenbahnep, die Binnenschiffahrt, den Verkehr mit Kraftfahrzeugen zu Lande, zu Wasser und in der Luft sowie den Bau von Landstrassen, soweit es sich um den allgemeinen Verkehr und die Landesverteidigung handelt; 20. das Theater- und Lichtspielwesen.

Reichsverfassung.

177

Art. 8. Das Reich hat ferner die Gesetzgebung über die Abgaben und sonstigen Einnahmen, soweit sie ganz oder teilweise für seine Zwecke in Anspruch genommen werden. Nimmt das Reich Abgaben oder sonstige Einnahmen in Anspruch, die bisher den Ländern zustanden, so hat es auf die Erhaltung der Lebensfähigkeit der Länder Rücksicht zu nehmen. Art. 9. Soweit ein Bedürfnis für den Erlass einheitlicher Vorschriften vorhanden ist, hat das Reich die Gesetzgebung über: 1. die Wohlfahrtspflege; 2. den Schutz der öffentlichen Ordnung und Sicherheit. Art. 10. Das Reich kann im Wege der Gesetzgebung Grundsätze aufstellen für: 1. die Rechte und Pflichten der Religionsgesellschaften; 2. das Schulwesen einschließlich des Hochschulwesens und das wissenschaftliche Büchereiwesen; 3. das Recht der Beamten aller öffentlichen Körperschaften ; 4. das Bodenrecht, die Bodenverteilung, das Ansiedlungs- und Heimstättenwesen, die Bindung dea Grundbesitzes, das Wohnungswesen und die Bevölkerungsverteilung ; 5. das Bestattungswesen. Art. 11. Das Reich kann im Wege1 der Gesetzgebung Grundsätze über die Zulässigkeit und Erhebungsart von Landesabgaben aufstellen, soweit sie erforderlich sind, um 1. Schädigung der Einnahmen oder der Handelsbeziehungen des Reiches, 2. Doppelbesteuerungen, 8. übermässige oder verkehrshindernde Belastung der Benutzung öffentlicher Verkehrswege und Einrichtungen mit Gebühren, 4. steuerliche Benachteiligung eingeführter Waren gegenüber den eigenen Erzeugnissen im Verkehre zwischen den einzelnen Ländern und Landesteilen oder 5. Ausfuhrprämien auszuschliessen oder wichtige Gesellschaftsinteressen zu wahren. Art. 12. Solange und soweit das Reich von seinem Ge•etzgebnngsrechte keinen Gebrauch macht, behalten die Länder das Recht der Gesetzgebung. Dies gilt nicht für die ausschliessliche Gesetzgebung des Reiches. Gegen Landesgesetze, die Bich auf Gegenstände des Artikels 7 Ziffer 13 beziehen, steht der Reichsregierung, sofern dadurch das Wohl der Gesamtheit berührt wird, ein Einspruchsrecht zu. Blier-Semi RaiajUTariaManc. 2.Aufl. 12

178

Reichsverfasaung.

Art. 13. Reichsrecht bricht Landrecht. Bestehen Zweifel oder Meinungsverschiedenheiten darüber, ob eine landesrechtliche Vorschrift mit dem Reicbsrecht vereinbar ist, so kann die Reichs- oder Landeszentralbehörde nach näherer Vorschrift eines Reichsgesetzes die Entscheidung eines obersten Gerichtshofes des Reiches anrufen. Art. 14. Die Reichsgesetze werden durch die Landesbehörden ausgeführt, soweit nicht die Reichsgesetze etwas anderes bestimmen. Art. 15. Die Reichsregierung übt die Aufsicht in den Angelegenheiten aus, in denen dem Reiche das Recht der Gesetzgebung zusteht. Soweit die Reichsgesetze von den Landesbehörden auszufahren sind, kann die Reichsregierung allgemeine Anweiirangen erlassen. Sie ist ermächtigt, zur Ueberwachung der Ausführung der Reichsgesetze zu den Landeszentralbehörden und mit ihrer Zustimmung zu den untern Behörden Beauftragte zu, entsenden. Die Landesregierungen sind verpflichtet, auf Ersuchen der Reichsregierung Mängel, die bei der Ausführung der Reichsgesetze hervorgetreten sind, zu beseitigen. Bei Meinungsverschiedenheiten kann sowohl die Reichsregierung als die Landesregierung die Entscheidung des'Staatsgerichtshofes anrufen, falls nicht durch Reichsgesetz ein anderes Gericht bestimmt ist. Art. 16. Die mit der unmittelbaren Reichsverwaltung in den Ländern betrauten Beamten sollen in der Regel Landesangehörige sein. Die Beamten, Angestellten und Arbeiter der Reichsverwaltung sind auf ihren Wunsch in ihren Heimatgebieten zu verwenden, soweit dies möglich ist und nicht Bücksichten auf ihre Ausbildung oder Erfordernisse des Dienstes entstehen. Art. 17. Jedes Land muss eine freistaatliche Verfassung haben. Die Volksvertretung muss in allgemeiner, gleicher, unmittelbarer und geheimer Wahl von allen reichsdeutschen Männern und Frauen nach den Grundsätzen der Verhältniswahl gewählt werden. Die Landesregierung bedarf des Vertrauens der Volksvertretung. Die Grundsätze für die Wahlen zur Volksvertretung gelten auch für die Gemeindewahlen. Jedoch kann durch Landesgesetz die Wahlberechtigung von der Dauer des Aufenthalts in der Gemeinde bis zu einem Jahr abhängig gemacht werden. Art. 18. Die Gliederung des Reiches in Länder soll unter möglichster Berücksichtigung des Willens der beteiligten Be»

Reichsverfassung'.

179

•ölkerung der wirtschaftlichen und kulturellen Höchstleistung des Volkes dienen. Die Aenderung des Gebiets von Ländern »nd die Neubildung von Ländern innerhalb des Reiches erfolgen durch verfassungänderndes Reichsgesetz. Stimmen die unmittelbar beteiligten Länder zu, so bedarf es nur eines einfachen Reichsgesetzes. . Ein einfaches Reichsgesetz genügt ferner, wenn eines der beteiligten Länder nicht zustimmt, die Gebietsänderung oder Neubildung aber durch den Willen der Bevölkerung gefordert wird und ein überwiegendes Reichsinteresse sie erheischt. Der Wille der Bevölkerung ist durch Abstimmung festzustellen. Die Reichsregierung ordnet die Abstimmung an, wenn ein Drittel der zum Reichstag wahlberechtigten Einwohner des abzutrennenden Gebiets es verlangt. Zum Beschluss einer Gebietsänderung oder Neubildung »ind drei Fünftel der abgegebenen Stimmen, mindestens aber die Stimmenmehrheit der Wahlberechtigten erforderlich. Auch wenn es sich nur um Abtrennung eines Teiles eines preussischen Regierungsbezirks, eines bayerischen Kreises oder in andern Ländern eines entsprechenden Verwaltungsbezirks bandelt, ist der Wille der Bevölkerung des ganzen in Betracht kommenden Bezirks festzustellen. Wenn ein räumlicher Zusammenhang des abzutrennenden Gebiets mit dem Gesamtbezirk nicht besteht, kann auf Grund eines besondern Reichsgesetzes der Wille der Bevölkerung des abzutrennenden Gebiets als ausreichend erklärt werden. Nach Feststellung der Zustimmung der Bevölkerung hat die Reichsregierung dem Reichstag ein entsprechendes Gesetz zur Beschlussfassung vorzulegen. Entsteht bei der Vereinigung oder Abtrennung Streit ttber die Vermögensauseinandersetzung, so entscheidet hierüber auf Antrag einer Partei der Staatsgerichtshof für das Deutsche Reich. Art. 19. Ueber Verfassungsstreitigkeiten innerhalb eines Landes, in dem kein Gericht zu ihrer Erledigung besteht, sowie über Streitigkeiten nichtprivatrechtlicher Art zwischen verschiedenen Ländern oder zwischen dem Reich und einem Land entscheidet auf Antrag eines der streitenden Teile der Staatsgerichtshof für das Deutsche Reich, soweit nicht ein anderer Gerichtshof des Reiches zuständig ist. Der Reichspräsident vollstreckt das Urteil des Staatsgerichtshofes.

180

Reichsverfassung. Zweiter Abschnitt. Der Reichstag.

Art. 20. Der Reichstag besteht aus den Abgeordneten des deutschen Volkes. Art. 21. Die Abgeordneten sind Vertreter des ganzen Volkes. Sie sind nur ihrem Gewissen unterworfen und an Aufträge nicht gebunden. Art. 22. Die Abgeordneten werden in allgemeiner, gleicher, unmittelbarer und geheimer Wahl von den über 20 Jahre alten Männern und Frauen nach' den Grundsätzen der Verhältniswahl gewählt. Der Wahltag muss ein Sonntag oder Öffentlicher Buhetag sein. Das Nähere bestimmt das Reichswahlgesetz. Art. 23. Der Reichstag wird auf vier Jahre gewählt. Spätestens am sechzigsten Tage nach ihrem Ablauf muß die Neuwahl stattfinden. Der Reichstag tritt zum ersten Male spätestens am dreißigsten Tage nach der Wahl zusammen. Art. 24. Der Reichstag tritt in jedem Jahre am ersten Mittwoch des November am Sitze der Reichsregierung zusammen. Der Präsident des Reichstags muß ihn früher berufen, wenn es der Reichspräsident oder mindestens ein Drittel der Reichstagsmitglieder verlangt. Der Reichstag bestimmt den Schluß der Tagung und den Tag des Wiederzusammentritts. Art. 25. Der Reichspräsident kann den Reichstag auflösen, jedoch nur einmal aus dem gleichen Anlaß. Die Neuwahl findet spätestens am sechzigsten Tage nach der Auflösung statt. Art. 26. Der Reichstag wählt seinen Präsidenten, dessen Stellvertreter und seine Schriftführer. Er gibt sich seine Geschäftsordnung. Art. 27. Zwischen zwei Tagungen oder Wahlperioden führen Präsident und Stellvertreter der letzten Tagung ihr« Geschäfte fort. Art. 28. Der Präsident übt das Hausrecht und die Polizeigewalt im Reichstagsgebäude aus. Ihm untersteht die Hansverwaltung; er verfügt über die Einnahmen und Ausgaben des Hauses nach Massgabe des Reichshaushalts und Vertritt das Reich in allen Rechtsgeschäften und Rechtsstreitigkeiten seiner Verwaltung. Art. 29.. Der Reichstag verhandelt öffentlich. Auf Antrag von fünfzig Mitgliedern kann mit Zweidrittelmehrheit die Oeffentlichkeit ausgeschlossen werden.

Reichsverfassung.

181

Art. 30. Wahrheitsgetreue Berichte über die Verhandlungen in den öffentlichen Sitzungen des Reichstages, eines Landtags oder ihrer Ausschüsse bleiben von jeder Verantwortlichkeit frei. Art. 31. Bei dem Reichstag wird ein Wahlprüfungsgericht gebildet. Es entscheidet auch über die Frage, ob ein Abgeordneter die Mitgliedschaft verloren hat. Das Wahlprüfungsgericht besteht aus Mitgliedern des Reichstags, die dieser für die Wahlperiode wählt, und aus Mitgliedern des Reichsverwaltungsgerichts, die der Reichspräsident auf Vorschlag des Präsidiums dieses Gerichts bestellt. Das Wahlprüfungsgericht erkennt auf Grund öffentlicher mündlicher Verhandlung durch drei Mitglieder des Reichstags und zwei richterliche Mitglieder. Außerhalb der Verhandlungen vor dem Wahlprüfungsgericht wird das Verfahren von einem Reichsbeauftragten geführt, den der Reichspräsident ernennt. Im übrigen wird das Verfahren von dem Wahlprüfungsgerichte geregelt. Art. 32. Zu einem Beschlüsse des Reichstags ist einfache Stimmenmehrheit erforderlich, sofern die Verfassung kein anderes Stimmenverhältnis vorschreibt. Für die vom Reichstag vorzunehmenden Wahlen kann die Geschäftsordnung Ausnahmen zulassen. Die Beschlussfähigkeit wird durch die Geschäftsordnung geregelt. Art. 33. Der Reichstag und seine Ausschüsse können die Anwesenheit des Reichskanzlers und jedes Reichsministers verlangen. Der Reichskanzler, die Reichsminister und die von ihnen bestellten Beauftragten haben zu den Sitzungen des Reichstags und seiner Ausschüsse Zutritt. Die Länder,sind berechtigt, in diese Sitzungen Bevollmächtigte zu entsenden, die den Standpunkt ihrer Regierung zu dem Gegenstande der Verhandlung darlegen. Auf ihr Verlangen müssen die Regierungsvertreter während der Beratung, die Vertreter der Reichsregierung auch außerhalb der Tagesordnung gehört werden. Sie unterstehen der Ordnungsgewalt des Vorsitzenden. Art. 34. Der Reichstag hat das Recht und auf Antrag von einen; Fünftel seiner Mitglieder die Pflicht, üntersu; chungsausschüsse einzusetzen. Diese Ausschüsse erheben in öffentlicher Verhandlung die Beweise, die sie oder die Antragsteller für erforderlich erachten. Die Oeffentlichkeit kann vom Untersuchungsausschuß mit Zweidrittelmehrheit ausgeschlossen werden. Die Geschäftsordnung regelt das Ver-

182

Beichs Verfassung.

fahren des Ausschusses und bestimmt die Zahl seiner Mitglieder. Die Gerichte und Verwaltungsbehörden sind verpflichtet, dem Ersuchen dieser Ausschüsse um Beweiserhebungen Folge zu leisten; die Akten der Behörden sind ihnen auf Verlangen vorzulegen. Auf die Erhebungen der Ausschüsse und der von ihnen ersuchten Behörden finden die Vorschriften der Strafprozessordnung sinngemässe Anwendung, doch bleibt das Brief-, Post-, Telegraphen- und Fernsprechgeheimnis unberührt. Art. 35. Der Reichstag bestellt einen ständigen Ausschuß für auswärtige Angelegenheiten, der auch ausserhalb der Tagung des Reichstags und nach der Beendigung der Wahlperiode oder der Auflösung des Reichstags bis zum Zusammentritt des neuen Reichstags tätig werden kann. Die Sitzungen dieses Ausschusses sind nicht öffentlich, wenn nicht der Ausschuss mit Zweidrittelmehrheit die Oeffentlichkeit beschliesst. Der Reichstag bestellt ferner zur Wahrung der Recht« der Volksvertretung gegenüber der Reichsregierung für die Zeit ausserhalb der Tagung und nach Beendigung einer Wahlperiode einen ständigen Ausschuss. Diese Ausschüsse haben die Rechte von Untersuchungsausschüssen. Art. 36. Kein Mitglied des Reichstags oder eines Landtags" darf zu irgendeiner Zeit wegen seiner Abstimmung oder wegen der in Ausübung seines Berufes getanen Aeusserungen gerichtlich oder dienstlich verfolgt oder sonst außerhalb der Versammlung zur Verantwortung gezogen werden. Art. 37. Kein Mitglied des Reichstags oder eines Landtags kann ohne Genehmigung des Hauses, dem der Abgeordnete angehört, während der Sitzungsperiode wegen einer mit Strafe bedrohten Handlung zur Untersuchung gezogen oder verhaftet werden, es sei denn, dass das Mitglied bei Ausübung der Tat oder spätestens im Laufe des folgenden Tages festgenommen ist. Die gleiche Genehmigung ist bei jeder andern Beschränkung der persönlichen Freiheit erforderlich, die die Ausübung des Abgeordnetenberufs beeinträchtigt. Jedes Strafverfahren gegen ein Mitglied des Reichstags oder eines Landtags und jede Haft oder sonstige Beschränkung seiner persönlichen Freiheit wird auf Verlangen des Hauses, dem der Abgeordnete angehört, für die Dauer der Sitzungsperiode aufgehoben.

Reicheverfassung.

18»

Art. 38. Die Mitglieder des Reichstags und der Landtage sind berechtigt, über Personen, die ihnen in ihrer Eigenschaft als Abgeordneten Tatsachen anvertrauen, oder denen sie in Ausübung ihres Abgeordnetenberufs solche anvertraut haben, sowie über diese Tatsachen selbst das Zeugnis zu verweigern. Auch in Bezug auf Beschlagnahme von Schriftstücken stehen sie den Personen gleich, die ein gesetzliches Zeugnisverweigerungsrecht haben. Eine Durchsuchung oder Beschlagnahme darf in den Säumen des Reichstags oder eines Landtags nar mit Zustimmung des Präsidenten vorgenommen werden. Art. 39. Beamte und Angehörige der Wehrmacht bedürfen zur Ausübung ihres Amtes als Mitglieder des Reichstags oder eines Landtags keines Urlaubs. Bewerben sie sich um einen Sitz in diesen Körperschaften, so ist ihnen der zur Vorbereitung ihrer Wahl erforderliche Urlaub zu gewähren. Art. 40. Die Mitglieder des Reichstags erhalten das Recht zur freien Fahrt auf allen deutschen Eisenbahnen sowie Entschädigung nach Massgabe eines Reichsgesetzes. Dritter Abschnitt. Der Reichspräsident und die Keichgregleriing. Art. 41. Der Reichspräsident wird vom ganzen deatschen Volke gewählt. Wählbar ist jeder Deutsche, der das fünfunddreissigste Lebensjahr vollendet hat. Das Nähere bestimmt ein Reichsgesetz. Art. 42. Der Reichspräsident leistet bei der Übernahme seines Amtes vor dem Reichstag folgenden Eid: Ich schwöre, dass ich meine Kraft dem Wohle des deutschen Vaterlandes widmen, seinen Nutzen mehren, Schaden von ihm wenden, die Verfassung und die Gesetze des Reiches wahren, meine Pflichten gewissenhaft erfüllen und Gerechtigkeit gegen jedermann üben werde. Die Beifügung einer religiösen Beteuerung ist zulässig. Art. 43. Das Amt des Reichspräsidenten dauert sieben Jahre. Wiederwahl ist zulässig. Vor Ablauf der Frist kann der Reichspräsident auf Antrag des Reichstags durch Volksabstimmung abgesetzt werden. Der Beschluss des Reichstags erfordert Zweidrittelmehrheit. Durch den Beschluss ist der Reichspräsident an der fernem Ausübung des Amtes verhindert. Die Ablehnung der Ab-

Beichsverfassung.

setznng; durch die Volksabstimmung gilt als neue Wahl und hat die Auflösung des Reichstags zur Folge. Der Reichspräsident kann ohne Zustimmung des Reichstags nicht strafrechtlich verfolgt werden. Art. 44. Der Reichspräsident kann nicht zugleich Mitglied des Reichstags sein. Art. 45. Der Reichspräsident vertritt das Reich völkerrechtlich. Er schliesst im Namen des Reiches Bündnisse und andere Verträge mit auswärtigen Mächten. Er beglaubigt und empfängt die Gesandten. Kriegserklärung und Friedensschluss erfolgen durch Reichsgesetz. Bündnisse und Verträge mit fremden Staaten, die sich auf Gegenstände der Reicbsgesetzgebung beziehen, bedürfen der Zustimmung des Reichstags. Art. 46. Der Reichspräsident ernennt und entlässt die Reichsbeamten und die Offiziere, soweit nicht durch Gesetz etwas anderes bestimmt ist. Er kann das Ernennungs- und Entlassungsrecht durch andere Behörden ausüben lassen. Art. 47. Der Reichspräsident hat den Oberbefehl über die gesamte Wehrmacht des Reiches. Art. 48. Wenn ein Land die ihm nach der Reichsverfassung oder den Reichsgesetzen obliegenden Pflichten nicht erfüllt, kann der Reichspräsident es dazu mit Hilfe der bewaffneten Macht anhalten. Der Reichspräsident kann, wenn im Deutschen Reiche die öffentliche Sicherheit und Ordnung erheblich gestört oder gefährdet wird, die zur Wiederherstellung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung nötigen Massnahmen treffen, erforderlichenfalls mit fiilfe der bewaffneten Macht einschreiten. Zu diesem Zwecke darf er vorübergehend die in den Artikeln 114, 115, 117, 118, 123, 124 und 153 festgesetzter» Grundrechte ganz oder zum Teil ausser Kraft setzen. Von allen gemäss Abs. 1 oder Abs. 2 dieses Artikels getroffenen Massnahmen hat der Reichspräsident unverzüglich dem Reichstag Kenntnis zu geben. Die Massnahmen sind auf Verlangen des Reichstags ausser Kraft zu setzen. Bei Gefahr im Verzug kann die Landesregierung für ihr Gebiet einstweilige Massnahmen der in Abs. 2 bezeichneten Art treffen. Die Massnahmen sind auf Verlangen des Reichspräsidenten oder des Reichstags ausser Kraft zu setzen. Das Nähere bestimmt ein Reichsgesetz. Art. 49. Der Reichspräsident übt für das Reich das Begnadigungsrecht aus. Reichsamnestien bedürfen eines Reichsgesetzes.

Reichgverfassung.

185

Art. 50. Alle Anordnungen und Verfügungen des Reichspräsidenten, auch solche auf dem Gebiete der Wehrmacht bedürfen zu ihrer Gültigkeit der Gegenzeichnung durch den Reichskanzler oder den zuständigen Reichsminister. Durch die Gegenzeichnung wird die Verantwortung übernommen. Art. 51. Der Reichspräsident wird im Falle seiner Verhinderung zunächst durch den Reichskanzler vertreten. Dauert die Verhinderung voraussichtlich längere Zeit, so ist die Vertretung durch ein Reichsgesetz zu regeln. Das gleiche gilt für den Fall einer vorzeitigen Erledigung der Präsidentschaft bis zur Durchführung der neuen Wahl. Art. 52. Die Reichsregierung besteht aus dem Reichskanzler und den Reichsministern. Art. 53. Der Reichskanzler und auf seinen Vorschlag die Reichsminister werden vom Reichspräsidenten ernannt und entlassen. Art. 54. Der Reichskanzler und die Reichsminister bedürfen zu ihrer Amtsführung des Vertrauens des Reichstags. Jeder von ihnen muss zurücktreten, wenn ihm der Reichstag durch ausdrücklichen Beschluss sein Vertrauen entzieht. Art. 55. Der Reichskanzler führt den Vorsitz in der Reichsregierung und leitet ihre Geschäfte nach einer Geschäftsordnung, die von der Reichsregierung beschlossen und vom Reichspräsidenten genehmigt wird. Art. 56. Der Reichskanzler bestimmt die Richtlinien der Politik und trägt dafür gegenüber dem Reichstag die Verantwortung. Innerhalb dieser Richtlinien leitet jeder Reichsminister den ihm anvertrauten Geschäftszweig selbständig und unter eigner Verantwortung gegenüber dem Reichstag. Art. 57. Die Reichsminister lpaben der Reichsregierung alle Gesetzentwürfe, ferner Angelegenheiten, für welche Verfassung oder Gesetz dieses vorschreiben, sowie Meinungsverschiedenheiten über Fragen, die den Geschäftsbereich mehrerer Reichsminister berühren, zur Beratung und Beschlussfassung zu unterbreiten. Art. 58. Die Reichsregierung fasst ihre Beschlüsse mit Stimmenmehrheit. Bei Stimmengleichheit entscheidet die Stimme des Vorsitzenden. Art. 59. Der Reichstag ist berechtigt, den Reichspräsidenten, den Reichskanzler und die Reichsminister vor dem Staatsgerichtshof für das Deutsche Reich anzuklagen, dass sie schuldhafterweise die Reichsverfassung oder ein ReichBgesetz verletzt haben. Der Antrag auf Erhebung der Anklage muss von mindestens hundert Mitgliedern des Reichstags un-

186

Reichs Verfassung'.

terzeiohnet sein und bedarf der Zustimmung der für Verfassungsänderungen vorgeschriebenen Mehrheit. Das Nähere regelt das Reichsgesetz über den Staatsgerichtshof. Vierter Abschnitt. Der Reichsrat.

Art. 60. Zur Vertretung der deutschen Länder bei der Gesetzgebung und Verwaltung des Reiches wird ein Reichsrat gebildet. Art. 61. Im Reichsrat hat jedes Land mindestens eine Stimme. Bei den grösseren Ländern entfällt auf eine Million Einwohner eine Stimme. Ein Überschuss, der mindestens der Einwohnerzahl des kleinsten Landes gleichkommt, wird einer vollen Million gleichgerechnet. Kein'Land darf durch mehr als zwei Fünftel aller Stimmen vertreten sein. Deutschösterreich erhält nach seinem Anschluss an das Deutsche Reich das Recht der Teilnahme am Reichsrat mit der seiner Bevölkerung entsprechenden Stimmenzahl. Bis dahin haben die Vertreter Deutschösterreichs beratende Stimme. Die Stimmenzahl wird durch den Reichsrat nach jeder allgemeinen Volkszählung neu festgesetzt. Art. 62. In den Ausschüssen, die der Reichsrat aus seiner Mitte bildet, führt kein Land mehr als eine Stimme. Art. 63. Die Länder werden im Reichsrat durch Mitglieder ihrer Regierungen vertreten. Jedoch wird die Hälfte der preussisc^ien Stimmen nach Massgabe eineB Landesgesetzes von den preussischen Provinzialverwaltungen bestellt. Die Länder sind berechtigt, so viele Vertreter in den Reicbsrat zu entsenden, wie sie Stimmen führen. Art. 64. Die Reichsregierung muss den Reichsrat auf Verlangen von einem Drittel seiner Mitglieder einberufen. Art. 65. Den Vorsitz im Reichsrat und in seinen Ausschüssen führt ein Mitglied der Reichsregierung. Die Mitglieder der Reichsregierung haben daß Jlecht und auf Verlangen die Pflicht, an den Verhandlungen des Reichsrats und seiner Ausschüsse teilzunehmen. Sie müssen während der Beratung auf Verlangen jederzeit gehört werden. Art. 66. Die Reichsregierung sowie jedes Mitglied de» Reichsrats sind befugt, im Reichsrat Anträge zu stellen. Der Reichsrat regelt seinen Geschäftsgang durch eine Geschäftsordnung. Die Vollsitzungen des Reichsrats sind öffentlich. Nach Massgabe der Geschäftsordnung kann die Öffentlichkeit fttr einzelne Beratungsgegenstände ausgeschlossen werden.

Reichs Verfassung.

187

Bei der Abstimmung entscheidet die einfache Mehrheit der Abstimmenden. Art. 67. Der ßeichsrat ist von den Reichsministern Uber die Führung der Reichsgeschäfte auf dem Laufenden zu halten. Zu Beratungen über wichtige Gegenstände sollen von den Reichsministerien die zuständigen Ausschüsse des Reichsrats zugezogen werden. Fünfter Abschnitt. Die Reichsgesetzgebung.

Art. 68. Die Gesetzes vorlagen werden von der Reichsregierung oder aus der Mitte des Reichstags eingebracht. Die Reichsgesetze werden vom Reichstag beschlossen. Art. 69. Die Einbringung von Gesetzesvorlagen der Reichsregierung bedarf der Zustimmung des Reichstags. Kommt «ine Übereinstimmung zwischen der Reichsregierung und dem Reichsrat nicht zustande, so kann die Reichsregierung die Vorlage gleichwohl einbringen, hat aber hierbei die abweichende Auffassung des Reichsrats darzulegen. Bescbliesst der Reichsrat eine Gesetzesvorlage, welcher die Reichsregierung nicht zustimmt, so hat diese die Vorlage unter Darlegung ihres Standpunkts beim Reichstag einzubringen. Art. 70. Der Reichspräsident hat die verfassungsmässig zustande gekommenen Gesetze auszufertigen und binnen Monatsfrist im Reichsgesetzblatt zu verkünden. Art. 71. Reichsgesetze treten, soweit sie nichts anderes bestimmen, mit dem vierzehnten Tage nach Ablauf des Tages in Kraft, an dem das Reichsgesetzblatt in der Reichshauptstadt ausgegeben worden ist. Art. 72. Die Verkündigung eines Reichsgesetzes ist um zwei Monate auszusetzen, wenn es ein Drittel des Reichstags verlangt. Gesetze, die der Reichstag und der Reichsrat für dringlich erklären, kann der Reichspräsident ungeachtet dieses Verlangens verkünden. Art. 73. Ein vom Reichstag beschlossenes Gesetz ist vor seiner Verkündung zum Volksentscheid zu bringen, wenn der Reichspräsident binnen eines Monats es bestimmt. Ein Gesetz, dessen Verklindung auf Antrag von mindestens einem Drittel des Reichstags ausgesetzt ist, ist dem Volksentscheid zu unterbreiten, wenn ein Zwanzigstel der Stimmberechtigten es beantragt. Ein Volksentscheid ist ferner herbeizuführen, wenn ein Zehntel der Stimmberechtigten das Begehren nach Vorlegung eines Gesetzentwurfs stellt. Dem Volksbegehren muss ein aus-

188

Reichsverfauung.

gearbeiteter Gesetzentwurf zugrunde liegen. Er ist von der Regierung unter Darlegung ihrer Stellungnahme dem Reichstag zu unterbreiten. Der Volksentscheid findet nicht statt, wenn der begehrte Gesetzentwurf im Reichstag unverändert angenommen worden ist. Über den Gaushaltsplan, über Abgabengesetze und Besoldungsordnungen kann nur der Reichspräsident einen Volksentscheid veranlassen. Das Verfahren beim Volksentscheid und beim Volksbegehren regelt ein Reichsgesetz. Art. 74. Gegen die vom Reichstag beschlossenen Gesetze steht dem Reichsrat der Einspruch zu. Der Einspruch muss innerhalb zweier Wochen nach der Schlussabstimmung im Reichstag bei der Reichsregierung eingebracht und spätestens binnen zwei Wochen mit Gründen versehen werden. Im Falle des Einspruchs wird das Gesetz dem Reichstag zur nochmaligen BeschlusBfassung vorgelegt. Kommt hierbei keine Ubereinstimmung zwischen Reichstag und Reichsrat zustande, so kann der Reichspräsident binnen drei Monaten über den Gegenstand der Meinungsverschiedenheit einen Volksentscheid anordnen. Macht der Präsident von, diesem Rechte keinen Gebranch, so gilt das Gesetz als nicht zustande gekommen. Hat der Reichstag mit Zweidrittelmehrheit entgegen dem Einspruch des Reichsrats beschlossen, so hat der Präsident das Gesetz binnen drei Monaten in der vom Reichstag beschlossenen Fassung zu verkünden oder einen Volksentscheid anzuordnen. Art. 75. Durch den Volksentscheid kann ein Beschluss des Reichstags nur dann ausser Kraft gesetzt werden, wenn sich die Mehrheit der Stimmberechtigten an der Abstimmung beteiligt. Art. 76. Die Verfassung kann im Wege der Gesetzgebung geändert werden. Jedoch kommen Beschlüsse des Reichstags auf Abänderung der Verfassung nur zustande, wenn zwei Drittel der gesetzlichen Mitgliederzahl anwesend sind und wenigstens zwei Drittel der Anwesenden zustimmen. Auch Beschlüsse des Reichsrats auf Abänderung der Verfassung bedürfen einer Mehrheit von zwei Dritteln der abgegebenen Stimmen. Soll auf Volksbegehren durch Volksentscheid eine Verfassungsänderung beschlossen werden, so ist die Zustimmung der Mehrheit der Stimmberechtigten erforderlich. Hat der Reichstag entgegen dem Einspruch des ReichsTats eine Verfassungsänderung beschlossen, so darf der Reichs-

ßeichsverfassung.

189

Präsident dieses Gesetz nicht verkünden, wenn der Reichsrat binnen zwei Wochen den Volksentscheid verlangt. Art. 77. Die zur Ausführung der Reichsgesetze erforderlichen allgemeinen Verwaltungsvorschriften erlässt, soweit die Gesetze nichts anderes bestimmen, die Reichsregierung. Sie bedarf dazu der Zustimmung des Reichsrats, wenn die Ausführung der Reichsgesetze den Landesbehörden zusteht. S e c h s t e r Abs|chnit|t.

Die Reichs Verwaltung.

Art. 78. Die Pflege der Beziehungen zu den auswärtigen Staaten ist ausschliesslich Sache des Reiches. In Angelegenheiten, deren Regelung der Landesgesetzgebung zusteht, können die Länder mit auswärtigen Staaten Verträge schliessen; die Verträge bedürfen der Zustimmung des Reiches. Vereinbarungen mit fremden Staaten über Veränderung der Reichsgrenzen werden nach Zustimmung des beteiligten Landes durch das Reich abgeschlossen. Die Grenzveränderungen dürfen nur auf Grund eines Reichsgesetzes erfolgen, soweit es sich nicht um blosse Berichtigung der Grenzen unbewohnter Gebietsteile handelt. Um die Vertretung der Interessen zu gewährleisten, die sich für einzelne Länder aus ihren besondern wirtschaftlichen Beziehungen oder ihrer benachbarten Lage zu auswärtigen Staaten ergeben, trifft das Reich im Einvernehmen mit den beteiligten Ländern die erforderlichen Einrichtungen und Massnahmen. Art. 79. Die Verteidigung des Reiches ist Reichssache. Die Wehrverfassung des deutschen Volkes wird unter Berücksichtigung der besonderen landsmannschaftlichen Eigenarten durch ein Reichsgesetz einheitlich geregelt. Art. 80. Das Kolonialwesen ist ausschliesslich Sache des Reiches. Art. 81. Alle deutschen Kauffahrteischiffe bilden eine «inh eitliche Handelsflotte. Art. 82. Deutschland bildet ein Zoll- und Handelsgebiet, umgeben von einer gemeinschaftlichen Zollgrenze. Die Zollgrenze fällt mit der Grenze gegen das Ausland zusammen. An der See bildet das Gestade des Festlandes und der zum Reichsgebiet gehörigen Inseln die Zollgrenze. F ü r den Lauf der Zollgrenze an der See und an andern Gewässern können Abweichungen bestimmt werden. Fremde Staatsgebiete oder Gebietsteile können dureli

190

Reichsverfassung.

Staatsverträge oder Übereinkommen dem Zollgebiet angeschlossen werden. Aus dem Zollgebiet können nach besonderem Erfordernis Teile ausgeschlossen werden. Für Freihäfen kann der Ausschluss nur durch ein verfassungänderndes Gesetz aufgehoben werden. Zollausschüsse können durch Staatsverträge oder Über; einkommen einem fremden Zollgebiet angeschlossen werden. Alle Erzeugnisse der Natur sowie des Gewerbe- und Kunstfleisses, die sich im freien Verkehr des Reiches befinden, dürfen über die Grenze der Länder und Gemeinden ein-, ausoder durchgeführt werden. Ausnahmen sind auf Grund eines Reichsgesetzes zulässig. Art. 83. Die Zölle und Verbrauchssteuern werden durch Reichsbehörden verwaltet. Bei der Verwaltung von Reichsabgaben durch Reichsbehörden sind Einrichtungen vorzusehen, die den Ländern die Wahrung besonderer Landesinteressen auf dem Gebiet der Landwirtschaft, des Handels, des Gewerbes und der Industrie ermöglichen. Art. 84. Das Reich trifft durch Gesetz die Vorschriften Uber: 1. die Einrichtung der Abgaben Verwaltung der Länder, soweit es die einheitliche und gleichmässige Durchführung der Reichsabgabengesetze erfordert; 2. die Einrichtung und Befugnisse der mit der Beaufsichtigung der Ausführung der Reichsabgabengesetze betrauten Behörden; 3. die Abrechnung mit den Ländern; 4. die Vergütung der Verwaltungskosten bei Ausführung der Reichsabgabengesetze. Art. 85. Alle Einnahmen und Ausgaben des Reiche» müssen für jedes Rechnungsjahr veranschlagt und in den Haushaltsplan eingestellt werden. Der Haushaltsplan wird .vor Beginn des Rechnungsjahres durch ein Gesetz festgestellt. Die Ausgaben werden in der Regel für ein Jahr bewilligt; sie können in besonderen Fällen auch für eine längere Dauer bewilligt werden. Im übrigen sind Vorschriften im Reichshaushaltsgesetz unzulässig, die über das Rechnungsjahr hinausreichen oder sich nicht auf die Einnahmen und Ausgaben des Reiches oder ihre Verwaltung beziehen. Der Reichstag kann im Entwurf des Haushaltsplans ohne Zustimmung des Reichsrats Ausgaben nicht erhöhen oder neu einsetzen.

Reichsverfassnno:.

191

Die Zustimmung des Reichsrats kann gemäss den Vorschriften des Artikels 74 ersetzt werden. Art. 86. Uber die Verwendung aller Reichseinnahmen legt der Reichsfinanzminister in dem folgenden Rechnungsjahr zur Entlastung der Reichsregierung dem Reichsrat und dem Reichstag Rechnung. Die Rechnungsprüfung wird durch Reichsgesetz geregelt. Art. 87. Im Wege des Kredits dürfen Geldmittel nur bei ausserordentlichem Bedarf und in der Regel nur für Ausgaben zu werbenden Zwecken beschafft werden. Eine solche Beschaffung sowie die Übernahme einer Sicherheitsleistung zu Lasten des Reiches dürfen nur auf Grund eines Reichsgesetzes erfolgen. Art. 88. Das Post- und Telegraphenwesen samt dem Fernsprechwesen ist ausschliesslich Sache des Reiches. Die Postwertzeichen sind für das ganze Reich einheitlich. Die Reichsregierung erlässt mit Zustimmung des Reichsrats die Verordnungen, welche Grundsätze und Gebühren für die Benutzung der Verkehrseinrichtungen festsetzen. Sie kann diese Befugnis mit Zustimmung des Reichsrats auf den Reiehspostminister übertragen. Zur beratenden Mitwirkung in Angelegenheiten des Post-, Telegraphen- und Fernsprechverkehrs und der Tarife errichtet die Reichsregierung mit Zustimmung des Reichsrats einen Beirat. Verträge über den Verkehr mit dem Auslande schliesst allein das Reich. Art. 89. Aufgabe des Reiches ist es, die dem allgemeinen Verkehr dienenden Eisenbahnen in sein Eigentum zu übernehmen und als einheitliche Verkehrsanstalt zu verwalten. Die Rechte der Länder, Privateisenbahnen zu erwerben, sind auf Verlangen dem Reiche zu übertragen. Art. 90. Mit dem Übergang der Eisenbahnen übernimmt das Reich die Enteignungsbefungnis und die staatlichen Höheitsrechte, die sich auf das Eisenbahnwesen beziehen. Über den Umfang dieser Rechte entscheidet im Streitfalle der Staatsgerich tshof. Art. 91. Die Reichsregierung erlässt mit Zustimmung des Reichsrats die Verordnungen, die den Bau, den Betrieb und den Verkehr der Eisenbahnen regeln. Sie kann diese Befugnis mit Zustimmung des Reichsrats auf den zuständigen Reichsminister übertragen. Art. 92. Die Reichseisenbahnen sind, ungeachtet der Eingliederung ihres Haushalts und ihrer Rechnung in den allgemeinen Haushalt und die allgemeine Rechnung des Reiches als ein selbständiges wirtschaftliches Unternehmen zu ver-

192

Beichsverfassung.

walten, das seine Ausgaben einschliesslich Verzinsung und Tilgung der Eisenbahnschuld selbst zu bestreiten und eine Eisenbahnrttcklage anzusammeln hat. Die Höhe der Tilgung und der Rücklage sowie die Verwendungszwecke der Rücklage sind durch besonderes Gesetz zu regeln. Art. 93. Zur beratenden Mitwirkung in Angelegenheiten des Eisenbahnverkehrs und der Tarife errichtet die Reichsregierung für die Reichseisenbahnen mit Zustimmung des Reichsrats Beiräte. Art. 94. Hat das Reich die dem allgemeinen Verkehr dienenden Eisenbahnen eines bestimmten Gebietes in seine Verwaltung übernommen, so können innerhalb dieses Gebietes neue, dem allgemeinen Verkehr dienende Eisenbahnen nur vom Reich oder mit seiner Zustimmung gebaut werden. Berührt der Bau neuer oder die Veränderung bestehender Reichseisenbahnanlagen den Geschäftsbereich der Landespolizei, so hat die Reichseisenbahnyerwaltung vor der Entscheidung die Landesbehörden anzuhören. Wo das Reich die Eisenbahnen noch nicht in seine Verwaltung übernommen hat, kann es für den allgemeinen Verkehr oder die Landesverteitigung als notwendig erachtete Eisenbahnen kraft Reichsgesetzes auch gegen den Widerspruch der Länder, deren Gebiet durchschnitten wird, jedoch unbeschadet der Landeshoheitsrechte, für eigne Rechnung anlegen oder den Bau einem anderen zur Ausführung überlassen, nötigenfalls unter Verleihung des Enteignungsrechts. Jede Eisenbahnverwaltung muss sich den Anschluss anderer Bahnen auf deren Kosten gefallen lassen. Art. 95. Eisenbahnen des allgemeinen Verkehrs, die nicht vom Reiche verwaltet werden, unterliegen der Beaufsichtigung durch das Reich. Die der Reichsaufsicht unterliegenden Eisenbahnen sind nach den gleichen, vom Reiche festgesetzten Grundsätzen anzulegen und auszurüsten. Sie sind in betriebssicherem Znstand zu erhalten und entsprechend den Anforderungen des Verkehre auszubauen. Personen- und Güterverkehr sind in Übereinstimmung mit dem Bedürfnis zu bedienen und auszugestalten. Bei der Beaufsichtigung des Tarifwesens ist auf gleichmässige und niedrige Eisenbahntarife hinzuwirken. Art. 96. Alle Eisenbahnen, auch die nicht dem allgemeinen Verkehr dienenden, haben den Anforderungen des Reiches auf Benutzung der Eisenbahnen zum Zwecke der Landesverteidigung Folge zu leisten. Art. 97. Aufgabe des Reiches ist es, die dem allge-

Reiehsvcrfassung'.

193

meinen Verkehr dienenden Wasserstrassen in sein Eigentum und seine Verwaltung zu .Ubernehmen. Nach der Übernahme können dem allgemeinen Verkehr dienende Wasserstrassen nur noch vom Reich oder mit seiner Zustimmung angelegt oder ausgebaut werden. Bei der Verwaltung, dem Ausbau oder dem Neubau von Wasserstrassen sind die Bedürfnisse der Landeskultur und der Wasserwirtschaft im Einvernehmen mit den Ländern zu wahrten. Auch ist auf deren Förderung Rücksicht zu nehmen. Jede Wasserstrassenverwaltung hat sich den Anschluss anderer Binnenwasserstrassen auf Kosten der Unternehmer gefallen zu lassen. Die gleiche Verpflichtung besteht für die Herstellung einer Verbindung zwischen Binnenwasserstrassen und Eisenbahnen. Mit dem Übergang der Wasserstrassen erhält das Reich die Enteignungsbefugnis, die Tarifhoheit sowie die Strom- und Schiffahrtspolizei. Die Aufgaben der Strombauverbände in bezug auf den Ausbau natürlicher Wasserstrassen im Rhein-, Weser- und Elbgebiete sind auf das Reich zu Ubernehmen. Art. 98. Zur Mitwirkung in Angelegenheiten der Wasserstrassen werden bei den Reichswasserstrassen nach näherer Anordnung der Reichsregiernng unter Zustimmung des Reichsrats Beiräte gebildet. Art. 99. Auf natürlichen Wasserstrassen dürfen Abgaben nur für solche Werke, Einrichtungen und sonstige Anstalten erhoben werden, die zur Erleichterung des Verkehrs bestimmt sind. Sie dürfen bei staatlichen und kommunalen Anstalten die zur Herstellung und Unterhaltung erforderlichen Kosten nicht Ubersteigen. Die Herstellungs-'und Unterhaltungskosten für Anstalten, die nicht ausschliesslich zur Erleichterung des Verkehrs, sondern auch zur Förderung anderer Zwecke bestimmt sind, dürfen nur zu einem verhältnismässigen Anteil durch Schiffahrtsabgaben aufgebracht werden. Als Herstellungskosten gelten die Zinsen und Tilgungsbeträge für die aufgewandten Mittel. Die Vorschriften des vorstehenden Absatzes finden Anwendung auf die Abgaben, die für künstliche Wasserstrassen sowie fttr Anstalten an solchen und in Häfen erhoben werden. Im Bereiche der Binnenschiffahrt können für die Bemessung der Befahrungsabgaben die Gesamtkosten einer Wasser strasse, eines Stromgebietes oder eines Wasserstrassennetzes zugrunde gelegt werden. Diese Bestimmungen gelten auch für die Flösserei auf schiffbaren Wasserstrassen. 3tier-Som i o Reicnsverfassung. 2. Auf. 13

194

Reichsverfassung.

Auf fremde Schiffe und deren Ladungen andere oder höhere Abgaben zu legen ,als auf deutsche Schiffe und deren Ladungen, steht nur dem Reiche zu. Zur Beschaffung von Mitteln für die Unterhaltung und den Ausbau des deutschen Wasserstrassennetzes kann das Reich die Schiffahrtsbeteiligten auch auf andere Weise durch Gesetz zu Beiträgen heranziehen. Art. 100. Zur Deckung der Kosten für Unterhaltung und Bau von Binnenschiffahrtswegen kann durch ein Reichsgesetz auch herangezogen werden, wer aus dem Bau von Talsperren in anderer Weise als durch Befahrung Nutzen zieht, sofern mehrere Länder beteiligt sind oder das Reich die Kosten der Anlage trägt. Art. 101. Aufgabe des Reiches ist es, alle Seezeichen, insbesondere Leuchtfeuer, Feuerschiffe. Bojen, Tonnen und Baken in sein Eigentum und seine Verwaltung zu übernehmen. Nach der Übernahme können Seezeichen nur noch vom Reich oder mit seiner Zustimmung hergestellt oder ausgebaut werden. Siebenter Abschnitt.

Die Rechtspflege. Art. 102. Die Richter sind unabhängig und nur dem Gesetz unterworfen. Art. 103. Die ordentliche Gerichtsbarkeit wird durch das Reichsgericht und durch die Gerichte der Länder ausgeübt. Art. 104. Die Richter der ordentlichen Gerichtsbarkeit werden auf Lebenszeit ernannt. Sie können wider ihren Willen nur kraft richterlicher Entscheidung und nur aus den Gründen und unter d,en Formen, welche die Gesetze bestimmen, dauernd oder zeitweise ihres Amtes enthoben oder an eine andere Stelle oder in den Ruhestand versetzt werden. Die Gesetzgebung kann Altersgrenzen festsetzen, bei deren Erreichung Richter in den Ruhestand treten. Die vorläufige Amtsenthebung, die kraft Gesetzes eintritt, wird hierdurch nicht berührt. Bei einer Veränderung in der Einrichtung der Gerichte oder ihfer Bezirke kann die Landesjustizverwaltung unfreiwillige Versetzungen an ein anderes Gericht oder Entfernungen vom Amte, jedoch nur unter Belassung des vollen Gehalts, verfügen. Auf Handelsrichter, Schöffen und Geschworene finden diese Bestimmungen keine Anwendung. Art. 105. Ausnahmegerichte sind unstatthaft. Niemand darf seinem gesetzlichen Richter entzogen werden. Die ge-

Reichsverlfassung.

195

eetzlichen Bestimmungen Uber Kriegsgerichte und Standgerichte werden hiervon nicht berührt. Die militärischen Ehrengerichte sind aufgehoben. Art. 106. Die Militärgerichtsbarkeit ist aufzuheben, ajisser für Kriegszeiten und an Bord der Kriegsschiffe. Das Nähere regelt ein Reichsgesetz. Art. 107. Im Keich und in den Ländern müssen nach Massgabe der Gesetze Verwaltungsgerichte zum Schutze der einzelnen gegen Anordnungen und Verfügungen der Verwaltungsbehörden bestehen. Art. 108. Nach Massgabe eines Reichsgesetzes wird ein Staatsgerichtshof für das Deutsche Reich errichtet.

Zweiter

Hauptteil.

Grundrechte and Grundpflichten der Deutschen. Erster

Abschnitt.

Die Einzelperson.

Art. 109. Alle Deutschen sind Tor dem. Gesetze gleich. Männer und Frauen haben grundsätzlich dieselben staatsbürgerlichen Rechte und Pflichten. Öffentlichrechtliche Vorrechte oder Nachteile der Geburt oder des Standes sind aufzuheben. Adelsbezeichnungen gelten nur als Teil des Namens und dürfen nicht mehr verlieben werden. Titel dürfen nur verliehen werden, wenn sie ein Amt oder einen Beruf bezeichnen; akademische Grade sind hierdurch nicht betroffen. Orden und Ehrenzeichen dürfen vom Staate nicht verliehen werden. Kein Deutscher darf von einer ausländischen Regierung Titel oder Orden annehmen. Art. 110. Die Staatsangehörigkeit- im Reich und in den Ländern wird nach den Bestimmungen eines Reichsgesetzes erworben und verloren. Jeder Angehörige eines Landes ist zugleich Reichsangehöriger. Jeder Deutsche hat in jedem Lande des Reiches die gleichen Rechte und Pflichten wie die Angehörigen des Landes selbst Art. 111. Alle Deutschen gemessen Freizügigkeit im ganzen Reiche. Jeder hat das Recht, sich an beliebigem Orte des Reiches aufzuhalten und niederzulassen, Grundstücke

196

Reichs Verfassung.

zu erwerben und jeden Nahrungszweig zu betreiben. Einschränkungen bedürfen eines Reichsgesetzes. Art. 112. Jeder Deutsche ist berechtigt, nach ausserdeutscben Ländern auszuwandern. Die Auswanderung kann nur durch Reichsgesetz beschränkt werden^ Dem Auslande gegenüber haben alle Reichsangehörigen inner- und ausserhalb des Reichsgebietes Anspruch auf den Schutz des Reiches. Kein Deutscher darf einer ausländischen Regierung zur Verfolgung oder Bestrafung aberliefert werden. Art. 113. Die fremdsprachigen Volksteile deB Reiches dürfen durch die Gesetzgebung und Verwaltung nicht in ihrer freien, volkstümlichen Entwicklung, besonders nicht im Gebrauch ihrer Muttersprache beim Unterricht sowie' bei der inneren Verwaltung und der Rechtspflege beeinträchtigt werden. Art. 114. Die Freiheit der Person ist unverletzlich. Eine Beeinträchtigung oder Entziehung der persönlichen Freiheit durch die öffentliche Gewalt ist nur auf Grund von Gesetzen zulässig. Personen, denen die Freiheit entzogen wird, sind spätestens am darauffolgenden Tag in Kenntnis zu setzen, von welcher Behörde und aus welchen Gründen die Entziehung der Freiheit angeordnet worden ist; unverzüglich soll ihnen Gelegenheit gegeben werden, Einwendungen gegen ihre Frei heitsentziehung vorzubringen. Art. 115. Die Wohnung jedes Deutschen ist für ihn eine Freistätte und unverletzlich. Ausnahmen sind nur auf Grund von Gesetzen zulässig. Art. 116. Eine Handlung kann nur dann mit einer Strafe belegt werden, wenn die Strafbarkeit gesetzlich bestimmt war, bevor die Handlung begangen wurde. Art. 117. Das Briefgeheimnis sowie das Post-, Telegraphen- und Fernsprechgeheimnis sind unverletzlich. Ausnahmen können nur durch Reichsgesetz zugelassen werden. Art. 118. Jeder Deutsche hat das Recht, innerhalb der Schranken der allgemeinen Gesetze seine Meinung durch Wort, Schrift, Druck, Bild oder in sonstiger Weise frei zu äussern. An diesem Rechte darf ihn kein Arbeits- oder Anstellungsverhältnis hindern, und niemand darf ihn benachteiligen, wenn er von diesem Rechte Gebrauch macht. Eine Zensur findet nicht statt, doch können für Lichtspiele durch. Gesetz abweichende Bestimmungen getroffen werden. Auch sind zur Bekämpfung der Schund- und Schmutzliteratur sowie zum Schutze der Jugend bei öffentlichen Schaustellungen und Darbietungen gesetzliche Massnahmen zulässig.

Reichsverfassung.

197

Zweiter Abschnitt. Das Gemeinschaftsleben.

Art. 119. Die Ehe steht als Grundlage des Familienlebens und der Erhaltung und Vermehrong der Nation unter dem besonderen Schutze der Verfassung. Sie beruht auf der Gleichberechtigung der beiden Geschlechter. Die Reinerhaltung, Gesundung und soziale Förderungder Familie ist Aufgabe des Staates und der Gemeinden. Kinderreiche Familien haben Anspruch auf ausgleichende Fürsorge. Die Mutterschaft hat Anspruch auf den Schutz und die Fürsorge des Staates. Art. 120. Die Erziehung des Nachwuchses zur leiblichen, seelischen und gesellschaftlichen Tüchtigkeit ist oberste Pflicht und natürliches Recht der Eltern, Uber deren Betätigung die staatliche Gemeinschaft wacht. Art. 121. Den unehelichen Kindern sind durch die Gesetzgebung die gleichen Bedingungen für ihre leibliche, seelische und gesellschaftliche Entwicklung zu schaffen wie den ehelichen Kindern. Art. 122. Die Jugend ist gegen Ausbeutung sowie gegen sittliche, geistige oder körperliche Verwahrlosung zu schützen. Staat und Gemeinde haben die erforderlichen Einrichtungen zu treffen. Fttrsorgemassregeln im Wege des Zwanges können nur auf Grund des Gesetzes angeordnet werden. Art. 123. Alle Deutschen haben das Recht, sich ohne Anmeldung oder besondere Erlaubnis friedlich und unbewaffnet zu versammeln. Versammlungen unter freiem Himmel können durch Reichsgesetz anmeldepflichtig gemacht und bei unmittelbarer Gefahr für die öffentliche Sicherheit verboten werden. Art. 124. Alle Deutschen haben das Recht, zu Zwecken, die den Strafgesetzen nicht zuwiderlaufen, Vereine oder Gesellschaften zu bilden. Dies Recht kann nicht durch Vorbeugungsmassregeln beschränkt werden. Für religiöse Vereine und Gesellschaften gelten dieselben Bestimmungen. Der Erwerb der Rechtsfähigkeit steht jedem Vereine gemäss den Vorschriften des bürgerlichen Rechtes frei. Er darf einem Vereine nicht aus dem Grunde versagt werden, dass er einen politischen, sozialpolitischen oder religiösen Zweck verfolgt. Art. 125. Wahlfreiheit und Wahlgeheimnis sind gewährleistet. Das Nähere bestimmen die Wahlgesetze. Art. 126. Jeder Deutsche hat das Recht, sich schrift-

198

Reichsverfassung.

lieb mit Bitten oder Beschwerden an die zuständige Behörde oder an die Volksvertretung zu wenden. Dieses Recht kaen sowohl von einzelnen als auch von mehreren gemeinsam ausgeübt ' werden. Art. 127. Gemeinden und Gemeindeverbände haben das Recht der Selbstverwaltung innerhalb der Schranken der Gesetze. t Art. 128. Alle Staatsbürger ohne Unterschied sind nach Massgabe der Gesetze und entsprechend ihrer Befähigung und ihren Leistungen zu den öffentlichen Ämtern zuzulassen. Alle Ausnahmebestimmungen gegen weibliche Beamte werden beseitigt. Die Grundlagen des Beamtenverhältnisses sind durch Reichsgesetz zu regeln. Art. 129. Die Anstellung der Beamten erfolgt auf Lebenszeit, soweit nicht durch Gesetz etwas anderes bestimmt ist. Ruhegehalt und Hinterbliebenenversorgung werden gesetzlich geregelt. Die wohlerworbenen Rechte der Beamten sind unverletzlich. Für die vermögensrechtlichen Ansprüche der Beamten steht der Rechtsweg offen. Die Beamten könneil nur unter den gesetzlich bestimmten Voraussetzungen und Formen vorläufig ihres Amtes enthoben, einstweilen oder endgültig in den Ruhestand oder in ein anderes Amt mit geringerem Gehalt versetzt werden. Gegen jedeB dienstliche Straferkenntnis muss ein Beschwerdeweg und die Möglichkeit eines Wiederaufnahmeverfahrens eröffnet sein. In die Nachweise Uber die Person des Beamten sind Eintragungen von ihm ungünstigen Tatsachen erst vorzunehmen, Wenn dem Beamten Gelegenheit gegeben war, sich über sie zu äussern. Dem Beamten ist Einsicht in seihe Personalnachweise zu gewähren. Die Unverletzlichkeit der wohlerworbenen Rechte und die Offenhaltung des Rechtsweges für die vermögensrechtlichen Ansprüche werden besonders auch den Berufssoldaten gewährleistet. Im übrigen wird ihre Stellung durch Reicbsgesetz geregelt. Art. 130. Die Beamten sind Diener der Gesamtheit, nicht einer Partei. Allen Beamten wird die Freiheit ihrer politischen Gesinnung und die Vereinigungsfreiheit gewährleistet. Die Beamten erhalten nach näherer reichsgesetzlicher Bestimmung besondere Beamtenvertretungen. Art. 131. Verletzt ein Beamter in Ausübung der ihm anvertrauten öffentlichen Gewalt die ihm einem Dritten gegenüber obliegende Amtspflicht, so trifft die Verantwortlichkeit

Reichsverfassung.

199

grundsätzlich den Staat oder die Körperschaft, in deren Dienste der Beamte steht. Der Rückgriff gegen den Beamten bleibt vorbehalten. Der ordentliche Rechtsweg darf nicht ausgeschlossen werden. Die nähere Regelung liegt der zuständigen Gesetzgebung ob. Art. 132. Jeder Deutsche hat nach Massgabe der Gesetze die Pflicht zur Übernahme ehrenamtlicher Tätigkeiten. Art. 133. Alle Staatsbürger sind verpflichtet, nach Massgabe der Gesetze persönliche Dienste für den Staat und die Gemeinde zu leisten. Die Wehrpflicht richtet sich nach den Bestimmungen des Reichswehrgesetzes. Dieses bestimmt auch, wieweit für Angehörige der Wehrmacht zur Erfüllung ihrer Aufgaben und zur Erhaltung der Manneszucht einzelne Grundrechte einzuschränken sind. Art. 134. Alle Staatsbürger ohne Unterschied tragen im Verhältnis ihrer Mittel zu allen öffentlichen Lasten nach Massgabe der Gesetze bei. Dritter Abschnitt.

Religion und Religionsgesellschaften. Art. 135. Alle Bewohner des Reiches gemessen volle Glaubens- und Gewissensfreiheit. Die ungestörte Religionsübung wird durch die Verfassung gewährleistet und steht unter staatlichem Schutze. Die allgemeinen Staatsgesetze bleiben hiervon unberührt. Art. 136. Die bürgerlichen und staatsbürgerlichen Rechte und Pflichten werden durch die Ausübung der Religionsfreiheit weder bedingt noch beschränkt. Der Genuss bürgerlicher und staatsbürgerlicher Rechte sowie die Zulassung zu öffentlichen Ämtern sind unabhängig von dem religiösen Bekenntnis. Niemand ist verpflichtet, seine religiöse Uberzeugung zu offenbaren. Die Behörden haben nur soweit das Recht, nach der Zugehörigkeit zu einer Religionsgesellschaft zu fragen, als davon Rechte und Pflichten abhängen oder eine gesetzlich angeordnete statistische Erhebung dies erfordert. Niemand darf zu einer kirchlichen Handlung oder Feierlichkeit oder zur Teilnahme an religiösen Übungen oder zur Benutzung einer religiösen Eidesform gezwungen werden. Art. 137. Es besteht keine Staatskirche. Die Freiheit der Vereinigung zu Religionsgesellschaften wird gewährleistet. Der Zusammenschluss von Religionsgesell-

200

Reichgverfassung.

Schäften innerhalb des Reichsgebiets unterliegt keinen Beschränkungen. Jede Religionsgesellschaft ordnet und verwaltet ihre Angelegenheiten selbständig innerhalb der Schranken des fUr alle geltenden Gesetzes. Sie verleiht ihre Ämter ohne Mitwirkung des Staates oder der büi gerlichen Gemeinde. Religionsgesellscbaften erwerben die Rechtsfähigkeit nach den allgemeinen Vorschriften des bürgerlichen Rechtes. Die Religionsgesellscbaften bleiben Körperschaften des öffentlichen Rechtes, soweit sie solche bisher waren. Anderen Religionsgesellschaften sind auf ihren Antrag gleiche Rechte zu gewähren, wenn sie durch ihre Verfassung und die Zahl ihrer Mitglieder die Gewähr der Dauer bieten. Schliessen sich mehrere derartige öffentlicbrechtliche Religionsgesellscbaften zu einem Verbände zusammen, so ist auch dieser Verband eine öffentrechtliche Körperschaft. Die Religionsgesellschaften, welche Körperschaften des öffentlichen Rechtes sind, sind berechtigt, auf Grund der bürgerlichen Steuerlisten nach Massgabe der landesrechtlichen Bestimmungen Steuern zu erheben. Den Religionsgesellschaften werden die Vereinigungen gleichgestellt, die sich die gemeinschaftliche Pflege einer Weltanschauung zur Aufgabe machen. Soweit die Durchfuhrung dieser Bestimmungen eine weitere Regelung erfordert, liegt diese der Landesgesetzgebung ob. Art. 138. Die auf Gesetz, Vertrag oder besondern Rechtstiteln beruhenden Staatsleistungen an die Religionsgesellschaften werden durch die Landesgesetzgebung abgelöst. Die Grundsätze hierfür stellt das Reich auf. Das Eigentum und andere Rechte der Religionsgesellschaften und religiösen Vereine an ihren fttr Kultus-, Unterrichts- und Wohltätigkeitszwecke bestimmten Anstalten, Stiftungen und sonstigen Vermögen werden gewährleistet. Art. 139. Der Sonntag und die staatlich anerkannten Feiertage bleiben als Tage der Arbeitsruhe und der seelischen Erhebung gesetzlich geschützt. Art. 140. Den Angehörigen der Wehrmacht ist die nötige freie Zeit zur Erfüllung ihrer religiösen Pflichten zu gewähren. Art. 141. Soweit das Bedürfnis nach Gottesdienst und Seelsorge im Heer, in Krankenhäusern, Strafanstalten oder sonstigen öffentlichen Anstalten besteht, sind die Religionsgesellschaften zur Vornahme religiöser Handlungen zuzulassen, wobei jeder Zwang fernzuhalten ist.

Reichsverfassung'.

Vierter

201

Abschnitt.

Hilduiig; und Schul?. Art. 142. Die Kunst, die Wissenschaft und ihre Lehre sind frei. Der Staat gewährt ihnen Schutz und nimmt an ihrer P f l e g e teil. Art. 143. Für die Bildung der Jugend ist durch öffentliche Anstalten zu sorgen. Bei ihrer Einrichtung wirken Reich, Länder und Gemeinden zusammen. Die Lehrerbildung ist nach den Grundsätzen, die für die höhere Bildung allgemein gelten, fUr das Reich einheitlich zu regeln. Die Lehrer an öffentlichen Schulen haben die Rechte und Pflichten der Staatsbeamten. Art. 144. Das gesamte Schulwesen steht unter der Aufsicht des Staates; er kann die Gemeinden daran beteiligen. Die Schulaufsicht wird durch hauptamtlich tätige, fachmännisch vorgebildete Beamte ausgeübt. Art. 145. Es besteht allgemeine Schulpflicht. Ihrer Erfüllung dient grundsätzlich die Volksschule mit mindestens acht Schuljahren und die anschliessende Fortbildungsschule bis zum vollendeten achtzehnten Lebensjahre. Der Unterricht und die Lernmittel in den Volksschulen und Fortbildungs schulen sind unentgeltlich. Art. 146. Das öffentliche Schulwesen ist organisch auszugestalten. Auf einer für alle gemeinsamen Grundschule baut sich das mittlere und höhere Schulwesen auf. Für dieseu Aufbau ist die Mannigfaltigkeit der Lebensberufe, für die Aufnahme eines Kindes in eine bestimmte Schule sind seine Anlage und Neigung, nicht die wirtschaftliche und gesellschaftliche Stellung oder das Religionsbekenntnis seiner Eltern massgebend. Innerhalb der Gemeinden sind indes auf Antrag von Erziehungsberechtigten Volksschulen ihres Bekenntnisses oder ihrer Weltanschauung einzurichten, soweit hierdurch ein geordneter Schulbetrieb, auch im Sinne des Abs. 1, nicht beeinträchtigt wird. Der Wille der Erziehungsberechtigten ist möglichst zu berücksichtigen. Das Nähere bestimmt die Landesgesetzgebung nach den Grundsätzen eines Reichsgesetzes. Für den Zugang Minderbemittelter zu den mittlem uud höhern Schulen sind durch Reich, Länder und Gemeinden öffentliche Mittel bereitzustellen, insbesondere Erziehungsbeihilfen für die Eltern von Kindern, die zur Ausbildung auf mittlem und böhem Schulen für geeignet erachtet werden, bis zur Beendigung der Ausbildung.

202

Reichsverfassung.

Art. 147. Private Schulen als Ersatz für öffentliche Schulen bedürfen der Genehmigung des Staates und unterstehen den Landesgesetzen Die Genehmigung ist zu erteilen, wenn die Privatschulen in ihren Lehrzielen und Einrichtungen sowie in der wissenschaftlichen Ausbildung ihrer Lehrkräfte nicht hinter den öffentlichen Schulen zurückstehen und eine Sonderung der Schüler nach den Besitzverhältnissen der Eltern nicht gefördert wird. Die Genehmigung ist zu versagen, wenn die wirtschaftliche und rechtliche Stellung der Lehrkräfte nicht genügend gesichert ist. Private Volksschulen sind nur zugelassen, wenn für eine Minderheit von Erziehungsberechtigten, deren Wille nach Artikel 146 Abs. 2 zu berücksichtigen ist, eine öffentliche Volksschule ihres Bekenntnisses oder ihrer Weltanschauung in der Gemeinde nicht besteht oder die Unterrichtsverwaltung ein besonderes pädagogisches Interesse anerkennt. Private Vorschulen sind aufzuheben. Für private Schulen, die nicht als Ersatz für öffentliche Schulen dienen, verbleibt es hei dem geltenden Recht. Art. 148. In allen Schulen ist sittliche Bildung, staatsbürgerliche Gesinnung, persönliche und berufliche Tüchtigkeit im Geiste des deutschen Volkstums und der Völkerversöhnung zu erstreben. Beim Untericht in öffentlichen Schulen ist Bedacht zu nehmen, das die Empfindungen Andersdenkender nicht verletzt werden. Staatsbürgerkunde und Arbeitsunterricht sind Lehrfächer der Schulen. Jeder Schüler erhält bei Beendigung der Schulpflicht einen Abdruck der Verfassung. Das Volksbildungswesen einschliesslich der Volkshochschulen soll von Reich, Ländern und Gemeinden gefördert werden. Art. 149. Der Religionsunterricht ist ordentliches Lehrfach der Schulen mit Ausnahme der bekenntnisfreien (weltlichen) Schulen. Seine Erteilung wird im Rahmen der Schulgesetzgebung geregelt. Der Religionsunterricht wird in Übereinstimmung mit den Grundsätzen der betreffenden Religionsgesellschaft unbeschadet des Aufsichtsrechts des Staates erteilt. Die Erteilung religiösen Unterrichts und die V,ornahme kirchlicher Verrichtungen bleibt der Willenserklärung der Lehrer, die Teilnahme an religiösen Unterrichtsfächern und an kirchlichen Feiern und Handlungen der Willenserklärung desjenigen überlassen, der über die religiöse Erziehung des Kindes zu bestimmen hat.

Reichs Verfassung.

203

Die theologischen Fakultäten an den Hochschulen bleiben erhalten. Art. 150. Die Denkmäler der Kunst, der Geschichte und der Natur sowie die Landschaft gemessen den Schutz und die Pflege des Staates. Es ist Sache des Reiches, die Abwanderung deutschen Kunstbesitzes in das Ausland zu verhüten. Fünfter Abschnitt.

Das Wirtschaftsleben. Art. 151. Die Ordnung des Wirtschaftslebens muss den Grundsätzen der Gerechtigkeit mit dem Ziele der Gewährleistung eines menschenwürdigen Daseins ftir alle entsprechen. In diesen Grenzen ist die wirtschaftliche Freiheit des Einzelnen zu sichern. Gesetzlicher Zwang ist nur zulässig zur Verwirklichung bedrohter Rechte oder im Dienst überragender Forderungen des Gemeinwohls. Die Freiheit des Handels und Gewerbes wird nach Massgabe der Reichsgesetze gewährleistet. Art. 152. Im Wirtschaftsverkehr gilt Vertragsfreiheit nach Mässgabe der Gesetze. Wucher ist verboten. Rechtsgeschäfte, die gegen die guten Sitten Verstössen, sind nichtig. Art. 153. Das Eigentum wird von der Verfassung gewährleistet. Sein Inhalt und seine Schranken ergeben sich aus den Gesetzen. Eine Enteignung kann nur zum Wohle der Allgemeinheit und auf gesetzlicher Grundlage vorgenommen werden. Sie erfolgt gegen angemessene Entschädigung, soweit nicht ein Reichsgesetz etwas anderes bestimmt. Wegen der Höhe der Entschädigung ist im Streitfalle der Rechtsweg bei den ordentlichen Gerichten offenzuhalten, soweit Reichsgesetze nichts anderes bestimmen. Enteignung durch das Reich gegenüber Ländern, Gemeinden und gemeinnützigen Verbänden kann nur gegen Entschädigung erfolgen. Eigentum verpflichtet. Sein Gebrauch soll zugleich Dienst sein für das gemeine Beste. Art. 154. Das Erbrecht wird nach Massgabe des bürgerlichen Rechtes gewährleistet. Der Anteil des Staates am Erbgut bestimmt sich nach den Gesetzen. Art. 155. Die Verteilung und Nutzung des Bodens wird von Staatswegeu in einer Weise überwacht, die Missbrauch

204

Reichs verfas8un