Handkommentar zur Verfassung des Deutschen Reichs vom 11. August 1919 [Reprint 2020 ed.] 9783112358405, 9783112358399

197 83 36MB

German Pages 616 [625] Year 1932

Report DMCA / Copyright

DOWNLOAD FILE

Polecaj historie

Handkommentar zur Verfassung des Deutschen Reichs vom 11. August 1919 [Reprint 2020 ed.]
 9783112358405, 9783112358399

Citation preview

Handkommentar zur Verfassung des Deutschen Reichs vom 11. August 1919

von

Dr. Ludwig Gebhard Regierungsrat

I.

Kl. im

Bayer.

Staatsministerium für Landwirtschaft und Arbeit

19 3 2 München, Berlin und Leipzig Z. Schweitzer Verlag (Arthur Sellier)

Druck von Dr. F. P. Datierer L Lie., Fretfing-Müuchen

Vorwort. Die vorliegende Arbeit ist unter staats- und wirtschaftspolitischen Verhältnissen in Angriff genommen worden, die von den heutigen

stark abweichen. Damals war die Erwägung maßgebend, daß im Hin­ blick auf das ständig anschwellende Schrifttum und die zahlreichen Be­

trachtungsmöglichkeiten der verfassungsrechüichen Probleme eine neue Gesamtbearbeitung vielleicht nicht überflüssig erscheinen mochte. In­

zwischen haben sich verschiedene neue Momente ergeben, die die Funk­

tion der Berfassung im Staatsleben in eine neue Beleuchtung rücken, in Erläuterungen zum Gesetzestext aber nur teilweise der Besprechung zugänglich sind. Der bisherige Verlauf der Ereignisse hat übrigens den

Gesichtspunkten Recht gegeben, die für den Verfasser von Anfang an maßgebend waren: Wenn man die Reichsverfassung vom 11. August 1919 unvoreingenommen für sich sprechen läßt und bei ihrer Auslegung

nicht stets ängstlich fragt, ob das, was chr Wortlaut zu besagen scheint,

auch wirllich den Gedanken ihrer Väter entspricht, so wird man sehen, daß das Berfassungswerk viel elastischer ist, als man bisher in weiten Kreisen anzunehmen geneigt war. Man pflegt bei der Auslegung von Gesetzen den lebendigen Geist gern dem totem Buchstaben gegen­

überzustellen. Cs kann aber auch — horribile dictu — vorkommen, daß der angeblich tote Buchstabe den Geist überlebt, daß er unerwarteterweise eigenes Leben entfaltet, während der Geist, der ihn geschaffen, vielleicht tot ist. Damit will nicht gesagt sein, daß der Geist von 1919

heute tot sei und daß es gelte die Berfassung nach irgend einem neuen Geist umzudeuten. Auch sollen die zahlreichen Belastungsproben, denen die „Elastizität" der Verfassung in der letzten Zeit unterworfen wurde,

damit vom Rechtsstandpunkt nicht unterschiedslos gutgeheißen werden. Mer es will der Überzeugung Ausdruck gegeben werden, daß der Buch­ stabe der Verfassung nicht in allen Einzelheiten an das Fortleben aller Gedanken der Weimarer Zeit gebunden ist, daß er auch in solchen Fällen Sinn behalten und erlangen kann, in denen die Motive seiner Setzung keine

unbedingte Gültigkeit und Anerkennung mehr beanspruchen

können.

IV Was bei jeder anderen Rechtsmaterie selbstverständlich ist, verdient bei der Behandlung eines so umstrittenen Gebietes wie des Berfassungs­

rechtes besondere Erwähnung: daß die Arbeit ausschließlich die persön­ lichen, von keiner politischen Stellungnahme beeinflußten Anschauungen des Verfassers wiedergibt und daß die in dem Buche vertretenen Aus­

legungen auch nicht mit den Auffassungen irgend einer amMchen Stelle

gleichgesetzt werden dürfen. Ich betone dies umsomehr, als ich dem Bayer. Staatsministerium des Jnnem für die Überlassung von amt­ lichem Material Dank schulde.

München, im Herbst 1931.

Dr. Ludwig Gebhard.

Inhaltsverzeichnis. A.

Güüettmrg...........................................................................................................

1

B.

Text der verfass«»- des Dentscheu Reichs............................................

30

C.

Ammaeatar.........................................................................................................

57

D.

Aahang 1. 2.

Reichsministergesetz ................................................................................ 572 Die Gutachten des Bersassungsausschusses der Länderkonferenz für BerfassungS- und Berwaltungsreform............................................ 578

2. Sachregister............................................................................................................

585

Abkürzungen. ---- Anschütz, Die Berfassung deS Deutschen Reichs vom 11. August 1919, Dritte Bearbeitung. Anschütz-Thoma, Handbuch = Handbuch deS deutschen StaatSrechtS, herauSg. von

Anschütz

AöR. (NF.) a. RB. Entw. 1 Entw. 2

Entw. 3 Entw. 4

Giese

Nipperdey Poetzsch-Hesfter Prot.

RB. Sten.Ber. Stier-Somlo

B., v.Wittmayer

G. Anschütz und R. Thoma. - öffentlichen — -------------~ ■ --- -------Archiv----des Rechts (Neue Folge). --- alte ReichSv«faffung (vom 16. April 1871). --- Entwurf einer Berfassung des Deutschen Reichs vom 20. Januar 1919. = Entwurf einer Berfassung des Deutschen Reichs vom 17. Februar 1919. = Entwurf einer Verfassung des Deutschen Reichs vom 21. Februar 1919. = Entwurf einer Verfassung des Deutschen Reichs vom 18. Juni 1919 (Entw. des Berfassungsausschusses der Nationalversammlung). = Giese, Die Verfassung deS Deutschen Reichs vom 11. August 1919, 7. Auflage.x) = Hätschel, Deutsches und preußisches StaatSrecht. = Laband, Das Staatsrecht des Deutschen Reiches. = Die Grundrechte und Grundpflichten der Reichsver­ fassung, herausg. von Nipperdey. = Poetzsch • Heffter, Handkommentar der Reichsver­ fassung, 3. Auflage. = Verhandlungen der verfassunggebenden Deutschen Natiovawersammlung, Bd. 336, Bericht des Ber= Rerchsverfassung. --- Verhandlungen der verfassunggebenden Deutschen Nationalversammlung, Stenographische Berichte. = Stier-Somlo, Deutsches Reichs- und Landesstaats­ recht. = Verfassung, verfassungs- (in Zusammensetzungen). = Wittmayer, Die Weimarer Reichsverfassung.

') Die 8. Auflage tft während des Druckes erschienen.

Nachträge und Berichtigungen. Sette »S: In Art. 37 Abs. 1 Zeile 3 ist zu lesen „Strafe" statt „Haft".

Sette 118: Zu Anm. 5a ist nachzutragen, daß Teil II Tit. 17 z 10 des Allge­ meinen Landrechts durch daS Preuß. Polizeiverwaltungsgesetz vom 1. Juni 1931 (GS. S. 77) aufgehoben worden ist; für die Aufgaben der Polizeibehörden gelten jetzt die $$ 14 ff. dieses Gesetzes.

Sette 186: Schrifttum zu Art. 26: Bilfinger, DIZ. 36 Sp. 393ff.

Sette 245ff.: Der umfangreiche Gebrauch, der im Sommer 1931 von Art. 48 Abs. 2 (und 4) gemacht wurde, konnte in den Erläuterungen zu diesem Art. nicht mehr berücksichtigt werden. Vorbehaltlich näherer Prüfung der Einzelheiten darf

hier bemertt werden, daß der Verfasser bisher keinen Anlaß gesehen hat, auf Grund der neu aufgetauchten Probleme die von ihm verttetene grundsätzliche Auf­

fassung über Umfang und Grenzen der dmch Art. 48 dem Reichspräsidenten und den Landesregierungen verliehenen außerordentlichen Befugnisse zu revidieren.

Sette 277: Anm. 4k zu Art. 52: Die Reichshaushaltsordnung ist neu ver­ kündet in der Fassung vom 14. April 1930 (RGBl. II S. 693). Sette 361: Schrifttum zu Art. 76: Loewenstein, Erscheinungsformen der B.Änderung.

Sette 497: Schrifttum zu Art. 131: Clauß, Ausschluß der grundsätzlichen StaatSHaftung und des Mckgriffsrechtes gegen den Beamten nach Art. 131 RB., DIZ. 35 Sp. 1165 ff.

A. Einleitung. I. Die Reichsverfassmrg vom 16. April 1871. Ein volles Verständnis der Verfassung des Deutschen Reichs vom 11. August 1919 ist nur möglich, wenn man sie in Beziehung setzt zu ihrer Vorgängerin, der Verfassung

des Deutschen Reichs vom 16. April 1871 (a. RB.). Denn bei aller politischen Gegen­

sätzlichkeit ist das Werk der Verfassunggebenden Nationalversammlung zu Weimar doch

hui

in gewissen Teilen eine wirkliche Neubildung, in vielen Bestimmungen da­

gegen eine Umbildung oder Fortbildung der a. RB. So ist der Reichsrat, so viel ihn auch politisch und rechtlich von dem Bundesrat unterschewet, trotz aller Verschiedenheit

der Funktion doch mehr eine UmbiLung als eine Neubildung, der Reichstag trotz der

wesentlichen Erweiterung seiner Macht in vieler Hinsicht eine Fortbildung des alten Reichstags — Fortbildung natürlich nicht im Sinne einer Kontinuität. Sogar die

Funktion des Reichspräsidenten, wohl der ausgesprochensten Neuschöpfung des B.-

Rechtes von 1919, wird durch den Blick auf gewisse Befugnisse des Kaisers in ihrer Bedeutung näher erläutert. Das alles ist nicht nur aus bewußter Anlehnung an das Vorbild von 1871 zu erklären, sondern teilweise auch aus der Beschränktheit der Ge­

staltungsmöglichkeiten, die sich aus den allgemeinen Verhältnissen des historischen

Zeitpunktes und aus den besonderen Bedingtheiten deutscher Staatlichkeit ergeben.

Die Entstehung der a. RB. kann hier nur insoweit berücksichtigt werden, als sie zur Deutung des Wesens und Inhalts dieser B. von Belang ist. Die Grundlage der a. RB. waren die völkerrechtlichen Verträge, die der König von Preußen im Namen des Norddeutschen Bundes mit den Großherzögen von Baden und Hessen am 15. No­

vember 1870 zu Versailles, mit dem König von Bayern am 23. November 1870 zu

Versailles und mit dem König von Württemberg am 25. November 1870 zu Berlin abgeschlossen hatte. Als Anlage zu diesen Verträgen war die Berfassung des Gesamt­

staates, der den Namen „Deutscher Bund" führen und am 1. Januar 1871 in Wirk­ samkeit treten sollte, zwischen den Vertragsparteien vereinbart. Die a.RB. vom

16. April 1871 war ein auf Grund dieser vereinbarten B. erlassenes Reichsgesetz. Wenn in der Eingangsformel stand, daß die beteiligten Fürsten einen „ewigen Bund" schließen,

so war damit ein rechtlicher Vorgang bezeichnet, der die Grundlage der a. RV. bildete, in dem Augenblick des Inkrafttretens aber schon der Vergangenheit angehörte. §1 des

sog. Sanktionsgesetzes, das gleichzeitig mit der a. RV. verkündet wurde, bestimmte, daß die a. RB. an die Stelle der in den Einigungsverträgen vereinbarten Berfassung

des Deutschen Bundes, der inzwischen den Namen „Deutsches Reich" angenommen hatte, treten solle. Doch waren die Einigungsverträge damit nicht außer Kraft gesetzt, sie behielten ihre Wirksamkeit als Grundlage des rechtlichen Bestandes des Deutschen

Reichs. Teile von ihnen wurden in Art. 3 des Sanktionsgesetzes ausdrücklich Vor­

behalten, sie galten neben dem B.-Gesetz als Bertragsrecht weiter. Gebhard, RetchSverfassung.

1

2

A. Einleitung. Im einzelnen hatte die a. RB. folgenden wesentlichen Inhalt. In der Eingangs­

formel war festgestellt, daß die oben genannten Fürsten „einen ewigen Bund

zunr

Schutz des Bundesgebiets und des innerhalb desselben gültigen Rechts, sowie zur Pflege der Wohlfahrt des deutschen Volkes" schließen — nicht „geschlossen haben", ein Ausdruck, der der Rechtslage besser entsprochen hätte. In Art. 1 war das Bundes, gebiet umschrieben: es bestand aus den Staaten Preußen mit Lauenburg, Bayern, Sachsen, Württemberg, Baden, Hessen, Mecklenburg-Schwerin, Sachsen-Weimar,

Mecklenburg-Sttelitz, Oldenburg, Braunschweig, Sachsen-Meiningen, Sachsen-Alten,

bürg, Sachsen-Koburg-Gotha, Anhalt, Schwarzburg-Rudolstadt, Schwarzburg-Son. dershausen, Waldeck, Reuß älterer Linie, Reuß jüngerer Linie, Schaumburg-Lippe,

Lippe, Lübeck, Bremen und Hamburg — im ganzen 25 Gliedstaaten, zu denen als Be.

standteil besonderer Art nach dem Frankfurter Frieden noch das Reichsland Elsaß.

Lothringen kam. Art. 2 sprach dem Reich das Gesetzgebungsrecht innerhalb des Bundesgebietes zu mit der Wirkung, daß Reichsgesetze den Landesgesetzen vorgingen. Die Vermutung

der Zuständigkeit sprach jedoch für die Länder. Das „gemeinsame Jndigenat", das

Art. 3 vorsah, schien die Staatsangehörigkeit in den Gliedstaaten zu beseitigen und durch eine allgemeine Reichsangehörigkeit zu ersetzen. In der Praxis aber wurde

Art. 3 nicht so weitgehend ausgelegt, sondern auf die Rechtsfolgen beschräntt, die in

dieser Vorschrift selbst angeführt waren und von denen die wichtigsten die Meder* lassungsfteiheit, die gleichheitliche Zulassung zum Gewerbebetrieb und die Gleichheit

des Rechtsschutzes waren. Art. 4 zählte die Gegenstände auf, die der Reichsaufficht und Reichsgesetzgebung unterlagen; sie werden hier nicht im einzelnen aufgeführt, da

sich bei der Besprechung der einschlägigen Vorschriften der neuen RB. Gelegenheit geben wird, auf den früheren Zuständigkeitsbereich der Reichsgesetzgebung hinzuweisen.

Diese Zuständigkeit war keine ausschließliche, soweit dies nicht, wie für die Zoll- und

Handelsgesetzgebung, ausdrücklich vorgesehen war; vielmehr konnten die Gliedstaaten

auch auf den in Art. 4 genannten Gebieten Gesetze erlassen, solange und soweit das Reich seine Zuständigkeit nicht ausgeschöpft hatte. Im Falle der Konkurrenz galt Art. 2, der den Reichsgesetzen den Vorrang sicherte. Ergänzt wurde Art. 4 durch Art. 78, der bestimmte, daß Veränderungen der V., also auch Änderungen des Art. 4, im Wege der Gesetzgebung erfolgen, aber als abgelehnt gelten sollten, wenn sie im Bundesrate 14 Stimmen gegen sich hatten. Damit war dem Reich die sog. Kompetenz-Kompetenz eingeräumt, es konnte seinen Zuständigkeitsbereich im Wege der Gesetzgebung über

den Rahmen des Art. 4 hinaus erweitern. Die Reichsgesetzgebung wurde durch den Bundesrat und den Reichstag ausgeübt, in dem Sinne, daß Mehrheitsbeschlüsse beider

Versammlungen erforderlich und ausreichend waren. Nach der herrschenden Meinung waren aber Bundesrat und Reichstag in der Gesetzgebung nicht koordiniert, vielmehr

wurde angenommen, daß der Gesetzesbefehl, die Sanktion, vom Bundesrat gegeben wurde, während dem Reichstag nur ein Recht der Zustimmung oder Verwerfung zu-

gestanden sei. Dies wurde insbesondere auch daraus geschlossen, daß nach Art. 7 der

Bundesrat zu beschließen hatte „über die dem Reichstag zu machenden Vorlagen und die von demselben gefaßten Beschlüsse". Die Ausfertigung und Verkündung der Reichs­

gesetze stand dem Kaiser zu, der hiezu der Gegenzeichnung durch den Reichskanzler be­ durfte. Einen Einfluß auf den Inhalt der vom Bundesrat und Reichstag beschlossenen

Gesetze hatte der Kaiser als solcher nicht, wohl aber als König von Preußen, da er die

preußischen Stimmen im Bundesrat instruierte. Der Bundesrat war die durch die V. eingesetzte Vertretung der „verbündeten Regierungen" und als solche der eigentliche Träger der Reichsgewalt. Die Mtglieder

des Bundesrats waren bevollmächtigte Beamte ihrer Regierungen, nicht Reichsbeamte,

aber sie waren Mitglieder eines Organs des Reichs; es stand ihnen der diplomatische Schutz zu. Der Bundesrat hatte ursprünglich 58 Stimmen, seit 1911 waren es mit den

Bevollmächtigten von Elsaß-Lothringen 61. Die Stimmenverteilung war folgende:

Preußen 17, Bayern 6, Sachsen und Württemberg je 4, Baden und Hessen je 3, Mecklenburg-Schwerin und Braunschweig je 2, die übrigen Staaten je 1 Stimme. Elsaß-Lothringen führte seit 1911 3 Stimmen, die aber nur unter bestimmten Voraussetzungen gezählt wurden (um ein Übergewicht Preußens zu verhindern, da der Kaiser

die Stimmen des Reichslandes instruierte). Der Bundesrat war ein selbstän­ diges Organ des Reichs, nicht ein gemeinsames Organ der Gliedstaaten; seine Be­

schlüsse konnten nicht ersetzt werden dmch Vereinbarungen, die die Landesregiemngen

in anderer Weise, etwa durch Notenwechsel, trafen. Die wichtigsten Befugnisse des BundeSrats lagen auf dem Gebiete der Gesetzgebung (vgl. oben). Bon den v.-mäßigen

Verwaltungsbefugnissen des Bundesrates sind insbesondere zu nennen die Erlassung der zur Ausführung der Reichsgesetze erforderlichen Verwaltungsvorschriften und Ein­ richtungen, Mitwirkung bei der Auflösung des Reichstags, Beschlußfassung über die

Bundesexekution, Zustimmung zur Kriegserklärung, die der Kaiser im Namen des Reichs vornahm. Auch zur Entscheidung öffentlich-rechtlicher Streitigkeiten war der

Bundesrat berufen, er hatte insoweit richterliche und gerichtsähnliche Zuständigkeiten; dies galt von Streitigkeiten zwischen verschiedenen Gliedstaaten, sofern sie nicht privat­

rechtlicher Natur waren, ferner von B.-Streitigkeiten innerhalb solcher Gliedstaaten, die kein Organ zur Entscheidung derartiger Streitigkeiten hatten (Art. 76), endlich

Eingreifen bei Rechtsverweigerung in den Gliedstaaten (Art. 77). Außerdem wurden

dem Bundesrat durch die Reichsgesetzgebung verschiedene besondere Zuständigkeiten besonders verwaltungsmäßiger Art übertragen, die hier nicht im einzelnen aufgeführt

zu werden brauchen. Aus der Tatsache, daß der Bundesrat Träger der Reichsgewalt

war, ergab sich, daß da, wo eine besondere Bestimmung nicht getroffen war, innerhalb des Betätigungsgebiets des Reichs die Vermutung der Zuständigkeit für den Bundes­ rat sprach.

Die Rechtsstellung des Kaisers war nicht die eines Reichsoberhaupts, wie sich

schon aus den vorhergehenden Ausführungen über den Bundesrat ergibt. Monarch war er nur als König von Preußen; als Kaiser war er Inhaber der Präsidialrechte des Bundes. Es läßt sich also auch nicht sagen, daß das Deutsche Reich eine Monarchie

war, wohl aber war es im ganzen ein monarchisch regierter Staat. Es paßte seiner Konstruktion nach in das herkömmliche Schema nicht hinein; mit dem Ausdruck „Fürsten-

Republik", der auch gebraucht wurde, ist wenig gesagt; das Reich der a. RV. war ein Gebilde sui generis.

Die Präsidialrechte, die, im Kaisertum zusammengefaßt, nach

der a. RV. dem König von Preußen zustanden, waren trotz der Aufzählbarkeit der Befugnisse sehr bedeutend und gaben dem Kaisertum politisch eine über den Buchstaben

der V. hinausreichende Machtstellung. In der Gesetzgebung allerdings waren die Rechte des Kaisers formal und sachlich gering: er hatte, wie erwähnt, die vom Bundesrat

1*

4

A. Einleitung.

und Reichstag erlassenen Gesetze auszufertigen und zu verkünden, ohne als Kaiser auf die Bildung deS Gesetzgebungswillens einen unmittelbaren Einfluß zu besitzen; er konnte die Ausfertigung und Verkündung der Gesetze nicht verweigern, was bei

dem überragenden Einfluß Preußens im Bundesrat fteilich bedeutungslos blieb. Wenn die Eingang-formel der Reichsgesetze zu lauten pflegte: „Wir Wilhelm, von Gottes Gnaden Deutscher Kaiser, König von Preußen usw., verordnen hiemit im Namen des

ReichS nach erfolgter Zustimmung des Bundesrats und des Reichstags wie folgt", so war dies nach dem Wortlaut der a. RB. nicht völlig richtig, mochte aber in den meisten

Fallen, wenigstens soweit die Gesetzesinitiative von der Reichsleitung ausging, im

Sinne der monarchischen Vorstellungen von der Rolle der obersten Berater des Herr­ schers, zutreffend sein. Der Schwerpunkt der Präsidialrechte lag auf dem Gebiete der

sog. vollziehenden Gewalt. Der Kaiser vertrat das Reich nach außen, erllärte im Namen des Reichs Krieg und schloß Frieden, Bündnisse und andere Verträge mit

ftemden Staaten, beglaubigte und empfing Gesandte (Art. 11). Bei einzelnen dieser

Befugnisse bedurfte er der Zustimmung des Bundesrats. Diesen selbst wie auch den Reichstag konnte der Kaiser berufen, vertagen, eröffnen und schließen. Über diese aus.

gezählten Rechte hinaus aber ergab sich eine außerordentliche Machtstellung des Kaisers aus seinem Rechte, den Reichskanzler zu ernennen, da diesem die „Leitung der Ge-

schäfte" und der Borsitz im Bundesrate zukam. Damit war die Leitung der Reichs. Politik tatsächlich in die Hände des Kaisers gelegt, was in der damaligen Staatsrechts.

theorie allerdings nicht immer die gebührende Beachtung fand; man sah in der Leitung

der Staatsgeschäfte vielfach „Verwaltung", die man im Sinne der Lehre von der Ge­ waltenteilung mit der Vollziehung von Gesetzen identifizierte, also gewissermaßen der Gesetzgebung unterordnete. Da aber die Leitung der Geschäfte in Wirklichkeit sehr viel

mehr ist als der bloße Gesetzesvollzug, so verbarg sich das politisch vielleicht wichtigste

der Präsidialrechte unter der Befugnis zur Ernennung des Reichskanzlers. Auch die sonstigen Reichsbeamten hatte der Kaiser zu ernennen und zu entlassen. Die vom Bun-

desrat beschlossene Reichsexekution hatte der Kaiser zu vollsttecken. Zu den kaiserlichen Rechten gehörte ferner der Oberbefehl über das Reichsheer und die Reichsmarine,

der aber nicht im Rahmen der Präsidialbefugnisse lag, sondern dem Kaiser als dem

Bundesfeldherrn zustand. War der Bundesrat das eigentliche föderalisttsche Organ des Reichs und war die Präsidialgewalt des Kaisers unter strenger Betonung der föderalistischen Grundlage aufgebaut, so war der Gedanke der Einheitlichkeit des Reichs vorzugsweise in der

Rechtsstellung des Reichstags zum Ausdruck gekommen. Die Mitglieder des Reichstags waren Vertreter des gesamten Volkes (Art. 29). Jede Stärkung der Stellung

des Reichstags bedeutete eine Stärkung des unitarischen Elementes; eine solche Stärkung konnte auf Kosten der Präsidialrechte (des Kaisers) oder des Einflusses der Glied-

staaten (im Bundesrat) gehen. Der Reichstag ging aus allgemeinen, direkten und geHeimen Wahlen hervor; die Einzelheiten des Wahlrechts waren einem besonderen

Gesetz überlassen (Wahlgesetz vom 31. Mai 1869, BGBl. S. 145), das aus dem Staats­ recht des Norddeutschen Bundes in das Reichsstaatsrecht übernommen worden war.

Obgleich die Mitglieder des Reichstags als Vertreter des gesamten deutschen Volkes

galten und demzufolge die Ausübung des aktiven Wahlrechts nicht nur in demjenigen Lande möglich war, dessen Staatsangehörigkeit der Wähler besaß, sondern an jedem

Wohnsitz innerhalb des Reichsgebiets, so wurden die Abgeordneten doch „in den Län­

dern" gewählt, derart, daß für die einzelnen Länder die Zahl der in ihnen zu wählenden Abgeordneten vorgeschrieben war und daß die Wahlkreise die Landesgrenzen nicht

überschritten. Insofern waren also aus dem Grundsatz des Art. 29 nicht alle Folgerungen gezogen. Die Legislaturperiode des Reichstags dauerte 5 Jahre; während der Legis­

laturperiode konnte der Reichstag durch Beschluß des Bundesrats mit Zustimmung

des Kaisers aufgelöst werden. Im FaNe der Auflösung mußten die Neuwahlen innerhalb 60 Tagen stattfinden, der neue Reichstag mußte innerhalb 90 Tagen nach der

Auflösung versammelt werden. Ohne Zustimmung des Reichstags durfte die Vertagung die Frist von 30 Tagen nicht übersteigen und während derselben Session nicht wieder­ holt werden. Die Verhandlungen des Reichstags waren öffentlich. Er beschloß mit

absoluter Stimmenmehrheit, wobei zur Gültigkeit der Beschlußfassung die Anwesen­ heit der Mehrheit der gesetzlichen Mitgliederzahl erforderlich war; letztere betrug ein­

schließlich der Abgeordneten aus Elsaß-Lothringen 397. Durch Gesetz vom 24. August

1918 (RGBl. S. 1079) wurde die Zahl der Sitze auf 441 erhöht; gleichzeitig wurde für einzelne großstädtische Wahlkreise das Verhältniswahlrecht eingeführt. Beide Re­ formen kamen aber nicht mehr zur Auswirkung, denn vor der Durchführung der nächsten

Wahlen erfolgte der Umsturz vom November 1918. Das wichtigste Recht des Reichstags war seine Mitwirkung bei der Reichsgesetz­ gebung; ein zustimmender Beschluß des Reichstags war Voraussetzung für das rechts­

gültige Zustandekommen eines Reichsgesetzes. Der Reichstag hatte aber auch das Recht der Initiative bei der Gesetzgebung, d. h. er konnte — durch Beschluß — Gesetze Vor­

schlägen (Art. 23). Die nachträgliche Genehmigung des Reichstags war erforderlich zum Abschluß von Verttägen mit fremden Staaten, wenn sich die Verträge auf Gegen­ stände der Reichsgesetzgebung bezogen; die Genehmigung war Voraussetzung ihrer

Gültigkeit (Art. 11 Abs. 3). Außerdem konnten die Gesetze dem Reichstag für besondere

Fälle das Recht der Genehmigung anderer Staatsakte Vorbehalten. Weitere Rechte hatte der Reichstag auf dem Gebiete der Reichsfinanzen. Der Reichshaushalt bedurfte der Form eines Gesetzes, obwohl er in der Regel Rechtsnormen nicht enthielt; damit

war dem Reichstag das gleiche Mitwirkungsrecht wie bei anderen Gesetzen gewähr­ leistet (Art. 69). Ferner hatte der Reichstag das Recht der Kenntnisnahme von der Verwendung der Reichseinnahmen zum Zwecke der Entlastungserteilung (Art. 72).

Endlich konnte der Reichstag in eigener Zuständigkeit sich eine Geschäftsordnung geben, sein Präsidium wählen, die Legitimation seiner Mitglieder prüfen und darüber ent­

scheiden (Art. 27). Außer dem Reichstag selbst halten auch seine Mitglieder v.-mäßig gewährleistete Rechte. Sie durften zu keiner Zeit wegen ihrer Abstimmung oder wegen der in Ausübung ihres Abgeordnetenberufs getanen Äußerungen gerichtlich oder diszi­

plinarisch verfolgt oder sonst außerhalb der Versammlung zur Verantwortung gezogen werden (Redefreiheit, Art. 30). Darüber hinaus besaßen sie das Recht der Immunität:

sie konnten während der Sitzungsperiode nur mit Genehmigung des Reichstags wegen einer strafbaren Handlung zur Untersuchung gezogen oder verhaftet werden, außer wenn sie bei Ausübung der Tat oder im Laufe des nächstfolgenden Tages ergriffen wurden. Eingeleitete Strafverfahren mußten auf Verlangen des Reichstags während der Dauer der Sitzungsperiode ausgehoben werden, ebenso jede Untersuchungs- oder

Zivilhaft (Art. 31). Nach dem ursprünglichen Wortlaut der a. RB. durften die Mit-

6

A. Einleitung.

glieder des Reichstags auch keine Besoldung oder Entschädigung beziehen (Art. 32).

Diese Bestimmung wurde aber durch Gesetz vom 21. Mai 1906 (RGBl. S. 467) dahin abgeändert, daß die Abgeordneten nach näherer Maßgabe eines Gesetzes eine Entschä­

digung erhalten sollten. Beamte bedurften keines Urlaubs zum Eintritt in den Reichs­

tag. Mt der Annahme eines besoldeten Reichs- oder Staatsamts oder der Beförderung im Reichs- oder Staatsdienst war jedoch Verlust des Mandats verbunden; Wiederwahl war zulässig (Art. 21). Niemand konnte zugleich Mtglied des Bundesrats und des

Reichstags sein (Art. 9).

Bon den übrigen Organen des Reichs war nur der Reichskanzler in der B.

hervorgehoben. Aber seine Stellung war nicht scharf umrissen, sondern nur in wenigen Worten gewissermaßen skizziert. In Art. 15 war bestimmt, daß der Vorsitz im Bundesrat und die Leitung der Geschäfte dem Reichskanzler zustand, der vom Kaiser zu ernennen

war und sich im Vorsitz durch jedes andere Mitglied des Bundesrats durch schriftliche Substitution vertreten lassen konnte. Auf der andern Seite besagte Art. 17, daß die

Anordnungen und Verfügungen des Kaisers in Namen des Reichs zu ihrer Gültigkeit der Gegenzeichnung des Reichskanzlers bedurften, welcher dadurch die Verantwortlich­

keit übernahm. Diese beiden Bestimmungen bezeichneten zwei ganz getrennte Funk­ tionen des Reichskanzlers, der nach Art. 15 Vorsitzender des Bundesrats, nach Art. 17 verantwortlicher Reichsminister des Kaisers war. (Über die Entstehungsgeschichte des

Kanzleramts vgl. Laband Bd. 1 S. 376.) Aus der Funktion des Reichskanzlers als Vorsitzender des Bundesrats ergab sich, daß er gleichzeitig Bevollmächtigter des Königs

von Preußen sein mußte. Die a. RB. setzte sttllschweigend voraus, daß den Vorsitz im Bundesrat nur ein Mitglied dieser Versammlung führen könne (anders als die neue

RB.); einen andern Bevollmächtigten als einen preußischen aber konnte der Kaiser

und König von Preußen nicht ernennen; so ergab sich indirekt aus Art. 15, daß der

Reichskanzler außer den in der Verfassung selbst vorgesehenen Funktionen noch eine dritte ausübte, nämlich die eines Bundesratsbevollmächtigten des Königs von Preußen. Über die Stellung des Reichskanzlers als des verantwortlichen (einzigen) Reichsministers

sagt Laband (Bd. 1 S. 379): „Das allgemeine Grundprinzip läßt sich dahin besttmmen, daß der Reichskanzler als der Minister und Gehülfe des Kaisers alle diejenigen Geschäfte

auszuführen hat, welche die Prärogative des Kaisers bilden." Er war damit zur Führung der Geschäfte des Reichs nach außen und nach innen berechtigt, soweit sie in Aus­

übung der dem Kaiser zustehenden Exekutive und der sonstigen Rechte des Kaisers vor­

genommen wurden. Er war der oberste Leiter der Reichsverwaltung und führte den

dem Kaiser zukommenden Teil der Politik des Reichs, soweit der Kaiser sie nicht selbst unmittelbar führte. Aber auch an Regierungshandlungen des Kaisers selbst war er beteiligt, da er durch Gegenzeichnung die Verantwortlichkeit für sie zu übernehmen

hatte. Diese Verantwortlichkeit fteilich, die v.-rechtlich die Ministerstellung des Reichs­ kanzlers begründete, war im übrigen rechtlich ohne Folgewirkungen. Denn er konnte

trotz der bestehenden Verantwortlichkeit von niemand als vom Kaiser selbst zur Ver­ antwortung gezogen werden. Der Reichstag, der für die Geltendmachung der Ver­ antwortlichkeit hauptsächlich in Frage kam, konnte diese nicht realisieren. Die V. machte es ihm zwar möglich, sich wegen einer kaiserlichen Regierungshandlung, die seinen Wünschen und Auffassungen nicht entsprach, an den Reichskanzler zu wenden, allein ein etwaiges Mißfallen, das er diesem aussprach, war ohne rechtliche Wirkung für die

fernere Amtsführung des Kanzlers, konnte vor allem seinen Rücktritt oder seine Entlassung nicht erzwingen. Dies wurde insbesondere praktisch, als der Reichstag im Jahre

1913 gegen Reichskanzler von Bethmann Hollweg ein Mßtrauensvotum beschloß, aber nicht verhindern konnte, daß der Kaiser den Reichskanzler ttotzdem im Amte be­

ließ. — Daß der Reichskanzler häufig gleichzeitig preußischer Mnisterpräsident war, entsprach nicht einer rechtlichen Notwendigkeit, wohl aber der politischen Zweckmäßigkeit.

Es gab im Sinne der a. RB. keine Reichsregierung. Man pflegte späterhin, als die Persönlichkeit des Reichskanzlers nicht mehr dieselbe überragende Bedeutung hatte wie zur Zeit des ersten Inhabers dieser Stelle, von der Reichsleitung zu sprechen.

Diese etwas unpersönliche Bezeichnung konnte die Rechtslage nicht ändern, wonach der Reichskanzler der einzige Reichsminister war. Auch als die Vertretung des Reichs-

kanzlers durch das Stellverttetungsgesetz vom 17. März 1878 (RGBl. S. 7) geregelt

worden war, hatten die Stellvertreter (Staatssekretäre) nicht die Stellung von Boll­

ministern, auch wenn sie ständige Stellvertreter waren. Denn der Reichskanzler konnte auch während der Dauer der Stellvertretung jede Amtshandlung selbst vornehmen,

insbesondere durch eigene Mitzeichnung von kaiserlichen Regierungshandlungen den

Willen und die Verantwortlichkeit des Ressortstellvertreters ausschalten.

Außer den Bestimmungen über den Aufbau und die Organe des Reichs enthielt

die a. RB. zahlreiche Vorschriften über die Zuständigkeit des Reichs auf einzelnen Berwaltungsgebieten. Über das Zoll- und Handelswesen war in Art. 33 bestimmt, daß Deutschland ein von einer gemeinschaftlichen Zollgrenze umgebenes Zoll- und

Handelsgebiet bildete. Hamburg und Bremen waren hievon anfangs ausgeschlossen,

wurden aber in den Jahren 1882 und 1885 mit Ausnahme der Freihafenzone in das deutsche Zollgebiet einbezogen. Die Möglichkeit von einzelnen Zollausschlüssen war auch

im übrigen v.-rechtlich Vorbehalten. Das Reich hatte die ausschließliche Gesetzgebung über das gesamte Zollwesen und über die indirekten Steuern auf Salz, Tabak, Brannt­

wein, Bier und Zucker; für Bayern, Württemberg und Baden blieb die Besteuerung

des inländischen Branntweins und Biers der Landesgesetzgebung Vorbehalten (sog. Reservatrechte); die Verwaltung der Zölle und indirekten Steuern blieb Landessache (Art. 35, 36). Der Ertrag der Zölle und indirekten Steuern floß in die Reichskasse.

Die Bestimmungen des Zollvereinigungsvertrags vom 8. Juli 1867 blieben in Kraft und konnten nur nach Maßgabe der Vorschriften über Verfassungsänderungen ab­

geändert werden.

Die Eisenbahnen der Gliedstaaten blieben in deren Eigentum und Verwaltung. Eisenbahnen, die im Interesse der Reichsverteidigung oder im Interesse des gemein-

fernen Verkehrs für notwendig erachtet wurden, konnten kraft eines Reichsgesetzes auch

gegen den Mderspruch der Bundesglieder, deren Gebiet die Bahnen durchschnitten,

unbeschadet der Landeshoheitsrechte für Rechnung des Reichs angelegt oder an Privat­ unternehmer zur Ausführung übertragen und mit dem Enteignungsrecht ausgestattet werden (Art. 41). Auch im übrigen waren die Bundesglieder verpflichtet, das Eisen­

bahnwesen den Gesamtbedürfnissen möglichst weitgehend anzugleichen, besonders in bezug auf Anschluß von Strecken, durchgehenden Verkehr, Jneinandergreifen der Fahrpläne, direkte Expeditionen im Personen- und Güterverkehr usw. Über das Tarif­

wesen stand dem Reich die Kontrolle zu (Art. 45). Die Einzelheiten dieser Bestim-

mungen, die heute nur mehr historisches Interesse haben, brauchen hier nicht ausgeführt

8

A. Einleitung.

zu werden. Soweit sie als Borläufer des geltenden Eisenbahmechts in Betracht kommen,

wird bei Besprechung der Art. 89—96 der neuen RB. auf sie zurückzukommen sein.

Erwähnt muß nur noch werden, daß nach Art. 47 die Eisenbahnverwaltungen der Gliedstaaten verpflichtet waren Anforderungen der Reichsbehörden hinsichtlich der

Benutzung der Bahnen zu Zwecken der Reichsverteidigung unweigerlich Folge zu leisten.

DaS Post- und Telegraphenwesen wurde in Gestalt einheitlicher Verkehrsanstalten für daS ganze Reichsgebiet mit Ausnahme von Bayern und Württemberg

gemeinsam eingerichtet und verwaltet (Art. 48). Die Einnahmen aus diesen Betrieben waren für daS Reich gemeinschaftlich, die Überschüsse flossen in die Reichskasse. Die

oberste Leitung der Verwaltung stand dem Kaiser zu. Auch hier kann auf die Einzel­

heiten, die teilweise Übergangsbestimmungen darstellten, verzichtet werden, nachdem die neue RB. so gut wie nichts davon übernommen hat. Bayern und Württemberg

behielten ihre eigenen Post- und Telegraphenverwaltungen als Resewatrechte, die

meisten Vorschriften des einschlägigen Abschnittes fanden auf sie keine Anwendung, doch war die Reichsgesetzgebung in einigen Beziehungen auch für diese beiden Glied-

staaten zuständig: dem Reich stand ausschließlich die Gesetzgebung zu über die Vorrechte der Post und Telegraphie, über die rechtlichen Verhältnisse der Anstalten zum Publikum, über die Portofteiheiten und das Posttaxwesen, jedoch nicht für den inneren Verkehr Bayerns und Württemberg-, ferner unter der gleichen Beschränkung die Gesetzgebung über die Festsetzung der Telegraphengebühren (Art. 52).

Die Kriegsmarine des Reichs war eine einheitliche unter dem Oberbefehl des

Kaisers als solchen, nicht des Königs von Preußen. Organisation, Zusammensetzung,

Offizier- und Beamtenernennung oblag dem Kaiser. Kiel und Wilhelmshaven waren zu Reichskriegshäfen erklärt. Der erforderliche Aufwand wurde aus der Reichskasse bestritten. Die gesamte seemännische Bevölkerung des Reichs war vom Dienst im Land­ heer befreit, dagegen zum Dienst in der Kriegsmarine verpflichtet (Art. 53). Die Handelsschiffe aller Gliedstaaten bildeten eine einheitliche Handelsmarine. In den

Häfen aller Gliedstaaten mußten die Schiffe sämtlicher Gliedstaaten gleichmäßig zuge­

lassen und behandelt werden. Auf allen natürlichen Wasserstraßen durften Abgaben nur für die Benützung besonderer Anstalten, die zur Erleichterung des Verkehrs bestimmt waren, erhoben werden. Die Abgaben dursten die zur Unterhaltung und gewöhnlichen

Herstellung der Anstalten und Anlagen erforderlichen Kosten nicht übersteigen (Art. 54).

Die Flagge der Kriegs- und Handelsmarine war schwarz-weiß-rot (Art. 55); von

Reichssarben als solchen war in der a. RB. nicht die Rede. Das gesamte Konsulatswesen war Reichssache und stand unter der Aufsicht des Kaisers, der die Konsuln nach Einvernahme eines Bundesratsausschusses anstellte

(Art. 56). Den Vorschriften über das Reichskriegswesen war als Grundsatz vorangestellt,

daß jeder Deutsche wehrpflichtig sei und sich in Ausübung dieser Pflicht nicht ver­ treten lassen könne (Art. 57). Wenn die neue RV. von der Militär-B. des alten Reichs auch so gut wie nichts übernommen hat, so verdient dieser Abschnitt, der seinem politi­

schen Gewichte nach zu den bedeutsamsten der a. RB. zählte, doch auch heute besonderes

Interesse, vor allem wenn man bedenkt, welche Rolle das Heer und das Heerwesen

im Staatsleben der Jahre 1871—1918 spielte. Die Wehrpflicht war nach Laband

der Inbegriff derjenigen gesetzlichen Voraussetzungen, bei deren Vorhandensein der Befehl der Staatsbehörden zur Leistung von Militärdiensten mit rechtlicher Kraft und

Gültigkeit erlassen werden konnte. Art. 58 bestimmte, daß die Kosten und Lasten des gesamten Reichskriegswesens von allen Gliedstaaten und ihren Angehörigen gleich­

mäßig zu tragen seien ohne Bevorzugungen oder Sonderlasten einzelner Gliedstaaten oder Klassen. Wo die gleiche Verteilung der Lasten sich in natura nicht ohne Schädigung

der öffentlichen Wohlfahrt Herstellen ließ, da sollte die Ausgleichung nach den Grund­ sätzen der Gerechtigkeit im Wege der Gesetzgebung erfolgen. In der B. war auch fest­ gesetzt, wie lang jeder wehrfähige Deutsche dem stehenden Heere und der Landwehr

angehöre. Die diesbezüglichen Vorschriften unterlagen Änderungen; seit 1905 waren es 7 Jahre (vom 20. bis zum 27. Lebensjahr) im stehenden Heere, 5 Jahre in der Landwehr 1. Aufgebots und dann bis zum 39. Lebensjahr in der Landwehr 2. Aufge­ bots. Bon den 7 Jahren im stehenden Heere waren bei den meisten Waffengattungen

2 Jahre bei der Fahne zuzubringen (bei der Kavallerie und bei der reitenden Feld­

artillerie 3 Jahre), der Rest in der Reserve. Die FriedenspräsenzMrke des deutschen Heeres, die ursprünglich 1% der Bevölkerung betragen sollte, war für die Zeit seit

1872 jeweils durch Gesetz geregelt. Sie war zuletzt durch Gesetz vom 5. Juli 1913 (RGBl. S. 495) auf 661478 Mann festgesetzt. Nach Verkündung der B. sollte im ganzen Reich die preußische Militärgesetzgebung eingesührt werden. Besondere Über-

gangsvorschristen galten der Bestreitung des Aufwands für die bewaffnete Macht für

die erste Zeit nach Inkrafttreten der a. RB. Die gesamte Landmacht des Reichs bildete

ein einheitliches Heer, das in Krieg und Frieden unter dem Befehle des Kaisers stand

(Art. 63). Der Kaiser hatte die Pflicht und das Recht dafür Sorge zu tragen, daß innerhalb des deutschen Heeres alle Truppenteile vollzählig und kriegstüchtig vorhanden waren und daß Einheit in der Organisation und Formation, in Bewaffnung und

Kommando usw. hergestellt und erhalten wurde; zu diesem Behufe hatte der Kaiser Jnspektionsrechte und sonstige Befugnisse. Alle deutschen Truppen waren nach der B.

verpflichtet, den Befehlen des Kaisers unbedingt Folge zu leisten (Art. 64). Dies war

die Grundlage der sogenannten Kommandogewalt des Kaisers. Auch stand dem Kaiser das Recht zu innerhalb des Bundesgebiets Festungen anzulegen unter Vorbehalt der

finanzrechtlichen Bestimmungen. Soweit innerhalb des Reichs nicht besondere Kon­

ventionen bestanden, ernannten die Bundesfürsten die Offiziere ihrer Kontingente selbst; sie waren Chefs der ihren Gebieten angehörenden Truppenteile, hatten das Recht der Inspektion und verschiedene Ehrenrechte; zu polizeilichen Zwecken konnten

sie nicht nur ihre eigenen Truppen, sondern auch andere Truppenteile, die in ihren Landesgebieten den Standort hatten, in Anspruch nehmen. Sie besaßen demnach

auch Kommandogewalt, die aber der des Kaisers nachgeordnet war. Wenn die öffent­

liche Sicherheit im Reichsgebiet bedroht war, konnte der Kaiser in jedem Teile des

Reichsgebiets den Kriegszustand erklären, der sich dann nach den einschlägigen preußi­ schen Vorschriften bemaß. — Die Bestimmungen über das Reichskriegswesen galten in Bayern, Württemberg und Baden nach Maßgabe der November-Berträge von 1870,

was eine Anzahl von Ausnahmen von der Kommandogewalt des Kaisers und der sonstigen Zuständigkeit des Reichs bedeutete. Besonders für Bayern hatten die Vor­

schriften der a. RB. über das Reichskriegswesen nur beschränkte GMigkeit. Die bayeri­ schen Truppen unterstanden dem Oberbefehl des Kaisers nur im Zkriege. Das Jnspek-

10

A. Einleitung.

tionsrecht über die bayerischen Truppen konnte der Kaiser nur mit Einwilligung des

Königs von Bayern ausüben. Im Abschnitt über die Reichssinanzen war vorgesehen, daß alle Einnahmen

und Ausgaben des Reichs jedes Jahr veranschlagt und auf den Reichshaushalt gebracht

werden mußten; letzterer wurde jährlich durch Gesetz sestgestellt. Dieses Haushalts­ bewilligungsrecht bildete neben dem materiellen Gesetzgebungsrecht die wichtigste

Funktion des Reichstags; es sicherte dem Reichstag eine Kontrolle der Finanzgebarung und Verwaltung des Reichs. Zur Bestreitung aller gemeinschaftlichen Ausgaben dienten

zunächst die Einnahmen aus Zöllen und gemeinsamen Steuern, aus dem Eisenbahn-, Post- und Telegraphenwesen sowie aus den übrigen Berwaltungszweigen des Reichs. Insoweit die Ausgaben hierdurch nicht gedeckt wurden, hatten die Gliedstaaten soge­ nannte Matrikularbeiträge nach der Bevölkerung zu leisten (Art. 70). Diesen Matrikularbeiträgen standen seit 1879 die Überweisungen gegenüber, welche das Reich kraft

besonderer gesetzlicher Vorschrift (sog. Franckensteinsche Klausel) aus den erhöhten Zolleinnahmen, soweit diese den Betrag von 130 Millionen überstiegen, auf die Glied­

staaten zu verteilen hatte und zwar nach Maßgabe der Heranziehung zu den Matrikularbeiträgen. Das Recht der Mattikularbeiträge unterlag in der Folgezeit verschiede­ nen Änderungen, insbesondere durch die Reichsfinanzreform von 1906. Sie waren wegen ihrer wechselnden Höhe für die Finanzgebarung der Gliedstaaten äußerst lästig.

Die Mißstände, die sich aus diesem System ergaben, zwangen im Verein mit dem steigenden Finanzbedarf das Reich, durch Erschließung neuer Steuerquellen und

durch Anleihen seine Einnahmen zu mehren, wobei lange Zeit der in der a. RB. nicht

ausdrücklich ausgesprochene Grundsatz galt, daß die direkten Steuern im allgemeinen den Ländern zu verbleiben hatten. In den letzten Jahren vor dem Krieg aber wurde dieser Grundsatz durchbrochen, als es sich als unmöglich erwies, nur durch Erhöhung der indirekten Steuern die Ausgaben zu decken. Über die Verwendung aller Einnahmen

des Reichs war durch den Reichskanzler dem Bundesrat und dem Reichstag zur Ent­ lastung jährlich Rechnung zu legen. In Fällen eines außerordentlichen Bedürfnisses konnte im Wege der Reichsgesetzgebung die Aufnahme einer Anleihe sowie die Über­

nahme einer Garantie zu Lasten des Reichs erfolgen. — Für Bayern galt vom Finanz­ recht des Reichs insofern eine Ausnahme, als es einen eigenen Heeresetat hatte, für

den es vom Reich eine bestimmte Summe überwiesen erhielt; über diese war dem Bundesrat und dem Reichstag vom Reichskanzler nur im ganzen Rechnung zu legen. Art. 78 bestimmte, daß Änderuilgen der V. im Wege der Gesetzgebung erfolgten,

aber als abgelehnt galten, wenn sie im Bundesrat 14 Stimmen gegen sich hatten. Dies besagte, daß Preußen für sich allein jede V.-Änderung verhindern konnte, ebenso

die drei andern Königreiche (Bayern, Württemberg und Sachsen) zusammen, nicht dagegen die drei süddeutschen Staaten Bayern, Württemberg und Baden, sofern nicht

noch Hessen dazutrat. Im besonderen war noch in Art. 78 Abs. 2 v.-rechtlich festgelegt,

daß diejenigen Vorschriften der a. RB., durch welche bestimmte Rechte einzelner Gliedstaaten in deren Verhältnis zur Gesamtheit festgestellt waren, nur mit Zustimmung

der berechtigten Gliedstaaten abgeändert werden konnten. Diese Vorschrift betraf die

Reservatrechte der süddeutschen Staaten, dagegen nach herrschender Auffassung nicht die preußischen Präsidialrechte. In dem Streit über die rechtliche Natur des Reichs nach der a. RB. stand die

Auffassung, daß das Reich ein Bundesstaat, also ein Gebilde mit eigenem Staats­

charakter sei, der Lehrmeinung gegenüber, wonach das Reich lediglich ein Staatenbund, also ein Verband von Staaten ohne eigenen Staatscharakter sei. Die erstere der beiden

Auffassungen, vor allem von Laband vertreten, vermochte sich gegen die Staatenbundstheorie Seydels zur herrschenden Meinung zu erheben. Die Bejahung der

Staatsnatur stützte sich vor allem auf die Erkenntnis, daß das Reich eigene, nicht abgeleitete Herrschaftsrechte und einen selbständigen Herrschastswillen hatte, der nicht

gleichbedeutend war mit den übereinstimmenden Willensentschlüssen sämtlicher Einzel­ staaten. Dieses Verhältnis offenbarte sich darin, daß ein Beschluß des Bundesrats als eines Reichsorgans nicht ersetzt werden konnte durch übereinstimmende Erklärungen der einzelnen Landesregierungen, ferner darin, daß ein Beschluß des Reichstags nicht

ersetzt werden konnte durch einen Beschluß sämtlicher Einzellandtage, besonders aber

darin, daß das Reich nach Art. 78 die Kompetenz-Kompetenz besaß, die nicht durch Vertrag, sondern auf dem Wege der Gesetzgebung ausgeübt wurde. Endlich ist noch zu erwähnen, daß die Gesetze des Reichs den einzelnen Landesangehörigen unmittelbar

verpflichteten, ausschließlich auf Grund der Gesetzgebungsgewalt des Reichs und ohne Vermittlung dmch Willensakte der Gliedstaaten.

Anderseits erkannte die Staatsrechtstheorie auch den Bundesgliedern den Charakter von Staaten zu. Dies war zulässig und notwendig, wenn man für den Staatsbegriff nicht die volle und ungeteilte Souveränität zur Voraussetzung machte, sondern den

Ländern die Staatsnatur deshalb zuerkannte, weil sie eigene, also selbständige, nicht

übertragene Herrschaftsrechte ausübten. Die eigene Staatsgewalt der Gliedstaaten

aber ergab sich daraus, daß die Vermutung der Zuständigkeit in Angelegenheiten der staatlichen Herrschaftsrechte nicht dem Reich, sondern den Gliedstaaten zustand. Soweit

diese innerhalb ihrer Zuständigkeiten Gesetze erließen oder andere Hoheitsrechte geltend machten, handelten sie nicht kraft Übertragung solcher Rechte durch das Reich, sondern

kraft der ihnen ursprünglich zustehenden Rechte; diese waren nicht etwa auf das Reich

übergegangen und ihnen vom Reich wieder zurückgewährt worden, sondern sie waren

den Gliedstaaten als ursprünglich eigene verblieben. Wenn demnach sowohl dem Reich wie auch den Gliedstaaten der Charakter von

Staaten zuzuerkennen war, so war damit noch nicht erwiesen, daß das Reich ein Bundes­ staat war. Erwiesen war damit nur, daß das Reich kein Einheitsstaat, sondern ein zusammengesetzter Staat, ein Staatenstaat oder Oberstaat war. Bon einem Bundesstaat

kann man mit Recht nur dann sprechen, wenn die Willensbildung des Oberstaates durch die Bundesglieder oder wenigsteris durch ein aus Vertretern der Bundesglieder

gebildetes Organ wesentlich beeinflußt wird. Das war der Fall im Bundesrat der a. RB., der nach herrschender Meinung das eigentliche Staatsoberhaupt des Reichs darstellte. Fast zu allen wichtigsten Akten staatlicher Willensbildung war seine Mit­

wirkung erforderlich. Daraus folgt, daß das Reich nicht nur ein zusammengesetzter

Staat, sondern im Rahmen des weiteren Begriffs eines solchen auch ein Bundesstaat war.

Der politische und juristische Schwerpunkt der Bismarckschen B. lag in der Lösung des Problems, eine Anzahl von monarchisch regierten Staaten in einem Bundesstaat zu vereinigen und daneben entsprechend den Forderungen der damaligen Zeit auch dem Volk einen Anteil an der Staatsgewalt einzuräumen. Die „Ausbalancierung" der

Kräfte in der Dreiheit Kaisertum, Bundesrat und Reichstag sollte das Problem lösen

12

A. Einleitung.

und hat auch tatsächlich fast 50 Jahre hindurch dem Reich eine feste staatsrechtliche Grundlage gegeben. Diese brach erst zusammen, als das Mißverhältnis zwischen dem

tatsächlichen Maß der Kräfte, die im Reichstag vertreten waren, und der rechtlichen Einflußmöglichkeit dieses Organs zu groß wurde. Nicht an dem Problem Reich und

Länder, sondern an dem Problem Staat und Volk ist — nach einem verlorenen Krieg —

die a. RV. gescheitert. So kann es nicht wundernehmen, daß bei der Neugestaltung des Reichsverfassungsrechts das Problem Staat und Volk in den Vordergrund rückte und

das Verhältnis zwischen Reich und Ländern vorübergehend etwas in den Schatten

drängte.

II. Die BerfassitngSreform vom 28. Oktober 1918. Wer die politische Geschichte der deutschen Revolution von 1918/19 schreibt, der

wird bei der Revision der a. RB. durch die Gesetze vom 28. Oktober 1918 nur kurz verweilen. Sie bedeutete historisch einen rasch überholten Durchgangspunkt, staats­ rechtlich dagegen einen wichtigen Übergang vom monarchisch-konstitutionell regierten Staatswesen zur Demokratie. 12 Tage lang war das Deutsche Reich ein v.-gemäß

parlamentarisch regierter Staat mit monarchischer Spitze, auf den ersten Blick ganz

ähnlich wie England, Italien, Spanien (von damals), der inneren Struktur nach aber doch grundverschieden von jenen wegen des Fortbestehens der föderativen Charakters des Reichs. Die politischen Forderungen des damaligen Augenblicks, denen die beiden Gesetze

vom 28. Oktober 1918 (RGBl. S. 1373 u. 1374) Rechnung trugen, bewegten sich vor allem in der Richtung eines verstärkten Einflusses des Reichstags. Kriegserklärungen

und Friedensverträge sollten außer der Zustimmung des Bundesrats auch der des Reichstags bedürfen. Damit war der Gedanke verwirklicht, daß Schicksalsfragen des Reichs und Volks künftig nicht ohne Mitwirkung der Volksvertretung entschieden werden

sollten. Die Präsidialgewalt des Kaisers wie die Rechte des Bundesrats erlitten damit

in gleicher Weise Einschränkungen. Zugleich war eine Stärkung des unitarischen

Elementes damit verbunden, denn der Bundesrat und das Präsidium des Bundes mußten ihre diesbezüglichen Befugnisse fortan mit dem Reichstag teilen, dessen Mit­

glieder Vertreter des gesamten Volks waren. B.-rechtlich am wichtigsten war, daß Art. 15 a. RB. folgende Zusätze erhielt: „Der Reichskanzler bedarf zu seiner Amtsführung des Vertrauens des Reichstags. Der Reichskanzler trägt die Verantwortung für alle Handlungen von politi­

scher Bedeutung, die der Kaiser in Ausübung der ihm nach der Reichsverfassung zustehenden Befugnisse vornimmt. Der Reichskanzler und seine Stellvertreter sind für ihre Amtsführung dem

Bundesrat und dem Reichstag verantwortlich." Diese Sätze enthielten die Einführung des sog. parlamentarischen Systems im Deutschen Reich. Der Kaiser behielt das Recht den Reichskanzler zu ernennen (und zu

entlassen), er konnte aber nur solche Persönlichkeiten wählen, die das Vertrauen des Reichstags genossen. Der Reichstag hatte also ein weitgehendes Mitbestimmungsrecht, das dahin führen konnte, daß er dem Kaiser den Reichskanzler präsentierte; rechtlich notwendig war dies allerdings nicht, der Kaiser brauchte sich die Initiative bei der

Ernennung des Reichskanzlers nicht nehmen zu lassen. Bei der kurzen Dauer des

Bestehens dieser Vorschrift ist der Fall allerdings nicht praktisch geworden. Da der

Reichskanzler die Verantwortung für alle Handlungen des Kaisers von politischer Bedeutung trug und der Reichstag nunmehr, anders als bisher, diese Verantwortlichkeit durch Entziehung des Vertrauens verwirklichen konnte, so erlangte der Reichstag auf diese Weise die volle Kontrolle über die Ausübung der Präsidialrechte des Kaisers,

vor allem über die vom Kanzler als dem Gehilfen des Kaisers zu führende Reichspolitik

und Reichsverwaltung. Aber nicht nur die Rechte des Kaisers waren dadurch beeinträch-

tigt, sondern auch die des Bundesrats. Zwar war der Reichskanzler auch dem Bundesrat

verantwortlich, dieser besaß aber nicht die rechtliche Möglichkeit, die Entlassung des Reichskanzlers durch Entziehung des Vertrauens zu erzwingen. In Füllen des Kon­

flikts zwischen Bundesrat und Reichstag hatte also der letztere eine bedeutend stärkere Stellung. Auf die Abgabe der preußischen Stimmen im Bundesrat erstreckte sich die

Verantwortlichkeit des Reichskanzlers gegenüber dem Reichstag nicht, denn die Instruk­ tion der preußischen Bundesratsstimmen bemaß sich nicht nach der Reichsverfassung, sondern nach der preußischen Verfassung. Der Reichstag konnte also sein Mßtrauen

gegen den Reichskanzler nicht mit dessen Stimmabgabe im Bundesrat begründen, er konnte aber, wenn ihm diese Stimmabgabe mißfiel, natürlich aus irgend einem andern

Vorwand dem Reichskanzler das Berttauen entziehen. Damit gewann der Reichstag

indirekt auch auf die Präsidialstimmen und insofern auch auf den Bundesrat selbst Einfluß. Auch in dieser Hinsicht konnte sich die B.-Änderung nicht mehr praktisch aus­

wirken; bei der Besprechung der B.-Revision vom 28. Oktober 1918 scheint es ab^r immerhin angebracht auch auf solche Konsequenzen des Gesetzes hinzuweisen, die keine

aktuelle Bedeutung mehr erlangt haben. Für die Stellvertteter des Reichskanzlers war

nicht ausgesprochen, daß sie des Vertrauens des Reichstags bedurften, wohl aber war ihre Verantwortlichkeit festgelegt. Die abhängige Stellung des Reichskanzlers gegen­

über dem Reichstag mußte sich tatsächlich notwendigerweise auch auf seine Stellver­ treter auswirken. Sie blieben Unterminister, ihre Stellung wurde aber dadurch gehoben,

daß sie auf Verlangen im Reichstag jederzeit gehört werden mußten.

Eine Hilfsbestimmung für das parlamentarische System war die Aufhebung des Art. 21 Abs. 2 a. RV., wonach durch Annahme eines besoldeten Reichs- oder Staats­

amtes usw. das Reichstagsmandat erlosch. Durch die Aufhebung dieses Berlustgrundes wurde es möglich Abgeordnete des Reichstags zu Staatssettetären zu machen. Dagegen

blieb Art. 9 S. 2 bestehen, wonach niemand zugleich Mitglied des Bundesrats und des

Reichstags sein konnte. Wenn man Art. 15 Abs. 1 so auslegte, daß der Vorsitz im Bundesrat vom Reichskanzler nur als von einem Mitglied des Bundesrats geführt werden konnte, so war damit die Entnahme des Reichskanzlers aus dem Reichstag unmöglich. Die übrigen Änderungen der V. betrafen die Rechte des Kaisers und der Bundes­

fürsten auf dem Gebiete der Kriegsmarine und des Heerwesens. Die Ernennung, Ver­ setzung, Beförderung und Verabschiedung von Offizieren der Marine sollte unter

Gegenzeichnung des Reichskanzlers erfolgen. Bei Offizieren des Landheers sollte die

Gegenzeichnung durch den Kriegsminister des betteffenden Kontingents geschehen. Bemerkenswert war die weitere Bestimmung, daß die Kriegsminister aller Kontingente

dem Bundesrat und dem Reichstag für die Verwaltung ihres Kontingents verant-

14

A. Einleitung.

wörtlich sein sollten. Damit war dem Reichstag, daneben allerdings auch dem Bundes­

rat, eine Kontrolle über die Ausübung landesherrlicher Militärhoheitsrechte einge­ räumt. Soweit der Kaiser als solcher (nicht als König von Preußen) nach Art. 64 a. RB.

Ernennung-rechte für Offiziere hatte, wurde die Gegenzeichnung des Reichskanzler-

vorgesehen. Zusammenfassend läßt sich sagen, daß die B.-Revision vom 28. Oktober 1918

nicht nur einen großen Schritt in der Richtung der Demokratisierung, sondern auch der Unitarisierung des Reichs bildete. Das kunstvolle Gefüge der Bismarckschen B. war an entscheidender Stelle durchbrochen, das durch die „Ausbalancierung" der Kräfte

geschaffene Gleichgewicht gestört. Die hereinbrechende Katastrophe aber ließ die Frage im Dunkeln, ob sich eine parlamentarische Reichsregierung mit dem Fortbestand eines

aus monarchischen Gliedstaaten aufgebauten Bundesstaates auf die Dauer hätte ver­

einigen lassen.

in.SU Revolution und dasGcjetz über die vorläufige Reichsgewalt. Die B.-Revision vom 28. Oktober 1918 kam nicht mehr zur Auswirkung, denn

am 9. November brach die a. RB. zusammen. Es ist an dieser Stelle nicht veranlaßt, die politische Vorgeschichte der deutschen Revolution zu schildern oder auch nur anzu­ deuten. Lediglich die Ereignisse, die den Umsturz unmittelbar herbeiführten, müssen

erwähnt werden, um die staatsrechtliche Bedeutung der Revolution sowohl in ihrem Recht zerstörenden wie in ihrem Recht schaffenden Teile zu klären. Während die Matro­

senrevolte vom 4. November in Kiel, die den Umsturz politisch einleitete und die erste

Erhebung war, deren Bändigung der alten Staatsgewalt nicht mehr gelang, staats­ rechtlich noch ohne unmittelbare Wirkung war, da sie noch nicht zur Einsetzung einer

neuen allgemeinen Staatsordnung führte, müssen die Vorgänge, die sich am 7. No­ vember in München abspielten, bereits als ein revolutionärer Akt gedeutet werden, da von ihnen ein nicht nur voriibergehender Umsturz der B. des Königreichs Bayern ausging.

Zweifellos hätte diese partikulare Revolution, auch wenn ihr der Umsturz in Berlin nicht binnen wenigen Tagen nachgefolgt wäre, auch auf das V.-Recht des Reichs

Einfluß üben müssen. Zwar waren die monarchischen Verfassungen der Gliedstaaten durch die a. RB. nicht ausdrücklich und unmittelbar garantiert, aber ihr Fortbestand

war durch die a. RB. doch stillschweigend vorausgesetzt, es sei denn, daß sie auf legale Weise geändert worden wären. Dies ergab sich daraus, daß der Bund u. a. zum Schutze

des innerhalb des Bundesgebietes geltenden Rechts gegründet worden war, ferner aus Art. 68 a. RB., wonach der Kaiser bei Störungen der öffentlichen Ordnung in jedem Teile des Bundesgebietes (freilich außer in Bayern) den Kriegszustand verhängen

konnte; eine Störung der Ordnung lag aber ohne Zweifel vor, wenn die B. eines Gliedstaats in gewaltsamer Weise geändert werden sollte. Überdies gaben die revolu­

tionären Machthaber in Bayern alsbald unverkennbar zu verstehen, daß sie jedenfalls die Präsidialrechte der Krone Preußens nicht weiter anzuerkennen bereit waren. Es lag also auch in der Münchner Revolution vom 7. November 1918 schon ein Bruch der

a. RB. beschlossen. Mittlerweile hatte sich am Sitz der Reichsgewalt die politische Lage krisenhaft zugespitzt. Der Reichskanzler Prinz Max von Baden war zu der Überzeugung gekom­ men, daß sich die kaiserliche Gewalt und in Verbindung mit ihr die preußische Monarchie

III. Die Revolution u. das Gesetz über die vorl. Reichsgewalt.

15

nur um den Preis einer beschleunigten Abdankung Kaiser Wilhelms II. und des Kronprinzen Wilhelm retten lasse. Als sich der Entschluß des Kaisers, diesen Schritt

zu tun, verzögerte, glaubte der Reichskanzler um die Dynastie zu erhalten den nach Mtteilung aus dem großen Hauptquartier — wo sich der Kaiser aufhielt — unmittelbar

bevorstehenden Entschluß als bereits gefaßt verkünden zu sollen. Die Zkundgebung, die der Reichskanzler am 9. November im Reichsanzeiger veröffentlichte, hatte folgenden

Wortlaut: „Der Kaiser und König hat sich entschlossen dem Thron zu entsagen. Der Reichs­ kanzler bleibt noch so lange im Amte, bis die mit der Abdankung des Kaisers, dem Thronverzicht des Kronprinzen des Deutschen Reichs und der Einsetzung der Regent­ schaft verbundenen Fragen geregelt sind. Er beabsichtigt dem Regenten die Ernennung

des Abgeordneten Ebert als Reichskanzler und die Vorlage eines Gesetzentwurfs wegen

der sofortigen Ausschreibung allgemeiner Wahlen für eine verfassunggebende deutsche

Nationalversammlung vorzuschlagen, der es obliegen würde, die künftige Staatsform

des deutschen Volkes einschließlich der Bolksteile, die ihren Eintritt in die Reichsgrenzen wünschen sollten, endgültig festzustellen." Aus dieser Kundgebung des Prinzen Max spricht die Absicht die unvermeidliche Umgestaltung der staatsrechtlichen Verhältnisse Deutschlands auf legalem Wege herbei­

zuführen. Die Voraussetzungen hiefür, die Abdankung des Kaisers und der Thron­ verzicht des Kronprinzen, waren aber in dem Augenblick der Zkundgebung noch nicht vorhanden. Selbstverständlich konnte die Erklärung des Reichskanzlers die noch nicht erfolgte Abdankung des Kaisers nicht ersetzen; sie war staatsrechtlich bedeutungslos,

politisch aber natürlich eine schwerwiegende Handlung, die dem Prinzen späterhin

mannigfache Vorwürfe zugezogen hat. Der Schritt des Kanzlers vermochte das Kaisertum und die Dynastie nicht mehr

zu retten. Am gleichen Tage noch verkündete der Sozialdemokrat Scheidemann, der als Staatssekretär Mitglied des „Kabinetts" des Prinzen Max war, vom Reichstags­

gebäude aus, das monarchische System sei zusammengebrochen, die Hohenzollern hätten

abgedankt. Im Anschluß daran rief er zu der versammelten Volksmenge: „Es lebe die

große Deutsche Republik!" Diese sogenannte Ausrufung der Republik gilt politisch als die Geburtsstunde der neuen Staatsform des Deutschen Reichs. Staatsrechtlich kann

sie nicht als der entscheidende Akt der Revolution gewertet werden. Sie war eine öffentliche Ankündigung der Ergreifung der Staatsgewalt durch die revolutionären

Mächte, nicht aber diese Ergreifung selbst. Daß die angenommene oder vorgegebene Abdankung „der Hohenzollern" in der Tat nicht erfolgt war, daß diese Erklärung noch

weiter ging als der in der Kundgebung des Reichskanzlers fingierte Tatbestand, ist staatsrechtlich nicht zu würdigen, aber für die Auslegung späterer revolutionärer Handlungen von Belang. In diesem Augenblick aber war bereits ein Ereignis eingetreten, das den v.-rechtlichen Zusammenhang in der Jnnehabung und Übertragung der Staatsgewalt unter­

brach. Der Reichskanzler Prinz Max von Baden hatte sich mittags genötigt gesehen auf Grund einer Mcksprache mit führenden Männern der Sozialdemokratie das Kanzleramt dem sozialdemokratischen Abgeordneten Ebert zu übergeben, allerdings-

unter Vorbehalt der „gesetzlichen Genehmigung". Dadurch, daß Ebert daraufhin die Geschäfte des Reichskanzlers übernahm, aber nicht als Gehilfe des Kaisers und nicht

16

A. Einleitung.

unter dem Vorbehalt gesetzlicher Genehmigung, sondern als der durch den Willen deBolks berufene Reichskanzler, wie er sich noch am gleichen Tag in einer Kundgebung bezeichnete, dadurch erfolgte der Bruch der a. RB., die tatsächliche Übernahme der

Staatsmacht durch eine Person, der diese Macht unter Nichtbeachtung der von der a. RB. hiefür vorgesehenen Voraussetzungen und Formen überlassen wurde. Daß

Ebert nicht nur die bisherigen Funktionen des Reichskanzlers übernehmen wollte, sondern in der Tat eine viel weitergehende Macht, wie sich in den folgenden Tagen

offenbarte (wenn er diese Macht auch nicht für sich allein aEben wollte), fällt unter

den gegebenen Verhältnissen noch verstärkend ins Gewicht?) Bor allem aber betrachteten die neuen Machthaber in Übereinstimmung mit der, allerdings von Ebert nicht gebillig­ ten (vgl. hiezu Meinecke im Handbuch des Deutschen Staatsrechts von Anschütz-Thoma Bd. 1 S. 110) Ausrufung der Republik durch Scheidemann die kaiserliche Gewalt

als erloschen. Bis zu diesem Stadium mußten die Vorgänge der Revolution in ihrer juristischen

Bedeutung untersucht werden. Im folgenden kann sich die Darstellung im wesentlichen

auf die Tatsachenschilderung beschränken, denn es lohnt sich heute nicht mehr die außer­ ordentlich schwankenden staatsrechtlichen Verhältnisse der folgenden Monate genauer

zu prüfen. Nur wo es für die rechtliche Beurteilung des geltenden B.-Rechts notig ist, soll eine rechtliche Würdigung versucht werden. Es wäre falsch zu sagen, das Deutsche

Reich sei damals überhaupt ohne Staatsrecht gewesen, denn die neue Staatsgewalt vermochte doch bis zu einem gewissen Grade eine allgemein verbindliche Ordnung wenigstens im großen und ganzen durchzusetzen; aber die Zuständigkeitsfragen zwischen den verschiedenen revolutionären Organen waren derart unausgeglichen, daß jeweils diejenigen Machtansprüche als Rechtsmacht angesehen werden mußten, die sich mit

einer gewissen Dauerhaftigkeit durchzusetzen wußten. Praktische Staatsnotwendigkeiten

dulden keinen länger dauernden rechtlosen Zustand. So muß man sich wohl entschließen auch für jene Übergangszeit des Winters 1918/19 das Vorhandensein eines wenn auch

unvollkommenen Staatsrechts anzuerkennen. Die Führung der Reichskanzlergeschäfte durch Ebert machte bereits am 10. No­ vember einer anderen Organisation der Reichsgewalt Platz. Es wurden Arbeiter- und Soldatenräte gebildet, die sich als Träger der politischen Macht bezeichneten; zunächst

waren es allerdings nur die Arbeiter- und Soldatenräte von Groß-Berlin, die einen Vollzugsausschuß wählten; dieser sollte bis zum Zusammentritt der Reichskonferenz

aller Arbeiter- und Soldatenräte Deutschlands vorläufig die Reichsgeschäfte führen. Während diese neugeschaffenen Organisationen grundsätzlich die oberste Reichsgewalt beanspruchten, lag das Schwergewicht der Führung der Reichsgeschäfte tatsächlich

beim Rat der Volksbeaustragten, der aus je drei Vertretern der sozialistischen Parteien

bestand (Ebert, Scheidemann und Landsberg von den Mehrheitssozialisten, Haase, Dittmann und Barth von den Unabhängigen). In die Regierungsgewalt dieses Kolle­

giums, das seine Autorität von einem Auftrag des Vollzugsausschusses ableitete, mündete die Übernahme der Reichskanzlergeschäfte durch Ebert ein. Vorsitzende des Rates der Volksbeauftragten waren Ebert und Haase mit gleichen Rechten. In einem Aufruf an das Deutsche Volk vom 12. November 1918 (RGBl. S. 1303) verkündete

x) Diese Sätze enthalten nur eine rechtliche, nicht zugleich eine politische oder ethische Beurteilung der Vorgänge.

17

III. Die Revolution u. das Gesetz über die vorl. Reichsgewalt.

die neue Regierung „mit Gesetzeskaft" die Grundlinien der von ihr beabsichtigten

Tätigkeit und einige fortan geltende Rechtsgrundsätze in politischer und sozialer Hin­ sicht. Über die staatsrechtlichen Verhältnisse des neuen Zustands war in dem Auftuf nichts gesagt, als daß der Rat der Bolksbeaufttagten sich als die aus der Revolution

hervorgegangene Regierung bezeichnete. Daß er neben der vollziehenden Gewalt auch

die gesetzgebende ausübte, ergab sich aus der Eingangsformel und dem Inhalt des Aufrufs. Daß das Kaisertum beseitigt war, ergab sich aus den Formen der Machtergreifung der revolutionären Organe ohne weiteres. Me sie sich zu den übrigen v.-

mäßigen Einrichtungen des Reichs stellten, zeigte sich erst in den folgenden Tagen.

Der Bundesrat wurde nicht schlechthin beseitigt, aber durch eine Verordnung des Rats der Bolksbeauftragten vom 14. November 1918 (RGBl. S. 1311) seiner wichtigsten Befugnisse, der gesetzgeberischen, beraubt und auf die ihm nach den bisherigen Gesetzen

zustehenden Berwaltungsbefugnisse beschränkt. Hinsichtlich des Reichstags stellten sich

die neuen Inhaber der Staatsgewalt auf den Standpunkt, daß er infolge der politischen

Umwälzung nicht mehr zusammentteten könne; er war also als beseitigt anzusehen. Die Grenzen der Zuständigkeiten zwischen dem Rat der Bolksbeauftragten und dem vom Berliner Arbeiter- und Soldatenrat gewählten Vollzugsausschuß waren

unklar und wurden in den folgenden Wochen durch ihre Verbindung mit dem Streit darüber, auf welcher Grundlage die Wiederherstellung eines v.-mäßigen Staatslebens

erfolgen solle, zum Angelpunkt der inneren Politik. Der Rat der Bolksbeauftragten, insbesondere Ebert und die beiden anderen Mehrheitssozialisten, wollte die Festsetzung der neuen RV. einer aus allgemeinen Wahlen hervorgehenden Nationalversammlung

übertragen (auch der Aufruf vom 12. November kündete eine solche an), während im Berliner Vollzugsausschuß die radikalen Elemente überwogen, die eine Sowjet-B. nach russischem Muster wünschten oder wenigstens die Wahl einer v.-gebenden National­

versammlung solange hinausschieben wollten, bis durch die Maßnahme der vorläufigen Reichsgewalt die Ermngenschaften der sozialen Revolution gegenüber dem Bürgertum ausreichend gesichert seien. Wiederholt wurden Vereinbarungen zwischen dem Rat

der Bolksbeauftragten und dem Vollzugsausschuß getroffen, durch die die Befugnisse abgegrenzt werden sollten. Am 23. November mußten die Volksbeauftragten aner­

kennen, daß die politische Gewalt in den Händen der Arbeiter- und Soldatenräte der

Deutschen sozialisttschen Republik liege und daß bis zum Zusammentritt einer Dele­ giertenversammlung der Berliner Bottzugsrat deren Funktionen ausübe. Dafür erhielten

die Volksbeauftragten die Zusicherung, daß diese Delegiertenversammlung so bald wie

möglich zusammentreten solle. Diese Grundsätze wurden in einer neuen Vereinbarung vom 9. Dezember im wesentlichen wiederholt und bestätigt. Dem Rat der Volksbeauf­ tragten wurde das Recht der Ausübung der Exekutive nochmals ausdrücklich zuerkannt.

Inzwischen aber war am 25. November auf Einladung der Volksbeauftragten in Berlin eine „Konferenz der deutschen Bundesstaaten" zusammengetreten. Sie bestand

aus den Vertretern der revolutionären Landesregierungen. Die Volksbeauftragten bedurften in ihrem Kampfe um die Wahl der Nationalversammlung der gemäßigten revolutionären Kräfte, die vielfach, aber mit Ausnahme von Bayern und Braunschweig,

in den neuen Landesregierungen vorherrschten. Die Versammlung stimmte der Beru­ fung einer v.-gebenden („konstituierenden") Nationalversammlung zu und wünschte

deren baldmöglichste Wahl. Der Gegensatz, der damals zwischen der Forderung nach

Gebhard, Retchsverfassung.

2

18

A. Einleitung.

einer demokratisch gewählten Nationalversammlung und der Einführung der Sowjet-B. bestand, überschattete in dem Beschlusse die andere Streitfrage, ob die Souveränität der Nationalversammlung nicht im Widerspruch stehe zu den Ansprüchen der Länder

auf mehr oder weniger weitgehende Mitbesttmmung bei der Schaffung der neuen RB.

Von den übrigen Punkten der Entschließung ist bemerkenswert, daß sie sich zur Reichs-

einheit und zur Abwehr separatistischer Besttebungen bekannte und bis zum Zusammen­

tritt der Nationalversammlung die Arbeiter- und Soldatenräte als die Repräsentanten des Bolkswlllens bezeichnete.

Das Ergebnis dieser Konferenz war mitbestimmend dafür, daß der Rat der Volksbeaufttagten am 30. November 1918 eine Verordnung über die Wahlen zur v.-gebenden

Nationalversammlung (RGBl. S. 1345) erließ; die VO. führte den Untertitel „Reichs­

wahlgesetz", was insofern berechtigt war, als die VO. allgemein verbindliche Rechts-

normen enthielt und der Rat der Volksbeauftragten auch die Zuständigkeit zur Erlassung von Gesetzen mit Erfolg für sich beanspruchte. Zur Klarheit der Terminologie trug es

allerdings nicht bei, wenn eine VO. sich im Untertitel als Gesetz bezeichnete. Die gesetzgebende und vollziehende Gewalt des Rats der Volksbeaustragten wurde auch anerkannt von der Delegiertenversammlung der Arbeiter- und Soldatenräte der

Deutschen Republik, die vom 16. bis 20. Dezember 1918 in Berlin tagte. Zum ersten

Male gaben sich die Arbeiter- und Soldatenräte damit eine Spitzenorganisation für das

ganze Reich. Die Delegiertenversammlung nahm die ganze politische Macht für sich in

Anspruch, lehnte jedoch das Sowjet-System als B.-Grundlage ab. Vielmehr beschloß sie, daß die Wahlen zur v.-gebenden Nationalversammlung am 19. Januar 1919 statt­

finden sollten. Als Zentralorgan der Arbeiter- und Soldatenräte sollte fortan ein Zentralrat fungieren, der zur Kontrolle des Rats der Volksbeaustragten bestellt wurde.

Er machte auch das Recht der Berufung und Abberufung der Volksbeaustragten geltend und verwirklichte diesen Anspruch bis zu einem gewissen Grade, als Ende Dezember

1918 die unabhängigen Sozialdemokraten (Haase, Dittmann und Barth) aus der vor­ läufigen Regierung ausschieden und durch die Mehrheitssozialisten Noske und Wissell ersetzt wurden. Die blutigen Kämpfe, die Ende Dezember und Anfang Januar in Berlin tobten,

gehören nicht in den Zusammenhang dieser Schilderung, die nur die für die Rechtsent-Wicklung maßgebenden Tatsachen zum Gegenstand hat. Politisch waren sie zu deuten als die gewaltsamen Versuche der Anhänger der proletarischen Diktatur, ihren Willen durchzusetzen, bei dessen Geltendmachung im Rahmen der Regeln des damaligen Staatsrechts (soweit man von einem solchen sprechen konnte) sie unterlegen waren.

Die Kämpfe endeten unter Noskes Leitung und mit Hilfe bürgerlicher Kräfte (Offiziere

und Studenten) mit dem Siege der vorläufigen Regierung. Als damit — in der Reichshauptstadt wenigstens — die Vorherrschaft der gemäßig­

ten Elemente über die Radikalen für die nächste Zeit entschieden schien und der Aufbau der endgültigen Reichsgewalt auf demokratischer Grundlage wahrscheinlich geworden

war, traten die Fragen nach dem Ob und Wie einer Teilnahme der ehemaligen Glied­ staaten an der Schaffung der RV. mehr in den Vordergrund. Die süddeutschen Länder (Bayern, Württemberg, Baden und Hessen) verlangten in der sog. Stuttgarter Kund­

gebung Ende Dezember 1918 die Neueinrichtung des Deutschen Reichs auf bundes­ staatlicher Grundlage. Sie stellten fest, daß sie in den letzten Wochen keinerlei Einfluß

III. Die Revolution u. das Gesetz über die vorl. Reichsgewalt.

19

auf die Entschlüsse der Reichsleitung mehr auszuüben vermochten. Sie hielten dem­

gegenüber an dem seitherigen Mitbestimmungsrecht fest und verlangten dessen Aus­

übung durch ein bundesstaatliches Organ in Gesetzgebung und Verwaltung, das sie auch an der Vorbereitung der Arbeiten der Nationalversammlung beteiligt wissen wollten. Diese Forderung verstärkte sich, als unmittelbar nach den Wahlen zur National­

versammlung, die am 19. Januar 1919 stattfanden, der von Staatssekretär Dr. Preuß ausgearbeitete Entwurf der neuen RB. vom Rat der Volksbeauftragten veröffentlicht wurde. Über diesen Entwurf, der weiter unten zu besprechen sein wird, sei hier nur

bemerkt, daß er infolge seiner stark unitarischen Gestaltung die Besorgnisse der süddeut­

schen Regierungen in hohem Maß erweckte. Es mußte nun die Streitfrage zum Austrag kommen, ob die Souveränität der Nationalversammlung, die gegenüber den Räten unbeschränkt in Anspruch genommen wurde, auch gegenüber den Länderregierungen

unbedingt durchschlagen sollte, mit andern Worten, ob die neue RV. ein Gesetzgebungs­ werk der Nationalversammlung oder ein Bertragswerk der deutschen Länder sein sollte, oder ob endlich ein Mittelweg zu wählen sei der Art, daß durch Übereinstimmung

zwischen der Nationalversammlung und einem bundesstaatlichen Organ das neue

V.-Recht des Reichs zu schaffen wäre. Die Forderung, daß die neue RV. in demselben Sinn auf Verträgen der Länder beruhen solle wie die a. RB., wurde auch von den süddeutschen Staaten nicht erhoben. Theoretisch hätte sich die Auffassung vertreten lassen, daß die Versailler Verträge von

1870 durch die Umwälzung zwar großenteils gegenstandslos geworden seien, daß sie aber mindestens dem Bande nach noch bestünden, woraus Recht und Pflicht der Ver­

tragsstaaten abzuleiten gewesen wäre, auf Grund der veränderten politischen Ver­ hältnisse die entstandene Lücke auszufüllen, und zwar durch den Abschluß neuer Ver­ träge, nachdem Art. 78 a. RV., der an sich für B.-Änderungen maßgebend gewesen wäre, nicht mehr vollziehbar war. Dieser Standpunkt aber wurde von keinem der

beteiligten Länder eingenommen, auch von Bayern nicht. Wohl aber erhoben sie bei einer neuen Besprechung, die am 25. und 26. Januar 1919 zwischen der vorläufigen

Reichsregierung und den Vertretern der bisherigen Gliedstaaten in Berlin stattfand,

mit Nachdruck die Forderung, daß ein aus Vertretern der Landesregierungen bestehen­ des bundesstaatliches Organ, ein sog. „Staatenausschuß" gebildet werden solle mit der Aufgabe, zusammen mit der vorläufigen Reichsregierung einen Entwurf eines vor­ läufigen Reichsgrundgesetzes und einen Entwurf für die endgültige RV. auszuarbeiten; zu allen Gesetzen, die von der Nationalversammlung beschlossen würden, sollte die

Zustimmung des Staatenausschusses erforderlich sein, insbesondere auch zu der neuen

RV. Die Volksbeauftragten verteidigten diesem Antrag gegenüber die Souveränität

der Nationalversammlung, die von ihnen selbst als eine v.-gebende bezeichnet worden war. Die Meinungsverschiedenheiten endeten schließlich mit einem Vergleich, durch den

die Länder eine beschränkte Einwirkungsmöglichkeit auf die Neugestaltung der RB. errangen. Sie erreichten die Einsetzung des beantragten Staatenausschusses, mit dem der Rat der Volksbeauftragten die der Nationalversammlung vorzulegenden Entwürfe eines

vorläufigen Reichsgrundgesetzes und der neuen RV. beraten wollte. Dagegen wurde dem Staatenausschuß eine beschließende Mitwirkung nur für sonstige von der Nationalver­ sammlung zu erlassende Gesetze eingeräumt. Über die Mitwirkung des Staatenausschusses

an den Beratungen der neuen RV. wird im Abschnitt IV Näheres auszuführen sein.

20

A. Einleitung.

Am 19. Januar 1919 war die v.-gebende Nationalversammlung vom deutschen

Volke gewählt worden, am 6. Februar trat sie im Theater zu Weimar zusammen. Bei der Eröffnung begrüßte sie der Volksbeauftragte Ebert als den „höchsten und einzigen

Souverän in Deutschland". Die vorläufige Regierung legte der Nationalversammlung den Entwurf eines Gesetzes über die vorläufige Reichsgewalt vor, den sie mit der Ver­ tretung der Länderregierungen, dem auf Grund der Besprechung vom 25. und 26. Ja­ nuar gebildeten Ausschuß, durchberaten und mit dessen Mehrheit (gegen die Stimmen

Bayerns) vereinbart hatte. Die Nationalversammlung nahm den Entwurf unverändert

an. Daraufhin legte der Rat der Bolksbeauftragten „die von der Revolution empfangene Macht" in die Hände der Nationalversammlung. Damit war die oberste Reichsgewalt von den Arbeiter- und Soldatenräten, die zuletzt durch den Zentralrat vertreten gewesen waren, auf die nach demokratischem Wahlrecht von allen über 20 Jahre alten deutschen Männern und Frauen nach den Grundsätzen der Verhältniswahl gewählte

Nationalversammlung übergegangen.

Das Gesetz über die vorläufige Reichsgewalt vom 10. Februar 1919 (RGBl.

S. 169) hatte folgenden Wortlaut: Die verfassunggebende deutsche Nationalversammlung hat folgendes Gesetz beschlossen: § 1. Die verfassunggebende deutsche Nationalversammlung hat die Aufgabe, die künftige Reichsverfassung sowie auch sonstige dringende Reichsgesetze zu beschließen. § 2. Die Einbringung von Vorlagen der Reichsregierung an die Nationalversammlung bedarf unbeschadet des Abs. 4 der Zustimmung eines Staatenausschusses. Der Staaten­ ausschuß wird gebildet von Vertretern derjenigen deutschen Freistaaten, deren Regie­ rungen auf dem Vertrauen einer aus allgemeinen, gleichen, geheimen und direkten Wahlen hervorgegangenen Volksvertretung beruhen. Bis zum 31. März 1919 können mit Zustimmung der Reichsregierung auch andere deutsche Freistaaten Vertreter entsenden. In dem Staatenailsschusse hat jeder Freistaat mindestens eine Stimme. Bei den größeren Freistaaten entfällt grundsätzlich auf eine Million Landeseinwohner eine Stimme, wobei ein Überschuß, der mindestens der Einwohnerzahl des kleinsten Frei­ staats gleichkommt, einer vollen Million gleichgerechnet wird. Kein Freistaat darf durch mehr als ein Drittel aller Stimmen vertreten sein. Den Vorsitz im Staatenausschusse führt ein Mitglied der Reichsregierung. Wenn Deutsch-Osterreich sich dem Deutschen Reiche anschließt, erhält es das Recht der Teilnahme am Staatenausschusse mit einer dem Abs. 2 entsprechenden Stimmen­ zahl. Bis dahin nimmt es mit beratender Stimme teil. Kommt eine Übereinstimmung zwischen der Reichsregierung und dem Staaten­ ausschusse nicht zustande, so darf jeder Teil seinen Entwurf der Nationalversammlung zur Beschlußfassung vorlegen.

8 3. Die Mitglieder der Reichsregierung und des Staatenausschusses haben das Recht, an den Verhandlungen der Nationalversammlung teilzunehmen und dort jederzeit das Wort zu ergreifen, damit sie die Ansichten ihrer Regierung vertreten. 8 4. Die künftige Reichsverfassung wird von der Nationalversammlung verabschiedet. Es kann jedoch der Gebietsbestand der Freistaaten nur mit ihrer Zustimmung geändert werden. Im übrigen kommen Reichsgesetze durch Übereinstimmung zwischen der National­ versammlung und dem Staatenausschusse zustande. Ist eine solche Übereinstimmung nicht zu erzielen, so kann der Reichspräsident die Entscheidung durch eine Volksab­ stimmung herbeiführen.

III. Die Revolution u. das Gesetz über die vorl. Reichsgewalt.

21

§ 5. Auf die Nationalversammlung finden die Artikel 21 bis 23,26 bis 32 der bisherigen Reichsverfassung entsprechende Anwendung mit der Maßgabe, daß Artikel 21 auch auf Soldaten Anwendung findet.

§ 6. Die Geschäfte des Reichs werden von einem Reichspräsidenten geführt. Der Reichspräsident hat das Reich völkerrechtlich zu vertteten, im Namen des Reichs Ver­ träge mit auswärtigen Mächten einzugehen sowie Gesandte zu beglaubigen und zu empfangen. Kriegserklärung und Friedensschluß erfolgen durch Reichsgesetz. Verttäge mit fremden Staaten, die sich aus Gegenstände der Reichsgesetzgebung beziehen, bedürfen der Zustimmung der Nationalversammlung und des Staaten­ ausschusses. Sobald das Deutsche Reich einem Völkerbünde mit dem Ziele des Ausschlusses aller Geheimverträge beigetreten sein wird, bedürfen alle Verträge mit den im Völker­ bünde vereinigten Staaten der Zustimmung der Nationalversammlung und des Staatenausschusses. Der Reichspräsident ist verpflichtet, die gemäß 1 bis 4 und 6 beschlossenen Reichsgesetze und Verträge im Reichs-Gesetzblatt zu verkünden.

§ 7. Der Reichspräsident wird von der Nationalversammlung mit absoluter Stimmen­ mehrheit gewählt. Sein Amt dauert bis zum Amtsanttitte des neuen Reichspräsidenten, der auf Grund der künftigen Reichsverfassung gewählt wird.

§ 8. Der Reichspräsident beruft für die Führung der Reichsregierung ein Reichsmini­ sterium, dem sämtliche Reichsbehörden und die Oberste Heeresleitung unterstellt sind. Die Reichsminister bedürfen zu ihrer Amtsführung des Berttauens der NationalVersammlung.

§ 9. Alle zivilen und militärischen Anordnungen und Verfügungen des Reichspräsi­ denten bedürfen zu ihrer Gültigkeit der Gegenzeichnung durch einen Reichsminister. Die Reichsminister sind für die Führung ihrer Geschäfte der Nationalversammlung verantwortlich.

§ 10. Dieses Gesetz tritt mit seiner Annahme durch die Nationalversammlung in Kraft. Von diesem Zeitpunkt an kommen Gesetze sowie Verordnungen, die nach dem bisherigen Reichsrecht der Mitwirkung des Reichstags bedurften, nur gemäß § 4 dieses Gesetzes zustande.

Weimar, den 10. Februar 1919. Der Präsident der verfassunggebenden deutschen Nationalversammlung David

Das Gesetz über die vorläufige Reichsgewalt bedeutete politisch den Übergang von der Klassendiktatur zum demottatischen Staat, rechtlich die Rückkehr zum geschriebenen Staatsrecht, besonders wenn man das kurz danach erlassene Übergangsgesetz vom

4. März 1919 (RGBl. S. 285) mit in Bettacht zieht. Der Auffassung von Meißner (Das neue Staatsrecht des Reichs und seiner Länder, S. 13), das durch die Tatsache

der Revolution geschaffene illegitime Staatsrecht sei damit wieder auf den Boden

einer legitimen, v.-mäßigen und anerkannten Rechtsgrundlage gestellt worden, kann allerdings nicht beigetreten werden. Der Übergang der Staatsgewalt von den Räten auf die Nationalversammlung vollzog sich zwar in einer nach den damaligen staats­ rechtlichen Verhältnissen legalen Weise, aber so wenig die Räte eine „legitime" Herr­ schaft ausübten, so wenig konnten sie eine solche auf die Nationalversammlung über-

ttagen. Vielmehr bedeutete das Gesetz über die vorläufige Reichsgewalt rechtlich die Vollendung der Revolution nach der unitarischen Seite hin. Wenn es bis zur Erlassung dieses Gesetzes fraglich gewesen war, inwieweit die bundesstaatliche Grundlage der

22

A. Einleitung.

RB. noch bestand, so wurde dieser Zweifel durch Art. 1 endgültig gelöst. Wenn auch

die November-Berträge von 1870 nicht schlechthin beseitigt wurden, so wurde doch das Recht der Gliedstaaten, die durch den Umsturz vom November 1918 entstandenen Lücken der im Jahre 1870 vereinbarten RB. durch Vertrag zu schließen — zu ihrer

Schließung im Wege des Art. 78 a. RB. fehlten z. T. die v.-mäßig zuständigen Organe

oder sie waren ihrer gesetzgeberischen Befugnisse enttteidet — unwiderruflich verneint. Die Gliedstaaten wurden ihrer Eigenschaft als Träger des B.-Bertragsrechts beraubt. Allerdings hatten die meisten Länder durch ihre Zustimmung zu dem Entwurf des Gesetzes über die vorläufige Reichsgewalt das Recht der Nationalversammlung zur

Erlassung der neuen RB. anerkannt. Bayern aber hatte im Staatenausschuß der alleinigen Zuständigkeit der Nationalversammlung zur Neuregelung der staatsrechtlichen Verhältnisse des Reichs widersprochen. Die Ausschaltung der Gliedstaaten hatte daher

Bayern gegenüber revolutionären Charakter. Auch die Beseitigung des besonderen Schutzes der Reservatrechte nach Art. 78 Abs. 2 kann nur als Verfassungsbruch bezeichnet werden. Bestritten ist die Frage, ob § 1 des Gesetzes über die vorläufige Reichsgewalt konstitutiven oder deklaratorischen Charakter hatte. Da dieses Gesetz gegenüber den An-

sprüchen der föderalistischen Richtung erst die Frage entschied, ob die neue RB. von der

Nationalversammlung allein zu beschließen war oder ob auch andere Faktoren

(die

Länder) an ihrer Erlassung mitentscheidend zu beteiligen waren, so muß dem § 1 kon­

stitutive Bedeutung beigelegt werden (übereinstimmend Poetzsch-Heffter S. 16, a.M. Anschütz S. 21 Fußnote). Da die Nationalversammlung mit Erfolg die Souveränität voll für sich in Anspruch

nahm, sind alle Bestimmungen des Gesetzes über die vorläufige Reichsgewalt, die eine Einschränkung ihrer Souveränität enthalten, als Selbstbeschränkungen zu deuten. Dies gilt insbesondere von den Rechten, die dem Staatenausschuß zugestanden wurden. Er war Gesetzgebungsorgan, da die Reichsgesetze durch Übereinstimmung zwischen der

Nationalversammlung und dem Staatenausschuß zustande kamen. Eine Ausnahme galt, wie erwähnt, für die endgültige RB.; aber auch hier war der Staatenausschuß

nicht völlig ausgeschaltet, da § 2 Abs. 1 in Verbindung mit Abs. 4 auch für die RV. galt. Ein Mtwirkungsrecht des Staatenausschusses war also gegeben, es war aber zu Ende, sobald der Entwurf der neuen RB. als Vorlage bei der Nationalversammlung

eingebracht war; eine entscheidende Mitwirkung — und das war der springende Punkt — kam dem Staatenausschuß nicht zu.

Eine Streitftage entstand wegen der Tragweite des § 4 Abs. 1 S. 2; vgl. hierüber

die Anmerkungen zu Art. 18 RB. Auch im übrigen wies das Gesetz über die vorläufige Reichsgewalt naturgemäß zahlreiche Lücken auf, wie bei der gebotenen Eile ihres Zu-

standekommens nicht anders zu erwarten war. Dazu gehörte insbesondere das Fehlen einer Bestimmung darüber, wer die Mitglieder des Staatenausschusses zu entsenden

hatte; § 3 ließ aber den Schluß zu, daß die Mitglieder des Staatenausschusses nicht Ab­ gesandte der Volksvertretungen ihrer Länder, sondern der Landesregierungen sein

sollten (ebenso Stier-Somlo Bd. 1 S. 206).

Eine außerordentlich wichtige Ergänzung des Staatsrechts und der gesamten Rechtsordnung der Deutschen Republik zur Zeit der Geltung des Gesetzes über die vorläufige Reichsgewalt war das Übergangsgesetz vom 4. März 1919 (RGBl.

III. Die Revolution u. das Gesetz über die vorl. Reichsgewalt.

23

S. 285), das die Rechts-Kontinuität sicherte. Da später noch auf die Bestimmungen dieses Gesetzes zurückzugreifen sein wird, folgt hier der Abdruck seines Wortlauts:

Tie verfassunggebende Deutsche Nationalversammlung hat das folgende Gesetz be­ schlossen, das nach Zustimmung des Staatenausschusses hiermit verkündet wird: § 1. Tie bisherigen Gesetze und Verordnungen des Reichs bleiben bis auf weiteres in Kraft, soweit ihnen nicht dieses Gesetz oder das Gesetz über die vorläufige Reichsge­ walt vom 10. Februar 1919 (Reichs-Gesetzbl. S. 169) entgegensteht. In Kraft bleiben auch alle von dem Rate der Volksbeauftragten oder der Reichsregierung bisher erlasse­ nen und verkündeten Verordnungen. Ein Verzeichnis dieser Verordnungen ist der Nationalversammlung innerhalb der Frist von einem Monat nach dem Inkrafttreten dieses Gesetzes vorzulegen. Äne Verordnung ist von der Reichsregierung außer Kraft

zu setzen, wenn die Nationalversammlung dies innerhalb dreier Monate nach dem Inkrafttreten dieses Gesetzes beschließt. Das Verzeichnis ist im Reichsanzeiger zu veröffentlichen; Verordnungen, die in diesem Verzeichnis fehlen, treten mit dieser Veröffentlichung außer Kraft. § 2. Soweit in Gesetzen oder Verordnungen des Reichs auf den Reichstag verwiesen wird, tritt an seine Stelle die Nationalversammlung. § 3. Soweit in Gesetzen oder Verordnungen des Reichs auf den Bundesrat ver­ wiesen wird, tritt an seine Stelle der Staatenausschuß. Das Recht zur Mtwirkung bei der Gesetzgebung sowie Befugnisse gegenüber der Nationalversammlung stehen dem Staatenausschusse nur im Rahmen des Gesetzes über die vorläufige Reichsgewalt zu. § 4. Die Befugnisse, die nach den Gesetzen oder Verordnungen des Reichs dem Kaiser zustehen, gehen auf den Reichspräsidenten über.

§ 5. Die Befugnisse, die nach den Gesetzen oder Verordnungen des Reichs dem Reichskanzler zustehen, gehen auf das Reichsministerium über. Soweit das Reichsministerium nicht ein anderes bestimmt, werden sie von jedem Reichsminister für seinen Geschäfts­ bereich selbständig ausgeübt. § 6. Dieses Gesetz tritt mit dem Tage seiner Verkündung in Kraft.

Weimar, den 4. März 1919. Der Reichspräsident.

Ebert Der Reichsminister der Justiz.

Landsberg Aus § 1 des Übergangsgesetzes ergibt sich, daß auch die a. RV. insoweit fortgalt, als sie dem Gesetz über die vorläufige Reichsgewalt nicht widersprach; es blieben also

auch diejenigen Bestimmungen in Kraft, die die Fortgeltung der Novemberverträge von 1870 und die Reservatrechte der süddeutschen Staaten betrafen. Damit war der Auffassung des bayerischen Gesandten beigetreten, der bei den Verhandlungen über

die vorläufige RV. erklärt hatte, daß die bayerische, Württembergische und badische Regierung von der Voraussetzung ausging, daß durch die Annahme des Gesetzes der Entscheidung über die Sonderrechte der einzelnen Freistaaten nicht vorgegriffen werde.

Am 11. Februar 1919 wählte die Nationalversammlung den bisherigen Bolksbeaustragten Friedrich Ebert auf Grund des Gesetzes über die vorläufige Reichsgewalt

zum Reichspräsidenten. Ebert berief zum Reichs-Ministerpräsidenten den bisherigen Bolksbeauftragten Scheidemann (einen Reichskanzler kannte das Gesetz über die vor­

läufige Reichsgewalt nicht); dessen Kabinett wurde nach parlamentarischen Grund-

24

A. Einleitung.

sätzen aus Vertretern der Mehrheitsparteien der Nationalversammlung (Sozialdemo­

kraten, Demokraten und Zentrum) gebildet. Der StaatenauSschuß wurde entsprechend dem Gesetz über die vorläufige Reichsgewalt umgebildet. Damit war der Weg geebnet

für die Erledigung der einen beiden Hauptaufgaben der Nationalversammlung, der Entscheidung über die künftige B. des deutschen Staatswesens.

IV. Die Entstehung der neuen Reichsverfassung. Der Staatsrechtslehrer Professor vr.Hugo Preuß war schon im November 1918 vom Rat der Bolksbeauftragten zum Staatssekretär des Reichsamts des Jnnem ernannt worden, um in dieser Eigenschaft den Entwurf einer neuen RB. auszuarbeiten.

Um die Jahreswende 1918/19 hatte Preuß einen Entwurf fertiggestellt, der nicht veröffentlicht wurde (Borentwurf). Diese erste Bearbeitung war dadurch bemerkenswert,

daß sie mit den geschichtlichen Verhältnissen Deutschlands vollkommen brechen wollte. Daß sie als Herrschaftsform die parlamentarische Demokratie vorsah, war in der poli­

tischen Lage begründet. Den persönlichen Ansichten von Preuß aber entsprach der Versuch eine vollständige Neugliederung des Reichs herbeizuführen, wobei insbeson­

dere die Zerlegung Preußens in mehrere Teile und die Umwandlung der bisherigen Gliedstaaten in bloße „Gebiete" geplant war.

Dieser Vorentwurf wurde einer nochmaligen Bearbeitung unterzogen und in seiner neuen Form am 20. Januar 1919 im Reichsanzeiger Nr. 15 bekanntgegeben (Entwurf 1). Auch dieser Entwurf trug stark unitarische Züge; er verzichtete zwar darauf, eine Neugliederung des Reichs unmittelbar vorzunehmen, gab aber weitgehende

Möglichkeiten, eine solche auf dem Wege der Gesetzgebung durchzuführen. Der Ein­ fluß der Gliedstaaten auf die Bildung des Reichswillens war stark eingeschränkt, der Reichstag sollte zwei Kammern haben, ein Volkshaus und ein Staatenhaus. Nach der

in Abschnitt III erwähnten Konferenz mit den Vertretern der Länder vom 25. und

26. Januar wurde dieser Entwurf mit dem provisorischen Staatenausschuß durch­ beraten. In diesen Besprechungen wurde insbesondere das Staatenhaus des Entw. 1 wesentlich umgestaltet und zu einer dem heutigen Reichsrat ähnlichen Versammlung

ausgebaut. Das Ergebnis der Beratungen war der Entwurf, den der inzwischen zum Reichsminister des Innern ernannte Dr. Preuß am 17. Februar 1919 dem auf Grund

des Gesetzes über die Vorläufige Reichsgewalt gebildeten neuen StaatenauSschuß vor­ legte (Entw. 2). Im Staatenausschuß kam keine vollständige Einigung zwischen der Vertretung der Länder und der Reichsregierung zustande. Doch war die Zahl der Differenzpunkte

keine große, so daß Preuß schon am 21. Februar 1919 als Ergebnis der Beratungen mit dem StaatenauSschuß der Nationalversammlung einen vom Entwurf 2 wenig ab-

weichenden Entwurf als Regierungsentwurf vorlegen konnte. Dieser Entwurf 3 war eine sog. Doppelvorlage, er brachte in den 3 noch bestehenden Differenzpunkten die

abweichende Meinung des Staatenausschusses neben der Stellungnahme der Reichsregierung gemäß dem Gesetz über die vorläufige Reichsgewalt zur Darstellung. Sachlich unterschieden sich die Entwürfe 2 und 3 ziemlich wesentlich vom Entwurf 1; sie machten den föderalistischen Wünschen, die insbesondere von den süddeutschen Staaten nach­

drücklich vertreten worden waren, erheblich größere Zugeständnisse, vor allem im Sinne

einer weitergehenden Sicherung des Bestandes und Gebietsstandes der Gliedstaaten

V. Die Rechtsgültigkeit der Weimarer Verfassung.

25

und im Sinne einer geringeren Zuständigkeit des Reichs und einer stärkeren Beteili­

gung der Gliedstaaten an der Willensbildung des Reichs. Auch den Wünschen nach

Auftechterhaltung von Sonderrechten war in gewissem Umfang Rechnung getragen. Die erste Beratung des Entwurfs in der Nationalversammlung (24. Fe­ bruar bis 4. März) endete mit der Überweisung der Vorlage an den B.-Ausschuß.

Dieser hatte 28 Mitglieder und tagte unter dem Vorsitz des Abgeordneten Haußmann. Unter seinen Mitgliedern ragten neben andern besonders die Abgeordneten Kahl, von Delbrück, Koch, Naumann und Beyerle hervor. Der Ausschuß hielt im ganzen 42 Sitzungen ab, die letzte am 18. Juni 1919. Unter den Änderungen, die der V.Ausschuß an dem Entwurf 3 vornahm, ist besonders die Einfügung eines 2. Haupt­

teils, der Grundrechte und Grundpflichten der Deutschen, von Bedeutung. Im übrigen revidierte der Ausschuß die Vorlage in unitarischem Sinn und beseitigte die Reservat­

rechte der süddeutschen Staaten. In dieser Gestalt brachte der B.-Ausschuß den Ent­ wurf wieder vor das Plenum der Nationalversammlung (Entwurf 4 Nr. 391 der

Drucksachen der Nationalversammlung mit Berichtigungen). Die Verhandlungen des

B.-Ausschusses bieten für die Entstehungsgeschichte und AMegung der RB. außer­ ordentlich viel wertvolles Material.

Damit hatte die RV. im wesentlichen den bestimmenden Inhalt bekomnren. Die Änderungen, die im Plenum in 2. Lesung (2. bis 22. Juli) und 3. Lesung (29. bis

31. Juli) vorgenommen wurden, gaben dem Werk kein neues Gesicht mehr. Am 31. Juli 1919 wurde die RB. mit 262 gegen 75 Stimmen bei 1 Stimmenthaltung angenommen. Dagegen stimmten die Deutschnationalen, die Deutsche Volkspartei, die

Unabhängigen Sozialdemokraten, der Bayerische Bauernbund und von der Bayerischen Volkspartei der Abgeordnete Dr. Heim. Die RV. trägt nach dem Tage der Ausferti­ gung durch den Reichspräsidenten das Datum vom 11. August 1919 und wurde in Nr. 52 deK RGBl. (S. 1383) verkündet. Nach ihrer Schlußbestimmung ttat sie am

Tage ihrer Verkündung, dem 14. August 1919, in Kraft.

V. Die Rechtsgültigkett der Weimarer Berfassung. Die konstitutionellen Vn. des 19. Jahrhunderts hatten politisch im wesentlichen

die Bedeutung einer Verteilung der Ausübung der Staatsgewalt zwischen Fürst und

Volk. Auch die a. RB. diente diesem Bedürfnis, indem sie die Befugnisse zwischen

Kaiser und Bundesrat einerseits und dem Reichstag anderseits abgrenzte. Sie hatte daneben aber noch eine andere, sehr verwickelte Aufgabe zu lösen, die Regelung der

Rechtsverhältnisse zwischen Bund und Gliedern. Diese beiden politischen Grundprobleme der a. RB. spiegeln sich in negativer Weise in der Revolution als dem Bruch des V.Rechtes wider.

Die Vorgänge vom 9. November 1918 betrafen vorzugsweise das erste Problem, insofern sie das Verhältnis zwischen Fürsten und Volk in radikaler Weise, nämlich durch

Beseitigung der Fürstenmacht, umgestalteten. Das war die demokratische Revolution. Ein Zweifel an dem Ergebnis des 9. November 1918 war in dieser Richtung nicht möglich: es lag ein vollendeter Rechtsbruch vor. Anders sind die Vorgänge vom November 1918 in bezug auf das Verhältnis

zwischen Reich und Gliedstaaten zu beurteilen. Hier waren viele Fragen offen gelassen worden. Zwar waren auch die föderativen Bestandteile der a. RV. in starkem Maße be-

26

A. Einleitung.

einträchtigt worden. Eine Entscheidung darüber, ob das Reich auch in seinem zukünftigen Bestand auf der Grundlage eines Bundes zwischen den beteiligten Gliedstaaten be­ ruhen solle, war jedoch am 9. November 1918 nicht gefallen. Insbesondere blieb un­

geklärt, ob und in welchem Umfang die November-Verträge von 1870 noch galten, die ja durch die Umwälzung auch großenteils gegenstandslos geworden, aber doch

jedenfalls nicht ganz beseitigt waren. Nachdem der Umsturz über sie nichts weiter aus­

gesagt hatte, konnte der Standpunkt vertreten werden, daß sie mindestens dem Bande nach wie auch hinsichtlich verschiedener Einzelheiten noch Geltung hätten. Merdings

konnte nach Art. 78 a. RV. — von Reservatrechten abgesehen — auch der Inhalt dieser Verträge selbst durch Änderungen der a. RV. wesentlich berührt werden und zwar u. U. auch gegen den Willen eines der vertragschließenden Staaten, nämlich gegen eine Minderheit von weniger als 14 Stimmen im Bundesrat. Die November­

verträge waren also in gewissem Sinn der Kompetenz-Kompetenz des Reichs nach» geordnet. Die v.-rechtlichen Möglichkeiten eine solche Änderung auf legalem Wege

herbeizuführen, waren durch die demokratische Revolution verbaut worden, da die hiefür zuständigen Organe teilweise außer Dienst gesetzt waren. War die a. RV. durch die Revolution vom 9. November 1918 in ihrem föderativen Teil nicht grundlegend

verändert worden, so konnte die Auffassung vertreten werden, daß zur Wiederherstellung

der RV. ein neues, den Novemberverträgen von 1870 entsprechendes Vertragswert notwendig sei. Diese Folgerung ist jedoch in ihrer vollen Konsequenz von keinem der

beteiligten Staaten, auch nicht von Bayern, gezogen worden (vgl. Prot. S. 24). Die sog. Stuttgarter Kundgebung der süddeutschen Staaten vom Dezember 1918 forderte

zwar die „Neueinrichtung des Reichs auf bundesstaatlicher Grundlage", gemeint war aber, wie sich aus den Zusammenhängen ergibt, nur eine Mitwirkung durch ein etwa dem Bundesrat ähnliches bundesstaatliches Organ. Die Verhältnisse blieben bis zur

Erlassung des Gesetzes über die vorläufige Reichsgewalt in der Schwebe. Dieses Ge­

setz war der abschließende Akt der unitarischen Revolution, die die födera­ tive Grundlage des Reichs beseitigte. Es war gegen den Widerspruch Bayerns zustande

gekommen, man kann also nicht davon sprechen, daß ein völliger Verzicht sämtlicher Vertragsteile auf die Wiederherstellung einer bundesstaatlichen Grundlage für die

Neugestaltung des V.-RechteS stattgefunden hätte. Durch die Revolution war demnach nicht nur in demokratischer, sondern auch in unitarischer Hinsicht ein Bmch der bis­ herigen v.-rechtlichen Verhältnisse erfolgt, wobei man feststellen kann, daß der erstere

Rechtsbruch bereits am 9. November 1918 vollendet war, während der letztere an

diesem Tage zwar angebahnt, aber erst am 10. Februar 1919 mit dem Gesetz über die vor­ läufige Reichsgewalt endgültig vollzogen war. In beiden Fällen, besonders aber in der

unitarischen Revolution, lag neben dem Bruch des V.-Gesetzes zugleich ein Bruch der als Grundlage des Reichs noch fortgeltenden völkerrechtlichen Novemberverträge von 1870. Bruch des Rechtes aber bedeutet das Fehlen des rechtlichen Zusammenhangs zwischen der alten, gebrochenen und der neu entstandenen Ordnung. Es besteht Dis­

kontinuität des alten und des neuen Rechts, der neuen Herrschaft fehlt es an der Le­

gitimität. Es fragt sich, ob daraus die Rechtsungültigkeit der RV. vom 11. August

1919 und der auf ihr fußenden Gesetze und sonstigen Rechtsnormen abgeleitet werden

kann und muß. Wenn man sich auf den Standpunkt stellt, daß Rechtsbruch Unrecht

ist und aus Unrecht kein Reckt iverben kann, so muß nmn diese Frage bejahen. Für das

V. Die Rechtsgültigkeit der Weimarer Verfassung.

27

praktische Staatsleben ist jedoch diese Theorie, der die unbedingte Folgerichtigkeit an sich

nicht abgesprochen werden kann, heute nicht mehr brauchbar. Für die Würdigung der Le­ gitimitätstheorie ist vom Standpunkt des modernen Staatsrechts folgendes zu beachten: 1. Wie das Recht im objektiven Sinn zum Entstehen einer Macht bedarf, die es erzeugt, sei diese die im Volk wurzelnde Rechtsüberzeugung oder der durch die Staats­ gewalt erteilte Gesetzesbefehl, so kann das Recht auch zum Bestehen der Macht nicht

entraten. Eine Rechtsnorm, die von der Staatsmacht oder, wenn es sich um Gewöhnheitsrecht handelt, von der opinio necessitatis der Rechtsgenossen preisgegeben wird,

hört auf, Recht zu sein. 2. Die Staatsnotwendigkeit verlangt, daß eine Ordnung, unter der eine Rechts­ gemeinschaft tatsächlich eine gewisse Zeitspanne lebt, auch wenn ihr Ursprung im Ver­

hältnis zur früheren Ordnung kein legitimer ist, als gültig anerkannt werden muß. Unter Staatsnotwendigkeit ist dabei nicht das Interesse einer herrschenden Partei an der Rechtsbeständigkeit ihrer Herrschaft zu verstehen, sondern der Zwang für den ein­ zelnen Staatsbürger, auf der Grundlage der einmal bestehenden tatsächlichen Ordnung

in Rechtsverhältnisse, sei es zum Staat, sei es zu anderen Staatsbürgern, zu treten. Es wäre für eine Rechtsgemeinschast, besonders für eine so verwickelte wie ein modernes

Staatswesen unerträglich, wenn nicht nur alle Staatsakte, die von einer einigermaßen dauerhaften Staatsgewalt ausgehen, sondern auch alle Privatrechtsgeschäfte, die auf

Grund von Rechtsnormen einer solchen Staatsgewalt abgeschlossen werden, als un­

gültig betrachtet werden müßten. Eine solche Beurteilung hätte geradezu chaotische Zustände zur Folge. Sie würde übersehen, daß das Recht im letzten Grunde Dienerin der menschlichen Gemeinschaft ist und nicht Verkünderin einer über den Wolken schwe­ benden, allen Wirklichkeiten widersprechenden idealen Ordnung. Aus dieser Erkennt­ nis hat auch die herrschende Lehre der Wissenschaft die Theorie des Legitimismus

fallen gelassen. Sie erkennt die Befugnis zur Ausübung der Staatsgewalt dann an,

wenn der, der diese Befugnis beansprucht, im tatsächlichen Besitz der Staatsgewalt ist Meyer-Anschütz, Lehrbuch des Deutschen Staatsrechts, 7. Ausl. S. 26; ebenso Jellinek,

Allg. Staatslehre S. 337 ff.). Auch die Rechtsprechung hat diesen Grundsatz in mehr­ fachen Entscheidungen anerkannt und zwar nicht nur für die RV., sondern auch für

die Anordnungen des Rats der Volksbeauftragten. Das Reichsgericht hat von der neuen Staatsgewalt in RGZ. Bd. 100 S. 27 folgendes ausgesprochen: „Die Rechts­

widrigkeit ihrer Begründung steht dem nicht entgegen (nämlich der staatsrechtlichen Anerkennung), weil Rechtmäßigkeit der Begründung kein wesentliches Merkmal der

Staatsgewalt ist."

Daß neben dem Gesetzesrecht durch die Revolution auch Vertragsrecht (in Gestalt der Novemberverträge von 1870) gebrochen wurde, kann die Rechtslage nicht ändern. Bruch von völkerrechtlichen Verträgen in dem Sinn, daß der eine Vertragsteil oder

sein Rechtsnachfolger sich von dem Vertrag mit dauerndem Erfolg lossagt, beseitigt

das gebrochene Bertragsrecht ebenso, wie eine staatsrechtliche Revolution V.-Gesetze ganz oder teilweise außer Wirksamkeit setzen kann. Die RV. vom 11. August 1919, die sich auf das Gesetz über die vorläufige Reichsgewalt stützt, ist daher mindestens

gegenüber Bayern, das der völligen Nichtachtung des Vertragsrechts von 1870 wider­ sprochen hatte und die Auffassung vertrat, daß das Rechtsverhältnis zwischen Reich

und Ländern durch den Umsturz vom November 1918 grundlegend geändert worden

28

A. Einleitung.

sei, auf eine nicht legitime Weise zustande gekommen. Da aber die Revolution, wie oben ausgeführt, Quelle neuen Rechtes ist und auch das Gesetz über die vorläufige Reichsgewalt revolutionären Charakter besitzt (nicht nur revolutionären Ursprungs ist),

so kann nicht bezweifelt werden, daß die RB. auch für Bayern trotz allem in vollem

Maße rechtsverbindlich ist. Ein Fortbestand der Novemberverträge von 1870 läßt sich nur dann behaupten, wenn man im Sinne der Legitimitätstheorie das ganze dmch die Revolution und nach ihr entstandene Staatsrecht als ungültig betrachten will.

VI. Die Fortbildung und Umbildung der RB. Seit dem Inkrafttreten der Weimarer RB. sind fast 12 Jahre vergangen, eine

längere Zeitspanne als am Anfang ihres Bestehens manche Pessimisten ihr als Lebens­ dauer weissagen wollten. Zwar ist sie nicht ganz unverändert geblieben, aber die bisher vorgenommenen 8 Änderungen des Textes der RB. sind nicht von großer Bedeutung. Wichtiger sind die Wandlungen der Bedeutung, die einzelne der B.-Bestimmungen

im Laufe der Jahre erfahren haben, und die sonstigen Formen, in denen sich der Ein­ fluß der Zeit auf das B.-Recht des Reichs geltend gemacht hat (vgl. Jellinek in IW.

1929 S. 2315ff.). Gleichwohl wäre es falsch, aus der verhältnismäßigen formalen Beständigkeit der RB. auf eine ebenso große Stabilität des B.-Lebens zu schließen. Zwar haben sich die Voraussagen bis jetzt nicht erfüllt, daß die Lösungen, welche im Jahr 1919 für die

Probleme des deutschen Staatslebens gewählt wurden, großenteils nur kurzlebige Übergangsregelungen darstellten. Aber keiner der Hauptgrundsätze der geltenden RV. ist so unbestritten, daß es heute als feststehend erachtet werden kann, er werde sich auf

absehbare Zeit hinaus unverändert behaupten. Verhältnismäßig am festesten ist heute der republikanische Gedanke als solcher verankert. Mit einer baldigen Mckkehr der

monarchischen Staatsform ist zur Zeit wohl kaum zu rechnen. Aber schon die nächste Frage, das Wie der republikanischen Staatsordnung, ist de lege ferenda im Streit befangen. Den Befürwortern des geltenden parlamentarischen Regierungssystems

stehen nicht unerhebliche politische Kräfte gegenüber, die mindestens eine wesentliche

Abwandlung, wenn nicht Beseitigung dieses Systems im Sinn einer Stärkung der anderen Faktoren der Staatsgewalt im Reich, des Reichspräsidenten und der Reichs­

regierung wünschen. Durch die verschiedensten Schattierungen hindurch gehen die Meinungen von dem Gedanken einer mäßigen Stärkung der Stellung des Reichs­

präsidenten oder der Reichsregierung bis zur Forderung nach einer reinen Diktatur auf parteimäßiger oder militärischer Grundlage. Aber gerade die Vielzahl der Ge­ staltungsmöglichkeiten hat es bewirkt, daß sich bis zur Stunde bei den Gegnern der parlamentarischen Regierungsweise noch keine einheitliche Überzeugung herausgebildet

hat, in welcher Weise die RV. nach dieser Richtung hin abzuändern wäre. Es bleibt abzuwarten, ob hier eine nähere oder fernere Zukunft zu einer gewissen Kristallisation der Meinungen über das zu erstrebende Ziel führen wird. Größer ist die Labilität in der Beurteilung der anderen Kernfrage des deutschen

B.-Lebens, des Verhältnisses zwischen dem Reich und seinen Ländern. In dieser Hin­

sicht hat die Weimarer Lösung weder die Anhänger des deutschen Einheitsstaates noch die föderalistischen Kreise befriedigt. Nach einer weit verbreiteten Überzeugung soll das gegenwärtig geltende B.-Recht über die Stellung der Länder zum Reich nicht

VI. Die Fortbildung und Umbildung der RB.

29

geeignet sein, etwas anderes als eine Übergangslösung darzustellen. In der Tat haben

die unitarischen Tendenzen, die sich in der Zeit der Umwälzung mit großem Nachdruck

geltend machten, nicht vermocht, sich so weit durchzusetzen, als es den Vertretern dieser Richtung im Anfang als erreichbar erschien. Seitdem ist auf dieser Seite der Gedanke

nicht mehr von der Bildfläche verschwunden, daß die Weimarer RB. nichts anderes sei als eine Übergangsstufe in der Herbeiführung des deutschen Einheitsstaats. Auf der anderen Seite bettachtet die föderalistische Richtung die heute geltende Machtverteilung als einen mißlungenen Versuch, den dem deutschen Staatsgedanken abttäglichen Ein-

heitsstaat dmchzusetzen, als einen Schritt, der so bald als möglich wieder zurückgetan werden müsse, nachdem es sich als verhängnisvoll erwiesen habe, das Einheitsreich dem deutschen Volk aufdrängen zu wollen. (Über die unitarischen und föderalistischen

Tendenzen im heutigen Deutschland vgl. insbesondere Nawiasky, Grundprobleme der

RV.) Und endlich steht diesen politischen Kräften noch eine dritte Gruppe gegenüber, die ohne ein grundsätzliches Bekenntnis zu einer der beiden vorgenannten Richtungen eine Lösung anstrebt, nach der das Verhältnis zwischen Zenttalgewalt und Landes-

gewalt so geregelt werden soll, wie es der vorhandenen Kräfteverteilung mit dem

Ziele der tunlichsten Ausschaltung unerwünschter Reibungen am besten entspricht.

In zwei Denkschriften von 1924 und 1926 hat die Bayerische Staatsregierung ihre Wünsche nach einer Revision der Weimarer B. in der Richtung des bundesstaat­

lichen Prinzips zum Ausdruck gebracht. Die Gesetzgebungsmaschine ist durch diese Dar­

legungen allerdings nicht in Bewegung versetzt worden. Dagegen haben sich seit dem Winter 1927/28 die Bestrebungen, auf dem Wege der Vereinheitlichung des Reichs

weiterzuschreiten, verstärkt. Die Reformwünsche, die von verschiedenen Seiten unter verschiedenen Gesichtspunkten geäußert wurden, führten im Januar 1928 zur Ein­ berufung einer „Länderkonferenz", also eines in der RB. nicht vorgesehenen Organs,

dessen Tätigkeit bald erwies, daß die in den Ländern vorhandenen politischen Kräfte in dem Prokrustesbett des Reichsrats keine ihrer wirklichen Bedeutung entsprechende Vertretung besitzen. Die Länderkonferenz setzte einen Berfassungsausschuß ein, der in

den Jahren 1928 — 1930 wiederholt tagte und sich in zwei Unterausschüsse teilte, einen für die Frage der territorialen Umgliederung des Reichs und einen für die

Abgrenzung der Zuständigkeiten zwischen Reich und Ländern. Das Ergebnis der

Beratungen waren zwei Gutachten, die von den Unterausschüssen und daraufhin

vom Berfassungsausschuß beschlußmäßig (mit 15 gegen 3 Stimmen) angenommen wurden (Juni 1930). Da es nicht möglich ist den Inhalt der Gutachten kurz an­ zugeben, ohne daß Mißverständnisse entstehen könnten, ihre Kenntnis für die Beur­

teilung des derzeitigen Standes der V.-Frage aber unerläßlich ist, sind die beiden Gutachten im Anhang abgedruckt (nach Medicus, Reichsreform und Länderkonferenz). —Daneben gewann in der Öffentlichkeit auch der von dem Reichskanzler a. D. Dr. Luther gegründete „Bund zur Erneuerung des Reichs" Bedeutung, dessen Reformvorschläge

hauptsächlich in einer Beseitigung des Nebeneinanderbestehens von Reichsregierung und preußischer Regierung und in einer Differenzierung des Verhältnisses zwischen dem Reich und den ihm eingegliederten Gebietskörperschaften (Schaffung eines

Reichslands aus Preußen und der Mehrzahl der norddeutschen Länder, Fortbestehen der süddeutschen Länder und Sachsens) gipfeln. Vgl. die von dem genannten Bund

herausgegebene Denkschrift „Reich und Länder" (1928).

Die Verfassung des Deutschen Reichs vom 11. August 1919.

(RGBl. S. 1383.) Tas Deutsche Volk, einig in seinen Stämmen und von dem Willen beseelt, sein Reich in Freiheit und Gerechtigkeit zu erneuen und zu festigen, dem inneren und dem äußeren Frieden zu dienen und den gesellschaftlichen Fortschritt zu fördem, hat sich diese Verfassung gegeben.

Erster Hauptteil

Ausbau und Aufgaben des Reichs Erster Abschnitt

Reich und Ander Art. 1. Das Deutsche Reich ist eine Republik. Die Staatsgewalt geht vom Volke aus.

Art. 2. Das Reichsgebiet besteht aus den Gebieten der deutschen Länder. Andere Gebiete können durch Reichsgesetz in das Reich ausgenommen werden, wenn es ihre Bevölkerung kraft des Selbstbestimmungsrechts begehrt.

Art. 3. Die Reichsfarben sind schwarz-rot-gold. Die Handelsflagge ist schwarz­ weiß-rot mit den Neichsfarben in der oberen inneren Ecke.

Art. 4. Die allgemein anerkannten Regeln des Völkerrechts gelten als bin­ dende Bestandteile des deutschen Reichsrechts.

Art. 5. Die Staatsgewalt wird in Reichsangelegenheiten durch die Organe des Reichs auf Grund der Reichsverfassung, in Landesangelegenheiten durch die Organe der Länder auf Grund der Landesverfassungen ausgeübt.

Art. 6. Das Reich hat die ausschließliche Gesetzgebung über: 1. 2. 3. 4. 5. 6.

7.

die Beziehungen zum Ausland; das Kolonialwesen; die Staatsangehörigkeit, die Freizügigkeit, die Ein- und Auswanderung und die Auslieferung; die Wehrverfassung; das Münzwesen; das Zollwesen sowie die Einheit des Zoll- und Handelsgebiets und die Freizügigkeit des Warenverkehrs; das Post- und Telegraphenwesen einschließlich des Fernsprechwesens.

Art. 7. Tas Reich hat die Gesetzgebung über: 1. das bürgerliche Recht; 2. das Straftecht; 3. das genchtliche Verfahren einschließlich des Sttafvollzugs sowie die Amtshilfe zwischen Behörden; 4. das Paßwesen und die Fremdenpolizei; 5. das Armenwesen und die Wandererfürsorge; 6. das Presse-, Vereins- und Versammlungswesen; 7. die Bevölkemngspolitik, die Mutterschafts-, Säuglings-, Kinder- und Jugendfürsorge; 8. das Gesundheitswesen, das Veterinärwesen und den Schutz der Pflanzen gegen Krankheiten und SchMinge; 9. das Arbeitsrecht, die Versicherung und den Schutz der Arbeiter und Angestellten sowie den Arbeitsnachweis; 10. die Einrichtung bemflicher Vertretungen für das Reichsgebiet; 11. die Fürsorge für die Kriegsteilnehmer und ihre Hinterbliebenen; 12. das Enteignungsrecht; 13. die Vergesellschaftung von Naturschätzen und wirtschaftlichen Unter­ nehmungen sowie die Erzeugung, Heqtellung, Verteilung und Preis­ gestaltung wirtschaftlicher Güter für die Gemeinwirtschaft; 14. den Handel, das Maß- und Gewichtswesen, die Ausgabe von Papier­ geld, das Bankwesen sowie das Börsenwesen; 15. den Verkehr mit Nahmngs- und Genußmitteln sowie mit Gegenständen des täglichen Bedarfs; 16. das Gewerbe und den Bergbau; 17. das Versichemngswesen; 18. die Seeschiffahrt, die Hochsee- und die Küstenfischerei; 19. die Eisenbahnen, die Binnenschiffahrt, den Verkehr mit Kraftsahrzeugen zu Lande, zu Wasser und in der Luft, sowie den Bau von Landstraßen, soweit es sich um den allgemeinen Verkehr und die Landesverteidigung handelt; 20. das Theater- und Lichtspielwesen. Art. 8. Das Reich hat ferner die Gesetzgebung über die Abgaben und sonstigen Einnahmen, soweit sie ganz ober teilweise für seine Zwecke in Anspruch ge­ nommen werden. Nimmt das Reich Abgaben oder sonsttge Einnahmen in An­ spruch, die bisher den Ländern zustanden, so hat es auf die Erhaltung der Lebens­ fähigkeit der Länder Rücksicht zu nehmen. Art. 9. Soweit ein Bedürfnis für den Erlaß einheitlicher Vorschriften vor­ handen ist, hat das Reich die Gesetzgebung über: 1. die Wohlfahrtspflege; 2. den Schutz der öffentlichen Ordnung und Sicherheit. Art. 10. Das Reich kann im Wege der Gesetzgebung Grundsätze aufstellen für: 1. die Rechte und Pflichten der Religionsgesellschaften; 2. das Schulwesen einschließlich des Hochschulwesens und das wissenschafüiche Büchereiwesen; 3. das Recht der Beamten aller öffentlichen Körperschaften; 4. das Bodenrecht, die Bodenverteilung, das Ansiedlungs- und Heim­ stättenwesen, die Bindung des Gmndbesitzes, das Wohnungswesen und die Bevölkerungsverteilung; 5. das Bestattungswesen.

32

Erster Hauptteil. Ausbau und Aufgaben des Reichs.

Art. 11. Das Reich kann im Wege der Gesetzgebung Grundsätze über die Zuläsiigkeit und Erhebungsart von Landesabgaben aufsteNen, soweit sie erforderlich sind, um 1. Schädigung der Einnahmen oder der Handelsbeziehungen des Reichs, 2. Doppewesteuerungen, 3. übermäßige oder verkehrshindernde Belastung der Benutzung öffent­ licher Beöehrswege und Einrichtungen mit Gebühren, 4. steuerliche Benachteiligungen eingeführter Waren gegenüberden eigenen Erzeugnissen im Verkehre zwischen den einzelnen Ländern und Landesteilen oder 5. Ausfuhrprämien auszuschließen oder wichtige Gesellschaftsinteressen zu wahren.

Art. 12. Solange und soweit das Reich von seinem Gesetzgebungsrechte keinen Gebrauch macht, behalten die Länder das Recht der Gesetzgebung. Dies gilt nicht für die ausschließliche Gesetzgebung des Reichs. Gegen Landesgesetze, die sich aus Gegenstände des Artikel 7 Ziffer 13 be­ ziehen, steht der Reichsregierung, sofern dadurch das Wohl der Gesamtheit im Reiche berührt wird, ein Einspmchsrecht zu.

Art. 13. Reichsrecht bricht Landrecht.

Bestehen Zweifel oder Memunc^verschiedenheiten darüber, ob eine landesrechlliche Vorschrift mit dem Reichsrecht vereinbar ist, so kann die zuständige Reichs- oder Lmrdeszentralbehörde nach näherer Vorschrift eines Reichsgesetzes die Entscheidung eines obersten Gerichtshofs des Reichs anmfen.

Art. 14. Die Reichsgesetze werden durch die Landesbehörden ausgeführt, soweit nicht die Reichsgesetze etwas anderes bestimmen.

Art. 15. Die Reichsregierung übt die Aufsicht in den Angelegenheiten aus, in denen dem Reiche das Recht der Gesetzgebung zusteht. Soweit die Reichsgesetze von den Lmwesbehörden auszuführen sind, kann die Reichsregiemng allgemeine Anweisunyen erlassen. Sie ist ermächttgt, zur Überwachung der Ausführung der Reichsgesetze zu den Land^zentralbehörden und mit ihrer Zustimmung zu den unteren Behörden Beauftragte zu entsenden. Die Landesregierungen sind verpflichtet, auf Ersuchen der Reichsregierung Mängel, die bei der Ausführung der Reichsgesetze hervorgetreten sind, zu be­ seitigen. Bei Meinungsverschiedenheiten kann sowohl die Reichsregierung als die Landesregiemng die Entscheidung des Staatsgenchtshofs anmfen, falls nicht durch Reichsgesetz ein anderes Gericht bestimmt ist.

Art. 16. Die mit der unmittelbaren Reichsverwaltung in den Ländem be­ trauten Beamten sollen in der Regel Landesangehörige sein. Die Beamten, Angestellten und Arbeiter der Reichsverwaltung sind auf ihren Wunsch in ihren Heimatgebieten zu verwenden, soweit dies möglich ist und nicht Rücksichten auf ihre Ausbildung oder Erfordemisse des Dienstes entgegenstehen. Art. 17. Jedes Land muß eine freistaatliche Verfassung haben. Die Volks­ vertretung muß in allgemeiner, gleicher, unmittelbarer uno geheimer Wahl von allen reichsdeutschen Storniern und Frauen nach den Gmndsätzen der Ver­ hältniswahl gewählt werden. Die Landesregiemng bedarf des Vertrauens der Volksvertretung. Die Gmnosätze für die Wahlen zur Volksvertretung gelten auch für die

Gemeindewahlen. Jedoch kann durch Landesgesetz die Wahlberechtigung von -er Tauer des Aufenthalts in der Gemeinde bis zu einem Jahre abhängig gemacht werden.

Art. 18. Die Gliederung des Reichs in Länder soll unter möglichster Berück­ sichtigung des Willens der beteiligten Bevölkemng der wirtschafüichen und kulturellen Höchstleistung des Volkes bienen. Tie Änderung des Gebiets von Ländem und die Neubildung von Ländem innerhalb des Reichs erfolgen durch verfassungsänderndes Reichsgesetz. Stimmen die unmittelbar beteiligten Länder zu, so bedarf es nur eines einfachen Reichsgesetzes. Ein einfaches Reichsgesetz genügt ferner, wenn eines der beteiligten Länder nicht zustimmt, die Gebietsändemng oder Neubildung aber durch den Willen -er Bevölkemng gefordert wird und ein überwiegendes Reichsinteresse sie erheischt. Der Wille der Bevöllemng ist durch Abstimmung festzustellen. Die Reichs­ regierung ordnet die Abstimmung an, wenn ein Drittel der zum Reichstag wahlberechtigten Einwohner des abzutrennenden Gebiets es verlangt. Zum Beschluß einer Gebietsändemng oder Neubildung sind drei Fünftel der abgegebenen Stimmen, mindestens aber die Sttmmenmehrheit der Wahl­ berechtigten erforderlich. Auch wenn es sich nur um Abtrennung eines Teiles eines preußischen Regiemngsbezirkes, eines bayettschen Kreises oder in anderen Ländem eines entsprechenden Verwaltungsbezirkes handelt, ist der Wille der Bevölkemng des ganzen in Betracht kommenden Bezirkes festzustellen. Wenn ein räumlicher Zusammenhang des abzutrennenden Gebiets mit dem Gesamtbezirke nicht besteht, kann auf Gmnd eines besonderen Reichsgesetzes der Wille der Bevöllemng des abzutrennenden Gebiets als ausreichend erklärt werden. Nach Feststellung der Zustimmung der Bevölkemng hat die Reichsregierung dem Reichstag ein entsprechendes Gesetz zur Beschlußfassung vorzulegen. Entsteht bei der Vereinigung oder Abtrennung Streit über die Vermögens­ auseinandersetzung, so entscheidet hierüber auf Anttag einer Partei der Staatsgettchtshof für das Deutsche Reich.

Art. 18. Über Verfassungsstreitigkeiten innerhalb eines Landes, in dem kein Gettcht zu ihrer Erledigung besteht, sowie über Streitigkeiten nichtpttvatrechtlicher Art zwischen verschiedenen Ländem oder zwischen dem Reiche und einem Lande entscheidet auf Antrag eines der streitenden Teile der Staatsgenchtshof für das Deutsche Reich, soweit nicht ein anderer Gerichtshof des Reichs zuständig ist. Der Reichspräsident vollstreckt das Urteil des Staatsgettchtshofs.

Zweiter Abschnitt

Der Reichstag

Art. 20. Der Reichstag besteht aus den Abgeordneten des deutschen Volkes. Art. 21. Die Abgeordneten sind Vertreter des ganzen Volkes. Sie sind nur ihrem Gewissen unterworfen und an Aufträge nicht gebunden.

Art. 22. Die Abgeordneten werden in allgemeiner, gleicher, unmittelbarer und geheimer Wahl von den über zwanzig Jahre alten Männem und Frauen nach Gebhard, Relchsverfassung. 3

34

Erster Hauptteil. Aufbau und Aufgaben des Reichs.

den Grundsätzen der Verhältniswahl gewählt. Der Wahltag muß ein Sonntag oder öffentlicher Ruhetag sein. Das Nähere bestimmt das Reichswahlgesetz.

Art. 28. Der Reichstag wird auf vier Jahre gewählt. Spätestens am sechzigsten Läge nach ihrem Ablauf muß die Neuwahl stattfinden. Der Reichstag tritt zum ersten Male spätestens am dreißigsten Tage nach der Wahl zusammen.

Art. 24. Der Reichstag tritt in jedem Jahre am ersten Mittwoch des November am Sitze der Reichsregierung zusammen. Der Präsident des Reichstags muß ihn sricher berufen, wenn es der Reichspräsident oder mindestens ein Drittel der Reichstagsmitglieder verlangt. Der Reichstag bestimmt den Schluß der Tagung und den Tag des Wieder­ zusammentritts.

Art. 25. Der Reichspräsident kann den Reichstag auflösen, jedoch nur einmal aus dem gleichen Anlaß. Die Neuwahl findet spätestens am sechzigsten Tage nach der Auflösung statt.

Art. 26. Der Reichstag wählt seinen Präsidenten, dessen Stellvertteter und seine Schriftführer. Er gibt sich seine Geschäftsordnung.

Art. 27. Zwischen zwei Tagungen oder Wahlperioden führen Präsident und Stellvertteter der letzten Tagung ihre Geschäfte fort.

Art. 28. Der Präsident übt das Hausrecht und die Polizeigewalt im Reichs­ tagsgebäude aus. Ihm untersteht die Hausverwaltung; er verfügt über die Einnahmen und Ausgaben des Hauses nach Maßgabe des Reichshaushalts und vertritt das Reich in allen Rechtsgeschäften und Rechtsstreittgkeiten seiner Ver­ waltung.

Art. 29. Der Reichstag verhandelt öffentlich. Aus Anttag von fünfzig Mitgliedem kann mit Zweidrittelmehrheit die Öffentlichkeit ausgeschlossen werden.

Art. 30. Wahrheitsgetreue Berichte über die Berhaudlungen in den öffent­ lichen Sitzungen des Reichstags, eines Landtags oder ihrer Ausschüsse bleiben von jeder Verantwortlichkeit frei.

Art. 81. Bei dem Reichstag wird ein Wahlprüfungsgericht gebildet. Es ent­ scheidet auch über die Frage, ob ein Abgeordneter die Mitgliedschaft verloren hat. Das Wahlprüfungsgericht besteht aus Mitgliedem des Reichstags, die dieser für die Wahlperiode wählt, und aus Mitgliedem des Reichsverwaltungsgerichts, die der Reichspräsident auf Vorschlag des Präsidiums dieses Genchts bestellt. Das Wahlprüfungsgericht erkennt auf Grund öffentlicher mündlicher VerhaMung durch drei Mitglieder des Reichstags und zwei richterliche Mitglieder.

Außerhalb der Verhandlungen vor dem Wahlprüfungsgerichte wird das Verfahren von einem Reichsbeaufttagten geführt, den der Reichspräsident er­ nennt. Im übrigen wird das Verfahren von dem Wahlprüfungsgerichte geregelt.

Art. 32. Zu einem Beschlusse des Reichstags ist einfache Stimmenmehrheit erforderlich, sofern die Verfassung kein anderes Stimmenverhältnis vorschreibt. Für die vom Reichstag vorzunehmenden Wahlen kann die Geschäftsordnung Ausnahmen zulassen. Die Beschlußfähigkeit wird durch die Geschäftsordnung geregelt.

Art. 33. Der Reichstag und seine Ausschüsse können die Anwesenheit des Reichskanzlers und jedes Reichsministers verlangen.

Zweiter Abschnitt. Der Reichstag