Die Unionsbürgerfreiheit: Ansprüche der Unionsbürger auf allgemeine Freizügigkeit und Gleichheit unter besonderer Berücksichtigung sozialer Rechte [1 ed.] 9783428523504, 9783428123506

Der EuGH verleiht der Unionsbürgerschaft in seinen Entscheidungen in den letzten Jahren eine rechtliche Tragweite, die i

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Die Unionsbürgerfreiheit: Ansprüche der Unionsbürger auf allgemeine Freizügigkeit und Gleichheit unter besonderer Berücksichtigung sozialer Rechte [1 ed.]
 9783428523504, 9783428123506

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Tübinger Schriften zum internationalen und europäischen Recht Band 92

Die Unionsbürgerfreiheit Ansprüche der Unionsbürger auf allgemeine Freizügigkeit und Gleichheit unter besonderer Berücksichtigung sozialer Rechte

Von Rosemarie Höfler

asdfghjk Duncker & Humblot · Berlin

Rosemarie Höfler · Die Unionsbürgerfreiheit

Tübinger Schriften zum internationalen und europäischen Recht Herausgegeben von Thomas Oppermann in Gemeinschaft mit Heinz-Dieter Assmann K r i s t i a n K ü h l , H a n s v. M a n g o l d t We r n h a r d M ö s c h e l , M a r t i n N e t t e s h e i m Wo l f g a n g G r a f Vi t z t h u m , J o a c h i m Vog e l sämtlich in Tübingen

Band 92

Die Unionsbürgerfreiheit Ansprüche der Unionsbürger auf allgemeine Freizügigkeit und Gleichheit unter besonderer Berücksichtigung sozialer Rechte

Von Rosemarie Höfler

asdfghjk Duncker & Humblot · Berlin

Die Juristische Fakultät der Eberhard-Karls-Universität Tübingen hat diese Arbeit im Sommersemester 2006 als Dissertation angenommen.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

D 21 Alle Rechte vorbehalten # 2009 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fremddatenübernahme: TextFormA(r)t, Daniela Weiland, Göttingen Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0720-7654 ISBN 978-3-428-12350-6 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier ∞ entsprechend ISO 9706 *

Internet: http://www.duncker-humblot.de

Für David

„The right to vote, the right of diplomatic and consular protection and the right of individual petition are, of course, important rights. But for most people most of the time, the right that will take European citizenship out of the realms of Myth or Hope, and into the realm of Reality, is the right of the people of each state to have free ingress and regress to and from every other state.“ Sir David Edward, Dankesrede: Unionsbürgerschaft – Mythos, Hoffnung oder Realität?, in: Böckenförde, Ernst-Wolfgang/Edward, David/Schumann, Erich (Hrsg.), Grundrechte in Deutschland und Europa, Reden zur Ehrenpromotion in Münster, 2002, S. 38.

Vorwort Die vorliegende Arbeit wurde im Sommersemester 2006 von der Juristischen Fakultät der Eberhard-Karls-Universität als Dissertation angenommen. Später ergangene Rechtsprechung fand Berücksichtigung bis zum Sommer 2008. Mein besonderer Dank gilt meinem Doktorvater, Herrn Prof. Dr. Martin Nettesheim, an dessen Lehrstuhl ich tätig war. Er weckte mein Interesse an den aktuellen Problemen der Unionsbürgerschaft. Durch seine Ermutigungen, wertvollen Anregungen und Dialogbereitschaft sowie die Gewährung von Freiräumen hat er wesentlich zum Gelingen dieser Arbeit beigetragen. Auch sämtlichen seinerzeitigen Lehrstuhlmitarbeitern, auf deren Unterstützung ich stets zählen konnte, gilt mein Dank. Dankbar verbunden bin ich überdies Herrn Prof. Dr. Dr. h. c. Wolfgang Graf Vitzthum für die zügige Erstellung des Zweitgutachtens sowie Herrn Prof. Dr. Dr. h. c. Thomas Oppermann für die Aufnahme der Arbeit in die „Tübinger Schriften zum internationalen und europäischen Recht“. Tübingen, im Dezember 2008

Rosemarie Höfler

Inhaltsverzeichnis Inhaltsverzeichnis A. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

15

B. Der Entwicklungsprozess hin zur Unionsbürgerschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

19

I.

II.

Vom homo oeconomicus zum homo europeus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

19

1. Der Marktbürger . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

19

2. Der EU-Bürger . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

20

Politische Ansätze zur Intensivierung der Bürgerstellung in Europa . . . . . . . . . .

22

1. Entwicklung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

22

2. Der Begriff des Unionsbürgers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

23

3. Die Unionsbürgerschaft nach dem Maastrichter Vertrag . . . . . . . . . . . . . . . . .

25

C. Rechtliche Ausprägungen der Unionsbürgerschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

29

I.

Allgemeine Unionsbürgerrechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

29

II.

Die im Zweiten Teil des EGV besonders erwähnten Unionsbürgerrechte . . . . . .

29

1. Politische Rechte des Art. 19 EGV . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

29

a) Kommunalwahlrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

30

b) Europawahlrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

32

2. Diplomatischer und konsularischer Schutz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

34

3. Petitionsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

36

III. Pflichten der Unionsbürger . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

37

IV. Evolutivklausel des Art. 22 EGV und Ermächtigungsgrundlagen . . . . . . . . . . . .

37

D. Das allgemeine Freizügigkeitsrecht als besondere Ausprägung der Unionsbürgerschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

39

I.

Marktbezogene Freizügigkeitsrechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

39

1. Arbeitnehmerfreizügigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

39

a) Das Aufenthaltsrecht der Arbeitnehmer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

40

b) Das Aufenthaltsrecht der Familienangehörigen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

41

c) Diskriminierungsverbot . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

41

d) Soziale Leistungen an Familienangehörige des Arbeitnehmers . . . . . . . . .

43

e) Soziale Leistungen an Studenten im Zusammenhang mit der Arbeitnehmerfreizügigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

44

Inhaltsverzeichnis

10

2. Die Niederlassungsfreiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

45

3. Die Dienstleistungsfreiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

46

Freizügigkeitsrechte im Zusammenhang mit einer Berufsausbildung (sog. „Gravier-Doktrin“) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

47

III. Sekundärrechtliche Freizügigkeitsregelungen: Die drei Aufenthaltsrichtlinien . .

49

1. Bedeutung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

49

2. Entwicklung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

50

3. Inhalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

51

E. Die Unionsbürgerfreiheit im Einzelnen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

53

II.

I.

Allgemeine Entwicklung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

53

II.

Persönlicher Anwendungsbereich: Die Unionsbürger . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

54

1. Die Rechtssache Zhu und Chen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

55

a) Schlussanträge des Generalanwalts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

56

b) Urteil des EuGH . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

57

2. Keine allgemeine Erstreckung auf Drittstaatsangehörige . . . . . . . . . . . . . . . .

58

3. Ausdehnung auf Familienangehörige von Unionsbürgern . . . . . . . . . . . . . . . .

58

4. Anwendung auf Juristische Personen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

59

III. Inhalt des Freizügigkeitsrechts aus Art. 18 I EGV . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

60

1. Bewegungsfreiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

60

2. Aufenthaltsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

61

IV. Artikel 18 EGV als Grundtatbestand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

62

V.

Unmittelbare Anwendbarkeit des Art. 18 EGV . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

67

1. Herleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

67

2. Das Urteil Baumbast und R . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

67

VI. Die Entstehung des Aufenthaltsrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

70

1. Art. 18 I EGV: Grundfreiheit mit Rechtsbegründungsvorbehalt . . . . . . . . . . .

71

2. Art. 18 I EGV: Grundfreiheit mit Schrankenvorbehalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

72

3. Bewertung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

73

4. Die Rechtssache Trojani . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

77

a) Schlussanträge des Generalanwalts L. A. Geelhoed . . . . . . . . . . . . . . . . . .

77

b) Urteil des EuGH . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

78

VII. Das Freizügigkeitsrecht im Verfassungsentwurf und Lissabonner Vertrag . . . . . .

81

VIII. Das Aufenthaltsrecht nach der Freizügigkeitsrichtlinie 2004/38/EG . . . . . . . . . .

82

IX. Drittwirkung des allgemeinen Freizügigkeitsrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

84

1. Anlehnung an die Rechtsprechung zu den besonderen Grundfreiheiten . . . . .

84

2. Anwendungsfall „Stipendienvergabe durch private Organisationen“ . . . . . . .

86

Inhaltsverzeichnis F. Grenzen des Aufenthaltsrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

11 87

I.

Völlige Aufgabe des Sozialvorbehalts? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

87

II.

Regelungen der Aufenthaltsrichtlinien wurden in Art. 18 EGV inkorporiert . . . .

88

III. Verstoß gegen das Europäische Fürsorgeabkommen und die Europäische Sozialcharta? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

89

1. Europäisches Fürsorgeabkommen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

89

2. Europäische Sozialcharta . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

91

IV. Auslegung im Sinne der Unionsbürgerschaft – Reichweite des Sozialvorbehalts

92

1. Die Rechtsprechung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

93

a) Die Rechtssache Grzelczyk . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

93

aa) Schlussanträge des Generalanwalts Alber . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

94

b) Urteil des EuGH . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

95

c) Die Rechtssache Baumbast und R . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

96

2. Reduktion auf einen Zugangsvorbehalt bzw. auf einen Missbrauchsvorbehalt

97

3. Begrenzungen der Einschränkungsmöglichkeiten aufgrund allgemein anerkannter Prinzipien, insbesondere aufgrund des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes . .

99

a) Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

99

b) Abwägungspunkte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 101 c) Besonderheiten für Studenten und Auszubildende . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 104 V.

Erlass aufenthaltsbeschränkender Maßnahmen nach dem Rechtsrahmen der RL 2004/38/EG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 105

VI. Weitere Rechtfertigungsmöglichkeiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 106 1. Der ordre-public-Vorbehalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 106 2. Zwingende Gründe des Allgemeininteresses . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 110 G. Das allgemeine Freizügigkeitsrecht als Beschränkungsverbot . . . . . . . . . . . . . . . . 114 I.

Ausbau der Grundfreiheiten zu Beschränkungsverboten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 114 1. Arbeitnehmerfreizügigkeit und Beschränkungsverbot . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 114 2. Niederlassungsfreiheit und Beschränkungsverbot . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 117 3. Reichweite des Beschränkungsverbots . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 120 a) Von der Rechtsprechung aufgezeigte Einschränkungsmöglichkeiten . . . . . 120 aa) Differenzierung nach Verkaufs- und Produktmodalitäten – Die KeckMithouard-Formel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 120 bb) Parallelproblematik im Rahmen der Personenverkehrsfreizügigkeiten

121

cc) Einschränkung durch die Kriterien der „Spürbarkeit“ und „Unmittelbarkeit“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 122 b) Lösungsansätze der Literatur – Reduktion auf ein Markt-Zugangsbeschränkungsverbot . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 123

Inhaltsverzeichnis

12 II.

Anwendung der Dogmatik des allgemeinen Beschränkungsverbots auf das allgemeine Freizügigkeitsrecht in Art. 18 EGV . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 124 1. Die EuGH-Rechtsprechung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 124 a) Die Rechtssache Wijsenbeek . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 124 aa) Schlussanträge des Generalanwalts Georges Cosmas . . . . . . . . . . . . . 125 bb) Das Urteil des Gerichtshofs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 125 b) Die Rechtssache Elsen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 127 c) Die Rechtssache D’Hoop . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 127 aa) Schlussanträge des Generalanwalts L. A. Geelhoed . . . . . . . . . . . . . . . 128 bb) Die Entscheidung des EuGH . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 129 (1) Diskriminierung grenzüberschreitender Sachverhalte als mittelbare Ungleichbehandlung aufgrund der Staatsangehörigkeit . . . . . . . . . 130 (2) Diskriminierung grenzüberschreitender Sachverhalte als weiterer Anwendungsbereich des Art. 12 EGV . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 131 (3) Diskriminierung grenzüberschreitender Sachverhalte als Beschränkung des Freizügigkeitsrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 131 d) Die Rechtssache Pusa . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 132 aa) Schlussanträge des Generalanwalts Francis G. Jacobs . . . . . . . . . . . . . 133 bb) Entscheidung des EuGH . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 134 e) Die Rechtssache Standesamt Stadt Niebüll . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 135 f) Die Rechtssache De Cuyper . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 136 g) Die Rechtssache Tas-Hagen und Tas . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 137 h) Die Rechtssache Turpeinen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 137 i) Die Rechtssache Europäische Kommission/Bundesrepublik Deutschland . . 138 j) Die Rechtssache Schwarz und Gootjes-Schwarz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 138 k) Die Rechtssache Morgan/Bucher . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 138 2. Auslegung des Art. 18 EGV . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 139 a) Der Wortlaut des Art. 18 EGV . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 139 b) Stellung des Art. 18 im Zweiten Teil des EGV . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 140 c) Art. 18 EGV als Auffangbeschränkungstatbestand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 140 d) Bedeutung des Unionsbürgerstatus im Rahmen des Art. 18 EGV . . . . . . . . 141 e) Gesamtzusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 142 3. Reichweite des Beschränkungsverbots in Art. 18 EGV . . . . . . . . . . . . . . . . . . 143

III. Rechtfertigung einer Beschränkung durch zwingende Erfordernisse des Allgemeininteresses . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 146

Inhaltsverzeichnis

13

H. Sozialrechtlicher Gleichbehandlungsanspruch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 149 I.

Begriff und Abgrenzung zu anderen Diskriminierungsverboten . . . . . . . . . . . . . 150

II.

Sachlicher Anwendungsbereich des Art. 12 EGV (ratione materiae) . . . . . . . . . . 151 1. Vorliegen eines EG-rechtlichen Kompetenztitels . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 152 2. Vorliegen einer gemeinschaftsrechtlich geregelten Situation . . . . . . . . . . . . . . 152 a) Die Rechtssache Bickel und Franz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 153 aa) Schlussanträge des Generalanwalts Jacobs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 154 bb) Urteil des EuGH . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 154 b) Die Rechtssache Martínez Sala . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 156 aa) Schlussanträge des Generalanwalts La Pergola . . . . . . . . . . . . . . . . . . 156 bb) Urteil des EuGH . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 157 c) Sozialhilfe im Ausland . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 161 3. Soziale Kompetenzen der EU . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 161 4. Der dynamische Anwendungsbereich entsprechend dem Stand der europäischen Integration . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 164 5. Tatbestandliche Reduktion des Anwendungsbereichs durch die Bedingungen und Beschränkungen des Art. 18 EGV? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 167 6. Ausdehnung des Anwendungsbereichs auf bilaterale bzw. multilaterale Abkommen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 169

III. Grenzüberschreitender Bezug . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 170 IV. Unmittelbare und mittelbare Diskriminierungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 171 V.

Derivatives Teilhaberecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 172

VI. Ökonomische Auswirkungen auf den Sozialstaat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 173 VII. Rechtfertigungsmöglichkeiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 176 1. Die Rechtssache Avello . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 178 2. Die Rechtssache Collins . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 180 a) Schlussanträge des Generalanwalts Colomer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 181 b) Urteil des EuGH . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 182 3. Die Rechtssache Bidar . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 184 a) Schlussanträge des Generalanwalts L. A. Geelhoed . . . . . . . . . . . . . . . . . . 185 b) Urteil des EuGH . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 186 VIII. Gleichbehandlung nach der Freizügigkeitsrichtlinie 2004/38/EG . . . . . . . . . . . . 187 IX. Grenzen der negativen Integration . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 189

Inhaltsverzeichnis

14

I. Die Unionsbürgerschaft als verfassungstheoretische Herausforderung . . . . . . . . . 191 I.

Erste Bewertungen der Idee einer Unionsbürgerschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 191

II.

Einordnung der Unionsbürgerschaft in die verschiedenen Konzepte . . . . . . . . . . 193 1. Zur Rechtsnatur der Europäischen Union . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 193 a) Begriff der Europäischen Union . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 193 b) Abgrenzung zum Staatenbund und zur Internationalen Organisation . . . . . 194 c) Die EU als supranationale Organisation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 195 d) Bewertung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 195 e) Europäischer Bundesstaat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 196 2. Staatsangehörigkeit und Staatsbürgerschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 197 a) Strukturmerkmale der Staatsangehörigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 199 b) Rechte der Staatsangehörigen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 200 3. Die Unionsbürgerschaft – keine Staatsangehörigkeit bzw. Staatsbürgerschaft im klassischen Sinn . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 200 4. Die Vorstellung von einer post-nationalen Bürgerschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . 203 5. Das europäische Indigenat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 204

III. Die Suche nach einer europäischen Identität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 206 1. Voraussetzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 206 2. Bedeutung für die Unionsbürgerrechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 209 J. Zusammenfassung in Thesen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 212 Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 214 Sachverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 232

A. Einleitung A. Einleitung Nach der bis zur Mitte der neunziger Jahre gefestigten Rechtsprechung konnten nichterwerbstätige Unionsbürger ihren Aufenthalt in einen anderen Mitgliedstaat nur verlegen, wenn sie über ausreichende Existenzmittel sowie einen angemessenen Krankenversicherungsschutz verfügten. Ein Anspruch auf Gleichbehandlung bei sozialen Grundleistungen war grundsätzlich nicht gegeben. Diese Rechte waren v. a. auf die an der Wirtschaft teilnehmenden Bürger (Arbeitnehmer, Niedergelassene, Dienstleistungserbringer) beschränkt. Mittlerweile gibt es eine ganze Serie von Entscheidungen des EuGH, in denen dieser die Unionsbürgerschaft i. V. m. dem Freizügigkeitsrecht des Art. 18 EGV nutzbar macht. Der Gerichtshof befreit dabei die Unionsbürgerschaft von ihrem Schattendasein und füllt sie mit rechtlicher Substanz. Damit einher geht die Aufwertung des Freizügigkeitsrechts der Nichterwerbstätigen hin zum Unionsbürgerfreizügigkeitsrecht. Art. 18 EGV verkörpert das grundlegende Recht der Unionsbürger, sich innerhalb der Europäischen Union frei zu bewegen und aufzuhalten. Dabei hat sich das Freizügigkeitsrecht von seinem wirtschaftlichen Bezug emanzipiert. Hinzu kommt, dass der EuGH, im Wege einer, das Recht fortbildenden Verknüpfung zwischen Diskriminierungsverbot (Art. 12 EGV), Freizügigkeitsrecht (Art. 18 EGV) und Unionsbürgerschaft (Art. 17 EGV) im Grunde allen Unionsbürgern unabhängig von ihrer wirtschaftlichen Stellung, einen Anspruch auf Partizipation an den Sozialleistungen des Aufenthaltsstaates zuspricht. Diese sozialen Rechte der Unionsbürger ergeben sich bereits aus dem der Unionsbürgerschaft innewohnenden Gedanken der transnationalen Gleichheit. Offen ist insbesondere aber nach wie vor, wo die Grenzen dieser Rechte auszumachen sind. Diese Novitäten fordern natürlich auf vielfältige Weise zu einer kritischen Auseinandersetzung heraus. Insgesamt steht die wissenschaftliche Aufarbeitung der dargelegten Entwicklungen erst am Anfang. Während ein Teil diese Rechtsentwicklungen – insbesondere unter rechtspolitischen Gesichtspunkten – begrüßt,1 stößt sie in der wissenschaftlichen Literatur und darüber hinaus in der Politik auch auf heftige Kritik. Dies verwundert nicht, ist doch die eingeschlagene Rechtsentwicklung von erheblicher politischer Brisanz. Die Sozialpolitik liegt nach wie vor

1 Vgl. Kokott, Die Freizügigkeit der Unionsbürger als neue Grundfreiheit, Völkerrecht als Weltordnung, Festschrift für Christian Tomuschat, S. 207 ff.; Borchardt, NJW 2000, 2057; etwas einschränkender: ders.,EuZW 2001, S. 321; Höfler, NVwZ 2002, S. 1206; Höfler, Aussenwirtschaft 2004, S. 303; Soria, JZ 2002, S. 643; Kanitz/Steinberg, EuR 2003, S. 1013; Jacqueson, E. L.Rev. 27 (2002), S. 260; Scheuing, EuR 2003, S. 744; Cremer, WissR 2003, S. 128.

A. Einleitung

16

weitestgehend im Kompetenzbereich der Mitgliedstaaten;2 diese Entwicklung beschneidet daher in einem höchst sensiblen Bereich die mitgliedstaatlichen Handlungsspielräume.3 Daneben sind die einzelnen mitgliedstaatlichen Sozialsysteme zum Teil sehr unterschiedlich ausgestaltet, so dass eine Öffnung für Unionsbürger gleichzeitig eine Koordinierung oder gar Harmonisierung erforderlich machen könnte. Insbesondere auch unter Ökonomen ist eine Debatte über die Auswirkungen und die Gefahr eines „Sozialtourismus“ entbrannt. Zudem wird eine in ihrem Personenkreis erweiterte sozialstaatliche Umverteilung angesichts der leeren Kassen der Sozialsysteme sehr spannungsgeladen diskutiert; es vergeht kaum eine Woche, ohne dass neue Meldungen über Staatsverschuldung, Arbeitslose und Sozialversicherungsbeiträge erscheinen. Insbesondere der Inanspruchnahme steuerfinanzierter Sozialleistungen wohnt eine immense Sprengkraft inne. Angesichts der stark divergierenden Lohnunterschiede und Bruttoinlandsprodukte in den einzelnen EU-Mitgliedstaaten bestehen möglicherweise Anreize einer sozial bedingten Migration. Auch im Hinblick auf die Osterweiterung der Europäischen Union ist eine Diskussion um die befürchteten Auswirkungen entbrannt. Während für die Arbeitnehmer Übergangsvorschriften eingerichtet wurden, welche die Freizügigkeit für einen Zeitraum von maximal bis zu 7 Jahre beschränken, können Unionsbürger, welche nicht erwerbstätig sind, seit Beitritt ihrer Landes zur EU von ihrer Freizügigkeit Gebrauch machen und dabei die gleichen Rechte wie die eigenen Staatsangehörigen des Aufenthaltsmitgliedstaates beanspruchen. Im Übrigen ist die eingeschlagene Entwicklung dem Vorwurf ausgesetzt, sie führe zu einer Überdehnung des mit der Unionsbürgerschaft angelegten Konzepts, da sie über den bislang erreichten Stand der Integration hinausgehe. Prinzipiell werden Rechte auf soziale Teilhabe den Mitgliedern einer Solidargemeinschaft gewährt. Voraussetzung dafür ist regelmäßig, dass der Teilhabende als Mitglied der Gemeinschaft akzeptiert wird. Dies setzt eine gewisse Integration voraus. Begreifen sich die Bürger der Europäischen Union als eine so enge Gemeinschaft? Die eingeschlagene Rechtsentwicklung des EuGH wird aber auch in dogmatischer Hinsicht beanstandet.4 So wird dem Gerichtshof vorgehalten, seine Urteile stünden im Widerspruch zu dem Bedeutungsgehalt der drei Aufenthaltsrichtlinien und des Art. 18 EGV. Dabei wird ihm insbesondere vorgeworfen, das Verhältnis von Sekundär- und Primärrecht zu missachten sowie im Zuge einer rechtspoli-

2

Zu sozialpolitischen Kompetenzen der EU und der Mitgliedstaaten eingehend: unten H. II. 3. 3 Zur grundlegenden Frage der Vereinbarkeit der vom EuGH eingenommenen Rolle als pouvoir constituant mit den Grundsätzen von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit: Peters, Elemente einer Theorie der Verfassung Europas, S. 410. 4 Hailbronner, 2004, S. 2185 ff.; Bode, EuZW 2003, S. 552; Tomuschat, C. M. L.Rev. 2000, S. 449; Randelzhofer/Forsthoff, in: Grabitz/Hilf, Art. 39 Rdn. 191 ff.; vgl. auch: Martin, European Journal of Migration and Law, 2002, Band 4, S. 139.

A. Einleitung

17

tisch motivierten Zielsetzung und mit „mystischen Formulierungen“5 das Recht unter Missachtung der gängigen Auslegungstopoi fortzubilden. Diesbezüglich tut sich insbesondere Hailbronner hervor; er sieht den eindeutigen Wortlaut der Richtlinien und des Art. 18 EGV sowie die Entstehungsgeschichte dieser Vorschriften missachtet.6 Die Aktualität und Brisanz dieser Entwicklung liegt auf der Hand. So hat die eingeschlagene Rechtsentwicklung seit dem Jahr 2001 bereits innerhalb kürzester Zeit zu einer Vielzahl weiterer Vorlageverfahren geführt. Die Auswirkungen betreffen potenziell alle Lebensbereiche. Auch in der deutschen Rechtsordnung sind weitere aus gemeinschaftsrechtlicher Sicht problematische Fälle vorstellbar. Zunächst unterscheidet bereits das Grundgesetz zwischen sog. Deutschen- und Menschengrundrechten. Die Menschen- oder Jedermann-Rechte knüpfen nicht an die Nationalität an. Im Gegensatz dazu schützen die Deutschengrundrechte (wie z. B. Art. 12, 9, 8 GG) nur das Verhalten Deutscher. Auch Art. 19 Abs. 3 GG gewährleistet nur inländischen juristischen Personen Grundrechtsschutz. Der Anwendungsvorrang des EG-Rechts erstreckt sich auf das Grundgesetz,7 so dass diese Diskriminierungen aus Gründen der Staatsangehörigkeit nicht mit Art. 12 EGV zu vereinbaren sind. Prinzipiell gibt es zwei Möglichkeiten, dieser Diskriminierung gegenüber Unionsbürgern abzuhelfen. Zum einen kann der persönliche Anwendungsbereich des betreffenden Grundrechts auch auf Unionsbürger ausgedehnt werden. Zum anderen ist es möglich, dass die Unionsbürger über das Auffanggrundrecht des Art. 2 Abs. 1 GG geschützt werden, wobei die aus den speziellen Deutschengrundrechten geltenden Schrankenregelungen entsprechend anzuwenden sind.8 In das Blickfeld könnte auch z. B. die Regelung des Personalstatus in Art. 5 Abs. 1 Satz 2 EGBGB gelangen. Für den Fall der doppelten Staatsangehörigkeit wird dabei geregelt, dass, wenn jemand auch Deutscher ist, diese Rechtsstellung vorgeht. Es ist äußerst fraglich, ob dieser pauschale Anwendungsvorrang des deutschen Rechts und nicht beispielsweise des Rechts des Staates, mit dem die Person am engsten verbunden ist, gerechtfertigt ist. Auch auf ganz anderem Gebiet wie dem des Jagdrechts sind diskriminierende Regelungen auszumachen. Nach § 17 Abs. 2 Nr. 2 Bundesjagdgesetz kann Personen, die nicht Deutsche im Sinne des Art. 116 GG sind, der Jagdschein versagt werden. Diese unmittelbar diskriminierende Vorschrift verstößt gegen Art. 12 EGV. Darüber hinaus kann auch nach Nr. 3 der betreffenden Vorschrift Personen, 5

FAZ vom 18. August 2004, „Die Europarichter weiten Sozialleistungen zu stark aus“,

S. 9. 6 Hailbronner, NJW 2004, S. 2185 ff.; vgl. bereits Hailbronner, ZAR 2002, S. 7; ders., EuzW 1991, S. 171 (179). 7 EuGH, Rs. 11/70, Internationale Handelsgesellschaft mbH, Slg. 1970, 1125, (1135) Rdn. 3; Rs. 106/77, Simmenthal, Slg. 1978, 629 (644 f.) Rdn. 23. 8 Ausführlich dazu: Wernsmann, JURA 2000, S. 657 ff.

18

A. Einleitung

die nicht mindestens 3 Jahre ihren Wohnsitz oder ununterbrochenen gewöhnlichen Aufenthalt im Geltungsbereich des Bundesjagdgesetzes haben, die Jagderlaubnis vorenthalten werden. Zu prüfen wäre, ob diese Bestimmung nicht gerechtfertigt sein könnte, da nach § 1 Bundesjagdgesetz mit dem Jagdrecht auch bestimmte Pflichten verbunden sind, welche gegebenenfalls eine Anwesenheit im Bundesgebiet erforderlich machen könnten.9 Innerhalb dieser Arbeit wird diese Rechtsentwicklung des EuGH in ihren einzelnen Facetten untersucht und gewürdigt.10 Dabei wird die Debatte trotz ihrer wechselseitigen Verflechtung auf vier Grundfragestellungen eingegrenzt: In einem ersten Schwerpunkt geht es um die Frage der Entstehung des Freizügigkeitsrechts für Unionsbürger. Hierbei wird insbesondere zu untersuchen sein, ob das Recht erst entsteht, wenn ausreichende Existenzmittel vorliegen, oder ob die in Art. 18 EGV erwähnten Vorbehalte nicht lediglich als Schrankenregelung aufzufassen sind. Im zweiten Teil wird erörtert, unter welchen Voraussetzungen das Aufenthaltsrecht wegen Inanspruchnahme sozialer Leistungen entzogen werden kann. Der dritte Teil der Arbeit widmet sich der Frage, ob und inwiefern Art. 18 EGV ein Beschränkungsverbot enthält. Es ist hierbei zu klären, ob an der Vorschrift alle Maßnahmen zu messen sind, die die Ausübung des Freizügigkeitsrechts beschränken. Der sich anschließende vierte Teil beschäftigt sich mit dem Gleichbehandlungsanspruch. Im Vordergrund steht dabei die Frage, bis zu welchem Umfang Unionsbürger in sozialer Hinsicht gleich zu behandeln sind. Abschließend wird diese Rechtsentwicklung noch auf dem Hintergrund einiger theoretischer Erwägungen einzuordnen versucht.

9 Weitere problematische Vorschriften: Artikel 10-Gesetz: Nach § 5 Abs. 2 Satz 3 gilt die Regelung des Satz 2 – welcher nur unter eingeschränkten Voraussetzungen einen Eingriff in das Brief-, Post- und Fernmeldegeheimnis erlaubt – nicht für Telekommunikationsanschlüsse im Ausland, sofern ausgeschlossen werden kann, dass Anschlüsse, deren Inhaber oder regelmäßiger Nutzer deutsche Staatsangehörige sind, gezielt erfasst werden. Dieses negative Tatbestandmerkmal führt zu einer Diskriminierung von Unionsbürgern mit nicht-deutscher Staatsangehörigkeit. Ein weiteres Beispiel ist § 23 Abs. 4 Zivildienstgesetz; er sieht für eine länger als 3 Monate dauernde Abwesenheit von der Bundesrepublik ein Genehmigungserfordernis vor. Dieses Erfordernis beeinträchtigt das Freizügigkeitsrecht, wird aber wie die entsprechende Regelung des Wehrpflichtgesetzes gerechtfertigt sein (vgl. BVerwG, Urteil vom 10.11.1999, 6 C 30/98 = NVwZ 2000, 1290 ff). 10 Auf die vielfach diskutierte Frage nach den Grenzen der Rechtsauslegung kann jedoch im Rahmen der vorliegenden Arbeit nicht näher eingegangen werden. Vgl. dazu statt Vieler: Pernice/Mayer, in: Grabitz/Hilf, Art. 220 Rdn. 46 ff.; Dänzer-Vanotti, Der Europäische Gerichtshof zwischen Rechtsprechung und Rechtsetzung, in: Due/Lutter/Schwarze (Hrsg.), FS Ulrich Everling, Band 1, 1995, S. 205 ff.

B. Der Entwicklungsprozess hin zur Unionsbürgerschaft B. Der Entwicklungsprozess hin zur Unionsbürgerschaft Die in dem heutigen Art. 17 EGV verankerte Unionsbürgerschaft und die nachfolgenden Unionsbürgerrechte sind das Ergebnis einer längeren Entwicklung. Im Folgenden wird dieser Entstehungsprozess mit seinen historischen und rechtspolitischen Hintergründen dargestellt.

I. Vom homo oeconomicus zum homo europeus I. Vom homo oeconomicus zum homo europeus

1. Der Marktbürger Die in den fünfziger Jahren gegründeten drei Europäischen Gemeinschaften (Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl, Europäische Atomgemeinschaft und Europäische Wirtschaftsgemeinschaft) sollten primär die wirtschaftliche Integration der Mitgliedstaaten verwirklichen;1 der Einzelne trat dabei vorrangig als „Produktionsfaktor Arbeit“ oder „wirtschaftliches Humankapital“ in Erscheinung.2 Neben dem primären Ziel der Integration der Volkswirtschaften strebten die Mitgliedstaaten aber bereits eine Weiterentwicklung der Europäischen Gemeinschaften an. So gehört es laut Präambel des EGKS-Vertrags zu den Zielvorstellungen, „… an die Stelle der jahrhundertealten Rivalitäten einen Zusammenschluß ihrer wesentlichen Interessen zu setzen, durch die Errichtung einer wirtschaftlichen Gemeinschaft den ersten Grundstein für eine weitere und vertiefte Gemeinschaft unter Völkern zu legen …“. Gleiches gilt für die europäische Wirtschaftsgemeinschaft, welche nach ihrer Präambel auch dazu dient, „die Grundlagen für einen immer engeren Zusammenschluß der europäischen Völker zu schaffen.“ Dabei kam von Anbeginn an der Stellung des Einzelnen in den Europäischen Gemeinschaften eine besondere Bedeutung zu. So äußerte sich Jean Monnet bereits im Jahre 1955 wie folgt: „We do not create a union of States, we unite people.“3 Insbesondere die EuGH- Rechtsprechung zu der unmittelbaren Anwendbarkeit von Normen des Gemeinschaftsrechts und der Schaffung subjektiver Rechte4 verhalf der grundlegenden Rechtsstellung des Einzelnen in den Europäischen Gemeinschaften zum Durchbruch. Die Inanspruchnahme dieser Rechte 1 2 3 4

Oppermann, Sinn und Grenzen einer EG-Angehörigkeit, FS Karl Doehring, S. 715. Kotalakidis, Von der nationalen Staatsangehörigkeit, S. 136. Zitiert bei: Kotalakidis, Von der nationalen Staatsangehörigkeit, S. 135. Grundlegend: EuGH, Rs. 26/62, Van Gend en Loos, Slg. 1963, 1 ff.

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B. Der Entwicklungsprozess hin zur Unionsbürgerschaft

konnte allerdings nur im Zusammenhang mit einer wirtschaftlichen Betätigung erfolgen. Denn der Einzelne leitete seine Rechte gerade aus seiner Eigenschaft als Teilnehmer am Gemeinsamen Markt ab. Der von Hans Peter Ipsen geprägte Begriff des „Marktbürgers“5 bringt diese Verknüpfung und den daraus folgenden funktionell beschränkten Status,6 nämlich die „nur ökonomische Teilhabe an der Vergemeinschaftung“7, sehr anschaulich zum Ausdruck. Ihre besondere Ausprägung fand die Marktbürgerschaft in der Freizügigkeit der Arbeitnehmer, der Niederlassungs- und der Dienstleistungsfreiheit. 2. Der EU-Bürger Die Gemeinschaftsorgane und die Rechtsprechung des EuGH haben über die Jahre hinweg ein ganzes Bündel von Rechten für Bürger geschaffen, welche maßgeblich die wissenschaftlichen und politischen Diskussionen um ein Europa der Bürger unterstützten.8 Einen großen Beitrag in Richtung eines Europas der Bürger leistete die ständige Vertragspraxis der Gemeinschaftsorgane, welche die Entwicklung vorantrieb, indem sie die unmittelbaren Rechtsbeziehungen zwischen den natürlichen oder juristischen Personen und der Gemeinschaft permanent ausweitete. Erwähnt seien an dieser Stelle insbesondere die Erweiterung des Aufenthaltsrechts, die Förderung der sozialen Gleichstellung sowie die Gewährleistung politischer Rechte.9 Wichtiger Wegbereiter waren das Freizügigkeitsrecht sowie das Niederlassungsrecht; beide sind – im Gegensatz zur Dienstleistungsfreizügigkeit – auf Dauer angelegt. Bedingt durch die zunehmende dauerhafte Eingliederung der von der Freizügigkeit Gebrauch machenden Bürger in die Arbeitswelt des Aufenthaltsstaates, stellte sich die berechtigte Frage nach den politischen und gesellschaftlichen Rechten dieser Bürger. Besonders deutlich zutage tritt diese Situation, wenn man sich nochmals vor Augen führt, dass (unter näher bestimmten Voraussetzungen) bereits nach Art. 1 der RL 90/365/EWG aus dem Erwerbsleben ausgeschiedene Arbeitnehmer und selbständig Erwerbstätige im Hoheitsgebiet des Aufenthaltsmitgliedstaates verbleiben dürfen. Nach Art. 10 der VO 1612/68 dürfen Familienangehörige eines freizügigkeitsberechtigten Arbeitnehmers auch im Aufnahmemitgliedstaat Wohnung nehmen und an bestimmten Sozialleistungen teilhaben (vgl. BAföG-Bezug für „bildungsinländische“10 Kinder 5 So erstmals Ipsen auf dem Zweiten FIDE-Kongreß in Den Haag, 1963; Ipsen/Nicolaysen, NJW 1964, S. 340 Anm. 2; ders., Europäisches Gemeinschaftsrecht, S. 187 ff. 6 Grabitz, Europäisches Bürgerrecht, S. 68; Hilf, EuR 1997, S. 347. 7 Ipsen/Nicolaysen, NJW 1964, S. 340 Anm. 2. 8 Everling, ZfRV 1992, S. 241; Evans, American Journal of Comparative Law 1984, S. 679; Everling, in: Hrbek (Hrsg.), Bürger und Europa, S. 49 (51). 9 Dazu eingehend: Magiera, DÖV 1987, S. 221 ff. 10 Oppermann, Vom Marktbürger zum EG-Bürger?, Lüneburger Symposium für Hans Peter Ipsen, S. 87 (91); Nach der Entscheidung des EuGH, Rs. C-308/89, Carmina di Leo, Slg. 1990, I-4185, Rdn. 17 gilt dies auch für den Fall, dass die Kinder eine Ausbildung oder ein Studium in ihrem Heimatstaat aufnehmen.

I. Vom homo oeconomicus zum homo europeus

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von Arbeitnehmern oder Selbstständigen). Diese Normen durchbrachen bereits den streng an die wirtschaftliche Betätigung gekoppelten Status des Einzelnen in Europa. Daneben trug maßgeblich der EuGH in seiner Eigenschaft als Motor der Integration zur Fortentwicklung dieses begonnenen Integrationsprozesses bei. So ist es nach seiner Judikatur nicht erforderlich, dass die Definition des Begriffs der „sozialen Vergünstigung“ in Art. 7 Abs. II der VO Nr. 1612/68 notwendigerweise an einen Arbeitsvertrag anknüpft.11 Eine weitere Ausdehnung fand statt, indem Touristen als passive Dienstleistungsempfänger angesehen werden12, sowie auch durch eine extensive Interpretation des Art. 7 EWGV, wonach es möglich war, das Freizügigkeitsrecht auf Studenten auszudehnen (sog. Gravier-Doktrin).13 Zusätzlich erarbeitete der Gerichtshof eine Reihe wichtiger Grundrechte und allgemeiner innerhalb der Gemeinschaftsrechtsordnung geltender Rechtsgrundsätze.14 Das Fortschreiten des Integrationsprozesses in Europa in den siebziger und achtziger Jahren des letzten Jahrhunderts ließ Diskussionen aufkommen über ein Europa der Bürger und über die Frage, ob sich die Rechtspositionen der Bürger nicht qualitativ verändert hätten.15 Die Europawissenschaft hat Begriffe wie „EU-Bürgerschaft“ oder „EU-Angehörigkeit“ diskutiert, welche an die Stelle der Marktbürgerschaft treten sollten. Den ersten Anstoß hierzu gab Eberhard Grabitz. Bereits 1970 forderte er ein allgemeines europäisches Bürgerrecht,16 welches unabhängig von einem Marktbezug Bestand haben sollte. Dabei mahnte er vor allem an, die politische Diskriminierung der EWG-Bürger in den Aufenthaltsmitgliedstaaten abzubauen, welche sich bislang in dem fehlenden Wahl- und Stimmrecht, dem nicht vorhandenen Recht auf Zugang zu öffentlichen Ämtern und der Nichtgewährleistung der Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit manifestierte.

11 EuGH, Rs. 9/74, Casagrande, Slg. 1974, 773 ff.; EuGH, Rs. 94/84 Deak, Slg. 1985, 1873. 12 EuGH, Rs. 296/82 und 26/83, Luisi und Carbone, Slg. 1984, 377 ff. 13 EuGH Rs. 293/83, Gravier, Slg. 1985, 593 (611); Oppermann, EG-Angehörigkeit, S. 713 (717). 14 Siehe dazu ausführlich: Kotalakidis, Von der nationalen Staatsangehörigkeit, S.140 f.: z. B.: die Achtung der Privatsphäre, des Briefverkehrs, die Unverletzlichkeit der Wohnung, die Achtung des Familienlebens, der Anspruch auf ein faires Verfahren, der Anspruch auf rechtliches Gehör. Grundlegend: EuGH, Rs. 29/69, Stauder, Slg. 1969, 425. 15 Oppermann, Vom Marktbürger zum EG-Bürger?, Lüneburger Symposium für Hans Peter Ipsen S. 87 ff.; Tomuschat, Cahiers de Droit Européen 1976, S. 58 ff.; Magiera, DÖV 1987, S. 221 f.; ders.; in: Magiera (Hrsg.), Europa der Bürger in einer Gemeinschaft ohne Binnengrenzen, S. 13; Berghe van den/Huber, GS Sasse, S. 755 ff.; Closa, CMLR 1992, S. 1137. 16 Grabitz, Europäisches Bürgerrecht, S. 103 ff.

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B. Der Entwicklungsprozess hin zur Unionsbürgerschaft

II. Politische Ansätze zur Intensivierung der Bürgerstellung in Europa II. Politische Ansätze

1. Entwicklung Parallel zu der geschilderten Entwicklung gab es auch politische Bestrebungen, den Integrationsprozess über den rein wirtschaftlichen Aspekt hinaus zu gestalten. Erste Ansätze gingen von der Haager Gipfelkonferenz im Jahr 1969 aus.17 Diese Bestrebungen wurden auf den Gipfelkonferenzen von Paris im Oktober 1972 und von Kopenhagen im Dezember 197318 erneut betont. Schließlich bekam dann 1974 auf dem Pariser Gipfeltreffen eine Arbeitsgruppe den Auftrag, zu untersuchen, „unter welchen Voraussetzungen und mit welchen Fristen den Bürgern der neun Mitgliedstaaten besondere Rechte als Angehörige der Gemeinschaft zuerkannt werden könnten“.19 Die Europäische Kommission legte 1975 einen Bericht mit der Überschrift: „Europa für die Bürger“ vor und definierte als solche „besonderen Rechte“ vor allem das Kommunalwahlrecht, das Recht auf Zugang zu öffentlichen Ämtern unterhalb der nationalen Ebene sowie die Ausübung des Versammlungs- und Vereinigungsrechts.20 Im gleichen Jahr legte auch der belgische Premierminister Leo Tindemans den im Auftrag der Pariser Gipfelkonferenz erstellten Bericht vor.21 Ziel dieser Ansätze war die verbesserte Integration der EUBürger im Aufnahmemitgliedstaat sowie allgemein die Schaffung einer gemeinsamen Identität und mehr Bürgernähe in Europa.22 Die gesammelten Ergebnisse haben die Vertragsparteien aber nur vereinzelt und sehr zögerlich umgesetzt. Das Europäische Parlament schlug 1975 eine „Charta der Bürgerrechte der EG“ vor, „um den Bürgern der Gemeinschaft das Gefühl einer Schicksalsgemeinschaft zu vermitteln“.23 In die gleiche Richtung weist der im Auftrag des Europäischen Parlaments verfasste Scelba-Bericht aus dem Jahr 1977.24 Ein Meilenstein im Bereich der Entwicklung eines allgemeinen Bürgerrechts war die Einführung der Direktwahlen 1976/79 zum Europäischen Parlament.25 In 17 Vgl. Schlusskommuniqué der Konferenz der Staats- und Regierungschefs vom 2. Dezember 1969 in Haag, Bulletin EG 1/1970, S. 12; Oppermann, EG-Angehörigkeit, S. 717; Rothfuchs, Traditionelle Personenverkehrsfreiheiten, S. 138 f.; Sauerwald, Die Unionsbürgerschaft, S. 46 f. 18 Erklärung zur „europäischen Identität“ mit dem Hinweis auf die Achtung der Menschenrechte. 19 Kommuniqué der Konferenz der Regierungschefs in Paris vom 9. und 10. Dezember 1974, Bulletin EG 12/1974, S. 9, Tz. 11. 20 Europa für die Bürger, Bulletin EG, 1975, Beilage 7. 21 Tindemans-Bericht vom 29. Dezember 1975, Bulletin EG, 1976, Beilage 1. 22 Tindemans-Bericht vom 29. Dezember 1975, Bulletin EG, 1976, Beilage 1, S. 29 ff. 23 ABl. 1975, C 179/30. 24 EP 1977–8, Doc. 246/1977, S.10, dazu: Kotalakidis, Von der nationalen Staatsangehörigkeit, S. 143. 25 Oppermann, Lüneburger Symposium für Hans Peter Ipsen, S. 87 (92): „wohl den eigentlichen, auch rechtlich eindeutigen Schritt über den Rubikon von der Markt- zur EG-Bürgerschaft“.

II. Politische Ansätze

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einer gemeinsamen Erklärung aus dem Jahr 1977 erkannten die Gemeinschaftsorgane die vom EuGH geschaffenen Grundrechte im Gemeinschaftsrecht an.26 1979 legte die Kommission dann einen auf Art. 235 EWGV und Art. 56 Abs. II EWGV gestützten Entwurf für eine Richtlinie zur Regelung eines allgemeinen Aufenthaltsrechts vor.27 Der Rat nahm den Entwurf zunächst nicht an, führte dann aber schließlich 1990 zur Verabschiedung der drei Richtlinien über das Aufenthaltsrecht der Studenten, Rentner und sonstigen nicht Erwerbstätigen.28 Trotz der Zugeständnisse an die Mitgliedstaaten in Bezug auf ausreichende Existenzmittel und einen angemessenen Krankenversicherungsschutz hat es über 10 Jahre gedauert, bis diese Aufenthaltsrichtlinien zustande kamen; das zeigt, welche grundsätzlichen Hemmnisse in den Mitgliedstaaten der EG vorhanden waren.29 Zurückgehend auf die Überlegungen zu einer Passunion30 vereinbarten die Mitgliedstaaten in einer Entschließung vom 23.6.198131 sowie vom 21.6.1982,32 bis zum Jahre 1985 die äußere Form der Pässe der Mitgliedstaaten zu vereinheitlichen (lila Europapass). Die Bundesrepublik Deutschland hat dieses Vorhaben am 19.2.1986 verwirklicht.33 Damit soll das Europa der Bürger anhand äußerer Kennzeichen verdeutlicht werden. In diesem Sinne ist auch die Europaflagge, die Europahymne, die Ernennung europäischer Städte zur Kulturhauptstadt Europas und dergleichen zu sehen.

2. Der Begriff des Unionsbürgers Der Begriff des „Unionsbürgers“ wurde erstmals im Jahr 1984 im sog. SpinelliVertragsentwurf zur Gründung einer Europäischen Union erwähnt. Artikel 3 umschreibt die Rechtsstellung der Unionsbürger wie folgt: „Die Bürger der Mitgliedstaaten sind als solche Bürger der Union. Die Unionsbürgerschaft ist an die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats gebunden; sie kann nicht selbständig erworben oder verloren werden. Die Unionsbürger nehmen am politischen Leben der Union in den durch diesen Vertrag vorgesehenen Formen

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ABl. 1977, C 103/1 ff. Vorschlag für eine Richtlinie des Rates über das Aufenthaltsrecht der Staatsangehörigen der Mitgliedstaaten im Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaates, ABl. 1979, C 207/14. 28 Richtlinie 90/366/EWG über das Aufenthaltsrecht der Studenten, ABl. 1990, L 180/30; Richtlinie 90/365/EWG über das Aufenthaltsrecht der aus dem Erwerbsleben ausgeschiedenen Arbeitnehmer und selbständig Erwerbstätigen, ABl. 1990, L 180/28; Richtlinie 90/364/EWG über das Aufenthaltsrecht, ABl. 1990, L 180/26. 29 Oppermann, EG-Angehörigkeit, S. 721. 30 Achter Gesamtbereicht über die Tätigkeit der Europäischen Gemeinschaften, 1974, 337 (339), Ziffer 10 des Abschlusskommuniqués. 31 ABl. 1981, C 141/1. 32 Bulletin EG 6/1981, Tz. 2.1.17. 33 BGBl. 1986, 1 S. 537 ff. 27

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B. Der Entwicklungsprozess hin zur Unionsbürgerschaft

teil, genießen die ihnen durch die Rechtsordnung der Union zuerkannten Rechte und unterliegen den Normen dieser Rechtsordnung“.34 Der Europäische Rat hat auf der Tagung im Jahr 1984 in Fontainebleu einen weiteren Anlauf unternommen, um der Gemeinschaft eine bürgernähere Dimension zu geben.35 Er hat es für unerlässlich befunden, geeignete Maßnahmen zu treffen, durch welche eine „Identität gegenüber den europäischen Bürgern und der Welt gestärkt und gefördert wird und durch die sie an Prestige gewinnt“.36 In diesem Zusammenhang setzte der Europäische Rat einen Ad-hoc-Ausschuss „Europa der Bürger“ ein, dessen Ziel es war, „Maßnahmen vorzuschlagen, die für die Bürger der Gemeinschaft unmittelbare Bedeutung haben und ihnen offensichtlich greifbare Vorteile im Alltagsleben bieten“.37 In zwei Berichten regte der unter Leitung des Italieners Pietro Adonnino stehende Ausschuss (Adonnino-Ausschuss)38 eine Reihe von Maßnahmen an, insbesondere die Ausweitung der Arbeits- und Aufenthaltsmöglichkeiten, die Aufhebung der Grenzkontrollen, die Einführung eines einheitlichen Wahlverfahrens bei der Wahl zum Europäischen Parlament, das aktive und passive Wahlrecht bei Kommunalwahlen, die Vereinigungs- und Versammlungsfreiheit, die Einsetzung eines Ombudsmannes und einen verstärkten Kultur-, Jugend- und Sportaustausch.39 Erwähnenswert ist, dass die Berichte ständig den Begriff „Gemeinschaftsbürger“ verwenden. Die Kommission und das Parlament griffen die Ergebnisse dieser Berichte auf.40 Die am 1. Juli 1987 in Kraft getretene Einheitliche Europäische Akte stellt einen weiteren Schritt auf dem Weg zu einer Europäischen Union dar, der Begriff des „Bürgers“ wurde allerdings nicht übernommen.41 Im Jahr 1989 kritisierte der Europäische Rat von Madrid „daß trotz der bei einigen bedeutsamen Dossiers des Europas der Bürger erzielten Ergebnisse die Fortschritte unzureichend seien“; es seien darum „die notwendigen operationellen Schlußfolgerungen zu ziehen“.42 34 Hilf, EuR 1997, S. 347 (349). Zum vom Europäischen Parlament am 14.2.1984 angenommenen Entwurf: ABl. 1984, C 77/33. 35 Bulletin EG, 6/1984, Tz. 1.1.1. ff. 36 Schlussfolgerungen des Vorsitzes des Europäischen Rates in Fontainebleu vom 25. und 26. Juni 1984, Bulletin EG, 1985 Beilage 7, S. 5. 37 Schlussfolgerungen des Vorsitzes des Europäischen Rates in Fontainebleu vom 25. und 26. Juni 1984, Bulletin EG, 1985 Beilage 7, S. 9. 38 Bulletin EG 1985, Beilage 7 und Bulletin EG 6/1985 Tz. 1.4.1. ff. 39 Berichte des Ausschusses, Bulletin EG 1985, Beilage 7; vgl. dazu ausführlich: Kotalakidis, Von der nationalen Staatsangehörigkeit, S. 144 f. 40 Das Wahlrecht der Bürger der Mitgliedstaaten der Gemeinschaft bei Kommunalwahlen, Bulletin EG 1986 Beilage 7; Wahlrecht der Bürger der Mitgliedstaaten bei Kommunalwahlen, Bulletin EG 1988 Beilage 2. 41 Europa der Bürger, Mitteilung der Kommission, Bulletin EG 1988, Beilage 2, S. 6 f.; Oppermann, Lüneburger Symposium für Hans Peter Ipsen, S. 87 (90); ders., EG-Angehörigkeit, S. 718. 42 Europäischer Rat von Madrid, 26. und 27. Juni 1989, Bulletin EG 1989, Beilage 6, S. 12.

II. Politische Ansätze

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Dieser schleppende Verlauf in Bezug auf das Entstehen eines Europas der Bürger ist ein Spiegelbild für die grundsätzliche Unklarheit hinsichtlich der Weiterentwicklung der Europäischen Gemeinschaften hin zu einer Europäischen Union und zu einer politischen Union. Die Frage nach der Finalität des europäischen Einigungsprozesses ist noch ungeklärt.43 Die Debatte über eine europäische Bürgerschaft bzw. eine Unionsbürgerschaft trifft im Kern die Problematik der Identität und des Wesens der Gemeinschaft an sich.44 Je weniger sich die Mitgliedstaaten einen staatsähnlichen Endzustand der Gemeinschaft wünschen, desto größer sind die Widerstände und Bedenken gegen die Ausdehnung der Bürgerrechte, vor allem auch im politischen Bereich, und die Schaffung einer – an die nationalen Staatsangehörigkeitskonzepte angelehnten – förmlichen EG-Bürgerschaft oder EG-Angehörigkeit.

3. Die Unionsbürgerschaft nach dem Maastrichter Vertrag Einen weiteren Versuch unternahm die belgische Regierung in einem Memorandum aus dem Jahr 1990.45 Darin forderte sie unter anderem die Aufnahme von Grundrechten in die Gemeinschaftsverträge, den Beitritt zur EMRK, ein einheitliches Verfahren für die Wahlen zum Europäischen Parlament und die Einführung des Kommunalwahlrechts. Der spanische Ministerpräsident Felipe González drückte sich bereits deutlicher aus: In einem Rundschreiben an alle Staats- und Regierungschefs sprach er von einer „Europabürgerschaft“, die im Europäischen Gemeinschaftsvertrag ein eigenständiges Kapitel darstellen solle.46 Dadurch solle ein „integrierter rechtlicher sowie politischer und sozialer Raum geschaffen werden“.47 Bereits in der ersten Jahreshälfte des Jahres 1990 beauftragte der Europäische Rat bei seiner Tagung in Dublin den Ministerrat zu überprüfen, in welcher Weise eine Gemeinschaftsangehörigkeit und besondere Rechte für die Bürger in den Unionsvertrag einzubeziehen sind. Das spanische Memorandum zur Europäischen Bürgerschaft48 entfachte die Diskussion um die Einführung einer Unionsbürgerschaft schließlich vollends. Die Fortentwicklung zu einer Europäischen Union erfordere, dass dem europäischen

43 Vgl. nur: Langenfeld, Zeitschrift für Rechtspolitik 38 (2005), S. 73 ff.; Bergmann, DÖV 2008, S. 305 (309). 44 Oppermann, EG-Angehörigkeit, S. 714. 45 Memorandum der belgischen Regierung, abgedruckt in: Laursen/Vanhoonacker, The Intergovernmental Conference, S. 269 ff (272). 46 Agence Europe, 11. Mai 1990. 47 Kotalakidis, Von der nationalen Staatsangehörigkeit, S. 148. 48 Memorandum der spanischen Delegation, abgedruckt in: Laursen/Vanhoonacker, The Intergovernmental Conference, S. 328 ff.

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B. Der Entwicklungsprozess hin zur Unionsbürgerschaft

Bürger eine „central and fundamental position“49 zukomme. Es schlug deshalb die Einführung folgender Rechte vor: allgemeines Freizügigkeits- und Aufenthaltsrecht, Freiheit der Meinungsäußerung, Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit, diplomatischer und konsularischer Schutz durch die Mitgliedstaaten, Bestellung eines Ombudsmannes. Dabei sah bereits das Spanische Memorandum die Unionsbürgerschaft als ein dynamisches Gebilde an: „Since the concept of European Union is a dynamic one encompassing the idea of a process leading to a final objective, European citizenship is also a dynamic and evolving concept. The progress made towards the final objective of the Union will simultaneously add substance to the status of European citizenship.“50 Macht die Union Gebrauch von neuen gemeinschaftlichen Politiken, wie z. B. in den Bereichen Soziales, Gesundheit, Bildung, Kultur oder Verbraucher- und Umweltschutz, dann sollte der Unionsbürger in diesem Kontext auch weitere Rechte erwerben. Insbesondere die dänische Delegation unterstützte den Antrag und ergänzte ihn insoweit, als auch besonders der soziale Impetus der Gemeinschaften zu betonen sei.51 Portugal schloss sich diesem Vorhaben an.52 Der Europäische Rat in Rom hob auf seiner Tagung am 14. und 15.12.1990 die besondere Bedeutung der Unionsbürgerschaft für die demokratische Legitimation der Union hervor und stellte mit Zufriedenheit fest, dass bezüglich der Einführung des Unionsbürgerkonzepts unter den Mitgliedstaaten Konsens herrschte. Der Europäische Rat konnte dabei folgende drei Gruppen von Unionsbürgerrechten ausmachen: – Civil rights (staatsbürgerliche Rechte wie das Kommunalwahlrecht, Wahlrecht zum Europäischen Parlament); – social and economic rights (soziale und wirtschaftliche Rechte wie das Freizügigkeits- und Aufenthaltsrecht, Gleichheitsgrundsatz); – joint protection of Community citizens outside the Community’s borders (Schutz der Gemeinschaftsbürger außerhalb der Gemeinschaftsgrenzen). Außerdem sah er die Schaffung einer Einrichtung für die Verteidigung der Rechte der Bürger in Gemeinschaftsangelegenheiten („Ombudsman“) vor.53 Hinsichtlich der Zuordnung des Unionsbürgerstatus im Hinblick auf neue gemeinschaftsrechtliche Politiken wie Sozial-, Umwelt-, Verbraucherschutz-, Kultur- und Bildungs-

49 Memorandum der spanischen Delegation, abgedruckt in: Laursen/Vanhoonacker, The Intergovernmental Conference, S. 328 ff. (329). 50 Memorandum der spanischen Delegation, abgedruckt in: Laursen/Vanhoonacker, The Intergovernmental Conference, S. 328 ff. (329). 51 Memorandum der dänischen Regierung, abgedruckt in: Laursen/Vanhoonacker, The Intergovernmental Conference, S. 293 ff. (295). 52 Memorandum der portugiesischen Delegation, abgedruckt in: Laursen/Vanhoonacker, The Intergovernmental Conference, S. 304 ff. (305). 53 Europäischer Rat vom 14. und 15.12.1990, abgedruckt in: Laursen/Vanhoonacker, The Intergovernmental Conference, S. 318 ff. (320); Bulletin EG 1990 Beilage 12, S. 11.

II. Politische Ansätze

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politik nahm der Rat dagegen eine ablehnende Haltung ein.54 Zur Konkretisierung der Unionsbürgerrechte erließ das Europäische Parlament zwei „Entschließungen zur Unionsbürgerschaft“.55 Auf Basis dieser Gesamtheit an Vorschlägen übernahm die Luxemburgische Ratspräsidentschaft das Unionsbürgerschaftskonzept mit einigen Änderungen in den Vertragsentwurf zur Gründung der Europäischen Union vom 18. Juni 1991. Der Europäische Rat verabschiedete in Maastricht in der Zeit vom 9. – 11.12.1991 den Vertrag über die Europäische Union (EUV), welcher am 1.11.1993 in Kraft trat. In Art. B EUV wird die Unionsbürgerschaft eingeführt. Die Vorschriften über die Unionsbürgerschaft der Art. 17- 22 (alt: Art. 8 – 8 e) wurden in den EGV eingefügt. Art. 2 dritter Spiegelstrich EUV setzt sich das im Wege der Unionsbürgerschaft zu erreichende Ziel, den Schutz der Rechte und Interessen der Angehörigen der Mitgliedstaaten zu stärken. Parallel zu der in Art. 1 EUV erwähnten Verwirklichung einer immer engeren Union der Völker Europas ist es daher nur folgerichtig, dass auch die Beziehungen der Einzelpersonen auf ständige Intensivierung angelegt sind. Mit dem Vertrag von Maastricht erreichte das europäische Projekt eine „neue Stufe“ (Art. 1 Abs. 2 EUV) und so erfuhr auch die Stellung des Einzelnen eine qualitative Veränderung – von der Stellung eines „Vorzugsausländers“56 hin zu dem grundlegenden Unionsbürgerstatus.57 Mit Einführung der Unionsbürgerschaft durch den Vertrag von Maastricht wurde vor allem bezweckt, das Gefühl der Zusammengehörigkeit in Europa zu stärken (identitätsstiftende Wirkung).58 Der Vertrag von Amsterdam vom 2. Oktober 1997 führte zu einer neuen Durchnummerierung der Artikel des EGV. Dabei wurde aus dem ehemaligen Artikel 8 EGV nunmehr Art. 17 EGV. Die Vorschrift über die Unionsbürgerschaft erfuhr im ersten Absatz eine Ergänzung durch die Aufnahme eines dritten Satzes.59 Dieser lautet wie folgt: „Die Unionsbürgerschaft ergänzt die nationale Staatsbürgerschaft, ersetzt sie aber nicht.“ Dabei wurde rechtlich klargestellt, was davor schon weitgehend anerkannt war. Damit wird auch zum Ausdruck gebracht, dass die Union die divergierenden Staatsangehörigkeitsregeln in den Mitgliedstaaten grundsätzlich anerkennt und keine Kompetenz im Hinblick auf die Begründung, Änderung oder das Erlöschen der Staatsangehörigkeit für sich selbst beanspruchen kann.60 Allerdings setzt der Europäische Gerichtshof dem Staatsangehörigkeitsrecht der 54 Diese ist auf Kritik von Seiten der Kommission (Bulletin EG 1991 Beilage 2) und dem Europäischen Parlament (Bindi-Bericht über die Unionsbürgerschaft), Dokument A 3–0139/1991 gestoßen. 55 Entschließung vom 14. Juni 1991, ABl. Nr. C 183/473 ff. und vom 21. November 1991, ABl., Nr. C 326/205 ff. 56 „privileged aliens“: so die spanische Delegation vom 24. September 1990, in: Laursen/ Vanhoonacker, The Intergovernmental Conference, S. 329. 57 Degen, DÖV 1993, S. 749 (751). 58 Vgl. Bulletin EG 1991, Beilage 2, S. 84. 59 Vgl. Art. 2 Nr. 9–11 des Vertrags von Amsterdam. 60 Reich, Bürgerrechte in der Europäischen Union, S. 424.

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B. Der Entwicklungsprozess hin zur Unionsbürgerschaft

Mitgliedstaaten in gewissem Umfang gemeinschaftsrechtliche Grenzen. Nach der Micheletti-Entscheidung61 des EuGH ist die Kompetenz des Staates „unter Beachtung des Gemeinschaftsrechts“62 auszuüben. So kommt es nach dieser Entscheidung in Fällen doppelter Staatsangehörigkeit lediglich darauf an, dass eine der beiden Staatsangehörigkeiten die eines Mitgliedstaates ist und sie nach dem Recht des Staates, der sie verliehen hat, wirksam ist. Ein Abstellen auf das geltende Recht des Empfangsstaates würde zu unterschiedlichen Ergebnissen in den Mitgliedstaaten führen, was nicht im Sinne des Gemeinschaftsrechts wäre. In der Diskussion anlässlich der Einsetzung eines Konvents zur Erarbeitung eines Verfassungsentwurfs stellte die Forderung nach einer bürgernäheren Union ein zentrales Anliegen dar.63 Die zentrale Stellung des Menschen war in der Präambel sowie in Art. I – 2 des Vertrags über eine Verfassung für Europa auch deutlich hervorgehoben. Darüber hinaus kam es zu keiner wesentlichen Verbesserung der Bürgerrechte. Insbesondere wurden auch keine neuen Unionsbürgerrechte eingeführt. Die Vorschriften über die Unionsbürgerschaft in Art. I – 10 beschränken sich hauptsächlich auf eine Fortführung der bereits im EGV anerkannten Vorschriften.64 Nach dem Scheitern des Verfassungsvertrags soll die Reform durch den Lissabonner Vertrag weitergeführt werden. In diesem Rahmen wird der EUV geändert und der EGV fortentwickelt, wobei inhaltlich im Wesentlichen die Neuerungen des Verfassungsvertrags übernommen werden.65 Dies geschieht allerdings unter Verzicht der früheren Aufzählung der Symbole der Gemeinschaft (Art. I – 8 VV). Anders als noch der Verfassungsvertrag, beschreibt der Lissabonner Vertrag die EU auch nicht mehr eine Gemeinschaft der Bürger und Staaten, sondern erwähnt lediglich in Art. 1 (ex 1) EUV die „Hohen Vertragsparteien“. Im Übrigen werden weitgehend unverändert die Vorschriften zur Unionsbürgerschaft übernommen (Art. 20 (ex 17) ff. AEUV).

61 EuGH, Rs. C-369/90, Micheletti, Slg. 1992, I-4239 ff. Im Fall ging es um einen Italo-Argentinier, der sich in Spanien als Zahnarzt niederlassen wollte. Nach spanischem Recht (Art. 9 § 10 i. V. m. Art. 9 § 9 Código Civil Español) galt er als Argentinier, da er dort seinen letzten Aufenthalt hatte. 62 EuGH, Rs. C-369/90, Micheletti, Slg. 1992, I-4262. 63 Nettesheim, Integration 26 (2003), S. 428. 64 Nettesheim, Integration 26 (2003), S. 428. Zu einer Klarstellung kommt es insofern, als sich nun aus Art. I-10 Abs. 2 eindeutig ergibt, dass die Beschränkungen und Bedingungen der Unionsbürgerrechte als Ausübungsschranken zu interpretieren sind. Dazu ausführlich: E. VII. 65 Konsolidierte Fassung des Vertrags über die Europäische Union (EUV) und des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV), Amtsblatt C vom 9. Mai 2008. Dazu allgemein: Oppermann, DVBl. 2008, S. 473 ff.; Pache/Rösch, Der Vertrag von Lissabon, NVwZ 2008, S. 473 ff.

C. Rechtliche Ausprägungen der Unionsbürgerschaft C. Rechtliche Ausprägungen der Unionsbürgerschaft

I. Allgemeine Unionsbürgerrechte I. Allgemeine Unionsbürgerrechte

Nach Art. 17 Abs. 2 EGV haben die Unionsbürger die in diesem Vertrag vorgesehenen Rechte und Pflichten. Neben den ausdrücklich als Unionsbürgerrechte gekennzeichneten Art. 18 – 21 EGV können die Unionsbürger weitere, sich unmittelbar aus den Bestimmungen des EG-Vertrags ergebende Rechte geltend machen.1 Zu erwähnen sind insbesondere die Vorschriften über die Grundfreiheiten (Art. 39 ff., Art. 43 ff., Art. 49 ff. EGV), das Diskriminierungsverbot des Art. 12 EGV sowie Verfahrensrechte und das Recht auf eine gerechte und transparente Verwaltung. Unionsbürgerrechte können sich ferner aus dem Sekundärrecht, welches auf Grundlage EG-vertraglicher Ermächtigungen erlassen wurde, ergeben.2

II. Die im Zweiten Teil des EGV besonders erwähnten Unionsbürgerrechte II. Besondere Unionsbürgerrechte

Im Folgenden werden die einzelnen rechtlichen Ausgestaltungen der Unionsbürgerschaft im engeren Sinne (d. h. die Rechte der Art. 18 – 21 EGV) dargestellt. Das in Art. 18 EGV enthaltene Freizügigkeits- und Aufenthaltsrecht bildet den Schwerpunkt der vorliegenden Arbeit; es wird im nächsten Abschnitt ausführlich erörtert.

1. Politische Rechte des Art. 19 EGV Nach Art. 19 Abs. 1 EGV wird Unionsbürgern mit Wohnsitz in einem anderen Mitgliedstaat das aktive und passive Wahlrecht bei Kommunalwahlen im Aufenthaltsmitgliedstaat zugesichert. In Abs. 2 des Art. 19 EGV ist das aktive und passive Wahlrecht zum Europäischen Parlament geregelt. Die Ausübung dieser Rechte durch Unionsbürger mit Wohnsitz in einem Mitgliedstaat, dessen Staatsangehörigkeit sie nicht besitzen, erfolgt unter den gleichen Bedingungen, wie sie für die Angehörigen des betreffenden Staates gelten. Beide Rechte werden vorbehaltlich der Einzelheiten ausgeübt, die vom Rat festgelegt werden; Ausnahmeregelungen kön-

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Vgl. auch: Staeglich, ZEuS 2003, S. 485 ff. Kadelbach, Unionsbürgerschaft, in: von Bogdandy (Hrsg.), Europäisches Verfassungsrecht, S. 550. 2

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C. Rechtliche Ausprägungen der Unionsbürgerschaft

nen vorgesehen werden, falls dies aufgrund besonderer Konstellationen in einem Mitgliedstaat gerechtfertigt ist. Art. 19 Abs. 1 und Abs. 2 EGV gewährt keine unmittelbar einklagbaren Rechte; die Bestimmungen sind objektivrechtlicher Natur.3 Zu ihrer Umsetzung waren besondere Fristen vorgesehen. Diesem Regelungsauftrag kam der Rat durch den Erlass der Richtlinien 93/109/EG4 und 94/80/EG5 nach. Neben den Vorschriften über die allgemeine Freizügigkeit in Art. 18 EGV bilden diese politischen Rechte das „Kernstück der Unionsbürgerschaft“.6

a) Kommunalwahlrecht Mit Einführung des Kommunalwahlrechts auch für EU-Ausländer werden diese auf lokaler Ebene an der Wahrnehmung staatsbürgerlicher Rechte und der Ausübung öffentlicher Gewalt beteiligt. Es kommt dabei zu einer Entkoppelung zwischen Staatsangehörigkeit und politischer Partizipation. Bereits vor Schaffung des Vertrags von Maastricht gab es Mitgliedstaaten, welche diese Trennung oder „Disassoziation“7 schon längst in ihrem nationalen Recht vollzogen hatten. Dabei kann weiter differenziert werden zwischen Staaten, in denen das Kommunalwahlrecht allen Ausländern gewährt wird,8 und solchen Ländern, in denen das Kommunalwahlrecht nur bestimmten Ausländern zugestanden wird.9 In Mitgliedstaaten, welche das Kommunalwahlrecht bislang an die nationale Staatsangehörigkeit koppelten,10 löste die Einführung des Kommunalwahlrechts für EU-Bürger oft heftige verfassungsrechtliche Diskussionen aus. In Deutschland, Frankreich, Spanien und Portugal waren dafür sogar Verfassungsänderungen notwendig. Mit Entscheidung vom 9. April 1992 befand der Conseil Constitutionnel, dass sich aus einer Zusammenschau der Art. 3, 24 und 72 der französischen Verfassung ergebe, dass das Kommunalwahlrecht ausschließlich französischen Staatsangehörigen vorbehalten sei. Infolgedessen wurden Art. 88 – 1 bis 88 – 4 in die französische Verfassung neu eingeführt.11 Auch der spanische Verfassungsgerichtshof, welcher von der Regie3 Unbestrittene Ansicht, so zum Beispiel: Kaufmann-Bühler, in: Lenz/Borchardt, Art. 8b, Rdn. 1; Degen, DÖV 1993, S. 749 (752). 4 ABl. 1993 Nr. L 329/34–38. 5 ABl. 1994 Nr. L 368/38. 6 Kluth, in: Calliess/Ruffert, Art. 19 Rdn. 1; Fischer, EuZW 1992, S. 568; Degen, DÖV 1993, S. 749 (753). 7 O’Leary, The Options for the reform of European Union Citizenship, S. 93. 8 Beispiele hierfür sind v. a.: Irland, Dänemark (seit 1981), Niederlande. 9 Beispiele hierfür sind v. a.: Vereinigtes Königreich, Portugal; näheres dazu: Sieveking, Kommunalwahlrecht für Ausländer in den Mitgliedstaaten der EG- ein europäischer Vergleich, in: Sieveking u. a. (Hrsg.), Kommunalwahlrecht für Ausländer, S. 69 (75); Oliver, C. M. L.Rev. 1996, S. 476. 10 Beispiele hierfür waren v. a.: Deutschland, Frankreich, Belgien, Griechenland, Italien, Luxemburg. 11 Kovar/Simon, CDE 1993, S. 285 (304 ff.).

II. Besondere Unionsbürgerrechte

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rung ersucht wurde, die Vereinbarkeit des Art. 19 EGV mit der spanischen Verfassung zu überprüfen, kam zu dem Schluss, dass dies nicht der Fall sei. Nach Art. 13 Abs. 2 und Art. 23 der spanischen Verfassung war die Ausübung des Wahlrechts ausschließlich Spaniern vorbehalten. Um den europarechtlichen Vorgaben zu genügen, wurde im August 1992 Art. 13 Abs. 2 der spanischen Verfassung geändert.12 In der Bundesrepublik hat das Bundesverfassungsgericht in seinem MaastrichtUrteil die Rüge des Beschwerdeführers, er werde durch die Einführung des Kommunalwahlrechts in seinen Rechten verletzt, als unzulässig verworfen.13 Zum Verständnis dieses Urteils ist auf die Bundesverfassungsgerichtsentscheidung aus dem Jahr 1990 zu rekurrieren. Hierbei hatte das Gericht die Verfassungsmäßigkeit des von den Bundesländern Schleswig-Holstein und Hamburg eingeführten kommunalen Wahlrechts für Ausländer zu prüfen. Im Ergebnis erklärte das BVerfG die Kommunalwahlrechte für verfassungswidrig, da die Ausübung deutscher Staatsgewalt nach Art. 20 Abs. 2 GG durch das Volk erfolgen müsse und das Volk, von dem die Staatsgewalt in der Bundesrepublik Deutschland ausgeht, von den deutschen Staatsangehörigen und den ihnen nach Art. 116 Abs. 1 GG gleichgestellten Personen gebildet werde. Die Zugehörigkeit zum Staatsvolk werde grundsätzlich durch die Staatsangehörigkeit vermittelt.14 Nichts anderes gelte für das Wahlrecht auf kommunaler Ebene nach Art. 28 Abs. 1 Satz 2 GG.15 Zugleich stellte das Gericht in einem obiter dictum fest: „Daraus folgt nicht, daß die derzeit im Bereich der Europäischen Gemeinschaften erörterte Einführung eines Kommunalwahlrechts für Ausländer nicht Gegenstand einer nach Art. 79 Abs. 3 Satz 3 GG zulässigen Verfassungsänderung sein kann.“16 Die erforderliche Verfassungsänderung erfolgte dann im Jahre 1992 mit Einfügung des Art. 28 Abs. 1 Satz 3 in das Grundgesetz und machte damit den Weg frei für das Kommunalwahlrecht der Gemeinschaftsangehörigen. Mit der Einführung des Kommunalwahlrechts in den EGV wurde eine bereits seit längerem stattfindende Entwicklung aufgegriffen und in geltendes Recht umgesetzt. Bereits der Tindemanns-Bericht von 1975 sowie der im gleichen Jahr erfolgte Bericht der Kommission über ein „Europa der Bürger“ forderten die Einführung des Kommunalwahlrechts für Unionsbürger mit Wohnsitz in einem anderen Mitgliedstaat als ihrem eigenen. Die Adonnino- Kommission griff im Jahr 1984 diese Vorschläge auf;17 sie mündeten 1988 in einem – allerdings angesichts des sich abzeichnenden Vertrags von Maastricht nicht weiterverfolgten –

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Santacruz, E. L.Rev. 1993, S. 247; Castillo/Polakiewicz, EuGRZ 1993, S. 277 ff. BVerfGE 89, 155 = NJW 1993, S. 3047. 14 BVerfGE 83, 37 (Schleswig-Holstein) mit Verweis auf: BVerfGE 37, 217 (239, 253) = NJW 1974, S. 1609. 15 BVerfGE 83, 37 (Schleswig-Holstein) und BVerfGE 83, 60 (Hamburg). 16 BVerfGE 83, 37. 17 Dazu: siehe oben B. II. 2. 13

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C. Rechtliche Ausprägungen der Unionsbürgerschaft

Richtlinienentwurf der Kommission.18 Bei Ausübung der Freizügigkeit und des dauernden Aufenthaltsrechts verloren die Unionsbürger regelmäßig ihre lokalen politischen Mitwirkungsrechte im Heimatstaat.19 Gleichzeitig erwarben sie im Aufenthaltsmitgliedstaat auf lokaler Ebene keine Mitwirkungsrechte. Diese Tatsachen standen der ungehinderten Ausübung des Freizügigkeitsrechts entgegen. Zudem soll das kommunale Wahlrecht die gemeinsame politische Identität der Unionsbürger fördern.20 Dies könne auf lokaler Ebene am besten bewirkt werden, da die dort getroffenen Entscheidungen alle Bürger, das heißt sowohl die Staatsbürger des Aufenthaltstaats als auch die sich dort aufhaltenden Unionsbürger anderer Mitgliedstaaten, genauso sichtbar betreffen. Aus den gleichen Erwägungen heraus wird diskutiert, auch Drittstaatsangehörige unter bestimmten Voraussetzungen in das Wahlrecht mit einzubeziehen.21

b) Europawahlrecht Bis zum Vertrag von Maastricht entschieden die Mitgliedstaaten über die Ausgestaltung des Wahlrechts zum Europäischen Parlament. Zwar unterbreitete das Parlament bereits 1960 einen Vorschlag über die allgemeine und unmittelbare Wahl der Mitglieder des Europäischen Parlaments, dieser sah aber in Art. 11 Abs. 2 für Unionsbürger nur die Möglichkeit vor, „das Stimmrecht in ihrem Heimatstaat auszuüben“.22 Auch der 1976 ergangene „Akt zur Einführung allgemeiner unmittelbarer Wahlen der Abgeordneten der Versammlung“ unterließ eine Regelung für Wahlrechtskonstellationen, in denen Wohnsitz- und Heimatmitgliedstaat divergierten.23 Nach den nationalen Vorschriften der Mitgliedstaaten waren vor allem die Staatsangehörigen zur aktiven und passiven Teilnahme an der Wahl zum Europäischen Parlament berechtigt. Art. 19 Abs. 2 EGV gebietet nunmehr, dass Unionsbürger, welche die Staatsangehörigkeit des Wohnsitzstaates nicht haben, an der Wahl der dem Wohnsitzstaat zustehenden Parlamentsabgeordneten auf die Quote zu beteiligen sind. Ziel ist es dabei, das diskriminierende Hindernis der Staatsangehörigkeit zu beseitigen. Die Anknüpfung an den Unionsbürgerstatus führt hierbei zu einer Überwindung der ursprünglich die Wählerschaft bilden-

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ABl. EG 1988 C 246/03 und geänderter Vorschlag: ABl. EG 1989 C 290/05. Nur die Staatsangehörigen von Frankreich und Spanien behielten ihr kommunales Wahlrecht ohne Einschränkungen bei. In Italien und Griechenland wurde die persönliche Stimmabgabe im Wahllokal gefordert. Vgl. dazu: Kommission der Europäischen Gemeinschaften, Das Wahlrecht der Bürger der Mitgliedstaaten der Gemeinschaft bei Kommunalwahlen, Bulletin EG 1986 Beilage 7. 20 Degen, DÖV 1993, S. 749 (753). 21 Bryde, JZ 1989, S. 257; Zuleeg, Ausländerrecht und Ausländerpolitik in Europa, S. 153 ff. 22 Entschließung über die Annahme des Entwurfs eines Abkommens betreffend die Wahl des Europäischen Parlaments in allgemeiner unmittelbarer Wahl, ABl. 1960/834–841 (837). 23 Näher dazu: Rothfuchs, Die traditionellen Personenverkehrsfreiheiten des EG-Vertrages und das Aufenthaltsrecht der Unionsbürger, S. 177 f. 19

II. Besondere Unionsbürgerrechte

33

den einzelnen Staatsangehörigen.24 Damit findet eine Annäherung an eine „europäische Legitimationsgemeinschaft“ statt.25 Ziel dieser Vorschrift ist einerseits, das demokratische Fundament des Europäischen Parlaments zu stärken und damit dem vielfach erörterten Demokratiedefizit in der Europäischen Union entgegenzuwirken. Die Unionsbürger haben die Möglichkeit, sich aktiv am Prozess der europäischen Integration zu beteiligen. Andererseits tritt die nationale Staatsangehörigkeit zugunsten des Unionsbürgerstatus in den Hintergrund. Anstatt des Heimatstaatsprinzips gilt das Wohnortprinzip.26 Die Regelung des Art. 19 Abs. 2 EGV setzt sich damit allerdings in Widerspruch zu der in Art. 189 Abs. 1 EGV vorgesehenen Aufteilung der Sitze im Europäischen Parlament nach Mitgliedstaaten. Die in diesem Kontext erlassene Richtlinie 93/109/EG dient vor allem dazu, eine Doppelwahl und Doppelkandidatur zu vermeiden. Dies war zu regeln, da alle Mitgliedstaaten – mit Ausnahme Irlands – auch ihren im Ausland lebenden Angehörigen die Möglichkeit zur Teilnahme bei den Europawahlen einräumen.27 Eine Rechtsangleichung oder Harmonisierung der bestehenden verschiedenartigen Wahlrechtssysteme wird im Rahmen des Art. 19 Abs. 2 EGV und des hierzu ergangenen Sekundärrechts nicht bezweckt.28 Die Richtlinie beschränkt sich auf Fragen des subjektiven Wahlrechts bzw. der subjektiven Wählbarkeit. Vereinzelt wird die These vertreten, dass der Gewährleistungsgehalt des Art. 19 EGV weitere politische Rechte mit umfasse.29 So solle insbesondere das Recht, seine Meinung frei zu bilden und zu äußern, das Recht, sich friedlich zu versammeln, sowie das Recht, sich zu vereinigen, auch den Unionsbürgern zugestanden werden. Diese seien als „Minus“ in der Gewährleistung des kommunalen Wahlrechts enthalten.30 Zudem könne das Wahlrecht, welches das politische Grundrecht par excellence darstellt, nur effektiv ausgeübt werden, wenn den Unionsbürgern auch eine Reihe weiterer politischer Betätigungsrechte zugestanden werde wie das Recht, öffentliche (lokale) Ämter zu bekleiden, oder die Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit. Diese Auslegung überdehnt allerdings den Wortlaut des Art. 19 EGV. Weitere politische Partizipationsrechte können daraus nicht hergeleitet werden.

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Kritisch dazu: Der bereits ungleich verteilte Erfolgswert der Stimmen wird weiter zu Lasten der unterrepräsentierten Staaten heruntergesetzt: Streinz, Rdn. 54, S. 306; 654; Dürig, NVwZ 1994, 1180 (1181 f.); a. A. BVerfG, EuGRZ 1995, S. 566. 25 Kadelbach, in: von Bogdandy (Hrsg.), Europäisches Verfassungsrecht, S. 557 mit weiteren Nachweisen in FN 93; Weiler, European Citizenship and Human Rights, in: Winter u. a. (Hrsg.), Reforming the Treaty on European Union, 1996, S. 57 (74). 26 Göztepe-Ãelebi, Die Unionsbürgerschaft, S. 119. 27 Siehe die Übersicht über die Wahlgesetzgebung der Mitgliedstaaten in: Europäisches Parlament, Generaldirektion Wissenschaft, Europa-Wahlgesetze, Sammlung Wissenschaft und Dokumentation, Reihe Politik Nr. 13, 2. Aufl., Luxemburg 1989. 28 Degen, DÖV 1993, S. 749 (767). 29 Kotalakidis, Von der nationalen Staatsangehörigkeit zur Unionsbürgerschaft, S. 184–190. 30 Kotalakidis, Von der nationalen Staatsangehörigkeit zur Unionsbürgerschaft, S. 185 f.

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C. Rechtliche Ausprägungen der Unionsbürgerschaft

2. Diplomatischer und konsularischer Schutz Nach Art. 20 EGV genießt jeder Unionsbürger im Hoheitsgebiet eines Drittstaates, in dem der Mitgliedstaat, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt, nicht vertreten ist, den diplomatischen und konsularischen Schutz eines anderen EU-Mitgliedstaats. Dieser Schutz ist unter den gleichen Bedingungen wie für die eigenen Staatsangehörigen zu gewähren. Grundsätzlich sind nach den anerkannten Regeln des Völker- und des Staatsrechts die Staaten gegenüber ihren (eigenen) Staatsangehörigen zur Ausübung des diplomatischen und konsularischen Schutzes berechtigt.31 Entscheidendes Anknüpfungsmerkmal ist dabei die Staatsangehörigkeit; sie ordnet eine Person dem personellen Substrat des Staates zu und bringt das Schutz- und Loyalitätsverhältnis zwischen Staat und Staatsangehörigen zum Ausdruck.32 Ausnahmen von diesem Grundsatz, wonach jeder Staat für seine eigenen Angehörigen verantwortlich ist, sind in der Praxis des Völkerrechts anerkannt: So kann eine Schutzpflicht zugunsten Staatsangehöriger eines anderen Staates aufgrund von Verträgen oder Notifikationen begründet werden.33 Der diplomatische Schutz greift bei völkerrechtswidrigen Handlungen eines anderen Staates gegenüber den eigenen Staatsangehörigen. Hauptsächlich geht es hierbei um die Geltendmachung von Schadensersatzansprüchen. Damit dieser Anspruch auch von einem anderen Staat stellvertretend wahrgenommen werden kann, bedarf die Vertretung der Zustimmung des Schädigerstaates.34 Stellt sich der Staat im Falle einer völkerrechtswidrigen Verletzung der Rechte seines Staatsangehörigen schützend vor ihn, so macht er von seinem eigenen Recht Gebrauch.35 Wird der Staat dabei im Ausnahmefall als „Schutzmacht“36 für die Staatsangehörigen eines anderen Staates tätig, so übt er, rechtstechnisch gesehen, ein abge31 Hailbronner, in: Vitzthum (Hrsg.), Völkerrecht, S. 187 f.; Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Band I, S. 258 f. 32 Kluth, in: Calliess/Ruffert, Art. 20 Rdn. 1 33 Vgl. Artikel 8 des Wiener Übereinkommens über konsularische Beziehungen vom 24. April 1963 (BGBl. 1969 II S. 1585): sieht vor, dass konsularische Aufgaben auch für einen Drittstaat wahrgenommen werden können; dazu auch: Koenig/Pechstein, Die Europäische Union, Kap. 9, Rdn. 29; Kokott, Zum Spannungsverhältnis zwischen nationality rule und Menschenrechtsschutz bei der Ausübung diplomatischer Protektion, in: Ress/Stein (Hrsg.), Der diplomatische Schutz im Völkerrecht, 1996, S. 45 ff.; Ruffert, ArchVR 35 (1997), S. 459 (460 f.). 34 Die Zustimmung des Drittstaats, dem gegenüber die Vertretung erfolgt, ist erforderlich, vgl. Art. 8 Absatz 3 der Wiener Diplomatenrechtskonvention vom 18. April 1961, BGBl. 1964 II 959 ff.; Art. 8 der Wiener Konsularrechtskonvention vom 24. April 1963, BGBl. 1969 II, 1587 ff.; Verdross/Simma, Universelles Völkerrecht, § 1301, S. 879; Kadelbach, Unionsbürgerschaft, in: von Bogdandy (Hrsg.), Europäisches Verfassungsrecht, S. 560 mit Hinweis in FN. 110 auf das Urteil des IGH, Belgien/Spanien (Barcelona Traction Light and Power Co.), ICJ Reports 1970, 2 (47). 35 PCIJ Ser. A, No. 2 (1994) – Mavrommatis-Konzessionen-Fall. Mittlerweile wird auch vertreten, dass der Einzelne neben dem Staat auch ein eigenes Recht geltend macht. 36 Verdross/Simma, Universelles Völkerrecht, S. 880.

II. Besondere Unionsbürgerrechte

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leitetes Recht dieses anderen Staates aus. Das bedeutet zugleich, dass der Schutz nicht über denjenigen hinausgehen kann, welcher vom Heimatstaat zu gewähren wäre. Artikel 20 EGV37 geht deutlich über diese Regeln des Völkerrechts hinaus. Wie bereits eingangs erwähnt, genießt ein Unionsbürger, dessen Mitgliedstaat in einem Drittland nicht vertreten ist, den Schutz eines anderen Mitgliedstaats unter denselben Bedingungen wie die Staatsangehörigen dieses Staates. Der einzelne Staatsangehörige kann eine Gleichbehandlung mit den Staatsangehörigen des Schutzstaates beanspruchen. Damit wird auch hier deutlich, dass der Unionsbürgerschaft – sozusagen als Kernbestand – ein gleichheitsrechtliches Element innewohnt. Die Literatur beschrieb Artikel 20 EGV aufgrund dieses Novums daher zu Recht als „a novel extension of the principle of equal treatment to the external dimension of community law“.38 Das einheitliche und geschlossene Auftreten sowie die gemeinsame Verantwortung der Mitgliedstaaten der Europäischen Union für ihre Bürger im Ausland könnte dazu beitragen, eine gemeinsame europäische Identität zu schaffen.39 Allerdings begründet Art. 20 EGV keine eigenständige Schutzpflicht der Europäischen Union. Der im spanischen Memorandum vom 21.2.1991 unterbreitete Vorschlag sah diese Alternative vor, konnte sich aber letztlich nicht durchsetzen.40 Die Unionsbürgerschaft selbst vermittelt in diesem Bereich kein „besonderes Schutzverhältnis“ gegenüber der Union als solcher.41 Aufgabe des konsularischen Schutzes ist es, die Angehörigen in sonstigen (also nicht durch völkerrechtswidriges Handeln einer fremden Hoheitsgewalt) verursachten Notlagen zu unterstützen sowie Verwaltungstätigkeiten wie das Ausstel37 Teilweise soll der Wortlaut des Art. 20 EGV derart teleologisch zu reduzieren sein, dass der diplomatische Schutz klassischer Ausprägung nicht umfasst ist. Dies ergebe sich aus einer Zusammenschau der Fassungen des Art. 20 EGV in den anderen Vertragssprachen. Vgl. dazu: Kadelbach, Unionsbürgerschaft, in: von Bogdandy (Hrsg.), Europäisches Verfassungsrecht, S. 561; Sauerwald, Die Unionsbürgerschaft und das Staatsangehörigkeitsrecht in den Mitgliedstaaten der Europäischen Union, S. 69; Ruffert, ArchVR 35 (1997), S. 459 (465); Kluth, in: Calliess/Ruffert, Art. 20 Rdn. 7; Weyland, La protection diplomatique et consulaire des citoyens de l’Union européenne, in: Marias (Hrsg.), European Citizenship, S. 63 (64); Jiménez Piernas, Revista de las Instituciones Europeas 20 (1993), S. 9 (17 f.); anderer Ansicht: Stein, Die Regelung des diplomatischen Schutzes im Vertrag über die Europäische Union, in: Ress/ Stein (Hrsg.), Der diplomatische Schutz im Völker- und Europarecht, S. 97 ff.; Haag, in: von der Groeben/Thiesing/Ehlermann, Art. 8c, Rdn. 4, 9. 38 O’Leary, YEL 1992, S. 383; Kotalakidis, Von der nationalen Staatsangehörigkeit zur Unionsbürgerschaft, S. 193 mit weiteren Nachweisen in FN 629. 39 Kotalakidis, Von der nationalen Staatsangehörigkeit zur Unionsbürgerschaft, S. 191: „Dadurch verleiht er dem europäischen Integrationsprozeß und dem gemeinschaftlichen Solidaritätsprinzip eine externe, völkerrechtliche Dimension und trägt entscheidend dazu bei, das Gemeinschaftgefühl der Unionsbürger zu stärken.“ 40 Kluth, in: Calliess/Ruffert, Art. 20 EGV, Rdn. 1; Haag, in: von der Groeben/Thiesing/ Ehlermann, Art. 8c, Rdn. 2; siehe dazu das spanische Referendum in: Laursen/Vanhoonacker, The Intergovernmental Conference on Political Union, 325 (327). 41 Kluth, in: Calliess/Ruffert, Art. 20 EGV, Rdn. 2.

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C. Rechtliche Ausprägungen der Unionsbürgerschaft

len von Ausweisen, die Vermittlung von Rechtshilfe, die Beihilfe in familien- und erbrechtlichen Angelegenheiten vorzunehmen.42 Nach Art. 20 Satz 2 EGV vereinbaren die Mitgliedstaaten die notwendigen Regeln und leiten die für diesen Schutz erforderlichen internationalen Verhandlungen ein. Die Kooperationen der konsularischen und diplomatischen Vertretungen der Mitgliedstaaten gehören nach Art. 20 EUV zur gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik. Mit Beschluss vom 19. Dezember 1995 haben die Mitgliedstaaten die erforderlichen Ausführungsregelungen erlassen.43 Sie ersetzen die politischen Leitlinien zur Gewährung von Schutz an Unionsbürger in Notlagen.44

3. Petitionsrecht Artikel 21 des EG-Vertrags regelt das Petitionsrecht und die Beschwerdemöglichkeit beim Bürgerbeauftragten (Ombudsmann). Danach besitzt jeder Unionsbürger das Petitionsrecht beim Europäischen Parlament gemäß Artikel 194 EGV. Bevor dieses Recht im Zuge des Vertrags von Maastricht in das Primärrecht aufgenommen wurde, war das Petitionsrecht in der Geschäftsordnung des Europäischen Parlaments geregelt.45 Daneben wurde auf europäischer Ebene erstmalig die Institution eines Bürgerbeauftragten eingerichtet. Nach Art. 21 EGV kann sich jeder Bürger an den nach Art. 195 EGV eingesetzten Bürgerbeauftragten wenden. Art. 21 EGV kommt keine eigenständige sachliche Regelung zu, vielmehr erschöpft sie sich in ihrer Verweisfunktion auf die Art. 194 und 195 des EG-Vertrags. Die beiden außergerichtlichen Schutzmöglichkeiten sorgen für eine größere Transparenz und tragen zur demokratischen Kontrolle der EU-Organe bei.46 Zudem kommen sie der Forderung nach mehr Bürgernähe entgegen; allerdings ist ihre Bedeutung in der Praxis bislang gering. In die gleiche Richtung zielt auch der im Zuge des Amsterdamer Vertrags eingeführte Art. 21 Satz 3 EGV. Danach kann sich jeder Unionsbürger in seiner Muttersprache an jedes Organ oder jede Einrichtung der Gemeinschaft wenden und eine Antwort in der betreffenden Sprache erhalten.47 Dieses Recht auf Auskunft in der eigenen Sprache entfaltet sein Potenzial 42 Vgl. zur Unterscheidung zwischen diplomatischem und konsularischem Schutz: Ipsen, Völkerrecht, § 24 Rdn. 32; Kaufmann-Bühler, in: Lenz/Borchardt, Art. 8 Rdn. 1. 43 Beschluss 95/553/EG der im Rat vereinigten Vertreter der Regierungen der Mitgliedstaaten über den Schutz der Bürger der Europäischen Union durch die diplomatischen und konsularischen Vertretungen, ABl. EG 1995, Nr. L 314/73. 44 Kluth, in: Calliess/Ruffert, Art. 20 EGV, Rdn. 4. 45 Siehe Art. 128–130 der Geschäftsordnung, ABl. EG 1981 C 90/48. 46 Marias, E. L.Rev. 1994, S. 170; Hilf, in: Grabitz/Hilf, Art. 8d, Rdn. 5; Kaufmann-Bühler, in: Lenz/Borchardt, Art. 38 e Rdn. 1; Haag, in: von der Groeben/Thiesing/Ehlermann, Art. 8d, Rdn. 2. 47 Kluth, in: Calliess/Ruffert, Art. 21 Rdn. 3.

IV. Ermächtigungsgrundlagen

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insbesondere im Zusammenspiel mit dem Recht auf Zugang zu Dokumenten gemäß Art. 255 EGV. Zu beachten ist, dass der personelle Anwendungsbereich der Art. 194 und 195 EGV nicht auf Unionsbürger beschränkt ist. Vielmehr können von diesen Rechten alle natürlichen und juristischen Personen mit Sitz in einem Mitgliedstaat der Europäischen Union Gebrauch machen. Auf die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaates kommt es hier gerade nicht an. In dieser Hinsicht wird das Unionsbürgerkonzept im Sinne eines exklusiv den Staatsangehörigen der Mitgliedsländer vorbehaltenen Status relativiert.48

III. Pflichten der Unionsbürger III. Pflichten der Unionsbürger

Nach Vorstellung der wichtigsten Unionsbürgerrechte, ist es notwendig, sich mit dem Pflichten der Unionsbürger vertraut zu machen. Trotz des ausdrücklichen Hinweises auf die Pflichten zählt der EGV explizit keine solchen auf. Natürlich sind die Unionsbürger verpflichtet, das EG-Recht zu befolgen und anzuwenden. Pflichten können sich auch aus einer Drittwirkung des Freizügigkeitsrechts sowie aus den Grundfreiheiten ergeben.49 Auf der EU-Ebene gibt es jedoch keine besonderen Pflichten, wie sie im Nationalen Staatsangehörigkeitsrecht hervortreten, z. B. die Wehrpflicht oder die Steuerpflicht.

IV. Evolutivklausel des Art. 22 EGV und Ermächtigungsgrundlagen IV. Ermächtigungsgrundlagen

Mit der Vorschrift des Art. 22 EGV wird der dynamische Charakter der Unionsbürgerschaft besonders hervorgehoben. Danach erstellt die Kommission alle 3 Jahre über die Anwendung der Unionsbürgerschaft einen Bericht. Nach Art. 22 Abs. 1 Satz 2 EGV trägt die Kommission in ihrem Bericht „der Fortentwicklung der Union“ Rechnung. Es besteht ein Junktim zwischen der Fortschreibung der Unionsbürgerschaft und der Fortentwicklung der Union. Dabei spiegelt sich der Integrationsstand der Union auf personifizierte Weise in der Unionsbürgerschaft wieder. Art. 22 Abs. 2 ermächtigt den Rat auf Grundlage des Kommissionsberichts, unbeschadet der anderen Bestimmungen dieses Vertrags, die zur Fortentwicklung der Unionsbürgerschaft erforderlichen Bestimmungen zu erlassen. Eine Unterschreitung des status quo, das heißt des in Art. 17 – 22 EGV vorhandenen Mindeststan48 O’Keeffe, Union Citizenship, in: O’Keeffe/Twomey (Hrsg.), Legal Issues of the Maastricht Treaty, S. 100 f. 49 Näheres dazu unten: E IX.

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C. Rechtliche Ausprägungen der Unionsbürgerschaft

dards, ist über die Vorschrift des Art. 22 EGV nicht möglich. Die Unzulässigkeit einer Rückentwicklung über diesen Artikel ergibt sich aus einer Zusammenschau des Art. 22 Abs. 1 und 2. In der Wortwahl der englischen Fassung tritt dies besonders deutlich hervor: So können „provisions to strengthen or to add to the rights laid down in this Part“ empfohlen werden. Demgegenüber sah die entsprechende, von der Luxemburger Ratspräsidentschaft ursprünglich vorgelegte und dann nicht angenommene Bestimmung noch die Möglichkeit einer „Modifizierung“ der Unionsbürgerrechte vor. Der in Kraft getretene Art. 22 Abs. 2 EGV sieht eine „Ergänzung“ der im Zweiten Teil des EGV vorgesehenen Rechte vor.50 Art. 22 Abs. 2 EGV gelangt zur Anwendung, sofern nicht andere Vertragsbestimmungen einschlägig sind. Speziellere Ergänzungsvorschriften, wie in Art. 18 Abs. 2 EGV vorgesehen, gehen vor. Art. 18 Abs. 2 enthält eine Ermächtigungsgrundlage zum Erlass von Vorschriften, mit denen die Ausübung des Freizügigkeitsrechts erleichtert wird. Seit dem Vertrag von Nizza wurden aus dem Anwendungsbereich des Art. 18 Abs. 2 allerdings bestimmte Vorschriften ausgenommen, so unter anderem auch Vorschriften betreffend die soziale Sicherheit oder den sozialen Schutz (Art. 18 Abs. 3). Insgesamt ermächtigt Art. 18 Abs. 2 lediglich dazu, vorhandene Beschränkungen und Bedingungen dieses Rechts aufzulösen; eine Erschwerung der Rechtsausübung ist auf diesem Wege nicht möglich.51 Davon abzugrenzen ist die Vorschrift des Art. 48 EUV über das förmliche Vertragsänderungsverfahren. Während Art. 18 und Art. 22 EGV sog. „systemimmanente“ Ergänzungen betreffen, ist die Ermächtigungsgrundlage des Art. 48 EUV für sog. „systemtransformierende“ Regelungen heranzuziehen.52 Letztere führen nicht zu einer Schaffung weiterer der bereits auf Grundlage des Unionsbürgerstatus bestehenden Rechte, sondern berühren den Unionsbürgerstatus an sich. Beispiele dafür wären eine Harmonisierung des Staatsangehörigkeitsrechts in den Mitgliedstaaten, die Verselbstständigung des Unionsbürgerstatus53 oder aber insbesondere eine Verschlechterung des Unionsbürgerstatus im Sinne einer Kürzung oder gar Entziehung der aktuell zugestandenen Rechte.

50 So auch: Magiera, in: Streinz, Art. 22 Rdn. 4–5; Haag, in: von der Groeben/Thiesing/ Ehlermann, Art. 8 e, Rdn. 4; Kluth, in: Calliess/Ruffert, Art. 22 Rdn. 5. 51 Magiera, in: Streinz, Art. 18 Rdn. 22; Hilf, in: Grabitz/Hilf, Art. 18 Rdn. 18. 52 Siehe Monar, Die Unionsbürgerschaft als konstitutives Element des Unionssystems, in: Hrbek (Hrsg.), Die Reform der Europäischen Union, S. 203 (213). 53 Kotalakidis, Von der nationalen Staatsangehörigkeit zur Unionsbürgerschaft, S. 203.

D. Das allgemeine Freizügigkeitsrecht als besondere Ausprägung der Unionsbürgerschaft D. Das allgemeine Freizügigkeitsrecht Bevor das Freizügigkeitsrecht des Art. 18 EGV im Einzelnen dargestellt wird, sind die Entwicklungslinien dieses Rechts aufzuzeigen. In einem ersten Schritt werden die marktbezogenen Freizügigkeitsrechte vorgestellt, gefolgt von den Freizügigkeitsrechten der sog. „Nichterwerbstätigen“, wie sie sich bereits vor Einführung des Maastrichter Vertrags darstellten. Um im letzten Schritt den qualitativen Sprung hin zum allgemeinen Freizügigkeitsrecht des Art. 18 EGV aufzuzeigen, sind neben den speziellen Freizügigkeitsbestimmungen die sog. Nichterwerbstätigen-Richtlinien darzustellen.

I. Marktbezogene Freizügigkeitsrechte I. Marktbezogene Freizügigkeitsrechte

Bereits der EWG- Vertrag war auf die marktbezogene Freizügigkeit der Angehörigen der Mitgliedstaaten ausgerichtet.1 „Ein Gemeinsamer Markt – ebenso wie nunmehr ein europäischer Binnenmarkt – ist nämlich nicht denkbar ohne die ungehinderte räumliche Mobilität der „Marktbürger“ über innergemeinschaftliche Grenzen hinweg.“2 Das Gemeinschaftsrecht garantiert deshalb den Angehörigen der Mitgliedstaaten Einreiserechte in andere Mitgliedstaaten und die entsprechenden Aufenthaltsrechte, damit sie einer wirtschaftlichen Tätigkeit nachkommen können. Charakteristisch für diese Einreise- und Aufenthaltsrechte ist ihr dienendes Element; so wird auch von der Freizügigkeit als Begleitrecht oder Nebenrecht in Ausübung der Marktfreiheiten gesprochen.3

1. Arbeitnehmerfreizügigkeit Entsprechend Art. 39 Abs. 1 EGV ist innerhalb der Gemeinschaft die Freizügigkeit der Arbeitnehmer gewährleistet. Diese umfasst nach Abs. 2 des Art. 39 EGV ein Diskriminierungsverbot in Bezug auf Beschäftigung, Entlohnung und sons1 Vgl. Rengeling, Freizügigkeit in der Europäischen Union, in: FS für Hartmut Maurer, S. 973. 2 Scheuing, Die Freizügigkeit der Unionsbürger in der Europäischen Union, in: Dreier (Hrsg.), Raum und Recht, FS 600 Jahre Würzburger Juristenfakultät, S. 103 (105). 3 Scheuing, Die Freizügigkeit der Unionsbürger in der Europäischen Union, in: Dreier (Hrsg.), Raum und Recht, FS 600 Jahre Würzburger Juristenfakultät, S. 103 (105); Becker, EuR 1999, S. 522.

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D. Das allgemeine Freizügigkeitsrecht

tige Arbeitsbedingungen. Ferner gewährt die Freizügigkeit der Arbeitnehmer diesen nach Abs. 3 das Recht, a) sich um tatsächlich angebotene Stellen zu bewerben, b) sich zu diesem Zweck im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen, c) sich in einem Mitgliedstaat aufzuhalten, um dort nach den für die Arbeitnehmer dieses Staates geltenden Rechts- und Verwaltungsvorschriften eine Beschäftigung auszuüben, d) nach Beendigung einer Beschäftigung im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats unter Bedingungen zu verbleiben, welche die Kommission in Durchführungsverordnungen festlegt. Hierbei tritt deutlich zum Vorschein, dass der hier verwendete Freizügigkeitsbegriff extensiv zu verstehen ist, nämlich in dem Sinne, dass er auch das Recht auf Ausübung einer unselbstständigen Berufstätigkeit im Aufenthaltsmitgliedstaat umfasst. Für die vorliegende Untersuchung interessant und näher zu betrachten sind das Aufenthaltsrecht der Arbeitnehmer und die daran anknüpfenden Gleichbehandlungsansprüche.

a) Das Aufenthaltsrecht der Arbeitnehmer Das Aufenthaltsrecht ergibt sich unmittelbar aus dem EG-Vertrag. Bedingung dafür ist, dass der Unionsbürger eine unselbstständige Berufstätigkeit ausübt, d. h. Arbeitnehmer im Sinne des Art. 39 EGV ist. Es umfasst ein Recht auf Ein- und Ausreise. In zeitlicher Hinsicht erfuhr dieses Recht eine Ausdehnung, und zwar einerseits durch eine Vorverlegung auf den Zeitraum der Stellensuche (bis zu 6 Monate,4 vgl. nun auch Art. 14 Abs. 4 b RL 2004/38/EG5) und andererseits dadurch, dass es nachwirkend gilt, wenn das Erwerbsleben wegen Erreichens der Altersgrenze oder wegen endgültiger Berufsunfähigkeit beendet wird (sog. Verbleiberecht).6 Eine Unterbrechung der Berufstätigkeit durch eine vorübergehende Arbeitsunfähigkeit infolge von Krankheit oder Unfall sowie eine unfreiwillig eingetretene Arbeitslosigkeit beeinträchtigen das Aufenthaltsrecht ebenfalls nicht.7 4 Vgl. Art. 48 Abs. 3 Ziffer b EWGV, nunmehr Art. 39 Abs. 3 Ziffer b EGV; der EuGH hält einen Zeitraum von 6 Monaten für angemessen: vgl. EuGH, Urteil vom 26.2.1991, Rs. C-292/89, Antonissen, Slg. 1991, I- 745 (779), Rdn. 21 f.; Rs. C-344/95, Kommission/Belgien, Slg. 1997, I-1035, Rdn. 16. 5 RL 2004/38/EG vom 29.04.04, ABl. EU L 158 vom 30.04.04, S. 77 berichtigt ABl. EU Nr. L 229 vom 29.06.04, S. 35. 6 Vgl. Art. 48 Abs. 3 Ziffer d EWGV, nunmehr Art. 39 Abs. 3 Ziffer d EGV i. V. m. Verordnung (EWG) Nr. 1251/70 der Kommission vom 29.6.1970 über das Recht der Arbeitnehmer, nach Beendigung einer Beschäftigung im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats zu verbleiben, ABl. EG 1970 Nr. 142, S. 24 ber. ABl. 1975 Nr. L 324/31. 7 Vgl. Art. 7 Abs. 1 der Richtlinie 68/360/EWG des Rates vom 15.10.1968 zur Aufhebung der Reise- und Aufenthaltsbeschränkungen für Arbeitnehmer der Mitgliedstaaten und ihre Familienangehörige innerhalb der Gemeinschaft, ABl. EG 1968 Nr. 257, S. 13. Nunmehr Art. 7 Abs. 3 a, b RL 2004/38/EG; einschränkend im Falle des Eintritts der Arbeitslosigkeit nach weniger als 12 Monaten: Art. 7 Abs. 3 c RL 2004/38/EG.

I. Marktbezogene Freizügigkeitsrechte

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Die sich bereits aus Art. 39 des EG-Vertrags ergebenden Rechte erfuhren ihre nähere Ausgestaltung durch die Richtlinie 68/360/EWG,8 nunmehr RL 2004/38/ EG.9 Neben der – notwendigerweise vorrangig zu gewährleistenden – freien Ausreise ist ebenso vorgeschrieben, dass auch die Einreise nicht von anderen Bedingungen als dem Vorliegen eines gültigen Personalausweises oder Reisepasses abhängig gemacht werden darf. Außer bei drittstaatsangehörigen Familienangehörigen darf auch kein Sichtvermerk oder ein gleichartiger Nachweis verlangt werden.10

b) Das Aufenthaltsrecht der Familienangehörigen Eine beträchtliche Erweiterung erfuhr der personelle Anwendungsbereich des aus der Arbeitnehmerfreizügigkeit abgeleiteten Aufenthaltsrechts durch das Sekundärrecht. So gewährt Art. 10 Abs. 1 VO (EWG) 1612/6811 auch dem Ehegatten und dessen Kindern, die das 21. Lebensjahr noch nicht vollendet haben bzw. für die Unterhalt gewährt wird, sowie den Verwandten in aufsteigender Linie, sofern ihnen Unterhalt gewährt wird, ein sog. abgeleitetes Freizügigkeitsrecht. Die Staatsangehörigkeit der derart begünstigten Familienangehörigen ist dabei ohne Bedeutung. Hintergrund dieser Regelungen ist maßgeblich der Gedanke des Schutzes von Ehe und Familie; zudem wird der die Arbeitnehmerfreizügigkeit in Anspruch nehmende Unionsbürger in seiner ganzen Eigenschaft als Mensch gesehen und damit auch als soziales Wesen und nicht nur reduziert auf seine Arbeitskraft. In Zukunft ergibt sich das abgeleitete Freizügigkeitsrecht aus Art. 7 Abs. 1 d und Art. 7 Abs. 2 RL 2004/38/EG. Zu beachten ist, dass es dabei zu einer Ausdehnung des Begriffs „Familienangehöriger“ kommt. In Art. 2 Nr. 2 RL 2004/38/EG ist der Ausdruck legal definiert. Dabei fallen unter bestimmten Voraussetzungen auch Lebenspartner unter die Vorschrift. Die Art. 12 und 13 RL 2004/38/EG enthalten zudem spezielle Regelungen hinsichtlich der Aufrechterhaltung des Aufenthaltsrechts der Familienangehörigen bei Tod, Wegzug des Unionsbürgers bzw. bei Scheidung oder Beendigung der eingetragenen Partnerschaft.

c) Diskriminierungsverbot Neben der Sicherstellung einer grenzüberschreitenden Mobilität enthält Art. 39 Abs. 2 EGV zugunsten von Wanderarbeitnehmern auch ein Diskriminierungsverbot in Bezug auf eine unterschiedliche Behandlung wegen ihrer Staatsangehörig8

ABl. 1968 Nr. L 257/13. RL 2004/38/EG vom 29.04.04, ABl. EU L 158 vom 30.04.04, S. 77 berichtigt ABl. EU Nr. L 229 vom 29.06.04, S. 35. 10 EuGH, Rs. 157/79, Pieck, Slg. 1980, 2171, Rdn. 8; Rs. C-378/97, Wijsenbeek, Slg. 1999, I-6207, Rdn. 43 ff. 11 ABl. Nr. L 257 vom 19.10.1968, S. 2 ff. 9

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D. Das allgemeine Freizügigkeitsrecht

keit. Untersagt sind demnach nicht nur offene, sog. unmittelbare Diskriminierungen, sondern auch versteckte oder mittelbare Diskriminierungen. Letztere führen regelmäßig aufgrund einer Anknüpfung an den Wohnsitz oder Herkunftsstaat oder Ähnlichem zu einer Benachteiligung der EG-Arbeitnehmer.12 Insbesondere auch auf dem Gebiet der Sozialversicherung darf dem Arbeitnehmer im Verhältnis zu seinen im Inland verbleibenden Kollegen kein Nachteil daraus entstehen, dass er von seiner Arbeitnehmerfreizügigkeit Gebrauch macht.13 Als spezielle sekundärrechtliche Ausprägung des Diskriminierungsverbots nach Art. 12 EGV gebietet Art. 7 Abs. 2 VO (EWG) 1612/68,14 dass von der Arbeitnehmerfreizügigkeit Gebrauch machende Arbeitnehmer die gleichen sozialen und steuerlichen Vergünstigungen wie die inländischen Arbeitnehmer genießen. Der Begriff der „sozialen Vergünstigungen“ ist sehr weit zu fassen;15 es sind darunter „alle Vergünstigungen zu verstehen, die – ob sie an einen Arbeitsvertrag anknüpfen nicht – den inländischen Arbeitnehmern wegen ihrer objektiven Arbeitnehmereigenschaft oder einfach wegen ihres Wohnorts im Inland allgemein gewährt werden und deren Ausdehnung auf die Arbeitnehmer, die Staatsangehörige eines anderen Mitgliedstaats sind, deshalb als geeignet erscheint, deren Mobilität innerhalb der Gemeinschaft zu erleichtern“.16 Insbesondere folgende Geld- und Sachleistungen sah der EuGH als soziale Vergünstigungen im Sinne des Art. 7 Abs. 2 der VO (EWG) 1612/68 an17: Leistungen für Behinderte, Kindergeld, Bestattungsgeld, Geburtsbeihilfen, Erziehungsgeld, Wohngeld, Überbrückungsgelder für junge Arbeitslose, Leistungen für kinderreiche Familien wie z. B. Fahrpreisermäßigung, Leistungen zur Sicherung des Existenzminimums und auch Ausbildungsförderung und Stipendien für Studenten. Die früher vorherrschende Ansicht, wonach soziale Vergünstigungen, welche unter die sozialrechtliche VO Nr. 1408/71 fallen, ausschließlich durch diese

12 EuGH, Rs. C-326/90, Kommission/Belgien, Slg. 1992, I-5517, 5527 f.; EuGH, Rs. C-350/ 96, Clean Car Autoservice, Slg. 1998, I-2521, Rdn. 29. 13 Vgl. Art. 3 Abs. 1 der Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 über die Anwendung der Systeme der sozialen Sicherheit auf die Arbeitnehmer und Selbständige sowie deren Familienangehörige, in innerhalb der Gemeinschaft zu- und abwandern, ABl. Nr. L 149 vom 5.7.1971, S. 2–50; EuGH, Rs. 10/90, Masgio, Slg. 1991, I-1119, Rdn. 18. 14 Verordnung des Rates vom 15.10.1968 über die Freizügigkeit der Arbeitnehmer innerhalb der Gemeinschaft, ABl. Nr. L 257 vom 19.10.1968, S. 2 ff. 15 Siehe dazu zum Beispiel: Steiner, E. L.Rev. 1985, S. 21; Peers, E. L.Rev. 1997, S. 157; O’Keeffe, YEL 1985, S. 93. 16 EuGH, Rs. 249/83, Hoeckx, Slg. 1985, 973, Rdn. 20; Rs. 157/84, Frascogna, Slg. 1985, 1739, Rdn. 20; Rs. 94/84, Deak, Slg. 1985, 1873, Rdn. 21; Rs. 59/85, Reed, Slg. 1986, 1283, Rdn. 26; Rs. 39/86, Lair, Slg. 1988, 3161, Rdn. 21; Rs. C-310/91, Schmid, Slg. 1993, I-3011, Rdn. 18; Rs. C-57/96, Meints, Slg. 1997, I-6689, Rdn. 39; Rs. C-85/96, Martinez Sala, Slg. 1998, I-2691, Rdn. 25; Rs. C-185/96, Kommission/Griechische Republik, Slg. 1998, I-6601, Rdn. 20. 17 Siehe dazu mit weiteren Nachweisen: Brechmann, in: Calliess/Ruffert, Art. 39 EGV Rdn. 63.

I. Marktbezogene Freizügigkeitsrechte

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zu handhaben sind,18 hat der EuGH aufgegeben. Nach neuerer Rechtsprechung kommt Art. 7 Abs. 2 VO (EWG) 1612/68 auch subsidiär auf Leistungen der sozialen Sicherheit zur Anwendung.19 Eine Leistung der sozialen Sicherheit liegt vor, „wenn sie den Empfängern unabhängig von jeder auf Ermessensausübung beruhenden Einzelfallbeurteilung der persönlichen Bedürftigkeit aufgrund einer gesetzlich umschriebenen Stellung gewährt wird und sich auf eines der in Art. 4 Abs. 1 der VO 1408/71 ausdrücklich aufgezählten Risiken bezieht“.20 Dazu zählen beispielsweise Leistungen für Unfall, Krankheit, Alter, Arbeitslosigkeit, Invalidität, Mutterschaftsbeihilfen oder Kindergeld. Die Sozialhilfe gehört nach Art. 4 Abs. 4 VO 1408/71 ausdrücklich nicht dazu. Art. 7 Abs. 2 der VO (EWG) 1612/68 besteht auch seit Geltung der neuen Aufenthaltsrichtlinie RL 2004/38 fort.

d) Soziale Leistungen an Familienangehörige des Arbeitnehmers Auch Familienangehörige des EG-Arbeitnehmers können bestimmte soziale Vergünstigungen im eigenen Namen geltend machen, wenn sie den Familienangehörigen eines inländischen Arbeitnehmers ebenfalls direkt gewährt werden.21 Für Kinder von EG-Arbeitnehmern ist die weiterhin geltende Vorschrift des Art. 12 S. 1 VO (EWG) 1612/6822 von besonderem Interesse, da sie danach unter den gleichen Bedingungen wie die Staatsangehörigen des Wohnsitzmitgliedstaates am allgemeinen Unterricht sowie an der Lehrlings- und Berufsausbildung teilnehmen können. Erfasst werden jegliche Erscheinungsformen des Unterrichts und der Ausbildung; so auch ein Studium an Hochschulen.23 Über Zulassungsbedingungen hinaus werden vom Anwendungsbereich der Vorschrift auch alle sonstigen Maßnahmen, welche die Teilnahme am Unterricht und an der Ausbildung erleichtern, mit umfasst. Dieses spezielle Gleichbehandlungsgebot betrifft insbesondere die soziale Hilfe zur Finanzierung des Lebensunterhalts und der Ausbildung.24 Der Studienort ist unerheblich; er kann daher auch im Ausland liegen.25 Nicht erfor18 So z. B. EuGH, Rs. 1/72, Frilli, Slg. 1972, 457, Rdn. 4; Rs. 122/84, Scrivner, Slg. 1985, 1027, Rdn. 16. 19 EuGH, Rs. C-111/91, Kommission/Luxemburg, Slg. 1993, I-817, Rdn. 21; Rs. C-85/96, Martinez Sala, Slg. 1998, I-2691, Rdn. 27; Rs. C-185/96, Kommission/Griechenland, Slg. 1998, I-6601, Rdn. 21. 20 EuGH, Rs. C-78/91, Hughes, Slg. 1992, 4839 Rdn. 15. 21 Näheres dazu: Brechmann, in: Calliess/Ruffert, Art. 39 Rdn. 69 mit Rechtsprechungsnachweis in Rdn. 227. 22 ABl. Nr. L 257 vom 19.10.1968, S. 2 ff. 23 EuGH, verb. Rs. 389 und 390/87, Echternach, Slg. 1989, 723, Rdn. 30; Rs. C-7/94, Gaal, Slg. 1995, I-1031, Rdn. 24. 24 EuGH, Rs. 76/72, Michel, Slg. 1973, 463, Rdn. 16; Rs. 9/74, Casagrande, Slg. 1974, 773, Rdn. 4; Rs. 68/74, Alaimo, Slg. 1975, 109, Rdn. 5,7; verb. Rs. 389 und 390/87, Echternach, Slg. 1989, 723, Rd. 33; Rs. C-308/89, Carmina di Leo, Slg. 1990, I-4185, Rdn. 9; Rs. C-7/94, Gaal, Slg. 1995, I-1031, Rdn. 19. 25 EuGH, Rs. C-308/89, Carmina di Leo, Slg. 1990, 4185, Rdn. 12.

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D. Das allgemeine Freizügigkeitsrecht

derlich ist, dass die Kinder die Staatsangehörigkeit eines EG-Mitgliedstaates besitzen.

e) Soziale Leistungen an Studenten im Zusammenhang mit der Arbeitnehmerfreizügigkeit Unionsbürger, welche sich im Anschluss an eine Arbeitnehmertätigkeit in einem anderen Mitgliedsstaat zu einem dortigen Hochschulstudium oder sonstigen Studium entscheiden, können unter den gleichen Voraussetzungen wie die inländischen Bürger öffentliche Förderungen beanspruchen. Voraussetzung dafür ist allerdings, dass sich der EU-Bürger weiterhin auf die Arbeitnehmerfreizügigkeit berufen kann – sie muss sozusagen fortwirken.26 Davon ist dann auszugehen, wenn die Ausbildung in sachlichem Zusammenhang mit der Berufstätigkeit steht. „Im Bereich der Hochschulausbildungsförderung setzt ein solcher Zusammenhang zwischen der Arbeitnehmereigenschaft und einer Förderung, die für den Lebensunterhalt und die Ausbildung zur Durchführung eines Hochschulstudiums gewährt wird, jedoch eine Kontinuität zwischen der zuvor ausgeübten Berufstätigkeit und dem aufgenommenen Studium in dem Sinne voraus, daß zwischen dem Gegenstand des Studiums und der früheren Berufstätigkeit ein Zusammenhang bestehen muß. Eine solche Kontinuität kann allerdings nicht verlangt werden im Falle eines Wanderarbeitnehmers, der unfreiwillig arbeitslos geworden ist und den die Lage auf dem Arbeitsmarkt zu einer beruflichen Umschulung in einem anderen Berufszweig zwingt.“27 Aus dem Umstand, dass ein Arbeitsvertrag von vornherein als befristeter Vertrag geschlossen wurde, kann nicht zwingend geschlossen werden, dass der Arbeitnehmer mit Vertragsablauf automatisch freiwillig arbeitslos ist.28 Vor dem Hintergrund der Tatsache, dass der gemeinschaftsrechtliche Arbeitnehmerbegriff keine bestimmte Dauer29 der Beschäftigung voraussetzt und dass die danach gewährten Arbeitnehmerrechte nicht von einem bestimmten Mindest26 EuGH, Rs. 39/86, Lair, Slg. 1988, 3161, Rdn. 23; Rs. 197/86, Brown, Slg. 1988, 3205, Rdn. 12; Rs. 235/87, Matteucci, Slg. 1988, 5589, Rdn. 11; Rs. C-3/90, Bernini, Slg. 1992, I-1071, Rdn. 23. 27 EuGH, Rs. 39/86, Lair, Slg. 1988, 3161 (3200), Rdn. 37; vgl. die Umsetzung in § 8 Abs. 1 Nr. 4 Bundesausbildungsförderungsgesetz, wonach Ausbildungsförderung geleistet wird: „Auszubildenden, die die Staatsangehörigkeit eines anderen Mitgliedstaates der Europäischen Union oder eines anderen Vertragsstaates des Abkommens über den Europäischen Wirtschaftsraum haben und im Inland vor Beginn der Ausbildung in einem Beschäftigungsverhältnis gestanden haben; zwischen der darin ausgeübten Tätigkeit und dem Gegenstand der Ausbildung muss grundsätzlich ein inhaltlicher Zusammenhang bestehen.“ 28 EuGH, Rs. C-413/01, Franca Ninni-Orasche, Slg. 2003, I-13187, Rdn. 42. 29 EuGH, Rs. C-413/01, Franca Ninni-Orasche, Slg. 2003, I-13187, Rdn. 25; vgl. auch EuGH, Rs. 53/81, Levin, Slg. 1982, 1035, Rdn. 17; EuGH, Rs. C-337/97, Meeusen, Slg. 1999, I-3289, Rdn. 13.

I. Marktbezogene Freizügigkeitsrechte

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aufenthalt im Aufnahmemitgliedstaat abhängig gemacht werden dürfen,30 ergibt sich die Gefahr, dass die Institution der Arbeitnehmerfreizügigkeit zu dem Zweck missbraucht wird, Zugang zu den einzelnen nationalen Sozialleistungen zu erhalten. Dem wirkt der EuGH dadurch entgegen, dass er zum einen im Falle der freiwilligen Arbeitsaufgabe eine sachliche Kontinuität zwischen bisheriger Tätigkeit und nun zu förderndem Studium verlangt. Zum anderen besteht nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs kein Anspruch auf Studienförderung, wenn die Arbeitnehmertätigkeit im Aufenthaltsmitgliedstaat sich nur als ein „untergeordnetes Durchgangsstadium“31 auf dem Weg zum Studium darstellt. „Soweit das Vorbringen der Mitgliedstaaten von der Sorge bestimmt ist, gewissen Mißbräuchen vorzubeugen, von denen etwa dann die Rede sein könnte, wenn sich anhand objektiver Merkmale nachweisen ließe, daß sich ein Arbeitnehmer nur in der Absicht in einen Mitgliedstaat begibt, dort nach einer sehr kurzen Berufstätigkeit eine Förderung für Studenten in Anspruch zu nehmen, ist festzustellen, daß solche Mißbräuche durch die in Rede stehenden gemeinschaftsrechtlichen Bestimmungen nicht gedeckt sind.“32

2. Die Niederlassungsfreiheit Die Niederlassungsfreiheit bildet das Pendant zu der Arbeitnehmerfreiheit für die Fälle der dauerhaften selbstständigen Ausübung einer Erwerbstätigkeit mit fester Niederlassung in einem anderen EU-Mitgliedstaat als dem Heimatstaat. Für die Einreise der Niederlassungsberechtigten und ihrer Familienangehörigen, für ihr Aufenthaltsrecht sowie für deren soziale Absicherung gilt im Grundsatz das gleiche wie für die Arbeitnehmer und ihre Angehörigen im Bereich der Arbeitnehmerfreizügigkeit.33 Ihre nähere Ausprägung erfuhren diese Rechte durch die Richtlinie 73/148/EWG34 sowie die Richtlinie 75/34/EWG.35 Beide Richtlinien werden zukünftig durch die einheitliche Aufenthaltsrichtlinie RL 2004/38/EG36 ersetzt. Für den Bereich der sozialen Sicherheit ist die VO 1408/71 von großer Bedeutung. Auch hinsichtlich der Gewährung von sozialen Leistungen ist das sich aus Art. 43 30 EuGH, Rs. 249/83, Hoeckx, Slg. 1985, 973; EuGH, Rs. 157/84, Frascogna, Slg. 1985, 1739. 31 Scheuing, Die Freizügigkeit der Unionsbürger in der Europäischen Union, in: Dreier (Hrsg.), Festschrift 600 Jahr Würzburger Juristenfakultät, S. 103 (110). 32 EuGH, Rs. 39/86, Lair, Slg. 1988, 3161, Rdn. 43; EuGH, Rs. 197/86, Brown, Slg. 1988, 3205, Rdn. 27; EuGH, Rs. C-413/01, Franca Ninni-Orasche, Slg. 2003, I-13187, Rdn. 36. 33 Vgl. dazu eingehend: D. I. 1. 34 RL 73/148/EWG des Rates vom 21.5.1973 zur Aufhebung der Reise- und Aufenthaltsbeschränkungen für Staatsangehörige der Mitgliedstaaten innerhalb der Gemeinschaft auf dem Gebiet der Niederlassung und des Dienstleistungsverkehrs, ABl. EG L 172/14 (1973). 35 RL 75/34/EWG des Rates vom 17.12.1974 über das Recht der Staatsangehörigen eines Mitgliedstaats, nach Beendigung der Ausübung einer selbstständigen Tätigkeit im Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats zu verbleiben, ABl. EG L 14/10 (1975). 36 RL 2004/38/EG vom 29.04.04, ABl. EU L 158 vom 30.04.04, S. 77 berichtigt ABl. EU Nr. L 229 vom 29.06.04, S. 35.

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D. Das allgemeine Freizügigkeitsrecht

Abs. 2 EGV ergebende Gebot der Gleichbehandlung zu berücksichtigen. Dies hat zur Folge, dass Kinder von niedergelassenen EU-Bürgern im Aufenthaltsstaat die gleiche Studienfinanzierung wie Kinder der eigenen Staatsangehörigen beanspruchen können.37

3. Die Dienstleistungsfreiheit Der Dienstleistungsfreiheit kann eine freizügigkeitsrechtliche Dimension in zwei verschiedenen Fallkonstellationen zukommen: Einerseits können entsprechend Art. 49 Abs. 1 EGV Angehörige der Mitgliedstaaten Dienstleistungen in einem anderen Mitgliedstaat erbringen: Daraus wird zugleich ein unmittelbares Freizügigkeitsrecht für Dienstleistungserbringer hergeleitet.38 Andererseits wird der Anwendungsbereich durch die gängige Rechtsprechung des EuGH immens erweitert, indem er auch Dienstleistungsempfänger (sog. passive Dienstleistungsfreiheit) in den Anwendungsbereich der Freiheit aufnimmt:39 Angehörige der Mitgliedstaaten genießen damit auch als Patienten und Touristen ein Recht auf Freizügigkeit in einem anderen Mitgliedstaat der EU. Dieses Recht unterscheidet sich von den Freizügigkeitsrechten der Arbeitnehmer und Niedergelassenen jedoch wesentlich in seiner Geltungsdauer: Die Dienstleistungsfreiheit berechtigt nur zu vorübergehendem Überschreiten der Grenze. Schließlich gebietet Art. 50 Abs. 3 EGV die Gleichbehandlung von EU-Dienstleistungserbringern mit inländischen Dienstleistungsanbietern und aufgrund entsprechender Anwendung auch von Dienstleistungsempfängern. So kann EU-Ausländern der gleiche – das heißt wie den Inländern zugestandene – Zugang zu Wohnungen und zu Immobiliarkrediten zu gewähren sein.40 Auch ohne konkreten Bezug zur Dienstleistungsfreiheit kann sich unter Zuhilfenahme von Art. 12 EGV ein Anspruch auf Gleichbehandlung in Situationen des alltäglichen Lebens ergeben. Eine Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit ist demnach gegenüber EU-Ausländern verboten, welche sich als potenzielle Dienstleistungsempfänger in einem anderen Mitgliedstaat aufhalten und damit in den An37

EuGH, Rs. C-337/97, Meeusen, Slg. 1999, 3289, Rdn. 27 ff. EuGH, Rs. 48/75, Royer, Slg. 1976, 497, Rdn. 19, 23, 50; Rs. C-363/89, Roux, Slg. 1991, 273, Rdn. 9; vgl. diesbezüglich auch die Richtlinie 73/148/EWG zur Aufhebung der Reise- und Aufenthaltsbeschränkungen für Staatsangehörige der Mitgliedstaaten innerhalb der Gemeinschaft auf dem Gebiet der Niederlassung und des Dienstleistungsverkehrs, vom 21.5.1973, ABl. Nr. L 172/14. 39 EuGH, Rs. 286/82 und 26/83, Luisi und Carbone, Slg. 1984, 377, Rdn. 10; EuGH, Rs. C-68/98, Kommission/Niederlande (Grenzkontrollen), Slg. 1991, I-2637, Rdn. 10; EuGH, Rs. C-274/96, Bickel und Franz, Slg. 1998, I-7637, Rdn. 15. 40 EuGH, Rs. 305/87, Kommission/Griechenland (Grundstückseigentum), Slg. 1989, 1461, Rdn. 24; Rs. 63/86, Kommission/Italien (Sozialwohnungen und Immobiliarkredit), Slg. 1988, 29; Scheuing, Die Freizügigkeit der Unionsbürger in der Europäischen Union, in: Dreier (Hrsg.), Raum und Recht, Festschrift 600 Jahre Würzburger Juristenfakultät, S. 103 (113). 38

II. Die sog. Gravier-Doktrin

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wendungsbereich des EGV fallen. Opfer einer Gewalttat können deshalb vom Aufenthaltsstaat die gleiche Entschädigung verlangen wie sie für die eigenen Staatsangehörigen vorgesehen ist. In seiner Cowan-Entscheidung begründet dies der EuGH wie folgt: „Garantiert nämlich das Gemeinschaftsrecht einer natürlichen Person die Freiheit, sich in einen anderen Mitgliedstaat zu begeben, so ist zwingende Folge dieser Freizügigkeit, dass Leib und Leben dieser Person in dem betreffenden Mitgliedstaat in gleicher Weise geschützt sind, wie dies bei den eigenen Staatsangehörigen … der Fall ist.“41 In dem Urteil Bickel und Franz beanstandete der EuGH die italienische Regelung, die der in der Provinz Bozen ansässigen deutschen Sprachminderheit das Recht auf Durchführung eines Gerichtsverfahrens in ihrer Sprache gewährleistet, nicht aber deutschsprachigen Bürgern anderer EU-Mitgliedstaaten.42 Hierin ist ein Verstoß gegen das Diskriminierungsverbot des Art. 12 EGV zu erblicken, auf welches sich die Kläger Bickel und Franz im Rahmen ihrer sog. passiven Dienstleistungsfreiheit berufen können. Studierende können als Dienstleistungsempfänger angesehen werden, sofern der Zugang zur Ausbildungsstätte – wie z. B. bei privaten Hochschulen – entgeltlich erfolgt und sie damit in den Genuss des Gleichbehandlungsgrundsatzes aufgrund der Dienstleistungsfreiheit gelangen.43

II. Freizügigkeitsrechte im Zusammenhang mit einer Berufsausbildung (sog. „Gravier-Doktrin“) II. Die sog. Gravier-Doktrin

Im Hinblick auf den Zugang zur Berufsausbildung hat der EuGH für Angehörige der EU-Mitgliedstaaten, welche sich nicht auf die spezifischen Rechte der einzelnen Grundfreiheiten berufen können, aus dem Diskriminierungsverbot des Art. 7 EWG-Vertrag (heute: Art. 12 EGV) ein sog. ausbildungsbezogenes Freizügigkeitsrecht44 hergeleitet. Dieses gelangt nur dann zur Anwendung, wenn sich die Angehörigen der EU-Mitgliedstaaten nicht bereits als Wanderarbeitnehmer45 oder als Familienangehörige eines solchen46 auf die Arbeitnehmerfreizügigkeit berufen können. Ein Rückgriff auf die grundsätzlich sehr weit aufgefasste passive Dienst-

41

EuGH, Rs. 186/87, Cowan, Slg. 1989, 195, Rdn. 17. EuGH, Rs. C-274/96, Bickel und Franz, Slg. 1998, I-7637, Rdn. 14 f. 43 EuGH, Rs. 263/86, Humbel, Slg. 1988, 5365, Rdn. 14 ff. 44 EuGH, Rs. C-357/89, Raulin, Slg. 1992, I-1027 (1065), Rdn. 34; Rs. C-295/90, Europäisches Parlament/Rat, Slg. 1992, I-4193 (4234), Rdn. 15. Vgl. dazu auch: Scheuing, Die Freizügigkeit der Unionsbürger in der Europäischen Union, in: Dreier (Hrsg.), Raum und Recht, Festschrift 600 Jahre Würzburger Juristenfakultät, S. 116; Renner, ZAR 2001, S. 51 ff. 45 Näheres dazu: D. I. 1. a, e. Zur Kontinuität zwischen Arbeit und Studium: Rs. 39/68, Lair, Slg. 1988, 3161.Vgl. den Anspruch aus Art. 7 Abs. 2 der VO Nr. 1612/68. 46 Näheres dazu: D. I. 1. b); vgl. den Anspruch aus Art. 12 S.1 der VO Nr. 1612/68. 42

D. Das allgemeine Freizügigkeitsrecht

48

leistungsfreiheit scheitert an dem grundsätzlich unentgeltlichen Charakter des Unterrichts an öffentlichen Bildungsanstalten.47 Im Folgenden ist zu erörtern, welche Rechte den Studenten im Rahmen dieses Aufenthaltsrechts zustehen. Insbesondere ist fraglich, ob und ggf. in welchem Umfang ihnen ein Gleichbehandlungsanspruch zusteht. Bedingung für die Anwendung des in Art. 7 EWG-Vertrag (heute: Art. 12 EGV) enthaltenen Diskriminierungsverbots aus Gründen der Staatsangehörigkeit ist, dass der Anwendungsbereich des Vertrags eröffnet ist. Dem EuGH zufolge ist der Anwendungsbereich des EGV jedenfalls dann eröffnet, wenn es um Voraussetzungen für den Zugang zur Berufsausbildung geht. In dem dazu grundlegenden Gravier-Urteil musste der Gerichtshof entscheiden, ob die belgische Vorschrift, wonach EU-ausländische Studenten eine Studiengebühr zu entrichten hatten, Studenten mit belgischer Staatsangehörigkeit aber nicht, mit dem Europarecht vereinbar war. Fällt die belgische Regelung in den Anwendungsbereich des EGV, so verstößt sie gegen das Diskriminierungsverbot aus Gründen der Staatsangehörigkeit. Der EuGH bemerkte dazu Folgendes: „Als erstes ist hierzu festzustellen, daß die Organisation des Bildungswesens und die Bildungspolitik als solche zwar nicht zu den Materien gehören, die der Vertrag der Zuständigkeit der Gemeinschaftsorgane unterworfen hat; gleichwohl stehen der Zugang zum und die Teilnahme am Unterricht im Bildungswesen und in der Lehrlingsausbildung, insbesondere, wenn es sich um die Berufsausbildung handelt, nicht außerhalb des Gemeinschaftsrechts.“48

Dieses Ergebnis leite sich maßgeblich aus Art. 128 EWG-Vertrag (heute: Art. 149 EGV) her, welcher bestimmt, dass der Rat für den Bereich der Berufsausbildung allgemeine Grundsätze zur Durchführung einer gemeinsamen Politik aufstellen kann. Ein Universitätsstudium stellt regelmäßig eine Berufsausbildung in diesem Sinne dar.49 Art. 7 EWG-Vertrag (heute: Art. 12 EGV) untersagt es daher, von Studenten aus anderen EU-Mitgliedstaaten eine besondere Ausländerstudiengebühr zu verlangen. Studenten aus anderen EU-Mitgliedstaaten sind demnach gleich zu behandeln wie Studenten mit der Staatsangehörigkeit des Aufnahmemitgliedsstaats. Dies gilt allerdings nicht generell; vielmehr nahm der EuGH eine wichtige Einschränkung vor: Die Gleichbehandlung erstreckt sich nur auf Beihilfen, welche die Kosten bzw. einen Teil der Kosten der erhobenen Einschreibegebühren oder andere für den Zugang zum Studium verlangten Gebühren (wie Studiengebühren) decken sollen. Den Anwendungsbereich des EWG-Vertrags sah der EuGH in seinen Entscheidungen aus den Jahren 1988 nach dem damaligen Entwicklungsstand des Gemeinschaftsrechts hingegen nicht eröffnet, sofern es um die allgemeine – da über die Bezuschussung der Einschreibe- und Studiengebühren hinausreichende – 47

EuGH, Rs. 263/86, Humbel, Slg. 1988, 5365, Rdn. 16 ff. EuGH, Rs. 293/83, Gravier, Slg. 1985, 593 (612), Rdn. 19. 49 EuGH, Rs. 24/86, Blaizot, Slg. 1988, 379 (403), Rdn. 15. Zur Berufsausbildung gehört „jede Form der Ausbildung, die auf eine Qualifikation für einen bestimmten Beruf oder eine bestimmte Beschäftigung vorbereitet oder die die besondere Befähigung zur Ausübung eines solchen Berufes oder einer solchen Beschäftigung verleiht“. 48

III. Sekundärrecht

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Förderung des Lebensunterhalts und der Ausbildung der Studenten ging.50 Mittlerweile gab der EuGH diese Rechtsprechung ausdrücklich auf.51 Die weitgehende Verwirklichung der Arbeitnehmer-, Niederlassungs- und Dienstleistungsfreiheit bringt es mit sich, dass den von diesen Freiheiten Gebrauch machenden Unionsbürgern Freizügigkeitsrechte zugestanden werden. Dass dabei – vor allem ursprünglich – die Marktfreiheit im Vordergrund stand und die Einreise- und Aufenthaltsrechte „nur“ als Begleitrechte bezeichnet wurden, wurde der Bedeutung dieser Rechte nicht ganz gerecht: Die Freizügigkeitsrechte bilden einen notwendigen und wichtigen Bestandteil der Marktfreiheiten. Daneben wurde aufgezeigt, dass durch ergänzende Richtlinien und insbesondere durch eine vom EuGH vorangetriebene extensive Rechtsfortbildung die Freizügigkeitsrechte langsam, aber stetig eine Entkoppelung von ihrem ursprünglichen Bezugspunkt, nämlich den aufgezählten Marktfreiheiten, erfuhren. Zu erinnern sei nur an die abgeleiteten Einreise- und Aufenthaltsrechte der Familienangehörigen, welche auf eine umfassende Integration des Wanderarbeitnehmers einschließlich seiner Familie in dem Aufenthaltsstaat abzielen, sowie auf anderer Ebene an die Freizügigkeitsrechte der Touristen. Diese Entwicklungslinie fand in besonders deutlicher Weise auch mittels der drei Aufenthaltsrichtlinien über das Aufenthaltsrecht der Studenten, Rentner und sonstigen nicht Erwerbstätigen ihre Bestätigung.

III. Sekundärrechtliche Freizügigkeitsregelungen: Die drei Aufenthaltsrichtlinien III. Sekundärrecht

1. Bedeutung Die Richtlinie 90/364/EWG über das Aufenthaltsrecht, die Richtlinie 90/365/ EWG über das Aufenthaltsrecht der aus dem Erwerbsleben ausgeschiedenen Arbeitnehmer und selbstständig Erwerbstätigen sowie die Richtlinie 93/96/EWG über das Aufenthaltsrecht der Studenten können auch zusammenfassend als sog. Nichterwerbstätigen-Richtlinien bezeichnet werden. Sie bedürfen einer eingehenden Betrachtung, da diese Richtlinien Bestimmungen über die Beschränkungen und Bedingungen des Freizügigkeitsrechts enthalten. Auch wenn mittlerweile die vereinheitlichte Aufenthaltsrichtlinie (RL 2004/38/EG)52 gilt, sind die Vorgängervorschriften näher zu betrachten, um die Entwicklung aufzeigen zu können. Der sich aus Art. 18 Abs. 1 EGV i. V. m. den Nichterwerbstätigenrichtlinien ergebende status quo darf grundsätzlich durch eine nachfolgende Regelung nicht unterschrit50 EuGH, Rs. 39/86, Lair, Slg. 1988, 3161 (3195), Rdn. 15, 16; EuGH, Rs. 197/86, Brown, Slg. 1988, 3205 (3243), Rdn. 17, 18; EuGH, Rs. C-357/89, Raulin, Slg. 1992, I-1027 (1063), Rdn. 28. 51 Eingehend dazu H. II. 2. 52 Im Einzelnen hierzu siehe unten zum Aufenthaltsrecht E. VIII. und F. V. sowie zur Gleichbehandlung: H. VIII.

50

D. Das allgemeine Freizügigkeitsrecht

ten werden. Art. 18 Abs. 2 EGV ermächtigt lediglich zum Erlass von Vorschriften, welche die Ausübung der Rechte des Absatzes 1 „erleichtern“ und zu einer Liberalisierung führen. Die Verschärfung der in den Nichterwerbstätigenrichtlinien enthaltenen Beschränkungen bzw. die zusätzliche Einführung weiterer Beschränkungen ist im Rahmen dieser Durchführungsvorschriften nicht möglich.53 Das allgemeine Freizügigkeitsrecht in seinem bisherigen Umfang wird als Mindeststandard garantiert.54

2. Entwicklung Bereits im Jahre 1977 erhob das Europäische Parlament die Forderung, den Bürgern der Europäischen Gemeinschaft besondere Rechte zuzuerkennen.55 Der von der Kommission 1979 vorgelegte Entwurf für eine Richtlinie zur Regelung eines allgemeinen Aufenthaltsrechts56 (entsprechend dem Verfahren der Art. 235 EWGV, Art. 56 Abs. II EWGV) konnte sich lange Zeit nicht durchsetzen. Die Diskussion war vor allem durch die Sorge bestimmt, dass die öffentlichen Finanzen des Aufnahmemitgliedstaates belastet würden. Mit Einführung des Vorbehalts ausreichender Existenzmittel sowie eines Krankenversicherungsschutzes konnten diese Bedenken ausgeräumt werden. Im Jahr 1990 verabschiedete die Europäische Gemeinschaft schließlich auf Grundlage des Art. 235 EWG Vertrag (heute: Art. 308 EGV) die drei Nichterwerbstätigenrichtlinien.57 Die Richtlinie über das Aufenthaltsrecht der Studenten (RL 90/366/EWG) erklärte der EuGH wegen Erlasses aufgrund der falschen Rechtsgrundlage für nichtig, wenn auch unter vorläufiger Beibehaltung ihrer Wirkung.58 Im Jahr 1993 wurde sie ohne inhaltliche Änderung auf Grundlage des Art. 7 Abs. 2 EWG-Vertrags (heute: Art. 12 Abs. 2 EGV) neu erlassen.59 53

Scheuing, EuR 2003, S. 767. Haag, in: von der Groeben/Thiesing/Ehlermann, Art. 18, Rdn. 17; Kluth, in: Calliess/ Ruffert, Art. 18 Rdn. 15; Magiera, in: Streinz, Art. 18 Rdn. 22. 55 Punkt 3 j der Entschließung des Europäischen Parlaments vom 16.11.1977 zur Zuerkennung besonderer Rechte an die Bürger der Europäischen Gemeinschaft in Durchführung des Beschlusses der Gipfelkonferenz von Paris vom Dezember 1974, ABl. EG 1977 Nr. C 299, 26; Scheuing, Die Freizügigkeit der Unionsbürger in der Europäischen Union, in: FS 600 Jahre Würzburger Juristenfakultät, S. 114; Bieber, EuGRZ 1978, S. 203 (206); Zur historischen Entwicklung der Unionsbürgerschaft allgemein: B. II. 56 ABl. EG 1979 Nr. C 207, 14. 57 Richtlinie 90/364/EWG über das Aufenthaltsrecht, ABl. EG 1990 Nr. L 180, 26; Richtlinie 90/365/EWG über das Aufenthaltsrecht der aus dem Erwerbsleben ausgeschiedenen Arbeitnehmer und selbständig Erwerbstätigen 8; Richtlinie 90/366/EWG über das Aufenthaltsrecht der Studenten, ABl. EG 1990 Nr. L 180, 30. 58 EuGH, Rs. C-295/90, Europäisches Parlament/Rat, Slg. 1992, I-4193. Näheres dazu bei: Kampf, EuR 1990, S. 393 ff; Guckelberger, VBlBW 2000, S. 249 ff.; Klein/Haratsch, JuS 1995, S. 7 ff. 59 Richtlinie 93/96/EWG des Rates vom 29.10.1993 über das Aufenthaltsrecht der Studenten, ABl. EG 1993 Nr. L 317, 59. 54

III. Sekundärrecht

51

3. Inhalt Sie erweiterten den Kreis der Freizügigkeitsberechtigten über den Radius der erwerbstätigen Personen hinaus und komplettieren somit das in Art. 3 c EGV vorgegebene Ziel der Verwirklichung des freien Personenverkehrs im Binnenmarkt. Dieser Begriff des „freien Personenverkehrs“ ist in einem umfassenden Sinne zu verstehen: Er erfasst neben den Erwerbstätigen (Arbeitnehmer, Selbstständige, Erbringer und Empfänger von Dienstleistungen) auch alle nichterwerbstätigen Personen.60 Bevor es die Vorschrift des Art. 18 EGV gab, konnte dieser Personenkreis ein Freizügigkeits- und Aufenthaltsrecht nur über diese Richtlinien erlangen. Die Richtlinie 90/364/EWG über das Aufenthaltsrecht war subsidiär und gelangte daher nur zur Anwendung, wenn den EU-Angehörigen das Aufenthaltsrecht nicht bereits aufgrund der anderen beiden Richtlinien zuerkannt war. In der Sache knüpfen die Aufenthaltsrichtlinien bereits nicht mehr an eine marktwirtschaftliche Betätigung an, sondern gewähren unter bestimmten Voraussetzungen jedem nichterwerbstätigen EU-Bürger ein allgemeines Aufenthaltsrecht. Die jeweiligen Art. 1 der entsprechenden Richtlinie gewährleisten den Angehörigen der EU-Mitgliedstaaten sowie deren Familienangehörigen – im Falle der Studenten nur deren Ehegatten und Kindern – ein Aufenthalts- und Freizügigkeitsrecht. Die Gewährung des Freizügigkeitsrechts wird in allen drei Richtlinien jedoch an den Nachweis ausreichender Existenzmittel und eines angemessenen Krankenversicherungsschutzes geknüpft.61 Die Sozialhilfe des Aufenthaltsstaates soll nicht in Anspruch genommen werden. Wie die Begründungserwägungen zu den Richtlinien zeigen, soll damit vermieden werden, dass die Systeme der sozialen Sicherheit „über Gebühr“ belastet werden. Die Mitgliedstaaten wollten damit ausschließen, dass sich ein sog. „Sozialtourismus“ entwickelt und ihre hinsichtlich der Leistungsstärke noch recht unterschiedlichen und wenig harmonisierten sozialen Sicherungssysteme nivelliert werden. Einen Anspruch auf Teilhabe an Leistungen der sozialen Grundsicherung gewähren sie gerade nicht. Die Studenten haben gemäß Art. 3 der Richtlinie 93/96/EWG keinen Anspruch auf Gewährung von Unterhaltsstipendien durch den Aufenthaltsstaat. Damit bleiben die Rechte der sog. „Nichterwerbstätigen“ hinter denen der Arbeitnehmer und Selbstständigen zurück. Entsprechend den Regelungen der Richtlinien62 besteht das Aufenthaltsrecht, solange die Berechtigten die genannten – in Art. 1 der Richtlinien erwähnten – Bedingungen erfüllen, also ausreichende Existenzmittel und umfassenden Krankenversicherungsschutz nachweisen; für Studenten ist zusätzlich die Einschrei60

Schieffer, NVwZ 1998, S. 31, vgl. FN 6. Siehe jeweils Art. 1 der Richtlinien 90/364/EWG, 90/365/EWG und 93/96/EWG. 62 Vgl. Wortlaut von Art. 3 der RL 90/364/EWG über das Aufenthaltsrecht, Art. 3 der RL 90/365/EWG über das Aufenthaltsrecht der aus dem Erwerbsleben ausgeschiedenen Arbeitnehmer und selbstständig Erwerbstätigen und Art. 4 der RL 93/96/EWG über das Aufenthaltsrecht der Studenten. 61

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D. Das allgemeine Freizügigkeitsrecht

bung an einer anerkannten Lehranstalt erforderlich. Rechtstechnisch gesprochen, sind die Aufenthaltsrechte auflösend bedingt und erlöschen, sobald die Voraussetzungen nicht mehr vorliegen.63 Die Bundesrepublik Deutschland setzte diese Vorgaben zunächst mit Schaffung des § 8 der bis zum 31.12.2004 geltenden Freizügigkeitsverordnung/EG um. Danach orientierten sich die ausreichenden Existenzmittel nach dem durchschnittlichen Sozialhilfebedarf im Rahmen der Hilfe zum Lebensunterhalt. Seit dem 1.1.2005 gilt die im Rahmen des Zuwanderungsgesetzes neugeschaffene Regelung der § 2 Abs. 2 Nr. 5, 6 i. V. m. § 4 Freizügigkeitsgesetz/EU.64 Die ausreichenden Existenzmittel sind gegenüber der nationalen Behörde im Einzelnen darzulegen.65 Hinsichtlich des Nachweises der Aufenthaltsvoraussetzungen fällt auf, dass Studenten insofern eine Begünstigung erfahren haben, als sie nicht Existenzmittel in einer besonderen Höhe nachweisen müssen, sondern bereits die Glaubhaftmachung ausreicht. Diese Besserstellung hängt auch damit zusammen, dass die Gewährleistung einer EU-weiten freien Berufsausbildung ein besonderes Anliegen des Vertrags darstellt. Wie bereits gezeigt, entwickelte der EuGH in seiner ständigen Rechtsprechung bereits vor Einführung der Aufenthaltsrichtlinien und vor der Unionsbürgerschaft eine sog. ausbildungsbezogenes Freizügigkeitsrecht für Angehörige der EU-Mitgliedstaaten in der Berufsausbildung.66 Mithilfe der flexiblen Handhabe sollte kein neues (unüberwindbares) Hindernis für das Aufenthaltsrecht der Studenten aufgebaut werden. Damit wird EuGH zugleich der in Studentenkreisen großen Bedeutung der Eigenfinanzierung des Studiums durch eine Erwerbstätigkeit gerecht. Ein weiteres Argument mag der zeitliche Faktor darstellen: Das Aufenthaltsrecht ist auf die Dauer der Ausbildung begrenzt.67 Die Länge des Aufenthalts ist bei Studenten typischerweise auf den Zeitraum ihrer Ausbildung beschränkt; das Aufenthaltsrecht ist folglich vorübergehender Natur. Ferner ist allen drei Richtlinien gemeinsam, dass sie aus Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit oder Volksgesundheit weitere Einschränkungen erlauben.68

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Schieffer, NVwZ 1998, S. 31. Gesetz über die allgemeine Freizügigkeit von Unionsbürgern vom 30. Juli 2004, BGBl. I 2004, 1950, 1986. 65 Im Einzelnen dazu: EuGH, Urteil der Großen Kammer, Rs. C-408/03, Kommission/Belgien, DVBl. 2006, S. 691 f.: Es ist nicht mit Art. 18 EGV sowie der RL 90/364 zu vereinbaren, dass die Einkünfte eines im Aufnahmemitgliedstaat wohnenden Partners nicht berücksichtigt werden, sofern keine notarielle Vereinbarung mit einer Beistandsklausel abgeschlossen wurden. 66 Näheres dazu: siehe D. II. 67 Vgl. auch Schlussanträge Generalanwalt Alber vom 28. September 2000, Rs. C-184/99, Grzelczyk, Slg. 2001, I-6193, Rdn. 86. 68 Vgl. Art. 2 Abs. 2 Satz 3 RL 90/364/EWG über das Aufenthaltsrecht, Art. 2 Abs. 2 Satz 3 RL 90/365/EWG über das Aufenthaltsrecht der aus dem Erwerbsleben ausgeschiedenen Arbeitnehmer und selbständigen Erwerbstätigen sowie Art. 2 Abs. 2 Satz 3 RL 93/96/EWG über das Aufenthaltsrecht der Studenten. 64

E. Die Unionsbürgerfreiheit im Einzelnen E. Die Unionsbürgerfreiheit

I. Allgemeine Entwicklung I. Allgemeine Entwicklung

Seit 1994 gibt es nun auf primärrechtlicher Ebene die Vorschrift des Art. 18 EGV. Danach hat jeder Unionsbürger das Recht, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten vorbehaltlich der in diesem Vertrag und in den Durchführungsvorschriften vorgesehenen Beschränkungen und Bedingungen frei zu bewegen und aufzuhalten. Dieses Freizügigkeitsrecht gewinnt zunehmend an Beachtung, signalisiert es doch den Übergang von einem Europa der Marktbürger hin zu einem Europa der Unionsbürger. Nach dieser Konzeption steht der wirtschaftliche Anknüpfungspunkt, wonach Personen vor allem bei der Ausübung einer grenzüberschreitenden Erwerbstätigkeit ein Freizügigkeitsrecht zugestanden wurde, nicht mehr im Vordergrund, sondern vielmehr der europäische Bürger als solcher. In der Gewährung des Freizügigkeitsrechts manifestiert sich für den einzelnen Unionsbürger auf eine greifbare Weise der Stand der europäischen Integration.1 Die im Rahmen des Maastricht-Vertrags eingeführte Unionsbürgerschaft findet ihre grundlegende Ausprägung in dem allgemeinen Freizügigkeitsrecht des Art. 18 EGV. Es ist das wichtigste Recht der Unionsbürgerschaft.2 Damit entwickelte sich die Freizügigkeit über den Binnenmarktgedanken hinaus zum politischen Merkmal der EU.3 Die Reichweite dieses Rechts ist insofern symptomatisch für die Bedeutung des Unionsbürgerstatus an sich. Noch nicht im Detail geklärt ist allerdings, ob damit auch nicht erwerbstätigen Bürgern ein umfassendes Freizügigkeitsrecht zugestanden wird oder ob das Freizügigkeitsrecht weiterhin entsprechend den einschlägigen Aufenthaltsrichtlinien deren Bedingungen unterliegt.4

1 EU-Kommission, Zweiter Bericht der Kommission über die Unionsbürgerschaft vom 27.5.1997, KOM (97) 230 endg. S. 29. 2 So auch: EU-Kommission, Zweiter Bericht der Kommission über die Unionsbürgerschaft vom 27.5.1997, KOM (97) 230 endg. S. 29; Closa, C. M. L.Rev (32), 1995, S. 487 (495); Fischer, Die Unionsbürgerschaft: Ein neues Konzept im Völker- und Europarecht, in: FS für Günther Winkler, 1997, S. 237 (254); Edward, Dankesrede: Unionsbürgerschaft – Mythos, Hoffnung oder Realität?, in: Böckenförde/Edward/Schumann (Hrsg.), Grundrechte in Deutschland und Europa, S. 38. 3 Scheuing, FS Würzburger Juristenfakultät, S. 103 ff. 4 Grundlegend zu den Freizügigkeitsrechten in der Europäischen Union: Van der Mei, Free Movement of Persons within the European Community.

E. Die Unionsbürgerfreiheit

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II. Persönlicher Anwendungsbereich: Die Unionsbürger II. Persönlicher Anwendungsbereich

Voraussetzung dafür, dass der Einzelne in den Genuss der Teilhabeansprüche kommt, ist, zunächst einmal, dass der persönliche Anwendungsbereich des Art. 18 EGV eröffnet ist. Die Vorschriften des Art. 18 EGV berechtigen die Unionsbürger zur Ausübung dieser Rechte. Nach Art. 17 Abs. 1 Satz 2 EGV ist Unionsbürger, wer die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats besitzt. Die Unionsbürgereigenschaft ist damit akzessorisch zur Staatsangehörigkeit in einem Mitgliedstaat. Einen eigenständigen Erwerbstatbestand gibt es nicht. Für die Ausgestaltung des nationalen Staatsangehörigkeitsrechts sind die Mitgliedstaaten selbst zuständig. Im Rahmen der Regelung ihres Staatsangehörigkeitsrechts haben sie es daher auch mittelbar in der Hand, wer Bürger der Europäischen Union wird. Daraus ergibt sich, dass es zu Wechselwirkungen zwischen der nationalen Staatsangehörigkeit und der Unionsbürgerschaft kommen kann. Dabei müssen die Auswirkungen der nationalen Vorschriften auf das Gemeinschaftsrecht gebührend berücksichtigt werden.5 So dürfen die Mitgliedstaaten von ihrer Definitionsmacht im Hinblick auf die Staatsangehörigkeit nicht in einer Weise Gebrauch machen, die die im EG-Vertrag gewährleisteten Freiheiten zunichte macht.6 In die gleiche Richtung weist der EuGH auch mit seinem Micheletti-Urteil, in dem er folgende Aussage machte: „Die Festlegung der Voraussetzungen für den Erwerb und Verlust der Staatsangehörigkeit unterliegt nach dem internationalen Recht der Zuständigkeit der einzelnen Mitgliedstaaten; von dieser Zuständigkeit ist unter Beachtung des Gemeinschaftsrechts Gebrauch zu machen.“7

Die Bedeutung und Tragweite dieses Vorbehalts sind in der Rechtsprechung des EuGH noch nicht hinreichend geklärt. Aktuell legte das BVerwG dem EuGH die Frage vor, ob das Gemeinschaftsrecht der Rechtsfolge des Verlusts der Unionsbürgerschaft entgegensteht, welche sich daraus ergibt, dass eine nach deutschem Recht rechtmäßige Rücknahme einer erschlichenen Einbürgerung dazu führt, dass im Zusammenwirken mit dem Staatsangehörigkeitsrecht eines anderen Mitgliedstaats Staatenlosigkeit eintritt.8 Darüber hinaus darf eine doppelte Staatsangehörigkeit in dem Sinne, dass ein Unionsbürger die Staatsangehörigkeit eines EU-Mitgliedstaates und die Staats5

Vgl. EuGH, Rs. C-369/90, Micheletti, Slg. 1992, I-4239, Rdn. 10 f.; Kluth, in: Calliess/ Ruffert, Art. 17 Rdn. 9; Sauerwald, Die Unionsbürgerschaft und das Staatsangehörigkeitsrecht in den Mitgliedstaaten der Europäischen Union, S. 79 ff. 6 EuGH, Rs. 292/86, Gullung, Slg. 1988, 111. 7 EuGH, Rs. C-369/90, Micheletti, Slg. 1992, I-4258, Rdn. 10. Dazu: De Groot, Zum Verhältnis der Unionsbürgerschaft zu den Staatsangehörigkeiten in der Europäischen Union, in: Müller-Graff (Hrsg.), Europäisches Integrationsrecht im Querschnitt, S. 67, 80 ff. 8 BVerwG, Beschluss vom 18.02.2008, NWvZ 2008, 686–689.

II. Persönlicher Anwendungsbereich

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anghörigkeit eines Drittstaates besitzt, dem Unionsbürger nicht zum Nachteil gereichen.9 Eine andere Frage ist, wie es mit der Gleichheit des Unionsbürgerstatus steht, wenn die einzelnen Nationalstaaten unterschiedlich hohe Anforderungen an den Erwerb ihrer Staatsangehörigkeit anlegen10 und dabei zum Teil nach verschiedenen Prinzipien vorgehen.11

1. Die Rechtssache Zhu und Chen Die damit einhergehenden Gestaltungsspielräume werden sehr anschaulich durch die Rechtssache Zhu und Chen verdeutlicht, in welcher die Eheleute Chen den Geburtsort ihrer Tochter Catherine unter Zuhilfenahme anwaltlichen Rates gerade im Hinblick darauf wählten, dass die Bedingungen für den Erwerb der nationalen Staatsangehörigkeit möglichst leicht zu erfüllen waren. Damit verfolgten sie das Ziel, in den Genuss der dahinter stehenden Unionsbürgerrechte zu kommen. Der Vorlageentscheidung12 lag folgender Fall zugrunde: Herr Chen, ein chinesischer Staatsangehöriger, reist im Rahmen seiner beruflichen Tätigkeit häufig in verschiedene Mitgliedstaaten, u. a. auch in das Vereinigte Königreich. Im Mai 2000 tat das dann auch seine Frau, als sie ungefähr im sechsten Monat schwanger war. Im Juni 2000 begab sie sich nach Belfast, wo ihre Tochter am 16. September 2000 geboren wurde. Entsprechend den irischen Rechtsvorschriften kann jeder, der auf der Insel Irland geboren wird, die irische Staatsangehörigkeit erwerben. In Anwendung dieser Regeln wurde der Tochter Catherine ein irischer Pass ausgestellt. Es steht unstreitig fest, dass Frau Chen den Aufenthalt in Irland und die Geburt ihres Kindes dort gerade deshalb gewählt hat, um ihrem Kind den Erwerb der irischen Staatsangehörigkeit zu ermöglichen und somit auch für sich als Mutter das Recht zu erlangen, mit ihrem Kind im Vereinigten Königreich zu bleiben. Die Tochter Catherine kann sich frei im Hoheitsgebiet des Vereinigten Königreichs bewegen; sie hat durch ihre Geburt in Nordirland und den anschließenden Erwerb der irischen Staatsangehörigkeit allerdings den Anspruch auf Erwerb der chinesischen Staatsangehörigkeit verloren. In der Vorlagefrage war zu klären, ob einem minderjährigen Staatsangehörigen eines Mitgliedstaates im Kleinkindalter, welchem von einem Elternteil mit Drittstaatsangehörigkeit Unterhalt gewährt wird, das Recht zusteht, sich in einem anderen Mitgliedstaat aufzuhalten. Falls dies bejaht wird, möchte das vorlegende Gericht zugleich wissen, ob die Vor9

Vgl. EuGH, Rs. C-369/90, Micheletti, Slg. 1992, I-4239, Rdn. 10 f. Vgl. in diesem Kontext auch die vor dem EuGH anhängige Vorlagefrage zur Frage der Anwendbarkeit der Unionsbürgerschaft auf Staatsangehörige, die in einem Gebiet ansässig sind, das zu den ÜLG im Sinne des Art. 299 Abs. 3 EGV gehört. Ferner wird gefragt, ob es den Mitgliedstaaten frei stehe, ihre Staatsangehörigkeit den in dem ÜLG ansässigen Personen zu verleihen, Rs. C-300/04, Eman und Sevinger, Slg. 2006, I-8055. 11 Weil, Zugang zur Staatsbürgerschaft. Ein Vergleich von 25 Staatsangehörigkeitsgesetzen, in: Conrad/Kocka, (Hrsg.), Staatsbürgerschaft in Europa, S. 92. 12 EuGH, Rs. C-200/02, Zhu und Chen, Slg. 2004, I-9925. 10

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E. Die Unionsbürgerfreiheit

schriften dann auch dem betreffenden Elternteil mit der Staatsangehörigkeit eines Drittstaats ein Aufenthaltsrecht verleihen. Es wird vorgebracht, dass sich eine Person in der Situation von Catherine gar nicht erst auf die gemeinschaftsrechtlichen Vorschriften das Freizügigkeitsrecht betreffend berufen könne, weil sie nie von einem Mitgliedstaat in einen anderen gereist sei.

a) Schlussanträge des Generalanwalts Der Anwendungsbereich des EGV ist nach Ansicht des Generalanwalts Antonio Tizzano eröffnet. Es sei irrelevant, dass der Unionsbürger die Grenzen des Mitgliedstaates, in dem er wohnt, nie überschritten hat, da es bereits ausreiche, dass der Unionsbürger im Besitz einer anderen Staatsangehörigkeit ist als der des Mitgliedstaates, in dem er wohnt.13 Im vorliegenden Fall fänden deshalb die Vorschriften des Gemeinschaftsrechts Anwendung, weil es um einen irischen Staatsangehörigen gehe, der sich im Hoheitsgebiet des Vereinigten Königreichs aufhalte. Auch die Tatsache, dass Catherine als Minderjährige dieses Recht nicht eigenständig ausüben könne, ändere nichts an ihrer Fähigkeit, Adressantin des Freizügigkeitsrechts zu sein. Ein Recht, sich auf Dauer im Vereinigten Königreich aufzuhalten, könne, wie Generalanwalt Tizzano zutreffend formuliert, zwar nicht aus ihrer Eigenschaft als Empfängerin von Dienstleistungen abgeleitet werden. Dieses Recht ergebe sich aber aus Art. 18 EGV. Die nach der Aufenthaltsrichtlinie geforderten ausreichenden Existenzmittel lägen vor; dem Wortlaut der Richtlinie könne nicht entnommen werden, dass der Betreffende selbst Bezieher dieser Existenzmittel sein muss. „Mit der Einfügung von Art. 8a EG-Vertrag (jetzt Art. 18 EG) durch den Vertrag von Maastricht wurden die Freizügigkeit und die Aufenthaltsfreiheit dann zum Grundrecht der Gemeinschaftsangehörigen erklärt, wenn auch vorbehaltlich der (u. a.) in der Richtlinie 90/364 vorgesehenen Beschränkungen und Bedingungen. In diesem neuen Kontext wird die Richtlinie folglich zu einem Rechtsakt, der die Ausübung eines Grundrechts beschränkt.“14 Die Beschränkungen und Bedingungen seien daher eng auszulegen. Frau Chen könne als Mutter von Catherine ein abgeleitetes Aufenthaltsrecht beanspruchen. Eine Ablehnung dieses Rechts liefe den Interessen des minderjährigen Kleinkindes sowie der Einheit des Familienlebens zuwider. Insbesondere aber würde dem Aufenthaltsrecht von Catherine „jede praktische Wirkung“ genommen.15

13 Schlussanträge Tizzano, Rs. C-200/02, Zhu und Chen, Slg. 2004, I-9925, Rdn. 32 mit Verweis auf die ständige Rechtsprechung, insbesondere EuGH, Rs. C-148/02, Avello, Slg. 2003, I-11613, Rdn. 27. 14 Schlussanträge Tizzano, Rs. C-200/02, Zhu und Chen, Slg. 2004, I-9925, Rdn. 73 und 74. 15 Schlussanträge Tizzano, Rs. C-200/02, Zhu und Chen, Slg. 2004, I-9925, Rdn. 90.

II. Persönlicher Anwendungsbereich

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b) Urteil des EuGH Der Gerichtshof schließt sich in vollem Umfang den Ausführungen des Generalanwalts an. So verneint er auch zunächst das Vorliegen eines rein innerstaatlichen Sachverhalts. „Die Situation des Angehörigen eines Mitgliedstaats, der im Aufnahmemitgliedstaat geboren wurde und von dem Recht auf Freizügigkeit keinen Gebrauch gemacht hat, kann nicht allein aufgrund dieser Tatsache einer rein internen Situation gleichgestellt werden, in der dieser Staatsangehörige im Aufnahmemitgliedstaat die gemeinschaftsrechtlichen Vorschriften über die Freizügigkeit und den Aufenthalt nicht geltend machen kann“.16 Auch das Alter von Catherine und die Tatsache, dass sie nicht in der Lage ist, das Freizügigkeitsrecht auszuüben, würden an dem Recht nichts ändern. Anschließend stellt der Gerichtshof fest, dass sich ein Aufenthaltsrecht nicht aus den Vorschriften der RL 73/148 ergebe. Catherine ist zwar Empfängerin von entgeltlichen Kinderbetreuungsleistungen; die Vorschriften über den freien Dienstleistungsverkehr seien aber nicht anwendbar für Angehörige eines Mitgliedstaates, die ihren Hauptaufenthalt in einem anderen Mitgliedstaat nehmen, um dort für eine unbestimmte Dauer Dienstleistungen zu empfangen.17 Da sich Catherine nicht auf die RL 73/148 stützen könne, ist weiter zu prüfen, ob ihr nicht ein Aufenthaltsrecht aus Art. 18 EGV und der Richtlinie 90/364 zustehen kann. Unter Bezugnahme auf die ständige Rechtsprechung ergebe sich auch für Catherine direkt aus Art. 18 EGV ein Aufenthaltsrecht. „Allein deshalb, weil sie Staatsangehörige eines Mitgliedstaats und damit Unionsbürgerin ist, ist Catherine daher berechtigt, sich auf Artikel 18 Absatz 1 EG zu berufen.“18 Was die Beschränkungen und Bedingungen anbelange, so verfüge die Klägerin im vorliegenden Fall über eine Krankenversicherung und ausreichende Existenzmittel, die sie von ihrer Mutter erhält. Es sei nicht erforderlich, dass der Betreffende selbst über diese Mittel verfügt. Der Wortlaut der Aufenthaltsrichtlinie enthalte, was die Herkunft der Mittel anbelange, keine Anforderungen, so dass sich Catherine auch auf die Mittel eines Familienangehörigen berufen könne. „Diese Auslegung ist umso mehr geboten, als Bestimmungen, in denen ein fundamentaler Grundsatz wie der der Freizügigkeit verankert ist, weit auszulegen sind.“19 Im Übrigen würde diese einschränkende Auslegung „einen unverhältnismäßigen Eingriff in die Ausübung des durch Art. 18 EG gewährleisteten Grundrechts auf Freizügigkeit und Aufenthalt darstellen“, welcher zur Erreichung des Zieles – Schutz der öffentlichen Finanzen des Aufenthaltsmitgliedstaates – nicht erforderlich wäre.20

16 EuGH, Rs. C-200/02, Zhu und Chen, Slg. 2004, I-9925, Rdn. 19; mit Verweis auf EuGH, Rs. C-148/02, Avello, Slg. 2003, I-11613, Rdn. 13 u. 27. 17 EuGH, Rs. C-200/02, Zhu und Chen, Slg. 2004, I-9925, Rdn. 22. 18 EuGH, Rs. C-200/02, Zhu und Chen, Slg. 2004, I-9925, Rdn. 26. 19 EuGH, Rs. C-200/02, Zhu und Chen,Slg. 2004, I-9925, Rdn. 31. 20 EuGH, Rs. C-200/02, Zhu und Chen, Slg. 2004, I-9925, Rdn. 33.

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E. Die Unionsbürgerfreiheit

Was das Aufenthaltsrecht der Mutter von Catherine anbelange, so könne sie dieses nicht aus Art. 1 Abs. 2 b der Richtlinie 90/364 herleiten. Danach könne nur den Verwandten des Aufenthaltsberechtigten in aufsteigender Linie, denen er Unterhalt gewährt, das Aufenthaltsrecht zugesprochen werden. Im vorliegenden Fall sei die Situation gerade umgekehrt, da Frau Chen als Staatsangehörige eines Drittstaats den Unterhalt gewähre. Ohne den Aufenthalt von Frau Chen wäre ihre Tochter aber faktisch nicht in der Lage, von dem ihr zustehenden Freizügigkeitsrecht Gebrauch zu machen; dem Aufenthaltsrecht des Kindes würde „jede praktische Wirksamkeit“ genommen.21 Die Inanspruchnahme des Aufenthaltsrechts durch ein Kind im Kleinkindalter setze voraus, dass auch die für das Kind sorgende Person sich bei diesem aufhalten darf. Unter diesen Voraussetzungen leitet der Gerichtshof auch für Frau Chen aus Art. 18 EGV ein Aufenthaltsrecht ab.

2. Keine allgemeine Erstreckung auf Drittstaatsangehörige Drittstaatsangehörige, welche sich in der Europäischen Union aufhalten, können sich nicht auf die Freizügigkeitsvorschriften des Art. 18 EGV berufen; sie können sich daher auch nicht gegen die im Zusammenhang mit ihrer Freizügigkeitsausübung stehenden Diskriminierungen aus Gründen der Staatsangehörigkeit wehren. Möglicherweise können sie aber aus einem Assoziierungsabkommen besondere Rechte herleiten.22

3. Ausdehnung auf Familienangehörige von Unionsbürgern Familienangehörige von Unionsbürgern, welche die Staatsangehörigkeit eines Drittstaates besitzen, können sich nach dem Wortlaut des Art. 18 EGV ebenfalls nicht auf die Unionsbürgerrechte berufen.23 Ein selbstständiges Aufenthaltsrecht steht ihnen nicht zu. Allerdings kann ihnen als Ausfluss des Art. 18 EGV sowie nach dem Sekundärrecht ein von dem Unionsbürgerrecht abgeleitetes Recht zustehen (vgl. jeweils Art. 1 der sog. Nichterwerbstätigen-Richtlinien sowie Art. 6 Abs. 2, 7 Abs. 2 und 16 Abs. 2 der RL 2004/38/EG). Regelmäßig ist dabei erforderlich, dass der Unionsbürger ausreichende Existenzmittel für den Unterhalt der Familienangehörigen zur Verfügung hat. Wie der Fall Zhu und Chen24 verdeutlicht, kann der Unterhalt aber auch von dem drittstaatsangehörigen Familienmitglied geleistet werden. 21

EuGH, Rs. C-200/02, Zhu und Chen, Slg. 2004, I-9925, Rdn. 45. Praktisch bedeutsam ist v. a. das Assoziierungsabkommen EG/Türkei vom 12.9.1963, ABl. EG 1964 Nr. L 217/3685. 23 Kluth, in: Calliess/Ruffert, Art. 17 Rdn. 8. 24 EuGH, Rs. C-200/02, Zhu und Chen, Slg. 2004, I-9925. 22

II. Persönlicher Anwendungsbereich

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Die Frage, ob ein Familienangehöriger ein Aufenthaltsrecht beanspruchen kann bzw. ob er ausgewiesen werden kann, ist stets im Zusammenhang mit der Unionsbürgerstellung des anderen Familienmitglieds zu sehen. Eine Ablehnung bzw. Ausweisung kann Auswirkungen auf die Ausübung des Freizügigkeitsrechts des Unionsbürgers nach sich ziehen.25 In der mit Urteil vom 25.07.08 entschiedenen Rechtssache Metock u. a.26 hatte der Gerichtshof zu entscheiden, ob die Voraussetzung eines vorherigen rechtmäßigen Aufenthalts des Drittstaatsangehörigen in einem Mitgliedstaat mit der RL 2004/38/EG zu vereinbaren ist. Herr Metock, ein kamerunischer Staatsangehöriger reiste am 23.06.06 in Irland ein und beantragte politisches Asyl, welches ihm mit Entscheidung vom 28.02.07 aber versagt wurde. Am 12.10.06 heiratete Herr Metock in Irland eine britische Staatsangehörige, die in Irland wohnt und arbeitet. Sein Antrag auf Aufenthaltsgenehmigung als Ehegatte eines Unionsbürgers lehnte die irische Verwaltung jedoch ab, da er die nach irischem Recht erforderliche Voraussetzung, eines vorherigen rechtmäßigen Aufenthalts in einem Mitgliedstaat nicht erfülle. Der EuGH hält ausdrücklich nicht weiter an seiner Akrich-Rechtsprechung fest,27 wonach sich der mit einem Unionsbürger verheiratete Drittstaatsangehörige, um in den Genuss der Rechte aus Art. 10 der Verordnung Nr. 1612/68 kommen zu können, rechtmäßig in einem Mitgliedstaat aufhalten muss, wenn er sich in einen anderen Mitgliedstaat begibt, in den der Unionsbürger abwandert oder abgewandert ist. Die Ausübung der Freiheiten, die der Vertrag den Unionsbürgern gewährleiste, würde massiv behindert, wenn diese im Aufenthaltsmitgliedstaat kein normales Familienleben führen dürften. Um in Genuss der Bestimmungen der RL 3004/38/EG zu kommen, sei es daher nicht erforderlich, dass sich ein Drittstaatsangehöriger, der Ehegatte eines Unionsbürgers ist, vor seiner Einreise in den Aufnahmemitgliedstaat rechtmäßig in einem anderen Mitgliedsaat aufgehalten haben muss. Nach der neuen Aufenthaltsrichtlinie kann sich unter bestimmten Umständen das Aufenthaltsrecht „verselbstständigen“, dies gilt insbesondere bei Tod, Wegzug des Unionsbürgers bzw. im Falle einer Ehescheidung (Art. 12 und 13 RL 2004/38/EG).

4. Anwendung auf Juristische Personen Rechtlich an die Unionsbürgerschaft anknüpfende Begünstigungen können unter bestimmten Voraussetzungen auch von juristischen Personen geltend gemacht werden.28 Bedingung dafür ist, dass die Begünstigungen wesensmäßig auch auf juristische Personen Anwendung finden. Erforderlich ist zum einen, dass die be25 Vgl. in diesem Kontext: EuGH, Rs. C-200/02, Zhu und Chen, Slg. 2004, I-9925 sowie die umstrittene Entscheidung, EuGH, Rs. C-60/00, Carpenter, Slg. 2002, I-6279 mit Anmerkung von Mager, JZ 2003, S. 204; Acierno, E. L.Rev. 2003, S. 398. 26 EuGH, Rs. C-127/08, Metock, noch nicht veröffentlicht. 27 EuGH, Rs. C-127/08, Metock, noch nicht veröffentlicht, Rdn. 58. 28 Streinz, in: Streinz, Art. 12 Rdn. 33.

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E. Die Unionsbürgerfreiheit

günstigende Vorschrift sachlich auch auf juristische Personen zugeschnitten ist. Zum anderen müssen ein entsprechendes Schutzbedürfnis und eine vergleichbare Interessenlage vorliegen.29 Im Hinblick auf die Zuordnung der juristischen Personen zu einem Mitgliedstaat ist auf das in Art. 48 EGV30 angewandte Kriterium zurückzugreifen. Juristische Personen, welche nach den Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats gegründet wurden, die ihren satzungsmäßigen Sitz, ihre Hauptverwaltung oder ihre Hauptniederlassung innerhalb der Gemeinschaft haben, stehen den Unionsbürgern gleich (vgl. analoge Anwendung des Art. 48 Abs. 1 EGV).

III. Inhalt des Freizügigkeitsrechts aus Art. 18 I EGV III. Inhalt des Artikel 18 EGV

1. Bewegungsfreiheit Art. 18 EGV gewährleistet zunächst einmal ein Recht auf freien Zug innerhalb der Gemeinschaft. Bewegung ist als dynamischer Prozess zu verstehen, geschützt ist die Freiheit der Bewegung von einer Stelle zu einer anderen. Unter diese Gewährleistung fällt insbesondere die Einreise aus einem anderen Mitgliedstaat oder einem Drittstaat. Auch erfasst ist das Recht auf Ausreise sowie das Recht auf Durchreise durch einen oder den eigenen Mitgliedstaat, soweit damit letztlich die Einreise in einen anderen Mitgliedsstaat bezweckt ist. Erfolgt die Ausreise im Hinblick auf die Einreise in einen Drittstaat, so ist sie nicht von der Gewährleistung des Art. 18 EGV geschützt.31 Zu diesem Ergebnis gelangt man vor dem Hintergrund des Art. 14 EGV, welcher in seinem Absatz II den Binnenmarkt als einen Raum ohne Binnengrenzen, in dem der freie Verkehr von Personen gewährleistet ist, versteht. Das Recht auf Freizügigkeit beschränkt sich auf den Raum der Mitgliedstaaten; die Freizügigkeit in Drittstaaten wird nicht gewährleistet. Diese Sicht wird auch vom Wortlaut des Art. 18 I gestützt; danach wird das Recht „im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten“ garantiert. Ferner ist bei Vorliegen eines gemeinschaftsrechtlichen Bezugs auch die innerstaatliche Bewegungsfreiheit in einem Mitgliedsstaat von Art. 18 EGV geschützt.32 Im Gegensatz dazu sind nach zutreffender Ansicht rein interne Sachverhalte nicht vom sachlichen Anwendungsbereich des Freizügigkeitsrechts des Art. 18 EGV betroffen.33

29

Kluth, in: Calliess/Ruffert, Art. 17 Rdn. 10. EuGH, verb. Rs. C-92/92 und C-326/92, Phil Collins, Slg. 1993, I-5145, Rdn. 30; EuGH, Rs. C-398/92, Mund & Fester, Slg. 1994, I-474, Rdn. 16. 31 Schulz, Freizügigkeit für Unionsbürger, S. 90. 32 Ziekow, Die Freizügigkeit des Unionsbürgers, in: Dörr (Hrsg.), Ein Rechtslehrer in Berlin, 2004, S. 101 (105); Schulz, Freizügigkeit für Unionsbürger, S. 91 allerdings mit der Einschränkung dahingehend, dass nur längerfristige Ortswechsel davon erfasst sind. 33 Ständige Rechtsprechung: EuGH, Rs. C-148/02, Avello, Slg. 2003, I-11613, Rdn. 26; verb. Rs. C-64/96 und C-65/96, Uecker und Jacquet, Slg. 1997, I-3171, Rdn. 16 ff.; vgl. auch Gene30

III. Inhalt des Artikel 18 EGV

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Ein allgemeines Verbot der Durchführung von Grenzkontrollen lässt sich aus Art. 18 EGV nicht ableiten. Identitätskontrollen an den Binnengrenzen beinträchtigen zwar die Rechte des Art. 18 EGV; in nichtdiskriminierender und verhältnismäßiger Weise sind sie aber weiterhin zulässig.34 Insbesondere wegen fehlender gemeinsamer Außengrenzkontrollen sind sie gerechtfertigt.35 Des Weiteren sind auch innerstaatliche Ausweispflichten zulässig, sofern sie den Unionsbürgern und den eigenen Staatsangehörigen in gleichem Maße auferlegt werden.36 Es verstößt gegen Gemeinschaftsrecht, wenn einem Unionsbürger der Nachweis seiner Staatsangehörigkeit nur durch Vorzeigen eines Passes gestattet ist, während die eigenen Staatsangehörigen ihre Staatsangehörigkeit auch anderweitig nachweisen können.37 Ausreiseverbote aus dem eigenen Mitgliedstaat bzw. aus einem anderen Mitgliedstaat beeinträchtigen das Freizügigkeitsrecht. Ausreiseerschwernisse wie Genehmigungspflichten für Auslandsaufenthalte bzw. Ausreiseverbote im Zusammenhang mit der Wehrpflicht oder wegen eines laufenden Strafverfahrens tangieren ebenso den Schutzbereich des Freizügigkeitsrechts. Oftmals werden sich diese Beschränkungen allerdings im Rahmen der Schranken des Art. 18 EGV rechtfertigen lassen.38

2. Aufenthaltsrecht Das Adjektiv „frei“ bezieht sich dabei nicht nur auf das Verb „sich bewegen“, sondern auch auf das Verb „sich aufhalten“, wie ein Vergleich der anderslautenden Sprachfassungen unzweifelhaft ergibt.39 Unter Aufenthalt ist das Verweilen an einer bestimmten Örtlichkeit zu verstehen. Ihm wohnt also im Gegensatz zu der Bewegungsfreiheit ein statisches Element inne.40 Dabei ist das Recht auf dauerhafte physische Präsenz gewährleistet. Danach kann grundsätzlich jeder Unionsbürger den Aufenthalt in den Mitgliedsstaaten frei wählen.

ralanwalt Léger Schlussanträge Rs. C-192/99, Kaur, Slg. 2001, I-1237, Rdn. 27; Magiera in: Streinz, Art. 18 Rdn. 14. 34 Kluth, in: Calliess/Ruffert, Art. 18 Rdn. 4; Pechtstein/Bunk, EuGRZ 1997, S. 547 (552). Ihnen zufolge stellt diese geringfügige Beeinträchtigung der Freizügigkeit im Sinne einer Verzögerung der Ausübung des Rechts bereits keine Beeinträchtigung des Schutzbereichs dar. 35 EuGH, Rs. C-378/97, Wijsenbeek, Slg. 1999, I-6207, Rdn. 42. 36 EuGH, Rs. C 24/97, Kommission/Deutschland, Slg. 1998, I-2133, Rdn. 13 ff. 37 EuGH, Rs. C-215/03, Salah Oulane, noch nicht in der amtlichen Sammlung, Rdn. 26, 32 = NJW 2005, S. 1033. 38 Zu den zulässigen Beschränkungen des Freizügigkeitsrechts siehe G. III. 39 Kotalakidis, Von der nationalen Staatsangehörigkeit zur Unionsbürgerschaft, S. 154, Rdn. 494 mit Verweis auf die englische, französische, italienische, spanische und griechische Fassung des Art. 18 EGV. 40 Auf das Problem, ob der Aufenthalt von einer gewissen Dauer bzw. von einer gewissen Intensität sein muss, kann hier nicht eingegangen werden. Vgl. zur parallelen Problematik in der Bundesrepublik bei Art. 11 GG.

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E. Die Unionsbürgerfreiheit

Aufenthaltsverbote für bestimmte Gebietsteile beeinträchtigen den freien Aufenthalt.41 Den Unionsbürgern kommt ein vollwertiges Aufenthaltsrecht zu. Es kann in gewisser Weise von einem Recht auf Vollintegration gesprochen werden. Die Mitnahme des gesamten Vermögens wird von Art. 18 EGV gewährleistet, denn nur so kann die Lebensgrundlage gesichert und die Integration erreicht werden. Insbesondere stehen EU-Bürgern die mit dem Aufenthalt im Zusammenhang stehende Rechte zu, wie der Kauf einer Wohnung oder eines Hauses sowie „die Beteiligung am gesellschaftlichen, kulturellen, beruflichen und politischen Leben des Aufenthaltsstaates“.42 Um überragend schützenswerte Interessen der Mitgliedstaaten zu wahren, sind Ausnahmen möglich, wie beispielsweise für Beschäftigte in der öffentlichen Verwaltung (Art. 39 IV EGV). So ist in diesem Rahmen auch der Erhalt der Eigenstaatlichkeit der Mitgliedstaaten zu beachten; die Beteiligung an Wahlen zu den Landtagen bzw. zum Bundestag muss den eigenen Staatsangehörigen vorbehalten bleiben.43

IV. Artikel 18 EGV als Grundtatbestand IV. Artikel 18 EGV als Grundtatbestand

Art. 18 EGV ist im Verhältnis zu den spezielleren Freizügigkeitsvorschriften der Arbeitnehmer-, Niederlassungs- und Dienstleistungsfreizügigkeit als lex generalis anzusehen. Er fungiert daher vergleichbar mit dem allgemeinen Diskriminierungsverbot gegenüber den spezielleren Vorschriften als subsidiäre Auffangvorschrift. Dieses Ergebnis wird im Wesentlichen von der Rechtsprechung des EuGH gestützt. Andererseits lässt der EuGH in einigen Fällen die genaue Abgrenzung zwischen den verschiedenen Freizügigkeitsrechten offen bzw. wendet diese kumulativ an.44 Allerdings können die einzelnen Freizügigkeitsrechte im Hinblick auf die Reichweite des Diskriminierungsverbots unterschiedliche Regelungen enthalten, so dass eine Abgrenzung in besonders gelagerten Einzelfällen geboten erscheint (vgl. Arbeitnehmerfreizügigkeit und soziale Vergünstigungen).45 Oftmals konnten die zur Entscheidung anstehenden Fälle unter Bezugnahme auf vorrangigere Freizügigkeitsrechte wie die Arbeitnehmerfreizügigkeit oder die

41

EuGH, Rs. C-100/01, Olazabal, Slg. 2002, I-10981, Rdn. 26 f. Magiera in: Streinz, Art. 18 Rdn. 16. 43 Vgl. auch: von Münch, Was bedeutet eigentlich Staatsangehörigkeit?, FAZ vom 8. März 1999, S. 10. 44 Vgl. nur die Rs. C-85/96, Martinez Sala, Slg. 1998, I-2692, Rdn. 59; Rs. C-274/96, Bickel und Franz, Slg. 1998, I-7637, Rdn. 15. 45 EuGH, Rs. 207/78, Even, Slg. 1979, 2019, Rdn. 22; Rs. 316/85, Lebon, Slg. 1987, 2811, Rdn. 10. 42

IV. Artikel 18 EGV als Grundtatbestand

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Niederlassungsfreiheit46 gelöst werden. So brauchte sich der EuGH in der Rechtssache Skanavi und Chryssanthakopoulos mit einer Auslegung des Art. 8 a (heute: Art. 18) EGV nicht zu beschäftigen, da die Niederlassungsfreiheit des Art. 52 (heute: Art. 43) EGV zur Anwendung gelangte. In der betreffenden Sache ging es um ein Vorabentscheidungsersuchen des Amtsgerichts Tiergarten/Berlin im Rahmen eines Strafverfahrens gegen die Eheleute Skanavi und Chryssanthakopoulos. Beide sind griechische Staatsangehörige. Herr Chryssanthakopoulos war Geschäftsführer eines Möbelunternehmens, in dem auch seine Ehefrau, Frau Skanavi, beschäftigt war. Da sie nur einen griechischen und internationalen Führerschein vorweisen konnten, ermittelten die Behörden die Eheleute wegen Fahrens ohne Fahrerlaubnis. Dabei ging der EuGH offensichtlich von einem echten Spezialitätsverhältnis aus und sah Art. 18 Abs. 1 EGV als den gegenüber den speziellen Grundfreiheiten subsidiären Freizügigkeitstatbestand an: „Sodann ist darauf hinzuweisen, dass Artikel 8 a des Vertrags, in dem das Recht eines jeden Unionsbürgers, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten, in allgemeiner Form niedergelegt ist, in Art. 52 des Vertrags einen besonderen Ausdruck findet. Da der Sachverhalt des Ausgangsverfahrens unter die letztgenannte Bestimmung fällt, braucht über die Auslegung von Art. 8 a nicht entschieden zu werden.“47

Ähnlich ging der EuGH in der Rechtssache Calfa vor, dabei ging es in der Sache um den Fall einer italienischen Staatsangehörigen, welche in Griechenland als Touristin wegen unerlaubten Besitzes von Betäubungsmitteln verurteilt und gleichzeitig auf Lebenszeit ausgewiesen worden war. Der Gerichtshof löste den Fall über die Dienstleistungsfreizügigkeit des Art. 59 (heute: Art. 49) EGV und brauchte „daher nicht mehr auf die Frage einzugehen, ob eine Regelung wie die im Ausgangsverfahren mit den Artikeln 8 und 8 a EG-Vertrag vereinbar ist“.48 In der Rechtssache Georgios Stylianakis war zu entscheiden, ob eine griechische Abgabenregelung gegen die Dienstleistungsfreiheit bzw. gegen das Freizügigkeitsrecht des Art. 18 EGV verstößt. Entsprechend den griechischen Vorschriften wurde von jedem Passagier, der von einem griechischen Flughaben abreiste, eine Flughafenmodernisierungsabgabe erhoben. Dabei bestimmte sich die Höhe der Gebühr nach der Entfernung des Endbestimmungsortes. War dieser Zielort mehr als 100 km und weniger als 750 km vom Abflugsort entfernt, so waren Drachmen im Gegenwert von 10 Euro zu bezahlen. Bei einer Entfernung von über 750 km waren Drachmen im Gegenwert von 20 Euro zu begleichen. Im Hinblick auf die Anwendbarkeit des Art. 18 EGV stellt der Gerichtshof fest, dass diese Vorschriften „einen spezifischen Ausdruck in den Vorschriften, die den freien Dienstleistungsverkehr gewährleisten“, finden.49 Da sich der vorliegende Fall über die Dienstleistungsfreiheit lösen lasse, sei es nicht notwendig, auf die Vorschriften der Freizügigkeit in Art. 18 EGV einzugehen. 46 47 48 49

EuGH, Rs. 193/94, Skanavi Chryssanthopoulos, Slg. 1996, 943, Rdn. 22. EuGH, Rs. 193/94, Skanavi Chryssanthopoulos, Slg. 1996, 943, Rdn. 22. EuGH, Rs. C-348/96, Calfa, Slg. 1999, 11 (32) Rdn. 30. EuGH, Rs. C-92/01, Georgios Stylianakis, Slg. 2003, I-1291, Rdn. 18.

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E. Die Unionsbürgerfreiheit

Im Fall Martinez Sala enthielt sich der Gerichtshof, entgegen dem Schlussantrag des Generalanwalts La Pergola,50 wiederum einer Stellungnahme zu Art. 18 EGV,51 da der Klägerin bereits anderweitig (auf Grundlage des nationalen Rechts) ein Aufenthaltsrecht zustand. In der Rechtssache Bickel und Franz ging der EuGH zwar entgegen den Schlussanträgen des Generalanwalts Jacobs52 nicht ausschließlich auf das allgemeine Freizügigkeitsrecht des Art. 18 Abs. 1 EGV ein, sondern berief sich vorrangig auf die passive Dienstleistungsfreiheit des Art. 59 EGV, dennoch stellte er zugleich auf Art. 8 a EGV ab, ohne diesen dann als subsidiär zurücktreten zu lassen.53 Die Tendenz besteht darin, neben die besonderen Freizügigkeitsrechte aus den Grundfreiheiten zugleich kumulativ die Unionsbürgerfreizügigkeit des Art. 18 EGV zu stellen. Der Fall Wijsenbeek beschäftigte sich mit innergemeinschaftlichen Identitätskontrollen in den Niederlanden gegenüber Unionsbürgern. Zusätzlich neben Art. 7 a (heute: Art. 14) EGV berief sich der Gerichtshof auf Art. 8 a (heute: Art. 18) EGV, verwies aber sogleich auf dessen Beschränkungen und Bedingungen. „Selbst wenn die Staatsangehörigen der Mitgliedstaaten nach Artikel 7 a oder Artikel 8 a EG-Vertrag ein unbedingtes Recht besäßen, sich in den Mitgliedstaaten frei zu bewegen, behielten die Mitgliedstaaten folglich das Recht, Identitätskontrollen an den Binnengrenzen der Gemeinschaft durchzuführen …“54

In dem Fall Kaba I ging es zwar im weitesten Sinne um die Arbeitnehmerfreizügigkeit, konkret um die Diskriminierung des Ehegatten eines Wanderarbeitnehmers, dennoch stellte der EuGH klar, „dass beim gegenwärtigen Stand des Gemeinschaftsrechts das Aufenthaltsrecht der Staatsangehörigen eines Mitgliedstaats im Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats nicht uneingeschränkt gewährt wird.“55

Auch im Urteil Kaba II bezieht sich der EuGH auf diese Rechtsprechung und wiederholt, dass „Art. 8 a EG-Vertrag (nach Änderung jetzt Art. 18 EG), der zwar den Unionsbürgern das Recht verleiht, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten, dabei aber ausdrücklich auf die im Vertrag und in den Durchführungsvorschriften vorgesehenen Beschränkungen und Bedingungen verweist.“56

50 Schlussanträge des Generalanwalts La Pergola vom 1.7.1997, Rs. C-85/96, Martinez Sala, Slg. 1998, I-2694 (2702), Rdn. 15, 18. 51 EuGH, Rs. C-85/96, Martínez Sala, Slg. 1998, I-2691, Rdn. 60. 52 Schlussanträge von Generalanwalt Jacobs vom 19. März 1998, Rs. C-274/96, Bickel und Franz, Slg. 1998, I- 7639. 53 EuGH, Rs. C-274/96, Bickel und Franz, Slg. 1998, I-7637. 54 EuGH, Rs. C-378/97, Wijsenbeek, Slg. 1999, I-6207 (6265), Rdn. 43. 55 Rs. C-356/98, Kaba I, Slg. 2000, I-2623, Rdn. 30. 56 EuGH, Rs. C-466/00, Kaba II, Slg. 2003, I-2219, Rdn. 46.

IV. Artikel 18 EGV als Grundtatbestand

65

Ganz deutlich wird der EuGH im Fall Olazabal. Der Sache nach ging es um das Aufenthaltsrecht eines spanischen Staatsangehörigen, welcher 1986 Spanien verließ, um nach Frankreich einzureisen. Frankreich verweigerte ihm die Anerkennung als Flüchtling. Im Jahre 1988 nahmen die Sicherheitsbehörden Herrn Olazabal in Frankreich im Zusammenhang mit der Entführung eines Industriellen in Bilbao, zu der sich die ETA bekannte, fest. Das Gericht verurteilte ihn zu einer Freiheitsstrafe sowie zu einem 4-jährigen Aufenthaltsverbot. Der von Herrn Olazabal unter Berufung auf seine Gemeinschaftsangehörigkeit gestellte Antrag auf eine „carte de résident“ lehnte Frankreich ab; allerdings stand es ihm eine vorläufige Aufenthaltsbewilligung zu. Gleichzeitig stellte man ihn aber unter eine besondere Überwachung, welche das Verbot umfasste, sich in neun Departements aufzuhalten. Der EuGH hatte in der Vorlagefragen zu entscheiden, ob dieses räumlich beschränkte Aufenthaltsverbot mit dem Gemeinschaftsrecht vereinbar sei. Im Ergebnis beurteilte er diese Frage nach den Vorschriften der Arbeitnehmerfreizügigkeit; eine Auseinandersetzung mit Art. 18 EGV konnte daher unterbleiben: „Ebenso ist darauf hinzuweisen, dass Artikel 8 a EG-Vertrag, in dem das Recht eines jeden Unionsbürgers, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten, in allgemeiner Form niedergelegt ist, in Artikel 48 EG-Vertrag einen besonderen Ausdruck in Bezug auf die Freizügigkeit der Arbeitnehmer findet. Da das Ausgangsverfahren unter die letztgenannte Bestimmung fällt, braucht über die Auslegung von Artikel 8 a EG-Vertrag nicht entschieden zu werden.“57

Weiter hatte sich der EuGH auch im Fall Yiadom mit dem Freizügigkeitsrechtsrecht zu befassen; der Fall regelt Rechtsfragen im Zusammenhang mit der Beschränkung des Freizügigkeitsrechts aus Gründen der öffentlichen Ordnung. So wurde Frau Yiadom, einer niederländischen Staatsangehörigen, die Einreise in das Vereinigte Königreich verweigert, da sie die illegale Einreise anderer gefördert habe. Dagegen erhob Frau Yiadom Klage; zugleich machte sie einen Verstoß gegen die Verfahrensgarantien entsprechend der Richtlinie 64/221/EWG geltend. Nachdem der Gerichtshof in seinen Entscheidungsgründen den Wortlaut des Art. 18 EGV wiederholt hatte, stellte er Folgendes klar: „Nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofes ist der Grundsatz der Freizügigkeit weit auszulegen, während Abweichungen von diesem Grundsatz eng auszulegen sind. In gleicher Weise sind die Bestimmungen zum Schutz der Gemeinschaftsangehörigen, die diese Grundfreiheit (Kursivdruck Hinzufügung der Autorin) ausüben, zu deren Gunsten auszulegen.“58

Einen weiteren Hinweis enthält das Urteil in der Rechtssache Elsen, dementsprechend Unionsbürger mit ihrer Wohnsitzverlagerung in einen anderen Mitgliedstaaten „von ihrem in Art. 8 a EG-Vertrag (nach Änderung jetzt Artikel 18

57 58

EuGH, Rs. C-100/01, Olazabal, Slg. 2002, I-10981, Rdn. 26. EuGH, Rs. C-357/98, Yiadom, Slg. 2000, I-9265, Rdn. 24–25.

66

E. Die Unionsbürgerfreiheit

EG) verbürgten Recht, sich in den Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten, Gebrauch gemacht haben“.59 In der Grundlagenentscheidung Grzelczyk charakterisierte der EuGH den Unionsbürgerstatus als den „grundlegenden Status der Angehörigen der Mitgliedstaaten, der es denjenigen unter ihnen, die sich in der gleichen Situation befinden, erlaubt, unabhängig von ihrer Staatsangehörigkeit und unbeschadet der insoweit ausdrücklich vorgesehenen Ausnahmen die gleiche rechtliche Behandlung zu genießen.“60 Dazu zählt der Gerichtshof auch Situationen, die zur Ausübung der durch Art. 8a EGV verliehenen Freiheit gehören.61 Nach ständiger Rechtsprechung des EuGH ist also vorrangig zu prüfen, ob nicht die spezielleren Grundfreiheiten einschlägig sind. Art. 18 ist daher folgerichtig als Grundfreiheit einzuordnen.62 Die Vorschrift bindet nicht nur die Gemeinschaftsgewalt, sondern richtet sich vorrangig an die Mitgliedstaaten. Freizügigkeitshemmende Maßnahmen der Mitgliedstaaten sollen mit Art. 18 unterbunden werden. Auch entstehungsgeschichtlich ist das allgemeine Freizügigkeitsrecht als Ausdehnung der besonderen Personenverkehrsfreiheiten zu verstehen.63 Art. 18 enthält ein allgemeines Freizügigkeitsrecht;64 es gewährleistet grundsätzlich allen Unionsbürgern unabhängig von ihrem wirtschaftlichen Status ein Recht auf freien Zugang zu den Mitgliedstaaten der Europäischen Union und auf Aufenthalt in diesen Staaten. In diesem Sinne wird in der vorliegenden Arbeit der Begriff „Unionsbürgerfreizügigkeit“ eingeführt. Neben die Freizügigkeit im Zusammenhang mit Dienstleistungen, neben die Niederlassungsfreizügigkeit und neben die Arbeitnehmerfreizügigkeit tritt die Unionsbürgerfreizügigkeit. Mit diesem Begriff wird deutlich, dass die Freizügigkeit nicht mehr länger an die Arbeitnehmer- bzw. Niedergelasseneneigenschaft anknüpft, sondern das grundlegende Recht der Unionsbürger darstellt.

59

EuGH, Rs. C-135/99, Elsen, Slg. 2000, I-10409, Rdn. 34. EuGH, Rs. C-184/99, Grzelczyk, Slg. 2001, I-6193, Rdn. 31. 61 EuGH, Rs. C-184/99, Grzelczyk, Slg. 2001, I-6193, Rdn. 33. 62 EuGH, Rs. C-357/98, Yiadom, Slg. 2000, I-9265, Rdn. 25; Rs. C-224/98, D’Hoop, Slg. 2002, I-6191, Rdn. 29; Ziekow, Die Freizügigkeit des Unionsbürgers, S. 110 f. A. A.: Hatje, in: Schwarze, Art. 18 Rdn. 1; Kluth, in: Calliess/Ruffert, Art. 18 Rdn. 9. 63 Becker, EuR 1999, S. 522 ff.; Ziekow, Die Freizügigkeit des Unionsbürgers, S. 111. 64 A. A.: Rothfuchs, Die traditionellen Personenverkehrsfreiheiten des EG-Vertrags und das Aufenthaltsrecht der Unionsbürger, S. 196 ff. Unter Heranziehung der in Art. 39 III EGV enthaltenen Aufzählung von Nebenrechten sowie dem Recht des Art. 39 II EGV, die Freizügigkeit der Arbeitnehmer umfassenden Rechte, kommt Rothfuchs zu dem Ergebnis, dass die in Art. 39 III b) und c) EGV enthaltenen Rechte auf freie Bewegung und Aufenthalt nur Teilaspekte der Freizügigkeit als solcher darstellen und als Schlussfolgerung daraus, Art. 18 I EGV kein allgemeines Freizügigkeitsrecht im europarechtlichen Sinne enthalte. 60

V. Unmittelbare Anwendbarkeit

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V. Unmittelbare Anwendbarkeit des Art. 18 EGV V. Unmittelbare Anwendbarkeit

1. Herleitung Unmittelbar wirksame Vorschriften65 des EG-Vertrags bzw. Normen mit Durchgriffswirkung richten sich nicht nur an die Mitgliedstaaten, sondern erzeugen Rechtswirkungen für den Einzelnen oder juristische Personen und regeln somit die Verhältnisse in den Mitgliedstaaten und gehen im Konfliktfall nationalen Regelungen vor, auch gegenüber nationalem Verfassungsrecht (Anwendungsvorrang). Zugleich sind sie damit sowohl vor den nationalen als auch vor den Europäischen Gerichten einklagbar66. Unmittelbare Wirkung erzeugende Rechtsnormen sind „rechtlich vollkommen“67 und entsprechen herkömmlicherweise dem Idealzustand von Rechtsakten68. Seit der dazu grundlegenden Entscheidung des EuGH von 1963 in der Rechtssache van Gend & Loos,69 welche mittlerweile durch eine Reihe weiterer Entscheidungen präzisiert wurde,70 gehört der Grundsatz der unmittelbaren Anwendbarkeit zu den entscheidenden Grundstrukturen der unionalen Grundordnung. Diese Wirkungsweise europarechtlicher Normen fand im Schrifttum bereits frühzeitig breite Zustimmung71.

2. Das Urteil Baumbast und R In dem Urteil Baumbast und R stellt der EuGH die unmittelbare Wirkung des Art. 18 I EGV explizit fest. Der Entscheidung lagen die folgenden Fälle zugrunde: Wolfgang Baumbast, einem deutschen Staatsangehörigen, seiner kolumbianischen Frau Maria Belen Baumbast sowie deren zwei Kindern erteilte das Vereinigte Kö65 Teilweise wird in diesem Zusammenhang auch von „unmittelbarer Anwendbarkeit“ oder „unmittelbarer Geltung“ gesprochen; vgl. zur Begrifflichkeit: Klein, Unmittelbare Geltung, Anwendbarkeit und Wirkung von europäischem Gemeinschaftsrecht; Pescatore, E. L.Rev. 8 (1983), S. 155.; Nettesheim in: Grabitz/Hilf, EGV, Art. 249 Rdn. 30. 66 EuGH, Rs. 157/86, Murphy/An Bord Telecom Eireann, Slg. 1988, 673. 67 Herdegen, Europarecht, § 9 Rdn. 167. 68 Kotalakidis, Von der nationalen Staatsangehörigkeit zur Unionsbürgerschaft, S. 161; Esser, Vorverständnis und Methodenwahl in der Rechtsfindung, S. 102 f. 69 EuGH, Rs. 26/62, van Gend & Loos, Slg. 1963, 1. 70 EuGH, Rs. 2/74, Reyners, Slg. 1974, 659 ff.; Rs. 33/74, van Binsbergen, Slg. 1974, 1299; Rs. 41/74, van Duyn, Slg. 1974, 1337, 1347; Rs. 106/77, Staatliche Finanzverwaltung/Simmenthal, Slg. 1978, 629, Rdn. 14, 16; Rs. 8/81, Becker, Slg. 1982, 53 Rdn. 29; verb. Rs. C-87–89/90, Verholen, Slg. 1991, I-3757, Rdn. 16. 71 Klein, Unmittelbare Geltung, Anwendbarkeit und Wirkung von europäischem Gemeinschaftsrecht, Saarbrücken, 1988; Pescatore, The Doctrine of „Direct Effect“: An Infant Disease of Community Law, E. L.Rev. 8 (1983), S. 155; Jarass, NJW 1990, S. 2420; Winter, Direct Applicability and Direct Effect – Two Distinct and Different Concepts in Community Law, C. M. L.Rev. 9 (1972), S. 425.

68

E. Die Unionsbürgerfreiheit

nigreich im Juni 1990 eine Aufenthaltserlaubnis für fünf Jahre. Dabei war Herr Baumbast zunächst als Arbeitnehmer, dann als Unternehmer erwerbstätig. Nach der Insolvenz seines eigenen Unternehmens und nachdem er keine angemessene Arbeitsstelle im Vereinigten Königreich finden konnte, arbeitete er seit 1993 für deutsche Unternehmen in China und Lesotho. Im fraglichen Zeitraum besaß Familie Baumbast im Vereinigten Königreich ein Haus; die Töchter besuchten dort die Schule. Da Herr Baumbast nicht mehr als Wanderarbeitnehmer in Großbritannien tätig war, sollte ihm und seiner Frau sowie deren Kindern kein Aufenthaltsrecht mehr gewährt werden. Im Fall R ging es um eine US-Amerikanerin, welche mit einem Franzosen verheiratet war. Während ihren Kindern weiterhin ein Aufenthaltsrecht zugestanden wurde, sollte Frau R aufgrund der Scheidung kein solches Recht mehr zustehen. Mit seiner ersten Frage wollte das vorlegende Gericht wissen, ob die Kinder eines Unionsbürgers, die in einem Mitgliedstaat seit dem Zeitpunkt wohnen, zu dem dieser EU-Bürger dort als Arbeitnehmer ein Aufenthaltsrecht hatte, zum weiteren Aufenthalt berechtigt sind, um dort weiterhin am Unterricht teilzunehmen. Nach Auffassung des EuGH ergab sich eindeutig ein Aufenthaltsrecht für diese Kinder; das Recht der R-Kinder folgte aus Art. 10 Abs. 1a und Art. 12 Abs. 1 VO 1612/68; das Aufenthaltsrecht der Baumbast-Kinder leitete der Gerichtshof überzeugend aus Art. 12 Abs. VO 1612/68 ab. Mit der zweiten Frage sollte geklärt werden, ob Art. 12 VO Nr. 1612/68 auch in dem Fall, in dem Kinder ein Aufenthaltsrecht haben, um im Aufnahmemitgliedstaat am allgemeinen Unterricht teilzunehmen, dementsprechend auszulegen ist, dass er dem Elternteil, der die Personensorge für die Kinder tatsächlich wahrnimmt, den Aufenthalt bei den Kindern erlaubt. Das der Entscheidung zugrunde liegende Sekundärrecht sieht kein Aufenthaltsrecht für Ehepartner vor, welche ihr abgeleitetes Aufenthaltsrecht verloren haben (wegen Entfallens der Arbeitnehmer-Eigenschaft des Ehepartners im Fall Baumbast bzw. wegen Scheidung im Fall von Frau R). Schließlich gewährt der EuGH auch dem die tatsächliche Personensorge ausübenden Elternteil ein Aufenthaltsrecht, und zwar unter Bezugnahme auf Art. 8 EMRK sowie mit dem Hinweis, dass die aufenthaltsberechtigten Kinder dieses Recht ebenfalls verlieren könnten, wenn den Eltern die Möglichkeit versagt würde, während der Schulausbildung im Aufnahmemitgliedstaat zu bleiben. Von bedeutendem Interesse für die vorliegende Arbeit ist hier die dritte Vorlegefrage; sie betraf die Thematik, ob Herrn Baumbast, welcher kein Aufenthaltsrecht als Wanderarbeitnehmer nach Art. 39 EGV mehr besitzt, auch in seiner Eigenschaft als Unionsbürger unmittelbar aus Art. 18 EGV ein Aufenthaltsrecht zusteht. In seiner Würdigung verweist der EuGH auf seine ständige Rechtsprechung zu den sich aus den Grundfreiheiten ergebenden unmittelbaren Aufenthalts- und Freizügigkeitsrechten. Dass dabei bislang die Gewährung der Aufenthaltsrechte von einer wirtschaftlichen Tätigkeit im Sinne der Art. 48, 52 oder 59 (heute: Art. 39, 43,

V. Unmittelbare Anwendbarkeit

69

49) EGV abhängig gemacht worden sei, habe sich im Hinblick auf die in den Vertrag aufgenommene Unionsbürgerschaft und die sich anschließenden Rechte geändert; das betreffe insbesondere den Art. 18 EGV, welcher jedem Unionsbürger ein Recht zuerkennt, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten.72 Aufgrund des grundlegenden Status der Unionsbürgerschaft sei es gerade eben nicht mehr erforderlich, dass sie einer unselbstständigen oder selbstständigen Erwerbstätigkeit nachgehen, um in den Genuss der Unionsbürgerrechte der Art. 17–21 EGV zu kommen. Das Aufenthaltsrecht wird „jedem Unionsbürger durch eine klare und präzise Vorschrift des EG-Vertrags unmittelbar zuerkannt. Allein deshalb, weil er Staatsangehöriger eines Mitgliedstaats und damit Unionsbürger ist, ist Herr Baumbast daher berechtigt, sich auf Art. 18 Abs. 1 EGV zu berufen.“73

Dass das Recht nur vorbehaltlich der Beschränkungen und Bedingungen bestehe, ändere an dieser Einordnung allerdings nichts. „Die Anwendung der Beschränkungen und Bedingungen, die nach Art. 18 Abs. 1 EGV für die Wahrnehmung dieses Aufenthaltsrechts bestehen, unterliegt jedoch der gerichtlichen Kontrolle. Die Beschränkungen und Bedingungen stehen daher nicht dem entgegen, dass Art. 18 Abs. 1 EGV den Einzelnen Rechte verleiht, die sie gerichtlich geltend machen können und die die innerstaatlichen Gerichte zu wahren haben.“74

Auch das Bundesverwaltungsgericht gelangt zu diesem Ergebnis; das Gericht hatte 1999 im Rahmen eines Rechtsmittelverfahrens zu prüfen, ob die Vorschrift des § 3 II WPflG, wonach Auslandsaufenthalte einer Genehmigungspflicht durch die zuständige Wehrersatzbehörde unterliegen, mit der europarechtlichen Freizügigkeitsgarantie des Art. 18 EGV vereinbar ist. Dabei ging das BVerwG ganz offensichtlich von der unmittelbaren Anwendbarkeit des Art. 18 I EGV aus und bezeichnete die Norm als „politische Grundfreiheit“.75 So sieht es in Art. 18 I EGV „ein subjektiv-öffentliches Recht, das dem Unionsbürger unabhängig vom Zweck seiner Inanspruchnahme unmittelbar zusteht“.76 Der Baumbast-Entscheidung des EuGH zur unmittelbaren Anwendbarkeit von Art. 18 EGV ist uneingeschränkt zuzustimmen.77 Für die Unmittelbarkeit einer Norm ist zunächst einmal erforderlich, dass sie hinreichend klar, eindeutig und unbedingt formuliert ist.78 Das trifft für die Vorschrift des Art. 18 EGV zu, denn ihre 72

EuGH, Rs. C-413/99, Baumbast und R, Slg. 2002, I-7091, Rdn. 81. EuGH, Rs. C-413/99, Baumbast und R, Slg. 2002, I-7091, Rdn. 84. 74 EuGH, Rs. C-413/99, Baumbast und R, Slg. 2002, I-7091, Rdn. 86. 75 BVerwG, Urteil vom 10.11.1999, 6 C 30/98 = NVwZ 2000, 1290 ff. 76 BVerwG, Urteil vom 10.11.1999, 6 C 30/98 = NVwZ 2000, 1290 (1294). 77 So auch das weit überwiegende Schrifttum: Wollenschläger, Grundfreiheit ohne Markt, S. 126 f.; Oppermann, Europarecht, § 24 Rdn. 4; Haag, in: von der Groeben/Schwarze, Art. 18 Rdn. 7; Hatje, in: Schwarze, Art. 18 Rdn. 5; Hilf, in: Grabitz/Hilf, Art. 18 Rdn. 1; Höfler, Aussenwirtschaft 2004, 303 (306 f.); Kluth, in: Callies/Ruffert, Art. 18 Rdn. 9. 78 Ständige Rechtsprechung seit EuGH, Rs. 26/62, Van Gend & Loos, Slg. 1963, 1. 73

70

E. Die Unionsbürgerfreiheit

Formulierung ist ausreichend präzise. Des Weiteren ist eine Regelung mit Vorbehalt direkt anwendbar, sofern der Vorbehalt einer gerichtlichen Kontrolle unterliegt.79 Das ist bei den Bedingungen und Beschränkungen des Art. 18 EGV auch vollumfänglich der Fall. Ferner muss sich die Norm als rechtlich vollständig erweisen, das heißt weitere evtl. im Ermessen stehende Umsetzungsakte oder Durchführungsmaßnahmen dürfen nicht erforderlich sein. Nun kann zwar der Rat nach Art. 18 II EGV zur Erreichung der Freizügigkeit der Unionsbürger die erforderlichen Vorschriften erlassen, dies aber nur, um die Ausübung des Freizügigkeitsrechts zu erleichtern. Auch in dem ähnlich gelagerten Fall zu Art. 47 EGV, wonach der Rat zum Richtlinienerlass im Zusammenhang mit der Erleichterung der Aufnahme und Ausübung von selbstständigen Tätigkeiten ermächtigt wird, sah der Gerichtshof kein Hindernis für die unmittelbare Anwendbarkeit der in Art. 43 EGV verwirklichten Niederlassungsfreiheit.80 Art. 18 ist also eine unmittelbar anwendbare Norm.

VI. Die Entstehung des Aufenthaltsrechts VI. Entstehung des Aufenthaltsrechts

Mit der Bejahung der unmittelbaren Anwendbarkeit von Art. 18 EGV ist allerdings noch nicht zwingend entschieden, in welchem Verhältnis das Erfordernis ausreichender Existenzmittel und eines angemessenen Krankenversicherungsschutzes zur Entstehung des Aufenthaltsrechts steht. Die Unmittelbarkeit der Vorschrift bedeutet nicht, dass sie zugleich ein umfassendes, voraussetzungsloses Recht auf Einreise und Aufenthalt aller Unionsbürger gewährleistet.81 Von entscheidender Bedeutung für den rechtlichen Gehalt des Freizügigkeitsrechts ist daher die Frage, ob die in Art. 18 I EGV enthaltenen Vorbehalte der rechtsbegründeten Ausgestaltung oder der schrankenmäßigen Eingrenzung des Rechts dienen. Erst unter Zugrundelegung des hierbei ermittelten Ergebnisses kann entschieden werden, ob die sekundärrechtlichen Aufenthaltsbestimmungen dem Primärrecht entsprechen. Bei der Leseart des in Art. 18 EGV enthaltenen Vorbehalts als Rechtsbegründungsvorbehalt ergeben sich für die sekundärrechtlichen Vorschriften keine besonderen Vorgaben. Unter welchen Bedingungen das Freizügigkeitsrecht entsteht, ist direkt aus ihnen zu entnehmen. Ein Rückgriff auf das primäre Recht ist nicht notwendig. Das bedeutet, dass bereits die Entstehung des unionalen Freizügigkeitsrechts an die Erfüllung bestimmter wirtschaftlicher Bedingungen82 79 EuGH, Rs. 41/71, Van Duyn, Slg. 1974, 1337, Rdn. 7; Rs. 36/75, Rutili, Slg. 1975, 1219; Kotalakidis, Von der nationalen Staatsangehörigkeit zur Unionsbürgerschaft, S. 163. 80 EuGH, Rs. 2/74, Reyners, Slg. 1974, 631, 651 f.; Schulz, Freizügigkeit für Unionsbürger, S. 87. 81 So aber wohl: Bode, EuZW 2002, S. 767 (768). 82 Vgl. jeweils die Art. 1 Abs. 1, Art. 3 RL 90/364/EWG über das Aufenthaltsrecht und RL 90/365/EWG über das Aufenthaltsrecht der aus dem Erwerbsleben ausgeschiedenen Arbeit-

VI. Entstehung des Aufenthaltsrechts

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geknüpft ist, andernfalls entsteht erst gar kein Freizügigkeitsrecht und ein damit einhergehender Anspruch auf Sozialleistungen. Im Gegensatz dazu stellt sich die Rechtslage bei einer Interpretation als Schrankenvorbehalt differenziert dar: Fragen der Entstehung des Rechts sind in Art. 18 EGV direkt geregelt; die Richtlinien dienen lediglich dazu, die Grenzen dieses Rechts aufzuzeigen.

1. Art. 18 I EGV: Grundfreiheit mit Rechtsbegründungsvorbehalt Zum einen kann der Vorbehalt inhaltskonstituierend verstanden werden in der Weise, dass durch die weiteren Bestimmungen und Richtlinien das Aufenthaltsund Freizügigkeitsrecht erst begründet wird. Das Recht, sich frei zu bewegen und aufzuhalten, würde dann erst über die sekundärrechtlichen Richtlinien vermittelt. Vertreter dieser Ansicht83 berufen sich maßgeblich auf den Wortlaut des Art. 18 I. Die in den Aufenthaltsrichtlinien enthaltenen Voraussetzungen ausreichender Existenzmittel sowie eines Krankenversicherungsschutzes sind danach Bedingungen für die Begründung des Aufenthalts- und Freizügigkeitsrechts. Die Entstehungsgeschichte des Art. 18 EGV lege den Schluss nahe, dass Art. 18 EGV lediglich als gemeinschaftsrechtliche Grundlage für die bereits zuvor im Rahmen des Sekundärrechts errichteten Freizügigkeitsrechte dienen soll.84 Für EU-Bürger, welche keine ausreichenden finanziellen Mittel zur Verfügung haben, würde demnach gar nicht erst ein Aufenthaltsrecht entstehen. Dies entspreche auch dem historischen Willen der Regierungskonferenz.85 Würde bereits aus Art. 18 ein originäres Aufenthaltsrecht abgeleitet, so käme es zu einer – vom Gesetzgeber so nicht gewollten – Gleichstellung aller Freizügigkeitsberechtigten.86 Vertreter dieser Ansicht betrachten das allgemeine Freizügigkeitsrecht des Art. 18 I EGV als rein deklaratorisch, insoweit würden nur die bereits anderweitig, vor allem in den drei Aufenthaltsrichtlinien gewährleisteten Rechte auf primärrechtlicher Ebene gebündelt. Der eigenständige Regelungsgehalt des Art. 18 I EGV erschöpfe sich in einer Garantie des Status quo einschließlich eines

nehmer und selbständigen Erwerbstätigen sowie Art. 1 und Art. 4 der RL 93/96/EWG über das Aufenthaltsrecht der Studenten. 83 Kaufmann-Bühler, in: Lenz/Borchardt, Art. 18 Rdn. 1, 5; Streinz, Europarecht, Rdn. 54; Degen, DÖV 1993, S. 749 (752); Pechtstein/Bunk, EuGRZ 1997, S. 547 (554); Wenger, NVwZ 2002, S. 1342 (1343); Becker, EuR 1999, S. 522 (530): Voraussetzungen der ausreichenden Existenzmittel und eines ausreichenden Krankenversicherungsschutzes fungieren nicht als Schranke, sondern als „eine Eingrenzung des Schutzbereichs von Art. 18 EGV durch zusätzliche Tatbestandsvoraussetzungen“; Harms, in: Bergmann/Kenntner (Hrsg.), Deutsches Verwaltungsrecht unter europäischem Einfluss, S. 173; Hailbronner, NJW 2004, S. 2185 (2186). 84 Becker, ZESAR 2002, S. 8. 85 Degen, DÖV 1993, S. 749 (752). 86 Becker, EuR 1999, S. 522 (532).

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E. Die Unionsbürgerfreiheit

Verschlechterungsverbots.87 Die Bedeutung des Art. 18 EGV ist dann zum einen auf einen rein symbolischen Charakter beschränkt. D. h. die bereits zuvor bestehenden und in diversen Regelungen enthaltenen Freizügigkeitsrechte der Unionsbürger würden psychologisch insofern aufgewertet, als sie nun auf primärrechtlicher Ebene festgeschrieben werden. Zum anderen gebietet Art. 18 I EGV die Beibehaltung gewisser erreichter Mindeststandards, so dass nach Art. 18 II EGV tatsächlich nur eine Erleichterung der Rechte im Sinne ihrer Verbesserung, nicht aber eine Einschränkung oder irgendwie geartete Verschlechterung möglich ist. Damit wird durch Art. 18 I EGV der bisher erreichte Integrationsstand festgeschrieben.88

2. Art. 18 I EGV: Grundfreiheit mit Schrankenvorbehalt Die zweite Deutungsmöglichkeit liegt darin, dass Art. 18 EGV jedem Unionsbürger voraussetzungslos ein Freizügigkeitsrecht zugesteht.89 Die in Art. 18 I EGV enthaltenen Einschränkungen sind in diesem Fall im Sinne von Ausübungs- oder Beschränkungsbestimmungen des bereits vorhandenen Freizügigkeitsrechts zu interpretieren.90

87

Degen, DÖV 1993, S. 749 (752); O’Keefe, Union Citizenship, in: O’Keeffe/Twomey (Hrsg.), Legal Issues of the Maastricht Treaty, S. 87 (94); D’Oliveira, European Citizenship: Its Meaning, Its Potential, in: Dehousse (Hrsg.), Europe after Maastricht, An Ever Closer Union?, S. 126 (135). 88 Kotalakidis, Von der nationalen Staatsangehörigkeit zur Unionsbürgerschaft, S. 159. 89 Borchardt, Unionsbürgerschaft und soziale Ansprüche, in: von Bogdandy/Kadelbach (Hrsg.), Solidarität und europäische Integration, S. 9 (18); ders., NJW 2000, S. 2057; Schulz, Freizügigkeit für Unionsbürger, S. 88; Kotalakidis, Von der nationalen Staatsangehörigkeit zur Unionsbürgerschaft, S. 164; Kadelbach, Unionsbürgerschaft, in: von Bogdandy (Hrsg.), Europäisches Verfassungsrecht, S. 553; Kluth, in: Calliess/Ruffert, Art. 18 Rdn. 9; Haag, in: von der Groeben/Thiesing/Ehlermann, Art. 8a, Rdn. 4; Hatje, in: Schwarze, Art. 18 Rdn. 6; Herdegen, Europarecht, Rdn. 266; Fischer, EuZW 1992, S. 566, 567; Klein/Haratsch, JuS 1995, S. 7 (11); Hilf, in Grabitz/Hilf, Art. 18 Rdn. 1; Tomuschat/Kadelbach, Staatsbürgerschaft – Unionsbürgerschaft – Weltbürgerschaft, in: Drexl u. a. (Hrsg.), Europäische Demokratie, S. 73 (77 f.); Wouters, European Citizenship and the Case-Law of the Court of Justice of the Court of the European Communities on the Free Movement of Persons, in: Marias (Hrsg.), European Citizenship, S. 25 (48 f.); Fischer, Die Unionsbürgerschaft: Ein neues Konzept im Völker- und Europarecht, in: Haller/Konetzki/Novak u. a. (Hrsg.), Staat und Recht, Festschrift für Günther Winkler, S. 237 (257); Soria, JZ 2002, S. 647; Bode, EuZW 2003, S. 552 (554); Magiera in: Streinz, Art. 18 Rdn. 11; Magiera, in: Meyer, Kommentar zur Charta der Grundrechte der Europäischen Union, Artikel 45 Rdn. 6. 90 Ausdrücklich anderer Ansicht ist Becker, ZESAR, 2002, S. 8 (10): er stimmt zu, dass Art. 18 I unmittelbar anwendbar ist, allerdings bedeutet dies für nicht zugleich ein umfassendes Einreise- und Aufenthaltsrecht. Die Entstehung des Aufenthaltsrechts bleibe weiter an die Verfügbarkeit ausreichender finanzieller Mittel zum Lebensunterhalt gebunden.

VI. Entstehung des Aufenthaltsrechts

73

3. Bewertung Zunächst einmal ist festzustellen, dass die historische Auslegung einer weit verstandenen Interpretation des Freizügigkeitsrechts entgegensteht. So stand im Mittelpunkt der Regierungskonferenz von 1992 die formale Ausdehnung des Freizügigkeitsrechts, eine materiellrechtliche Erweiterung wollten die Vertragsgeber wohl nicht herbeiführen.91 Ihr Wille ging dahin, die aus dem Aufenthaltsrecht fließenden finanziellen Belastungen zu beschränken und damit überschaubar zu halten. Mit einer Leseart des Art. 18 als Grundfreiheit mit Schrankenvorbehalt wird diese Zielsetzung aber nicht aufgegeben. Zudem ist nicht zu verkennen, dass mit dem Maastrichter Vertrag eine neue Qualität des Integrationsprozesses erreicht wurde. In diesem Kontext vergleicht Degen das Zögern bei seiner Ratifizierung mit der Angst der Tormanns beim Elfmeter.92 Der sprachlichen Fassung nach wird, wie die Wahl des Indikativs zeigt („Jeder Unionsbürger hat das Recht …“), die Entstehung der Rechte bereits vorausgesetzt.93 Zudem ist in anderen Sprachfassungen des EGV der Vorbehalt der Feststellung des Freizügigkeitsrechts nachgestellt.94 Begründet wird dieses Ergebnis auch im Kontext mit Art. 18 II EGV, welcher den Rat zum Erlass von Vorschriften, welche die „Ausübung“ der Rechte nach Art. 18 I EGV „erleichtern“, ermächtigt. So wird aus einem Zusammenspiel der Absätze 1 und 2 die Schlussfolgerung gezogen, dass Absatz 1 das subjektive Vorhandensein des Freizügigkeitsrechts voraussetze.95 Neben die Interpretation des Wortlauts treten noch weitere Auslegungsargumente. So gilt es die exponierte Stellung des Art. 18 im Gesamtgefüge des EGV zu beachten: Zum einen befindet er sich unmittelbar hinter der allgemeinen Bestimmung über die Unionsbürgerschaft; die Freizügigkeit wird also vor allen weiteren explizit erwähnten Unionsbürgerrechten an vorderster Stelle erwähnt (Mikroebene). Zum anderen ist die Makrostellung des Art. 18 EGV im Gesamtgefüge des EG-Vertrags zu berücksichtigen. Das allgemeine Freizügigkeitsrecht befindet sich im Zweiten Teil des Vertrags, lediglich die Präambel sowie die im ersten Teil enthaltenen allgemeinen Grundsätze gehen ihm vor; damit steht das Freizügigkeitsrecht noch vor den Politiken der Gemeinschaft, welche sich im Dritten Teil des EGV anschließen.96 91

Stellungnahme der Kommission vom 21.10.1991, BullEG Beilage 2/91, S. 69 (91); Sander, DVBl. 2005, S. 1016. 92 Degen, DÖV 1993, S. 549 (750). 93 Schroeder, Das Gemeinschaftsrechtssystem, S. 455; Kluth, in: Calliess/Ruffert, Art. 18 Rdn. 9; so wohl auch: Weiss/Wooldridge, Free Movement of Persons Within the European Community, S. 17. 94 Scheuing, Die Freizügigkeit der Unionsbürger in der Europäischen Union, in: Dreier, Raum und Recht, S. 103 (120). 95 Haag, in: von der Groeben/Thiesing/Ehlermann, Art. 18 Rdn. 6; Koenig/Pechstein, Die europäische Union, Kap. 9, Rdn. 14; Klein/Haratsch, Neuere Entwicklungen des Rechts der Europäischen Gemeinschaften, 2. Teil, 12; kritisch dazu: Pechstein/Bunk, EuGRZ 1997, S. 547 (548). 96 Borchardt, Unionsbürgerschaft und soziale Ansprüche, in: in: von Bogdandy/Kadelbach (Hrsg.), Solidarität und europäische Integration, S. 9 (17).

E. Die Unionsbürgerfreiheit

74

Nach Art. 2 I dritter Spiegelstrich setzt sich die Union das Ziel, den Schutz der Rechte und Interessen der Angehörigen ihrer Mitgliedstaaten durch Einführung einer Unionsbürgerschaft zu stärken. Dies kann unter anderem durch ein verallgemeinertes und verstärktes Freizügigkeitsrecht erreicht werden. Unter dem Aspekt der größtmöglichen Wirksamkeit des Freizügigkeitsrechts ist diejenige Sichtweise zu bevorzugen, wonach einem Unionsbürger bereits mit Überschreiten der Binnengrenze ein Aufenthaltsrecht zuzugestehen ist, welches dann später eingeschränkt bzw. beendet werden kann. In der Gewährleistung des Freizügigkeitsrechts spiegelt sich für den einzelnen Bürger auf spürbare Weise der tatsächliche Stand des EG- Rechts wieder. Nach der Ansicht von Kluth ist die Gewährleistung der Freizügigkeit „für die Verfassung und das Selbstverständnis der Union und des Unionsbürgerstatus von grundlegender Bedeutung …“.97 In ihrem zweiten Bericht über die Unionsbürgerschaft bezeichnet die Kommission das Freizügigkeitsrecht als „wichtigstes Merkmal der Unionsbürgerschaft“.98 Für die Interpretation als Schrankenvorbehalt spricht auch eine Analogie zu den sonstigen Personenverkehrsfreiheiten.99 Art. 18 EGV ist Grundtatbestand zu den speziellen Personenfreizügigkeiten.100 Diesbezüglich vertritt der EuGH in ständiger Rechtsprechung den Standpunkt, dass die Einschränkungsmöglichkeiten die Entstehung des Freizügigkeitsrechts nicht berühren, sondern dem Aufenthaltsmitgliedstaat vielmehr nur die Möglichkeit zum Erlass aufenthaltsbeendender Maßnahmen geben. Für den ordre-public-Vorbehalt hat der Gerichtshof in seinem Royer-Urteil die folgende Entscheidung getroffen: „Es ist somit nicht Vorbedingung für den Erwerb des Rechts auf Einreise und Aufenthalt, daß der den Schutz der öffentlichen Ordnung, Sicherheit und Gesundheit betreffende Vorbehalt nach Art. 48 III und nach Art. 56 I des Vertrags nicht eingreift; vielmehr ist dieser Vorbehalt aufzufassen als eine Handhabe, im Einzelfall bei Vorliegen geeigneter Gründe die Ausübung eines unmittelbar aus dem Vertrag fließenden Rechts einzuschränken.“101

Das Analogieargument würde nicht gelten, sofern im Rahmen des Art. 18 EGV zwischen Beschränkungen einerseits und Bedingungen andererseits zu unterscheiden wäre. Die Differenzierung zwischen Bedingungen im Sinne des Nachweises ausreichender Existenzmittel sowie einer Krankenversicherung einerseits und Beschränkungen im Sinne der ordre-public-Vorbehalte102 andererseits kann nicht aufrechterhalten werden. Der Wortlaut des Vorbehalts verwendet zwar zwei verschiedene Begriffe, allerdings lässt sich nicht zwingend folgern, dass ordre-public97

Kluth, in: Calliess/Ruffert, Art. 18 Rdn. 2. Zweiter Bericht der Kommission über die Unionsbürgerschaft vom 27.5.1997, KOM (97) 230 endg. S. 29. 99 So auch: Wollenschläger, EuZW 2005, S. 309 (310). 100 Siehe oben: D. I. 101 EuGH, Rs. 48/75, Royer, Slg. 1976, 497, Rdn. 28 f. 102 So aber: Kadelbach, Unionsbürgerschaft, in: von Bogdandy (Hrsg.), Europäisches Verfassungsrecht, S. 553; Becker, EuR 1999, S. 522 (530); Dienelt, Freizügigkeit nach der EU-Osterweiterung, Rdn. 96 ff. 98

VI. Entstehung des Aufenthaltsrechts

75

Vorschriften als Beschränkungen und Regelungen bezüglich ausreichender Existenzsicherung als Bedingungen zu interpretieren sind.103 Im Übrigen differenziert auch der EuGH selbst nicht zwischen den einzelnen Formen des Vorbehalts.104 Eine Herauslösung aller Fälle fehlender Existenzmittel/Krankenversicherung aus dem Schutzbereich des Freizügigkeitsrechts widerspricht überdies dem Grundgedanken der Unionsbürgerschaft. Stattdessen sollte der Status der EU-Bürger verbessert und in gewissem Sinne auf eine neue Stufe gehoben werden, so dass im Prinzip zunächst einmal allen Unionsbürgern ein Freizügigkeitsrecht zusteht. Einschränkungen dieses Rechts sind deshalb nicht unmöglich, allerdings unterliegen diese einer Rechtfertigungsprüfung durch den EuGH. Die Wirkung des Vorbehalts in Art. 18 Abs. 1 ist begrenzt auf Regelungen über das „Wie“, d. h. über die Ausübung und Beendigung des Freizügigkeitsrechts. Auf Fragen der Entstehung des Aufenthaltsrechts, d. h. Fragen des „Ob“ bezieht sich der Vorbehalt nicht. Mit dieser Konstruktion geht der Bedeutungsgehalt des Art. 18 EGV über die bisher bestehenden Rechte hinaus und enthält einen eigenständigen Sinn. Die Unionsbürgerschaft gewährt durch Art. 18 EGV ein über die bisherigen Freizügigkeitsrechte hinausgehendes Bewegungs- und Aufenthaltsrecht.105 Durch die Aufnahme des Freizügigkeitsrechts in die Charta der Grundrechte wird diese Interpretation unterstrichen. Art. 45 Abs. 1 der Charta gewährt allen Unionsbürgerinnen und Unionsbürgern das Recht, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten. Er lehnt sich dabei erkennbar an die Vorschrift des Art. 18 EGV an. Unter Zugrundelegung dieser Sichtweise ist es konsequent, wenn der EuGH die Aufenthaltsrichtlinien, welche bereits vor Einführung der Unionsbürgerschaft entstanden sind, am Maßstab des Primärrechts misst und sie primärrechtskonform auslegt. Vor diesem Hintergrund erscheint es auch legitim, die Begründungserwägungen der Aufenthaltsrichtlinien als zusätzliches Auslegungsargument zu benutzen und anstelle des Wortlauts der Richtlinien heranzuziehen. Zwar ist zuzugeste103

Wollenschläger, EuZW 2005, S. 309 (311); Rossi, AöR 127 (2002), S. 612 (623). EuGH, Rs. C-456/02, Trojani, Slg. 2004, I-7573, Rdn. 33: „Zu diesen Beschränkungen und Bedingungen …“ 105 Das vorgetragene Argument, dass die insbesondere für die Personenfreizügigkeiten im Rahmen der Osterweiterung vereinbarten Übergangsfristen gar nichts nützen würden, wenn bereits Art. 18 EGV ein unabhängiges Freizügigkeitrecht gewährt, überzeugt nicht. Die für bestimmte Fristen verbleibenden Beschränkungen der Personenverkehrsfreiheiten wurden vereinbart, weil die bisherigen Mitgliedstaaten der EU eine Gefahr für ihren Arbeitsmarkt sehen. Im Hinblick auf das Freizügigkeitsrecht des Art. 18 wurden keine Regelungen getroffen, weil die Bedeutung dieses Rechts noch gar nicht erkannt wurde bzw. weil für eine Beschränkung kein Bedarf gesehen wurde, da die bereits bestehenden und in Art. 18 I EGV mitaufgenommenen Beschränkungen und Bedingungen (insbesondere die Vorbehalte hinsichtlich ausreichender Existenzmittel und einer Krankenversicherung) für ausreichend erachtet wurden. 104

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E. Die Unionsbürgerfreiheit

hen, dass die Begründungen der EU-Urteile, insbesondere die des Grzelczyk-Urteils, nicht sehr deutlich ausfallen und teilweise mehr Fragen aufwerfen als Antworten liefern. Auf dem Hintergrund der hier aufgebauten dogmatischen Argumentation lassen sich die Urteile aber deutlicher verstehen und fügen sich in ein einheitliches Prüfungsschema ein. Der Feststellung des EuGH, wonach die Sozialhilfebedürftigkeit „nicht automatisch“106 zur Beendigung des Aufenthaltsrechts berechtige, ist zuzustimmen. Als Schranken des Freizügigkeitsrechts unterliegen die Vorbehalte einer engen Auslegung und müssen sich am Verhältnismäßigkeitsgrundsatz messen lassen. Das Freizügigkeits- und Aufenthaltsrecht entsteht bereits mit Grenzübertritt.107 Die Beendigung kann durch einen konstitutiven Akt der Mitgliedstaaten erfolgen, sofern die Voraussetzungen dafür gegeben sind. Auch wenn eine Vielzahl von Autoren Art. 18 EGV als Freizügigkeitsrecht mit Schrankenvorbehalt liest, hat die Literatur bislang diese Verbindung und die sich daraus ergebende Konsequenz kaum herausgearbeitet.108 Nach dem hier vertretenen Verständnis ergibt sich zwingend, dass das Freizügigkeitsrecht unabhängig von ausreichenden Existenzmitteln und einem ausreichenden Krankenversicherungsschutz entsteht. Nach den Nichterwerbstätigen-Richtlinien wäre aber Voraussetzung für die Entstehung des Freizügigkeitsrechts, dass die Unionsbürger ausreichende finanzielle Mittel zur Verfügung haben. Damit war vor Einführung der Unionsbürgerschaft durch den Maastrichter Vertrag auch eindeutig, dass nichterwerbstätige Unionsbürger von Sozialleistungen des Aufenthaltsstaates ausgeschlossen sind. Diese Aufenthaltsrichtlinien gelten bisher weiter. Nunmehr ist allerdings zu beachten, dass sie nicht im Widerspruch zum primären Gemeinschaftsrecht stehen dürfen. Die Aussage, wonach die Existenz ausreichender finanzieller Mittel und einer Krankenversicherung Voraussetzung für die Entstehung des Rechts ist, kann mit dem Bedeutungsgehalt des Art. 18 I EGV nicht vereinbart werden. Die Richtlinien sind daher im Sinne des primären Rechts dergestalt auszulegen, dass das Freizügigkeitsrecht dem Grunde nach für alle Unionsbürger entsteht und die vorhandenen Bedingungen in Sinne von Beschränkungsmöglichkeiten zu verstehen sind. Die in den Richtlinien vorgegebenen Bedingungen sind als Schrankenregelung zu handhaben.109

106

EuGH, Rs. C-184/99, Grzelczyk, Slg. 2001, I-6193, Rdn. 44. So auch: Borchardt, NJW 2000, S. 2057 (2060); Bode, EuZW 2003, S. 552 (554). 108 Erste Ansätze bei: Borchardt, NJW 2000, S. 2057 (2060); Scheffer, Eine aktuelle Bestandsaufnahme der EU-Osterweiterung, S. 201. 109 So auch: Borchardt, Unionsbürgerschaft und soziale Ansprüche, in: von Bogdandy/Kadelbach (Hrsg.), Solidarität und europäische Integration, S. 9 (17). 107

VI. Entstehung des Aufenthaltsrechts

77

4. Die Rechtssache Trojani Der Kläger, ein französicher Staatsangehöriger, reiste 2000 nach Belgien ein. Etwa ein Jahr wohnte er ohne Anmeldung auf einem Campingplatz in Bankenberge; seit Dezember 2001 wohnt er in Brüssel. Nach einem vorangegangenen Aufenthalt in einer Jugendherberge, lebt er seit dem 8. Januar 2002 in einem Heim der Heilsarme. Im Rahmen eines individuellen Projekts zur Wiedereingliederung erbringt Herr Trojani 30 Stunden in der Woche verschiedene Leistungen, wofür er Unterkunft, Verpflegung sowie ein Taschengeld in Höhe von 25 Euro pro Woche bekommt. Aufgrund seiner Bedürftigkeit beantragte Herr Trojani bei der zuständigen belgischen Behörde, dem CPAS, das Minimex. Der Antrag wurde abgelehnt, da Herr Trojani nicht belgischer Staatsangehöriger sei sowie nicht unter die Verordnung Nr. 1612/68 falle. Im Rahmen dieses Vorabentscheidungsverfahrens hatte der Gerichtshof zu prüfen, ob Herr Trojani ein Aufenthaltsrecht beanspruchen kann. Dabei war insbesondere zu untersuchen, ob sich dieses Recht aus der Arbeitnehmer-, Niederlassungs- oder Dienstleistungsfreiheit ergeben könnte, und bei Verneinung dieser Frage, ob sich allein aufgrund seiner Unionsbürgerschaft aus Art. 18 EGV ein Aufenthaltsrecht ergibt.

a) Schlussanträge des Generalanwalts L. A. Geelhoed Generalanwalt Geelhoed prüft zuerst, ob Herr Trojani nicht wegen seiner Leistungen für das Obdachlosenheim und wegen der entsprechenden Vergütungen als Arbeitnehmer einzustufen sei. Nach anerkannter Rechtsprechung kann für die Arbeitnehmereigenschaft auch eine geringfügige Tätigkeit ausreichen. Es wird allerdings gefordert, dass die Beschäftigung von gewisser Dauer ist, dass ein Über- und Unterordnungsverhältnis besteht und dass eine Entlohnung stattfindet.110 Im vorliegenden Sachverhalt könne aber von einem Arbeitsverhältnis keine Rede sein, vielmehr empfange Herr Trojani eine Dienstleistung der Heilsarmee, wozu auch die Gewährung des Taschengelds gehöre, die Teil ihrer sozialen Aufgaben sei.111 Nachdem Herr Trojani offensichtlich aus der Arbeitnehmerfreizügigkeit kein Aufenthaltsrecht herleiten könne, könne er dieses Recht aus dem allgemeinen Freizügigkeitsrecht des Art. 18 EGV ableiten. Dabei sei zuerst zu prüfen, ob nicht eine der Beschränkungen oder Bedingungen des Art. 18 EGV einschlägig sei. Außerdem müsse die Anwendung der Beschränkungen und Bedingungen auch dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz genügen. Da Herr Trojani nicht über ausreichende Existenzmittel verfüge, falle er – wie zutreffend aufgezeigt wird – unter die Beschränkung des Art. 1 Abs. 1 der RL 90/364. Nationale Maßnahmen, welche 110 Schlussanträge Generalanwalt Geelhoed, Rs. C-456/02, Trojani, Slg. 2004, I-7573, Rdn. 48. 111 Schlussanträge Generalanwalt Geelhoed, Rs. C-456/02, Trojani, Slg. 2004, I-7573, Rdn. 58–59.

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E. Die Unionsbürgerfreiheit

das Aufenthaltsrecht beschränken, dürften keinen unverhältnismäßigen Eingriff in dieses Recht darstellen.112 Im vorliegenden Fall träfe dies nicht zu; die Beschränkungen des Art. 1 der RL 90/364 seien gerade dafür da, solche Fälle wie den der anfänglichen Sozialhilfebedürftigkeit aufzugreifen. Es gehe hierbei nicht lediglich um formale Gesichtspunkte. Vielmehr könne in der Tat ein nationales Interesse geltend gemacht werden. Das Gegenbeispiel hierzu sei die Rechtssache Baumbast und R:113 Die Krankenversicherung der Familie Baumbast erfüllte angeblich nicht die Voraussetzungen der britischen Regelung, allerdings stand fest, dass die Familie eine ausreichende deutsche Krankenversicherung besaß und zudem die öffentlichen Finanzen des Aufenthaltsstaat nie beanspruchte. Insofern gelangt Generalanwalt Geelhoed zu dem Ergebnis, dass Herr Trojani kein Aufenthaltsrecht nach Art. 18 EGV zusteht. In einer letzten Frage untersucht er, ob die Nichtgewährung des Minimex durch die belgischen Behörden nicht eine verbotene Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit darstellt. Wesentlich für die Entscheidung dieser Frage sei der aufenthaltsrechtliche Status des Unionsbürgers. Eine Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit sei grundsätzlich verboten, sofern der Anwendungsbereich des EG-Vertrags eröffnet ist. Dies ist laut Geelhoed dann der Fall, wenn ein Unionsbürger sein Aufenthaltsrecht unmittelbar aus dem Gemeinschaftsrecht ableiten kann. Darüber hinaus könne seiner Ansicht nach eine solche Diskriminierung auch vorliegen, wenn der Unionsbürger über eine unbeschränkte Aufenthaltsgenehmigung verfügt. „Dann wäre sein Aufenthaltsstatus dem eines belgischen Staatsangehörigen vergleichbar, und die Versagung einer Leistung wäre nicht die Folge eines unterschiedlichen Aufenthaltsstatus, sondern der unterschiedlichen Staatsangehörigkeit.“114 Im vorliegenden Fall besitze Herr Trojani eine befristete Aufenthaltsgenehmigung, so dass sein Aufenthaltsrecht nicht in jeder Hinsicht mit dem der belgischen Staatsangehörigen zu vergleichen sei. Eine soziale Leistung aufgrund des Diskriminierungsverbots könne Herr Trojani daher nicht beanspruchen.

b) Urteil des EuGH Was die Feststellung der Arbeitnehmereigenschaft anbelangt, so enthält sich der Gerichtshof einer Entscheidung im konkreten Fall und verweist ihn zurück an das vorlegende Gericht. Dieses habe zu prüfen, ob es sich bei der ausgeübten Tätigkeit um eine tatsächliche und echte Tätigkeit handele. Eine Tätigkeit, die nur 112

EuGH, Rs. C-456/02, Trojani, Slg. 2004, I-7573, Rdn. 68. Zum Sachverhalt E. V. 2. 114 Schlussanträge Generalanwalt Geelhoed, Rs. C-456/02, Trojani, Slg. 2004, I-7573, Rdn. 73. 113

VI. Entstehung des Aufenthaltsrechts

79

der Rehabilitation oder der Eingliederung des Betoffenen in das Arbeitsleben darstelle, könne nicht als echte wirtschaftliche Tätigkeit angesehen werden.115 Ob dies auch hier zutreffe, lasse sich nur anhand der Besonderheiten des Falles feststellen. Sodann widmet sich der EuGH der zweiten Frage, nämlich ob sich das Aufenthaltsrecht bereits aus der Unionsbürgerschaft i. V. m. Art. 18 EGV ergibt. Was das Aufenthaltsrecht aus Art. 18 EGV anbelangt, so gilt dieses Recht nach Ansicht des EuGH nicht absolut, sondern besteht nur vorbehaltlich der Beschränkungen und Bedingungen. Unter Bezugnahme auf das Baumbast-Urteil bekräftigt der Gerichtshof zwar, dass die in Art. 18 EGV enthaltenen Beschränkungen und Bedingungen im Rahmen der gemeinschaftsrechtlichen Grenzen und insbesondere unter Beachtung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes anzuwenden sind. Allerdings gelangt der EuGH zwei Randnummern weiter (Rdn. 36) zu folgendem Ergebnis: „Unter solchen Umständen erwächst einem Unionsbürger, der sich in einer Situation wie der des Klägers befindet, aus Artikel 18 kein Recht zum Aufenthalt im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats, dessen Staatsangehörigkeit er nicht besitzt, da es ihm an ausreichenden Existenzmitteln im Sinne der Richtlinie 90/364 fehlt. Anders als in dem Fall, der dem Urteil Baumbast und R (Randnr. 92) zugrunde lag, spricht nämlich nichts dafür, dass in einer Situation wie der des Ausgangsrechtsstreits eine Verneinung dieses Rechts über das hinausginge, was zur Erreichung des mit der Richtlinie 90/364 verfolgten Zieles erforderlich ist.“116

Allerdings halte sich Herr Trojani rechtmäßig in Belgien auf, da er im Besitz einer Aufenthaltserlaubnis sei. Insofern könne sich Herr Trojani auf das Prinzip der Gleichbehandlung berufen und einen Anspruch auf das Minimex geltend machen. Danach dürften die Mitgliedstaat den Aufenthalt eines nicht wirtschaftlich aktiven Bürgers zwar von dem Vorhandensein ausreichender Existenzmittel abhängig machen; allerdings ergebe sich daraus nicht, „dass einer solchen Person während ihres rechtmäßigen Aufenthalts im Aufnahmemitgliedstaat nicht das grundlegende Prinzip der Gleichbehandlung, wie es in Artikel 12 EG niedergelegt ist, zugute kommt.“117 Folglich kann sich auch ein Unionsbürger, welcher sich nicht auf das allgemeine Freizügigkeitsrecht des Art. 18 berufen kann, dennoch auf den Gleichbehandlungsgrundsatz stützen, sofern er sich aufgrund von nationalem Recht rechtmäßig im Aufnahmemitgliedstaat aufhält. Mit diesem Urteil wird die für die Anwendung des Art. 12 EGV erforderliche Voraussetzung, nämlich die Eröffnung des Anwendungsbereichs, vollends von dem Vorliegen einer gemeinschaftsrechtlich geregelten Situation lösgelöst. Wenn das Ergebnis des Urteils auch uneingeschränkt zu begrüßen ist, so ist doch die Begründung nicht überzeugend. Nach hergebrachten Grundsätzen gelangen 115 116 117

EuGH Rs. C-456/02, Trojani, Slg. 2004, I-7573, Rdn. 18. EuGH Rs. C-456/02, Trojani, Slg. 2004, I-7573, Rdn. 36. EuGH, Rs. C-456/02, Trojani, Slg. 2004, I-7573, Rdn. 40.

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E. Die Unionsbürgerfreiheit

die Vorschriften des EGV nur dann zur Anwendung, wenn ein Bezug zum Gemeinschaftsrecht gegeben ist. Ansonsten wird der Wirkungsbereich der EU-Vorschriften, insbesondere des Art. 12 EGV, vollends überdehnt. Der Argumentation des EuGH, wonach bereits ein nach nationalen Vorschriften rechtmäßiger Aufenthalt für die Anwendbarkeit des Art. 12 EGV ausreichend ist, muss daher widersprochen werden. Gleiches gilt für die Aussage des Generalanwalts, welcher ein unbefristetes Aufenthaltsrecht für ausreichend erachtet. Dabei wird natürlich nicht verkannt, dass es in der Sache legitim ist, wenn EU-Bürger, welche sich in einem anderen Mitgliedstaat aufhalten, in den Anwendungsbereich des Gleichbehandlungsgebots gelangen. Dies ist schon Ausfluss ihres grundlegenden Unionsbürgerstatus. Dieses Ergebnis aber über die Anknüpfung an den nationalstaatlichen Aufenthaltsstatus des Unionsbürgers erlangen zu wollen, ist der falsche Weg. Vor diesem Hintergrund erscheint es vielmehr angebracht, das allgemeine Unionsbürgerfreizügigkeitsrecht des Art. 18 EGV weit auszulegen, und zwar dergestalt, dass auch bedürftigen Unionsbürgern das Freizügigkeitsrecht erwächst und die in den Aufenthaltsrichtlinien niedergelegten Vorbehalte zugunsten ausreichender Existenzmittel als Schranken des Rechts aus Art. 18 EGV fungieren. Die in Randnummer 36 des Trojani-Urteils vorgenommene pauschale Ablehnung eines Aufenthaltsrechts aus Art. 18 EGV greift in den Kernbereich der Freizügigkeit ein, da sie zur Folge hat, dass dem betreffenden Unionsbürger nicht einmal wenigstens zunächst ein Aufenthaltsrecht „erwächst“, welches dann im vorliegenden Fall nachträglich vielleicht zu Recht entzogen werden könnte. Es ist ein großer Unterschied, ob das Freizügigkeitsrecht für EU-Bürger ohne ausreichende finanzielle Mittel bereits gar nicht zur Entstehung gelangt oder ob das Recht „nur“ berechtigterweise beendet werden kann. Im Falle der erstgenannten Situation sind sie aufenthaltsrechtlich völlig schutzlos, falls sie nicht noch ein anderweitiges Aufenthaltsrecht erworben haben. Diese Auslegung würde auch der ständigen Rechtsprechung zu den besonderen Personenverkehrsfreiheiten entsprechen. Danach berühren die primär- und sekundärrechtlichen Einschränkungsmöglichkeiten nicht die Entstehung des Rechts als solchem, sondern eröffnen den Aufenthaltsmitgliedstaaten vielmehr die Möglichkeit, aufenthaltsbeendende Maßnahmen zu ergreifen.118 Aufgrund des lex specialis – lex generalis – Verhältnisses zwischen Art. 39, 43 sowie 49 EGV einerseits und Art. 18 EGV andererseits wäre diese Auslegung angezeigt. Nach dieser Konzeption steht Herrn Trojani bereits ein EG-rechtliches Aufenthaltsrecht zu, welches den Anwendungsbereich des Art. 12 EGV eröffnet. Die Argumentation des Gerichtshofs, wonach einem Unionsbürger in der Situation von Herrn Trojani gar nicht erst ein Aufenthaltsrecht „erwächst“, überzeugt daher nicht. Zudem legt bereits die Urteilsbegründung selbst nahe, dass diese Auslegung nicht zwin118 Wollenschläger, Anm. zu Rs. C-456/02, Trojani, EuZW 2005, S. 309 (310); vgl. auch: Sander, DVBl. 2005, S. 1014 f.

VII. Freizügigkeitsrecht im Verfassungsentwurf

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gend sein muss. Zusammenfassend stellt der Gerichtshof in seinem 2. Leitsatz fest: „Einem Bürger der Europäischen Union, der im Aufnahmemitgliedstaat nicht kraft Artikel 39 EG, 43 EG oder 49 EG ein Aufenthaltsrecht besitzt, kann dort bereits aufgrund seiner Unionsbürgerschaft in unmittelbarer Anwendung des Art. 18 Absatz 1 EG ein Aufenthaltsrecht zustehen. Die Wahrnehmung dieses Rechts unterliegt den in dieser Bestimmung genannten Beschränkungen und Bedingungen, jedoch haben die zuständigen Behörden dafür Sorge zu tragen, dass bei der Anwendung dieser Beschränkungen und Bedingungen die allgemeinen Grundsätze des Gemeinschaftsrechts und insbesondere der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit beachtet werden.“119

Der hierbei verwendete Begriff der „Wahrnehmung“ suggeriert, dass das Aufenthaltsrecht zunächst einmal besteht und lediglich seine „Wahrnehmung“, also seine „Ausübung“ bzw. seine weitere „Aufrechterhaltung“, von den Beschränkungen und Bedingungen abhängig gemacht werden kann. Das Bestehen eines Rechtes muss doch grundsätzlich als Voraussetzung dafür betrachtet werden, dass es überhaupt wahrgenommen werden kann. Insofern ist es erstaunlich, wenn in der deutschsprachigen Übersetzung des Urteils in Rdn. 36 festgestellt wird, in der Situation des Herrn Trojani „erwachse“120 ihm gar kein europäisches Freizügigkeitsrechts. Diese Wortwahl widerspricht dem soeben dargelegten Leitsatz der Entscheidung. Auch ein Vergleich des Wortlauts anderssprachiger Fassungen des Urteils bestätigt dieses Ergebnis. So spricht die englische Fassung des Urteils von „… a citizen … does not derive from Art. 18 EG the right …“ und die französischsprachige Version von „… un citoyen … ne tire pas de l’article 18 CE le droit …“. Dies bedeutet im Ergebnis, dass ein Unionsbürger in der Situation wie Herr Trojani sich nicht erfolgsversprechend auf Art. 18 EGV berufen kann, ob das Aufenthaltsrecht aber nicht bereits „erwächst“, d. h. entsteht, ist damit nicht entschieden.

VII. Das Freizügigkeitsrecht im Verfassungsentwurf und Lissabonner Vertrag VII. Freizügigkeitsrecht im Verfassungsentwurf

Dieses hier vertretene Ergebnis wird von der Fassung des Freizügigkeitsrechts im Verfassungsentwurf bestätigt. Grundsätzlich führt der Entwurf eines Vertrags über eine Verfassung für Europa in der am 29. Oktober 2004 in Rom unterzeichneten Fassung121 zu einer Zusammenfassung und Konsolidierung der bisherigen Regeln über die Unionsbürgerschaft. Eine Fortschreibung der Unionsbürgerschaft fand nicht statt, so dass die Bewertungen diesbezüglich zurückhaltend ausfallen.122 119

EuGH, Rs. C-456/02, Trojani, Slg. 2004, I-7573, Rdn. 46 sowie Leitsatz 2. Die englischsprachige Fassung spricht von: „does not derive from“ und die französichsprachige von „ne tire pas de“. 121 ABl. vom 16. Dezember 2004 C Nr. 310. 122 Nettesheim, Integration 26 (2003), S. 428 (436). 120

E. Die Unionsbürgerfreiheit

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Dieser Sichtweise ist im Grundsatz – soweit es unmittelbar um die Vorschriften der Unionsbürgerschaft geht – zuzustimmen. Im Bereich des Freizügigkeitsrechts hingegen bringt der Verfassungsentwurf eine Klarstellung bzw., wenn man bislang Art. 18 als Grundfreiheit mit Rechtsbegründungsvorbehalt sah, eine Erweiterung des EU-Rechtsbürgerstatus mit sich. Art. I-10 Abs. II Satz 2 des Entwurfs eines Vertrags über eine Verfassung für Europa zählt als Unionsbürgerrecht an erster Stelle das Freizügigkeits- und Aufenthaltsrecht auf. Danach haben die Unionsbürgerinnen und Unionsbürger „das Recht, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten“. Angesichts dieser vorbehaltlosen Formulierung steht fest, dass Abs. II des Art. I-10 ein originäres Freizügigkeitsrecht gewährt, welches grundsätzlich allen Unionsbürgern zusteht. Lediglich in einem sich anschließenden dritten Satz findet sich der Hinweis, dass die aufgezählten Unionsbürgerrechte unter den Bedingungen und innerhalb der Grenzen, die in der Verfassung und in den Bestimmungen zu ihrer Anwendung festgelegt sind, ausgeübt werden. Dabei ist besonders das Wort „ausgeübt“ hervorzuheben. Aus diesem Zusammenspiel zwischen Artikel I-10 Abs. II Satz 2 und Satz 3 ergibt sich eindeutig, dass das Freizügigkeitsrecht ohne Vorbehalt entsteht; die in Abs. III erwähnten Bedingungen und Beschränkungen beziehen sich auf die Ausübung bzw. Beendigung des entstandenen Rechts. Nach dem Scheitern des Verfassungsvertrags findet sich dieses Zusammenspiel der Vorschriften in Art. 20 Abs. 2 Satz 2 a.) i. V. m. Satz 3 der konsolidierten Fassung des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union wieder.

VIII. Das Aufenthaltsrecht nach der Freizügigkeitsrichtlinie 2004/38/EG VIII. Das Aufenthaltsrecht nach der RL 2004/38/EG

Zum 30. April 2004 ist die Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates über das Recht der Unionsbürger und ihrer Familienangehörigen, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten, in Kraft getreten.123 Sie basiert auf den Rechtsgrundlagen der Art. 12, 18, 40, 44 und 52 EGV. Darin wird das Freizügigkeitsrecht aller EU-Bürger in einem Richtliniendokument umfassend geregelt und vereinheitlicht. Ein weiteres Anliegen war es, die Rechtsstellung der Familienangehörigen zu stärken; heiß umkämpft war dabei, unter welchen Bedingungen gleichgeschlechtliche Lebenspartner als Familienangehörige definiert werden. Darüber hinaus wurden die bislang notwendigen Aufenthaltspapiere abgeschafft. Die Mitgliedstaaten hatten zwei Jahre Zeit, die Richtlinie in nationales Recht umzusetzen. Das Aufenthaltsrecht der nichterwerbstätigen Unionsbürger wird grundlegend neu geregelt. Damit will die Richtlinie der rechtlichen und politischen Sachlage, welche mit Einführung der Unionsbürgerschaft entstanden ist, Rechnung tragen. Demnach sind drei Phasen des Aufenthalts zu unterscheiden: 123

ABl. EG 2004 L 158/77 ff.

VIII. Das Aufenthaltsrecht nach der RL 2004/38/EG

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(1) Recht auf Aufenthalt bis zu drei Monaten (Art. 6) Voraussetzung dafür ist lediglich der Besitz eines gültigen Personalausweises oder Reisepasses. Im ursprünglichen Entwurf der Richtlinie war für die erste Phase des Aufenthaltsrechts noch ein Zeitraum von bis zu 6 Monaten vorgesehen. (2) Recht auf Aufenthalt für mehr als drei Monate (Art. 7) Hierbei ist erforderlich, dass Nichterwerbstätige unter anderem ausreichende Existenzmittel sowie einen Krankenversicherungsschutz nachweisen. (3) Daueraufenthaltsrecht (Art. 16) In Kapitel IV wird das Recht auf Daueraufenthalt eingeführt. Gemäß Art. 16 hat jeder Unionsbürger, der sich rechtmäßig fünf Jahre lang ununterbrochen im Aufnahmemitgliedstaat aufgehalten hat, das Recht, sich dort auf Dauer aufzuhalten. Dieses Recht ist keinen Bedingungen unterworfen. Hier wird erstmals eine Ausnahme von dem bislang bestehenden „Aufenthaltsrecht auf Widerruf“ gemacht. Die Einführung dieses Rechts ist zu begrüßen; sie entspricht dem Unionsbürgerkonzept, wonach es ab einer gewissen Dauer des Aufenthalts erforderlich ist, die aufenthaltsrechtliche Rechtsposition zu stärken. Dieses Ergebnis wird getragen von der Begründungserwägung (17) in der Einleitung der Richtlinie. Danach heißt es: „Wenn Unionsbürger, die beschlossen haben, sich dauerhaft in dem Aufnahmemitgliedstaat niederzulassen, das Recht auf Daueraufenthalt erhielten, würde dies ihr Gefühl der Unionsbürgerschaft verstärken und entscheidend zum sozialen Zusammenhalt – einem grundlegenden Ziel der Union – beitragen.“

Ab welchem Zeitpunkt das Aufenthaltsrecht als derart verfestigt und damit für besonders schützenswert zu erklären ist, war eine politische Entscheidung. Noch im Entwurf der Richtlinie durch die Kommission war der Erwerb des Daueraufenthaltsrechts nach einem vier Jahre dauernden Aufenthalt vorgesehen. Ein absoluter Ausweisungsschutz konnte sich aber nicht durchsetzen; insbesondere bei schweren Straftaten ist eine Ausweisung weiterhin möglich (vgl. Art. 28 Abs. 2). Wie sich aus Art. 6 der Richtlinie ergibt, hat ein Unionsbürger im Besitz eines gültigen Personalausweises oder eines Reisepasses ein Aufenthaltsrecht bis zu drei Monaten zu sein. Artikel 6 Abs. 1 weist daneben ausdrücklich darauf hin, dass ansonsten keine weiteren Bedingungen zu erfüllen sind. Konkret bedeutet das, dass das Vorliegen von ausreichenden Existenzmitteln keine Voraussetzung für die Entstehung des Aufenthaltsrechts ist. Dieses Ergebnis bestätigt sich auch im Zusammenhang mit Art.14 Abs. 1 der Richtlinie. Danach steht Unionsbürgern und ihren Familienangehörigen das Aufenthaltsrecht nach Art. 6 zu, solange sie keine übermäßigen Sozialhilfeleistungen des Aufnahmemitgliedstaates in Anspruch nehmen müssen. Der Bezug übermäßiger Sozialleistungen kann daher zur Beendigung des Aufenthaltsrechts führen. Dies setzt ein aktives Tätigwerden der mitgliedstaat-

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E. Die Unionsbürgerfreiheit

lichen Behörden voraus. Die für länger dauernde Aufenthalte erhobenen Forderungen nach Art. 7 (u. a. ausreichende Existenzmittel) sind Ausübungsregelungen und können das bereits vorhandene Recht einschränken bzw. beenden. Die neue Freizügigkeitsrichtlinie ist in dieser Hinsicht mit den primärrechtlichen Vorgaben des Art. 18 EGV zu vereinbaren.

IX. Drittwirkung des allgemeinen Freizügigkeitsrechts IX. Drittwirkung

1. Anlehnung an die Rechtsprechung zu den besonderen Grundfreiheiten Für die Arbeitnehmerfreizügigkeit hat der EuGH bereits im Jahre 1974 darauf hingewiesen, dass das Diskriminierungsverbot des Art. 39 EGV Privatwirkung entfaltet: „Die Beseitigung der Hindernisse für den freien Personen- und Dienstleistungsverkehr – einem der in Art. 3 c des Vertrags aufgeführten wesentlichen Ziele der Gemeinschaft – wäre gefährdet, wenn die Beseitigung der staatlichen Schranken dadurch in ihren Wirkungen wieder aufgehoben würde, dass privatrechtliche Vereinigungen oder Einrichtungen kraft ihrer rechtlichen Autonomie derartige Hindernisse aufrichteten.“124

In Anlehnung an die Rechtsprechung zu den Grundfreiheiten ist eine unmittelbare Drittwirkung auch im Rahmen des Art. 18 EGV zu bejahen, wenn zwischen dem einzelnen Unionsbürger und dem privaten Dritten ein solches Machtgefälle besteht, dass es geeignet erscheint, die Wahrnehmung und Ausübung des unionalen Freizügigkeitsrechts zu gefährden. Dies ist vor allem bei der Ausübung kollektiver Macht, wie sie durch Verbände gegeben ist, zu befürchten.125 Den hierbei beteiligten Privaten kommt regelmäßig eine Rechtsetzungsbefugnis zu, welche funktionell mit der staatlichen Rechtsetzungsmacht vergleichbar ist.126 In dem Urteil Wouters hat der EuGH die kollektive Regelung eines Verbandes an der Dienstleistungs- und Niederlassungsfreiheit gemessen.127 Hauptanwendungsfälle sind Kollektivvereinbarungen im Arbeits- und Dienstleistungsbereich. Eine darüber hinausgehende allgemeine Erstreckung auf Privatpersonen ist sehr fragwürdig, insbesondere muss darauf geachtet werden, dass das Diskriminierungsverbot

124 EuGH, Rs. 36/74, Walrave und Koch, Slg. 1974, 1405, Rdn. 16/19 f.; Rs. 13/76, Donà, Slg. 1976, 1333, Rdn. 17; vgl. auch EuGH, Rs. C-415/93, Bosman, Slg. 1995, 4921, Rdn. 82. 125 Zu Art. 39 EGV: EuGH, Rs. 36/74, Walrave und Koch, Slg. 1974, 1405, Rdn. 25; EuGH, Rs. C-415/93, Bosman, Slg. 1995, I-4921, Rdn. 69 ff.; EuGH,verb. Rs. C-51/96 und Rs. 191/97, Deliège, Slg. 2000, 2549, Rdn. 47; Rs. C-350/96, Clean Car Autoservice, Slg. 1998, 2531, Rdn. 24. 126 Streinz, in: Streinz, Art. 12 Rdn. 39; Holoubek, in: Schwarze, Art. 12 Rdn. 26; Epiney, in: Calliess/Ruffert, Art. 12 Rdn. 23; Lenz, in: Lenz, Art. 12 Rdn. 11; Zuleeg, in: von der Groeben/ Thiesing/Ehlermann, Art. 6 Rdn. 18. 127 EuGH, Rs. C-309/99, Wouters, Slg. 2002, 1577, Rdn. 120.

IX. Drittwirkung

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nicht in sein Gegenteil verkehrt wird.128 Allerdings hat der EuGH das Diskriminierungsverbot aus Art. 39 EGV unlängst auch auf einen Individualarbeitsvertrag angewandt.129 In dem zugrundeliegenden Fall Angonese ging es um einen italienischen Staatsangehörigen mit deutscher Muttersprache, welcher sich nach Abschluss seines Studiums in Österreich bei einer italienischen Bank beworben hatte. Die Privatbank verlangte für den Nachweis der Zweisprachigkeit der Bewerber ausschließlich die Vorlage einer Bescheinigung der öffentlichen Verwaltung in Bozen. Die Bewerbung des Klägers wurde abgewiesen, da er diese Bescheinigung nicht rechtzeitig vorlegen konnte. Der Gerichtshof stellte in diesem Kontext zunächst klar, dass das Diskriminierungsverbot des Art. 39 EGV seinem Wortlaut nach nicht ausschließlich an die Mitgliedstaaten gerichtet, sondern allgemein formuliert ist. So erfordere insbesondere der Gedanke des effet utile die einheitliche Anwendung des Gemeinschaftsrechts und die Kongruenz zwischen Art. 12 EGV, Art. 141 EGV130 sowie Art. 39 EGV die Erstreckung des Diskriminierungsverbots auf Privatpersonen.131 Da die Arbeitnehmerfreizügigkeit vor allem in privatrechtlichen Verhältnissen verwirklicht wird, könnte ein Ausschluss der Drittwirkung dieser Grundfreiheit dazu führen, dass sie faktisch ihrer Wirksamkeit beraubt wird. Dieser Rechtsgedanke könnte grundsätzlich auch auf Art. 12 EGV i. V. m. Art. 18 EGV übertragen werden; es sind in ihrem Anwendungsbereich auch Fälle vorstellbar, in denen Private „gegenüber Einzelpersonen bestimmte Befugnisse ausüben und sie Bedingungen unterwerfen können, die die Wahrnehmung der durch den Vertrag gewährleisteten Grundfreiheiten beeinträchtigen“.132 Auf der anderen Seite steht allerdings der Gedanke der Wahrung der Privatautonomie; dieser setzt einer Drittwirkung Grenzen. Abzulehnen ist ihre Verallgemeinerung und Übertragung auf das allgemeine Freizügigkeitsrecht in der Form, dass jeder einzelne Unionsbürger unmittelbar an die Grundfreiheiten gebunden ist.133 Es kommt entscheidend darauf an, ob die jeweilige Handlung mit einer staatlichen Maßnahme vergleichbar ist. Dies ist z. B. klassischerweise bei der Regelung durch private Verbände der Fall; es liegt eine dem Verhältnis Staat-Bürger vergleichbare Konstellation der Subordination vor. Die so vorgegebenen Regelungen wirken wie hoheitliche Vor128 Zuleeg, in: von der Groeben/Schwarze(Hrsg.), Art. 12 Rdn. 17. Allgemein: Schweitzer, Angonese und die Privatautonomie, S. 523; Preedy, Die Bindung Privater an die europäischen Grundfreiheiten; Parpart, Die unmittelbare Bindung Privater. 129 EuGH, Rs. C-281/98, Angonese, Slg. 2000, I-4139, Rdn. 30 ff. 130 Dazu: EuGH, Rs. 43/75, Defrenne II, Slg. 1976, 475, Rdn. 30, 34. 131 EuGH, Rs. C-281/98, Angonese, Slg. 2000, I-4139, Rdn. 32, mit Verweis auf EuGH, Rs. 36/74, Walrave, Slg. 1974, 1405 ff. und Rs. C-415/93, Bosman, Slg. 1995, I-4921. 132 EuGH, Rs. C-411/98, Ferlini, Slg. 2000, 8081, Rdn. 50. 133 Für eine Zurückhaltung auch: Streinz, in: Streinz, Art. 12 Rdn. 39; Epiney, in: Calliess/ Ruffert, Art. 12 Rdn. 23; Holoubek, in: Schwarze, Art. 12 Rdn. 27; Zuleeg, in: von der Groeben/Thiesing/Ehlermann, Art.6 Rdn. 18; Ehlers, in: Ehlers (Hrsg.), Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, S. 165. Für eine mittelbare Wirkung der Grundfreiheiten in Gestalt einer staatlichen Schutzpflicht: Kingreen, Grundfreiheiten, S. 678 f.; Franzen, in: Streinz, Art. 39, Rdn. 98. Diese Schutzpflichttheorie plädiert, anstelle des Vorgehens unmittelbar gegen den Störer, für eine staatliche Pflicht zum Schutz der Grundfreiheiten vor privaten Behinderungen.

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E. Die Unionsbürgerfreiheit

gaben und bestimmen faktisch die Rechtslage. Die privatautonome Gestaltungsmöglichkeit tritt dabei weitestgehend in den Hintergrund. Lediglich insofern ist eine unmittelbare Drittwirkung der Grundfreiheiten zu begrüßen und im Zuge ihrer Kohärenz auch auf das allgemeine Freizügigkeitsrecht des Art. 18 EGV zu übertragen.134 Eine allgemeine Anwendbarkeit des Art. 18 EGV gegenüber allen Unionsbürgern und juristischen Personen des Privatrechts ist abzulehnen.

2. Anwendungsfall „Stipendienvergabe durch private Organisationen“ Fragestellungen dieser Art sind von Interesse für die Vergabe von Stipendien durch private Stipendiengeber. So gewähren manche Organisationen ihre Stipendien nur an Deutsche bzw. stellen unterschiedliche Voraussetzungen für Deutsche und Ausländer auf. Für die Einordnung der Organisation als privatrechtlich ist ein funktionaler Ansatz zu wählen. Wenn der Staat zwar durch eine privatrechtlich organisierte Institution handelt, in der Sache aber selbst dahinter steht und die Mittel aus dem öffentlichen Haushalt finanziert werden, so ist die Stipendienvergabe als staatliche Tätigkeit einzuordnen und das gemeinschaftsrechtliche Diskriminierungsverbot ist zu beachten. Davon zu unterscheiden sind die tatsächlich privaten Stipendiengeber wie z. B. Wirtschaftsverbände und Unternehmen; nach der hier vertretenen ablehnenden Haltung gegenüber einer unbeschränkten Drittwirkung der Grundfreiheiten sind sie nicht an die Vorgaben des Diskriminierungsverbots gebunden. In konsequenter Fortführung der EuGH-Rechtsprechung135 wird auch auf diesem Sektor eine Gleichbehandlung mit den deutschen Staatsangehörigen zu erfolgen haben. Davon betroffen sind auch die zur Finanzierung des Studiums und insbesondere der Studiengebühren in Deutschland angebotenen Studiendarlehen durch private Banken.

134 135

Vgl. in diese Richtung: Brigola, Das System der EG-Grundfreiheiten, S. 91. Vgl. EuGH, Rs. C-281/98, Angonese, Slg. 2000, I-4139, Rdn. 36.

F. Grenzen des Aufenthaltsrechts F. Grenzen des Aufenthaltsrechts Im Folgenden ist der Frage nachzugehen, ob und ggf. unter welchen Voraussetzungen der Bezug von Sozialleistungen zur Beendigung des Aufenthalts berechtigt. Nach dem Wortlaut der Art. 1 Abs. 1, Art. 3 der RL90/364/EWG, Art. 1 und 4 der RL 93/96/EWG sowie Art. 1 Abs. 1, Art. 3 der RL 90/365/EWG kann das Aufenthaltsrecht wegen fehlender sozialer Absicherung entfallen. Diese Möglichkeit sieht prinzipiell auch die neue Freizügigkeitsrichtlinie (RL 2004/38/EG) vor. Dabei erfolgt die nähere Ausdifferenzierung im Rahmen spezieller Regelungen für die einzelnen Fallkonstellationen.1

I. Völlige Aufgabe des Sozialvorbehalts? I. Völlige Aufgabe des Sozialvorbehalts

Vereinzelt wird die Frage aufgeworfen, ob diese finanziellen Gesichtspunkte im Zusammenhang mit dem aus der Unionsbürgerschaft abgeleiteten Aufenthaltsrecht überhaupt noch legitim sind. Am weitreichendsten ist die Ansicht, dass das Nichtvorhandensein ausreichender Existenzmittel bzw. eines ausreichenden Krankenversicherungsschutzes prinzipiell nicht zur Beendigung des Aufenthaltsrechts berechtigt. Die Beendigung des Aufenthaltsrechts könne nicht mehr aufgrund fehlender Existenzmittel und eines ungenügenden Krankenschutzes gerechtfertigt werden. Im Vorabentscheidungsverfahren in der Rs. Rudy Grzelczyk tat sich diesbezüglich maßgeblich die portugiesische Regierung hervor: Das im Rahmen des Maastrichter Vertrags zusammen mit der Unionsbürgerschaft eingeführte Aufenthaltsrecht bringe „eine qualitative Änderung des gemeinschaftsrechtlichen Status der Gemeinschaftsbürger mit sich … Die Unionsbürgerschaft gewinne an Bedeutung gegenüber der rein wirtschaftlichen Betrachtungsweise der Person als Wirtschaftsfaktor, wie sie im EG-Vertrag zugrunde liege. Die Bedingungen, an die die Freizügigkeit geknüpft werden könne, seien nunmehr nicht mehr länger wirtschaftlicher Natur, wie sie noch Gegenstand der Richtlinien von 1990 waren. Der Hinweis auf Beschränkungen und Bedingungen der Freizügigkeit beziehe sich nur noch auf Gründe der öffentlichen Ordnung, Sicherheit und Gesundheit.“2 Die Vorbehalte des Art. 2 Abs. 1 der Aufenthaltsrichtlinien wären demnach wegen Verstoßes gegen höherrangiges Recht gemeinschaftsrechtswidrig und damit außer Acht zu lassen. 1

Näheres dazu F. V. Vgl. Schlussanträge des Generalanwalts Siegbert Alber, Rs. C-184/99, Rudy Grzelczyk, Slg. 2001, I-6193, Rdn. 52. So wohl auch: Constantinesco, La citoyenneté de l’Union, in: Schwarze (Hrsg.), Vom Binnenmarkt zur Europäischen Union, S. 25 (30). 2

F. Grenzen des Aufenthaltsrechts

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II. Regelungen der Aufenthaltsrichtlinien wurden in Art. 18 EGV inkorporiert Die obige Interpretation sprengt den Wortlaut des Art. 18 EGV. Mit Erlass dieser Vorschrift bezogen sich die Vertragsgeber ausdrücklich auf primär- und sekundärrechtliche Beschränkungen und Bedingungen, und damit nicht zuletzt auch auf die Sozialvorbehalte der Aufenthaltsrichtlinien. Die portugiesische Regierung bringt mit ihrer Argumentation aber sehr deutlich zum Ausdruck, was sie mit der Unionsbürgerschaft verbindet.3 Ihr liegt die Vision eines Europas der Bürger zugrunde, in dem die Gleichbehandlung weitestgehend verwirklicht wurde. Diese Extremposition geht aber letztlich zu weit, sie lässt sich nicht mehr unter Art. 18 subsumieren. Zudem würde sie faktisch die Zuständigkeitsbereiche der Mitgliedstaaten hochgradig untergraben. Die Mitgliedstaaten sind neben der Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung auch für die sozialpolitischen Grundentscheidungen zuständig. Zudem gibt es in der Europäischen Union noch keine weitreichenden Ansätze, die divergierenden nationalen Systeme der sozialen Sicherheit zu vereinheitlichen. Im Übrigen ist noch zu bemerken, dass auch bereits nach dem Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland die Ausübung der uneingeschränkten Freizügigkeit von dem Vorhandensein einer ausreichenden Lebensgrundlage abhängig gemacht werden kann (vgl. Art. 11 Abs. 2 GG). Nach Ansicht des Generalanwalts L. A. Geelhoed geht die Begründung des Urteils Rudy Grzelczyk nicht dahin, „die Grundvoraussetzungen der drei Aufenthaltsrichtlinien beiseite zu schieben, dass nämlich Staatsangehörige der Europäischen Union, die sich in einen anderen Mitgliedstaat begeben, um sich dort niederzulassen, nachweisbar über die erforderlichen Existenzmittel verfügen müssen, damit sie nicht auf die Sozialleistungen im Aufnahmemitgliedstaat angewiesen sind.“4 Die Artikel 2 Abs. 1 der drei Aufenthaltsrichtlinien wurden deshalb nicht völlig obsolet – vielmehr verhelfen sie anerkannten mitgliedstaatlichen Interessen zur Geltung. Für diese Belange bringt grundsätzlich auch der EuGH eine gewisse Sensibilität auf. In ständiger Rechtsprechung betont er, dass die Mitgliedstaaten für die Ausgestaltung der Sozialpolitik weitestgehend zuständig sind.5 Auch bei Einführung der Unionsbürgerschaft führte unter anderem die Sorge um die Inanspruchnahme ihrer sozialen Leistungsnetze dazu, dass sie das Freizügigkeitsrecht des Art. 18 EGV in dieser verklausulierten Form abfassten. Nicht marktwirtschaftlich aktive Bürger sollten wie bisher für ihre sozialen Grundbedürfnisse selbst verantwortlich bleiben.6 Zur Klarstellung dient seit dem Vertrag von Nizza in Art. 18 3

Niamh Nic Shuibhne, C. M. L.Rev. 39 (2002), S. 731 (754). Schlussanträge des Generalanwalts L. A. Geelhoed, Rs. C-413/01, Franca Ninni-Orasche, Slg. 2003, I-13187, Rdn. 88. 5 EuGH, Rs. C-70/95, Sodemare, Slg. 1997, I-3422; Rs. C-120/95, Decker, Slg. 1998, I-1831, Rdn. 21–23; Rs. C-158/96, Kohll, Slg. 1998, I-1931, Rdn. 19. 6 Soria, JZ 2002, S. 643; Closa, C. M. L.Rev. 1992, S. 1137 (1162). 4

III. Europäisches Fürsorgeabkommen und Sozialcharta

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Abs. 3 EGV die Regelung, wonach Vorschriften, welche die Ausübung der Freizügigkeitsrechte erleichtern sollen, sich nicht auf solche der sozialen Sicherheit oder des sozialen Schutzes beziehen dürfen. Die zum Zeitpunkt der Schaffung des Art. 18 EGV geltenden Aufenthaltsrichtlinien waren so gestaltet, dass der Nachweis ausreichender finanzieller Mittel und eines ausreichenden Krankenversicherungsschutzes Voraussetzung für die Gewährung des Aufenthaltsrechts ist. Allerdings waren die Vorschriften primärrechtskonform so zu verstehen, dass das Aufenthaltsrecht sich unmittelbar und ohne weitere Voraussetzungen aus dem Primärrecht (Art. 18 EGV) ergibt. Das Freizügigkeitsrecht des Art. 18 EGV steht unter dem Schrankenvorbehalt der sozialen Absicherung, welcher durch den Nachweis bzw. die Glaubhaftmachung ausreichender Existenzmittel und einer Krankenversicherung zu erbringen ist.7

III. Verstoß gegen das Europäische Fürsorgeabkommen und die Europäische Sozialcharta? III. Europäisches Fürsorgeabkommen und Sozialcharta

1. Europäisches Fürsorgeabkommen Es ist zu prüfen, ob einer Aufenthaltsbeendigung und ggf. Ausweisung wegen Hilfsbedürftigkeit das Europäische Fürsorgeabkommen entgegen steht. Das vor Gründung der EWG im Rahmen des Europarats zustande gekommene Europäische Fürsorgeabkommen8 enthält Vorschriften zum Schutz sozial bedürftiger Bürger. Nach der maßgeblichen Bestimmung des Art. 1 des Europäischen Fürsorgeabkommens verpflichten sich die Vertragsschließenden, den Staatsangehörigen der anderen Vertragsschließenden in gleicher Weise wie ihren eigenen Staatsangehörigen und unter den gleichen Bedingungen die Leistungen der sozialen und Gesundheitsfürsorge zu gewähren.9 Allerdings haben einige der Vertragsstaaten 7 Hilf, in: Grabitz/Hilf, Art. 18 Rdn. 10; Schweitzer/Hummer, Europarecht, Rdn. 820; Rothfuchs, Die traditionellen Personenverkehrsfreiheiten des EG-Vertrags und das Aufenthaltsrecht der Unionsbürger, S. 201 ff.; Kotalakidis, Von der nationalen Staatsangehörigkeit zur Unionsbürgerschaft, S. 171 ff.; Klein/Haratsch, JuS 1995, S. 7 (12); Fischer, EuZW 1992, S. 566 (568); Closa, C. M. L.Rev. 32 (1995), S. 496; Scheuing, Die Freizügigkeit der Unionsbürger in der Europäischen Union, in: Dreier (Hrsg.), Raum und Recht, Festschrift 600 Jahre Würzburger Juristenfakultät, S. 103 (128). 8 Europäisches Fürsorgeabkommen vom 11.12.1953 (BGBl. 1956 II, S. 564, Anh. I, II, III neu gefasst gemäß Bekanntmachung vom 8.5.1991, BGBl. II S. 686). Vgl. dazu: Renner, Ausländerrecht in Deutschland, S. 580. 9 Vgl. den Wortlaut des Art. 1: „Jeder der Vertragsschließenden verpflichtet sich, den Staatsangehörigen der anderen Vertragsschließenden, die sich in irgendeinem Teil seines Gebietes, auf das dieses Abkommen Anwendung findet, erlaubt aufhalten und nicht über ausreichende Mittel verfügen, in gleicher Weise wie seinen eigenen Staatsangehörigen und unter den gleichen Bedingungen die Leistungen der sozialen und Gesundheitsfürsorge (im folgenden als „Fürsorge“ bezeichnet) zu gewähren, die in der in diesem Teil seines Gebietes geltenden Gesetzgebung vorgesehen sind.“

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F. Grenzen des Aufenthaltsrechts

(Belgien, Bundesrepublik Deutschland, Luxemburg, Niederlande, Norwegen und Vereinigtes Königreich) in einem Anhang II zu dem Abkommen Vorbehalte niedergelegt.10 Bedeutsam ist auch Art. 6 (a) des Abkommens, wonach ein Staatsangehöriger eines anderen Vertragschließenden nicht allein aufgrund von dessen Hilfebedürftigkeit zurückgeschickt werden kann.11 Maßgeblicher Hintergrund war die in der Präambel festgehaltene Erwägung, wonach „der Europarat die Herstellung einer engeren Verbindung zwischen seinen Mitgliedern zur Aufgabe hat, insbesondere um ihren sozialen Fortschritt zu fördern“; bezweckt war weiter „zur Erreichung dieses Zieles ihre Zusammenarbeit auf das soziale Gebiet auszudehnen, unter Festlegung des Grundsatzes der Gleichbehandlung der Staatsangehörigen ihrer Länder auf dem Gebiet der Fürsorgegesetzgebung“. Verschiedene Ansätze im Schrifttum greifen darum auf Art. 6 Abs. a des Europäischen Fürsorgeabkommens zurück.12 Dabei übersah man bislang die Vorschrift des Art. 7 Abs. a. Danach ist eine Rückführung wegen Bedürftigkeit zum Beispiel nur dann ausgeschlossen, falls der Ausländer vor Vollendung seines 55. Lebensjahres nach Deutschland kam und ununterbrochen länger als 5 Jahre bzw. – im Falle seiner Einreise nach diesem Lebensalter – ununterbrochen seit mehr als zehn Jahren in Deutschland lebt (Art. 7 (a) (i) EFA). Darüber hinaus ist eine Rückführung möglich, wenn der Ausländer „keine engen Bindungen in dem Land seines gewöhnlichen Aufenthalts“ nachweisen kann (Art. 7 (a) (iii) EFA). Das Abkommen entfaltet für Mitgliedsländer, welche ihm beigetreten sind, eine bindende Wirkung. Für die Europäische Union als solche ist das Fürsorgeabkommen nicht verbindlich. Allerdings ist es vorstellbar, das Abkommen im Rahmen der Auslegung des Gemeinschaftsrechts als „Ausdruck gemeinsamer Grundwertungen“13 heranzuziehen. Voraussetzung dafür wäre aber, dass alle EU-Mitgliedstaaten dem Abkommen beigetreten sind. Das ist nicht der Fall; von den „alten“ EUMitgliedstaaten haben Österreich sowie Finnland den Vertrag nicht ratifiziert.14 10 „Choose and pick“ – Verfahren, vgl. Anhang II vom 8.5.1991 (BGBl. II S. 686). So übernimmt die Bundesrepublik „keine Verpflichtung, die in dem Bundessozialhilfegesetz in der jeweils geltenden Fassung vorgesehene Hilfe zum Aufbau oder zur Sicherung der Lebensgrundlage oder Hilfe zur Überwindung besonderer Schwierigkeiten an Staatsangehörige der übrigen Vertragsstaaten in gleicher Weise und unter gleichen Bedingungen wie den eigenen Staatsangehörigen zuzuwenden“. Anmerkung: Das Bundessozialhilfegesetz ist zweigeteilt: in Hilfe zum Lebensunterhalt und Hilfe in besonderen Lebenslagen. Lediglich letzteres wird mit dem Vorbehalt ausgeschlossen. 11 Vgl. Art. 6 (a): „Ein Vertragschließender darf einen Staatsangehörigen eines anderen Vertragschließenden, der in seinem Gebiet erlaubt seinen gewöhnlichen Aufenthalt hat, nicht allein aus dem Grunde der Hilfsbedürftigkeit rückschaffen.“ 12 Scheuing, EuR 2003, S. 744 ff. 13 Scheuing, EuR 2003, S. 744 (770). 14 http://conventions.coe.int/Treaty/Commun/ChercheSig.asp?NT=014&CM=8&DF=14/04 /04&CL=GER. Dem Abkommen beigetreten sind: Belgien, Dänemark, Deutschland, Frankreich, Griechenland, Irland, Island, Italien, Luxemburg, Malta, Niederlande, Norwegen, Portugal, Schweden, Spanien, Türkei, Vereinigtes Königreich.

III. Europäisches Fürsorgeabkommen und Sozialcharta

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Von den im Zuge der Osterweiterung hinzu gekommenen neuen Mitgliedsländern ist der Großteil dem Abkommen nicht beigetreten.15 Aufgrund des geringen Ratifikationsstands ist die Bedeutung des Abkommens als gering einzustufen. 2. Europäische Sozialcharta In die gleiche Richtung zielt die Europäische Sozialcharta.16 Gemäß Art. 13 Nr. 4 der Sozialcharta verpflichten sich die Vertragsparteien, die entsprechenden „Bestimmungen auf die rechtmäßig in ihrem Hoheitsgebiet befindlichen Staatsangehörigen der anderen Vertragsparteien anzuwenden, und zwar auf der Grundlage der Gleichbehandlung und in Übereinstimmung mit den Verpflichtungen, die sie in dem am 11. Dezember 1953 in Paris unterzeichneten Europäischen Fürsorgeabkommen übernommen haben“.17 Unmittelbare Rechtswirkungen für den Einzelnen vermag diese Charta ebenfalls nicht zu begründen; entsprechend des Anhangs zu Teil III der Europäischen Sozialcharta sind die Mitgliedstaaten nur auf internationaler Ebene gebunden. Dennoch brachten die Vertragsparteien durch die Unterzeichnung und Ratifizierung der Europäischen Sozialcharta einen übereinstimmenden Willen zum Ausdruck. Dieser bereits im Rahmen des Europarates festgelegte Mindeststandard an sozialer Fürsorge könnte erst recht in einer fortentwickelten und um das Institut der Unionsbürgerschaft angereicherten Europäischen Gemeinschaft im 21. Jahrhundert gelten. Es würde sich anbieten, die Charta als Auslegungshilfe heranzuziehen.18 Allerdings kommt der Europäischen Sozialcharta in der Rechtsprechung des EuGH bislang keine große Bedeutung zu. Vereinzelt wird sie als Wertemaßstab für die Konkretisierung gemeinschaftsrechtlicher Begriffe und die Fortbildung des EG-Rechts herangezogen.19 Dabei findet die Europäische Sozialcharta 15 http://conventions.coe.int/Treaty/Commun/ChercheSig.asp?NT=014&CM=8&DF=14/04/ 04&CL=GER. 16 Europäische Sozialcharta vom 18. Oktober 1961 (BGBl. 1964 II S. 1262). Die Sozialcharta gilt (zum Teil mit Ausnahmen) für Belgien, Bundesrepublik Deutschland, Dänemark, Finnland, Frankreich, Griechenland, Irland, Island, Italien, Luxemburg, Malta, Niederlande, Norwegen, Österreich, Polen, Portugal, Schweden, Slowakei, Spanien, Tschechische Republik, Türkei, Ungarn, Vereinigtes Königreich und Zypern. Vgl. Sartorius II Internationale Verträge, Europarecht, Textsammlung, Nr. 115. 17 Weitergehende Rechte können aus dieser Vorschrift aber nur sog. „long time“ Ausländer geltend machen (vgl. Ziffer 1 des Anhangs der Europäischen Sozialcharta). Näheres dazu: Neubeck, Die Europäische Sozialcharta und deren Protokolle, S. 248 ff. 18 So: Scheuing, EuR 2003, S. 744 (771); ders., Die Freizügigkeit der Unionsbürger in der Europäischen Union, in: Dreier (Hrsg.), Raum und Recht, Festschrift 600 Jahre Würzburger Juristenfakultät, S. 103 (129). 19 Vgl. EuGH, Rs. 24/86, Blaizot, Slg. 1988, 379 ff.: Hochschulausbildung als Berufsausbildung; EuGH, Rs. 149/77, Defrenne III, Slg. 1978, 1365 ff.: Gleichbehandlungsgebot im Hinblick auf Arbeits- und Beschäftigungsbedingungen für weibliche und männliche Arbeitnehmer; Schlussanträge des Generalanwalts Lenz, Rs. 236/87, Anna Bergmann, Slg. 1988, 5125: Schutz der Familie; vgl. dazu auch: Zuleeg, EuGRZ 1992, S. 329.

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regelmäßig nicht als tragender Entscheidungsgrund Eingang in die Rechtsprechung, vielmehr zieht der Gerichtshof sie normalerweise nur ergänzend zur weiteren Bestätigung eines sich bereits zuvor aus anderen Erwägungen heraus tragenden Ergebnisses heran.20 Der Amsterdamer Vertrag stellte zwischen der Europäischen Sozialcharta und dem EGV mittels Artikel 136 EGV eine Verknüpfung her. Danach verfolgen die Gemeinschaft und die Mitgliedstaaten die näheren Ziele ihrer Sozialpolitik „eingedenk der sozialen Grundrechte, wie sie in der am 18. Oktober 1961 in Turin unterzeichneten Europäischen Sozialcharta … festgelegt sind“.21 Auch in der Präambel des EUV wird auf die Europäische Sozialcharta verwiesen. Über diesen Zusammenhang sind die in der Europäischen Sozialcharta niedergelegten sozialen Grundrechte auch bei der Auslegung des Gemeinschaftsrechts heranzuziehen. Allerdings werden den Unionsbürgern dadurch keine Rechte zugestanden; aus dem EUV können sie keine unmittelbaren Rechtspositionen ableiten, die Bekenntnisse der Präambel des EUV sind zu allgemein und unverbindlich gehalten.22 Die Justiziabilität des Art. 136 ist angesichts der vagen Formulierung ebenfalls zu verneinen.23 Mit der Schaffung der obigen Vorschriften ist die stärkere Berücksichtigung sozialrechtlicher Schutzaspekte bei allgemeinen politischen Entscheidungen intendiert. Zudem ist zu bedenken, dass das Europäische Fürsorgeabkommen und die Europäische Sozialcharta vor einem gänzlich anders gelagerten Hintergrund entstanden sind: So soll die im Rahmen der europäischen Sozialpolitik in Art. 136 EGV erwähnte Europäische Sozialcharta vor allem dazu dienen, die Lebens- und Arbeitsbedingungen der Wanderarbeitnehmer zu verbessern. Art. 136 EGV ist dabei vom Verständnis der sozialen Sicherheit in Art. 42 EGV her bestimmt und deshalb maßgeblich auf die Arbeitnehmerrechte zugeschnitten.24 Das Europäische Fürsorgeabkommen sowie die Europäische Sozialcharta stehen nicht dem Sozialvorbehalt entgegen.

IV. Auslegung im Sinne der Unionsbürgerschaft – Reichweite des Sozialvorbehalts IV. Reichweite des Sozialvorbehalts

Damit steht zunächst einmal fest, dass der Bezug von sozialen Grundleistungen zum Erlass aufenthaltsbeendender Maßnahmen führen kann. Noch weitgehend ungeklärt ist indes die Frage, wie weit dieser Sozialvorbehalt reicht. Kann den mitgliedstaatlichen Interessen bereits dadurch Genüge getan werden, dass die soziale Prüfung auf den Zuzug beschränkt wird, bzw. gebietet es nicht sogar die 20

Neubeck, Die Europäische Sozialcharta und deren Protokolle, S. 318. Vgl. Wortlaut des Art. 136 EGV. 22 Neubeck, Die Europäische Sozialcharta und deren Protokolle, S. 296. 23 Vgl. näher dazu: Krebber, in: Calliess/Ruffert, Art. 136 Rdn. 34 ff. 24 Riedel, in: Meyer (Hrsg.), Kommentar zur Charta der Grundrechte der Europäischen Union, Art. 34 Rdn. 1. 21

IV. Reichweite des Sozialvorbehalts

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Unionsbürgerschaft? Oder durchzieht der Sozialvorbehalt das gesamte Aufenthaltsrecht der Unionsbürger? Und wenn dem so wäre, wann wird die Entscheidung über die Beendigung des Aufenthaltsrechts wegen sozialer Bedürftigkeit unbillig? Es ist an dieser Stelle nochmals darauf hin zu weisen, dass allein die Bedürftigkeit an sich nicht den Entzug des Aufenthaltsrechts rechtfertigt, sofern der Unionsbürger soziale Leistungen nicht beantragt. Eine weitere Sondergruppe stellen sonstige Sozialleistungen dar, welche nicht auf die Sicherung des Lebensunterhalts als solchen abzielen (soziale Grundsicherung), sondern eine spezifische Leistung enthalten (z. B. Kindergeld, Erziehungsgeld, Opferentschädigung oder Prozesskostenhilfe). Diese zuletzt genannten spezifischen Leistungen spielen für die Frage der Beendigung des Aufenthaltsrechts keine Rolle.

1. Die Rechtsprechung a) Die Rechtssache Grzelczyk Fragestellungen diesbezüglicher Art griff in jüngster Zeit insbesondere die EuGH-Rechtsprechung auf. In diesem Präzedenzfall25 geht es um einen französischen Staatsangehörigen, welcher in Belgien an der Universität Louvain-la-Neuve ein Sportstudium absolvierte. Während der ersten drei Studienjahre kam er für seinen Lebensunterhalt selbst auf, indem er verschiedene entgeltliche Beschäftigungen ausübte. Im vierten und letzten Studienjahr beantragte Herr Grzelczyk beim kommunalen Centre public d’aide sociale Mittel zur Gewährleistung des Existenzminimums (sog. Minimex). Wegen der größeren Beanspruchung im letzten Studienjahr sah er sich nicht mehr dazu in der Lage, seinen Lebensunterhalt selbst zu verdienen. Das zuständige Amt gewährte zunächst das Existenzminimum, entzog den Anspruch aber dann wieder, nachdem das föderale Ministerium die Erstattung des dem Antragsteller gezahlten Existenzminimums abgelehnt hatte. Dies wurde damit begründet, dass Herr Grzelczyk in seiner Eigenschaft als Student die Voraussetzungen für die Gewährung des Existenzminimums nicht erfülle. Entsprechend den belgischen Vorschriften ist der Anspruch auf Gewährung des „Minimex“ belgischen Staatsangehörigen mit inländischem Wohnsitz vorbehalten sowie Personen im Sinne der Verordnung (EWG) Nr. 1612/68 (des Rates vom 15.10.1968 über die Freizügigkeit der Arbeitnehmer innerhalb der Gemeinschaft). Nachdem Rudy Grzelczyk die Entscheidung beim zuständigen Tribunal du travail Nivelles angefochten hat, legte dieses die Sache dem EuGH zur Entscheidung vor. Die belgische Regelung macht die Gewährung einer beitragsunabhängigen Leistung bei Staatsangehörigen anderer Mitgliedstaaten davon abhängt, dass sie 25

EuGH, Rs. C-184/99, Grzelczyk, Slg. 2001, I-6193.

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F. Grenzen des Aufenthaltsrechts

in den Anwendungsbereich der VO Nr. 1612/68 fallen, während für die eigenen Staatsangehörigen des Aufenthaltsstaates eine derartige Regelung nicht gilt. Der Gerichtshof hatte nun zu entscheiden, ob eine derartige Regelung mit dem Gemeinschaftsrecht, insbesondere mit der Unionsbürgerschaft und dem Grundsatz der Nichtdiskriminierung, zu vereinbaren ist.

aa) Schlussanträge des Generalanwalts Alber Generalanwalt Alber setzt innerhalb der Würdigung seines Schlussantrages den Schwerpunkt auf die Bestimmung der Arbeitnehmereigenschaft: Sofern Herr Grzelczyk als Arbeitnehmer einzustufen wäre, ergäbe sich der Anspruch auf Gewährung des Minimex bereits aus Art. 7 Abs. 2 der VO 1612/68. Hilfsweise sei auf den Studenten-Status zu rekurrieren und zu prüfen, ob er in dieser Eigenschaft Zugang zum Existenzminimum erlangen könnte. Entsprechend der bisherigen Rechtsprechung war der Anwendungsbereich des Vertrags für eine Beihilfe zum studentischen Lebensunterhalt – im Gegensatz zu Studiengebühren – nicht eröffnet. Ein weiterer Ansatzpunkt zur Lösung der aufgeworfenen Fragestellung könne darin liegen, dass man den Studenten als Dienstleistungsempfänger im Sinne der Cowan-Rechtsprechung betrachtet. Das eine Dienstleistung kennzeichnende wirtschaftliche Kriterium hat der EuGH26 im Bereich des (im Rahmen des nationalen Bildungswesens erteilten) Unterrichts aber verneint. Der Staat wolle damit keine gewinnbringende Tätigkeit aufnehmen, sondern erfülle seine bildungspolitischen Aufgaben, so dass im vorliegenden Fall die Dienstleistungsfreiheit nicht zur Anwendung gelangen könne. Schließlich widmet sich Generalanwalt Alber auf knapp einer Seite der Frage, ob nicht die Unionsbürgerschaft einen Anspruch auf Gleichbehandlung beinhalte. Ausgangspunkt seiner Überlegungen ist die Feststellung, die Unionsbürgerschaft verleihe dem Unionsbürger bereits im Vertrag ein originäres Aufenthaltsrecht. Dieses Aufenthaltsrecht werde aber nicht schrankenlos gewährleistet; vielmehr sei das Vorhandensein ausreichender Existenzmittel Bedingung für seine Ausübung. Dabei kommt er zu dem Schluss, dass ein Angehöriger eines Mitgliedstaates „kraft der Unionsbürgerschaft grundsätzlich einen Anspruch auf Gleichbehandlung auch im Hinblick auf Sozialleistungen geltend machen kann. Die Inanspruchnahme von Sozialleistungen des Aufenthaltsstaats stößt jedoch an eine Grenze in Umständen, die das Aufenthaltsrecht zu beenden geeignet sind.“27

26

EuGH, Rs. 263/86, Humbel, Slg. 1988, 5365. Schlussanträge des Generalanwalts Alber vom 28. September 2000, Rs. C-184/99, Grzelczyk, Slg. 2001, I-6193, Rdn. 125. 27

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b) Urteil des EuGH Laut EuGH ist die Tatsache, dass der Kläger nicht die belgische Staatsangehörigkeit besitzt, das einzige Hindernis für die Gewährung der sozialen Beihilfe. Eine Ungleichbehandlung aus Gründen der Staatsangehörigkeit liege also vor. Sofern der Anwendungsbereich des Vertrags eröffnet ist und keine Rechtfertigungsgründe vorliegen, liegt ein Verstoß gegen das Diskriminierungsverbot des Art. 6 (heute: Art. 12) EGV vor. Nach der grundlegenden Feststellung des Gerichtshofs muss der Anwendungsbereich des allgemeinen Diskriminierungsverbots zusammen mit den Vertragsbestimmungen über die Unionsbürgerschaft gesehen werden: „Der Unionsbürgerstatus ist nämlich dazu bestimmt, der grundlegende Status der Angehörigen der Mitgliedstaaten zu sein, der es denjenigen unter ihnen, die sich in der gleichen Situation befinden, erlaubt, unabhängig von ihrer Staatsangehörigkeit und unbeschadet der insoweit ausdrücklich vorgesehenen Ausnahmen die gleiche rechtliche Behandlung zu genießen. Wie der Gerichtshof in Randnummer 63 des Urteils Martínez Sala ausgeführt hat, kann sich ein Unionsbürger, der sich rechtmäßig im Gebiet des Aufnahmemitgliedstaats aufhält, in allen Situationen, die in den sachlichen Anwendungsbereich des Gemeinschaftsrechts fallen, auf Artikel 6 EG-Vertrag berufen. Diese Situationen schließen auch die ein, die zur Ausübung der durch den Vertrag garantierten Grundfreiheiten, und die, die zur Ausübung der durch Artikel 8a EG-Vertrag verliehenen Freiheit, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten zu bewegen und aufzuhalten, gehören.“28

In einem weiteren Schritt erwähnt der Gerichtshof seine frühere Rechtsprechung in Hinblick auf die Gleichbehandlung der Studenten bei sozialen Leistungen, wonach die Förderung des Lebensunterhalts von Studenten nicht in den Anwendungsbereich des Vertrags fiel.29 Gemäß seiner dynamischen Interpretation des Gemeinschaftsrechts gilt diese Auslegung nun nicht mehr: Das Gemeinschaftsrecht habe sich durch den Vertrag über die Europäische Union und insbesondere die Einführung der Unionsbürgerschaft sowie die Aufnahme eines Kapitel 3 über die allgemeine und über die berufliche Bildung im Dritten Teil Titel VIII des EGV und den Erlass der Richtlinie 93/96 über das Aufenthaltsrecht der Studenten verändert.30 Nach dem gegenwärtigen Stand des Gemeinschaftsrechts falle deshalb die soziale Grundförderung der Studenten in den Anwendungsbereich des Vertrags. In seinen Schlussanträgen stellt Generalanwalt Alber zutreffend fest, dass das unionale Aufenthaltsrecht nicht vorbehaltlos gewährt wird, und verweist auf die in 28 EuGH, Rs. C-184/99, Grzelczyk, Slg. 2001, I-6193, Rdn. 31–33. Vgl. Besprechungen dazu: Obwexer, EuZW 2002, S. 56; Letzner, JuS 2003, S. 118; Doerfert, JA 2002, S. 464; Höfler, NVwZ 2002, S. 1206; Becker, ZESAR 2002, S. 8; Streinz, JuS 2002, S. 387. 29 EuGH, Rs. C-184/99, Grzelczyk, Slg. 2001, I-6193, Rdn. 34 mit Verweis auf Urteil vom 21. Juni 1988 in der Rs. 197/86, Brown, Slg. 1988, 3205. 30 EuGH, Rs. C-184/99, Grzelczyk, Slg. 2001, I-6193, Rdn. 35.

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Art. 18 Abs. 1 EGV vorgesehenen Beschränkungen und Bedingungen. Hierzu zählen maßgeblich die in den Aufenthaltsrichtlinien geforderten ausreichenden Existenzmittel. „Die gemeinschaftsrechtlich formulierte Bedingung für die Ausübung des Aufenthaltsrechts in Verbindung mit dem Postulat, die öffentlichen Finanzen anläßlich des Aufenthalts nicht über Gebühr zu belasten, kann eine gemeinschaftsrechtlich tolerierte Grenze des Gleichbehandlungsanspruchs auf dem Gebiet der Sozialleistungen darstellen. Die Inanspruchnahme von Sozialhilfe könnte demnach einen Beendigungstatbestand für das Aufenthaltsrecht schaffen.“31

Allerdings dürfe der Bezug von Sozialleistungen nicht automatisch zur Beendigung des Aufenthaltsrechts führen; den Mitgliedstaaten ist vielmehr ein gewisser Spielraum zuzugestehen. Dem schloss sich grundsätzlich auch der EuGH an. So soll es möglich sein, dass der Bezug von Sozialhilfe die Voraussetzungen für die Inanspruchnahme des Aufenthaltsrechts entfallen lässt und dass der Aufnahmemitgliedstaat „unter Einhaltung der insoweit vom Gemeinschaftsrecht gezogenen Grenzen Maßnahmen ergreift, um die Aufenthaltserlaubnis des Betroffenen zu beenden oder nicht mehr zu verlängern.“32 Dabei hebt der Gerichtshof auch gleichzeitig deutlich hervor, dass die Beendigung oder Nichtverlängerung des Aufenthaltsrechts „jedoch keinesfalls die automatische Folge der Tatsache sein [darf], dass ein Student, der einem anderen Mitgliedstaat angehört, die Sozialhilfe des Aufnahmemitgliedstaats in Anspruch nimmt.“33 Aus dem Erwägungsgrund heraus, dass die finanziellen Mittel der Mitgliedstaaten nicht über Gebühr strapaziert werden dürfen, schlussfolgert der EuGH, dass aber eine gewisse finanzielle Grundsolidarität anzuerkennen sei. Völlig ungeklärt ist allerdings, wie weit diese finanzielle Hilfe und Einstandspflicht gehen soll. Die Bestimmung der Konturen einschließlich der zeitlichen Grenzen legte der EuGH nicht eindeutig fest. Die finanzielle Ein- und Beistandspflicht soll laut EuGH jedenfalls dann greifen, „wenn die Schwierigkeiten, auf die der Aufenthaltsberechtigte stößt, nur vorübergehender Natur sind.“34

c) Die Rechtssache Baumbast und R In seinem Urteil Baumbast und R führt der Gerichtshof aus, dass die in Art. 18 EGV festgelegten Beschränkungen und Bedingungen der Wahrung berechtigter Interessen des Aufenthaltsmitgliedstaates dienen.35 „Allerdings sind diese Beschränkungen und Bedingungen unter Einhaltung der einschlägigen gemein31 Schlussanträge Generalanwalt Siegbert Alber, Rs. C-184/99, Rudy Grzelczyk, Slg. 2001, I-, Rdn. 122. 32 EuGH, Rs. C-184/99, Rudy Grzelczyk, Slg. 2001, I-6193, Rdn. 42. 33 EuGH, Rs. C-184/99, Rudy Grzelczyk, Slg. 2001, I-6193, Rdn. 43. 34 EuGH, Rs. C-184/99, Rudy Grzelczyk, Slg. 2001, I-6193, Rdn. 44 am Ende und Rdn. 45. 35 EuGH, Rs. C-413/99, Baumbast und R, Slg. 2002, I-7091, Rdn. 90. Zum Sachverhalt E. V. 2.

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schaftsrechtlichen Grenzen und im Einklang mit den allgemeinen Grundsätzen des Gemeinschaftsrechts, insbesondere dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, anzuwenden.“36 Im Fall des Herrn Baumbast wäre es nach Ansicht des EuGH ein unverhältnismäßiger Eingriff in sein Freizügigkeitsrecht, wenn ihm sein Aufenthaltsrecht mit der Begründung, eine die Notversorgung abdeckende Krankenversicherung liege nicht vor, abgelehnt würde. Dabei bezieht der EuGH folgende Gesichtspunkte in seine Verhältnismäßigkeitsprüfung mit ein: „Für die Anwendung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit im Ausgangsfall ist von Belang, dass erstens Herr Baumbast unstreitig über ausreichende Existenzmittel im Sinne der Richtlinie 90/364 verfügt, dass er zweitens mehrere Jahre lang, zunächst als Arbeitnehmer und dann als Selbständiger, im Aufnahmemitgliedstaat gearbeitet und somit rechtmäßig gewohnt hat, dass drittens in dieser Zeit auch seine Familie im Aufnahmemitgliedstaat wohnte und nach Beendigung seiner dortigen unselbständigen und selbständigen Erwerbstätigkeit in diesem Staat verblieben ist, dass viertens weder Herr Baumbast noch seine Familienangehörigen die öffentlichen Finanzen des Aufnahmemitgliedstaats belastet haben und dass schließlich sowohl Herr Baumbast als auch seine Familie in einem anderen Mitgliedstaat in vollem Umfang krankenversichert sind.“37

2. Reduktion auf einen Zugangsvorbehalt bzw. auf einen Missbrauchsvorbehalt Teilweise wird in der Literatur der Sozialvorbehalt auf einen Zugangsvorbehalt reduziert. So soll Borchardt38 zufolge der nachträgliche Wegfall ausreichender sozialer Mittel gänzlich ungeeignet sein, das Aufenthaltsrecht entfallen zu lassen. Die Frage, ob ein Unionsbürger ausreichende finanzielle Mittel zur Verfügung hat und damit die Voraussetzungen der Aufenthaltsrichtlinien erfüllt, soll nur zum Zeitpunkt der Einreise bzw. zum Zeitpunkt der Ausstellung der Aufenthaltsbescheinigung relevant sein. Das Aufenthaltsrecht könne daher beendet werden, wenn zu diesem Zeitpunkt keine ausreichenden finanziellen Mittel zur Verfügung stehen. Die Gefahr der Entstehung eines „Sozialtourismus“ könne so wirksam gebannt werden. Scheuing argumentiert in die gleiche Richtung, denn nur so könne erreicht werden, dass dem Unionsbürger kein „Aufenthaltsrecht auf Widerruf“39 zukomme, welches dem Unionsbürgerstatus widerspricht. „Halbe Sachen“40 stünden im Gegensatz zum Sinn und Zweck des Freizügigkeitsrechts. Als weiteres Argument wird ein Vergleich mit der Arbeitnehmerfreizügigkeit herangezogen. Danach beschränkte der EuGH den durch Art. 10 Abs. 3 VO 1612/68 geforderten 36

EuGH, Rs. C-413/99, Baumbast und R, Slg.2002, I-7091, Rdn. 91. EuGH, Rs. C-413/99, Baumbast und R, Slg. 2002, I-7091, Rdn. 92. 38 Borchardt, NJW 2000, S. 2057 (2058); ders., Unionsbürgerschaft und soziale Ansprüche, in: von Bogdandy/Kadelbach (Hrsg.), Solidarität und europäische Integration, S. 9 (17). 39 Scheuing, EuR 2003, S. 744 (770). 40 Scheuing, Die Freizügigkeit der Unionsbürger in der Europäischen Union, in: Dreier (Hrsg.), Raum und Recht, FS 600 Jahre Würzburger Juristenfakultät, S. 103 (138). 37

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Nachweis, familiengerechten Wohnraum zur Verfügung zu stellen41, auf den Zeitpunkt des Mit- oder Nachzugs von Familienangehörigen der Wanderarbeitnehmer. Das fortbestehende Vorhandensein dieses Wohnraums kann nicht zur Voraussetzung für den weitergehenden Verbleib der Familienangehörigen gemacht werden. Aufgrund der unterschiedlichen Bedingungen lässt sich diese Rechtsprechung aber nicht eins zu eins auf die vorliegende Problematik übertragen. Daneben machen die drei Aufenthaltsrichtlinien – im Gegensatz zu Art. 10 Abs. 3 VO 1612/68 – den Fortbestand des Aufenthaltsrechts ausdrücklich vom weiteren Vorhandensein ausreichender Existenzmittel abhängig. Diese Auslegung überzeugt daher nicht. Es ist vorstellbar, dass es EU-Bürgern mit ein wenig Phantasie nicht schwer fallen dürfte, diese Zugangshürde zu umgehen. Missbrauchsfällen wären Tür und Tor geöffnet. Praxistaugliche Ergebnisse können daher nur erzielt werden, wenn der Missbrauch auch über den Zeitpunkt der Einreise hinaus sanktioniert werden kann. Auch in der Rechtsprechung des EuGH zur Arbeitnehmerfreizügigkeit ist die Gefahr, dass die Arbeitnehmereigenschaft lediglich zum Zwecke der missbräuchlichen Inanspruchnahme sozialer Leistungen geltend gemacht wird, erkannt worden. So wird der Anspruch auf allgemeine Studienförderung beispielsweise abgelehnt, wenn die dem Studium vorgegangene Arbeitnehmertätigkeit lediglich ein Durchgangstadium zum primär gewollten Studium darstellt.42 Der Gerichtshof gibt zu bedenken, dass die großzügige Rechtssprechung zur Arbeitnehmerfreizügigkeit nicht dazu führen darf, „dass sich ein Staatsangehöriger eines Mitgliedstaats nur in der Absicht in einen anderen Mitgliedstaat begibt, dort nach einer sehr kurzen Berufstätigkeit eine Förderung für Studenten in Anspruch zu nehmen. Ein solcher Missbrauch ist nämlich durch die in Rede stehenden gemeinschaftsrechtlichen Bestimmungen nicht gedeckt“.43 Genau so liegt der Fall auch beim Freizügigkeitsrecht des Art. 18 EGV. Es darf nicht als Trittbrett dazu benutzt werden, die Sozialleistungen anderer Mitgliedstaaten auszunutzen. Es steht fest, dass Missbrauchsfälle zu unterbinden sind.44 Bei Missbrauchsfällen hat die nationale Ausländerbehörde das Aufenthaltsrecht nachträglich zeitlich zu beschränken. Dem Missbrauchstatbestand wohnt allerdings ein subjektives Element inne, welches in der Praxis schwer zu handhaben ist. Um zu zweckmäßigen Ergebnissen 41 EuGH, Rs. 249/86, Kommission/Deutschland (Wohnungsanforderungen), Slg. 1989, 1263; so auch: Scheuing, Die Freizügigkeit der Unionsbürger in der Europäischen Union, in: von Bogdandy/Kadelbach (Hrsg.), Raum und Recht, FS 600 Jahre Würzburger Juristenfakultät, S. 103 (128). 42 EuGH, Rs. 39/86, Lair, Slg. 1988, 3161 (3201), Rdn. 43; EuGH, Rs. 197/86, Brown, Slg. 1988, 3205 (3245), Rdn. 27. 43 EuGH, Rs. C-413/01, Franca Ninni-Orasche, Slg. 2003, I-13187, Rdn. 36. 44 Borchardt, Unionsbürgerschaft und soziale Ansprüche, in: von Bogdandy/Kadelbach (Hrsg.), Solidarität und europäische Integration, S. 9 (18); Scheuing, EuR 2003, S. 744(774).

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zu gelangen, müsste die Frage, wann das Aufenthaltsrecht beendet werden kann, anhand verobjektivierter Tatbestandsmerkmale beurteilt werden. Es müsste sich aufgrund dieser Merkmale nachweisen lassen, dass der Unionsbürger die Freizügigkeit nur als Mittel zu dem Zweck benutzt, Sozialleistungen des Aufenthaltsmitgliedstaates zu beanspruchen.45 Im deutschen Sozialrecht regelte § 120 Abs. 3 Satz 1 BSHG, nun § 23 Abs. 3 SGB XII, eine ähnliche Problematik. Danach haben „Ausländer, die eingereist sind, um Sozialhilfe zu erlangen, oder deren Aufenthaltsrecht sich allein aus dem Zweck der Arbeitssuche ergibt, sowie ihre Familienanghörige“ keinen Anspruch auf diese Leistung. Entscheidend ist dabei der finale Zusammenhang zwischen dem Entschluss zur Einreise und der Inanspruchnahme von Sozialhilfe; bei mehreren Motiven muss die Möglichkeit der Inanspruchnahme von sozialen Grundleistungen für den Einreisentschluss prägend sein.46 Die Beweispflicht für einen Missbrauch läge bei den Mitgliedstaaten. Allenfalls in Ausnahmefällen dürfte es ihnen gelingen, einen solchen nachzuweisen. Faktisch würde damit der Schrankenvorbehalt leer laufen und der Gefahr einer Erosion der Systeme der sozialen Sicherheit wäre tatsächlich Tür und Tor geöffnet. Daher ist die Reduktion auf einen reinen Missbrauchsvorbehalt abzulehnen.

3. Begrenzungen der Einschränkungsmöglichkeiten aufgrund allgemein anerkannter Prinzipien, insbesondere aufgrund des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes a) Allgemeines Einen dem einzelnen Fall gerecht werdenden Lösungsansatz bietet die Anwendung der allgemein anerkannten Grundsätze, insbesondere des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes. In der Sache läuft die Prüfung auf eine Abwägung zwischen mitgliedstaatlichen Belangen und dem Grundrecht der Freizügigkeit der Unionsbürger hinaus. Hier erweist es sich als hilfreich, sich auf die zu den Grundfreiheiten entwickelte einheitliche Schrankensystematik zu besinnen.47 „Allerdings sind diese Beschränkungen und Bedingungen unter Einhaltung der einschlägigen gemeinschaftsrechtlichen Grenzen und im Einklang mit den allgemeinen Grundsätzen des Gemeinschaftsrechts, insbesondere dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, anzuwenden. Das bedeutet, dass unter diesem Gesichtspunkt erlassene nationale Maßnahmen zur Erreichung des angestrebten Zwecks geeignet und erforderlich sein müssen.“48 45

Zur Umschreibung des Rechtsmissbrauchs siehe EuGH, Rs. 39/86, Lair, Slg. 1988, 3161, Rdn. 43. 46 BVerwGE 90, 212. Fasselt, in: Fichtner (Hrsg.), BSHG, § 120 Rdn. 11. 47 Vgl. Schlussanträge des Generalanwalts Lenz, Rs. C-415/93, Bosman, Slg. 1995, I-4921, Rdn. 200. Classen, EWS 1995, S. 97 ff. 48 EuGH, Rs. C-413/99, Baumbast und R, Slg. 2002, I-7091, Rdn. 91; Schlussanträge des Generalanwalts Damaso Ruiz-Jarabo Colomer vom 10. Juli 2003, Rs. C-138/02, Collins, Slg. 2004, I-2703, Rdn. 70.

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Daraus ergibt sich, dass das allgemeine Freizügigkeitsrecht grundsätzlich weit auszulegen ist; demgegenüber sind die zulässigen Beschränkungen eng zu handhaben.49 Dies wird nochmals verstärkt durch die Unionsbürgerschaft; zusätzlich „erfordert der Unionsbürgerstatus eine besonders enge Auslegung der Ausnahmen von dieser Freiheit.“50 Im Zweifel ist zugunsten des Freizügigkeitsrechts zu entscheiden.51 Zudem wäre es sinnlos zunächst im Wege des Art. 12 EGV einen Anspruch zu gewähren, welcher dann aber zur sofortigen Beendigung des Aufenthaltsrechts berechtigen würde. Im Sinne einer Schrankenprüfung werden die Beschränkungen und Bedingungen dem Bedeutungsgehalt der Unionsbürgerschaft sowie dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit52 angepasst. Der EuGH geht davon aus, dass bei „jeder Beschränkung der Freizügigkeit die Ausländerbehörden die besondere Rechtsstellung der dem Gemeinschaftsrecht unterliegenden Personen und die entscheidende Bedeutung des Grundsatzes der Freizügigkeit zu berücksichtigen haben“.53 Auch im juristischen Schrifttum ist überwiegend anerkannt, dass sich die sekundärrechtlich ergangenen Aufenthaltsbestimmungen im Rahmen des Primärrechts halten und dessen Wertentscheidungen berücksichtigen müssen.54 Vor diesem Hintergrund ergibt sich zwingend, dass das Aufenthaltsrecht mit Vorliegen der Tatbestandsvoraussetzungen nicht automatisch entzogen werden darf. Vielmehr müssen die mitgliedstaatlichen Behörden in eine Einzelfallprüfung eintreten. Aus dem in den drei Aufenthaltsrichtlinien aufgeführten sechsten Erwägungsgrund, wonach die finanziellen Mittel der Mitgliedstaaten nicht über Gebühr strapaziert werden dürfen, zieht der EuGH den Schluss, dass eine gewisse finanzielle Grundsolidarität anzuerkennen sei.55 Diese Argumentation kann als Hilfsargument herangezogen werden. Darüber hinaus ist auch zu bedenken, dass die sekundärrechtlichen Vor49

Vgl. ständige Rsp. – zum Beispiel nur: EuGH, Rs. C-348/96, Calfa, Slg. 1999, I-11 Rdn. 21 f.; Rs. C-355/98, Kommission/Belgien, Slg. 2000, I-1221, Rdn. 28; Rs. C-357/98, Yiadom, Slg. 2000, I-9265; EuGH, Rs. C-295/90, Europäisches Parlament/Rat, Slg. 1992, I-4193; Schlussanträge Generalanwalt Geelhoed, Rs. C-413/99, Baumbast und R, Slg. 2002, I-7091, Rdn. 108. Aus dem Schrifttum vgl. statt Vieler z. Bsp.; Streinz, Europarecht, Rdn. 703; Brechmann, in: Calliess/Ruffert, Art. 39 Rdn. 90; Reich/Harbacevica, C. M. L.Rev. 40 (2003), S. 637; Soria, JZ 2002, S. 643 (648); Hilf, in: Grabitz/Hilf, Art.18 Rdn. 12. 50 EuGH, verb. Rs. C-482/01 und C-493/01, Orfanopoulos und Oliveri, Slg. 2003, I-9607, Rdn. 65. 51 Vgl. für die Arbeitnehmerfreizügigkeit: Hailbronner, ZAR 1985, S. 108. 52 Becker, ZESAR 2002, S. 8 (12); Magiera, in: Streinz Art. 18 Rdn. 21; Haag, in von der Groeben/Thiesing/Ehlermann, Art. 18 Rdn. 16; Hatje, in: Schwarze, Art. 18 Rdn. 10; Hilf, in: Grabitz/Hilf, Art. 18 Rdn. 13. 53 EuGH, Rs. 30/77, Bouchereau, Slg. 1977, 1999 ff. Rdn. 29/30. 54 EuGH, Rs. C-424/98, Kommission/Italien, Slg. 2000, I-4001, Rdn. 35; Magiera, in: Streinz, Art. 18 Rdn. 21; Haag, in: von der Groeben/Schwarze (Hrsg.), Art.18, Rdn. 16; Hatje, in: Schwarze Art. 18 Rdn. 10; Hilf, in: Grabitz/Hilf, Art. 18 Rdn. 13; Kluth, in: Calliess/Ruffert, Art. 18 Rdn. 13; Letzner, JuS 2003, S. 118, 120; Welte, ZAR 2003, S. 273 (277); Becker, ZESAR 2002, S. 8 (12); Bode, EuZW 2002, S. 761 (768); Soria, JZ 2002, S. 643 (648). 55 EuGH, Rs. C-184/99, Grzelczyk, Slg. 2001 I-6193, Rdn. 44.

IV. Reichweite des Sozialvorbehalts

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schriften über die Dauer und die Voraussetzungen des Aufenthaltsrechts älteres Recht als die Unionsbürgervorschriften der Art. 17 ff. EGV darstellen. Sie müssen demnach an die zeitlich nachfolgenden und damit maßgeblichen Vorschriften angepasst werden. Mit dem Unionsbürgerstatus unvereinbar wäre eine Leseart der Richtlinien, wonach der Wegfall der Existenzmittel zugleich das Entfallen des Aufenthaltsrechts zur Folge hätte, denn der Wesensgehalt (Kernbereich) der Freizügigkeit und der Unionsbürgerschaft darf auf keinen Fall angetastet werden.56 Die bisher gewährten Aufenthaltsrechte sind als Mindeststandards in ihrem Bestand geschützt.57 Nach Art. 18 Abs. 2 EGV kann der Rat Vorschriften erlassen, welche die Ausübung der Rechte nach Abs. 1 erleichtern. Eine Verschlechterung des damit abgesicherten status quo ist dagegen auf diesem Wege nicht möglich.

b) Abwägungspunkte Es bleibt festzuhalten, dass es nach dieser Lösung bei Vorliegen einer sozialen Bedürftigkeit zu einer Ermessenentscheidung über die Beendigung des Aufenthaltsrechts im Einzelfall kommt. In Übereinstimmung mit dem Wortlaut der Aufenthaltsrichtlinien58 ist nicht nur das anfängliche Fehlen ausreichender Existenzmittel, sondern grundsätzlich auch ihr nachträglicher Wegfall für den Weiterbestand des Aufenthaltsrechts schädlich.59 Um dabei unbillige Härten – welche offensichtlich nicht mit dem Unionsbürgerrecht zu vereinbaren wären – zu vermeiden, spielen bei der Entscheidung über die Beschränkung bzw. Aufhebung des Aufenthaltsrechts die nachfolgenden Gesichtspunkte eine Rolle: – Zunächst ist die Dauer des Aufenthalts zu berücksichtigen: Ein länger andauernder ununterbrochener Aufenthalt, ohne dass bereits schon einmal Sozialleistungen beansprucht wurden, spricht eher gegen eine Beendigung des derart gefestigten Aufenthaltsrechts. Anhand dieses zeitlichen Kriteriums wird ein gewisses Maß an Integration des Unionsbürgers in die Gesellschaft des Aufenthaltsmitgliedstaates vermutet. – Ein weiterer Gesichtspunkt ist die voraussichtliche Dauer des Sozialhilfebezugs.60 Eine vorübergehende Bedürftigkeit wird vom Aufenthaltsstaat eher zu 56 Schlussanträge GA La Pergola zu EuGH-Urteil Martinez Sala, C-85/96, Slg. 1998, I-2629, Rdn. 18; Schlussanträge GA Cosmas zu Rs. C-378/97, Wijsenbeek, Slg. 1999, I-6207 (6243); Haag, in: von der Groeben/Thiesing/Ehlermann, Art. 18 Rdn. 678; Soria, JZ 2002, S. 643(648). 57 Hatje, in: Schwarze (Hrsg.), Art. 18 Rdn. 13; Kaufmann-Bühler, in: Lenz/Borchardt, Art. 18 Rdn. 7; Soria, JZ 2002, S. 643 (648). 58 Vgl. Art. 3 der RiLi 90/364/EWG, Art. 3 RiLi 90/365/EWG, Art. 4 der RiLi 93/96/ EWG. 59 So auch: Tomuschat, C. M. L.Rev. 37(2000), S. 449 (455). 60 Jacqueson, E. L.Rev. 2002, S. 260 (276).

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F. Grenzen des Aufenthaltsrechts

überbrücken sein. Anders kann der Fall bei einer sog. negativen Prognose liegen, das heißt wenn der Unionsbürger auf unabsehbare Zeit oder dauerhaft auf die sozialen Sicherungssysteme angewiesen sein wird. – Einen weiteren Parameter kann die Verschuldensfrage darstellen: Wurde der Unionsbürger unverschuldet bedürftig oder trat seine Hilfsbedürftigkeit aufgrund eines ihm persönlich zuzurechnenden Verhaltens ein? Dieser Ansatz findet bereits im Rahmen des Aufenthaltsrechts der Arbeitnehmer Umsetzung. So bestimmt zum Beispiel Art. 7 Abs. 1 RL 68/360/EWG61: „Eine gültige Aufenthaltserlaubnis kann einem Arbeitnehmer nicht allein deshalb entzogen werden, weil er keine Beschäftigung mehr hat, sei es, weil er infolge Krankheit oder Unfall vorübergehend arbeitsunfähig ist, sei es, weil er unfreiwillig arbeitslos geworden ist, …“

– Weiter spielt es eine Rolle, ob der Unionsbürger besondere Beziehungen, insbesondere ob er Familienangehörige im Aufenthaltsstaat hat. Die vom Europäischen Gerichtshof anerkannten Grundrechte sind zu beachten. Die Entfernung einer Person aus dem Mitgliedstaat, in dem ihre Familienangehörigen leben, greift in das Recht auf Achtung des Familienlebens (Art. 8 EMRK) ein.62 Die Ausweisung des drittstaatsangehörigen Ehepartners eines Unionsbürgers kann letzteren in der Wahrnehmung seines Freizügigkeitsrechts beeinträchtigen. In dem Fall Carpenter sollte die philippinische Ehefrau des Herrn Carpenter, welcher in „erheblichem“ Maß Dienstleistungen in Frankreich erbracht hatte, ausgewiesen werden. Dabei entschied sich der Gerichtshof jedoch gegen die Ausweisung, denn sie hätte sich „nachteilig auf ihr Familienleben und damit auf die Bedingungen ausgewirkt, unter denen Herr Carpenter seine Grundfreiheit wahrnimmt.“63 – Es ist auch zu prüfen, in welcher Höhe die Sozialleistungen beansprucht werden. Bereits nach den Aufenthaltsrichtlinien (RL 90/364, RL 90/365 und RL 93/96) dürfen die Finanzen des Aufenthaltsmitgliedstaates nicht „über Gebühr“ belastet werden. Da der EuGH im Umkehrschluss aus diesen Erwägungen schließt, dass eine gewisse finanzielle Solidarität aber bestehe, können nur erhebliche Belastungen eine Einschränkung rechtfertigen. Die Darlegungslast obliegt dabei dem Mitgliedstaat. Schließlich stehen diese Abwägungsgesichtspunkte nicht völlig unabhängig nebeneinander, sondern sind gegebenenfalls kumulativ anzuwenden und im Rahmen einer Gesamtabwägung einem Ergebnis zuzuführen.

61

Zukünftig ist dieser Gedanke in Art. 17 Abs. 1 RL 2004/38/EG niedergelegt. EuGH, verb. Rs. C-482/01 und C-493/01, Orfanopoulos und Oliveri, Slg. 2003, I-9607, Rdn. 97 mit Verweis auf Rs. C-60/00, Carpenter, Slg. 2002, I-6279, Rdn. 41. 63 EuGH, Rs. C-60/00, Carpenter, Slg. 2002, 6279, Rdn. 39. Kritisch dazu: Mager, JZ 2003, S. 204 ff. 62

IV. Reichweite des Sozialvorbehalts

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Zum Teil wird gefordert, dass es prinzipiell bei der Anwendung der Existenzvorbehalte – wie in den Richtlinien vorgesehen – bleiben soll;64 allenfalls in besonders gelagerten Ausnahmefällen erscheint ein Abweichen von den Richtlinienbestimmungen angebracht.65 Es trifft zwar zu, dass die Mitgliedstaaten bei Einführung des Freizügigkeitsrechts im Zuge der Schaffung der Unionsbürgerschaft mit dem sog. Existenzvorbehalt ihre sozialen Sicherungssysteme schützen wollten, allerdings greift eine allein am Wortlaut und am historischen Willen des Vertragsgebers orientierte Auslegung im 21. Jahrhundert zu kurz. Stattdessen kommt der hinter dem Freizügigkeitsrecht stehenden Unionsbürgerschaft und ihrer Entwicklung maßgebliche Bedeutung zu. Tomuschat zufolge war es „kurzsichtig zu glauben, dieser einmal anerkannte Status mit seinen verschiedenen Komponenten werde im Sinne einer Versteinerungstheorie auf dem Stand der Jahre 1992/1993 verharren“.66 Die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs, welche sich der Unionsbürger annimmt und nach einem langsamen Anlauf das Potential des Art. 17 EGV zur Geltung bringt, ist uneingeschränkt zu begrüßen. Der damit ergangene Präzedenzfall in der Rechtssache Grzelczyk ist für die Stellung aller Unionsbürger von grundlegender bahnbrechender Bedeutung.67 Das Freizügigkeitsrecht ist eines der wichtigsten Unionsbürgerrechte; der Einzelne kann im Rahmen seiner Ausübung die Bedeutung der Europäischen Gemeinschaft am wirkungsvollsten erfahren. Bereits der EGV verdeutlicht dies durch seine Stellung im Artikelgefüge direkt hinter Art. 17 EGV. Ein Freizügigkeitsrecht, welches jederzeit bei Nichtvorliegen der in den Aufenthaltsrichtlinien niedergelegten Voraussetzungen entzogen würde, wäre seines hervorgehobenen Platzes nicht würdig. Andererseits bedeutet diese Auffassung aber nicht, dass das Freizügigkeitsrechts keinerlei Schranken unterworfen wäre; insofern löst es sich auch nicht vollends vom Wortlaut der Aufenthaltsrichtlinien. Über einen reinen Zugangsvorbehalt hinaus kann es z. B. dann beschränkt werden, wenn die Entstehung eines „Sozialleistungstourismus“ droht. Lassen sich Unionsbürger in einem anderen Mitgliedsland nur deshalb bzw. hauptsächlich deshalb nieder, um von den sozialstaatlichen Gewährleistungen zu profitieren, so ist in der Tat ein mitgliedstaatliches berechtigtes Interesse berührt und dies berechtigt zur Beendigung des Freizügigkeitsrechts. In der Sache geht es um eine Austarierung zwischen öffentlichen Belangen der Mitgliedstaaten zugunsten ihrer Sozialsysteme und den Freizügigkeitsrechten des einzelnen Unionsbürgers. Die erforderliche Feinabstimmung kann anhand der aufgestellten Kriterien erfolgen.

64

Hailbronner, NJW 2004, S. 2185 (2187). Kaufmann-Bühler, in: Lenz/Borchardt, Art. 18 Rdn. 8. 66 Tomuschat, Staatsbürgerschaft – Unionsbürgerschaft – Weltbürgerschaft, in: Drexl u. a. (Hrsg.), Europäische Demokratie, S. 73 (79). 67 Vgl. bereits Höfler, NVwZ 2002, S. 1206. 65

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F. Grenzen des Aufenthaltsrechts

c) Besonderheiten für Studenten und Auszubildende Es ist zu erörtern, ob an aufenthaltsbeendende Maßnahmen gegenüber Studenten besondere Maßstäbe anzulegen sind. Man könnte argumentieren, dass angesichts der zeitlich begrenzten Ausbildung das diesbezüglich wahrgenommene Aufenthaltsrecht regelmäßig nicht von Dauer ist, die Gefahr für die nationalen sozialen Sicherungssysteme folglich eher überschaubar bleibt. Im Vergleich zu Rentnern und sonstigen Nichterwerbstätigen werden an den Nachweis der Existenzmittel der Studenten andere Grundsätze angelegt. Während für Rentner und Nichterwerbstätige nach Art. 1 Abs. 1 der RL 90/365/EWG und Art. 1 Abs. 1 der RL 90/364/EWG der Nachweis von Existenzmitteln in einer bestimmten Höhe verlangt wird, genügt es nach Art. 1 Abs. 1 der RL 93/96/EWG, dass Studenten durch eine Erklärung oder andere gleichwertige Mittel ausreichende Existenzmittel glaubhaft machen. Hierbei tritt das Anliegen des Gesetzgebers deutlich zu Tage, Studenten, welche bereits durch frühere Rechtsprechung des EuGH ein ausbildungsbezogenes Freizügigkeitsrecht genießen,68 nicht vor unüberwindbare Hindernisse zu stellen. Zugleich mag dadurch dem wachsenden Stellenwert der Bildung in Europa Genüge getan werden. Einzelne zogen daraus den Schluss, die im Rahmen des Grzelczyk-Verfahrens eingeschlagene Rechtsprechung lasse nur in sehr beschränktem Umfang Rückschlüsse auf die Freizügigkeitsrechte der Rentner (RL 90/365/EWG) und Nichterwerbstätigen (RL 90/364/EWG) zu. So will zum Beispiel Soria im Umkehrschluss daraus für Freizügigkeitsberechtigte, welche nicht Studenten sind, einen dauerhaften Nachweis der erforderlichen Existenzmittel verlangt sehen und begrenzt durch diese Bedingung gleichzeitig den Anwendungsbereich des Diskriminierungsverbots. Für Rentner und Nichterwerbstätige würde demnach nach dieser Ansicht kein Zugang zu sozialen Vergünstigungen im Aufenthaltsmitgliedstaat bestehen.69 Wie die nachfolgend ergangene Rechtsprechung bestätigt, sieht der EuGH zwischen Studenten einerseits und den sonstigen Nichterwerbstätigen andererseits keine derartigen Unterschiede und will diese Rechtsprechungsentwicklung offensichtlich nicht auf Studenten begrenzen.70 Eine Differenzierung ist völlig zu Recht abzulehnen; dahinter steht die Idee der Unionsbürgerschaft als grundlegendem Status aller Bürger, so dass gerade eine weitere Differenzierung nicht mehr angezeigt ist. Im Übrigen besteht der Unterschied zwischen Studenten einerseits und den Rentnern und sonstigen Nichterwerbstätigen andererseits nur darin, dass für erstere die Glaubhaftmachung ausreicht, während die andere Gruppe die Existenzmittel nachweisen muss. An der Tatsache aber, dass alle aufgrund der Aufenthaltsrichtlinien Freizügigkeitsberechtigten während der gesamten Dauer ihres Aufenthalts über ausreichende Existenz68

Siehe D. II. Soria, JZ 2002, S. 643 (649). 70 EuGH, Rs. C-224/98, D’Hoop, Slg. 2002, I-6191; Rs. C-413/99, Baumbast und R, Slg. 2002, I-7091; Rs. C-138/02, Collins, Slg. 2004, I-2703; Rs. C-456/02, Trojani, Slg. 2004, I-7573. 69

V. Aufenthaltsbeschränkungen nach der RL 2004/38/EG

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mittel verfügen und einen Krankenversicherungsschutz nachweisen müssen, ändert dieser Befund nichts.

V. Erlass aufenthaltsbeschränkender Maßnahmen nach dem Rechtsrahmen der RL 2004/38/EG V. Aufenthaltsbeschränkungen nach der RL 2004/38/EG

In Art. 14 der Freizügigkeitsrichtlinie unter der Überschrift „Aufrechterhaltung des Aufenthaltsrechts“ wird zwischen Unionsbürgern mit Aufenthaltsrecht nach Art. 6 (Recht auf Aufenthalt bis zu drei Monaten) und Unionsbürgern mit Aufenthaltsrechten nach den Art. 7 (Recht auf Aufenthalt für mehr als drei Monate), Art. 12 und Art. 13 differenziert. Während für Unionsbürger mit Aufenthaltsrecht bis zu drei Monaten Abs. 1 des Art. 14 bestimmt, dass ihnen das Aufenthaltsrecht zusteht, solange sie die Sozialhilfeleistungen des Aufnahmemitgliedstaats nicht unangemessen in Anspruch nehmen, regelt Art. 14 Abs. 2 für die andere Gruppe von EU-Bürger, dass ihnen das Aufenthaltsrecht zusteht, solange sie die in den Artikel 7, 12 und 13 genannten Voraussetzungen erfüllen, das heißt also, solange sie über ausreichende Existenzmittel und einen Krankenversicherungsschutz verfügen und damit keine Sozialhilfeleistungen in Anspruch nehmen müssen. Allerdings findet sich in Abs. 3 die Einschränkung, wonach die Inanspruchnahme von Sozialhilfe nicht automatisch zu einer Ausweisung führen darf. Dieser Maßstab gilt auch bereits für die Frage, ob der Aufenthaltstitel beendet werden kann. Er ist in den Begründungserwägungen (10) und (16) ausgedrückt: So sollten Personen während ihres ersten Aufenthalts die Sozialhilfeleistungen des Aufenthaltsstaates nicht unangemessen in Anspruch nehmen; daher sollte das Aufenthaltsrecht für eine Dauer von über drei Monaten bestimmten Bedingungen unterliegen. Die Argumentation des EuGH in der Grzelczyk-Entscheidung lässt sich natürlich auch auf diese Konstellation übertragen: Die Mitgliedstaaten wollten zwar nicht, dass Unionsbürger während ihres Aufenthalts die Sozialleistungen des Aufenthaltsstaats in unverhältnismäßiger Weise beanspruchen. Logische Schlussfolgerung daraus ist aber, dass eine angemessene Inanspruchnahme von Sozialhilfeleistungen möglich ist und damit auch nicht zur Beendigung des Aufenthaltsrechts berechtigt. Begründungserwägung Nr. (16) wiederholt diesen Grundsatz nochmals in ausführlicher Weise und gibt zugleich einige Abwägungsgesichtspunkte, welche die nationale Behörde im Rahmen ihres Ermessens zu berücksichtigen hat, an die Hand. „Der Aufnahmemitgliedstaat sollte prüfen, ob es sich bei dem betreffenden Fall um vorübergehende Schwierigkeiten handelt, und die Dauer des Aufenthalts, die persönlichen Umstände und gewährten Sozialhilfebetrag berücksichtigen, um zu beurteilen, ob der Leistungsempfänger die Sozialhilfeleistungen unangemessen in Anspruch genommen hat, und in diesem Fall seine Ausweisung zu veranlassen.“71

71

Vgl. Begründungserwägung (16) RL 2004/38/EG.

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F. Grenzen des Aufenthaltsrechts

Damit werden die oben dargestellten Gesichtspunkte – mit Ausnahme des Verschuldenskriteriums – aufgegriffen. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass das Aufenthaltsrecht über drei Monate nach Art. 7 an das Vorhandensein ausreichender finanzieller Mittel sowie eines Krankenversicherungsschutzes gebunden ist und prinzipiell bei Nichtvorliegen dieser Voraussetzungen unter Beachtung der Verhältnismäßigkeit beendet werden kann. Dabei ist zu beachten, dass ab einem dreimonatigen Aufenthalt die Mitgliedstaaten berechtigt sind, von den Unionsbürgern eine Anmeldung bei ihrer Behörde zu verlangen (Art. 8 Abs. 1, 2 RL 2004/38/EG). Hierbei eröffnet sich die Möglichkeit zu prüfen, ob ausreichende finanzielle Ressourcen vorhanden sind. Fehlen ausreichende Existenzmittel oder ein Krankenversicherungsschutz bereits nach einem 3-monatigen Aufenthalt, so sprechen in der Regel gewichtige Gründe für die Nichtfortsetzung des Aufenthaltsrechts.

VI. Weitere Rechtfertigungsmöglichkeiten VI. Weitere Rechtfertigungsmöglichkeiten

1. Der ordre-public-Vorbehalt Als weitere Schranken sind die ordre-public-Vorbehalte zu erwähnen.72 So sehen die Aufenthaltsrichtlinien auch Beschränkungsmöglichkeiten aus Gründen der öffentlichen Ordnung, der öffentlichen Sicherheit und der Volksgesundheit vor (Art. 2 Abs. 2 Satz 3 der Aufenthaltsrichtlinie – Studenten, Art. 2 Abs. 2 Satz 3 der Aufenthaltsrichtlinie – Rentner und Art. 2 Abs. 2 Satz 3 der Richtlinie über das Aufenthaltsrecht). Die neue Richtlinie über das Aufenthaltsrecht RL 2004/38/EG73 übernimmt die Vorbehalte in ihrem Art. 27. Darüber hinaus ergäbe sich der ordrepublic-Vorbehalt bereits aus der Anwendung der einheitlichen Schrankendogmatik der Grundfreiheiten. Wie ausgeführt wurde,74 stellen die Personenverkehrsfreiheiten speziellere Regelungen gegenüber dem Grundtatbestand des Art. 18 EGV dar. Die in Art. 39 Abs. 3, Art. 46 Abs. 1 und Art. 55 EGV enthaltenen Vorbehalte zugunsten der öffentlichen Ordnung, Sicherheit und Gesundheit sind Ausdruck einer gemeinschaftsimmanenten Schranke.75 Diese Rechtfertigungstatbestände erlauben den Mitgliedstaaten 72 So auch: Scheuing, Die Freizügigkeit der Unionsbürger in der Europäischen Union, in: Dreier (Hrsg.), Raum und Recht, FS 600 Jahre Würzburger Juristenfakultät, S. 103 (127); Hilf, in: Grabitz/Hilf, Art. 18, Rdn. 10; Kluth, in: Calliess/Ruffert, Art. 18, Rdn. 12; Kotalakidis, Von der nationalen Staatsangehörigkeit zur Unionsbürgerschaft, S. 164; Schweitzer/Hummer, Europarecht, Rdn. 820; O’Keeffe, Union Citizenship, in: O’Keeffe/Twomey (Hrsg.), Legal Issues of the Maastricht Treaty, S. 87 (93). 73 RL 2004/38/EG, ABl. Nr. L 158 vom 30.04.2004, S. 77 ff. 74 Siehe E. IV. 75 Becker, EuR 1999, S. 522 (530); Rengeling, Freizügigkeit in der Europäischen Union, in: Geis/Lorenz (Hrsg.), Staat-Kirche-Verwaltung, FS für Hartmut Maurer, S. 973 (985); Scheuing, Die Freizügigkeit der Unionsbürger in der Europäischen Union, in: Dreier (Hrsg.), Raum

VI. Weitere Rechtfertigungsmöglichkeiten

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„gegenüber den Staatsangehörigen anderer Mitgliedstaaten u. a. aus Gründen der öffentlichen Ordnung Maßnahmen zu ergreifen, die sie insofern bei ihren eigenen Staatsangehörigen nicht anwenden könnten, als sie nicht die Befugnis haben, diese auszuweisen oder ihnen die Einreise in das nationale Hoheitsgebiet zu untersagen.“76

Es ist im Folgenden vorrangig zu prüfen, ob der Bezug von Sozialhilfe respektive die Beantragung dieser Leistung aufenthaltsbeendende Maßnahmen nach den ordre-public-Grundsätzen zur Folge haben kann. Ausgangspunkt ist die Fragestellung, ob die Inanspruchnahme sozialer Grundleistungen durch Unionsbürger möglicherweise gegen die öffentliche Ordnung und Sicherheit verstößt. Für die Personenverkehrsfreiheiten werden die Begriffe der öffentlichen Ordnung, Sicherheit und Gesundheit im Rahmen der Richtlinie 64/221/EWG,77 nun Art. 27–33 RL 2004/38/EG, näher konkretisiert. Die Rechtsbegriffe sind gemeinschaftsrechtlich zu interpretieren, allerdings wird den Mitgliedstaaten ein weiter Beurteilungsspielraum zuerkannt.78 Der Begriff der öffentlichen Ordnung lässt sich als Oberbegriff im Sinne aller „staatlichen Interessen von fundamentaler Bedeutung“79 verstehen; die öffentliche Sicherheit betrifft „das Schutzsystem des Staates zur Erhaltung seines Gewaltmonopols, aber auch den Schutz der Existenz des Staates und seiner zentralen Einrichtungen“.80 Allerdings kann die bloße Störung der öffentlichen Ordnung, worum es sich bei jeder Gesetzesverletzung handelt, nicht bereits zu einschränkenden bzw. rechtsentziehenden Maßnahmen berechtigen. In Anlehnung an die gleichlautenden Begriffe in Art. 8–11 EMRK sowie des Protokolls Nr. 4 zur EMRK legt der EuGH die Tatbestände eng aus. Der Entzug des Aufenthaltsrechts kann dann gerechtfertigt sein, wenn der weitere Aufenthalt bzw. das Verhalten der Unionsbürger eine tatsächliche und hinreichend schwerwiegende Gefährdung der öffentlichen Ordnung zur Folge hat, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt.81 Die zum Schutz der öffentlichen Ordnung und Recht, FS 600 Jahre Würzburger Juristenfakultät, S. 103 (127); kritisch: Pernice, Der verfassungsrechtliche Status der Unionsbürger im Vorfeld des Vertrags über eine Verfassung für Europa, in: Colneric (Hrsg.), Une communauté de droit, FS Iglesias, S. 177 (188). 76 EuGH, Rs. C-348/96, Calfa, Slg. 1999, I-11 mit Verweis auf Rs. 41/74, Van Duyn, Slg. 1974, 1337, Rdn. 22 f.; Verb. Rs. 115/81 und 116/81, Adoui und Cornuaille, Slg. 1982, 1665, Rdn. 7; Verb. Rs. C-65/95 und C-111/95, Shingara und Radiom, Slg. 1997, I-3343, Rdn. 28. 77 RL 64/221/EWG des Rates vom 25.2.1964, ABl. 1964, S. 850. 78 Hailbronner, in: Dauses (Hrsg.), Handbuch des EU-Wirtschaftsrechts, Band 1, D. I. Rdn. 48; Brechmann in: Calliess/Ruffert, Art. 39, Rdn. 90; EuGH, Rs. 41/74, van Duyn, Slg. 1974, 1337, Rdn. 19; Rs. 30/77, Bouchereau, Slg. 1977, 1999, Rdn. 33, 35; Verb. Rs. 249/86, Kommission/Deutschland, Slg. 1989, 1263, Rdn. 19; Verb. Rs. C-65/95 und C-111/95, Shingara und Radiom, Slg. 1997, I-3341, Rdn. 30. 79 Becker, in: Schwarze, Art. 30 Rdn. 11. 80 Epiney, in: Calliess/Ruffert, Art. 30 Rdn. 33. 81 EuGH, Rs. 36/75, Rutili, Slg. 1975, 1219, Rdn. 26 ff.; Rs. 30/77, Bouchereau, Slg. 1977, 1999, Rdn. 33 ff.; Verb. Rs. 115/81 und 116/81, Adoui, Slg. 1982, 1665, Rdn. 8; Rs. 249/86, Kommission/Deutschland, Slg. 1989, 1263, Rdn. 17; Rs. C-114/97, Kommission/Spanien, Slg. 1998, I-6717, Rdn. 46; Rs. C-348/96, Calfa, Slg. 1999, I-11, Rdn. 21; Rs. C-355/98, Kommission/Belgien, Slg. 2000, I-1221, Rdn. 28; Hailbronner, ZAR 1985, S. 108 ff.

108

F. Grenzen des Aufenthaltsrechts

und Sicherheit vorzunehmenden Beschränkungen der Rechte dürfen nicht den Rahmen des für eine demokratische Gesellschaft erforderlichen Schutzniveaus überschreiten.82 Ein Verstoß gegen ausländerrechtliche Meldevorschriften bildet keinen hinreichenden Grund, das Aufenthaltsrecht des Unionsbürgers zu beenden. Der Hauptanwendungsbereich der Vorschrift liegt im Bereich strafgerichtlicher Verurteilungen. In den verbundenen Rechtssachen Orfanopoulos und Oliveri beschäftigte sich der EuGH mit der Frage, unter welchen Voraussetzungen man EU-Bürger ausweisen kann, die aufgrund von Betäubungsmitteldelikten straffällig geworden sind. Nach ständiger Rechtsprechung ist die Arbeitnehmerfreizügigkeit weit auszulegen, während die Ausnahmen davon eng zu handhaben sind.83 Zusätzlich „erfordert der Unionsbürgerstatus eine besonders enge Auslegung der Ausnahmen von dieser Freiheit.“84 Eine Ausweisung aus generalpräventiven Gründen ist daher nicht möglich; ebenso ist eine automatische Ausweisung allein aufgrund einer strafrechtlichen Verurteilung nicht möglich.85 In der Rechtssache Gheorghe Jipa86 musste sich der Gerichtshof mit der Frage befassen, ob die rumänische Regelung, wonach einem rumänischen Staatsangehörigen für einen Zeitraum von bis zu drei Jahren untersagt werden kann, sich in einen anderen Mitgliedstaat zu begeben, mit Art. 18 EGV und Art. 27 RL 2004/38/ EG vereinbar ist. Im konkreten Fall verließ Herr Jipa am 10.09.2006 Rumänien und ließ sich in Belgien nieder. Bereits im November 2006 wurde er allerdings wegen „unbefugten Aufenthalts“ in diesem Mitgliedstaat gemäß dem Rückübernahme-Übereinkommen nach Rumänien zurückgeführt. Nach dem rumänischen Recht kann die Ausübung des Rechts der rumänischen Staatsbürger auf Freizügigkeit im Ausland für längstens drei Jahre beschränkt werden, wenn der Staatsbürger kraft eines Rückübernahme-Übereinkommens zwischen Rumänien und einem dritten Staat zurückgeführt wurde. Mit Urteil vom 10.07.2008 stellte der Gerichtshof fest, dass bei einem derart gelagerten Sachverhalt, „der Umstand, dass ein Unionsbürger einer Maßnahme der Rückführung aus dem Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats unterworfen wurde, in dem er sich unbefugt aufgehalten hatte, von seinem Herkunftsmitgliedstaat nur dann berücksichtigt werden“ könne, „um sein Recht auf Freizügigkeit zu beschränken, wenn sein persönliches Verhalten eine tatsächliche, gegenwärtige und erhebliche Gefahr darstellt, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt.“87

82

EuGH, Rs. 36/75, Rutili, Slg. 1975, 1219, Rdn. 32. EuGH, verb. Rs. C-482/01 und C-493/01, Orfanopoulos und Oliveri, Slg. 2003, I-9607, Rdn. 64; C-357/98, Yiadom, Slg. 2000, I-9265, Rdn. 24; Rs. 67/74, Bonsignore, Slg. 1975, 297, Rdn. 6. 84 EuGH, verb. Rs. C-482/01 und C-493/01, Orfanopoulos und Oliveri, Slg. 2003, I-9607, Rdn. 65. 85 EuGH, verb. Rs. C-482/01 und C-493/01, Orfanopoulos und Oliveri, Slg. 2003, I-9607, Rdn. 68–71. 86 EuGH, Rs. C-33/07, Gheorghe Jipa, noch nicht veröffentlicht. 87 EuGH, Rs. C-33/07, Gheorghe Jipa, noch nicht veröffentlicht, Rdn. 26. 83

VI. Weitere Rechtfertigungsmöglichkeiten

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Im Rahmen der Inanspruchnahme von Sozialleistungen durch Staatsangehörige anderer Mitgliedstaaten können die Mitgliedstaaten argumentieren, ihr finanzielles Gleichgewicht der Sozialsysteme werde erschüttert. Es ist vorstellbar, dass einzelne Systeme der sozialen Sicherheit an die Grenzen ihrer Belastbarkeit und ihrer Funktionsfähigkeit stoßen und dadurch könnte es zu einer Gefährdung der öffentlichen Ordnung oder Sicherheit kommen. Zunächst ist zu bemerken, dass im Rahmen des Art. 3 der RL 64/221/EWG bzw. Art. 27 Abs. 2 der RL 2004/38/EG bei Maßnahmen der öffentlichen Sicherheit ausschließlich das persönliche Verhalten der Person ausschlaggebend sein darf. Darin ist ein aktives Element enthalten,88 woraus zu folgern ist, dass ein unverschuldeter Eintritt der sozialen Bedürftigkeit nicht zu aufenthaltsbeendenden Maßnahmen berechtigen würde.89 Materielle Grenzen sind den Mitgliedstaaten insofern gesetzt, als nach Art. 2 Abs. 2 RL 64/221/EWG bzw. Art. 27 Abs. 1 Satz 2 RL 2004/38/EG aufenthaltsbeschränkende Maßnahmen nicht zu wirtschaftlichen Zwecken ergriffen werden können. Hintergrund dieser Bestimmung ist, dass es den Mitgliedstaaten nicht möglich sein soll, sich allein wegen wirtschaftlicher Nachteile oder zum Zwecke der Wirtschaftslenkung oder Erreichung wirtschaftspolitischer Zielvorgaben dem Regime der Grundfreiheiten entziehen zu können.90 So kann beispielsweise Art. 30 EGV nicht als Rechtfertigung herangezogen werden, um die – durch den freien Warenverkehr verursachten – wirtschaftlichen Folgen zu vermeiden.91 Wirtschaftliche Beweggründe wie beispielsweise Arbeitslosigkeit oder sonstige arbeitsmarktpolitische Aspekte, der Konkurrentenschutz oder die kapitalmäßige „Überfremdung“92 rechtfertigen keine Beschränkung der Grundfreiheiten. Vereinzelt wird die Frage aufgeworfen, ob allein wirtschaftspolitische Aspekte, nicht aber rein fiskalische Gesichtspunkte zu den wirtschaftlichen Zwecken im obigen Sinne zu rechnen sind.93 Allerdings werden wirtschaftspolitische Interessen und fiskalische Beweggründe oftmals nicht leicht voneinander trennen zu sein. Der Begriff „wirtschaftliche Zwecke“ ist daher grundsätzlich weit zu verstehen; nur so 88

Willms, Soziale Sicherung durch europäische Integration, S. 130. BayVGH, InfAuslR 1983, S. 242 (243); Wilms, Soziale Sicherung durch europäische Integration, S. 130; Höfler, NVwZ 2002, S. 1206 (1208); Nettesheim, Die politische Gemeinschaft der Unionsbürger, in: Blankenagel/Pernice/Schultze-Fielitz (Hrsg.), Verfassung im Diskurs der Welt, FS Häberle, S. 193 (206). 90 Für den Bereich des freien Warenverkehrs: EuGH, Rs. 7/61, Kommission/Italien, Slg. 1961, 693 (720); Rs. 7/68, Kommission/Italien, Slg. 1968, 633 (644), Rs. C-120/95, Decker, Slg. 1998, I-1831, Rdn. 39. Für den freien Dienstleistungsverkehr: Rs. C-398/95, Settg, Slg. 1997, I-3091, Rdn. 23; Rs. C-185/96, Kohll, Slg. 1998, I-1931, Rdn. 41; vgl. auch: EuGH, Rs. 131/85,Gül, Slg. 1986, 1573 (1589); Rs. C-114/97, Kommission/Spanien, Slg. 1998, I-6717 (6743). 91 Epiney, in: Calliess/Ruffert, Art. 30 Rdn. 14. 92 Grabitz, Europäisches Bürgerrecht, S. 95. 93 Schulz, Freizügigkeit für Unionsbürger, S. 307; Willms, Soziale Sicherung durch europäische Integration, S: 130 mit Verweis (Rdn. 166) auf die amtliche Begründung zum AufenthaltG/EGW, BT-Drs. V/4125, S. 13; Knopp/Fichtner, Anhang zu §§ 119, 120 BSHG, Anm. 8. 89

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F. Grenzen des Aufenthaltsrechts

kann einer schleichenden Aushöhlung der Grundfreiheiten entgegengewirkt werden.94 Maßnahmen, welche dazu dienen, die öffentlichen Ausgaben gering zu halten, können über diesen Weg nicht gerechtfertigt werden.95 In diesem Sinne sind nach überwiegender Ansicht auch sozial- und fiskalpolitische Erwägungen von den wirtschaftlichen Zwecksetzungen mitumfasst.96. Aufenthaltsbeendende Maßnahmen, welche allein auf den Tatbestand der Inanspruchnahme von Sozialhilfe oder von sonstigen sozialen Grundleistungen gestützt werden, sind nach dem ordre-public-Vorbehalt nicht möglich.97 Sie fallen unter das Verbot der Verwertung von wirtschaftlichen Erwägungen. Wollen die Vertragsgeber derartige Gründe dennoch zulassen, so muss dies durch eine besonders angeordnete zusätzliche Beschränkungsmöglichkeit erfolgen. Im konkreten Fall der sozialen Leistungen an sog. „nichterwerbstätige“ Unionsbürger ist dies durch die Vorbehalte ausreichender Existenzmittel geschehen. Die vorgetragenen Aspekte einer Gefährdung des nationalen Sozialsystems können nicht im Wege der ordre-public-Gründe geltend gemacht werden.

2. Zwingende Gründe des Allgemeininteresses Möglicherweise sprechen aber zwingende Gründe des Allgemeininteresses gegen die Inanspruchnahme von sozialen Grundleistungen durch Unionsbürger. Über die geschriebenen Rechtfertigungsgründe hinaus sind zusätzlich sog. immanente Schranken anerkannt, welche bei zwingenden Erfordernissen weitere Beschränkungsmöglichkeiten zulassen.98 Hintergrund dieser Entwicklung waren insbesondere die nachfolgenden zwei Gesichtspunkte: Einerseits erwiesen sich die gesetzlich normierten Schranken angesichts der Ausdehnung des Schutzbereichs der Grundfreiheiten hin bis zu Beschränkungsverboten als unzureichend. Andererseits konnte der Gerichtshof in Anbetracht seiner dogmatisch vorgegebenen restrik94 Wölker, in: von der Groeben/Thiesing/Ehlermann, Art. 48 Rdn. 97; Hailbronner, Ausländerrecht, D 1 § 12 Rdn. 10. 95 EuGH, Rs. 104/75, de Peijper, Slg. 1976, 613, Rdn. 14 (18); Rs. C-128/89, Kommission/ Italien, Slg. 1990, I-3239, Rdn. 22. 96 Nowak, EuZW 2003, S. 101, 107. 97 EuGH, Rs. 131/85, Gül, Slg. 1986, 1573, 1589; Rs. C-114/97, Kommission/Spanien, Slg. 1998, I-6717, 6743; Rs. 104/75, de Peijper, Slg. 1976, 613, Rdn. 14/18. Brechmann, in: Calliess/Ruffert, Art. 39 Rdn. 92 mit Verweis auf Hailbronner, HK-EUV, Art. 48, Rdn. 86; Schulz, Freizügigkeit für Unionsbürger, S. 303 ff,; Zuleeg, NJW 1987, S. 2193 (2197); Soria, JZ 2002, S. 643 (650). So auch: Karpenstein, in: von der Groeben/Thiesing/Ehlermann, Art. 48 Rdn. 42; Troberg, in: von der Groeben/Thiesing/Ehlermann, Art. 56 Rdn. 5; Hanau, EuR 1974, S. 197 (202); Sieveking, WuV 1987, S. 179 (190); Willms, Soziale Sicherung durch europäische Integration, S. 131; Schulz, Freizügigkeit für Unionsbürger, S. 307; Zuleeg, NJW 1987, S. 2193 (2197); Wölker/Grill, in: von der Groeben/Schwarze, Art. 39 Rdn. 134. 98 Grundlegend: EuGH, Rs. 129/78, Cassis-de-Dijon, Slg. 1979, 649, (662); Rs. 33/74, van Binsbergen, Slg. 1974, 1299 (1309 f.), Rdn. 10 f.

VI. Weitere Rechtfertigungsmöglichkeiten

111

tiven Interpretation der geschriebenen Rechtfertigungstatbestände diese nicht ausbauen.99 Nicht ganz klar ist, wann der Anwendungsbereich der zwingenden Erfordernisse gegeben ist. Explizit begrenzt der Europäische Gerichtshof die Anwendung dieser Rechtfertigungsgründe zwar auf unterschiedslos anwendbare Maßnahmen,100 in der Sache ergingen aber auch Urteile, die dem widersprechen: So werden zum Teil auch zwingende Erfordernisse auf formal diskriminierende Maßnahmen angewandt.101 Eine eindeutige Klärung des Anwendungsbereichs des ungeschriebenen Rechtfertigungsgrundes der zwingenden Erfordernisse steht noch aus.102 Es ist daher vorstellbar, dass sich die Mitgliedstaaten – zumindest hilfsweise – auch bei diskriminierenden Maßnahmen auf diesen Rechtfertigungsgrund berufen. Als zwingende Erfordernisse, welche eine Beschränkung der Rechte rechtfertigen, sind beispielsweise Gründe des Verbraucherschutzes,103 des Arbeitnehmerschutzes104 oder die Lauterkeit des Handelsverkehrs105 vorstellbar. Dabei ist dem Grunde nach notwendig, dass das zwingende Erfordernis einen nicht-wirtschaftlichen Charakter aufweist.106 Demnach wäre – vergleichbar mit den Grundsätzen des ordre-public-Vorbehalts – eine Beschränkung zum Schutz finanzieller Interessen unzulässig. Anerkanntermaßen gilt dies nicht für Bereiche, welche überwiegend im Zuständigkeitsbereich der Mitgliedstaaten anzusiedeln sind (wie z. B. Systeme der nationalen Sicherheit oder das nationale Steuerrecht). So legte der EuGH in seinen Urteilen Decker und Kohll dar, dass „eine erhebliche Gefährdung des finanziellen Gleichgewichts des Systems der sozialen Sicherheit einen zwingenden Grund des Allgemeininteresses darstellen kann“107 und folglich die Beschränkung rechtfertigen könne. Gefordert wird dabei allerdings eine erhebliche finanzielle Belastung.108 Die in diesen Rechtssachen streitgegenständlichen Genehmigungserfordernisse für den Kauf medizinischer Produkte im Ausland bzw. die Kostenerstattung für medizinische Behandlungen greifen in die Freiheit des 99

Arndt, Europarecht, S. 150. EuGH, Rs. C-1/90, Aragonesa, Slg. 1991, I-4551, Rdn. 13; Rs. 188/79, Gilli u. Andres, Slg. 1980, 2071, Rdn. 6. 101 Vgl. bereits: EuGH, Rs. 16/83, Prantl (Bocksbeutel), Slg. 1984, 1299, Rdn. 21 ff. 102 Becker, in: Schwarze, Art. 30 Rdn. 42; Kingreen, Struktur der Grundfreiheiten, S. 157 m. w. N. in FN 373. 103 EuGH, Rs. C-220/83, Kommission/Frankreich; Slg. 1986, 3663, Rdn. 20. 104 EuGH, Rs. C-279/80, Webb, Slg. 1981, 3305, Rdn. 19; Rs. C-113/89, Rush Portuguesa, Slg. 1990, I-1417, Rdn. 18; Rs. C-272/94, Guiot, Slg. 1996, I-1905, Rdn. 16. 105 EuGH, Rs. C-384/93, Alpine Investments, Slg. 1995, I-1141. 106 EuGH, Rs. C-483/99, Goldene Aktie III, Slg. 2002, I-4781. 107 Rs. C-120/95, Decker, Slg. 1998, I-1831, Rdn. 39, Rs. C-185/96, Kohll, Slg. 1998, I-1931, Rdn. 41 = JZ 1998, 1166 m. Anm. Sodan; EuGH, Rs. C-368/98, Vanbraekel, Slg. 2001, I-5363, Rdn.. 47. Für die Wahrung der Kohärenz des nationalen Steuersystems: EuGH, Rs. C-324/00, Lankhorst-Hohorst, Slg. 1998, I-4695 ff. Vgl. dazu auch: Novak, EuZW 1998, S. 366; Becker, NZS 1998, S. 359 ff., Eichenhofer, VSSR 1999, S 101 f. 108 Vgl. EuGH, Rs. C.158/96, Kohll, Slg. 1998, I-1931, 1948 = JZ 1998, 1166 m. Anm. Sodan; EuGH, Rs. C-368/98, Vanbraekel, Slg. 2001, I-5363, Rdn. 47. 100

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F. Grenzen des Aufenthaltsrechts

Waren- bzw. Dienstleistungsverkehrs ein, lassen sich jedoch dem Grunde nach mit einem zwingenden Grund des Allgemeininteresses rechtfertigen. Diese ungeschriebenen Schranken bringt man nur subsidiär zur Anwendung, um eine Lücke zu füllen; darüber hinaus stehen sie unter dem Vorbehalt der Verhältnismäßigkeitsprüfung. Als weitere Einschränkung soll nach bisheriger Ansicht der Tatbestand des zwingenden Erfordernisses ausschließlich zur Rechtfertigung von unterschiedslos wirkenden Maßnahmen herangezogen werden.109 Das bedeutet, die ungeschriebenen Schranken gelangen nur bei solchen Beschränkungen zur Anwendung, welche nicht in Diskriminierungen bestehen – seien es unmittelbare oder mittelbare. In jüngster Zeit wird vermehrt eine Ausdehnung des Rechtfertigungsgrundes „zwingendes Erfordernis“ auf mittelbare bzw. indirekte Diskriminierungen gefordert.110 Auch die Rechtsprechung des EuGH hat sich dieser Ansicht wohl mittlerweile angeschlossen.111 Eine Anwendung des Tatbestands auf sämtliche Beschränkungen, also auch auf unmittelbare Diskriminierungen, ist abzulehnen. Direkte Diskriminierungen aufgrund der Staatsangehörigkeit stellen die gravierendste Form der Beeinträchtigung dar und können nur durch Gründe gerechtfertigt werden, die sich ausdrücklich unmittelbar aus dem Gesetz ergeben. Im Gegensatz dazu erscheint es zweckmäßig, den ungeschriebenen Rechtfertigungstatbestand auch auf mittelbare Diskriminierungen auszudehnen. In der Praxis ist eine exakte Abgrenzung zwischen faktischer Diskriminierung und Beschränkung nämlich kaum zu erbringen. Dieser im Bereich der Grundfreiheiten anerkannte Ansatz kann auch auf das allgemeine Freizügigkeitsrecht übertragen werden. In seinem Grzelczyk-Urteil nimmt der Gerichtshof auf die sechste Begründungserwägung der Richtlinie 93/96 Bezug und stellt klar, dass danach die öffentlichen Finanzen des Aufnahmemitgliedstaates nicht über Gebühr belastet werden dürfen.112 Sind die öffentlichen Finanzen „über Gebühr belastet“, so ergeben diese Erwägungen durchaus einen zwingenden Grund des Allgemeininteresses, welcher zu Beschränkungen des Freizügigkeitsrechts berechtigt. Ist der Aufnahmemitgliedstaat durch die soziale Gleichbehandlung aller Unionsbürger in finanzieller Hinsicht erheblich belastet, so kann er aufenthaltsbeendende Maßnahmen erlassen. Primär ist dieser Sachverhalt über die spezifischen Sozialvorbehalte einer angemessenen Lösung zuzuführen. Mit ihnen stellt der Gesetzgeber in der Regel ein wirksames Mittel gegen die ungerechtfertigte Inanspruchnahme des Aufenthaltsrechts in einem anderen Mitgliedstaat bei nicht ausreichenden eigenen finanziellen Mitteln dar. Ein Rückgriff 109 Kingreen, Die Struktur der Grundfreiheiten des Europäischen Gemeinschaftsrechts, S. 63; Hailbronner, in: HK-EUV, Art. 60, Rdn. 29. 110 Kluth, in: Calliess/Ruffert, Art. 50 Rdn. 57; Arndt, Europarecht, S. 152. 111 EuGH, Rs. C-120/95, Decker, Slg. 1998, I-1831; Rs. C-185/96, Kohll, Slg. 1998, I-1931; Rs. C-18/95, Terhoeve, Slg. 1999, I-345 f.; Rs. C-281/98, Angonese,Slg. 2000, I-4139. 112 EuGH, Rs. C-184/99, Grzelczyk, Slg. 2001, I-6193 Rdn. 44.

VI. Weitere Rechtfertigungsmöglichkeiten

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auf die zwingenden Gründe des Allgemeinwohls kommt nur subsidiär in Betracht. Andererseits ist völlig ungeklärt, wann die öffentlichen Finanzen über Gebühr belastet sind. In der Tat dürften, wie bereits oben mehrfach dargestellt, angesichts der substanziellen Bedeutung der Unionsbürgerschaft und des daraus ableitbaren Freizügigkeitsrechts an die Darlegungslast des Aufenthaltsstaates hohe Erwartungen zu stellen sein.113 In der Rechtssache Gottardo, in welcher der Gerichtshof zu entscheiden hatte, ob der persönliche Anwendungsbereich bilateraler Sozialversicherungsabkommen auf alle Unionsbürger ausgedehnt werden soll, wies der EuGH die von Italien vorgetragene Gefahr einer übermäßigen Belastung des öffentlichen Haushaltes pauschal zurück.114

113 114

Zutreffend: Soria, JZ 2002, S. 643 (650); Höfler, NVwZ 2002, S. 1206 (1207). EuGH, Rs. C-55/00, Gottardo, Slg. 2002, I-413, Rdn. 38.

G. Das allgemeine Freizügigkeitsrecht als Beschränkungsverbot G. Art. 18 EGV als Beschränkungsverbot Beschränkungsverbote gehen in ihrer Bedeutung über die der Diskriminierungsverbote insofern hinaus, als sie sich nicht nur auf die Abwehr von Schlechterstellungen beschränken, sondern den Begünstigten in jeder Hinsicht vor Beeinträchtigungen seiner Freiheit schützen. Sie knüpfen folglich nicht an eine Diskriminierung aufgrund der Staatsangehörigkeit an, sondern erfassen unterschiedslose Behinderungen und Beschränkungen des in Rede stehenden Rechts. Abstrahierend kann in diesem Kontext daher auch von einem Freiheitsrecht gesprochen werden.1

I. Ausbau der Grundfreiheiten zu Beschränkungsverboten I. Ausbau zu Beschränkungsverboten

Im Hinblick auf die vier Grundfreiheiten des EGV ist anerkannt, dass diese nicht nur Diskriminierungsverbote, sondern auch ein allgemeines Beschränkungsverbot enthalten.2 Diese Ausweitung erfolgte zunächst mit den Entscheidungen Dassonville und Cassis de Dijon für die Warenverkehrsfreiheit, gefolgt von dem Fall van Binsbergen für die Dienstleitungsfreiheit und die Gebhard-Entscheidung im Bereich der Niederlassungsfreiheit. Ob auch die Arbeitnehmerfreizügigkeit als Beschränkungsverbot ausgelegt werden kann, war lange fraglich; mittlerweile bejaht die überwiegende Ansicht dies. Seit dem Fall Bosman erfolgt diese Ausdehnung auch durch den EuGH. Von besonderem Interesse für die vorliegende Abhandlung ist die nähere Betrachtung der Entwicklung im Bereich der Personenverkehrsfreiheiten.

1. Arbeitnehmerfreizügigkeit und Beschränkungsverbot Bereits Generalanwalt Lenz zeichnete in seinen Schlussanträgen im BosmanFall die Entwicklung zu einem Beschränkungsverbot vor, indem er darlegte, dass Art. 39 EGV eine Beschränkung der Freizügigkeit als Diskriminierung von Personen, welche das Land verlassen, gegenüber solchen, die im Land verbleiben woll1 Vgl. z. B. Lackhoff, Die Niederlassungsfreiheit des EGV- nur ein Gleichheits- oder auch ein Freiheitsrecht?, S. 213. 2 EuGH, Rs. 8/74, Dassonville, Slg. 1974, 837, Rdn. 5; EuGH, Rs. 33/74, van Binsbergen Slg. 1974, 1299, Rdn. 10 ff.; EuGH Rs. 120/78, Rewe (Cassis de Dijon), Slg. 1979,649 ff.; EuGH Rs. C-55/94, Gebhard, Slg. 1995, I-4165.

I. Ausbau zu Beschränkungsverboten

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ten, verbiete.3 Gegenstand waren Transferbestimmungen und Ausländerklauseln der nationalen Fußballverbände. Die Transferleistungen haben zur Folge, dass ein Berufsfußballer auch nach Ende seines Vertrags von einem neuen Verein nur beschäftigt werden kann, wenn dieser an seinen alten Arbeitgeber eine Transferoder Ausbildungsentschädigung zahlt. Die Ausländerklauseln bestimmten, dass bei Verbandsspielen innerhalb einer Mannschaft nur eine bestimmte Höchstzahl an Spielern mit Staatsangehörigkeit anderer Staaten eingesetzt werden durften. Diese beiden Regelungen erklärte der EuGH in seinem Bosman-Urteil mit der Arbeitnehmerfreizügigkeit für unvereinbar. Dabei bestätigt er in der Sache die Auffassung des Generalanwalts: „Der Gerichtshof hat ferner die Ansicht vertreten, dass sämtliche Vertragsbestimmungen über die Freizügigkeit den Gemeinschaftsangehörigen die Ausübung jeder Art von Berufstätigkeit im Gebiet der Gemeinschaft erleichtern sollen und Maßnahmen entgegenstehen, die die Gemeinschaftsangehörigen benachteiligen können, wenn sie im Gebiet eines anderen Mitgliedstaats eine wirtschaftliche Tätigkeit ausüben wollen.“4

Zur Ausübung einer wirtschaftlichen Tätigkeit haben die Staatsangehörigen der Mitgliedstaaten das Recht, ihr Land zu verlassen, um sich in das Gebiet eines anderen Mitgliedstaates zu begeben und sich dort aufzuhalten.5 „Bestimmungen, die einen Staatsangehörigen eines Mitgliedstaats daran hindern oder davon abhalten, sein Herkunftsland zu verlassen, um von seinem Recht auf Freizügigkeit Gebrauch zu machen, stellen daher Beeinträchtigungen dieser Freiheit dar, auch wenn sie unabhängig von der Staatsangehörigkeit der betroffenen Arbeitnehmer Anwendung finden.“6

In einer Reihe weiterer Urteile bestätigte der Europäische Gerichtshof diesen Ansatz; zwischenzeitlich ist er gängige Rechtsprechung.7 In der Rechtssache Graf ging es um die Frage, ob es gegen Art. 39 EGV verstößt, dass sich der frühere österreichische Arbeitgeber des deutschen Staatsangehörigen Graf weigerte, ihm eine Abfertigung (Kündigungsabfindung) zu zahlen, nachdem er gekündigt hatte, um in Deutschland eine Berufstätigkeit auszuüben. In § 23 Abs. 7 des Österreichischen Angestelltengesetzes ist geregelt, dass der Anspruch auf Abfertigung entfällt, wenn der Angestellte kündigt, wenn er ohne wichtigen Grund vorzeitig austritt und wenn ihn ein Verschulden an der Entlassung trifft. In seiner Entscheidung stellt der Gerichtshof wiederholt klar, dass innerhalb von Art. 39 EGV sowohl of3 Generalanwalt Lenz, Schlussanträge v. 20.9.1995, Rs. C-415/93, Bosman, Slg. 1995, I-4921; Rdn. 154; Roloff, Das Beschränkungsverbot des Art. 39 EG (Freizügigkeit) und seine Auswirkungen auf das nationale Arbeitsrecht, S. 30. 4 EuGH, Rs. C-415/93, Bosman, Slg. 1995, I-4921/5068 ff. Rdn. 95. 5 Vgl. insbesondere EuGH, Rs. 363/89, Roux, Slg. 1991, I-273, Rdn. 9; und EuGH, Rs., Singh, Slg. 1992, I-4265, Rdn. 17. 6 EuGH, Rs. C-415/93, Bosman, Slg. 1995, I-4921/5068 ff. Rdn. 96. 7 EuGH, Rs. C-18/95, Terhoeve, Slg. 1999, I-345, Rdn. 37,39; EuGH, Rs. C-190/98, Graf, Slg. 2000, I-493; Rdn. 18, 21; EuGH, Rs. C-176/96, Lehtonen, Slg. 2000, I-2681, Rdn. 47, 49; EuGH, Rs. C-162/99, Kommission/Italien, Slg., Rdn. 20.

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G. Art. 18 EGV als Beschränkungsverbot

fene als auch verschleierte Diskriminierungen dem Eingriffsverbot unterfielen. Im vorliegenden Sachverhalt sei die Regelung aber unabhängig von der Staatsangehörigkeit anwendbar, so dass sie weder unter eine offene noch untere eine versteckte Diskriminierung subsumiert werden könne.8 Allerdings können auch unabhängig von der Staatsangehörigkeit anwendbare Regelungen die Freizügigkeit beeinträchtigen.9 Zugleich schränkt der EuGH diesen Grundsatz ein, indem er feststellt: „Dies ist jedoch nur dann der Fall, wenn sie den Zugang der Arbeitnehmer zum Arbeitsmarkt beeinflussen.“10 Vorliegend sei aber das österreichische Angestelltengesetz nicht dazu geeignet, den Arbeitnehmer daran zu hindern, sein Arbeitsverhältnis zu beenden, um eine Tätigkeit in einem anderen Mitgliedstaat aufzunehmen. Eine weitere Bestätigung erfuhr die Lehre vom Beschränkungsverbot in der Rechtssache Lehtonen. Es ging dabei um einen finnischen Basketballspieler, welcher im April 1996 einen Arbeitsvertrag mit einem belgischen Basketballverein abschloss und anschließend auch bei Spielen dieses Vereins eingesetzt wurde. Der belgische Verein Castors Braine wurde deshalb mit Sanktionen belegt, denn er hatte gegen die Regelung verstoßen, wonach europäische Spieler, die nach dem 28. Februar eines Jahres Mitglied eines belgischen Vereins werden, nicht in der laufenden Saison eingesetzt werden dürfen. Der Gerichtshof kam zum Ergebnis, dass die Transferfristen-Regelung ein Hindernis für die Freizügigkeit der Arbeitnehmer darstellt: „Gleichwohl kann die fragliche Regelung die Freizügigkeit von Spielern, die ihre Tätigkeit in einem anderen Mitgliedstaat ausüben wollen, dadurch einschränken, daß sie es belgischen Vereinen untersagt, Basketballspieler aus anderen Mitgliedstaaten bei Meisterschaftsspielen einzusetzen, wenn diese Spieler erst nach einem bestimmten Zeitpunkt verpflichtet wurden.“11 In der Rechtssache Terhoeve geht es im Kern um die Diskriminierung eines von seiner Freizügigkeit Gebrauch machenden Inländers gegenüber den sonstigen, d. h. nicht freizügigkeitsrechtlich aktiven Inländern. Zugrunde liegt der Sachverhalt des Herrn Terhoeve, eines niederländischen Staatsangehörigen, welcher vom 1. Januar bis 6. November 1990 im Vereinigten Königreich arbeitete. Am 7. November 1990 verlegte er seine Wohnung in die Niederlande und arbeitete auch dort. Später wurde der Kläger einer kombinierten Veranlagung unterzogen. So zahlte er für die Zeit, die er im Jahre 1990 gebietsansässig war, 1441 HFL (Guldenwährung der Niederlande) an Sozialversicherungsbeiträgen und 9309 HFL für die Zeit, in der er in den Niederlanden nicht gebietsansässig war. Zusammen beliefen sich die vom Kläger durch die beiden Veranlagungsbescheide verlangten Sozialversicherungsbeiträge auf 10750 HFL. Entsprechend den niederländischen 8 9 10 11

EuGH, Rs. C-190/98, Graf, Slg. 2000, I-493, Rdn. 15 f. EuGH, Rs. C-190/98, Graf, Slg. 2000, I-493, Rdn. 23. EuGH, Rs. C-190/98, Graf, Slg. 2000, I-493, Rdn. 23. EuGH, Rs. C-176/96, Lehtonen, Slg. 2000, I-2681, Rdn. 49.

I. Ausbau zu Beschränkungsverboten

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Rechtsvorschriften hätte aber ein Steuerpflichtiger, der das ganze Jahr über gebietsansässig bzw. nichtgebietsansässig war, nur Sozialversicherungsbeiträge bis zum Höchstbetrag in Höhe von 9 309 HFL entrichten müssen. Da der Kläger während eines Jahres sowohl gebietsansässig als auch nichtgebietsansässig war, musste er einen den Höchstbetrag übersteigenden Beitrag leisten. Dadurch wurden ihm jedoch keine zusätzlichen Leistungen eröffnet. Unter Berufung auf die oben erwähnte Rechtsprechung zum Beschränkungsverbot gelangt der Gerichtshof hier zu dem Ergebnis, dass „eine nationale Regelung wie diejenige, um die es im Ausgangsverfahren geht, ein grundsätzlich durch Artikel 48 EG-Vertrag verbotenes Hemmnis für die Freizügigkeit der Arbeitnehmer“12 darstellt. An dieser Ausweitung wird auf zweifache Weise Kritik geübt: Zum einen wird auf die Schwierigkeit der genauen Abgrenzung zwischen mittelbarer Diskriminierung und Beschränkung hingewiesen. Diese Argumentation ergibt sich insbesondere auch vor dem Hintergrund einer EuGH-Rechtsprechung, welche in dieser Hinsicht oftmals unklar ist und eine eindeutige Unterscheidung unterlässt. Zum Teil greift der Gerichtshof sogar auf seine Argumentation zum Beschränkungsverbot bei einer mittelbaren Diskriminierung zurück.13 In theoretischer Hinsicht lassen sich beide Eingriffsformen aber deutlich voneinander trennen.14 Zum anderen wird eingewendet, Art. 39 EGV enthalte im Einzelnen konkret umschriebene Rechte, so dass es eines allgemeinen Beschränkungsverbots nicht bedürfe. Neben den konkreteren Absätzen 2 und 3 des Art. 39 EGV ist aber auf die allgemeine und umfassende Freizügigkeitsgarantie in Abs. 1 des Art. 39 EGV zu verweisen.15

2. Niederlassungsfreiheit und Beschränkungsverbot Im Vergleich zur Arbeitnehmer- und Dienstleistungsfreiheit sind die von der Niederlassungsfreiheit geschützten Tätigkeiten auf eine „langfristige Einbindung der Rechtsinhaber in das wirtschaftliche System und damit in die Rechtsordnung des Zielstaates ausgerichtet“.16 Dies darf aber nicht darüber hinweg täuschen, dass die Personenverkehrsfreiheiten „auf denselben Grundsätzen“ beruhen.17 Erste Ansatzpunkte für ein Beschränkungsverbot werden zum Teil in der Rechtssache Klopp gesehen; der Gerichtshof spricht von „Freiheitsrechten des Vertrags zur Niederlassung in einem anderen Mitgliedstaat“.18 Das zu überprüfende französische Verbot der Zweigniederlassung für Rechtsanwälte war zwar unterschiedslos 12 13 14 15 16 17 18

EuGH, Rs. C-18/95, Terhoeve, Slg. 1999, I-345, Rdn. 41. EuGH, Rs. C-302/98, Sehrer, Slg. 2000, I-4585, Rdn. 35. Becker, in: Ehlers (Hrsg.), Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, S. 232. Becker, in: Ehlers (Hrsg.), Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, S. 232. Schultz, Das Verhältnis von Gemeinschaftsgrundrechten und Grundfreiheiten, S. 76. Z. B. EuGH, Rs. C-106/91, Ramrath, Slg. 1992, I-3351 (3381), Rdn. 17. EuGH, Rs. 107/83, Klopp, Slg. 1984, 2971, Rdn. 18.

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G. Art. 18 EGV als Beschränkungsverbot

anwendbar, führte in der Sache aber zu einer stärkeren Belastung ausländischer Anwälte, da ihnen die Aufgabe ihrer Hauptniederlassung schwerer fallen dürfte als den französischen Kollegen. Auch die Rechtssache Vlassopoulou weist in diese Richtung. Frau Vlassopoulou war in Griechenland als Anwältin zugelassen. Neben ihrem griechischen Diplom erwarb sie in Deutschland den Titel eines Doktors der Rechte. Nachdem sie einige Zeit in Mannheim bei einer Anwaltskanzlei gearbeitet hatte, beantragte sie ihre Zulassung als Rechtsanwältin beim Amtsgericht Mannheim und beim Landgericht Mannheim. Beide Gerichte wiesen die Anträge ab, da sie nicht die nach § 4 BRAGO notwendige Befähigung zum Richteramt erworben habe. Der EuGH führte dazu aus, dass die Mitgliedstaaten festlegen dürfen, welche Anforderungen an die Ausübung eines Berufs zu stellen seien. Allerdings müssen sie dabei die in einem anderen Mitgliedstaat erworbenen Kenntnisse und Fähigkeiten mit ihren Vorgaben vergleichen und sie berücksichtigen. Ansonsten können die nationalen Anforderungsprofile – selbst wenn sie ohne eine Diskriminierung nach der Staatsangehörigkeit angewandt würden – zu einer Beeinträchtigung der Angehörigen anderer Mitgliedstaaten führen.19 Schließlich hatte der Gerichtshof in der Rechtssache Gebhard den Fall eines deutschen Staatsbürgers zu entscheiden, welcher in Stuttgart als Anwalt zugelassen war. Herr Gebhard unterhielt auch in Mailand eine Kanzlei und firmierte dort in seinem Briefkopf als „avvocato“. Die Rechtsanwaltskammer Mailand untersagte ihm diese Bezeichnung und leitete ein Disziplinarverfahren wegen Verstoßes gegen Art. 2 des Gesetzes Nr. 31/82 ein. Danach war bestimmt, dass den im Herkunftsland zugelassenen Staatsangehörigen der Mitgliedstaaten die Ausübung ihrer rechtsanwaltlichen Tätigkeit mit vorübergehendem Charakter erlaubt sei. Nicht gestattet sei jedoch die Einrichtung einer Kanzlei oder eines Haupt- oder Nebensitzes. In dem hierzu ergangenen Urteil bekennt sich der Gerichtshof allgemein zu einem Beschränkungsverbot: „Aus der Rechtsprechung des Gerichtshofes ergibt sich jedoch, daß nationale Maßnahmen, die die Ausübung der durch den Vertrag garantierten grundlegenden Freiheiten behindern oder weniger attraktiv machen können“,20

bestimmte Voraussetzungen erfüllen müssen. Auch in einem späteren Urteil sieht der EuGH unstreitig eine Beschränkung der Niederlassungsfreiheit und der Freiheit der Erwerbstätigen vorliegen, „wenn ein Mitgliedstaat die Eintragung in das Register der Zahnärztekammer und damit die Berufsausübung der Zahnärzte davon abhängig macht, dass die Betreffenden im Bezirk der Zahnärztekammer wohnen, bei der sie ihre Eintragung beantragen; denn eine solche Verpflichtung hindert die in einem anderen Mitgliedstaat niedergelassenen oder wohnenden Zahnärzte daran, eine zweite Zahnarztpraxis im Gebiet des ersten Staates zu gründen oder ihre Tätigkeit dort als Angestellte auszuüben.“21

19 20 21

EuGH, Rs. C-340/89, Vlassopoulou, Slg. 1991, I-2357, Rdn. 15–18. EuGH Rs. C-55/94, Gebhard, Slg. 1995, I-4165, Rdn. 37. EuGH, Rs. C-162/99, Kommission/Italienische Republik, Rdn. 20.

I. Ausbau zu Beschränkungsverboten

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Damit zeigt sich zugleich, dass der Gerichtshof sich zu einem konvergenten Verständnis aller Grundfreiheiten als Beschränkungsverboten bekennt. Eine einheitliche Dogmatik aller Grundfreiheiten stößt im Schrifttum auf große Akzeptanz.22 Die Arbeitnehmer- und die Niederlassungsfreiheit enthalten ein allgemeines, unabhängig von der Staatsangehörigkeit des Arbeitnehmers bzw. Sich- Niederlassenden bestehendes Beschränkungsverbot für Maßnahmen, welche geeignet sind, den Unionsbürger daran zu hindern, sein Herkunftsland zu verlassen, um von seinem Freizügigkeitsrecht Gebrauch zu machen. Damit gebieten sie nicht nur die Gleichstellung aller Unionsbürger mit den eigenen Staatsangehörigen, sondern verbieten auch nichtdiskriminierende Maßnahmen, soweit sie geeignet sind die wirtschaftliche Mobilität des EU-Bürgers in unverhältnismäßiger Weise einzuschränken.23 Als Beschränkung ist dabei, wie der EuGH in seiner Gebhard- Entscheidung festgestellt hat, jedwede „nationale Maßnahme, die die Ausübung der durch den Vertrag garantierten Freiheiten behindern oder weniger attraktiv machen kann“, zu betrachten.24 Grund für diese Ausweitung des Gewährleistungsumfangs war die Erkenntnis, dass auch die nicht zwischen In- und Ausländern differenzierenden Maßnahmen geeignet sein können, die Ausübung der Grundfreiheiten zu erschweren oder sogar zu unterbinden.25 Getragen wird diese Argumentation letztlich vom Prinzip des effet utile, wonach der Vertragszweck untergraben würde, wenn eine unterschiedlose Maßnahme die Grundfreiheiten vereiteln könnte.26 Auch verlangt Art. 3 I c) allgemein die Beseitigung von „Hindernissen“ für den freien Waren-, Personen-, Dienstleistungs- und Kapitalverkehr zwischen den Mitgliedstaaten. Diese Vorschriften sind prägend für das Verständnis der Grundfreiheiten.27 Aus dieser absoluten Formulierung ergibt sich auch für die Arbeitnehmerfreizügigkeit, dass nicht nur Diskriminierungen, sondern auch sonstige „Hindernisse“ zwecks Schaffung eines Binnenmarkts zu beseitigen sind. Und nicht zuletzt können Beschränkungen oftmals auch – sei es bewusst oder unbewusst – als versteckte Diskriminierungen enttarnt werden.28

22 Zuleeg, FS für Everling, S. 1717 (1722); Jarass, EuR 2000, S. 705, 710 f.; Scheuer, in: Lenz/Borchardt, Art. 39 Rdn. 35; Brechmann, in: Calliess/Ruffert, Art. 39 Rdn. 48; Wunderlich, in: Schwarze/Schneider, Art. 39 Rdn. 41. 23 Nettesheim, NVwZ 1996, S. 342. 24 EuGH, Rs. C-55/94, Gebhard, Slg. 1995, I-4165/4197 f. Rdn. 37. 25 EuGH, verb. Rs. 110 und 111/78, Ministère public und ASBL/van Wesemael, Slg. 1979, 35/52. 26 Vgl. EuGH, Rs. C-76/90, Säger/Dennemeyer, Slg. 1991, I-4221/4243, Rdn. 12. 27 Bleckmann, Europarecht, Rdn. 200; Roloff, Das Beschränkungsverbot des Art. 39 EG (Freizügigkeit) und seine Auswirkungen auf das nationale Arbeitsrecht, S. 35. 28 Streinz, Europarecht, Rdn. 672.

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G. Art. 18 EGV als Beschränkungsverbot

3. Reichweite des Beschränkungsverbots So berechtigt dieser Grundansatz erscheint, so problematisch erweist sich die diesbezüglich ergangene Rechtsentwicklung, führt sie doch zu einer beträchtlichen Ausweitung des Anwendungsbereichs der Grundfreiheiten, da beinahe jede gesetzliche Vorgabe potenziell geeignet erscheint, die Grundfreiheiten in irgendeiner Weise zu beeinträchtigen.29 Die Folge eines derart umfassenden Verständnisses von den Grundfreiheiten würde zu einer umfassenden Überprüfung mitgliedstaatlicher Gesetzgebung unter dem Lichte des EG-Rechts und mithin zu einem Kompetenzverlust der Mitgliedstaaten führen. Mittlerweile hat sich daher die Erkenntnis durchgesetzt, dass die Geltung des allgemeinen Beschränkungsverbots seinerseits tatbestandlichen Eingrenzungen unterliegt.30 Die Bestimmung der exakten Reichweite des Beschränkungsverbots ist schwierig.

a) Von der Rechtsprechung aufgezeigte Einschränkungsmöglichkeiten aa) Differenzierung nach Verkaufs- und Produktmodalitäten – Die Keck-Mithouard-Formel Seit dem Keck und Mithouard-Urteil31 nimmt der Gerichtshof nichtdiskriminierende Verkaufsmodalitäten aus dem Anwendungsbereich des Beschränkungsverbots heraus.32 Das Gebot, Säuglingsnahrung nur in Apotheken zu verkaufen,33 oder auch die Regelung der Öffnungszeiten von Tankstellen34 sah der EuGH als Verkaufsmodalitäten an. Wesentlich ist dabei die Überlegung, dass derartige Maßnahmen regelmäßig nicht geeignet sind, den Marktzugang für Waren zu vereiteln. Die Situation ist hingegen anders zu beurteilen, sofern es um produktbezogene Regelungen geht.35 Dies ist bei Vorschriften dann der Fall, wenn sie zur Folge haben, dass ein Produkt oder seine Verpackung vor seiner Vermarktung in einem anderen Mitgliedstaat verändert werden müssten, um so den nationalen Vorschriften des 29

Nettesheim, NVwZ 1996, S. 342 (343); Schroeder, JZ 1996, S. 254 (255). Vereinzelt wird eine einschränkende Auslegung des Beschränkungsverbots generell abgelehnt: Wilmowsky, EuR 1996, S. 362 (370). 31 EuGH, verb. Rs. C-267/91 und C-268/91, Keck und Mithouard, Slg. 1993, I-6097, Rdn. 16; so auch die Folgerechtsprechung: EuGH, Rs. C-292/92, Hünermund, Slg. 1993, I-6787; EuGH, Rs. C-412/93, Leclerc-Siplec, Slg. 1995, I-179; EuGH, verb. Rs. C-401/92 und C-402/92, Tankstation, Slg. 1994, I-2199; EuGH, verb. Rs. C-418/93, C-419/93, C-420/93, C-42/93, C-460/93, C-462/93, C-464/93, C-9/94, C-10/94, C-11/94, C-14/94, C-18/94, C-23/94, C-24/94, C-332/94, Semeraro Casa Una, Slg. 1996, I-2975; EuGH, Rs. C-391/92, Säuglingsmilch, Slg. 1995, I-1621; EuGH, Rs. C-387/93, Banchero, Slg. 1995, I-4663. 32 Vgl. z. B. Näheres dazu bei: Epiney, in: Ehlers (Hrsg.), Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, S. 193 ff. 33 EuGH, Rs. Kommission/Griechenland, Slg. 1995, I-1621, Rdn. 15. 34 EuGH, Rs. T’Heukske, Slg. 1994, I-2227, Rdn. 13 ff. 35 Arndt, Europarecht, 8. Teil B III 2. 30

I. Ausbau zu Beschränkungsverboten

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Mitgliedstaats gerecht zu werden.36 In diesen Fällen sind die mitgliedstaatlichen Vorschriften nämlich geeignet, den freien Warenfluss in der Europäischen Union zu erschweren oder gar zu unterbinden. Damit das Produkt die Möglichkeit des freien Marktzugangs erhält, müsste es mit erheblichem Aufwand verändert oder umgestaltet werden. Diese Hürde wäre dann so hoch, dass der freie Warenverkehr als beeinträchtigt anzusehen ist.

bb) Parallelproblematik im Rahmen der Personenverkehrsfreizügigkeiten Nicht hinreichend geklärt ist, ob sich die Grundsätze der Keck-MithouardRechtsprechung auch auf die Personenverkehrsfreiheiten übertragen lassen. In der Rechtssache Alpine Investments überträgt der EuGH die Grundsätze der KeckMithouard-Rechtsprechung aus dem Bereich der Warenverkehrsfreiheit auf die Dienstleistungsfreiheit. Dabei entschied er, dass das für in den Niederlanden ansässige Gesellschaften bestehende Verbot, über Telefon im In- und Ausland potenzielle Kunden zu werben, unmittelbar den Zugang zum Dienstleistungsmarkt in andern Mitgliedstaaten beeinträchtigt.37 In die gleiche Richtung weist das Urteil in der Rechtssache Deliège.38 Hierbei hatte der Gerichtshof Auswahlregeln des europäischen Judoverbands zu prüfen, die die Teilnahme der in nationalen Verbänden organisierten Judoka an internationalen Turnieren betreffen. Letztlich gelangte der Gerichtshof dabei zu dem Ergebnis, dass solche Auswahlregeln nicht die Bedingungen des Zugangs zum Arbeitsmarkt für Berufssportler festlegen. Es ist davon auszugehen, dass auch im Rahmen der Dienstleistungsfreiheit das Beschränkungsverbot eingeschränkt zur Anwendung gelangt.39 In der Rechtssache Bosman stellte sich unter anderem die Frage, ob das System der Transferzahlungen, nach dem beim Vereinswechsel eines Profi-Fußballspielers der neue Verein an den alten eine Ablösesumme zu bezahlen hat, mit der Freizügigkeit der Arbeitnehmer vereinbar ist. Der aufnehmende französische Verein war verpflichtet, für die Übernahme des belgischen Spielers eine Ablösesumme zu bezahlen. Diese Zahlungsverpflichtung beeinflusst den Zugang des Spielers zu einem fremden Arbeitsmarkt und war daher geeignet, die Freizügigkeit des Profi-Fußballspielers zu beeinträchtigen.40 In diesem Kontext hat der EuGH angedeutet, dass es auch im Bereich der Personenverkehrsfreizügigkeit gewisse Modalitäten gibt, welche nicht in den Anwendungsbereich fallen:

36

EuGH, Rs. C-470/93, Mars, Slg. 1995, I-1923. EuGH, Rs. C-384/93, Alpine Investments, Slg. I- 1995, 1141 (1178), Rdn. 38. 38 EuGH, verb. Rs. C-51/96 u. C-191/97, Deliège, Slg. I-2000, 2549 (2618), Rdn. 61 f. 39 So auch: Kluth, in: Calliess/Ruffert, Art. 50 Rdn. 42; dazu kritisch: Müller-Graff, in: Streinz, Art. 49 Rdn. 88. 40 EuGH, Rs. C-415/93, Bosman, Slg. 1995, I-4921/5068 ff. Rdn. 94 ff. 37

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G. Art. 18 EGV als Beschränkungsverbot

„… dies ändert aber nichts daran, dass diese Regeln [die oben erwähnten Transferregeln, Anm. der Autorin] den Zugang der Spieler zum Arbeitsmarkt in den anderen Mitgliedstaaten unmittelbar beeinflussen und somit geeignet sind, die Freizügigkeit der Arbeitnehmer zu beeinträchtigen. Sie können daher nicht den Regelungen über die Modalitäten des Verkaufs von Waren gleichgestellt werden.“41

Wie diese „Aufenthaltsmodalitäten“42 zu definieren sind, ist bislang noch nicht geklärt.

cc) Einschränkung durch die Kriterien der „Spürbarkeit“ und „Unmittelbarkeit“ Im Fall Graf ging es um eine Vorschrift des österreichischen Angestelltengesetzes. In § 23 Angestelltengesetz ist geregelt, dass dem Arbeitnehmer bei Beendigung des Arbeitsverhältnisses ein nach Dienstjahren gestaffelter Abfindungsanspruch zusteht. Der Kläger Graf kündigte seinen mit der beklagten Filzmoser Maschinenbau GmbH geschlossenen Arbeitsvertrag, um nach Deutschland überzusiedeln und dort eine neue Beschäftigung aufzunehmen. Die Klage hatte jedoch keinen Erfolg, denn der Europäische Gerichtshof sah keine Beschränkung der Arbeitnehmerfreizügigkeit in der österreichischen Regelung, welche einem Arbeitnehmer, der das Arbeitsverhältnis selbst kündigt, um in einem anderen Mitgliedstaat eine unselbstständige Beschäftigung auszuüben, keinen Anspruch auf eine Abfindung gewährt, während einem Arbeitnehmer, dessen Arbeitsverhältnis endet, ohne dass er selbst diese Beendigung herbeigeführt oder zu vertreten hat, eine entsprechende Abfindung zusteht. Dies ergebe sich daraus, dass der Abfindungsanspruch nicht von der Entscheidung des Arbeitnehmers abhänge, „sondern von einem zukünftigen hypothetischen Ereignis, nämlich einer späteren Beendigung des Arbeitsverhältnisses, die der Arbeitnehmer selbst weder herbeigeführt noch zu vertreten hat. Ein derartiges Ereignis wäre jedoch zu ungewiß und wirkte zu indirekt“,43 als dass es die Arbeitnehmerfreizügigkeit beeinträchtigen könnte. In die gleiche Richtung weist die Argumentation des EuGH im Fall Semeraro Casa Uno im Bereich der Niederlassungsfreiheit. Der Gerichtshof hatte zu beurteilen, ob Regelungen über Ladenöffnungszeiten die Niederlassungsfreiheit tangieren. Hierbei hob er hervor, dass Ladenöffnungszeiten nicht geeignet seien, die Freiheit zu beschränken, da sie zu ungewiss und zu mittelbar wirkten.44 Beide zuletzt genannten Entscheidungen sind im Ergebnis zu begrüßen, die Begründung überzeugt allerdings nicht. Bereits zu Beginn der Entwicklung der Ein41

EuGH, Rs. C-415/93, Bosman, Slg. 1995, I-4921/5068 ff. Rdn. 103. Nettesheim, NVwZ 1996, S. 342 ff. 43 EuGH, Rs. C-190/98, Volker Graf/Filzmoser, Maschinenbau, Slg. 2000, I-493, Rdn. 24 f. 44 EuGH, verb. Rs. C-418/93, C-419/93, C-420/93, C-42/93, C-460/93, C-462/93, C-464/93, C-9/94, C-10/94, C-11/94, C-14/94, C-18/94, C-23/94, C-24/94, C-332/94, Semeraro Casa Uno, Slg. I-1996, 2975 (3009), Rdn. 32. 42

I. Ausbau zu Beschränkungsverboten

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grenzungsdogmatik standen Begriffe wie „Spürbarkeit“, „Unmittelbarkeit“ oder „Finalität“ der Beschränkung45, und auch in jüngerer Zeit griff der EuGH gelegentlich auf derartige Formeln zurück.46 Diese Kriterien sind aufgrund ihrer Unklarheit nur schwer zu handhaben; zudem wird befürwortet, dass der Anwendungsbereich des Beschränkungsverbots sich aus der Natur der einzelstaatlichen Regelung ergeben solle.47

b) Lösungsansätze der Literatur – Reduktion auf ein Markt-Zugangsbeschränkungsverbot Zwar wird vereinzelt eine einschränkende Interpretation der Beschränkungsverbote generell abgelehnt,48 die herrschende Meinung ist sich hingegen darüber einig, dass das Beschränkungsverbot einer einschränkenden Interpretation bedarf.49 Hinsichtlich der Reichweite soll das Verbot teilweise auf die die Ausreisefreiheit beeinträchtigende Maßnahmen des Herkunftsstaates reduziert werden.50 Nach anderer Auffassung sollen Vorschriften des „wirtschaftlichen Ordnungsrahmen“ des mitgliedstaatlichen Arbeitsmarkts nicht den Beschränkungen der Arbeitnehmerfreizügigkeit unterliegen.51 In der Sache geht es dabei um eine Übertragung der Grundsätze der Keck-Rechtsprechung aus dem Bereich der Warenverkehrsfreiheit auf die Personenfreiheiten. Danach soll das Beschränkungsverbot nur in den Fällen greifen, in denen es um eine Zugangsbeschränkung zum nationalen Markt geht. Reine Ausübungsmodalitäten unterliegen demnach keinem Beschränkungsverbot, ihre Überprüfung wird vielmehr auf den Grundsatz der Inländergleichbehandlung reduziert.52

45

EuGH, Rs. 75/81, Blesgen, Slg. 1982, 1211(1229); EuGH, Rs. C-69/88, Krantz, Slg. I 1990, 594 (597); EuGH, Rs. C-23/89, Quietlynn, Slg. I 1990, 3059 (3080); Sack, WRP 1998, S. 103 (116 f.); Fezer, JZ 1994, S. 317 (324). 46 EuGH, Rs. C-190/98, Graf, Slg. 2000, I-493, Rdn. 24 f.; EuGH, Rs. C-266/96, Corsica Ferries France, Slg. I-1998, 3949 (3992); Rdn. 31; EuGH, Rs. C-69/88, Krantz, Slg. 1990, I-583 (597), Rdn. 11; EuGH, Rs. C-44/98, BASF, Slg. I-1999, 6269 (6295), Rdn. 21. 47 Nettesheim, NVwZ 1996, S. 342 (344), weitere zutreffende Kritik: Deckert/Schroeder, JZ 2001, S. 88 (90 f.); Gundel, EuZW 2000, S. 311 f.; Streinz, JuS 2000, S. 809 (811). 48 Hakenberg in: Lenz/Borchardt, Art. 49 Rdn. 23; Scheuer in: Lenz/Borchardt, Art. 43 Rdn. 9; Wilmowsky, EuR 1996, S. 362 (370). 49 Kingreen, Grundfreiheiten, in: von Bogdandy (Hrsg.), Europäisches Verfassungsrecht, S. 631 (658); Jarass, EuR 2000, S. 705 ff.; Brechmann, in: Calliess/Ruffert, Art. 39 Rdn. 49; Nettesheim, NVwZ 1996, S. 342 ff.; Mühl, Diskriminierung und Beschränkung, S. 336 ff. 50 Hailbronner, in: HdEUWirtR, D I, Rdn. 41b ff. 51 Nettesheim, NVwZ 1996, S. 342 (343 f.). 52 Grundfreiheiten als Marktzugangsrechte: Kingreen, Grundfreiheiten, in: von Bogdandy (Hrsg.), Europäisches Verfassungsrecht, S. 631 (658); Schroeder, JZ 1996, S. 254 (255); Röthel, EuZW 2000, S. 379 (380); Streinz, JuS 2000, S. 1017; ders., Europarecht, Rdn. 678 ff.; Deckert/ Schroeder, JZ 2001, S. 88 ff.; Ehlers, in: Ehlers (Hrsg.), Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, S. 175.

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G. Art. 18 EGV als Beschränkungsverbot

Es ist zu prüfen, was die Keck-Mithouard-Formel im übertragenen Sinn für die Personenverkehrsfreiheiten bedeutet. Den Verkaufsmodalitäten bei der Warenverkehrsfreiheit sollen hier die sog. Aufenthaltsmodalitäten entsprechen. Das sind bei der Arbeitnehmer- und Niederlassungsfreizügigkeit solche Maßnahmen, „die bloß allgemeine Aspekte des Aufenthalts im Aufnahmestaat betreffen“.53 Auf der anderen Seite liege eine Beschränkung vor, wenn die Regelungen zu einem Zugangsverbot führen.54 Für die Arbeitnehmerfreizügigkeit bedeutet das ganz konkret, dass diejenigen Maßnahmen unter das Beschränkungsgebot fallen, welche geeignet erscheinen, „den Unionsbürger in spezifischer Weise an der Aufnahme eines Berufs in einem anderen Mitgliedstaat zu hindern“55. Das Pendant zu den sog. produktbezogenen Maßnahmen können demnach Regelungen sein, „die unmittelbar die Bedingungen der Übersiedlung in den anderen Mitgliedstaat, den Zugang zum Arbeitsmarkt bzw. die Ausübung einer selbständigen Berufstätigkeit betreffen“.56

II. Anwendung der Dogmatik des allgemeinen Beschränkungsverbots auf das allgemeine Freizügigkeitsrecht in Art. 18 EGV II. Anwendung auf Art. 18 EGV

1. Die EuGH-Rechtsprechung a) Die Rechtssache Wijsenbeek Erste Ansatzpunkte für eine Interpretation des Art. 18 EGV als Beschränkungsverbot finden sich in dem Wijsenbeek- Urteil des EuGH.57 Das Urteil vom 21. September 1999 in der Rechtssache Wijsenbeek betrifft die Frage nach der gemeinschaftsrechtlichen Zulässigkeit von mitgliedstaatlichen Identitätskontrollen gegenüber inländischen und ausländischen Unionsbürgern im Rahmen des grenzüberschreitenden Reiseverkehrs innerhalb der Europäischen Union. Inhaltlich ging es um ein Strafverfahren gegen einen niederländischen Staatsangehörigen, welcher sich bei der Einreise von Frankreich in die Niederlande geweigert hatte, einem niederländischen Grenzbeamten gegenüber seine Staatsangehörigkeit durch die Vorlage eines Reisepasses oder auf sonstige Weise zu offenbaren.

53

Füßer, DÖV 1999, S. 98. Streinz, Europarecht, S. 679 f.; Brechmann, in: Calliess/Ruffert, Art. 39 Rdn. 50; Roloff, Das Beschränkungsverbot des Art. 39 EG (Freizügigkeit) und seine Auswirkungen auf das nationale Arbeitsrecht, S. 93. 55 Roloff, Das Beschränkungsverbot des Art. 39 EG (Freizügigkeit) und seine Auswirkungen auf das nationale Arbeitsrecht, S. 93. 56 Füßer, DÖV 1999, S. 98. 57 EuGH, Rs. C-378/97, Wijsenbeek, Slg. 1999, I- 6209. 54

II. Anwendung auf Art. 18 EGV

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aa) Schlussanträge des Generalanwalts Georges Cosmas Nachdem Generalanwalt Cosmas ausführlich die unmittelbare Wirksamkeit des Art. 8 a (18) EGV dargelegt hat, hebt er hervor: „Die Freiheit des Überschreitens von Grenzen stellt als solche einen wesentlichen Bestandteil des Rechts des Bürgers dar, frei umherzureisen, und nicht nur eine Modalität, die auf die Vollendung des Gemeinsamen Markts abzielt.“58 Die Grenzkontrolle beim Überschreiten der Binnengrenzen wäre zwar eine spürbare Beschränkung des allgemeinen Freizügigkeitsrechts. Die Bejahung der Beeinträchtigung des Freizügigkeitsrechts bedeute aber nicht, dass diese Maßnahme sich als EU-rechtswidrig erweist. Vielmehr soll davon auszugehen sein, „dass ein Hindernis beliebiger Art, das geeignet ist, die Ausübung der durch diesen Vertrag garantierten Rechte ‚zu behindern oder weniger attraktiv zu machen‘, dann mit dem Gemeinschaftsrecht vereinbar ist, wenn es folgende Voraussetzungen erfüllt: Es darf erstens nicht diskriminieren, muß zweitens durch zwingende Gründe des öffentlichen Interesses gerechtfertigt sein, muß drittens zur Verwirklichung des mit ihr verfolgten Zwecks geeignet sein und darf schließlich nicht über das hinausgehen, was zu dessen Verwirklichung erforderlich ist.“59

Im Ergebnis sieht er keinen Verstoß gegen das Freizügigkeitsrecht, da die ohne Rücksicht auf die Staatsangehörigkeit durchgeführten Grenzkontrollen aufgrund des Fehlens eines wirksamen Kontrollmechanismus an den Außengrenzen der Union im öffentlichen Interesse gerechtfertigt sind.

bb) Das Urteil des Gerichtshofs Im Ergebnis hielt der Europäische Gerichtshof die niederländische Sanktionierung der Zuwiderhandlung gegen die Ausweispflicht für vereinbar mit dem Gemeinschaftsrecht: Zwar verlangt Art. 7 a Satz 1 (Art. 14 Abs. 1) EGV bis zum 31. Dezember 1992 von der Gemeinschaft Maßnahmen zur schrittweisen Verwirklichung des Binnenmarkts. Dieser umfasst nach Art. 7 a Satz 2 (Art. 14 Abs. 2) EGV einen Raum ohne Binnengrenzen, in dem der freie Verkehr von Waren, Personen, Dienstleistungen und Kapital entsprechend den Bestimmungen des EGVertrags gewährleistet ist. Daraus ergibt sich allerdings keine automatische Pflicht der Mitgliedstaaten, nach Ablauf der Frist die Personenkontrollen an den Binnengrenzen abzuschaffen, sofern keine entsprechenden Maßnahmen eingeleitet wurden.60 Herr Wijsenbeek konnte deshalb aus dieser Vorschrift kein Verbot der

58 Generalanwalt Georges Cosmas, Rs. C-378/97, Wijsenbeek, Slg. 1999, I-6209, 6244, Rdn. 101. 59 Generalanwalt Georges Cosmas, Rs. C-378/97, Wijsenbeek, Slg. 1999, I-6209, 6244, Rdn. 105. 60 EuGH, Rs. C-378/97, Wijsenbeek, Slg. 1999, I- 6209, Rdn. 40.

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G. Art. 18 EGV als Beschränkungsverbot

Durchführung von Grenzkontrollen herleiten. Ein Verstoß gegen das Freizügigkeitsrecht des Art. 8 a (Art. 18 Abs. 1) EGV scheidet aus. „Soweit keine gemeinschaftlichen Bestimmungen für die Kontrolle der Außengrenzen der Gemeinschaft, die auch gemeinsame oder harmonisierte Vorschriften über Einwanderungs-, Visums- und Asylbedingungen umfassen, erlassen worden sind, setzt die Ausübung dieser Rechte [Art. 8 a Absatz 1 EG-Vertrag, Anm. der Autorin] voraus, … dass der Betroffene belegen kann, dass er die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats besitzt.“61

Und „selbst wenn die Staatsangehörigen der Mitgliedstaaten nach Art. 7 a oder Artikel 8 a EGVertrag ein unbedingtes Recht besäßen, sich in den Mitgliedstaaten frei zu bewegen, behielten die Mitgliedstaaten folglich das Recht, Identitätskontrollen an den Binnengrenzen der Gemeinschaft durchzuführen …“62

Die an einen Verstoß anknüpfenden Sanktionen müssen allerdings, so der EuGH, für entsprechende innerstaatliche Vergehen vergleichbar und nicht unverhältnismäßig sein.63 Offengelassen hat der Gerichtshof allerdings, wie diese im Ergebnis zu begrüßende Entscheidung der Dogmatik des Art. 8 a und heutigen Art. 18 EGV zuzuordnen ist. Eine Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit liegt offensichtlich nicht vor, da die Ausweispflicht sowohl aus- als auch inländische EU-Bürger betrifft. Die unterschiedslos wirkende Maßnahme könnte jedoch geeignet sein, die Ausübung des Freizügigkeitsrechts zu beeinträchtigen, und damit eine Beschränkung dieses Rechts darstellen. In der Tat bedeutet die Ausweispflicht an den Binnengrenzen der EU ein Hindernis bezüglich der Ausübung des allgemeinen Freizügigkeitsrechts. Wie unten noch ausführlich zu erörtern sein wird64, sind auch Beschränkungen der allgemeinen Freizügigkeit nicht absolut verboten, sondern können unter bestimmten Voraussetzungen gerechtfertigt sein. Das Urteil Wijsenbeek lässt sich einer juristisch klaren Lösung zuführen, wenn man Art. 18 EGV als Beschränkungsverbot auffasst.65 Die Schlussanträge von Generalanwalt Georges Cosmas sind insofern von begrüßenswerter Klarheit, als er sich deutlich zu einem Beschränkungsverbot bekennt. An der dem Fall zugrundeliegenden Sachverhaltsausgestaltung lässt sich sehr gut erkennen, dass das Freizügigkeitsrecht des Art. 18 EGV nicht nur durch Maßnahmen diskriminieren kann, die die Staatsangehörigkeit betreffen, sondern auch durch unterschiedslose Regelungen. Damit dem Recht zu seiner vollen Geltung verholfen wird, ist es deshalb angezeigt, Art. 18 EGV im Lichte eines Beschrän61

EuGH, Rs. C-378/97, Wijsenbeek, Slg. 1999, I- 6209, Rdn. 42. EuGH, Rs. C-378/97, Wijsenbeek, Slg. 1999, I- 6209, Rdn. 43. 63 EuGH, Rs. C-378/97, Wijsenbeek, Slg. 1999, I- 6209, Rdn. 45. 64 Siehe G. III. 65 So auch: Scheuing, in: Dreier (Hrsg.), Raum und Zeit, FS 600 Jahre Würzburger Juristenfakultät, S. 103 (134). 62

II. Anwendung auf Art. 18 EGV

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kungsverbots zu sehen. Dieses Ergebnis ist kein Grund für die des öfteren geäußerte Befürchtung, das Recht erweise sich damit konturlos und letztlich praxisfremd, da, wie später zu zeigen sein wird, dieses Beschränkungsverbot nicht in einem umfassenden Sinne zu verstehen ist und ferner, wie bereits im WijsenbeekFall aufgezeigt, Einschränkungen sehr wohl gerechtfertigt sein können.

b) Die Rechtssache Elsen Weitere Ansatzpunkte für eine Interpretation des Art. 18 EGV als Beschränkungsverbot finden sich auch in dem Elsen- Urteil66 aus dem Jahr 2000. Dabei ging es um eine berufstätige deutsche Staatsangehörige, welche im Mai 1981 ihren Wohnsitz nach Frankreich verlegte. Zunächst arbeitete sie – als Grenzgängerin – weiterhin in Deutschland. Im Anschluss an die Geburt ihres Kindes war sie dann aber weder in Deutschland noch in Frankreich beschäftigt. Ihr Antrag auf Anrechnung von Erziehungszeiten für ihren Sohn wurde in Deutschland mit der Begründung, dass die Kindererziehung im Ausland stattgefunden habe, abgelehnt. Nachdem der Gerichtshof vorab die speziellen Vorschriften der Art. 3 Abs. 1 und Art. 10 Abs. 1 der Verordnung Nr. 1408/71 geprüft hat, bezieht er in seine Argumentation auch Art. 8 a EGV (nun Art. 18 EGV) mit ein: „Bestimmungen wie die im Ausgangsverfahren fraglichen benachteiligen aber Gemeinschaftsangehörige, die von ihrem in Artikel 8 a EG-Vertrag (nach Änderung jetzt Art. 18 EG) verbürgten Recht, sich in den Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten, Gebrauch gemacht haben. Denn ein Gemeinschaftsangehöriger, der weiterhin in Deutschland arbeitet, verlöre durch die Verlegung seines Wohnsitzes in einen anderen Mitgliedstaat (nach deutschem Recht) automatisch den Vorteil der Anrechnung von im Wohnstaat zurückgelegten Erziehungszeiten.“67

In der Sache geht es damit um nichts anderes als um eine Beschränkung der Ausübung des Freizügigkeitsrechts.

c) Die Rechtssache D’Hoop Von besonderer Relevanz erweist sich in diesem Zusammenhang das Urteil des Europäischen Gerichtshofs vom 11. Juli 2002 in der Rechtssache Marie-Nathalie D’Hoop.68 Der Entscheidung lag folgender Fall zugrunde: Frau D’Hoop, eine belgische Staatsangehörige, schloss ihre höhere Schulbildung in Frankreich ab und erwarb im Jahr 1991 dort auch das Baccalauréat. Dieses wurde in Belgien als dem Diplôme homologué d’aptitude à accéder à l’enseignement supérieur (Zeugnis über die Befähigung zum Hochschulunterricht) gleichwertig anerkannt. Das 66 67 68

EuGH, Rs. C-135/99, Elsen, Slg. 2000, I-10409. EuGH, Rs. C-135/99, Elsen, Slg. 2000, I-10409, Rdn. 34. EuGH, Rs. C-135/99, Elsen, Slg. 2000, I-10409.

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G. Art. 18 EGV als Beschränkungsverbot

von Frau D’Hoop nach Beendigung ihres Studiums beantragte Überbrückungsgeld lehnte Belgien allerdings mit der Begründung ab, sie erfülle nicht die gesetzliche Voraussetzung, wonach die höhere Schulausbildung an einer Lehranstalt im Inland abgeschlossen worden sein müsse. Dieses sog. Überbrückungsgeld ist für junge Arbeitslose auf der Suche nach einer ersten Anstellung vorgesehen und besteht neben einer Geldleistung in dem Anspruch auf Teilnahme an diversen Beschäftigungsprogrammen.

aa) Schlussanträge des Generalanwalts L. A. Geelhoed Nachdem zuerst der Anwendungsbereich der Vorschriften über die Arbeitnehmer- sowie die Dienstleistungsfreiheit ausgeschlossen werden, kommt Generalanwalt L. A. Geelhoed auf die maßgeblichen Vorschriften über die Unionsbürgerschaft zu sprechen. Die Tatsache, dass Frau D’Hoop allein aufgrund ihres Schulbesuchs und Schulabschlusses in Frankreich die Gewährung des Überbrückungsgelds versagt wurde, berechtige sie sich auf das Diskriminierungsverbot des Art. 12 EGV zu stützen. „Wenn ein Unionsbürger berechtigt ist, sich zur Abwehr von Beeinträchtigungen des Aufenthaltsrechts im Sinne des Artikels 18 EG auf das Diskriminierungsverbot zu berufen, muss das Gleiche für eine Staatsbürgerin gelten, die sich ungleich behandelt sieht, gerade weil sie von dem sich aus Art. 18 EG ergebenden Recht in einer Weise Gebrauch gemacht hat, die zudem auch gemeinschaftsrechtliche Bedeutung hat.“69

Den Anwendungsbereich des EG-Vertrag sieht der Generalanwalt für eröffnet an, da Frau D’Hoop ihre Rechte als Unionsbürgerin und ganz konkret ihr Freizügigkeitsrecht im Rahmen ihrer Schulausbildung in Frankreich in Anspruch nahm und damit auch eine zwischenstaatliche Dimension des Falls gegeben ist. Unter der Überschrift „Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit“ kommt Generalanwalt Geelhoed zu dem Schluss, dass die belgische Gesetzgebung Frau D’Hoop gegenüber belgischen Staatsangehörigen, welche in Belgien eine höhere Schulausbildung absolviert haben, benachteiligt. „Die betroffene Königliche Verordnung hat demnach einen Unterschied zwischen Staatsangehörigen eingeführt, die von ihrem Recht auf Freizügigkeit und freien Aufenthalt keinen Gebrauch gemacht haben, und Staatsangehörigen, die dieses Recht genutzt haben.“70

Die zur Diskussion stehende Voraussetzung für das Überbrückungsgeld „stellt deshalb für die Klägerin eine Diskriminierung im Sinne des Artikel 12 EG dar.“71 69 Schlussanträge Generalanwalt L. A. Geelhoed, Rs. C-224/98, D’Hoop, Slg. 2002, I-6191, Rdn. 34. 70 Schlussanträge Generalanwalt L. A. Geelhoed, Rs. C-224/98, D’Hoop, Slg. Slg. 2002, I-6191, Rdn. 50. 71 Schlussanträge Generalanwalt L. A. Geelhoed, Rs. C-224/98, D’Hoop, Slg. Slg. 2002, I-6191, Rdn. 50.

II. Anwendung auf Art. 18 EGV

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bb) Die Entscheidung des EuGH Der Gerichtshof betont zunächst die grundlegende Stellung des Unionsbürgerstatus und bezieht sich auf das Urteil Grzelczyk. Anschließend ruft er seine Rechtsprechung in Erinnerung, wonach der Geltungsbereich des Gemeinschaftsrechts eröffnet ist, wenn es um die Ausübung der in Artikel 18 EGV verliehenen Freiheit geht, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten zu bewegen und aufzuhalten. Zum konkreten Fall äußert er sich schließlich wie folgt: „Da ein Unionsbürger in allen Mitgliedstaaten Anspruch auf die gleiche rechtliche Behandlung wie die Staatsangehörigen dieses Mitgliedstaats hat, die sich in der gleichen Situation befinden, wäre es mit dem Recht auf Freizügigkeit unvereinbar, wenn der Mitgliedstaat, dessen Staatsangehöriger er ist, ihn deshalb weniger günstig behandeln würde, weil er von den Möglichkeiten Gebrauch gemacht hat, die ihm die Freizügigkeitsbestimmungen des EGVertrags eröffnen. Dieses Recht könnte nämlich seine volle Wirksamkeit nicht entfalten, wenn ein Staatsangehöriger eines Mitgliedstaats von der Wahrnehmung dieser Möglichkeiten abgehalten werden könnte, weil ihm bei der Rückkehr in sein Herkunftsland Nachteile entstünden, die eine Regelung an diese Wahrnehmung knüpft.“72

Der EuGH spricht dabei auch von einer Ungleichbehandlung, welche den Grundsätzen der Unionsbürgerschaft, nämlich der „Garantie gleicher rechtlicher Behandlung bei Ausübung der Freizügigkeit“73 widerspricht. Auffallend ist, dass der EuGH, im Gegensatz zu den Schlussanträgen von Generalanwalt L. A. Geelhoed, von keiner Diskriminierung im Sinne des Art. 12 EGV spricht. Es ist zu prüfen, ob ein Verstoß gegen das Diskriminierungsverbot vorliegt oder ob der EuGH in der Sache nicht bereits den Schritt hin zu einem Beschränkungsverbot gemacht hat. Dabei ist vorab festzustellen, dass die Besonderheit des Falls gerade in der Diskriminierung grenzüberschreitender Sachverhalte durch den Aufnahmestaat zu sehen ist. Zur Klärung des Falles D’Hoop bieten sich grundsätzlich drei verschiedene Lösungsansätze an: (1) Die belgische Bestimmung könnte als mittelbare Diskriminierung aufgefasst werden. (2) Eine weitere Möglichkeit bestünde darin, in der grenzüberschreitenden Differenzierung eine verbotene Diskriminierung zu sehen. Das hätte zur Folge, dass Art. 12 EGV nicht nur eine Diskriminierung aufgrund der Staatsangehörigkeit, sondern auch aufgrund eines grenzüberschreitenden Vorgangs verbietet. (3) Schließlich könnte in der Ungleichbehandlung grenzüberschreitender Sachverhalte eine Beschränkung der Freizügigkeit gesehen werden.74 72 73 74

EuGH, Rs. C-224/98, D’Hoop, Slg. 2002, I-6191, Rdn. 30–31. EuGH, Rs. C-224/98, D’Hoop, Slg. 2002, I-6191, Rdn. 35. So auch: Iliopoulou/Toner, E. L.Rev. 2003, S. 387 (392).

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G. Art. 18 EGV als Beschränkungsverbot

(1) Diskriminierung grenzüberschreitender Sachverhalte als mittelbare Ungleichbehandlung aufgrund der Staatsangehörigkeit Nationale Wohnort- und Qualifikationserfordernisse wie hier das Erfordernis eines inländischen Schulabschlusses diskriminieren regelmäßig die Staatsangehörigen eines anderen EU-Mitgliedstaats. Im konkreten Fall führte diese Voraussetzung für die Gewährung von Überbrückungsgeld zwar nicht direkt, dafür aber mittelbar zu einer Diskriminierung aufgrund der Staatsangehörigkeit. Nach Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs liegt eine versteckte Diskriminierung dann vor, wenn die formale Anwendung anderer, neutraler und unterschiedslos anwendbarer Differenzierungsmerkmale in der Sache aber zum gleichen Ergebnis, d. h. zu einer Diskriminierung der Staatsangehörigen anderer Mitgliedsstaaten, führt. Hätte der EuGH nicht den Fall von Frau D’Hoop, einer belgischen Staatsangehörigen, sondern von beispielsweise einem griechischen Staatsangehörigen zu entscheiden gehabt, so ließe sich die Problematik elegant über Art. 12 i. V. m. Art. 18 EGV lösen.75 Frau D’Hoop könnte allenfalls von der mittelbaren Diskriminierung profitieren, indem es ihr erlaubt wäre, sich auch abstrakt, das heißt losgelöst von ihrer eigenen mittelbaren Diskriminierung, darauf zu berufen. Voraussetzung dafür wäre, dass für die Annahme einer mittelbaren Diskriminierung die abstrakte allgemeine typisierende Betrachtungsweise als ausreichend erachtet wird und der Betroffene nicht konkret, das heißt in seinem Fall auch aufgrund der Nationalität, diskriminiert sein muss. Die Darlegungen des Generalanwalts Geelhoed in den Randnummern 46 ff. seiner Schlussanträge zum Fall D’Hoop sind nicht ganz deutlich. Er prüft mehrfach eine Diskriminierung aufgrund des Art. 12 EGV. Dabei ist allerdings in Erinnerung zu rufen, dass diese Vorschrift eine Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit verbietet. Dem ist im vorliegenden Fall aber gerade nicht so. Frau D’Hoop widerfuhr keine mittelbare Benachteiligung aufgrund ihrer Staatsangehörigkeit. Als eher unpassend erweist sich daher, dass Generalanwalt Geelhoed die Gesamtproblematik unter der Überschrift: „Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit“ prüft. Eine Lösung des Falles über Art. 12 EGV unter dem Aspekt der Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit ist daher abzulehnen. Das nationale Recht wird von dem Unionsrecht nur im individuellen Kollisionsfall verdrängt.76 Frau D’Hoop war es deshalb verwehrt, sich auf die mittelbar diskriminierende Wirkung der beanstandeten Vorschrift zu berufen.

75 Vgl. so nun die Schlussanträge von Generalanwalt Dámaso Ruiz-Jarabo Colomer vom 9. Juni 2005 in der Rs. C-258/04, Ioannis Ioannidis, noch nicht in der amtlichen Sammlung. 76 Nettesheim, in: Grabitz/Hilf, Art. 1 EGV, Rdn. 41.

II. Anwendung auf Art. 18 EGV

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(2) Diskriminierung grenzüberschreitender Sachverhalte als weiterer Anwendungsbereich des Art. 12 EGV Möglicherweise erfährt das Diskriminierungsverbot eine Erweiterung dahingehend, dass auch eine Ungleichbehandlung grenzüberschreitender Sachverhalte darunter zu subsumieren ist. So stellt Generalanwalt L. A. Geelhoed zutreffend fest, dass es naheliegend erscheint, die Situation von Frau D’Hoop mit der anderer belgischer Staatsangehöriger zu vergleichen, welche ihre höhere Schulausbildung in Belgien abschlossen. So stellte Generalanwalt L. A. Geelhoed fest: „Nur die Tatsache, dass die Klägerin die höhere Schulausbildung nicht in Belgien, sondern in einem anderen Mitgliedstaat absolviert hat, steht der Gewährung des Überbrückungsgelds entgegen.“77

Es ist davon auszugehen, dass Generalanwalt Geelhoed konkludent den Anwendungsbereich des Art. 12 EGV auf die Diskriminierung grenzüberschreitender Vorgänge erweitert

(3) Diskriminierung grenzüberschreitender Sachverhalte als Beschränkung des Freizügigkeitsrechts Das korrespondierende Urteil des EuGH bringt die Problematik zutreffend auf den Punkt: Der Mitgliedstaat behandelt seinen Staatsangehörigen deshalb weniger günstig, weil dieser von den Freizügigkeitsbestimmungen des EGV Gebrauch machte. Die Ausführungen des Gerichts enthalten Passagen, welche den Eindruck erwecken, dass er im Sinne einer einheitlichen Dogmatik der Grundfreiheiten auch beim allgemeinen Freizügigkeitsrecht des Art. 18 EGV den Schritt hin zu einem Beschränkungsverbot vollzog.78 Die bereits oben zitierte Aussage, wonach das Freizügigkeitsrecht „seine volle Wirkung nicht entfalten“79 könnte, wenn ein Unionsbürger von der Ausübung dieses Rechts abgehalten werden könnte, indem ihm bei der Rückkehr in sein Heimatland Nachteile entstünden, unterstreicht diese Auslegung. Dabei bedeuten die Worte „seine volle Wirkung nicht entfalten“ nichts anderes, als dass die Ausübung des Freizügigkeitsrechts beschränkt wird. Die Bosman-Entscheidung – die Grundlagenentscheidung zum Beschränkungsverbot für die Arbeitnehmerfreizügigkeit schlechthin – fällt in der Wortwahl auch nicht viel anders aus. Dort heißt es: „Die durch die Art. 52 ff. [heute: Art. 43 ff. Anm. der Autorin] EG-Vertrag garantierten Rechte wären ihrer Substanz beraubt, wenn der Herkunftsstaat den Unternehmen verbie-

77 Schlussanträge Generalanwalt L. A. Geelhoed, Rs. C-224/98, D’Hoop, Slg. 2002, I-6191, Rdn. 49. 78 Bode, EuZW 2002, S. 637 (638) mit dem Hinweis, die Urteilsausführungen entsprechen seiner Argumentation zu den Beschränkungsverboten. 79 EuGH, Rs. C-224/98, D’Hoop, Slg. 2002, I-6191, Rdn. 31.

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G. Art. 18 EGV als Beschränkungsverbot

ten könnte, sein Hoheitsgebiet zu verlassen, um sich in einem anderen Mitgliedstaat anzusiedeln. Die gleichen Erwägungen gelten im Zusammenhang mit Artikel 48 [heute: Art. 39 Anm. der Autorin] EG-Vertrag bei Regeln, die die Freizügigkeit der Staatsangehörigen eines Mitgliedstaats beeinträchtigen, die in einem anderen Mitgliedstaat eine unselbständige Tätigkeit ausüben wollen.“80

Ein Indiz für das Vorliegen eines Beschränkungsverbots ist zudem die Tatsache, dass der Gerichtshof – im Gegensatz zu den Schlussanträgen des Generalanwalts – das Diskriminierungsverbot des Art. 12 EGV nicht erwähnt. Dafür beruft er sich auf den Unionsbürgerstatus, welcher nach seiner Rechtsprechung der grundlegende Status eines Unionsbürgers ist und daher auch sehr umfassend sein muss. So sieht der Gerichtshof diese Benachteiligung als nicht mit dem Status eines Unionsbürgers zu vereinbaren, welcher die Gleichbehandlung bei der Ausübung der Freizügigkeit garantiert.81 Der Unionsbürgerstatus steht nicht nur einer Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit entgegen, sondern untersagt als Ausdruck des allgemeinen Grundsatzes rechtlicher Gleichbehandlung bei Ausübung der Freizügigkeit auch eine Benachteiligung grenzüberschreitender Vorgänge.82 Damit geht aber gleichsam einher, dass dieser besondere Status sich auch im rechtlichen Gehalt des Freizügigkeitsrechts der Unionsbürger widerspiegelt und insofern eine Sicht als Beschränkungsverbot zwingend nahe legt.83 Ausdrücklich hat der EuGH Art. 18 EGV nicht als Beschränkungsverbot eingeordnet. Dies mag zum einen daran liegen, dass Art. 18 in der an den EuGH gerichteten Vorlagefrage gar nicht erwähnt wird, so dass sich der EuGH insofern mit einer Auseinandersetzung dieser Vorschrift auch eher zurückgehalten hat. Zum anderen lag die Berufung auf die aus dem Unionsbürgerstatus folgende umfassende Gleichheit eher im Rahmen der bisherigen Rechtsprechung und fordert laut Iliopoulou/Toner zu weniger Kritik heraus als die Feststellung eines Beschränkungsverbots.84

d) Die Rechtssache Pusa Der Ausgangsrechtsstreit dreht sich um einen finnischen Staatsangehörigen, Herrn Pusa, welcher nach Eintritt in den Ruhestand sein Herkunftsland verließ, um sich in Spanien aufzuhalten.85 Er erhält in Finnland eine Erwerbsunfähigkeitsrente, welche nach den Bestimmungen des Doppelbesteuerungsabkommens der Besteuerung in Spanien unterliegt. Mit Entscheidung vom 27. Oktober 2000 ge80 81 82 83 84 85

EuGH, Rs. C-415/93, Bosman, Slg. 1995, I-4921, Rdn. 97. So EuGH, Rs. C-224/98, D’Hoop, Slg. 2002, I-6191, Rdn. 35. Iliopoulou/Toner, E. L.Rev. 2003, S. 388 (394). Iliopoulou/Toner, E. L.Rev. 2003, S. 388 (395). Iliopoulou, Toner, E. L.Rev. 2003, S. 388 (396 f.). EuGH, Rs. C-224/02, Pusa, Slg. 2004, I-5763.

II. Anwendung auf Art. 18 EGV

133

stattete der Zwangsvollstreckungsbeamte in Finnland eine Pfändung der Rente des Herrn Pusa. Die nationalen Vorschriften sehen nach näherer Bestimmung vor, dass ein bestimmter Teil der Nettorente einbehalten werden kann. Da die Rente des Herrn Pusa nur in Spanien, nicht aber in Finnland einem Steuerabzug unterliegt, ermittelten die finnischen Behörden den pfändbaren Teil seiner Rente auf Grundlage von deren Bruttobetrag. Die steuerliche Belastung der Rente in Spanien blieb unberücksichtigt, so dass Herr Pusa monatlich über einen geringeren Betrag verfügt als denjenigen, den er erhalten hätte, wenn er weiterhin in Finnland wohnen würde. Im Rahmen der Vorlagefrage hatte der Gerichtshof zu prüfen, ob die Nichtberücksichtigung der in einem anderen Mitgliedstaat entrichteten Steuer mit der Folge, dass der pfändbare Teil höher ist, gegen Art. 18 EGV verstößt.

aa) Schlussanträge des Generalanwalts Francis G. Jacobs Zunächst wird untersucht, ob die gemeinschaftsrechtlichen Bestimmungen zur Anwendung gelangen. Nationale Regelungen über die Pfändung von Einkommen im Rahmen der Zwangsvollstreckung fallen nicht in den Zuständigkeitsbereich der Gemeinschaft. Gleichwohl ist aber anerkannt, dass die Mitgliedstaaten auch im Rahmen dieser Zuständigkeiten die Vorgaben des Gemeinschaftsrechts zu beachten haben. Dies ist besonders dann der Fall, wenn die Vorschriften Auswirkungen auf die EG-vertraglich garantierten Freiheiten haben. Im vorliegenden Fall sei die beanstandete Regelung untrennbar mit dem Freizügigkeitsrecht des Herrn Pusa verbunden. Generalanwalt Jacobs sieht im vorliegenden Fall keine direkte bzw. indirekte Diskriminierung aufgrund der Staatsangehörigkeit für gegeben, sondern eine unzulässige Beschränkung. Dabei bekennt er sich ausdrücklich zu einem Verständnis des Art. 18 EGV als Beschränkungsverbot: „Weiter wurde die Freizügigkeit ursprünglich durch ein Verbot der Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit gewährleistet; diese Freiheit wurde jedoch in der Rechtsprechung des Gerichtshofes beständig erweitert, so dass nicht diskriminierende Beschränkungen ebenfalls untersagt sind. Art. 18 EG beschränkt sich offenkundig nicht auf ein Verbot der Diskriminierung; Absatz 1 sieht schlicht das Recht jedes Unionsbürgers vor, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten lediglich vorbehaltlich etwaiger im EG-Vertrag oder in Durchführungsvorschriften vorgesehener Beschränkungen oder Bedingungen frei zu bewegen und aufzuhalten.“86

Dabei sei klar, dass Art. 18 EGV mehr umfasse als nur die Beseitigung der Beschränkungen des Rechts, in einen Mitgliedstaat einzureisen, sich darin aufzuhalten oder aus ihm auszureisen.

86

Schlussanträge Generalanwalt Jacobs, Rs. C-224/02, Pusa, Slg. 2004, I-5763, Rdn. 20.

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G. Art. 18 EGV als Beschränkungsverbot

„Freizügigkeit ist nicht gewährleistet, solange nicht alle Maßnahmen gleich welcher Art ebenfalls abgeschafft sind, die denjenigen, die von diesem Recht Gebrauch machen, eine ungerechtfertigte Belastung auferlegen. Eine solche Beschränkung ist stets unzulässig, unter welchen Umständen auch immer sie auftreten kann – einschließlich des Verlassens des Heimatmitgliedstaats oder der Rückkehr dorthin oder des Aufenthalts oder des Umzugs anderswo in der Union.“87

Im Ergebnis sieht der Generalanwalt daher ein Hindernis für die Freizügigkeit in der Tatsache, dass der pfändbare Teil einer Rente bei einem im Mitgliedstaat wohnhaften Schuldner nach Abzug der Einkommenssteuer und bei einem nicht im Mitgliedstaat wohnenden Schuldner ohne Abzug dieser Steuer erfolgt. Allerdings könnte die Regelung, nach der die Einkommenssteuer, die nicht im Mitgliedstaat abgezogen wurde, „auf Vorlage eines Zahlungsnachweises durch den Schuldner berücksichtigt wird, objektiv gerechtfertigt sein“.88

bb) Entscheidung des EuGH Zunächst stimmt das Gericht in seiner Entscheidung vom 29. April 2004 den Ausführungen des Generalanwalts insofern zu, als es feststellt, dass, auch wenn die Zwangsvollstreckung zur Schuldenbeitreibung in den Zuständigkeitsbereich der Mitgliedstaaten fällt, diese trotzdem die grundlegende Bestimmung des Art. 18 EGV berücksichtigen müssen, da sich diese Angelegenheit auf die im EG-Vertrag garantierten Freiheiten auswirkt. Eine Auseinandersetzung sowohl mit der Frage, ob Art. 18 EGV ein Beschränkungsverbot enthält, als auch mit den diesbezüglich weitreichenden Ausführungen des Generalanwalts unterlässt der Gerichtshof. Stattdessen knüpft er an seine bisherige Rechtsprechung an und wiederholt die bereits im Urteil D’Hoop aufgestellten Regelsätze. Danach ist es mit dem Recht auf Freizügigkeit nicht vereinbar, wenn ein Mitgliedstaat seine Staatsangehörigen weniger günstig behandelt, weil sie von dieser Freizügigkeit Gebrauch gemacht haben. „Diese Erleichterungen könnten nämlich ihre volle Wirkung nicht entfalten, wenn ein Staatsangehöriger eines Mitgliedstaats von ihrer Wahrnehmung durch Hindernisse abgehalten werden könnte, die seinem Aufenthalt im Aufnahmemitgliedstaat infolge einer Regelung seines Herkunftsstaats entgegenstehen, die Nachteile daran knüpft, dass er von ihnen Gebrauch gemacht hat.“89

Im Ergebnis gelangt der Gerichtshof zu dem Schluss, dass das finnische Zwangsvollstreckungsgesetz, falls es in keiner Weise die Berücksichtigung der von Herrn Pusa entrichteten Steuer erlaubt, Herrn Pusa einen Nachteil zufügen würde, weil er sein durch Artikel 18 EGV geschütztes Recht ausgeübt hat. 87 88 89

Schlussanträge Generalanwalt Jacobs, Rs. C-224/02, Pusa, Slg. 2004, I-5763, Rdn. 21. Schlussanträge Generalanwalt Jacobs, Rs. C-224/02, Pusa, Slg. 2004, I-5763, Rdn. 35. EuGH, Rs. C-224/02, Pusa, Slg. 2004, I-5763; Rdn. 19.

II. Anwendung auf Art. 18 EGV

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„Die Ungleichbehandlung, die sich aus einer solchen Nichtberücksichtigung ergibt, ließe sich auch nicht rechtfertigen.“90 Allerdings hat die finnische Regierung geltend gemacht, dass die betreffenden Vorschriften des Zwangsvollstreckungsgesetzes es erlauben, im Rahmen einer Einzelfallbetrachtung der Zahlungsfähigkeit des Schuldners, eine in einem anderen Mitgliedstaat geleistete Steuer des Schuldners zu berücksichtigen, soweit dieser eine auf Beweise gestützte Erklärung vorlege. Der Gerichtshof befand, dass das Gemeinschaftsrecht einer nationalen Vorschrift nicht entgegenstehe, die eine solche Berücksichtigung voraussehe. Es ist grundsätzlich zu begrüßen, dass Generalanwalt Jacobs auch in Analogie zu den Personenverkehrsfreiheiten das allgemeine Freizügigkeitsrecht als Beschränkungsverbot sieht und sich expressis verbis für ein solches im Rahmen des Art. 18 EGV ausspricht. Wie später zu erörtern sein wird, ist allerdings fraglich, ob Art. 18 EGV als derart weites, nicht bereits auf tatbestandlicher Ebene eingeschränktes Beschränkungsverbot zu verstehen ist. Wie bereits im Rahmen der Rechtssache D’Hoop ausgeführt, löst der Gerichtshof auch hier den Fall unter dem Stichwort der „Ungleichbehandlung“. In der Sache kommt seine Argumentation aber einer Auslegung des Art. 18 EGV als Beeinträchtigungsverbot nahe. Im Einzelnen kann auf die bereits gemachten Ausführungen zu der Rechtssache D’Hoop verwiesen werden.91

e) Die Rechtssache Standesamt Stadt Niebüll Auch in seinen Schlussanträgen vom 30. Juni 200592 geht Generalanwalt Francis G. Jacobs offensichtlich von einer Lesart des Art. 18 EGV als Beschränkungsverbot aus. Hintergrund sind Fragen des Namensrechts. Im konkreten Fall geht es um den Nachnamen des Kindes Leonhard Mathias, der strittig ist. Der Junge wurde 1998 als Kind von Dorothee Paul und Stefan Grunkin, die beide die deutsche Staatsangehörigkeit besitzen, in Dänemark geboren und lebt dort mit seiner Mutter, während sein Vater von ihnen getrennt im 20 km entfernten Niebüll wohnt. Die Eltern besitzen beide die deutsche Staatsangehörigkeit. In die dänische Geburtsurkunde wurde als Nachname Grunkin-Paul eingetragen. Dies ergab sich aus der Anwendung des dänischen internationalen Privatrechts, da das Kind seinen Wohnsitz in Dänemark hat. Die Eltern führten selbst nie einen gemeinsamen Ehenamen, möchten aber, dass ihr Kind bei der deutschen Behörde in Niebüll mit dem Namen „Grunkin-Paul“ eingetragen wird. Aufgrund deutscher Vorschriften waren jedoch nur die Alternativen „Grunkin“ oder „Paul“ möglich, so dass der Doppelname abgelehnt wurde. 90 91 92

EuGH, Rs. C-224/02, Pusa, Slg. 2004, I-5763, Rdn. 33. Siehe G. II. 1. c). Generalanwalt Jacobs, Rs. C-96/04, Standesamt Stadt Niebüll, Slg. 2006, I-3561, Rdn. 54.

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G. Art. 18 EGV als Beschränkungsverbot

In der Sache liegt es auf der Hand, dass sich die konkreten Probleme, die sich für das Kind ergeben würden, zwar nicht auf einer Diskriminierung aus Gründen der Staatsbürgerschaft beruhten, dass aber trotzdem sein „Bürgerrecht, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten“, beeinträchtigt würde.93 Die Regelung, dass ein Unionsbürger, dessen Name bereits in einem anderen Mitgliedstaat ordnungsgemäß eingetragen wurde, diesen Namen nicht auch in Deutschland eintragen kann, basiere also auf einer Rechtsvorschrift, die nicht mit Art. 18 EVG vereinbar sei, so der Generalanwalt in seinen Schlussanträgen. Eine Entscheidung des Gerichtshofs hierzu ist nicht ergangen. In der Sache hat der EuGH sich für unzuständig erklärt, da das Familiengericht Niebüll bei Übertragung des Namensrechts als Verwaltungsbehörde gehandelt habe.94

f) Die Rechtssache De Cuyper Der Fall95 betrifft die belgische Regelung, welche die Gewährung von Leistungen an Arbeitslose davon abhängig macht, dass sie dem Arbeitsmarkt zur Verfügung stehen. Dabei möchte das vorlegende Gericht wissen, ob diese Regelung im folgenden Fall ein Hemmnis für das allgemeine Freizügigkeitsrecht darstellt: Ein Arbeitsloser hat das 50. Lebensjahr vollendet und genießt gemäß Art. 89 dieser Königlichen Verordnung eine Befreiung von der Stempelpflicht, die die Befreiung von der Voraussetzung, dem Arbeitsmarkt zur Verfügung zu stehen einschließt. Herr Cuyper hielt sich nicht mehr tatsächlich in Belgien auf, sondern wohnte in Frankreich. Er kehrte alle drei Wochen nach Belgien zurück und hatte dort auch ein möbliertes Zimmer. Da er die Voraussetzung des tatsächlichen Aufenthalts in Belgien nicht mehr erfülle, versagte ihm die Verwaltung Leistungen wegen Arbeitslosigkeit. Der Europäische Gerichtshof gelangt zu dem Ergebnis, dass es sich um eine Beschränkung der Freiheiten des Art. 18 EGV handelt: „Es steht fest, dass eine nationale Regelung wie diejenige, um die es im Ausgangsverfahren geht, die eigene Staatsangehörige allein deswegen benachteiligt, weil sie ihre Freiheit, sich in einen anderen Mitgliedstaat zu begeben und sich dort aufzuhalten, wahrgenommen haben, eine Beschränkung der Freiheiten darstellt, die Art. 18 EG jedem Unionsbürger verleiht.“96

Eine soche Beschränkung könne dann gerechtfertigt sein, wenn sie auf objektiven, von der Staatsangehörigkeit unabhängigen Erwägungen des Allgemeininteresses beruhe, welche in einem angemessenen Verhältnis zu dem mit dem nationalen Recht legitimerweise verfolgten Zweck stünden. Die vorliegende Regelung sei gerechtfertigt, da die Überprüfung der familiären Situation des Betroffenen und

93 94 95 96

Generalanwalt Jacobs, Rs. C-96/04, Standesamt Stadt Niebüll, Slg. 2006, I-3561, Rdn. 54. EuGH, Rs. C-96/04, Standesamt Stadt Niebüll, Slg. 2006, I-3561, Rdn. 11 ff. EuGH, Rs. C-406/04, De Cuyper, Slg. 2006, I-6947. EuGH, Rs. C-406/04, De Cuyper, Slg. 2006, I-6947, Rdn. 39.

II. Anwendung auf Art. 18 EGV

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das mögliche Vorhandensein nicht gemeldeter Einkunftsquellen nur an Ort und Stelle im Mitgliedstaat durchgeführt werden könne.

g) Die Rechtssache Tas-Hagen und Tas Auf den Prüfstand geriet auch die niederländische Regelung über die Bewilligung von Leistungen für zivile Kriegsopfer.97 In dem anhängigen Rechtsstreit hat die Verwaltung zwei niederländischen Staatsangehörigen die Leistung allein deshalb verweigert, weil sie bei Einreichung des Antrags nicht im Hoheitsgebiet dieses Mitgliedstaats, sondern in einem anderen Mitgliedstaat wohnten. In ihren Schlussanträgen vom 30.03.2006 geht Generalanwältin Kokott ebenfalls von einer Leseart des Art. 18 EGV im Sinne eines Beschränkungsverbots aus. Es handele sich um eine Grundfreiheit wie die anderen: „Vieles spricht deshalb dafür, die Schlechterstellung grenzüberschreitender Sachverhalte ohne gleichzeitige Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit auch dann als Beschränkung einzuordnen, wenn sie in den Anwendungsbereich des Art. 18 Abs. 1 EGV fällt. An Art. 18 Abs. 1 EGV sind somit alle Maßnahmen zu messen, die das Recht des Unionsbürgers beeinträchtigen, sich in anderen Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten, oder die sonst ein Hindernis darstellen, durch das der Unionsbürger vom Gebrauch dieses allgemeinen Freizügigkeitsrechts abgehalten werden könnte.“98

Der EuGH sieht „eine nationale Regelung, die bestimmte Staatsangehörige allein deswegen benachteiligt, weil sie von ihrer Freiheit, sich in einen anderen Mitgliedstaat zu begeben und sich dort aufzuhalten, Gebrauch gemacht haben“99 als eine Beschränkung der Freiheiten des Art. 18 Abs. 1 EGV an.100 Grundsätzlich könne der Wunsch des niederländischen Gesetzgebers, „die Solidaritätsverpflichtung gegenüber zivilen Kriegsopfern auf die Personen zu beschränken, die während des Krieges oder danach eine Verbindung zum niederländischen Volk hatten“101, eine objektive Erwägung des Allgemeininteresses darstellen. Das Kriterium des Wohnsitzes im Inland sei hierfür allerdings nicht geeignet.

h) Die Rechtssache Turpeinen In der Rechtssache Turpeinen102 hatte der EuGH eine finnische Regelung unter dem Aspekt einer Beeinträchtigung des Art. 18 EGV zu untersuchen. Dabei übersteigt die Quellensteuer, die gegenüber einer im Ausland wohnhaften, aber in dem 97 98 99 100 101 102

Rs. C-192/05, Tas-Hagen und Tas, Slg. 2006, I-10451. Schlussanträge GA Kokott, Rs. C-192/05, Tas-Hagen und Tas, Slg. 2006, I-10451, Rdn. 50. EuGH, Rs. C-192/05, Tas-Hagen und Tas, Slg. 2006, I-10451, Rdn. 31. EuGH, Rs. C-192/05, Tas-Hagen und Tas, Slg. 2006, I-10451, Rdn. 31. EuGH, Rs. C-192/05, Tas-Hagen und Tas, Slg. 2006, I-10451, Rdn. 34 f. EuGH, Rs. C-520/04, Turpeinen,, Slg. 2006, I-10685, Rdn. 24 f.

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G. Art. 18 EGV als Beschränkungsverbot

betreffenden Mitgliedstaat steuerpflichtigen Person erhoben wird, in bestimmten Fällen die Steuer, die derselbe Steuerpflichtige zahlen müsste, wenn er in Finnland wohnen würde. Hierin sah der EuGH eine Benachteiligung von Unionsbürgern bei Ausübung ihres Freizügigkeitsrechts, welche nicht gerechtfertigt sei.

i) Die Rechtssache Europäische Kommission/Bundesrepublik Deutschland In ähnliche Richtung weist auch die von der Kommission gegen die Bundesrepublik Deutschland eingereichte Klage wegen der Eigenheimzulage.103 Anspruch auf Gewährung der deutschen Eigenheimzulage haben in Deutschland unbeschränkt Steuerpflichtige, die in Deutschland zu Wohnzwecken eine Wohnung oder ein Haus erwerben. Demgegenüber wird in Deutschland unbeschränkt Steuerpflichtigen, die außerhalb Deutschlands leben und dort eine Immobilie zu Wohnzwecken erwerben, keine solche Zulage gewährt. In seinem Urteil vom 17.01.2008 löste der EuGH den Sachverhalt vorrangig über die speziellen Grundfreiheiten der Art. 39 und 43 EGV und susidiär über Art. 18 EGV. Im Ergebnis konnte auch diese Beschränkung der Grundfreiheiten nicht gerechtfertigt werden.

j) Die Rechtssache Schwarz und Gootjes-Schwarz Das vom EuGH entschiedene Vorabentscheidungsersuchen104 betraf die Frage, ob es mit Gemeinschaftsrecht zu vereinbaren ist, dass Schulgeld, welches für den Schulbesuch in anderen Mitgliedsaaten bezahlt wird, nicht steuerlich berücksichtigt wird. Das deutsche Einkommenssteuerrecht sieht die steuermindernde Berücksichtigung nur für Steuerpflichtige vor, die Schulgeld an bestimmte deutsche Privatschulen gezahlt haben. Der EuGH sieht in dieser Regelung vorrangig einen Verstoß gegen die Dienstleistungsfreiheit. Sofern diese nicht im Ausgangsfall anwendbar sei, soll der Sachverhalt über Art. 18 EGV gelöst werden. Die Beschränkung der Freiheiten des Art. 18 EGV, welche durch eine derartige Regel gegeben sei, könne vorliegend auch nicht gerechtfertigt werden.

k) Die Rechtssache Morgan/Bucher In der verbundenen Rechtssache105 ging es im Fall von Frau Morgan um die Frage, ob die Voraussetzung des § 5 Abs. 2 BAföG, wonach die Förderung der Ausbildung in einem anderem Mitgliedstaat erst nach mindestens einjähriger Aus103 EuGH, Rs. C-152/05, Europäische Kommission/Bundesrepublik Deutschland, Rdn. 31, noch nicht veröffentlicht. 104 EuGH, Rs. C-76/05, Schwarz u. Gootjes-Schwarz, Slg. 2007,I-0000. 105 EuGH, verb. Rs. C-11/06 und C-12/06, Morgan/Bucher, noch nicht veröffentlicht.

II. Anwendung auf Art. 18 EGV

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bildung in Deutschland möglich ist, gegen das unionale Freizügigkeitsrecht verstößt. In der Sache der deutschen Staatsangehörigen Frau Bucher hat der Landkreis die Förderung abgelehnt, da sie ihren Wohnsitz im deutschen Grenzgebiet nur zum Zwecke ihrer beruflichen Ausbildung in der unmittelbar zur deutschen Grenze gelegenen niederländischen Schule begründet habe. In seinem Urteil vom 23.10.2007 sah der EuGH in den erwähnten BAföG-Regeln eine Beeinträchtigung des Art. 18 EGV. Um eine übermäßige Belastung des die Beihilfe gewährenden Staates auszuschließen, könne zwar gefordert werden, dass sich die Studenten bis zu einem gewissen Grad in die Gesellschaft dieses Staates integriert haben, allerdings sei das Erfordernis eines mindestens einjährigen Studiums im Herkunftsmitgliedstaat zu „allgemein und einseitig“.106

2. Auslegung des Art. 18 EGV Im Schrifttum wird die Frage, ob Art. 18 EGV ein Beschränkungsverbot enthält, bislang nur rudimentär beleuchtet.107 Vereinzelt finden sich Stimmen, welche das Freizügigkeitsrecht als Beschränkungsverbot auffassen, ohne dies allerdings groß zu begründen.108 Während – wie eingangs bereits betont – Diskriminierungsverbote vor Gleichheitsverstößen schützen, richten sich Beschränkungsverbote auch gegen einschlägige Freiheitsverletzungen. Es ist im Folgenden der Frage nachzugehen, welche Bedeutung Art. 18 EGV beizumessen ist. Dabei ist diese Vorschrift einer grammatikalischen, systematischen sowie teleologischen Auslegung zu unterziehen.

a) Der Wortlaut des Art. 18 EGV Ausgangsbasis einer jeden Auslegung ist der Wortlaut der fraglichen Norm. Wenn die vier Grundfreiheiten auch ursprünglich als Diskriminierungsverbote formuliert waren und erst die vertraglichen Neufassungen sie zu Beschränkungsverboten umschrieben (für die Kapital- und Zahlenverkehrsfreiheit des Art. 56 Abs. 1, 2 EGV mit dem Vertrag von Maastricht, für die Niederlassungsfreiheit, Art. 43 Abs. 1 EGV und die Dienstleistungsfreiheit, Art. 49 Abs. 1 EGV im Rahmen des Vertrags von Amsterdam), so enthält der Wortlaut des Art. 18 Abs. 1 EGV doch nicht explizit ein Diskriminierungsverbot. Darüber hinaus spricht Art. 18 EGV an106

EuGH, verb. Rs. C-11/06 und C-12/06, Morgan/Bucher, Rdn. 46, noch nicht veröffent-

licht 107 In der deutschsprachigen Literatur nimmt bislang nur: Füßer, DÖV 1999, S. 96 ff. ausführlich dazu Stellung; im englischsprachigen Schrifttum: Iliopoulou/Toner, E. L.Rev. 2003, S. 389 ff. 108 Kluth, in Calliess/Ruffert, Art. 18 Rdn. 5; Zuleeg, DVBl. 1997, S. 445 (448): Art. 8 a Abs. 1 EGV ist „berührt, wenn ein Mitgliedstaat seinen Bürgern einen Nachteil auferlegt, weil sie ihren Wohnsitz in einem anderen Mitgliedstaat nehmen“.

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G. Art. 18 EGV als Beschränkungsverbot

ders als die Art. 28, Art. 43, Art. 49 und Art. 56 Abs. 1 EGV nicht konkret von „Beschränkungen“. Vielmehr stellt Art. 18 Abs. 1 EGV fest, dass jeder Unionsbürger das Recht hat, sich frei zu bewegen und aufzuhalten. Diese genaue Bezeichnung des Rechts könnte für seine umfassende und abschließende Regelung sprechen. Zudem spricht die Tatsache, wonach Art. 18 Abs. 1 EGV explizit kein Diskriminierungsverbot enthält, für seine Interpretation als Beschränkungsverbot. Im Rahmen eines solchen umfassenden Verbots macht die separate Erwähnung eines Teils, d. h. des Diskriminierungsverbots, keinen Sinn. Ein weiteres Indiz für eine Leseart als Freiheitsrecht könnte darin liegen, dass Art. 18 Abs. 1 ausdrücklich von dem Recht, sich „frei“ zu bewegen, spricht. Wie ein Vergleich mit den anderen Sprachfassungen des EGV ergibt, bezieht sich dieses Adjektiv auch auf den Tatbestand des Sich-Bewegens. Ziekow gelangt ebenfalls zu diesem Ergebnis, indem er feststellt, dass Art. 18 EGV nicht den gleichen, sondern den freien „Zug“ schütze.109 So schütze Art. 18 EGV vor allen Beeinträchtigungen, die zu einem Absehen von der Nutzung des Rechts führen könnten.

b) Stellung des Art. 18 im Zweiten Teil des EGV Gegen ein derart weites Verständnis könnte sprechen, dass das Gesamtgefüge, innerhalb dessen sich Art. 18 EGV präsentiert, von klassischen Rechtsgewährungen geprägt ist. So enthält das kommunale Wahlrecht (Art. 19 EGV), die Gewährleistung des diplomatischen und konsularischen Schutzes (Art. 20 EGV) sowie das Petitionsrecht (Art. 21 EGV) konkret absteckte Rechtspositionen; daraus könnte der Schluss zu ziehen sein, dass Art. 18 EGV lediglich vor gezielten Maßnahmen mit klassischem Eingriffscharakter schützt.110 Diese Argumentation fällt letztlich aber nicht schwer ins Gewicht, da der Zweite Teil des EGV mit seinen Art. 17–22 lediglich eine Zusammenstellung der wichtigsten Unionsbürgerrechte darstellt. Inhaltlich und dogmatisch unterscheiden sie sich aber und können nicht in ein einheitliches Schema der im Gemeinschaftsrecht geltenden Grundrechtsdogmatiken eingeordnet werden.111

c) Art. 18 EGV als Auffangbeschränkungstatbestand In systematischer Hinsicht bietet es sich an, Art. 18 EGV als Auffangbeschränkungsverbot im Verhältnis zu den spezielleren Beschränkungsverboten der Personenverkehrsfreiheiten (Art. 39 EGV Arbeitnehmerfreizügigkeit, Art. 43 EGV Niederlassungsfreizügigkeit) zu begreifen. Damit würde Art. 18 EGV für die Be109 Ziekow, Die Freizügigkeit des Unionsbürgers, in: Dörr (Hrsg.), Ein Rechtslehrer in Berlin, S. 101 (106). 110 Füßer, DÖV 1999, S. 96 (101). 111 Vgl. die Zusammenschau der Unionsbürgerrechte: C. II.

II. Anwendung auf Art. 18 EGV

141

schränkungsverbote ungefähr die gleiche Rolle einnehmen wie Art. 12 EGV für die sonstigen spezifischen Diskriminierungsverbote der Grundfreiheiten. Es ließe sich somit von einem Generalitäts – Spezialitätsverhältnis oder von einem Grundtatbestand zu Spezialtatbestand sprechen. Diese Sichtweise liegt mittlerweile wohl auch der ständigen Rechtsprechung des EuGH zugrunde.112 In der Rechtssache Skanavi und Chryssanthakpoulos113 erachtete der Gerichtshof die Niederlassungsfreiheit als speziellere Vorschrift, in der Rechtssache Oteiza Olazabal114 dagegen die Freizügigkeit der Arbeitnehmer und in der Sache Georgios Stylianaki schließlich den freien Dienstleistungsverkehr gegenüber dem allgemeinen Freizügigkeitsrecht. „Artikel 8a EG-Vertrag, der allgemein [kursiv Anm. der Autorin] für jeden Unionsbürger das Recht begründet, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten, findet einen spezifischen Ausdruck in den Vorschriften, die den freien Dienstleistungsverkehr gewährleisten.“115

Die vom EuGH vorgenommene Einordnung des Art. 18 EGV als allgemeinen Auffangtatbestand gegenüber den Spezialtatbeständen der Arbeitnehmer-, Dienstleistungs- und Niederlassungsfreiheit spricht dafür, dass die Vorschriften in ihren Rechtsgewährleistungen übereinstimmen. Diese Rechtsprechung kann damit so verstanden werden, dass das allgemeine Freizügigkeitsrecht neben dem Diskriminierungsverbot auch ein Beschränkungsverbot enthält. Inhalt und Reichweite dieses Verbots sind damit zugleich im Rahmen der einheitlichen Dogmatik der Grundfreiheiten näher zu bestimmen.

d) Bedeutung des Unionsbürgerstatus im Rahmen des Art. 18 EGV Der teleologischen Interpretation kommt im Gemeinschaftsrecht eine besonders herausragende Rolle zu.116 Dabei ist der Sinn und Zweck des Art. 18 EGV zu ermitteln. Im Rahmen dieses zentralen Unionsbürgerrechtes spielt der Impetus der Unionsbürgerstellung nach Art. 17 EGV eine maßgebliche Rolle. Damit soll die Entwicklung weg von einer beschränkten Marktbürgerschaft und hin zu einer Unionsbürgerschaft mit einer – vorbehaltlich der in Art. 18 EGV angelegten Schrankenvorbehalte – umfassenden Freiheitsgewährung in Gang gesetzt werden. Der Unionsbürgerschaft kommt insofern neben ihrer gleichheitsrechtlichen Komponente auch eine freiheitsrechtliche Komponente zu. Zudem ist anerkannt und ständige EuGH-Rechtsprechung, dass Freizügigkeitsrechte nicht nur durch Diskriminierungen aufgrund der Staatsangehörigkeit beschränkt werden können, sondern genauso durch unterschiedlose Maßnahmen, welchen sich 112 113 114 115 116

Ausführlich dazu: E. IV. EuGH, Rs. C-193/94, Skanavi und Chryssanthakopoulos, Slg. 1996, I-929, Rdn. 22. EuGH, Rs. C-100/01, Oteiza Olazabal, Slg. 2002, I-10981, Rdn. 26. EuGH, Rs. C-92/01, Georgios Stylianakis, Slg. 2003, I-1291, Rdn. 18. Schwarze, in: Schwarze, Art. 220, Rdn. 27.

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G. Art. 18 EGV als Beschränkungsverbot

beispielsweise ein Unionsbürger bei der Ausübung der Freizügigkeit durch seinen eigenen Mitgliedstaat ausgesetzt sehen kann. Um dem allgemeinen Freizügigkeitsrecht und der dahinter stehenden Unionsbürgerstellung zur vollen Wirksamkeit zu verhelfen, muss Art. 18 EGV im Sinne eines Beschränkungsverbots aufgefasst werden. Dahinter steht der Gedanke der optimalen Wirksamkeit des Gemeinschaftsrechts.117 Nach diesem, auch effet utile-Grundsatz genannten, Prinzip sind Vorschriften des europäischen Rechts so auszulegen bzw. fortzubilden, dass sie ihre größtmögliche Wirksamkeit sowohl in rechtlicher als auch in praktischer Sicht entfalten.118

e) Gesamtzusammenfassung Zwischen einem Diskriminierungsverbot für grenzüberschreitende Sachverhalte und einem Beschränkungsverbot, welches tatbestandlich eingeschränkt ist, bestehen in der Sache gar nicht so große Unterschiede. Die extensive Interpretation des Diskriminierungsverbots bzw. des Unionsbürgerstatus läuft inhaltlich auf ein Beschränkungsverbot hinaus. Die Fallgruppe „Diskriminierung grenzüberschreitender Sachverhalte“ kann problemlos über das Beschränkungsverbot gelöst werden, so dass es eines Rückgriffes auf das Diskriminierungsverbot und dessen wortlautüberdehnende Interpretation nicht bedarf. Vergleicht man die Rechtsprechungsentwicklung zum Beschränkungsverbot und zu den Personenfreiheiten, so dauerte es relativ lange, bis der EuGH eindeutig von einem Verbot im Sinne einer Beschränkung sprach. Zuvor stützte er seine Ergebnisse hauptsächlich auf das Diskriminierungsverbot. Allerdings bereitete es zusehends mehr Aufwand, die Fälle unter dieses Verbot zu subsumieren. Das Schlagwort „weit verstandenes Diskriminierungsverbot“ machte die Runde.119 Erst nach einer längeren Kette von mehr oder minder dogmatisch deutlichen Urteilen stellte der EuGH mit seiner BosmanEntscheidung klar, dass Art. 39 EGV ein Beschränkungsverbot enthält. Auf diesem Hintergrund ist es nicht erstaunlich, dass der Europäische Gerichtshof die anfänglich zu entscheidenden Fälle nicht eindeutig unter Zuhilfenahme des Beschränkungsverbots löste, sondern das Ergebnis auch mit einer Diskriminierung von Unionsbürgern begründete. Mittlerweile spricht der Europäische Gerichtshof von einer „Beschränkung der Freiheiten … die Art. 18 EG jedem Unionsbürger verleiht“.120 Art. 18 EGV ist als allgemeines Freizügigkeitsrecht zu verstehen, welches im Sinne eines Beschränkungsverbot auszulegen ist. Dabei erweist es sich als all117

Füßer, DÖV 1999, S. 96 (101); Nettesheim, in: Grabitz/Hilf (Hrsg.), Art. 4 Rdn. 55 ff. Vgl. dazu: Oppermann, Europarecht, Rdn. 686. 119 Füßer, DÖV 1999, S. 96 (98); Nettesheim, NVwZ 1996, S. 342 f. 120 EuGH, Rs. C-406/04, De Cuyper, Slg. 2006, I-6947, Rdn. 39 ; Rs. C-192/05, Tas-Hagen und Tas, Slg. 2006, I-10451, Rdn. 31; Rs. C-76/05, Schwarz u. Gootjes-Schwarz, Slg. 2007, I-0000, Rdn. 93. 118

II. Anwendung auf Art. 18 EGV

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gemeiner Auffangbeschränkungstatbestand gegenüber den spezielleren Beschränkungsverboten der Grundfreiheiten des EGV. Dieses Ergebnis lässt sich maßgeblich auch von der angemessenen Beachtung der Bedeutung des Freizügigkeitsrechts für die Unionsbürger und von dem neuen Status der Unionsbürgerschaft ableiten. Dabei mag es zutreffend sein, dass die Vertragspartner ihm bei Schaffung des Rechts nicht eine derartige Bedeutung zumessen wollten, allerdings sind die Vorschriften stets im Lichte der fortschreitenden Entwicklung dynamisch zu interpretieren. Auch der EuGH tendiert offensichtlich zu dieser Auslegung, da er mehrfach das Generalitäts- Spezialitätsverhältnis zwischen Art. 18 EGV und den Grundfreiheiten hervorhob. Vorbehaltlich einer Rechtfertigung sind Beschränkungen auf jeden Fall dann verboten, wenn sie „einen Staatsangehörigen eines Mitgliedstaates daran hindern oder davon abhalten, sein Herkunftsland zu verlassen, um von seinem Recht auf Freizügigkeit Gebrauch zu machen“.121 Grundsätzlich ist jede Maßnahme, welche die Freizügigkeit der Unionsbürger rechtlichen Beschränkungen unterwirft oder den Gebrauch dieses Rechts weniger attraktiv macht, als Eingriff zu bewerten.122

3. Reichweite des Beschränkungsverbots in Art. 18 EGV Wegen der Gefahr einer uferlosen Überprüfung mitgliedstaatlicher Regelungen ist bereits im Bereich der Personenverkehrsfreiheiten anerkannt, dass der weite Beschränkungsbegriff bereits auf tatbestandlicher Ebene einer Eingrenzung bedarf. Diese Argumentation gilt erst recht für die allgemeine Freizügigkeit nach Art. 18 EGV, da hier schon einmal jeglicher wirtschaftlicher Bezug entfällt. Die Anwendung dieser weiten Formel würde dazu führen, dass der Großteil des mitgliedstaatlichen Normbestands dazu geeignet wäre, die Freizügigkeit und den Aufenthalt der Unionsbürger zu beeinträchtigen. Mitgliedstaatliche Regelungen, welche nicht zumindest potenziell oder mittelbar die Bereitschaft eines Unionsbürgers zur grenzüberschreitenden Inanspruchnahme seines Freizügigkeitsrechts zu beeinflussen geeignet sind, sind kaum vorstellbar. Im Rahmen des Beschränkungsverbots besteht die Gefahr, dass sehr stark in das Gefüge der nationalen Rechtsordnungen eingegriffen wird. Stellen bereits strengere Promille-Grenzen im Straßenverkehr oder ein ausgeprägtes Tempolimit auf Autobahnen eine Beschränkung des Freizügigkeitsrechts dar? Ist die Pflicht der Mülltrennung ein Eingriff in Art. 18 EGV? Es wäre extrem unpraktikabel, wenn die gesamte mitgliedstaatliche Rechtsordnung dem Beschränkungsverbot unterläge und damit in das EU-rechtliche Prüfungsraster fiele und vom Gerichtshof auf ihre Rechtfertigung hin überprüft werden müsste. Es liegt daher auf der Hand, dass deshalb nicht jede nationale

121 EuGH, Rs. C-190/98, Graf, Slg. 2000, I-495, Rdn. 23 ff.; Rs. C-10/90, Masgio, Slg. 1991, I-1119, Rdn. 18 ff. 122 Füßer, DÖV 1999, S. 96 (102).

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G. Art. 18 EGV als Beschränkungsverbot

Regelung, welche unabhängig von der Staatsangehörigkeit gilt und die Unionsbürger davon abhalten könnte, von ihrem Recht auf allgemeine Freizügigkeit Gebrauch zu machen, zwangsläufig eine Beeinträchtigung des Freizügigkeitsrechts darstellen darf. Angesichts der Vielfalt möglicher Eingriffe muss eine Eingrenzung bereits oberhalb der Rechtfertigungsebene erfolgen. Die Reichweite des Beschränkungsverbots ist einzugrenzen. Die im Rahmen der Grundfreiheiten entwickelte Keck-Mithouard-Formel basiert auf der Idee des Binnenmarktkonzeptes nach Art. 3 c EGV und greift den Binnenmarktgedanken des Art. 14 Abs. 2 EGV auf.123 Im Rahmen des allgemeinen Freizügigkeitsrechts kann diese Argumentation nicht direkt angewendet werden, da es sich eben gerade nicht um eine Marktfreiheit handelt. Es bedarf nochmals einer vertieften Überlegung, was eigentlich mit der Vorschrift des Art. 18 EGV erreicht werden soll, also was ihr Sinn und Zweck ist. Entscheidend ist dabei, dass Art. 18 EGV allen Unionsbürgern den freien Zug und den freien Aufenthalt gewähren will. Darüber hinaus ist das allgemeine Freizügigkeitsrecht des Art. 18 EGV auf eine Integration und Eingliederung in die innerstaatliche Gesellschaftsund Rechtsordnung angelegt. Die Erstreckung eines umfassenden Beschränkungsverbots auf alle Aspekte der Freizügigkeit gebietet die Unionsbürgerschaft aber nicht. Unionsbürger, welche von ihrem Aufenthaltsrecht Gebrauch machen, sind während ihres Aufenthalts grundsätzlich durchaus an die Regeln gebunden, die der Aufnahmemitgliedstaat vorsieht – vorausgesetzt sie diskriminieren den Unionsbürger nicht. Der Aufenthalt von Unionsbürgern in einem anderen Mitgliedstaat muss sich am Maßstab des Diskriminierungsverbots messen lassen. Befindet sich der Unionsbürger bereits im Mitgliedstaat, so ist er hinsichtlich des allgemeinen gesellschaftsrechtlichen Rahmens gleich zu behandeln wie die Bürger des Aufenthaltsstaates. Eine dauerhafte Privilegierung ist nicht erwünscht.124 Davon zu unterscheiden sind aber Konstellationen, in der die Freizügigkeit selbst, also die Aus-, Ein- oder Durchreise, betroffen sind. Diesbezüglich enthält Art. 18 EGV ein Beschränkungsverbot. Es geht dabei darum, eine Schlechterstellung grenzüberschreitender Sachverhalte zu unterbinden. Zu einem ähnlichen Ergebnis gelangt auch Ziekow, indem er die verfassungsrechtlich geführte Diskussion um die sog. nichtklassischen Eingriffe in das Grundrecht auf Freizügigkeit nach Art. 11 GG analog anwendet.125 Demnach seien nur solche Maßnahmen, die den Grundrechtsberechtigten bei einer objektiven Betrachtung von der Inanspruchnahme seines Freizügigkeitsrechts abhalten könnten, als Eingriffe zu bewerten. So dürfe die sozialrechtliche Stellung des Unionsbürgers nicht allein deshalb geschmälert werden, weil er von seinem allgemeinen Freizügigkeitsrecht Gebrauch gemacht hat.

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Vgl. Deckert/Schroeder, JZ 2001, S. 88 (89). Streinz, Europarecht, Rdn. 672a. 125 Ziekow, Die Freizügigkeit des Unionsbürgers, in: Dörr (Hrsg.), Ein Rechtslehrer in Berlin, S. 101 (107). 124

II. Anwendung auf Art. 18 EGV

145

Es bietet sich an, zwischen den folgenden 2 Arten von Beschränkungen zu unterscheiden: (1) Zugangsbeschränkungen (z. B. mittels einer Passkontrolle bei Einreise); (2) Benachteiligung grenzüberschreitender Vorgänge (z. B. durch die eingeschränkte Gewährung von Sozialleistungen). Dabei kann wiederum unterschieden werden zwischen Nachteilen, welche durch den Herkunftsstaat, und solchen, welche durch den Aufnahmestaat verursacht werden. Hinsichtlich sonstiger Aufenthaltsmodalitäten und gesetzlicher Vorgaben sind Unionsbürger auf den Grundsatz der Nichtdiskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit beschränkt. Des Weiteren greift die Rechtsprechung auch bereits im Rahmen des Art. 18 EGV auf das Kriterium der Spürbarkeit zurück. So müssten die Beeinträchtigungen „von einigem Gewicht sein“. Die Unbestimmtheit dieses Kriteriums mag zur Kritik herausfordern, im übrigen mag dieser Auswahlmaßstab, wie bereits angedeutet, grundsätzlich unangebracht sein, allerdings kann er für die im Einzelfall erforderliche Feinabstimmung sorgen, solange sich noch nicht eindeutig ein anderes Begrenzungskriterium herauskristallisiert hat. In diese Richtung weisen die Schlussanträge von Generalanwalt Geelhoed sowie das dazu gehörende Urteil des EuGH in der Rechtssache Schempp.126 Es war dabei der Frage nachzugehen, ob Herrn Schempps Unterhaltszahlungen an seine in Österreich wohnhafte geschiedene Ehefrau in rechtmäßiger Weise bei seiner Einkommenssteuererklärung unberücksichtigt blieben, während er diese Zahlungen bei einer Ansässigkeit seiner früheren Ehefrau in Deutschland hätte in voller Höhe abziehen können. Die maßgeblichen Vorschriften des EStG seien nicht geeignet, das Freizügigkeitsrecht des Herrn Schempp zu beeinträchtigen. Gleiches gelte für die Ausübung des Freizügigkeitsrechts durch seine frühere Ehefrau. So stellt bereits Generalanwalt Geelhoed fest, dass „… die Verbindung zwischen den im vorliegenden Fall in Rede stehenden Vorschriften des EStG und den durch Artikel 18 Absatz 1 EG gewährleisteten Freiheiten ziemlich schwach“ ist.127 Dies ergebe sich insbesondere daraus, dass das in § 1 a Abs. 1 Nr. 1 EStG verwendete Kriterium neutral sei.128 Danach hängen die Auswirkungen dieser Vorschrift auf den Steuerpflichtigen von 126

Rs. C-403/03, Schempp, Slg. 2005, I-6421. Schlussanträge Generalanwalt Geelhoed, Rs. C-403/03, Schempp, Slg. 2005, I-6421, Rdn. 39. 128 Schlussanträge Generalanwalt Geelhoed, Rs. C-403/03, Schempp, Slg. 2005, I-6421, Rdn. 32. § 1a Abs. 1 Nr. 1 EStG lautet wie folgt: „Unterhaltsleistungen an den geschiedenen oder dauernd getrennt lebenden Ehegatten (§ 10 Abs. 1 Nr. 1) sind auch dann als Sonderausgaben abziehbar, wenn der Empfänger nicht unbeschränkt steuerpflichtig ist. Voraussetzung ist, dass der Empfänger seinen Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt im Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaates der Europäischen Union oder eines Staates hat, auf den das Abkommen über den Europäischen Wirtschaftsraum Anwendung findet. Weitere Voraussetzung ist, dass die Besteuerung der Unterhaltszahlungen beim Empfänger durch eine Bescheinigung der zuständigen ausländischen Steuerbehörde nachgewiesen wird.“ 127

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G. Art. 18 EGV als Beschränkungsverbot

der steuerrechtlichen Behandlung des Unterhalts in den verschiedenen Mitgliedstaaten ab. Dieser Argumentation ist zuzustimmen, da hier der kausale Bezug für die Beschränkung des Freizügigkeitsrechts zu weit entfernt ist, als dass er durchschlüge. Auch der Gerichtshof sieht das Freizügigkeitsrecht „in keiner Weise … beeinträchtigt“;129 dabei greift er auch das schon erwähnte Kriterium der Neutralität der deutschen Vorschrift auf: „Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofes garantiert der EG-Vertrag einem Unionsbürger jedoch nicht, dass die Verlagerung seiner Tätigkeiten in einen anderen Mitgliedstaat als demjenigen, in dem er bis dahin gewohnt hat, hinsichtlich der Besteuerung neutral ist. Aufgrund der Unterschiede im Steuerrecht der Mitgliedstaaten kann eine solche Verlagerung für den Bürger je nach Einzelfall Vor- oder Nachteile bei der mittelbaren Besteuerung haben“.130 Mit dieser Argumentation eröffnet sich der EuGH zugleich die Möglichkeit für zukünftige Fälle, insbesondere in nicht-harmonisierten Bereichen, die weite Anwendung des Art. 18 EGV einschränken.

III. Rechtfertigung einer Beschränkung durch zwingende Erfordernisse des Allgemeininteresses III. Rechtfertigung einer Beschränkung

Um der drastischen Erweiterung der Grundfreiheiten hin zu Beschränkungsverboten gerecht zu werden, musste der Gerichtshof auch auf der Rechtfertigungsebene ein Gegengewicht errichten.131 Dem engen Verständnis der geschriebenen Rechtfertigungsgründe entsprechend, konnte mit ihnen auf die neue Herausforderung nicht angemessen reagiert werden. Der Gerichtshof behalf sich, indem er ungeschriebene Rechtfertigungstatbestände entwickelte.132 Zur Herleitung zwingender Erfordernisse greift der EuGH sowohl auf die mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen als auch auf völkerrechtliche Verpflichtungen zurück. Möglicherweise lässt sich dieses Rechtsinstitut auf das gemeinschaftsrechtliche Loyalitätsgebot zurückführen;133 danach hat die Gemeinschaft wichtige Erfordernisse der nationalen Rechtsordnungen zu berücksichtigen. Für alle Grundfreiheiten ist heute ein einheitlicher Rechtfertigungsstandard anerkannt; insbesondere in der nachfolgend zitierten Gebhard-Entscheidung spricht der Gerichtshof im Plural von Freiheiten: „Aus der Rechtsprechung des Gerichtshofes ergibt sich jedoch, dass nationale Maßnahmen, die die Ausübung der durch den Vertrag garantierten grundlegenden Freiheiten behindern oder weniger attraktiv machen können, vier Voraussetzungen erfüllen müssen: Sie müssen in nichtdiskriminierender Weise angewandt werden, sie müssen aus zwingenden Gründen des Allgemeininteresses gerechtfertigt sein, sie müssen geeignet sein, die Verwirklichung 129 130 131 132 133

EuGH, Rs. C-403/03, Schempp, Slg. 2005, I-6421, Rdn. 43. EuGH, Rs. C-403/03, Schempp, Slg. 2005, I-6421, Rdn. 45. Schultz, Das Verhältnis von Gemeinschaftsgrudrechten und Grundfreiheiten, S. 98. Kingreen, Struktur der Grundfreiheiten, S. 114. Schultz, Das Verhältnis von Gemeinschaftsgrundrechten und Grundfreiheiten, S. 99.

III. Rechtfertigung einer Beschränkung

147

des mit ihnen verfolgten Ziels zu gewährleisten, und sie dürfen nicht über das hinausgehen, was zur Erreichung dieses Ziels erforderlich ist“.134

Im Sinne einer kohärenten Anwendung aller Grundfreiheiten ist diese Rechtsprechung auch im Rahmen des Art. 18 Abs. 1 EGV heranzuziehen. Die Rechtsprechung hat eine große Anzahl von anerkannten Schutzinteressen herausgearbeitet.135 Als zwingende Erfordernisse sind z. B. die wirksame steuerliche Kontrolle, die Lauterkeit des Handelsverkehrs, der Verbraucherschutz136 und auch die Sicherstellung des finanziellen Gleichgewichts der sozialen Sicherungssysteme137 anerkannt. Nationalstaatliche Sozialvorschriften knüpfen typischerweise an das Territorialitätsprinzip an; sie sind deshalb dazu geeignet, die inländischen Staatsangehörigen an der Ausübung ihres allgemeinen Freizügigkeitsrechts zu hindern. Für die im Rahmen dieser Arbeit primäre Fragestellung nach den sozialen Rechten der Unionsbürger ist zu untersuchen, ob die Einschränkung der Exportierbarkeit von Sozialleistungen bei mangelnder Einschlägigkeit der VO 1408/71 rechtens ist. So haben zum Beispiel in der Bundesrepublik Deutschland nach § 24 Abs. 1 SGB XII deutsche Sozialhilfeempfänger, die ihren gewöhnlichen Aufenthalt im Ausland haben, keinen Anspruch auf diese Sozialleistung. Nur im Einzelfall kann unter besonderen Voraussetzungen davon abgewichen werden. Dies führt dazu, dass Unionsbürger bei Inanspruchnahme ihres Freizügigkeitsrechts benachteiligt werden. Die Regelung des § 24 SGB XII ist daher geeignet, die Ausübung des Freizügigkeitsrechts weniger attraktiv erscheinen zu lassen, bzw. führt faktisch sogar dazu, dass auf soziale Fürsorge angewiesene Unionsbürger von der Ausübung ihres Freizügigkeitsrechts ausgeschlossen sind. Wegen der Benachteiligung grenzüberschreitender Sachverhalte kommt auch keine tatbestandliche Einschränkung des Beschränkungsverbots in Betracht. Die Beschränkung ist aber möglicherweise gerechtfertigt, sofern der Mitgliedstaat Gründe des Allgemeininteresses geltend machen kann. Möglicherweise könnte die Einschränkung aufgrund der Sicherung des finanziellen Gleichgewichts der Sozialsysteme gerechtfertigt sein. Im Fall D’Hoop konnte die Beschränkung nicht gerechtfertigt werden. Voraussetzung dafür wäre laut EuGH gewesen, dass die fragliche Bedingung „auf objektiven, von der Staatsangehörigkeit der Betroffenen unabhängigen Erwägungen beruhte und in einem angemessenen Verhältnis zu einem legitimen Zweck stünde, der mit den nationalen Rechtsvorschriften verfolgt würde“.138 Der Sinn und Zweck des Überbrückungsgelds besteht darin, den Schulabgängern den Übergang von

134 135 136 137 138

EuGH, Rs. C-55/94, Gebhard, Slg. 1995, I-4165/4197 f., Rdn. 37. Ausführlich dazu: Randelzhofer/Forsthoff, in: Grabitz/Hilf, Vor Art. 39 – 55, Rdn. 161. EuGH, Rs. 120/78, Cassis de Dijon, Slg. 1979, 649, Rdn. 8 insbesondere. EuGH, Rs. C-120/95, Decker, Slg. 1998, I-1831, Rdn. 39. EuGH, Rs. C-224/98, D’Hoop, Slg. 2002, I-6191, Rdn. 38.

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G. Art. 18 EGV als Beschränkungsverbot

der Ausbildung zum Arbeitsmarkt zu erleichtern. In diesem Zusammenhang ist es legitim, dass der Gesetzgeber einen tatsächlichen Zusammenhang zwischen dem Antragsteller mit dem räumlichen Arbeitsmarkt fordert. Allerdings ist es nicht richtig, dabei „ausschließlich auf den Ort der Erlangung des Schulabgangszeugnisses abzustellen“.139 Dieses Kriterium geht über das zur Erreichung des verfolgten Ziels erforderliche Maß hinaus, da es alle anderen Gesichtspunkte, welche auch den Grad der Verbundenheit des Antragstellers mit dem Arbeitsmarkt darstellen könnte, ausschließt.

139

EuGH, Rs. C-224/98, D’Hoop, Slg. 2002, I-6191, Rdn. 39.

H. Sozialrechtlicher Gleichbehandlungsanspruch H. Sozialrechtlicher Gleichbehandlungsanspruch Von besonderer Brisanz erweist sich die Frage, ob und inwieweit aufenthaltsberechtigte Unionsbürger, welche nicht bereits unter die spezifischen Diskriminierungsverbote der Arbeitnehmer-, Niederlassungs- und Dienstleistungsfreiheit fallen, sich auf das allgemeinere Diskriminierungsverbot des Art. 12 EGV stützen können. Der Europäische Gerichtshof weist unter Bezugnahme auf Art. 17 Abs. 2 EGV darauf hin, dass die Unionsbürger die in diesem Vertrag vorgesehenen Rechte und Pflichten haben und damit auch in den Genuss des Diskriminierungsverbots des Art. 12 EGV kommen. Unbeschadet besonderer Bestimmungen ist danach im Anwendungsbereich des EG-Vertrags zugunsten von Unionsbürgern eine Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit verboten. Dieses Verbot entfaltet unmittelbare Wirkung und gewährt den Unionsbürgern ein subjektives Recht auf die gleiche Behandlung wie Staatsangehörigen des Aufenthaltsstaates.1 Das Verbot der Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit wird als „Magna Charta“ bzw. als „Leitmotiv“2 des gesamten europäischen Vertrags bezeichnet. Seine Bedeutung liegt primär in der Schaffung einer transnationalen Integration in einer immer engeren Union. Dies geschieht durch eine Überwindung des Fremdenstatus.3 Wie nur sehr wenige Vorschriften des EGV spricht Art. 12 EGV ausdrücklich von „Diskriminierung“ aus Gründen der Staatsangehörigkeit.4 Dies setzt zunächst das Bestehen einer Differenzierung voraus. Die zu bildenden Vergleichsgruppen müssen in ihren wesentlichen Merkmalen übereinstimmen, so dass gleiche Sachverhalte vorliegen. Werden diese beiden vergleichbaren Gruppen nun unterschiedlich behandelt, so kann eine Diskriminierung vorliegen. Für eine Differenzierung genügt aber auch, dass Sachverhalte einer gleichen Behandlung unterworfen werden, die in ihren wesentlichen Merkmalen nicht übereinstimmen.5 So liegt nach Art. 12 EGV auch eine Diskriminierung vor, „wenn gleichgelagerte Sachverhalte ungleich oder verschieden gelagerte gleich behan1 EuGH, Rs. 152/82, Forcheri, Slg. 1983, 2323(2336); Rs. C-274/96, Bickel und Franz, Slg. 1998, I-7637(7655); EuGH, verb. Rs. C-92/92 und C-326/92, Phil Collins, Slg. 1993, I-5145(5182); EuGH, Rs. C-85/96, Martinez Sala, Slg. 1998, I-2691(2726). 2 Streinz, in: Streinz, Art. 12 Rdn. 8; Ipsen, Europarecht, S. 592. 3 Kingreen, in: Ehlers (Hrsg.), Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, S. 399; von Bogdandy, in: Grabitz/Hilf, Art. 6, Rdn. 1. 4 Daneben z. B. auch noch in: Art. 13, 30 S. 2, 31 Abs. 1, 34 Abs. 2 EGV. 5 Für das Diskriminierungsverbot des Art. 7 EWGV: EuGH, Rs. 13/63, Italien/Kommission, Slg. 1963, 357 (384); Rs. 106/83, Sermide, Slg. 1984, 4209, Rdn. 28; Rs. C-309/89, Codorniu, Slg. 1994, I-1853, Rdn. 26; vgl. nun auch: EuGH, Rs. C-148/02, Avello, Slg. 2003, I-0000, Rdn. 31. Streinz, in: Streinz, Art. 12, Rdn. 41.

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H. Sozialrechtlicher Gleichbehandlungsanspruch

delt würden“. Eine ähnliche Definition der Ungleichbehandlung gilt auch für den allgemeinen Gleichheitssatz.6 Dieser wird vom Europäischen Gerichtshof seit langem als Gemeinschaftsgrundrecht anerkannt7 und findet sich in Art. 20 GRCh bzw. Artikel II-20 des Entwurfs eines Vertrags über eine Verfassung für Europa wieder. In der Rs. Avello kam der Gerichtshof so zu dem Ergebnis, dass Art. 12 i. V. m. Art. 18 EGV auch einen Anspruch auf Ungleichbehandlung beinhalten kann. In der Literatur wird dieser Auslegung teilweise entgegengetreten; bei genauerer Betrachtung zeige sich, dass der allgemeine Gleichheitssatz und das allgemeine Diskriminierungsverbot nicht zwingend strukturidentisch seien.8 Während ersterem ein umfassender Gehalt zukomme, so dass als Ansatz einer Differenzierung sowohl eine Ungleichbehandlung gleichartiger Sachverhalte als auch eine Gleichbehandlung verschiedener Sachverhalte in Betracht komme, verenge der Wortlaut des Art. 12 EGV die Diskriminierung einseitig auf das verbotene Kriterium der Staatsangehörigkeit. Unter Heranziehung dieser Ansicht wäre die Rs. Avello über die Grundsätze des Beschränkungsverbots zu lösen gewesen.

I. Begriff und Abgrenzung zu anderen Diskriminierungsverboten I. Begriff und Abgrenzung

Art. 12 Abs. 1 EGV wird oftmals als allgemeines Diskriminierungsverbot bezeichnet; dies ist aber insofern unzutreffend, als Art. 12 EGV unter mehreren möglichen Differenzierungsgründen lediglich ein Merkmal, nämlich das der Staatsangehörigkeit, herausgreift. Insofern wird Art. 12 teilweise als spezifisches Diskriminierungsverbot verstanden.9 Andererseits – und hier liegt der Schwerpunkt – verbietet Art. 12 EGV eine Diskriminierung aus Gründen der Nationalität für alle Unionsbürger. Er gelangt damit nicht nur zugunsten spezieller Personengruppen und spezieller Bereiche zur Anwendung und unterscheidet sich dadurch von den speziellen Diskriminierungsverboten der Warenverkehrs-, Arbeitnehmer-, Niederlassungs- und Dienstleistungsfreiheit. Vor diesem Hintergrund ist es daher gerechtfertigt, Art. 12 Abs.1 EGV als allgemeines Diskriminierungsverbot zu bezeichnen. Art. 12 Abs. 1 EGV verbietet Diskriminierungen aus Gründen der Staatsangehörigkeit „unbeschadet besonderer Bestimmungen dieses Vertrags“. Als allgemei6 EuGH, Rs. C-217/91, Kommission/Spanien, Slg. 1993, I-3923, Rdn. 37; Rs C-306/93, SMW Winzersekt, Slg. 1994, I-5555, Rdn. 30. Kingreen, in: Ehlers (Hrsg.), Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, S. 402. 7 Vgl. zuerst: EuGH, verb. Rs. 117/76 und 16/77, Ruckdeschel, Slg. 1977, 1753, Rdn. 7; verb. Rs. 124/76 und 20/77, Moulins Pont-à-Mousson, Slg. 1977, 1795 ff., Rs. 245/81, Edeka, Slg. 1982, 2745 ff.; Rs. C-292/97, Karlsson, Slg. 2000, I-2737 ff. 8 Mühl, Diskriminierung und Beschränkung, S. 66; Meyer, Das Diskriminierungsverbots des Gemeinschaftsrechts, S. 35. 9 Vgl. Rossi, EuR 2000, S. 197 ff.

II. Sachlicher Anwendungsbereich

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nes Verbot ist es somit subsidiär gegenüber den spezielleren Diskriminierungsverboten aus Gründen der Staatsangehörigkeit im EGV. Vorrangig sind daher die Diskriminierungsverbote der Grundfreiheiten zu prüfen, namentlich der Arbeitnehmerfreizügigkeit, der Niederlassungs- und der Dienstleistungsfreiheit. So nahm der EuGH in mehreren Urteilen von einer eigenständigen Prüfung des Art. 12 EGV unter Hinweis auf die besonderen Vorschriften der Grundfreiheiten Abstand.10 Andererseits zog er neben den speziellen Diskriminierungsverboten auch oftmals Art. 12 EGV ergänzend heran.11 Da der Wortlaut des Art. 18 EGV explizit kein Diskriminierungsverbot enthält, argumentiert der Gerichtshof in seinem Anwendungsbereich mit dem Gleichbehandlungsgrundsatz des Art. 12 EGV. Möglicherweise enthält aber Art. 18 EGV implizit doch bereits ein Diskriminierungsverbot.12 Nach der hier vertretenen Ansicht beinhaltet Art. 18 EGV ein Beschränkungsverbot.13 Ein Unterfall der Beschränkung liegt in der Ungleichbehandlung aufgrund der Staatsangehörigkeit. In diese Richtung geht die Entscheidung des EuGH im Fall D’Hoop. Eine belgische Staatsangehörige bekam in Belgien allein deshalb kein Überbrückungsgeld, weil sie ihren Schulabschluss in Frankreich gemacht hatte. Ohne Bezugnahme auf den damaligen Art. 6 EGV (heute: Art. 12 EGV) stellte der EuGH fest, dass eine solche Ungleichbehandlung „den Grundsätzen, auf denen der Status eines Unionsbürgers beruht, nämlich der Garantie gleicher rechtlicher Behandlung bei Ausübung der Freizügigkeit“14, widerspreche. Es spricht daher vieles dafür, bereits in Art. 18 EGV ein Gleichbehandlungsanspruch zu sehen. Allerdings ist, solange keine eindeutige gleichheitsrechtliche Regelung in Art. 18 EGV existiert, zur Klarstellung Art. 12 EGV mit heranzuziehen.

II. Sachlicher Anwendungsbereich des Art. 12 EGV (ratione materiae) II. Sachlicher Anwendungsbereich

Eine Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit ist im Anwendungsbereich des EGV verboten. Wann der Anwendungsbereich des Vertrags eröffnet ist, ist nicht immer ganz klar. Der Begriff bedarf der Konkretisierung. Im Wesentlichen lassen sich dabei zwei Grundauffassungen unterscheiden15: Nach ersterer 10

Vgl. z. B.: EuGH, Rs. 213/90, Asti, Slg. 1991, I-3507, Rdn. 10; Rs. C-112/91, Werner/ Finanzamt Aachen-Innenstadt, Slg. 1993, I-429, Rdn. 19; Rs. C-379/92, Peralta, Slg. 1994, I-3453, Rdn. 18. 11 Vgl. z. B.: EuGH, Rs. 36/74, Walrave und Koch, Slg. 1974, 1405, Rdn. 12, 13; Rs. C-45/93, Kommission/Spanien, Slg. 1994, I-911, Rdn. 10. 12 So auch: Scheuing, EuR 2003, S. 744 (783); Borchardt, NJW 2002, S. 2057 (2059). Becker, ZESAR 2002, S. 8 (11) will Art. 18 EGV bei unmittelbaren Diskriminierungen und Art. 12 EGV bei mittelbaren Diskriminierungen zur Anwendung bringen; so auch Bode, EuZW 2003, S. 552 (556). 13 Siehe G. II. 2. e). 14 EuGH, Rs. C-224/98, D’Hoop, Slg. 2002, I-6191, Rdn. 35. 15 Vgl. im Einzelnen dazu: Epiney, in: Calliess/Ruffert, Art. 12 Rdn.21 f.; Schweitzer, Art. 12 EGV – Auf dem Weg zum „allgemeinen“ Gleichheitssatz?, S.189 (192 f.), in: Arndt/Knemeyer/

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H. Sozialrechtlicher Gleichbehandlungsanspruch

ist der Anwendungsbereich eröffnet, wenn die EU eine Kompetenz für den Regelungsbereich besitzt; die andere Auffassung stellt eine funktionale Betrachtungsweise an, wonach ein Zusammenhang mit der Errichtung und dem Funktionieren des Gemeinsamen Marktes für ausreichend erachtet wird.

1. Vorliegen eines EG-rechtlichen Kompetenztitels Insbesondere von Seiten der Literatur16 wird gefordert, dass der Anwendungsbereich des EG-Vertrags nur für solche Sachverhalte eröffnet ist, welche in den Kompetenzbereich der EU fallen. Der Anwendungsbereich ist daher offen für alle Bereiche, die Gegenstand von gemeinschaftsrechtlichen Regelungen sein könnten. Teilweise wird sogar noch gefordert, dass die EG nicht nur eine Kompetenz besitzen dürfe, sondern dass sie auch bereits von der Kompetenz Gebrauch gemacht haben muss.17 Konkret bedeutet das, dass der Europäischen Union für die betreffende Sachmaterie nicht nur eine Aufgabeneröffnungsnorm18, sondern vielmehr eine Befugnisnorm zukommen muss. So müsste die EU beispielsweise eine Kompetenz für die Regelung des Zugangs nichterwerbstätiger Unionsbürger zu den einzelnen Sozialleistungen besitzen.

2. Vorliegen einer gemeinschaftsrechtlich geregelten Situation Der EuGH verlangt für die Eröffnung des Anwendungsbereichs des EG-Vertrags das Vorliegen einer „gemeinschaftsrechtlich geregelten Situation“19, bzw. dass der Sachverhalt „nicht außerhalb des Gemeinschaftsrechts“20 stehen darf. Auf eine Gemeinschaftskompetenz zur Regelung des Sachbereichs kommt es dabei gerade nicht an.21 Eine noch weitere Formulierung gebrauchte der EuGH im Urteil Morson u. a. aus dem Jahr 1982, indem er „Bezugspunkte mit irgendeinem der Sachverhalte, auf die das Gemeinschaftsrecht abstellt“22, als ausreichend erachtete. Kugelmann/Meng/Schweitzer (Hrsg.), Völkerrecht und deutsches Recht,FS für Walter Rudolf; Zuleeg, in: von der Groeben/Thiesing/Ehlermann, Art. 6 Rdn. 12. 16 von Bogdandy, in: Grabitz/Hilf, Art. 6, Rdn. 37 ff. 17 Kischel, EuGRZ 1997, S. 1 (7). 18 Zur Abgrenzung: vgl. Brigola, Das System der EG-Grundfreiheiten, S. 181 f. Das Vorliegen einer Aufgabeneröffnungsnorm fordern: Geiger, Art. 12 Rdn. 10; BayVGH, BayVBl. 1998, S. 278 (280). 19 EuGH, Cowan, Slg 1989,195 Rdn. 10 = NJW 1989, 2183. 20 EuGH, Rs. 293/83, Gravier, Slg. 1985, 593, Rdn. 19. 21 Vgl. zum Beispiel: EuGH, Rs C-172/98, Kommission/Belgien, Rdn. 11 ff.; EuGH, Rs. C-323/95, Hayes, Slg. 1997, I-1711 Rdn.17; EuGH, Rs C-85/96, Martinez Sala, Slg. 1998 I-269, Rdn.57,62; EuGH, Rs C-274/96, Bickel und Franz, Slg. 1998 I-7637, Rdn.16; EuGH, Rs. 293/83, Gravier, Slg. 1985, 593, Rdn. 19; EuGH, Rs. 186/87, Cowan, Slg. 1989, 195(219). 22 EuGH, verb. Rs. 35 und 36/82, Morson u. a., Slg. 1982, 3723, Rdn. 16.

II. Sachlicher Anwendungsbereich

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Ebenfalls als genügend angesehen werden „auch nur mittelbare“ Auswirkungen einer Vorschrift auf den innergemeinschaftlichen Handel von Gütern und Dienstleistungen.23 In der Rechtssache Cowan24 entschied der Europäische Gerichtshof, dass auch einem britischen Touristen, welcher in Frankreich Opfer eines Verbrechens wurde, eine öffentliche Opferentschädigung wie den französischen Staatsbürgern zukommen soll. Auf den ersten Blick besteht zwischen dieser Opferentschädigung und der Ausübung der (passiven) Dienstleistungsfreizügigkeit kein direkter Zusammenhang; der Gerichtshof greift auf eine funktionale Betrachtungsweise zurück25 und sieht den Anwendungsbereich aufgrund des untrennbaren Zusammenhangs mit der wahrgenommenen Dienstleistungsfreiheit des Touristen.

a) Die Rechtssache Bickel und Franz Auch in der Rechtssache Bickel und Franz hinderte den Gerichtshof die Tatsache, dass die Vorschriften über die Verfahrenssprache zu den Regeln des Strafverfahrens gehören, nicht daran, den Anwendungsbereich für eröffnet zu betrachten.26 Die Möglichkeit, mit den Behörden bzw. Gerichten anderer Mitgliedstaaten in einer bestimmten Sprache zu kommunizieren, erleichtere die Ausübung des Freizügigkeitsrechts und müsse sich daher am Maßstab des Gemeinschaftsrechts messen lassen. Im Rahmen der Personenfreizügigkeit stuft der Gerichtshof die Bedeutung des Schutzes der Rechte im sprachlichen Bereich sehr hoch ein.27 Auch das Namensrecht fällt beim gegenwärtigen Stand des Gemeinschaftsrechts in den Zuständigkeitsbereich der Mitgliedstaaten; dennoch müssen diese bei Ausübung dieser Freiheit das Gemeinschaftsrecht beachten.28 Der Sachverhalt, der der Entscheidung zugrunde liegt, stellt sich wie folgt dar:29 Gegen Herrn Bickel, einen österreichischen Staatsangehörigen, wurde anlässlich einer Lastkraftwagenfahrt innerhalb der Provinz Bozen ein Verfahren wegen Trunkenheit im Verkehr eingeleitet. Herr Franz, ein deutscher Staatsangehöriger, kam als Tourist nach Südtirol; dort wurde im Rahmen einer Zollkontrolle festgestellt, dass er ein verbotenes Messer bei sich führte. Um die deutsche Sprachminderheit in der Provinz Bozen zu schützen, bestimmt ein italienisches Gesetz, dass der deutschen Sprache der gleiche Status wie der italienischen Sprache zukommt. Den deutschsprachigen Bewohnern der Provinz Bozen wird daher 23 EuGH, Rs. C-323/85, Hayes, Slg. 1997, I-1711, Rdn. 17;EuGH, Rs. C-43/95, Data Delecta und Forsberg, Slg. 1996, I-4661, Rdn. 15; EuGH, Rs. C-122/96, Saldanha, Slg. 1997, I-5325, Rdn. 17. 24 EuGH, Rs. 186/87, Cowan, Slg. Slg. 1989, 195. 25 Tomuschat, C. M. L.Rev. 2000, S. 449(451). 26 EuGH, Rs. C-274/96, Bickel und Franz, Slg. 1998, I-7637, Rdn. 15–17. 27 EuGH, Rs. 137/84, Mutsch, Slg. 1985, 2681 ff., Rdn. 11. 28 EuGH, Rs. C-148/02, Avello, Slg. 2003, I-11613, Rdn. 25. 29 EuGH, Rs. C-274/96, Bickel und Franz, Slg. 1998, I-7637.

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H. Sozialrechtlicher Gleichbehandlungsanspruch

das Recht zugestanden, in gerichtlichen oder behördlichen Verfahren ihre eigene Sprache zu benutzen. Auf diese Bestimmungen beriefen sich auch Herr Bickel und Herr Franz und beantragten, dass das Verfahren gegen sie in deutscher Sprache durchgeführt würde. Nachdem ihnen dies verweigert worden war, klagten sie vor dem nationalen Gericht, welches den Fall letztlich dem EuGH zur Entscheidung vorlegte. In der Sache ging es dabei um zwei Fragestellungen: Erstens war zu untersuchen, ob Regelungen über die in strafgerichtlichen Verfahren anzuwendende Sprache in den Anwendungsbereich des EGV fallen. Und zweitens war zu klären, ob die in Rede stehenden italienischen Vorschriften eine Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit darstellen.

aa) Schlussanträge des Generalanwalts Jacobs Generalanwalt Jacobs sieht den Anwendungsbereich des EGV bei der Ausübung des Freizügigkeitsrechts für eröffnet. Dabei bezieht er sich zum einen auf die EuGH-Rechtsprechung in der Rs. Cowan.30 Herr Cowan, ein britischer Staatsangehöriger, wurde während eines touristischen Aufenthalts in Frankreich Opfer eines Verbrechens. Die in gleichgelagerten Fällen den französischen Staatsangehörigen gezahlte Opferentschädigung wurde ihm verwehrt. Der EuGH betont hier, dass zwar Strafrecht und Strafverfahrensrecht in den Zuständigkeitsbereich der Mitgliedstaaten falle, die staatliche Entschädigung zur Wiedergutmachung der Schäden aber in untrennbarem Zusammenhang mit der von Touristen wahrgenommenen Dienstleistungsfreiheit stehe.31 Der Anwendungsbereich des Vertrags wurde damit als eröffnet angesehen und somit verstößt die Weigerung, eine Entschädigung zu zahlen, gegen das Diskriminierungsverbot. In diesem Zusammenhang zieht Generalanwalt Jacobs den Schluss: „Die sich aus dem Urteil Cowan ergebende Schlussfolgerung ist vor dem Hintergrund der späteren Änderungen des EGV durch den Vertrag über die Europäische Union um so zwingender. Der 2. Teil des EGV trägt nun die Überschrift „Die Unionsbürgerschaft.“32 So könne bereits aus Art. 18 EGV geschlossen werden, dass der Anwendungsbereich des allgemeinen Diskriminierungsverbots eröffnet sei, wenn ein Unionsbürger von seinem Freizügigkeits- und Aufenthaltsrecht Gebrauch mache.

bb) Urteil des EuGH In seinem Urteil beanstandete der EuGH die italienische Regelung, die der in der Provinz Bozen ansässigen deutschen Sprachminderheit das Recht auf Durchführung eines Gerichtsverfahrens in ihrer Sprache gewährleistet, nicht aber deutsch30 31 32

EuGH, Rs. C-186/87, Cowan, Slg. 1989, 195. EuGH, Rs. 186/87, Cowan, Slg. 1989, 195, Rdn. 17. Schlussanträge Generalanwalt Jacobs, Rs. C-186/87, Cowan, Slg. 1989, 195, Rdn. 20.

II. Sachlicher Anwendungsbereich

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sprachigen Bürgern anderer EU-Mitgliedsstaaten. Dabei ging der EuGH zwar entgegen den Schlussanträgen des Generalanwalts Jacobs33 nicht ausschließlich auf das allgemeine Freizügigkeitsrecht des Art. 18 I EGV ein, sondern berief sich auch auf die passive Dienstleistungsfreiheit des Art. 59 EGV. Demnach gehöre es zu den gemeinschaftsrechtlich geregelten Situationen, dass sich Angehörige anderer Mitgliedstaaten als Leistungsempfänger zur Inanspruchnahme einer Dienstleistung in ein anderes Mitgliedsland begeben.34 Parallel dazu sieht der Gerichtshof den Anwendungsbereich des Vertrags über Art. 8 a EGV (heute: Art. 18 EGV) für eröffnet an. „Für die Unionsbürger ist die Möglichkeit, mit den Verwaltungs- und Justizbehörden eines Staates mit gleichem Recht wie die Bürger dieses Staates in einer bestimmten Sprache kommunizieren zu können, geeignet, die Ausübung der Freiheit, sich in einem anderen Mitgliedstaat zu bewegen und aufzuhalten, zu erleichtern. Folglich haben Personen, die wie Herr Bickel und Herr Franz von ihrem Recht, sich in einem anderen Mitgliedstaat zu bewegen und aufzuhalten, Gebrauch machen, grundsätzlich nach Artikel 6 des Vertrages einen Anspruch darauf, nicht gegenüber den Angehörigen dieses Staates ungleich behandelt zu werden, was die Benutzung der dort verwendeten Sprachen angeht.“35

Zwar seien für das Strafrecht und das Strafverfahrensrecht, zu welchem auch die streitigen Vorschriften über die Verfahrenssprache gehörten, grundsätzlich die Mitgliedstaaten zuständig, allerdings setze das Gemeinschaftsrecht dieser Zuständigkeit ihre Schranken: „Derartige Rechtsvorschriften dürften weder zu einer Diskriminierung von Personen führen, denen das Gemeinschaftsrecht einen Anspruch auf Gleichbehandlung verleiht, noch die vom Gemeinschaftsrecht garantierten Grundfreiheiten beschränken.“36

Die geltende italienische Regelung führe dazu, dass deutschsprachige Angehörige anderer EU-Mitgliedstaaten, welche sich in der Provinz Bozen bewegen und aufhalten, gegenüber den deutschsprachigen italienischen Staatsangehörigen, welche in der Region wohnen, benachteiligt werden. Objektive, unabhängig von der Staatsangehörigkeit der Betroffenen bestehende Erwägungen, welche eine Ungleichbehandlung rechtfertigen, bestünden keine. Herr Bickel und Herr Franz hätten daher einen Anspruch darauf, dass das Strafverfahren gegen sie in Südtirol in deutscher Sprache durchgeführt wird.37

33 Schlussanträge von Generalanwalt Jacobs vom 19. März 1998 in der Rs. C-274/96, Bickel und Franz, Slg. 1998, I- 7639. 34 EuGH, Rs. C-274/96, Bickel und Franz, Slg. 1998, I-7637, Rdn. 15; EuGH, Rs. 186/87, Cowan,Slg. 1989, 195, Rdn. 15. 35 EuGH, Rs. C-274/96, Bickel und Franz, Slg. 1998, I-7637, Rdn. 16. 36 EuGH, Rs. C-274/96, Bickel und Franz, Slg. 1998, I-7637, Rdn. 17. Vgl. dazu Besprechungen von: Bulterman, C. M. L.Rev. 36 (1999), S. 1325 ff.; Novak, EuZW 1999, S. 82 ff. 37 Vgl. bereits früher die Entscheidung: EuGH, Rs. 137/84, Mutsch, Slg. 1985, 2681(2691), Rdn. 16,17.

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H. Sozialrechtlicher Gleichbehandlungsanspruch

b) Die Rechtssache Martínez Sala Eine Hilfe zum Lebensunterhalt ist als soziale Vergünstigung im Sinne der VO Nr. 1612/68 anerkannt. Allerdings konnten sich auf die Vorschrift nur Arbeitnehmer berufen, welche bereits Zugang zum Arbeitsmarkt gefunden haben. Darüber hinaus ist mittlerweile der Anwendungsbereich des Vertrags auch bezüglich sozialer Grundleistungen an Nichterwerbstätige eröffnet. Wie der Gerichtshof in Randnummer 63 des Urteils Martínez Sala ausgeführt hat, kann sich ein Unionsbürger, der sich rechtmäßig im Gebiet des Aufnahmemitgliedstaats aufhält, in allen Situationen, die in den sachlichen Anwendungsbereich des Gemeinschaftsrechts fallen, auf Artikel 6 EG-Vertrag berufen. Der Fall38 handelt von einer spanischen Staatsangehörigen, welche 1993 beim Freistaat Bayern die Gewährung von Erziehungsgeld beantragte. Frau Sala wohnte seit 1968 in Deutschland und übte dort verschiedene Tätigkeiten als Arbeitnehmerin aus. Seit 1989 erhielt sie Sozialhilfe. Im Wesentlichen besaß sie bis Mai 1984 Aufenthaltserlaubnisse, anschließend Bescheinigungen, dass sie eine Verlängerung ihrer Erlaubnis beantragt habe. Aufgrund der Vorschriften des Europäischen Fürsorgeabkommens von 1953 war ihre Ausweisung aus der Bundesrepublik ausgeschlossen. Im Januar 1993 beantragte Frau Sala für ihr neugeborenes Kind Erziehungsgeld. Dieser Antrag entschieden die Behörden jedoch ablehnend, da sie weder im Besitz der deutschen Staatsangehörigkeit noch einer Aufenthaltsberechtigung oder Aufenthaltserlaubnis war. Das mit der dagegen erhobenen Klage betraute Bayerische Landessozialgericht legte den Fall dem EuGH zur Vorabentscheidung vor. Im Wesentlichen war dabei zu beurteilen, ob die Nichtgewährung des Erziehungsgelds wegen fehlender Aufenthaltsberechtigung eine verbotene Diskriminierung darstellt. Dabei bat das Gericht zunächst um Klärung der Frage, ob Frau Sala im Jahr 1993 noch als Arbeitnehmerin anzusehen und ob das Erziehungsgeld als Familienleistung im Sinne von Art. 4 Abs. 1 h der VO Nr. 1408/71 bzw. als soziale Vergünstigung nach Art. 7 Abs. 2 der VO 1612/68 zu betrachten sei.

aa) Schlussanträge des Generalanwalts La Pergola Nachdem die Feststellung der Arbeitnehmereigenschaft von Frau Sala nicht eindeutig getroffen werden konnte, prüfte Generalanwalt La Pergola, ob sich die Klägerin nicht auf Art. 8 a (heute: Art. 18) EGV berufen könne. Seit dessen Einführung lasse sich nicht mehr die Meinung vertreten, das allgemeine Aufenthaltsrecht werde durch die Aufenthaltsrichtlinien begründet. Demnach beträfen die in Artikel 8 a EGV niedergelegten Beschränkungen die konkrete Ausübung des Rechts und nicht das Bestehen an sich.39 Ferner gelte dies, seit die Unionsbürgerschaft 38 39

EuGH, Rs. C-85/96, Martínez Sala, Slg. 1998, I-2691, Rdn. 60. Schlussanträge Generalanwalt La Pergola, Rs. C-85/96, Sala, Slg. 1998, I-2691, Rdn. 18.

II. Sachlicher Anwendungsbereich

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die „grundlegende Rechtsstellung“ verkörpert „… die dem Staatsangehörigen jedes Mitgliedstaats von der Rechtsordnung der Gemeinschaft und heute der Union garantiert ist.“40 Der Anspruch auf Gleichbehandlung entspreche der Rechtsstellung eines Unionsbürgers, wie sie auch in Art. 8 a (heute: Art. 18) EGV geregelt sei und den Bürger eines jeden Mitgliedstaats und in jedem Mitgliedstaat begleite.41 Laut Generalanwalt La Pergola war es folglich unerheblich, ob Frau Sala als Arbeitnehmerin angesehen wurde oder nicht, da ihr jedenfalls aufgrund ihrer Unionsbürgerstellung ein Anspruch auf Gleichbehandlung zustand. Generalanwalt La Pergola sieht dabei den Sala-Fall als einen „test case“ für eine Reihe von Problemen, die sich zukünftig dem Gerichtshof stellen könnten.42 Seinen Lösungsvorschlag sieht der Generalanwalt als kohärente Entwicklung der Rechtsprechung an.

bb) Urteil des EuGH Nach Ansicht des Gerichtshofs fällt eine Leistung wie das Erziehungsgeld nach dem BErzGG in den sachlichen Anwendungsbereich des EG-Rechts, da es als Familienleistung nach Art. 4 Abs. 1 h der VO Nr. 1408/71 anzusehen ist. Unter Bezugnahme auf die Rs. Hoever und Zachow43 definiert der Gerichtshof das in Frage stehende Erziehungsgeld als eine Leistung, „die bei Erfüllung bestimmter objektiver Voraussetzungen ohne weiteres unter Ausschluß jedes Ermessens gewährt wird, ohne daß im Einzelfall die persönlich Bedürftigkeit des Empfängers festgestellt werden müßte, und die dem Ausgleich von Familienlasten dient“44 und damit eine Familienleistung im Sinne des Art. 4 Abs. 1 h. der VO 1408/71 darstellt. Zu den sozialen Vergünstigungen nach Art. 7 Abs. 2 der VO Nr. 1612/68 zählt die ständige Rechtsprechung alle diejenigen, „die – ob sie an einen Arbeitsvertrag anknüpfen oder nicht – den inländischen Arbeitnehmern hauptsächlich wegen ihrer objektiven Arbeitnehmereigenschaft oder einfach wegen ihres Wohnorts im Inland gewährt werden und deren Ausdehnung auf die Arbeitnehmer, die Staatsangehörige eines anderen Mitgliedstaats sind, deshalb als geeignet erscheint, deren Mobilität innerhalb der Gemeinschaft zu erleichtern“.45 Damit stellt das Erziehungsgeld zugleich eine soziale Vergünstigung im Sinne von Art. 7 Abs. 2 der VO Nr. 1612/68 dar. Frau Sala würde auch in den persönlichen Anwendungsbereich fallen, sofern ihre Arbeitnehmereigenschaft bejaht werden könnte. Ob dies der Fall ist, 40

Schlussanträge Generalanwalt La Pergola, Rs. C-85/96, Sala, Slg. 1998, I-2691, Rdn. 18. Schlussanträge Generalanwalt La Pergola, Rs. C-85/96, Sala, Slg. 1998, I-2691, Rdn. 23. 42 Schlussanträge Generalanwalt La Pergola, Rs. C-85/96, Martinez Sala, Slg. 1998, I-2691, Rdn. 23. 43 EuGH, Rs. Hoever und Zachow, Slg. 1996, I-4895. 44 EuGH, Rs. Martinez Sala, Slg. 1998, I-2691, Rdn. 22, 24. 45 EuGH, Rs. Martinez Sala, Slg. 1998, I-2691, Rdn. 25. 41

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H. Sozialrechtlicher Gleichbehandlungsanspruch

könne im vorliegenden Verfahren aber nicht zweifelsfrei festgestellt werden. Diese Klippe des persönlichen Anwendungsbereichs umschiffte der EuGH, indem er den Sachverhalt unter Zuhilfenahme des Rechtsinstituts der Unionsbürgerschaft löste. So reicht es bereits aus, dass Frau Sala als Angehörige eines Mitgliedstaats, die sich rechtmäßig in einem anderen Mitgliedstaat aufhält, in den persönlichen Anwendungsbereich der Vorschriften über die Unionsbürgerschaft fällt. „Artikel 8 Absatz 2 des Vertrages knüpft an den Status eines Unionsbürgers die im Vertrag vorgesehenen Pflichten und Rechte, darunter das in Artikel 6 des Vertrages festgelegte Recht, im sachlichen Anwendungsbereichs des Vertrages nicht aus Gründen der Staatsangehörigkeit diskriminiert zu werden. Folglich kann sich ein Unionsbürger, der sich wie die Klägerin rechtmäßig im Gebiet des Aufnahmemitgliedstaats aufhält, in allen vom sachlichen Anwendungsbereich des Gemeinschaftsrechts erfaßten Fällen auf Artikel 6 des Vertrages berufen, und zwar auch in dem Fall, dass dieser Staat die Gewährung einer Leistung, die jeder Person zusteht, die sich rechtmäßig in diesem Staat aufhält, verzögert oder verweigert, weil diese Person nicht über ein Dokument verfügt, das Angehörige dieses Staates nicht benötigen und dessen Ausstellung von der Verwaltung dieses Staates verzögert oder verweigert werden kann.“46

Es liegt also laut EuGH eine Ungleichbehandlung vor, wenn die Gewährung von Erziehungsgeld an Angehörige anderer Mitgliedstaaten, denen der Aufenthalt im Aufnahmemitgliedstaat erlaubt ist, von der Vorlage eines förmlich erteilten Aufenthaltstitels abhängig gemacht wird, während Inländer lediglich ihren Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt in dem betreffenden Staat haben müssen. Der EuGH entschied hier erstmals, dass für die Eröffnung des persönlichen Anwendungsbereichs des Vertrags der Unionsbürgerstatus als ausreichend erachtet wird. Der sachliche Anwendungsbereich wird mit den einschlägigen VO Nr. 1408/71 und VO 1612/68 begründet. Auffallend ist dabei die Verknüpfung zwischen dem persönlichen und sachlichen Anwendungsbereich: Der Anwendungsbereich der VO 1612/68 (Erziehungsgeld als soziale Vergünstigung) beschränkt sich in persönlicher Hinsicht auf Arbeitnehmer. Unionsbürger, welche nicht zugleich Arbeitnehmer sind, können sich nicht auf diese Verordnungen berufen, so dass diese Verknüpfung (sachlicher Anwendungsbereich entsprechend VO 1612/68 eröffnet – persönlicher Anwendungsbereich nach Art. 17 EGV eröffnet) als unpassend erscheint.47 Zum Teil wird daraus der Schluss gezogen, dass allen sich rechtmäßig im Aufnahmemitgliedsland aufhaltenden Unionsbürgern die sich aus VO 1612/68 und VO 1408/71 ergebenden Sozialleistungen zuzugestehen seien.48 Die Einführung der Unionsbürgerschaft darf aber nicht dazu führen, dass nunmehr pauschal die Differenzierung zwischen einerseits Arbeitnehmern, Niedergelasse46

EuGH, Rs. C-85/96, Martinez Sala, Slg. 1998, I-2692, Rdn. 62–63. Vgl. in diese Richtung auch: Scheuing, Die Freizügigkeit der Unionsbürger in der Europäischen Union, in: Dreier (Hrsg.), Raum und Recht, 600 Jahre Würzburger Juristenfakultät, S. 103 (136); Tomuschat, C. M. L.Rev. 37 (2000), S. 449 (452); Becker, EuR 1999, S. 522 (532). 48 A. A. Jacqueson, E. L.Rev. 27 (2002), S. 260 (267). 47

II. Sachlicher Anwendungsbereich

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nen, Dienstleistungsempfängern und -erbringern sowie andererseits Studenten, Rentnern und Nichterwerbstätigen völlig aufgegeben wird. Zwischen der Bestimmung des sachlichen und persönlichen Anwendungsbereichs muss Kongruenz bestehen. So können sich auf die Arbeitnehmerfreizügigkeit und das dazu ergangene Sekundärrecht ausschließlich Arbeitnehmer und eben nicht alle Unionsbürger berufen. Eine Gleichbehandlung der Unionsbürger mit den eigenen Staatsangehörigen der Mitgliedstaaten ist deshalb aber nicht ausgeschlossen. Vielmehr hätte der Sala Fall auch über das Freizügigkeitsrecht des Art. 18 EGV gelöst werden können. Speziell für Studenten49 änderte sich seit der Einführung der Unionsbürgerschaft die Rechtsprechung des EuGH. Damit gibt der Gerichtshof zugleich ausdrücklich seine bisherige Rechtsprechung auf,50 wonach die Förderung des Lebensunterhalts von Studenten, soweit sie sich nicht auf Studiengebühren erstreckt, nicht in den Anwendungsbereich des Vertrags fällt. Er begründet dies mit der Einführung der Unionsbürgerschaft sowie mit der Aufnahme von Kapitel 3 über die berufliche Bildung im Dritten Teil Titel VIII. Auch in seiner bisher ergangenen Folgerechtsprechung bleibt der Gerichtshof bei dieser extensiven Bestimmung des Anwendungsbereichs des Vertrags. So bezieht er sich in seinem Urteil in der Rechtssache Marie-Nathalie D’Hoop51 und der Rechtssache Baumbast und R52 sowie im Fall M. Carlos Garcia Avello53 ausdrücklich auf die oben zitierte Grundsatzentscheidung im Fall Rudy Grzelczyk, wonach der Unionsbürgerstatus den EU-Bürgern bei Ausübung der allgemeinen Freizügigkeit nach Art. 18 EGV die gleiche rechtliche Behandlung garantiert. An dieser eingeschlagenen Entwicklung hat der Gerichtshof auch unlängst in der Rechtssache Bidar im Hinblick auf die Gewährung eines Studentendarlehens festgehalten.54 Mit dieser integrationsfreundlichen Rechtsprechung erstreckt der EuGH den Anwendungsbereich des Vertrags auch auf mit der Freizügigkeit mittelbar zusammenhängende Begebenheiten, welche geeignet sind, die Ausübung des Freizügigkeitsrechts zu erleichtern.55 Für die Anwendung des Art. 12 EGV reicht es bereits aus, dass es sich um eine im Zusammenhang mit der Ausübung einer Grundfreiheit stehende Situation handelt und dass diese wenigstens auf mittelbare Weise zu einer Beschränkung der Grundfreiheit führen kann.56. Das geht so weit, dass alle – auch die nur in mittelbarem Zusammenhang mit der Ausübung des unionalen Frei49 Dazu ausführlich: Bode, Europarechtliche Gleichbehandlungsansprüche Studierender, S. 305 ff.; Zuleeg, in: von der Groeben/Schwarze, Art. 12 Rdn. 11. 50 Vgl. EuGH, Rs. 197/86, Brown, Slg. 1988, 3205. 51 EuGH, Rs. C-224/98, D’Hoop, Slg. 2002, I-6191, Rdn. 28–29, 35. 52 EuGH, Rs. C-413/99, Baumbast und R, Slg. 2002, I-7091, Rdn. 82. 53 EuGH, Rs. C-148/02, Avello, Slg. 2003, I-11613, Rdn. 21–24. 54 EuGH, Rs. C-209/03, Bidar, Slg. 2005, I-2119. 55 A. A. Kluth, in: Calliess/Ruffert, Art. 18 Rdn.5. 56 Vgl. statt Vieler: EuGH, Rs. C-43/95, Data Delecta, Slg. 1996, I-4661, Rdn. 12 f.; EuGH, Rs C-122/96, Saldanha, Slg. 1997, I-5352, Rdn. 19 f.

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H. Sozialrechtlicher Gleichbehandlungsanspruch

zügigkeitsrechts stehenden – Begebenheiten am Maßstab des Diskriminierungsverbots zu messen sind. Die Gewährung von Sozialhilfe an bedürftige Unionsbürger zur Bestreitung des Lebensunterhalts ist zur effektiven Wahrnehmung des Aufenthaltsrechts erforderlich und steht dadurch mit der Ausübung des Freizügigkeitsrechts in einem ausreichenden Zusammenhang. Der EuGH stellt insofern das Freizügigkeitsrecht des Art. 18 EGV den Grundfreiheiten des Binnenmarktes gleich. Alle Unionsbürger, die von ihrem Recht auf Freizügigkeit Gebrauch machen, haben einen Anspruch auf gleiche Behandlung wie die Staatsangehörigen des Aufenthaltsmitgliedstaates. Mit der Entscheidung in der Rechtssache D’Hoop bestätigte der Gerichtshof diese Rechtsprechung. Im Bereich der allgemeinen Freizügigkeit führt diese Entwicklung zu einer beträchtlichen Ausdehnung des Anwendungsbereichs. Im Schrifttum stößt diese weite Auslegung daher überwiegend auf Kritik.57 Dabei wird im Wesentlichen vorgebracht, dass dadurch praktisch das Kriterium des sachlichen Anwendungsbereichs des Vertrags konturenlos würde. Zudem soll die – durch das Prinzip der limitierten Einzelermächtigung (Art. 5 Abs. 1 EGV) gesicherte – inhaltliche Beschränkung des EG-Vertrags unterlaufen werden, die primär- sowie sekundärrechtlichen Kompetenzvorbehalte sollen weitestgehend ignoriert und die Legitimationsgrundlage der Europäischen Union soll in Frage gestellt werden.58 Dieser Auffassung zufolge wird „eine gewisse inhaltliche, räumliche oder zeitliche Nähe der vermeintlichen Diskriminierung zur Ausübung des Freizügigkeitsrechts“59 gefordert. Schulz zufolge können soziale Vergünstigungen, welche in den Kernbereich der mitgliedstaatlichen Sozialpolitik fallen, aufgrund des Entwicklungsstandes des Gemeinschaftsrechts nicht in den Anwendungsbereich des Diskriminierungsverbots mit einbezogen werden. „Der Wirkungsbereich des Gleichbehandlungsgebots ist deshalb auf die allgemeinen Rahmenbedingungen des Aufenthalts begrenzt. Zu diesen gehören nur die Lebensbereiche, die in einem hinreichend engen Zusammenhang mit der Freizügigkeit im Sinne des Art. 8a EGV stehen.“60

Ein Anspruch auf Inländergleichbehandlung bestehe „ nur bei solchen Handlungen, die in einem engen sachlichen Zusammenhang mit dem jeweiligen Aufenthaltszweck stehen und seiner effektiven Ausübungen dienen“.61 Dies soll beispielsweise beim Grunderwerb zum Zwecke der dauerhaften Wohnsitznahme gelten.62

57 58 59 60 61 62

Bode, EuZW 2002, S. 635 (638); Kluth, in: Calliess/Ruffert, Art. 18 Rdn. 5 . Kluth, in: Calliess/Ruffert, Art. 18 Rdn. 5. von Bogdandy, in: Grabitz/Hilf, Art. 6 Rdn. 44; Bode, EuZW 2003, S. 552 (556). Schulz, Freizügigkeit für Unionsbürger, S. 273. Kluth, in: Calliess/Ruffert, Art. 18 Rdn. 5. Kluth, in: Calliess/Ruffert, Art. 18 Rdn. 5.

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c) Sozialhilfe im Ausland Hochbrisant ist die Frage, inwiefern Unionsbürger an einem Anspruch auf Sozialleistungen eines Mitgliedstaates teilhaben können, die dieser seinen eigenen Staatsangehörigen ohne Wohnsitzbedingung gewährt. Demnach würden theoretisch alle Unionsbürger, welche die sonstigen nicht diskriminierenden materiellen Anspruchsvoraussetzungen erfüllen, in den Genuss dieser Sozialleistungen kommen. Zur Verdeutlichung soll diese Konstellation an einem aktuellen Beispiel konkretisiert werden: Nach § 24 Abs. 1 Satz 2 SGB XII (vormals § 119 BSHG) können unter engen Voraussetzungen Deutsche, die ihren gewöhnlichen Aufenthalt im Ausland haben, Sozialhilfe erhalten. Die Vorschrift enthält eine unmittelbare Diskriminierung aufgrund der Staatsangehörigkeit. Sofern diese Ungleichbehandlung nicht gerechtfertigt werden kann, ist das diskriminierende Merkmal nicht mehr anzuwenden. Wäre es damit möglich, dass sich ein nicht deutscher Unionsbürger in einem anderen Aufenthaltsstaat als Deutschland auf diese Vorschrift beruft? Voraussetzung dafür ist natürlich, dass der sachliche Anwendungsbereich des EG-Vertrags eröffnet ist. Für rein innerstaatliche Sachverhalte gelangt Art. 18 EGV bereits nicht zur Anwendung. Es ist erforderlich, dass der betreffende Unionsbürger einen grenzüberschreitenden Bezug zu der Bundesrepublik Deutschland geltend machen kann. Trotz dieser Ausweitung dürfte die Gewährung von Sozialhilfe im Ausland an Unionsbürger im konkreten Beispielsfall auf Ausnahmefälle beschränkt bleiben.63 Die Anspruchsvoraussetzungen für die Geltendmachung dieser Leistung wurde unlängst weiter erhöht; vorrangig wird von den Hilfsbedürftigen die Rückkehr nach Deutschland erwartet. Andererseits ist der Bedarf an einer Regelung wie des § 24 SGB XII als gering einzustufen. Im Ausland in Not geratenen Deutschen kann im Rahmen des Konsulargesetzes geholfen werden.64 Darüber hinaus ist es in so einer Konstellation aber vorstellbar, dass der Unionsbürger zugleich die Sozialhilfe des Aufenthaltsstaates sowie die eines anderen Mitgliedstaates der Europäischen Union beantragt. Um eine doppelte Inanspruchnahme zu verhindern, bzw. um eine Feinabstimmung vorzunehmen, ist es erforderlich, die nationalen Sicherheitssysteme zu koordinieren.

3. Soziale Kompetenzen der EU Die sozialpolitische Zuständigkeit ist nach wie vor überwiegend Aufgabe der Mitgliedstaaten.65 Soweit der Europäischen Gemeinschaft Kompetenzen zukommen, bestehen diese vor allem im Zusammenhang mit der Gewährleistung der 63

Baur, NVwZ 2004, S. 1322 (1324). Baur, NVwZ 2004, S. 1322 (1324). 65 EuGH, Rs. C-70/95, Sodemare, Slg. 1997, I-3422. Allgemein dazu: Ringler, Die Europäische Sozialunion; Kuhn, Die soziale Dimension der Europäischen Gemeinschaft; Maydell/Schulte (Hrsg.), Zukunftsperspektiven des Europäischen Sozialrechts; Haverkate/Huster, 64

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H. Sozialrechtlicher Gleichbehandlungsanspruch

Arbeitnehmerfreizügigkeit.66 Nationalstaatlich erworbene Sozialleistungsansprüche sollten durch die grenzüberschreitende Inanspruchnahme dieser Freizügigkeit nicht verloren gehen. Insofern war es nötig, die einzelnen Sozialleistungssysteme aufeinander abzustimmen und zu koordinieren.67 Die nach Art. 42 EGV vorgesehene Koordinierung der Vorschriften über die soziale Sicherheit wird auf Grundlage der VO Nr. 1408/71 EWG umgesetzt. Maßnahmen der Harmonisierung, wie auch die Einführung eines einheitlichen Sozialversicherungssystems sind danach nicht möglich.68 Dieses Regelwerk soll sicherstellen, dass der Gebrauch der Freizügigkeit nicht zu Nachteilen bei Rechten der sozialen Sicherheit führt.69 Dieses Ziel wird hauptsächlich durch die Zusammenrechnung der in allen Mitgliedstaaten zurückgelegten Beschäftigungszeiten sowie durch den Export von Geldleistungen erreicht. Die Sozialhilfe ist davon aber explizit ausgenommen (Art. 4 Abs. 4 VO Nr. 1408/71). Vielmehr sind nach wie vor die Mitgliedstaaten für die Ausgestaltung ihrer Systeme der sozialen Sicherheit zuständig, insbesondere auch hinsichtlich der anspruchsbegründenden Voraussetzungen für Sozialleistungen.70 Deshalb kommt es zu einem Fortbestehen der zum Teil großen Unterschiede hinsichtlich der Art und Höhe der einzelnen Leistungen sowie insgesamt in Bezug auf die Grundstrukturen zwischen den nationalen Sozialsystemen.71 Eine weitere Ausdehnung der sozialpolitischen Zuständigkeiten der Gemeinschaft erfolgte im Rahmen des Vertrags von Amsterdam mit Schaffung der Art. 136 – 145 EGV.72 In Bezug auf die folgenden Materien kann die EU einzelne Mindestnormen festsetzen: Arbeitsumwelt, Sicherheit und Gesundheit, soziale Sicherheit, sozialer Schutz der Arbeitnehmer, Schutz der Arbeitnehmer bei Beendigung des Arbeitsvertrags, Vertretung und kollektive Wahrnehmung der Arbeitnehmer- und Arbeitgeberinteressen, Beschäftigungsbedingungen der Drittstaatsangehörigen, berufliche Eingliederung und Chancengleichheit von Männern und Frauen (Art. 137 Abs. 1 lit. a) bis i) EGV; Art. 137 Abs. 2 lit. b). Einer Rechtsangleichung dagegen nicht zugänglich sind die Bereiche der Bekämpfung der sozialen Ausgrenzung und die Modernisierung der Systeme des sozialen SchutEuropäisches Sozialrecht; Schulte, EG-rechtliche Rahmenbedingungen für nationale Sozialpolitik, in: Badelt u. a. (Hrsg.), Möglichkeiten und Grenzen einer nationalen Sozialpolitik in der Europäischen Union, S. 9; Becker, Die soziale Dimension des Binnenmarkts, in: Schwarze (Hrsg.), Der Verfassungsentwurf des Europäischen Konvents, S. 201 ff.; Eichenhofer, ZIAS 2003, S. 404. 66 Langer, Der Beitrag des Europäischen Gerichtshofs zu den gemeinschaftsrechtlichen Gestaltungsvorgaben für das Sozialrecht, in: Ebsen (Hrsg.), Europarechtliche Gestaltungsvorgaben für das deutsche Sozialrecht, S. 43 ff. 67 Vgl. erstmals: VO Nr. 3 über die soziale Sicherheit der Wanderarbeitnehmer (ABl. 1958, S. 561) und VO Nr. 4 zur Durchführung und Ergänzung der VO Nr. 3 (ABl. 1958, S. 597). 68 EuGH, Rs. C-340/94, De Jack, Slg. 1997, I-495. 69 Eichenhofer, Sozialrecht in der EU, S. 60; vgl. dazu allgemein: Ress/Stein (Hrsg.), Europäischer Sozialraum; Devetzi, Die Kollisionsnormen des Europäischen Sozialrechts. 70 EuGH, Rs. C-120/95, Decker, Slg. 1998, I-1831, Rdn. 21–23. 71 Arndt, Europarecht, S. 176. 72 Näheres dazu bei: Haverkate/Huster, Europäisches Sozialrecht, S. 369.

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zes. Damit wird einem Übergang weitreichender sozialpolitischer Kompetenzen auf die EU vorgebeugt.73 Die Gemeinschaft darf im Bereich des Sozialrechts nur unterstützend und ergänzend tätig werden, dies geschieht hauptsächlich in Form von unverbindlichen Rechtsakten (Empfehlungen, Stellungnahmen und Programmen).74 Der Verfassungsvertrag bestätigt im Wesentlichen diesen Status quo.75 Er wertet die sozialen Werte und Ziele der Gemeinschaft auf, führt aber letztlich auf den ersten Blick zu keinen neuen Handlungsmöglichkeiten.76 So spricht Artikel I-2 von der Solidarität und auch in Artikel I-3 werden mehrere soziale Ziele genannt: Nach Absatz 3 wirkt die Union auf eine soziale Marktwirtschaft hin, die auf einen sozialen Fortschritt abzielt. Zugleich soll sie die soziale Ausgrenzung bekämpfen und die soziale Gerechtigkeit sowie den sozialen Schutz und die Generationengerechtigkeit fördern. Die Aufzählung dieser Ziele übernimmt der Lissabonner Vertrag weithin (vgl. Art. 3 EUV). Ohne konkrete Handlungsmöglichkeiten ist ihre Bedeutung aber als bescheiden zu beurteilen. Im Gegensatz zum Verfassungsvertrag von 2004 findet im Lissabonner Vertrag die EU-Grundrechtecharta keine Aufnahme (Art. 6 EUV). Die Union erkennt die Grundsätze jedoch als geltendes Recht an. Danach sind die Grundrechtecharta und der EUV/AEUV rechtlich als gleichrangig zu betrachten. Die meisten der in der Grundrechtecharta enthaltenen sozialen Grundrechte77 berühren Bereiche, für welche die EU keine Regelungskompetenz hat. Es wird vorgetragen, dass es sich dabei aufgrund des Verweises auf die Kompetenzbeschränkungen der EU nur um politische Zielvorgaben handele.78 Dabei ist in der Tat zu bedenken, dass die sozialen Grundrechte dazu geeignet sind, bei den Menschen Hoffnungen zu wecken, die sich nicht erfüllen lassen.79 Vor diesem Hintergrund ist besonders Art. 34 Abs. 2 der EU-Grundrechtecharta zu erwäh73

Krebber, in: Calliess/Ruffert, Art. 137 Rdn. 9a. Becker, Die soziale Dimension des Binnenmarkts, S. 201 (204); Wollenschläger/Grimm, ZIAS 2004, S. 335 (340). 75 Vgl. Art. III-209, Art. III-210; Art. III-125 sowie Art. III-9, welcher aber die Regelung des Art. 18 III EGV modifiziert. 76 Brusis, Die soziale Dimension im Verfassungsvertrag, in: Weidenfeld (Hrsg.), Die Europäische Verfassung in der Analyse, S. 183 (184). 77 Zu den sozialen Grundrechten: Holoubek, Zur Struktur sozialer Grundrechte, in: Hammer u. a. (Hrsg.), Demokratie und sozialer Rechtsstaat in Europa, Festschrift für Theo Öhlinger, S. 507; Nettesheim, Integration 25 (2002), S. 35; Vasquez, Inwieweit könnte der Begriff der Europäischen Staatsbürgerschaft durch die Charta der sozialen Grundrechte verstärkt werden?, in: Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung u. a. (Hrsg.), Soziale Grundrechte in der Europäischen Union, S. 71; Treib, Der EU-Verfassungsvertrag und die Zukunft des Wohlfahrtsstaates in Europa, Institut für Höhere Studien (IHS), Reihe Politikwissenschaft; Möstl, Verfassung für Europa, S. 52; Bieback, Die Bedeutung der sozialen Grundrechte für die Entwicklung der EU, ZFSH/SGB 2003, S. 579; Rengeling/Szczekalla, Grundrechte in der Europäischen Union, S. 824. Zur Einschränkung der sozialen Grundrechte: Bühler, Einschränkung von Grundrechten nach der Europäischen Grundrechtecharta, S. 382. 78 Sander, DVBl. 2005, S. 1014 (1019). 79 So Broß, JZ 2003, S. 429 (433). 74

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H. Sozialrechtlicher Gleichbehandlungsanspruch

nen. Er gewährt jedem Menschen, der in der Union seinen rechtmäßigen Wohnsitz hat und seinen Aufenthalt rechtmäßig wechselt, einen Anspruch auf Leistungen der sozialen Sicherheit und auf soziale Vergünstigungen nach dem Unionsrecht und den einzelstaatlichen Rechtsvorschriften und Gepflogenheiten. Sein Bedeutungsgehalt ist bislang ungeklärt; die ihm innewohnende Brisanz ist allerdings nicht zu verkennen, insbesondere könnte der EuGH die Vorschriften als Anknüpfungspunkt für die Gewährung sozialer Leistungen,80 bzw. zur Auslegung heranziehen. In der 1. Erklärung zu der Grundrechtecharta wird allerdings betont, dass sich aus ihr für die Union keine Erweiterungen der Zuständigkeiten ergeben.

4. Der dynamische Anwendungsbereich entsprechend dem Stand der europäischen Integration Eine Beschränkung des Anwendungsbereich des EG-Vertrags auf Bereiche, welche Gegenstand primärer oder sekundärer Rechtsakte der EG sind, ist zu eng, da dadurch solche Bereiche, die in einem engen Zusammenhang mit der Realisierung gemeinschaftsrechtlicher Ziele und Bestimmungen stehen, ausgeschlossen wären. Der Anwendungsbereich des Diskriminierungsverbots ist zudem nicht statisch festgeschrieben; er entwickelt sich weiter mit dem Stand der Integration81 und unterliegt einer Einzelfallbetrachtung. So ist es nunmehr auch nur konsequent, das im Rahmen des Maatrichter Vertrags in den EGV eingeführte allgemeine Freizügigkeitsrecht in den Anwendungsbereich des EGV mit einzubeziehen. In der Tat hat sich die Situation, das heißt der Integrationsstand, seit Erlass des EuGH-Urteils zum Fall Brown82 geändert. So stellt der EuGH in seinem Grzelczyk-Urteil völlig zu Recht fest, dass mittlerweile die Unionsbürgerschaft in den EGV Aufnahme gefunden hat. Eine weitere Nebenbegründung stellt die Aufnahme eines sich im Dritten Teil Titel XI Kapitel 3, Art. 149 ff. EGV befindenden Paragraphen über die allgemeine und berufliche Bildung dar. Insbesondere im Hinblick auf die Grundfreiheiten ist seit längerem anerkannt, dass sich das Diskriminierungsverbot auch auf solche Bereiche, welche in den Regelungsbereich der Mitgliedstaaten fallen, erstrecken kann, sofern dies zur wirksamen Entfaltung der Grundfrei-

80 Vgl. in diese Richtung auch: Mussler, Zwischen Freiheit und Gleichheit, FAZ vom 30. November 2004, S. 19. Brusis, Die soziale Dimension im Verfassungsvertrag, in: Weidenfeld (Hrsg.), Die Europäische Verfassung in der Analyse, S. 183 (185): Er gibt zu bedenken, dass die Vorschrift den Umfang und die Art der sozialen Leistung nicht festlege. Zum anderen gelange die Regelung nur bei Gemeinschaftsrechtsakten bzw. bei der Durchführung des Gemeinschaftsrechts durch die Mitgliedstaaten zur Anwendung. In diese Richtung andeutungsweise: Streinz/Ohler/Herrmann, Die neue Verfassung für Europa, § 13, S. 79. 81 Epiney, in: Calliess/Ruffert, Art. 12 Rdn. 22. 82 EuGH, Rs. 197/86, Brown, Slg. 1988, 3205 (3243), Rdn. 18. Hierbei stellte der EuGH fest, dass beim gegenwärtigen Stand der Entwicklung des Gemeinschaftsrechts die finanzielle Unterstützung der Studenten für ihren Lebensunterhalt und die Ausbildung nicht in den Anwendungsbereich des EGV fällt.

II. Sachlicher Anwendungsbereich

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heiten erforderlich erscheint.83 Bereichsausnahmen sind nicht zu gewähren wie der Fall Casagrande84 im Bereich der Bildungspolitik, der Fall Sacchi und Debauve85 zur der Kulturpolitik, die Entscheidung Konstantinidis86 zum Personenstandsrecht zeigt. Diese Entwicklung fügt sich in den übergeordneten Rahmen der Entwicklung zu den europäischen Grundfreiheiten und des Kartellrechts ein. So prüft der Gerichtshof mittlerweile auch sozialversicherungsrechtliche Regelung im Bereich ambulanter ärztlicher Leistungen und bei Krankenhausleistungen.87 Die Unzuständigkeit der Union entbindet diese nicht von der Pflicht, den Auswirkungen von anderweitigem Gemeinschaftsrecht auf diese Bereiche Rechnung zu tragen. Gleiches gilt für den Bereich des nationalen Sozialrechts. Zwar bringt der EuGH eine gewisse Sensibilität für die Kompetenzbereiche der Mitgliedstaaten auf und verweist in ständiger Rechtsprechung auf die Zuständigkeit der Mitgliedstaaten zur Ausgestaltung ihrer Systeme der sozialen Sicherheit.88 Nichtsdestotrotz unterliegen mitgliedstaatliche Regelungen auf diesem Gebiet der Anwendung des Gemeinschaftsrechts, sofern sie sich auf die Grundfreiheiten wie auch das allgemeine Freizügigkeitsrecht auswirken.89 Mit dem Urteil in der Rechtssache Bidar wird diese Entwicklung bestätigt.90 Zusammenfassend bleibt festzuhalten, dass die Einbeziehung sozialer Leistungen in den Anwendungsbereich des EGV sich mit dem bislang noch verbliebenen Kompetenzbereich der Mitgliedstaaten überschneidet. Diese Überlagerung im Bereich der Sozialpolitik ist die Folge einer allmählichen, einzelfallorientierten Ausdehnung der europäischen subjektiven Rechte. Allerdings handelt es sich hierbei um materielle Rechtsverbürgungen für die Unionsbürger und nicht um Fragen der Kompetenzabgrenzung. Diese Rechtsgewährleistungen sollen daher als Kompetenzausübungsschranken fungieren.91 Dieses Ergebnis wird außerdem von dem Gedanken des effet utile getragen. So muss auch die grundlegende Bedeutung des Unionsbürgerstatus, welcher durch 83 Vgl. nur: EuGH, Rs. 9/74, Casagrande, Slg. 1974, 773 (779), Rdn. 6; Schlussanträge des Generalanwalts G. Slynn vom 17.9.1987, Rs. C-39/86, Lair, Slg. 1988, 3179 (3188). 84 EuGH, Rs. 9/74, Casagrande, Slg. 1974, 773(779), Rdn. 6. 85 EuGH, Rs. 52/79, Sacchi und Debauve, Slg. 1980, 833. 86 EuGH, Rs. C-168/91, Konstantinidis, Slg. 1993, I-1191. 87 EuGH, Rs. C-120/95, Decker, Slg. 1998, I-1831 (1884), Rdn. 36; Rs. C-158/96, Kohll, Slg. 1998, I-1931 (1946), Rdn. 35; Rs. C-157/99, Smits und Peerbooms, Slg. 2001, I-5473 (5537), Rdn. 90. Eingehend dazu: Kingreen, Das Sozialstaatsprinzip im europäischen Verfassungsverbund. 88 EuGH, Rs. 238/82, Duphar u. a., Slg. 1984, 523, Rdn. 16; Rs. C-70/95, Sodemare u. a., Slg. 1997, I-3395, Rdn. 27; Rs. C-120/95, Decker, Slg. 1998, I-1831 f., Rdn. 21; Rs. C-158/96, Kohll, Slg. 1998, I-1931 f., Rdn. 17. 89 Vgl. EuGH, Rs. 238/82, Duhar u. a., Slg. 1984, 523, Rdn. 18; Rs. C-120/95, Decker, Slg. 1998, I-1831 f., Rdn. 24; Rs. C-158/96, Kohll, Slg. 1998, I-1931 f., Rdn. 19. 90 Siehe ausführlich H. VII. 3. 91 Kanitz/Steinberg, EuR 2003, S. 1013 (1023); Rossi, EuR 2000, S. 197 (204); Jarass, AöR 121 (1996), S. 174 (194 f.).

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H. Sozialrechtlicher Gleichbehandlungsanspruch

das Freizügigkeitsrecht Art. 18 EGV seine besondere Ausprägung erfährt, berücksichtigt werden. Dabei ist das allgemeine Freizügigkeitsrecht nicht nur auf einen vorübergehenden Aufenthalt ausgerichtet; vielmehr ist es auf eine vollständige, dauerhafte Integration der Unionsbürger in ihrem Aufenthaltsstaat hin angelegt. Die gesellschaftliche Integration der Unionsbürger im Aufenthaltsmitgliedstaat bedingt die Sicherstellung einer vollständigen Gleichbehandlung hinsichtlich der allgemeinen Lebensbedingungen (vollständige Inländergleichbehandlung, sog. Vollintegration), sofern der Sachverhalt vom Gemeinschaftsrecht tangiert ist und keine gemeinschaftsrechtlichen Bedingungen und Beschränkungen bestehen.92 Vorbehaltlich der erwähnten Grenzen steht den Unionsbürgern ein vollwertiges Aufenthaltsrecht zu, welches auch ihre gesellschaftliche, kulturelle und soziale Beteiligung am Leben im Aufenthaltsmitgliedstaat sicherstellt.93 „Halbe Sachen“ wären damit unvereinbar.94 Ebenso wie für die Arbeitnehmer ist auch für die nicht erwerbstätigen Unionsbürger der Zugang zu sozialen Leistungen eine Bedingung für die effektive Verwirklichung des unionalen allgemeinen Freizügigkeitsrechts.95 Zu begrüßen ist deshalb die Rechtsprechung des EuGH, das Gleichbehandlungsgebot auf alle mit der Ausübung der Freizügigkeit in Zusammenhang stehenden Handlungen und Begebenheiten auszudehnen – insbesondere auch im sozialrechtlichen Bereich. Durch diese Ausweitung erfolgt formalrechtlich auch kein Eingriff in das Prinzip der limitierten Einzelermächtigung. Bereits durch die Ausübung des Freizügigkeitsrechts ist der sachliche Anwendungsbereich des EGV eröffnet. Im Ergebnis führt das dazu, dass es nur noch wenige mitgliedstaatliche Regelungen gibt, die nicht in den Anwendungsbereich des EG-Vertrags fallen. Der Großteil mitgliedstaatlicher Regelungen muss sich an den Vorschriften des Europarechts messen lassen und ist damit grundsätzlich nicht diskriminierend auszugestalten.96 Allerdings ist nicht zu verkennen, dass zwischen der Auslegung des Primärrechts und der Kompetenzordnung eine Wechselbeziehung besteht. Danach können die Kompetenzbeschränkungen der europäischen Rechtssetzung einem Erosionsprozess ausgesetzt sein.97 Kritische Stimmen in der Literatur halten dieses 92 Hilf, in: Grabitz/Hilf, Art. 18 Rdn. 7; Pechstein/Bunk, EuGRZ 1997, S. 547; Borchardt, Unionsbürgerschaft und soziale Ansprüche, in: von Bogdandy/Kadelbach (Hrsg.), Solidarität und europäische Integration, 9(17); Scheuing, Die Freizügigkeit der Unionsbürger in der Europäischen Union, in: Dreier (Hrsg.), Raum und Recht, FS 600 Jahre Würzburger Juristenfakultät, S. 103(138); Scheuing, EuR 2003, S. 744(785); Everling, Auf dem Weg zu einem europäischen Bürger?, in: Hrbek (Hrsg.), Bürger und Europa, S. 49 (54); Kotalakidis, Von der nationalen Staatsangehörigkeit zur Unionsbürgerschaft, S. 154 f.; Magiera, in: Meyer (Hrsg.), Kommentar zur Charta der Grundrechte der Europäischen Union, Art. 45 Rdn. 9. 93 Vgl. auch: Magiera, in: Streinz, Art. 18 Rdn. 16. 94 Scheuing, Die Freizügigkeit der Unionsbürger in der Europäischen Union, in: Dreier (Hrsg.), Raum und Recht, FS 600 Jahre Würzburger Juristenfakultät, S. 103 (138). 95 Soria, JZ 2002, S. 643 (646). 96 So auch: Obwexer, EuZW 2002, S. 52 (57). 97 Sander, DVBl. 2005, S. 1019.

II. Sachlicher Anwendungsbereich

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judikative Vorpreschen für übereilt und unangemessen; diese Rechtsentwicklung habe die politische Entscheidung antizipiert; stattdessen hätte es einer breiten gesellschaftlichen Debatte bedurft.98 So ziehen Kanitz/Steinberg den Schluss: „Eine judikativ induzierte Sozialunion ohne politisches Pendant, weitgehend unbemerkt von einer notwendigen, europäischen Öffentlichkeit, erscheint für eine wirklich politische Union nicht angemessen.“99 Grundsätzlich bedingen sich judikative und politische Entwicklungen gegenseitig. Im vorliegenden Fall ist der EuGH wieder einmal der politischen Entwicklung vorangeeilt. Natürlich wäre es wünschenswert gewesen, dass diese weitreichende Entwicklung von einer intensiven politischen Diskussion eingeleitet bzw. begleitet worden wäre. Letztlich wird sich nun die politische Entwicklung anschließen. Faktisch kann das dazu führen, die Sozialsysteme auch unabhängig von der Arbeitnehmerfreizügigkeit zu koordinieren sind. Davon zu unterscheiden ist die Harmonisierung eines Rechtsbereichs; bei letzter kommt es zu einer völligen Angleichung des Rechtsgebiets. Allerdings ist der Anwendungsbereich nicht für die Teilhabe an der politischen Macht im Aufenthaltsstaat eröffnet. Das Wahlrecht in den einzelnen Mitgliedstaaten oberhalb der kommunalen Ebene ist nicht allen Unionsbürgern zuzugestehen. Die hierbei erforderliche Beschränkung auf die eigenen Staatsangehörigen ist zwingende Voraussetzung für den Fortbestand der Mitgliedstaaten. Der europäische Integrationsprozess ist nicht so weit fortgeschritten, dass die Unterschiede zwischen den einzelnen Völkern nicht mehr bestehen würden. Zudem impliziert bereits Art. 19 EGV dieses Ergebnis.100 Dieser Bereich fällt nicht in den Anwendungsbereich des EG-Vertrags.

5. Tatbestandliche Reduktion des Anwendungsbereichs durch die Bedingungen und Beschränkungen des Art. 18 EGV? Voraussetzung dafür, dass das Gleichbehandlungsgebot greift, ist, dass der Unionsbürger sich auf sein Freizügigkeits- und Aufenthaltsrecht nach Art. 18 EGV berufen kann. Das bedeutet, dass innerhalb dieses Rahmens, sozusagen inzident, die Tatbestandsvoraussetzungen des Art. 18 EGV zu prüfen sind. Das heißt, soziale Teilhabeansprüche können nur im Zusammenhang mit der Ausübung bzw. dem Gebrauchmachen von dem Freizügigkeitsrecht entstehen und nur soweit dieses Recht reicht. Damit ist das Diskriminierungsverbot letztlich an die Schranken des Aufenthaltsrechts gebunden.101 Einer Ansicht zufolge soll das Gleichbehandlungsgebot tatbestandlich durch die Beschränkungen und Bedingungen des Art. 18

98 Soria JZ 2002, S. 650; Tomuschat C. M. L.Rev. 2000, S. 454; Kanitz/Steinberg, EuR 2003, S. 1024. 99 Kanitz/Steinberg, EuR 2003, S. 1013 (1014). 100 Streinz, in: Streinz, Art. 12 Rdn. 24; Holoubek, in: Schwarze, Art. 12 Rdn. 31. 101 Soria, JZ 2002, S. 643 (646).

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H. Sozialrechtlicher Gleichbehandlungsanspruch

EGV begrenzt werden.102 Dabei soll unabhängig davon, ob der Mitgliedstaat tatsächlich aufenthaltsbeendende Maßnahmen erlässt, bereits allein die Möglichkeit ausreichen, solche zu erlassen, um den Anwendungsbereich des Vertrags zu verneinen.103 Berechtigt das Fehlen ausreichender Existenzmittel zur Beendigung des Aufenthaltsrechts, so soll auch kein Anspruch auf diskriminierungsfreie Gewährung von Sozialleistungen bestehen.104 Diese Auffassung hat praktisch zur Folge, dass ein Unionsbürger sich noch im Gebiet eines anderen Mitgliedstaates aufhalten kann, dass er aber keinen europarechtlichen Anspruch auf soziale Grundsicherung hat. Unverhältnismäßige, die finanziellen Systeme über Gebühr belastende Ansprüche würden erst gar nicht entstehen. Diese Ansicht überzeugt nicht – zumal einige Vertreter dieser Lösung an anderer Stelle explizit feststellen, dass das Freizügigkeitsrecht erst konstitutiv durch Beendigung der nationalen Ausländerbehörden erlischt.105 Das hat zur Folge, dass das Aufenthaltsrecht fortbesteht, solange es nicht durch die nationalen Behörden wirksam entzogen wurde. Wie bereits dargestellt, gebietet es der Grundsatz des Vertrauensschutzes,106 dass die Unionsbürger bis zur Zustellung einer aufenthaltsbegrenzenden Verfügung auf ihr Freizügigkeitsrecht vertrauen dürfen. Es ist demnach ein Widerspruch in sich selbst, wenn trotz konstitutiv weiterbestehendem Aufenthaltsrecht der Anspruch auf Gleichbehandlung nicht mehr gegeben wäre. Diese Lösung ist mit dem Unionsbürgerstatus nicht zu vereinbaren.107 Als Fazit bleibt festzuhalten: Allein die Tatsache, dass dem Unionsbürger das Freizügigkeits- und Aufenthaltsrecht aufgrund des Eingreifens der Beschränkungen und Bedingungen oder des ordre-public-Vorbehalts entzogen werden könnte, berechtigt nicht dazu, den Anwendungsbereich des Diskriminierungsverbots zu verschließen. Bis zur Beendigung des Aufenthaltsrechts durch eine nationale Maßnahme bleibt der Aufenthalt rechtmäßig; während eines rechtmäßigen Aufenthalts haben Unionsbürger einen Anspruch auf Gleichbehandlung. Ein „kleines“ oder „einstweilen vermindertes“ Freizügigkeitsrecht ist abzulehnen.108

102

Bode, EuZW 2003, S. 552 (556); Soria, JZ 2002, S. 643 (648); Becker, ZESAR 2002, S. 8

(10). 103

Bode, EuZW 2003, S. 552 (556); Soria, JZ 2002, S. 643 (646). Bode, EuZW 2003, S. 552 (556). 105 Vgl. etwa: Bode, EuZW 2003, S. 552 (557). 106 So auch: Bode, EuZW S. 2003, 552 (555); Becker, ZESAR 2002, S. 8 (10). 107 So auch: Borchardt, NJW 2002, S. 2057 (2060); Borchardt, Unionsbürgerschaft und soziale Ansprüche, in: von Bogdandy/Kadelbach (Hrsg.), Solidarität und europäische Integration, S. 9 (15 f.) Scheuing, Die Freizügigkeit der Unionsbürger in der Europäischen Union, in: Dreier (Hrsg.), Raum und Recht, FS 600 Jahre Würzburger Juristenfakultät, S. 103 (139). 108 Scheuing, Die Freizügigkeit der Unionsbürger in der Europäischen Union, in: Dreier (Hrsg.), Raum und Recht, FS 600 Jahre Würzburger Juristenfakultät, S. 103 (139). 104

II. Sachlicher Anwendungsbereich

169

6. Ausdehnung des Anwendungsbereichs auf bilaterale bzw. multilaterale Abkommen Der persönliche Anwendungsbereich bilateraler oder multilateraler Abkommen des Aufenthaltsstaates ist grundsätzlich auf sich rechtmäßig aufhaltende Unionsbürger auszudehnen – natürlich nur unter der Prämisse, dass auch die materiellen Voraussetzungen vorliegen.109 Im Fall Grana-Novoa110 war streitig, ob eine sich in Deutschland aufhaltende Spanierin auf das deutsch-schweizerische Sozialversicherungsabkommen berufen konnte. Ziel der Antragstellerin war es, im Zuge der „Multilateralisierung“111 des bilateralen Abkommens eine Zusammenrechnung ihrer spanischen, deutschen und schweizerischen Versicherungszeiten und damit eine Invaliditätsrente zu erlangen. Sie leitete den Gleichbehandlungsanspruch aus dem Diskriminierungsverbot des Art. 3 Abs. 1 der VO 1408/71112 ab. In der Sache beschäftigte sich der EuGH nicht mit der Fragestellung, da er bereits die Anwendbarkeit der VO 1408/71 ablehnte. Mittlerweile hat der EuGH für den Bereich der Arbeitnehmerfreizügigkeit die personelle Ausdehnung des Anwendungsbereichs von bilateralen Abkommen positiv beschieden. In dem zugrundeliegenden Fall Gottardo geht es um eine französische Staatsangehörige, welche anlässlich des Bezugs einer Altersrente ihre in Frankreich, Italien und der Schweiz erworbenen Sozialversicherungszeiten angerechnet wissen wollte. Im Hinblick auf die Anerkennung ihrer schweizerischen Versicherungszeiten von der italienischen Behörde berief sie sich auf ein bilaterales italienisch-schweizerisches Sozialabkommen. Der EuGH stellte dabei fest, dass „der fundamentale Grundsatz der Gleichbehandlung diesen Mitgliedstaat zwingt, den Staatsangehörigen der anderen Mitgliedstaaten die gleichen Vorteile zu gewähren, die auch seinen eigenen Staatsanghörigen aufgrund dieses Abkommens zustehen, es sei denn, dass er eine objektive Rechtfertigung für seine Weigerung vorbringen kann.“113 Der personelle Anwendungsbereich bilateraler Abkommen wird folglich auf alle Unionsbürger ausgedehnt, sofern sie sich auf das Diskriminierungsverbot berufen können.

109 Borchardt, Unionsbürgerschaft und soziale Ansprüche, in: von Bogdandy/Kadelbach (Hrsg.), Solidarität und europäische Integration, S. 9 (13); Soria, JZ 2002, S. 643 (650). 110 EuGH, Rs. C-23/92, Grana-Novoa/Landesversicherungsanstalt Hessen, Slg. 1993, I-4505. 111 Borchardt, in: von Bogdandy/Kadelbach (Hrsg.), Solidarität und europäische Integration, S. 9 (14). 112 Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 über die Anwendung der Systeme der sozialen Sicherheit auf Arbeitnehmer und Selbständige sowie deren Familienangehörige, die innerhalb der Gemeinschaft zu- und abwandern, 14. Juni 1971, ABl. Nr. L 149/2 ff. 113 EuGH, Rs. C-55/00, Gottardo, Rdn. 34, Slg. 2002, I-413; vgl. auch: EuGH, Rs. 235/87, Matteucci, Slg. 1988, 5589, Rdn. 16: Kulturabkommen, welches die Gewährung von Stipendien vorsieht; Erstreckung auch auf die sich im Hoheitsgebiet aufhaltenden Arbeitnehmer nach Art. 7 der VO 1612/68; EuGH, Rs. C-307/97, Saint-Gobain ZN, Slg. 1999, I-6161, Rdn. 57–59 – bilaterales Doppelbesteuerungsabkommen.

170

H. Sozialrechtlicher Gleichbehandlungsanspruch

III. Grenzüberschreitender Bezug III. Grenzüberschreitender Bezug

Unionsbürger können sich nur dann auf das Diskriminierungsverbot berufen, wenn sie ihr Recht auf Freizügigkeit in Anspruch nehmen bzw. genommen haben. Das bedeutet, es muss ein grenzüberschreitender Sachverhalt vorliegen.114 Ohne von seinem Freizügigkeitsrecht Gebrauch gemacht zu haben, kann ein Unionsbürger nicht aus seinem Heimatstaat heraus Sozialansprüche gegen einen anderen EU-Mitgliedstaat geltend machen. Die unter den Stichwörtern „umgekehrte Diskriminierung“ bzw. „Inländerdiskriminierung“ diskutierten Fälle werfen die Frage auf, ob es mit dem Unionsbürgerstatus vereinbar ist, dass ein Mitgliedstaat seine eigenen Staatsangehörigen gegenüber den Staatsangehörigen eines anderen EU-Mitgliedstaates diskriminiert.115 Die eigenen Staatsangehörigen sind zugleich auch Unionsbürger im Sinne des Art. 17 EGV. Allerdings wird bislang als Voraussetzung für die Anwendbarkeit des Diskriminierungsschutzes das Vorliegen eines grenzüberschreitenden Bezugs gefordert. Ein Mitgliedstaat darf seine eigenen Staatsangehörigen nicht deshalb benachteiligen, weil sie von ihrem unionalen Freizügigkeitsrecht Gebrauch gemacht haben.116 Rein interne Diskriminierungen sind Sache des nationalen Rechts und können nicht am Maßstab des Art. 17 EGV gemessen werden. Der EuGH hält in ständiger Rechtsprechung an diesem Grundsatz fest: „Die in Artikel 7 EG vorgesehene Unionsbürgerschaft bezweckt jedoch nicht, den sachlichen Anwendungsbereich des Vertrags auf interne Sachverhalte auszudehnen, die keinerlei Bezug zum Gemeinschaftsrecht aufweisen.“117

Allerdings lockerte der EuGH unlängst die an das Vorliegen eines grenzüberschreitenden Sachverhalts zu stellenden Voraussetzungen. Dabei ist nach neuester Rechtsprechung nicht erforderlich, dass der Unionsbürger tatsächlich einen Grenzübertritt vollzogen hat. Ausreichend ist bereits, dass sich ein Staatsangehöriger eines Mitgliedstaats in einem anderen Mitgliedstaat aufhält. So reichte es für die Eröffnung des Anwendungsbereichs in der Rechtssache Avello aus, dass die in Belgien geborenen und sich seitdem dort ununterbrochen aufhaltenden Kinder eines Spaniers und einer Belgierin die Staatsangehörigkeit sowohl von Belgien als auch von Spanien besitzen, um sich vor belgischen Behörden auf Art. 12 EGV berufen zu können.118 In konsequenter Fortführung dieser eingeschlagenen Rechtsprechung lässt es der Gerichtshof auch im Fall Zhu und Chen ausreichen, dass das Kleinkind Catherine Chen die irische Staatsan114

So auch: Soria, JZ 2002, S. 643 (646). Näheres dazu beispielsweise bei: Zuleeg, in: von der Groeben/Schwarze, Art. 12, Rdn. 14; Epiney, Umgekehrte Diskriminierungen; Hammerl, Inländerdiskriminierung. 116 Vgl. EuGH, Rs. C-224/98, D’Hoop, Slg. 2002, I-6191. Näheres dazu: unter Beschränkungsverbots S. 151 f. 117 EuGH, Rs. C-148/02, Avello, Slg. 2003, I-11613, Rdn. 26. 118 EuGH, Rs. C-148/02, Avello, Slg. 2003, I-11613, Rdn. 27. 115

IV. Unmittelbare und mittelbare Diskriminierungen

171

gehörigkeit besitzt und sich im Hoheitsgebiet des Vereinigten Königreichs aufhält.119

IV. Unmittelbare und mittelbare Diskriminierungen IV. Unmittelbare und mittelbare Diskriminierungen

Eine nicht gerechtfertigte unterschiedliche Behandlung wegen der Staatsangehörigkeit verstößt gegen Art. 12 i. V. m. Art. 18 EGV. Dabei sind neben offenen Diskriminierungen, welche unmittelbar an das Kriterium der Staatsangehörigkeit anknüpfen, auch mittelbare Diskriminierungen untersagt. Bei letzteren handelt es sich um versteckte Formen der Diskriminierung, die im Wege der Anwendung anderer Differenzierungsmerkmale tatsächlich und typischerweise zum gleichen Ergebnis führen, wie wenn unmittelbar an die Staatsangehörigkeit angeknüpft würde.120 Die Anknüpfung an ein scheinbar neutrales und unterschiedslos geltendes Merkmal muss letztlich zu dem gleichen Ergebnis führen, nämlich dass eine Diskriminierung von Ausländern stattfindet. Klassische Beispiele sind eine Anknüpfung an den Wohnsitz oder die Muttersprache sowie die Festschreibung rechtlicher oder tatsächlicher Bedingungen, welche regelmäßig nicht von Staatsangehörigen anderer Mitgliedstaaten erbracht werden können. Die Anknüpfung an das Kriterium des Wohnsitzes führt typischerweise zu einer Diskriminierung aufgrund der Staatsangehörigkeit, da sich eine derartige Vorschrift überwiegend zum Nachteil von Angehörigen anderer Mitgliedstaaten auswirkt. Ein zentrales Hindernis für die vollständige Verwirklichung der Freizügigkeit liegt insbesondere in der territorialen Gebundenheit sozialer Ansprüche. So benachteiligt das im Fall Collins maßgebliche Kriterium des „gewöhnlichen Aufenthalts“ die Unionsbürger, welche von ihrem Freizügigkeitsrecht Gebrauch machen, gegenüber den nationalen Staatsangehörigen.121 Auch eine wie im Fall D’Hoop zugrunde liegende Vorschrift, welche gebietet, dass junge Arbeitssuchende einen Anspruch auf Überbrückungsgeld nur dann haben, wenn sie ihren Schulabschluss im Mitgliedstaat gemacht haben, beeinträchtigt regelmäßig Angehörige anderer Mitgliedstaaten mehr als die eigenen Staatsangehörigen, da erstere regelmäßig ihren Schulabschluss in einem anderen 119

EuGH, Rs. C-200/02, Zhu und Chen, Slg. 2004, I-9925. Ausführlich dazu: E. II. 1. Ständige Rechtsprechung des EuGH (vor allem im Bereich der Grundfreiheiten; die entsprechenden Überlegungen können aber auch für den Auffangtatbestand des Art. 12 herangezogen werden): vgl. EuGH, Rs. 152/73, Sotgiu, Slg. 1974, 153, Rdn. 11 f.; Rs. 31/87, Beentjes, Slg. 1988, 4635, Rdn. 30; Rs. C-237/94, O’Flynn, Slg. 1996, I-2617, Rdn. 17 f.; Rs. 22/80, Boussac/Gerstenmeier, Slg. 1980, 3427, Rdn. 9; Rs. 175/88, Biehl/Administration des contributions, Slg. 1990, I-1779, Rdn. 13; Rs. C-398/92, Mund & Fester/Hatrex, Slg. 1994, I-467, Rdn. 14; Rs. 270/83, Kommission/Frankreich, Slg. 1986, 273, Rdn. 11; Rs. 198/86, Conradi/Direction de la concurrence, Slg. 1987, 4469, Rdn. 7; Rs. 152/73, Sotgiu/Deutsche Bundespost, Slg. 1974, 153, Rdn. 11, Rs. 61/77, Kommission/Irland, Slg. 1978, 417, Rdn. 78/80, Rs. C-29/95, Pastoors u. a./Belgien, Slg. 1997, I-1, Rdn. 16. Aus der Literatur: Streinz, in: Streinz, Art. 12 Rdn. 50; von Bogdandy, in: Grabitz/Hilf, Art. 6 Rdn. 18; Holoubek, in: Schwarze, Art. 12 Rdn. 42; Epiney in: Calliess/Ruffert, Art. 12 Rdn. 13. 121 EuGH, Rs. C-138/02, Collins, Slg. 2004, I-2703, Rdn. 65. 120

172

H. Sozialrechtlicher Gleichbehandlungsanspruch

Mitgliedstaat abgelegt haben.122 Am Gleichheitsgebot messen lassen muss sich auch die italienische Vorschrift, welche Personen, die dem Codice della strada zuwiderhandeln, unterschiedlich behandelt, und zwar je nach dem Ort der Zulassung ihres Fahrzeugs. Wird die Zuwiderhandlung mit einem in Italien zugelassenen Fahrzeug begangen, so verfügt der Betroffene über eine Frist von 60 Tagen zur Zahlung des vorgesehenen Mindestbetrags. Dagegen müssen Betroffene mit einem Fahrzeug, das in einem Mitgliedstaat zugelassen ist, den Mindestbetrag sofort bezahlen bzw. bei Einlegung eines Einspruchs eine Kaution in Höhe des Doppelten des Mindestbetrags hinterlegen, ansonsten wird die Fahrerlaubnis einbehalten oder das Fahrzeug beschlagnahmt. Diese Regelung hat zur Folge, dass die meisten der Betroffenen, die ein in einem anderen Mitgliedstaat zugelassenes Fahrzeug besitzen, keine italienischen Staatsangehörigen sind; demgegenüber ist die große Mehrheit, die ein in Italien zugelassenes Auto besitzt, italienischer Staatsangehörigkeit.123 Damit führt diese Regelung letztlich zum gleichen Ergebnis wie eine Diskriminierung nach der Staatsangehörigkeit.

V. Derivatives Teilhaberecht V. Derivatives Teilhaberecht

Grundsätzlich können Verstöße gegen das Gleichheitsrecht auf mehrere Arten behoben werden: So kann die schlechter behandelte Gruppe an das Niveau der „Besserbehandelten“ angepasst werden, andererseits ist auch genau der umgekehrte Fall denkbar: Die bislang Bevorzugten können auf das niedrigere Niveau heruntergestuft werden. Letztlich verbleibt noch die weitere Möglichkeit, beide Gruppen durch Schaffung einer gänzlich anderen Regelung gleich zu behandeln.124 Welche Maßnahme konkret ergriffen wird, obliegt regelmäßig der rechtssetzenden Gewalt. Der EuGH ignoriert diesen Gestaltungsspielraum und so erweist sich die Geltendmachung des gemeinschaftsrechtlichen Gleichbehandlungsanspruchs als besonders attraktiv, da er sich – anders als beispielsweise im deutschen Recht üblich – automatisch in einen Teilhabeanspruch niederschlägt. Werden die Unionsbürger von bestimmten Sozialleistungen des Aufenthaltsstaates ausgeschlossen, so liegt regelmäßig eine Diskriminierung aufgrund der Staatsangehörigkeit vor. Sofern diese Ungleichbehandlung mit dem Gemeinschaftsrecht nicht zu vereinbaren ist, erwächst dem Unionsbürger ein Leistungsrecht in Form des Rechts auf gleichberechtigte Teilhabe an den nationalen Leistungen. Die diskriminierende Vorschrift, welche den Unionsbürgern den Zugang zu den nationalen sozialen Leistungen versperrt, ist bis zur Neuregelung des Sachverhalts durch den Gesetzgeber unanwendbar.125 Solange das Leistungsangebot für Inländer weiter122 EuGH, Rs. C-224/98, D’Hoop, Slg. 2002, I-6191, Rdn. 30 f. Eine ausführliche Darstellung dieses Urteils erfolgt im Kapitel Beschränkungsverbot unter G. II. 1. c). 123 EuGH, Rs. C-224/00, Kommission/Italienische Republik, Slg. 2002, 2965, Rdn. 18. 124 Rossi, EuR 2000, S. 197 (215). 125 Borchardt, NJW 2000, S. 2057 (2058); Soria, JZ 2002, S. 642(644).

VI. Ökonomische Auswirkungen

173

besteht, sind die Unionsbürger daran zu beteiligen.126 Originäre Leistungsrechte können sich aus Art. 12 und Art. 18 EGV nicht ergeben.127 Das heißt, die Mitgliedstaaten bestimmen nach wie vor selbst, was für soziale Leistungen sie anbieten. Die Erweiterung des Rechtskreises des einzelnen Unionsbürgers kann sich daher nur ergeben, wenn die staatlichen Mittel schon bereitgestellt werden und es lediglich um die Ausdehnung dieser Teilhaberechte auf andere Staatsangehörige geht.

VI. Ökonomische Auswirkungen auf den Sozialstaat VI. Ökonomische Auswirkungen

Vielfach wird in dieser Entwicklung eine Gefahr für die nationalen Systeme der sozialen Sicherheit gesehen. Die Gefahr einer unerwünschten, aus finanziellen Gründen motivierten Migration („Sozialtourismus“) wird insbesondere vor dem Hintergrund der Osterweiterung diskutiert.128 Bei näherer Betrachtung der divergierenden Bruttoinlandsprodukte je Einwohner in den verschiedenen Mitgliedstaaten der Europäischen Union129 und der damit einhergehenden unterschiedlichen sozialen Absicherung werden in der Tat starke Anreize für eine finanziell motivierte Wanderungsbewegung gesetzt. Das Pro-Kopf-Einkommen der neuen Beitrittsländer ist gemessen an der Kaufkraft bei 45 % des Durchschnittswertes des EU-Niveaus anzusiedeln.130 Auch der folgende Vergleich macht das starke ökonomische Gefälle deutlich: Der durchschnittliche Jahresverdienst eines Arbeitnehmers (Bereich Industrie/Dienstleistung) im Jahr 2002 betrug in Deutschland 39 440 Euro, in Polen hingegen während des gleichen Zeitraums nur 7 171 Euro.131 Unter dem Titel „Freifahrt in den Sozialstaat“132 prognostiziert Hans-Werner Sinn eine Armutswanderung, da aufgrund der stark divergierenden Lohnunterschiede die Anreize, von der Freizügigkeit Gebrauch zu machen, übermächtig seien. Dabei hält er das Erfordernis, ausreichende Existenzmittel sowie einen Krankenversicherungsschutz bei der Beantragung einer Aufenthaltserlaubnis nachzuweisen, für praktisch wirkungslos.

126 Vgl. EuGH, Rs. C-184/99, Rudy Grzelczyk, Slg. 2001, I-6193, Rdn. 27 ff. Zu Art. 7 Abs. 1 EWG: EuGH, Rs. 186/87, Cowan, Slg. 1989, 195 (219 f.); Borchardt, NJW 2000, S. 2058; Montag, NJW 2000, S. 33. 127 Becker, ZESAR 2002, S. 8 (11). 128 Sodan, JZ 2002, S. 53 (54); Strick, NJW 2005, S. 2182; Scheffer, ZRP 2003, S. 55. 129 Vgl. FAZ vom 2. April 2004, S. 16–17 (Arm und Reich im neuen Europa). 130 Brücker, Wochenbericht des DIW Berlin 17/04. 131 Eurostat Jahrbuch 2004, S. 144. 132 Sinn, Freifahrt in den Sozialstaat. Was bei der Debatte um die Zuwanderung übersehen wird: Aus Osteuropa droht eine Armutswanderung- Für nicht-erwerbstätige EU-Bürger wird die Migration erleichtert, Süddeutsche Zeitung vom 27.5.2004, 20; Sinn, Ist Deutschland noch zu retten?, 2003, S. 405 (434 ff.).

174

H. Sozialrechtlicher Gleichbehandlungsanspruch

„Was immer die benötigten Mittel sind: Die Betroffenen werden Wege finden, die nötigen Beträge nachzuweisen. Man kann sich schon jetzt lebhaft vorstellen, wie schnell die Geldbestände, die man nachweisen muss, zwischen den Konten mancher Immigrantengruppen zirkulieren werden.“133

Dies führe zu einer Drosselung der Sozialleistungen im Rahmen eines Abschreckungswettbewerbs und in letzter Konsequenz zu einer Erosion des Sozialstaats.134 Grundsätzlich würden „Besserverdiener“ in Länder mit niedrigerer Steuerlast und die „Bedürftigen“ hingegen in Staaten mit hohen Sozialtransferleistungen ziehen, so dass Ausgleichmaßnahmen schwer zu verwirklichen sind. Bereits 1998 bemerkte Ernst-Wolfgang Böckenförde anlässlich der Schaffung der Wirtschaftsund Währungsunion: „Die einstmals mühsam erkämpfte Einheit von Staatsraum, geregeltem Wirtschaftsraum und Sozialraum, eine Geschäftsgrundlage des modernen Wohlfahrtsstaates und sozialer Marktwirtschaft, wird aufgehoben.“135

Während für die unbeschränkte Anwendung der Arbeitnehmerfreizügigkeit im Zuge der Osterweiterung zum Schutz der nationalen Arbeitsmärkte langjährige Übergangsvorschriften erlassen wurden, können nicht erwerbstätige Unionsbürger aus den neuen Mitgliedstaaten sofort einwandern und damit auch potenziell soziale Leistungen geltend machen. Allerdings hält die überwiegende Mehrzahl der Experten die Darstellung von Hans-Werner Sinn für überspitzt.136 Bereits an einer derart starken Anreizbewegung aufgrund des Wohlstandsgefälles wird gezweifelt. Nach Ansicht der EU-Kommission wird die Mobilität der Menschen maßlos überschätzt.137 Als weitere Parameter seien nämlich die kulturelle und sprachliche Verbundenheit der EU-Bürger zu berücksichtigen, so dass es zwar zu Migrationen kommen werde, diese aber nicht in dem von Herrn Sinn vorgezeichneten Maße stattfinden würden. Aufgrund anderweitiger sozialer und kultureller Bindungen werde nur ein Bruchteil der Bevölkerung der neuen Mitgliedstaaten von ihrem Freizügigkeitsrecht Gebrauch machen. „Neben institutionellen Restriktionen und Netzwerkeffekten beeinflussen unterschiedliche Humankapitalcharakteristika wie Alter, Ausbildung, Arbeitserfahrung, Familienstatus und Geschlecht sowie unterschiedliche Präferenzen der Individuen die Kosten und erwarteten

133 Sinn, Freifahrt in den Sozialstaat. Was bei der Debatte um die Zuwanderung übersehen wird: Aus Osteuropa droht eine Armutswanderung- Für nicht-erwerbstätige EU-Bürger wird die Migration erleichtert, Süddeutsche Zeitung vom 27.5.2004, 20; vgl. auch: Landler, Missteps in reunificaton raise caution flag as EU expands, International Herald Tribune vom 21.07.2004, Sinn, Europe faces a rise in welfare migration, Financial Times vom 13.07.2004, S. 13. 134 Sinn, Ist Deutschland noch zu retten?, S. 434. 135 Vgl. Zitat bei: Schmitz, Gewerkschaftliche Monatshefte 12/2003, S. 716. 136 Presseerklärungen des Bundesministeriums für Gesundheit und soziale Sicherung vom 15.06. und 21.06.2004. Der FDP-Zuwanderungsexperte Max Stadler sieht eine „maßlose Übertreibung“ und „unsinnige Panikmache“; vgl. Gäubote vom 5. Juni 2004, 4. 137 Vgl. Bericht im Gäubote vom 30. Mai 2004, 3.

VI. Ökonomische Auswirkungen

175

Erträge der Wanderung. Selbst bei sehr hohen Einkommensunterschieden zwischen zwei Ländern wandert deshalb immer nur ein Teil der Bevölkerung.“138

Es wird geschätzt, dass zwischen 3 bis 4 % der Bevölkerung der neuen Mitgliedstaaten in den nächsten 20 Jahren von dieser Grundfreiheit Gebrauch machen werden. „Das sind drei bis vier Millionen Menschen, nimmt man Bulgarien und Rumänien noch dazu. Auf Deutschland dürften zwei bis 2,5 Millionen Zuwanderer entfallen.“139 Bezogen auf 15 Jahre wird von einer Migration von 2–5 % der Bevölkerung ausgegangen.140 Dabei sind die kulturellen Erwägungen bereits miteinbezogen. Deutschland und Österreich sind die Hauptzielländer der Migration.141 EU-Bürger, welche nicht die deutsche Staatsangehörigkeit besitzen, weisen im Vergleich zu Deutschen nur eine leicht erhöhte Arbeitslosigkeits- und Sozialhilfequote auf. Nicht-EU-Bürger stellten für die Systeme der sozialen Sicherheit eine weitaus größere Gefahr dar.142 Bereits im Zuge der Süderweiterung wurden erhebliche Wanderungsbewegungen befürchtet, welche dann allerdings nicht stattfanden. Daraus kann aber nicht zwingend der Schluss gezogen werden, dass auch die EU-Osterweiterung zu keiner nennenswerten Steigerung der Migration führen werde. Nach Schätzung des DIW werden die neuen EU-Mitgliedstaaten ungefähr 30 Jahre brauchen, um die gegenwärtigen Einkommensunterschiede zur Europäischen Union zu halbieren. Und dann würden sie im Durchschnitt noch immer unter dem Einkommensniveau liegen, welches Spanien und Portugal 1986 zum Zeitpunkt ihres EG-Beitritts aufwiesen.143 Das Einkommensgefälle zwischen den mittel- und osteuropäischen Staaten und den „alten“ EU-Mitgliedstaaten ist folglich wesentlich höher. Zum anderen hatte sich bei der Süderweiterung der EG bereits vorab ein Teil der Bevölkerung (rund 3 %) aus den Beitrittsländern in den anderen Mitgliedstaaten der 138

Brücker/Trabold/Trübswetter/Weise, Migration: Potential und Effekte für den deutschen Arbeitsmarkt, DIW, 2002, Zusammenfassung, März 2002, S. 2. 139 Brücker, Experte für Migration am Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW), Berlin, Interview im Gäubote vom 5. Juni 2004, S. 4. 140 Vgl. verschiedene Schätzungen des Migrationspotentials: 4 bis 5 %: Sinn/Flaig/Werding/ Munz/Düll/Hofmann, IFO-Beiträge zur Wirtschaftsforschung, EU-Erweiterung und Arbeitskräftemigration, 2001. Fundstelle: http://www.ifo.de/home. Layard/Blanchard/Dornbusch/Krugman, East-West Migration: The Alternatives; Bauer/ Zimmermann, Assessment of Possible Migration Pressure and Its Labour Market Impact Following EU Enlargement to Central and Eastern Europe, IZA Research Report Nr. 3, Bonn 1999; Brücker, Die Folgen der Freizügigkeit für die Ost-West-Migration. Schlussfolgerungen aus einer Zeitreihenanalyse der Migration nach Deutschland, Konjunkturpolitik, Beiheft Nr. 52, 2001, S. 17 ff.; Hille/Straubhaar, The Impact of EU Enlargement on Migration Movements and Economic Integration: Results of Recent Studies, in: OECD (Hrsg.), Migration Policies and EU-Enlargement, S. 79 ff. 141 Husemann, Die sozialpolitische Dimension – eine Zwischenbilanz, Bundesarbeitsblatt 1/2002, S. 15 (19). 142 Brücker, Interview im Gäuboten vom 5. Juni 2004, S. 4. 143 Husemann, Die sozialpolitische Dimension – eine Zwischenbilanz, Bundesarbeitsblatt 1/2002, S. 15 (19).

176

H. Sozialrechtlicher Gleichbehandlungsanspruch

EG niedergelassen, so dass kein großer Migrationsdruck mehr bestand. Dies ist im Rahmen der Osterweiterung anders. Es leben heute nur rund 0,8 % der Bevölkerung der mittel- und osteuropäischen Beitrittsländer in den EU-Staaten.144 Als Lösung dieser potenziellen Migrationsbewegung bietet sich für Sinn die Anwendung des sog. Heimatlandprinzips an. Danach könnten alle Unionsbürger frei umherziehen, aber wenn sie im Aufenthaltsstaat oder Gastland nicht arbeiten, bliebe ihr Heimatland für Sozialleistungen zuständig.145 Damit wäre es möglich, in Europa gleichzeitig volle Freizügigkeit und Sozialstaatlichkeit zu gewährleisten. Die Bemessung der Höhe der Sozialleistungen orientiert sich diesem Vorschlag zufolge wohl an dem Niveau des Herkunftsstaates. Damit wird versucht, eine Ideallösung zu erreichen, die sich aber kaum realisieren lassen dürfte. Auch der Vorschlag des wissenschaftlichen Beirats beim Bundesministerium für Finanzen mit dem „Prinzip der verzögerten sozialen Integration“ weist in die ähnliche Richtung. Danach soll im Rahmen der Freizügigkeit die sozialrechtliche Zuständigkeit für eine gewisse Zeit (ein Fünfjahreszeitraum wird angedeutet) beim Herkunftsstaat verbleiben.146 Die Leistungsbemessung sollte sich aber eher an den Lebensverhältnissen im Aufenthaltsstaat orientieren. Es ist im Sozialrecht ein allgemeines Prinzip, dass sich die Leistung nach der Bedürftigkeit des Betroffenen ermittelt. In diese Berechnung haben die Lebenshaltungskosten etc. am Wohnsitz des Antragsstellers einzufließen. Allerdings wird sich unter dieser Voraussetzung das Heimatstaatprinzip nicht durchsetzen lassen. Es ist zu erwarten, dass die Heimatländer nicht willens bzw. nicht in der Lage sind, einen evtl. höheren Lebensstandard in einem anderen Mitgliedstaat zu finanzieren.

VII. Rechtfertigungsmöglichkeiten VII. Rechtfertigungsmöglichkeiten

Insbesondere auch vor diesem Hintergrund ist zu prüfen, ob eine Ungleichbehandlung aus Gründen der Staatsangehörigkeit stets eine Diskriminierung darstellt oder – und ggf. unter welchen Bedingungen – ob Rechtfertigungsgründe angeführt werden können. Ein Teil des Schrifttums geht von einem absoluten Diskriminierungsverbot aus, da bereits die Wertungsfrage bei Art. 12 EGV durch das Verbot einer Differen144 Brücker/Trabold/Trübswetter/Weise, Migration: Potential und Effekte für den deutschen Arbeitsmarkt, März 2002, S. 2. 145 Sinn, FAZ vom 19. Juni 2004, S. 10. Hinsichtlich der Höhe der Sozialleistungen wird gelegentlich auch das Herkunftstaatsprinzip ins Spiel gebracht; danach sollen Unionsbürger Sozialleistungen nur auf dem Niveau ihres Herkunftstaates erhalten. Dieser Ansatz widerspricht aber dem Grundgedanken der Sozialhilfe, welche eine Hilfe zur Sicherung des Existenzminimums ist und sich grundlegend an dem Bedarf des Betroffenen orientiert. Dieser bestimmt sich nach den konkreten Lebensumständen. 146 Wissenschaftlicher Beirat beim Bundesministerium der Finanzen, Gutachten zur „Freizügigkeit und sozialen Sicherung in Europa“, 2001.

VII. Rechtfertigungsmöglichkeiten

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zierung aufgrund der Staatsangehörigkeit entschieden worden sei.147 Das bedeutet, dass eine Ungleichbehandlung aus Gründen der Staatsangehörigkeit in jedem Fall verboten wäre. Manche unterscheiden diesbezüglich aber zwischen unmittelbarer und mittelbarer Diskriminierung, wobei das absolute Diskriminierungsverbot nur für unmittelbare Diskriminierungen gelten soll; mittelbare Beschränkungen seien einer Rechtfertigung zugänglich.148 Der Europäische Gerichtshof prüft jedenfalls bei mittelbaren Diskriminierungen, ob die Regelung nicht durch objektive, von der Staatsangehörigkeit unabhängige Erwägungen gerechtfertigt werden kann.149 Bei unmittelbaren Diskriminierungen unterlässt der Gerichtshof regelmäßig die Prüfung rechtfertigender objektiver Umstände.150 Allerdings gibt es auch Entscheidungen, in denen der EuGH Art. 12 als Ausprägung des allgemeinen Gleichheitssatzes sieht;151 dies würde bedeuten, dass Rechtfertigungen grundsätzlich möglich sind. Meines Erachtens erscheint es sinnvoll, der überwiegenden Ansicht zu folgen und Art. 12 EGV in Parallele zum allgemeinen Gleichheitssatz und zu anderen Diskriminierungsverboten (Art. 28; 43; 49 EGV) als relatives Diskriminierungsverbot zu sehen.152 Aus der Feststellung einer Ungleichbehandlung aus Gründen der Staatsangehörigkeit erfolgt nicht zwingend ein Verstoß gegen das Diskriminierungsverbot. Vielmehr ist zu prüfen, ob die entsprechende Vorschrift durch objektive Umstände gerechtfertigt ist und ob die Bestimmung in einem angemessenen Verhältnis zu dem mit ihr verfolgten Zweck steht.153 Die Rechtsprechung zu Art. 12 i. V. m. Art. 18 EGV entwickelte mittlerweile einen einheitlichen Rechtfertigungsstandard. So kann es gerechtfertigt sein, von Unionsbürgern, welche ein in einem anderen Mitgliedsland als Italien zugelassenes Fahrzeug besitzen, eine Kaution zu verlangen, weil es keine völkerrechtlichen oder gemeinschaftsrechtlichen Vor147

Insbesondere: Reitmaier, Inländerdiskriminierungen nach EWG-Vertrag, S. 36 ff.; Geiger, EUV/EGV, Art. 12 Rdn. 7. Allgemein näheres dazu bei: Epiney, in: Calliess/Ruffert, Art. 12 Rdn. 37 ff.; Plötscher, Der Begriff der Diskriminierung, S. 130 ff. 148 von Borries, EuZW 1994, S. 474 (475); ähnlich: Kischel, EuGRZ 1997, S. 1 (5). 149 EuGH, Rs. C-29/95, Pastoors, Slg. 1997, I-1, Rdn. 19; Rs. C-398/92, Mund & Fester, Slg. 1994, I-1467, Rdn. 16 ff. 150 EuGH, Rs. C-43/95, Data Delecta, Slg. 1996, I-4661, Rdn. 16 ff.; Rs. 293/83, Gravier, Slg. 1985, 593, Rdn. 21 ff.; verb. Rs. C-92/92 und 326/92, Phil Collins, Slg. 1993, I-5145, Rdn. 32. 151 EuGH, Rs. C-224/00, Kommission/Italienische Republik, Slg. 2002, 2965, Rdn. 14; Rs. 147/79, Hochstrass, Slg. 1980, 3005, Rdn. 7; Rs. C-122/96, Saldanha, Slg. 1997, I-5325, Rdn. 29 f. 152 So auch: Rossi, EuR 2000, S. 197 (212); Becker, in: Schwarze, Art. 30 Rdn. 43 Schweitzer, Art. 12 EGV – Auf dem Weg zum „allgemeinen“ Gleichheitssatz?, in: Arndt/Knemeyer/ Kugelmann/Menger/Schweitzer (Hrsg.), Völkerrecht und deutsches Recht, FS für Walter Rudolf, S. 189 (195); Kadelbach, Die Unionsbürgerrechte, in: Ehlers (Hrsg.), Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, S. 467 (497). 153 EuGH, Rs. C-274/96, Bickel und Franz, Slg. 1998, I-7637, Rdn. 27; Rs. C-224/00, Kommission/Italienische Republik, Slg. 2002, 2965, Rdn. 20; Rs. C-138/02, Rs. C-224/98, D’Hoop, Slg. 2002, I-6191, Rdn. 36; Rs. C-138/02, Collins, Slg. 2004, I-2703, Rdn. 66.

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H. Sozialrechtlicher Gleichbehandlungsanspruch

schriften gibt, welche sicherstellen, dass ein Bußgeld wegen Zuwiderhandlung gegen die Straßenverkehrsordnung auch in einem anderen Mitgliedstaat vollstreckt wird. Beträgt die Höhe allerdings das Doppelte des bei einer Sofortzahlung fälligen Betrags, so steht diese Summe außer Verhältnis zum angestrebten Zweck.154 Unter anderen Gesichtspunkten kann es auch legitim sein, dass der Aufenthaltsstaat die Gewährung der Sozialleistungen von der Voraussetzung abhängig macht, dass der Anspruchsberechtigte seinen gewöhnlichen Aufenthalt im seinem Staatsgebiet hat. Wird eine soziale Leistung an den Aufenthalt bzw. das Vorliegen sonstiger Verbindungen zum Aufenthaltsstaat gekoppelt, so müssen die Mitgliedstaaten, um die mittelbare Diskriminierung zu rechtfertigen, berechtigte Interessen darlegen. So sollte das belgische Überbrückungsgeld den Schulabgängern den Übergang von der Ausbildung zum Arbeitsmarkt erleichtern. „Es ist daher ein legitimes Anliegen des Gesetzgebers, sich eines tatsächlichen Zusammenhangs zwischen demjenigen, der Überbrückungsgeld beantragt, und dem betroffenen räumlichen Arbeitsmarkt vergewissern zu wollen.“155

Dass dabei aber ausschließlich auf den Ort der Erlangung des Schulabschlusszeugnisses abgestellt wird, ist zu einseitig und schießt über das zur Verfolgung des Zieles Erforderliche hinaus.

1. Die Rechtssache Avello Auch in der Rechtssache Avello156 stellte sich die Frage, ob es gerechtfertigt war, diejenigen Staatsbürger, die nicht nur Angehörige des betroffenen, sondern außerdem noch Staatsbürger eines weiteren Mitgliedstaats sind, gleich mit ersteren zu behandeln. Dabei ging es um Fragen des Namensrechts der Kinder des Spaniers C. Garcia Avello und der Belgierin I. Weber. Im konkreten Fall wollten die Eltern erreichen, dass in die Geburtsurkunden ihrer in Belgien wohnhaften Kinder nicht dem belgischen Recht entsprechend der Name des Vaters als Familienname eingetragen wird, sondern der in Spanien übliche Doppelname. Die Kinder besitzen die belgische und die spanische Staatsangehörigkeit. Die 1988 und 1992 geborenen Kinder wohnen bislang in Belgien; nach belgischem Recht tragen sie den Namen ihres Vaters – Garcia Avello – als Familiennamen. Die Eltern beantragten 1995 die Änderung des Namens der Kinder in Garcia Weber. Begründet wurde dieser Antrag mit der im spanischen Recht verankerten Gewohnheit, wonach sich der Name der Kinder eines Ehepaars aus dem ersten Namen ihres Vaters, gefolgt vom ersten Namen ihrer Mutter zusammensetzt. Die belgischen Behörden folgten dem Antrag nicht, da in Belgien die Kinder den Namen ihres Vaters 154 155 156

EuGH, Rs. C-224/00, Kommission/Italienische Republik, Slg. 2002, 2965, Rdn. 25. EuGH, Rs. C-224/98, D’Hoop, Slg. 2002, I-6191, Rdn. 38. EuGH, Rs. C-148/02, Avello, Slg. 2003, I-11613.

VII. Rechtfertigungsmöglichkeiten

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führen. Ausreichende Gründe, den Familiennamen durch Garcia Weber zu ersetzen, seien nicht ersichtlich. Die belgischen Behörden schlugen aber vor, den Namen in Garcia zu ändern. Am 29.1.1998 erhoben die Eltern als gesetzliche Vertreter der Kinder Klage. Im Rahmen des Vorabentscheidungsverfahrens hatte der EuGH zu prüfen, ob das Vorgehen der belgischen Behörden mit dem Unionsbürgerstatus zu vereinbaren ist. Bei der Prüfung, ob die Ablehnung des Antrags auf Namensänderung gegen Art. 12 und Art. 17 EGV verstößt, stellt der EuGH wie folgt fest: „Das Diskriminierungsverbot verlangt nach ständiger Rechtsprechung, dass gleiche Sachverhalte nicht ungleich behandelt und ungleiche Sachverhalte nicht gleich behandelt werden … Eine solche Behandlung wäre allenfalls dann gerechtfertigt, wenn sie auf objektiven, von der Staatsangehörigkeit der Betroffenen unabhängigen Erwägungen beruhte und in einem angemessenen Verhältnis zu einem legitimen Zweck stünde, der mit den nationalen Rechtsvorschriften verfolgt würde.“157

In der vorliegenden Konstellation werde die Familie Avello aber genau gleich behandelt wie die belgischen Staatsangehörigen. Möglicherweise könne aber eine Ungleichbehandlung geboten sein. Zuerst ist daher zu prüfen, „ob sich diese beiden Personengruppen in der gleichen Situation befinden oder ob sich im Gegenteil ihre Situationen voneinander unterscheiden und sie dann aufgrund des Diskriminierungsverbots als belgische Staatsangehörige, die, wie die Kinder von Herrn Garcia Avello, auch die Staatsangehörigkeit eines anderen Mitgliedstaats besitzen, verlangen können, anders als die Personen, die nur die belgische Staatsangehörigkeit besitzen, behandelt zu werden, es sei denn, dass die beanstandete Behandlung durch sachliche Gründe gerechtfertigt ist.“158

Der Gerichtshof erachtet es als möglich, dass den Staatsangehörigen, welche auch die spanische Staatangehörigkeit besitzen, durch das belgische Namensrecht schwerwiegende Nachteile beruflicher wie privater Art entstehen können. Im Ergebnis sei damit die Situation der Staatsangehörigen, welche nur die belgische Staatsangehörigkeit besitzen und der Staatsangehörigen, welche auch die spanische Staatsangehörigkeit besitzen, verschieden. Die Gleichbehandlung wäre gerechtfertigt, wenn sie auf objektiven, von der Staatsangehörigkeit des Betroffenen unabhängigen Erwägungen beruhte und in einem angemessenen Verhältnis zum legitimen Zweck der nationalen Regel stünde.159 Die belgische Regierung hielt die Regelung für gerechtfertigt, da sie dem geltenden Grundprinzip der Unveränderlichkeit von Nachnamen entspreche. Der König könne nur ausnahmsweise eine Änderung des Namens genehmigen; im vorliegenden Fall seien diese Voraussetzungen nicht erfüllt. Im Übrigen sei der Eingriff in das Recht der Kläger als gering zu bewerten, da sie sich in jedem anderen Mitgliedstaat – eben mit Ausnahme 157

EuGH, Rs. C-148/02, Avello, Slg. 2003, I-11613, Rdn. 31. EuGH, Rs. C-148/02, Avello, Slg. 2003, I-11613, Rdn. 34. 159 EuGH, Rs. C-148/02, Avello, Slg. 2003, I-11613, Rdn. 31 sowie auch Schlussanträge des Generalanwalts Jacobs, Rs. C-148/02, Avello, Slg. Slg. 2003, I-11613, Rdn. 67. 158

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H. Sozialrechtlicher Gleichbehandlungsanspruch

von Belgien – auf ihre spanische Staatsangehörigkeit und den gemäß spanischem Recht gebildeten Doppelnamen berufen könnten. Zudem trage die Gleichbehandlung von belgischen Staatsbürgern, welche nur diese Staatsangehörigkeit haben, und solchen, welche noch eine weitere Staatsangehörigkeit besäßen, zur Integration letzterer bei. Im Ergebnis konnten diese Gründe die strittige Regelung vor dem EuGH allerdings nicht rechtfertigen. Der Grundsatz der Unveränderlichkeit des Familiennamens dürfe nicht überbewertet werden. Zudem ergebe sich die Unverhältnismäßigkeit der betroffenen Entscheidung bereits aus der Tatsache, dass schon heute Ausnahmen von der belgischen Regelung zulässig sind.160 Trotz der Argumente der belgischen Regierung konnte sich also die belgische Vorschrift des Namensrechts gegenüber dem EU-Recht nicht durchsetzen. Im Ergebnis durfte die nationale Behörde den Antrag der minderjährigen Kinder mit doppelter Staatsangehörigkeit auf Namensführung nach dem Recht und der Tradition des zweiten Mitgliedstaats nicht ablehnen.

2. Die Rechtssache Collins In der Rechtssache Collins161 war zu entscheiden, ob es mit dem europäischen Recht zu vereinbaren ist, dass ein Mitgliedstaat die Gewährung von Beihilfe für Arbeitssuchende von dem Vorliegen der Voraussetzung des gewöhnlichen Aufenthalts im betreffenden Mitgliedstaat abhängig macht. Herr Collins, welcher die amerikanische und irische Staatsangehörigkeit besitzt, arbeitete während eines sechsmonatigen Aufenthalts in den Jahren 1980 und 1981 im Vereinigten Königreich gelegentlich in einer Bar und als Verkäufer. Am 31. Mai 1998 reiste er zur Arbeitssuche erneut in das Vereinigte Königreich ein. Am 8. Juni 1998 stellte er einen Antrag auf Beihilfe für Arbeitssuchende. Diesen Antrag lehnte der Adjudication Officer mit der Begründung ab, dass Herr Collins seinen gewöhnlichen Aufenthalt nicht im Vereinigten Königreiche habe. Im Vorlageverfahren stellte sich unter anderem die Frage, ob Herr Collins als Arbeitnehmer im Sinne von Titel II des Ersten Teils der VO 1612/68 anzusehen sei und sich damit auf den Gleichbehandlungsanspruch Art. 7 Abs. 2 VO 1612/68 berufen könne. Mit der zweiten Vorlagefrage wollte Herr Collins wissen, ob ihm ein Aufenthaltsrecht nach der RL 68/360/EWG zustehe. Bei Verneinung der ersten beiden Fragen sollte der Gerichtshof klären, ob nicht bereits die Grundsätze des Gemeinschaftsrechts die Gewährung einer Beihilfe an Arbeitssuchende geböten.

160 161

EuGH, Rs. C-148/02, Avello, Slg. 2003, I-11613, Rdn. 45. EuGH, Rs. C-138/02, Collins, Slg. 2004, I-2703.

VII. Rechtfertigungsmöglichkeiten

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a) Schlussanträge des Generalanwalts Colomer Generalanwalt Colomer prüfte zuerst, ob nicht ein Verstoß gegen die Arbeitnehmerfreizügigkeit vorläge. Arbeitnehmer sei jede Person, welche eine tatsächliche und echte Tätigkeit ausübe. Völlig untergeordnete und unwesentliche Tätigkeiten sollten außer Betracht bleiben.162 Zum Zeitpunkt der Beantragung der Beihilfe war Herr Collins also – entsprechend der obigen Definition – kein Arbeitnehmer. Weiter prüfte Generalanwalt Colomer die Vorschriften des Freizügigkeitsrechts, Art. 18 EGV und des Diskriminierungsverbots, Art. 12 EGV. Da der vorliegende Fall im Bereich des Art. 39 EGV anzusiedeln und dieser eine besondere Ausprägung des allgemeinen Freizügigkeitsrechts sei, bräuchte bei einer strikten Anwendung Art. 18 EGV gar nicht mehr näher geprüft zu werden.163 Da sich der Kläger aber maßgeblich auf die Vorschrift des Art. 18 EGV stützt, bezieht sie Generalanwalt Colomer in seine Schlussanträge mit ein und sieht im Ergebnis in der Nichtbewilligung einer Beihilfe für Arbeitssuchende keinen Verstoß gegen die Unionsbürgerrechte. Im vorliegenden Fall sei die Rechtslage gerade nicht mit denen in den Fällen Martinez Sala und Rudy Grzelczyk zu vergleichen. Im ersteren Fall ging es um eine Unionsbürgerin, „die fast ihr ganzes Leben in dem Aufnahmestaat verbracht hatte“, so dass eine gewisse Integration in das Aufenthaltsland stattfand. Auch der Fall Grzelczyk zeichne sich dadurch aus, dass der Betroffene bereits drei Jahre in Belgien verbracht hatte. Demgegenüber sei Herr Collins im vorliegenden Fall in keiner Weise in seinen Aufenthaltsstaat integriert oder ihm auf sonstige Weise verbunden. „Im vorliegenden Fall bin ich jedoch der Ansicht, dass eine an den Aufenthalt geknüpfte Voraussetzung, mit der die Integration in dem betreffenden Staat und die Verbindungen des Antragsstellers zum nationalen Arbeitsmarkt überprüft werden soll, gerechtfertigt sein kann, um den so genannten Sozialtourismus von Personen zu verhindern, die von Staat zu Staat reisen, um beitragsunabhängige Leistungen in Anspruch zu nehmen, und um Missbräuche zu verhindern. Soweit bei ihrer Anwendung die persönliche Situation des Antragstellers in jedem Einzelfall geprüft wird, geht sie nach meiner Meinung nicht über das hinaus, was für die Erreichung des angestrebten Zieles erforderlich ist.“164

Demnach verlange das Gemeinschaftsrecht bei seinem gegenwärtigen Entwicklungsstand nicht, dass eine Leistung der sozialen Sicherheit für Arbeitssuchende, die nachweisen, dass sie nicht über ausreichende Mittel verfügen, einem Unionsbürger gewährt werde, der in das Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats einreise, um dort eine Beschäftigung zu suchen, aber in diesen Staat nicht integriert sei und keine Verbindungen zu seinem nationalen Arbeitsmarkt aufweise. Würde man den162 Schlussanträge des Generalanwalts Damaso Ruiz-Jarabo Colmer, Rs. C-138/02, Brian Francis Collins, Slg. 2004, I-2703, Rdn. 26. 163 Schlussanträge des Generalanwalts Damaso Ruiz-Jarabo Colmer, Rs. C-138/02, Brian Francis Collins, Slg. 2004, I-2703, Rdn. 57. 164 Schlussanträge des Generalanwalts Damaso Ruiz-Jarabo Colomer, Rs. C-138/02, Brian Francis Collins, Slg. 2004, I-2703, Rdn. 75.

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H. Sozialrechtlicher Gleichbehandlungsanspruch

noch zu der Auffassung gelangen, dass Art. 18 in Verbindung mit Art. 12 EGV die Mitgliedstaaten verpflichte, eine Beihilfe an Arbeitssuchende zu zahlen, so würde das Kriterium des gewöhnlichen Aufenthalts eine mittelbare Diskriminierung darstellen. Allerdings könne ein derartiges Kriterium gerechtfertigt sein, um einen Sozialtourismus und Missbräuche von Personen, die von Staat zu Staat reisen und Sozialleistungen in Anspruch nehmen, zu verhindern.165

b) Urteil des EuGH Die ersten beiden Vorlagefragen beschied der Gerichtshof negativ. Der Schwerpunkt der Prüfung des Gerichtshofs lag bei der Frage, ob eine nationale Regelung, welche die Beihilfe an Arbeitssuchende von einem Wohnsitzerfordernis abhängig macht, gegen das Gleichbehandlungsverbot verstößt. Einen Verstoß gegen die vorrangig zu prüfende Arbeitnehmerfreizügigkeit konnte das Gericht nicht feststellen. Insbesondere stellte er klar, dass für Angehörige der Mitgliedstaaten, welche zuwandern, um eine Beschäftigung zu suchen, der Grundsatz der Gleichbehandlung nur im Hinblick auf den Zugang zum Arbeitsmarkt gilt.166 Der Begriff des Arbeitnehmers in Titel III des Ersten Abschnitts der VO 1612/68 erfasse nur Personen, die bereits Zugang zum Arbeitsmarkt gefunden haben.167 Demgegenüber sei den Arbeitnehmern, welche bereits Zugang zur Beschäftigung gefunden haben, die gleichen sozialen und steuerlichen Vergünstigungen wie inländischen Arbeitnehmern zu gewährleisten (Art. 7 Abs. 2 VO 1612/68).168 Angehörige anderer Mitgliedstaaten, welche zuwandern, um eine Beschäftigung zu suchen, genießen Gleichbehandlung daher ausschließlich in Bezug auf Zugang zur Beschäftigung. Allerdings müsse sich dieser Grundsatz nun an den Maßstäben der Unionsbürgerschaft messen lassen. „Um die Tragweite des Anspruchs auf Gleichbehandlung Arbeitsuchender zu bestimmen, ist dieser Grundsatz jedoch im Licht anderer Bestimmungen des Gemeinschaftsrechts, insbesondere des Artikels 6 EG-Vertrag, auszulegen.“169

In diesem Zusammenhang verweist der EuGH auf seine ständige Rechtsprechung zur Unionsbürgerschaft und auf den Grundsatz, wonach sie dazu bestimmt sei, der grundlegende Status der Angehörigen der Mitgliedstaaten zu sein. „Angesichts der Einführung der Unionsbürgerschaft und angesichts der Auslegung, die das Recht der Unionsbürger auf Gleichbehandlung in der Rechtsprechung erfahren hat, ist es 165

Schlussanträge Generalanwalt Colomer, Rs. C-138/02, Collins, Slg. 2004, I-2703, Rdn. 75. EuGH, Rs. C-138/02, Collins, Slg. 2004, I-2703, Rdn. 58. 167 EuGH, Rs. C-138/02, Collins, Slg. 2004, I-2703, Rdn. 31; Rs. 316/85, Lebon, Slg. 1987, 2811, Rdn. 22 ; Rs. C-473/93, Kommission/Luxemburg, Slg. 1996, I-3207, Rdn. 2; Rs. C-173/94, Kommission/Belgien, Slg. 1996, I-3265, Rdn. 23. 168 EuGH, Rs. C-138/02, Collins, Slg. 2004, I-2703, Rdn. 31. 169 EuGH, Rs. C-138/02, Collins, Slg. 2004, I-2703, Rdn. 60. 166

VII. Rechtfertigungsmöglichkeiten

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nicht mehr möglich, vom Anwendungsbereich des Artikels 48 Absatz 2 EG-Vertrag, der eine Ausprägung des in Artikel 6 EG-Vertrag garantierten tragenden Grundsatzes der Gleichbehandlung ist, eine finanzielle Leistung auszunehmen, die den Zugang zum Arbeitsmarkt eines Mitgliedstaats erleichtern soll. Die Auslegung der Tragweite des Grundsatzes der Gleichbehandlung in Bezug auf den Zugang zur Beschäftigung muss diese Weiterentwicklung gegenüber der in den Urteilen Lebon und vom 12. September 1996 (Kommission/Belgien) vorgenommenen Auslegung widerspiegeln.“

Das Erfordernis des „gewöhnlichen Aufenthalts“ erfüllen die nationalen Staatsangehörigen leichter, so dass es die Angehörigen der Mitgliedstaaten, die von ihrem Recht auf Freizügigkeit Gebrauch gemacht haben, benachteilige. Eine solche mittelbare Diskriminierung könne allerdings unter bestimmten Voraussetzungen gerechtfertigt sein. Dies wäre insbesondere dann der Fall, wenn das Erfordernis „auf objektiven, von der Staatsangehörigkeit der Betroffenen unabhängigen Erwägungen beruhte und in einem angemessenen Verhältnis zu dem Zweck stünde, der mit den nationalen Rechtsvorschriften zulässigerweise verfolgt wird“.170 Es sei – wie sehr überzeugend ausgeführt wird – ein legitimes Anliegen, dass sich der nationale Gesetzgeber vergewissern will, ob zwischen Leistungsempfängern einer sozialen Vergünstigung nach Art. 7 Abs. 2 VO 1612/68 und dem betroffenen räumlichen Arbeitsmarkt eine tatsächliche Verbindung besteht.171 In diesem Sinne ist es daher gerechtfertigt, dass eine Beihilfe für Arbeitssuchende nur dann gewährt wird, wenn zwischen dem Arbeitssuchenden und dem Arbeitsmarkt eine gewisse Verbindung besteht. Der Antragsteller muss dem nationalen Arbeitsmarkt zur Verfügung stehen und aktiv eine Beschäftigung suchen. Das Wohnorterfordernis kann eine solche Verbindung sicherstellen, sofern es verhältnismäßig ist, d. h. „nicht über das zur Erreichung dieses Ziels Erforderliche hinausgeht“.172 In diesem Sinne genügt das Tatbestandmerkmal des „gewöhnlichen Aufenthalts“, um nachzuweisen, dass der Antragsteller in dem betreffenden Mitgliedstaat über einen angemessenen Zeitraum hin tatsächlich eine Beschäftigung gesucht hat.173 Dabei lässt der Gerichtshof allerdings offen, nach welcher zeitlichen Spanne von einem „gewöhnlichen“ Aufenthalt gesprochen werden kann. Die Besonderheit des Collins-Urteils liegt darin, dass der Gerichtshof die Bestimmungen der Unionsbürgerschaft auf die speziellen Vorschriften der Arbeitnehmerfreizügigkeit angewendet hat. Während der EuGH dieses neue Rechtsinstitut zunächst zur Verbesserung der Rechte der sog. Nichterwerbstätigen heranzog, erweitert er nun ihren Anwendungsbereich auch auf die Grundfreiheiten. Damit wird deutlich, dass Art. 17 EGV als grundlegende Auslegungsdirektive für alle

170 EuGH, Rs. C-138/02, Collins, Slg. 2004, I-2703, Rdn. 66 mit Verweis auf EuGH, Rs. C-274/96, Bickel und Franz, Slg. 1998, I-7637, Rdn. 27. 171 EuGH, Rs. C-138/02, Collins, Slg. 2004, I-2703, Rdn. 67. 172 EuGH, Rs. C-138/02, Collins, Slg. 2004, I-2703, Rdn. 72. 173 EuGH, Rs. C-138/02, Collins, Slg. 2004, I-2703, Rdn. 70.

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H. Sozialrechtlicher Gleichbehandlungsanspruch

Bestimmungen des Gemeinschaftsrechts herangezogen werden kann.174 Vor dem Hintergrund des Unionsbürgerstatus, welcher den grundlegenden Status der Bürger in der Europäischen Union darstellt, ist diese Erkenntnis auch geradezu zwingend. Unabhängig davon, welche grundfreiheitliche Einstufung vorgenommen wird, ist die Person Unionsbürger und kommt daher in den Genuss der diesem Status innewohnenden Rechte.

3. Die Rechtssache Bidar In der Rs. Bidar war zu beurteilen, ob die Vorschrift des Vereinigten Königreichs, wonach ein Studentendarlehen nur gewährt wird, wenn der Unionsbürger auf Dauer ansässig (settled) ist, gegen den Anspruch auf Gleichbehandlung verstößt. Dabei ist offensichtlich, dass die streitgegenständliche Regelung eine mittelbare Diskriminierung aufgrund der Staatsangehörigkeit enthält. Herr Bidar, ein im Jahre 1983 geborener französischer Staatsangehöriger, reiste im August 1998 in Begleitung seiner Mutter, welche sich einer medizinischen Behandlung unterziehen musste, in das Vereinigte Königreich ein.175 Er lebte fortan dort bei seiner Großmutter und machte nach dem Besuch einer weiterführenden Schule im Vereinigten Königreich seinen Schulabschluss. Sozialhilfe hat Herr Bidar niemals beantragt. Im September 2001 nahm er sein Wirtschaftsstudium am University College in London auf. Entsprechend seinem Antrag wurde ihm eine Unterstützung für die Studiengebühren gewährt; den Antrag auf Gewährung eines Studentendarlehens für seine Unterhaltskosten lehnte das London Borough of Ealing jedoch ab. Dies geschah mit der Begründung, dass er im Vereinigten Königreich nicht auf Dauer ansässig („settled“) sei; die nach inländischem Recht erforderliche Wohnzeit von 4 Jahren erfülle er nicht. Als Student ist Herr Bidar auch nicht in der Lage, diese Stellung zu erlangen, da die für eine Vollzeitausbildung aufgewendete Zeit für diesen Zweck nicht angerechnet wird. Nach Ansicht von Herrn Bidar verstößt das beschriebene Ansässigkeitserfordernis gegen sein Recht auf Gleichbehandlung nach Art. 12 i. V. m. Art. 18 EGV. Dem EuGH wurde der Sachverhalt zur Vorabentscheidung vorgelegt. Dabei hatte er zu entscheiden, ob eine Unterhaltsförderung für Studenten in den Anwendungsbereich des EG-Vertrags fällt und, falls dies bejaht wird, unter welchen Voraussetzungen die Versagung gerechtfertigt ist. Schließlich ging es noch um die zeitlichen Begrenzungen der Wirkungen des Urteils.

174 So auch: Golynker, E. L.Rev. 30 (2005), S. 111 (116); Davis, J. S. W. F.L. 26 (2) (2004), S. 211 (219–220). 175 Vgl. EuGH, Rs. C-209/03, Bidar, Slg. 2005, I-2119.

VII. Rechtfertigungsmöglichkeiten

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a) Schlussanträge des Generalanwalts L. A. Geelhoed Werde Herr Bidar als Student betrachtet, welchem nach Richtlinie 93/96/EG ein Aufenthaltsrecht zustehe, so stehe Art. 3 der Richtlinie seinem Anspruch auf Gleichbehandlung entgegen. Im vorliegenden Fall gehe es zwar nicht um die Gewährung eines Unterhaltsstipendiums, sondern um ein vergünstigtes Darlehen zur Deckung der Unterhaltskosten. Es sei aber geboten, dieses in gleicher Weise wie ein Unterhaltsstipendium zu behandeln.176 Eine andere Möglichkeit bestehe darin, Herrn Bidar als Unionsbürger, welcher von seinem Freizügigkeitsrecht nach Art. 18 EGV Gebrauch macht, zu sehen. Dann müsste der Anwendungsbereich des Vertrags eröffnet sein. Unter Bezugnahme auf die ständige Rechtsprechung zur Unionsbürgerschaft und die Aufnahme der Bestimmungen über die Bildung in den EGV (Art. 3 Abs. 1 q, Art. 149 EGV) gelangt Generalanwalt L. A. Geelhoed zu dem Schluss, dass der Anwendungsbereich auch für eine Förderung der Unterhaltskosten eines Studiums eröffnet ist. Auch die „Richtlinien, die zur Erleichterung der Ausübung der durch Artikel 18 Absatz 1 EG gewährten Rechte erlassen worden sind, können Regeln in Bezug auf Ansprüche aufstellen, doch führt dies nicht dazu, das diese Vergünstigungen dem Geltungsbereich des Vertrages entzogen würden“.177 Nachdem der Anwendungsbereich des Diskriminierungsverbots eröffnet ist, stellt sich die Frage nach der möglichen Rechtfertigung einer unterschiedlichen Behandlung. Eine Ungleichbehandlung könne gerechtfertigt sein, „wenn sie auf objektiven, von der Staatsangehörigkeit der Betroffenen unabhängigen Erwägungen beruht und in einem angemessenen Verhältnis zu dem Zweck steht, der mit den nationalen Rechtsvorschriften zulässigerweise verfolgt wird.“178 Bei Unterhaltsbeihilfen für Studenten könne eine Verbindung zum Bildungssystem und eine Integration in das soziale Leben gefordert werden. Das im Sachverhalt erforderliche Kriterium sei aber nicht verhältnismäßig, da es einem Unionsbürger, „der im Aufnahmemitgliedstaat ausreichend in die Gesellschaft integriert ist, dessen Bildung eng mit dem Bildungssystem in dem Mitgliedstaat verbunden ist und der sich in der gleichen Situation wie ein Staatsangehöriger des Aufnahmemitgliedstaats befindet“179, den Zugang zur Förderung der Unterhaltskosten trotzdem versagt.

176

Schlussanträge Rdn. 44. 177 Schlussanträge Rdn. 50. 178 Schlussanträge Rdn. 58. 179 Schlussanträge Rdn. 67.

Generalanwalt L. A. Geelhoed, Rs. C-209/03, Bidar, Slg. 2005, I-2119, Generalanwalt L. A. Geelhoed, Rs. C-209/03, Bidar, Slg. 2005, I-2119, Generalanwalt L. A. Geelhoed, Rs. C-209/03, Bidar, Slg. 2005, I-2119, Generalanwalt L. A. Geelhoed, Rs. C-209/03, Bidar, Slg. 2005, I-2119,

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H. Sozialrechtlicher Gleichbehandlungsanspruch

b) Urteil des EuGH In konsequenter Fortführung seiner Grzelczyk-Rechtsprechung sieht der Gerichtshof den Anwendungsbereich des Vertrags auch im Hinblick auf eine Förderung der allgemeinen Unterhaltskosten von Studenten für eröffnet.180 Nach ständiger Rechtsprechung könne sich ein Unionsbürger, der sich rechtmäßig im Gebiet eines Aufnahmemitgliedstaats aufhalte, in allen Situationen, die in den sachlichen Anwendungsbereich des Vertrags fielen, auf Art. 12 EGV berufen. „Darüber hinaus erlaubt nichts im Text des Vertrags die Annahme, dass Studenten, die Unionsbürger sind, die diesen Bürgern durch Vertrag verliehenen Rechte verlieren, wenn sie sich zu Studienzwecken in einen anderen Mitgliedstaat begeben.“181

Dabei gibt der EuGH seine bisherige Rechtsprechung, wonach Studenten – den Urteilen Lair und Brown entsprechend – keinen Anspruch auf Förderung des allgemeinen Lebensunterhalts hatten, ausdrücklich auf. „Seit Verkündung der Urteile Lair und Brown ist jedoch durch den Vertrag über die Europäische Union in den EG-Vertrag aufgenommen und in seinen Dritten Teil in Titel VIII (jetzt Titel XI) ein Kapitel 3 eingefügt worden, das sich mit der allgemeinen und beruflichen Bildung befasst.“182

Die Situation eines Unionsbürgers, der sich rechtmäßig in einem anderen Mitgliedstaat aufhält, falle im Hinblick auf den Erhalt einer Beihilfe, die Studenten zur Deckung der Unterhaltskosten in Form eines vergünstigten Darlehens oder eines Stipendiums gewährt werde, in den Anwendungsbereich. Als zusätzliches Argument zieht der Gerichtshof Artikel 24 der Richtlinie 2004/38/EG heran, welcher nach Absatz 1 jedem Unionsbürger, der sich rechtmäßig im Mitgliedstaat aufhält, im Anwendungsbereich des Vertrags einen Anspruch auf Gleichbehandlung einräumt. Lediglich nach Absatz 2 sind in bestimmten Fällen Beihilfen zum Unterhalt für Studenten ausgeschlossen. Diese Systematik zeige aber, dass die Materie in den Anwendungsbereich des Vertrags fällt. An dieser Auslegung könne auch Art. 3 der Richtlinie 93/96 nichts ändern. Dieser schließt ausdrücklich einen Anspruch der aufenthaltsberechtigten Studenten auf Gewährung von Unterhaltsstipendien aus. Danach sei ein Anspruch aufgrund der Richtlinie ausgeschlossen; darüber hinaus hindere die Vorschrift einen Angehörigen eines anderen Mitgliedstaats jedoch nicht, „sich während dieses Aufenthalts auf den in Artikel 12 Absatz 1 EG aufgestellten Gleichbehandlungsgrundsatz zu berufen“.183 Herr Bidar konnte sich daher auf Art. 12 EGV berufen. Laut Vortrag der britischen Regierung ist es legitim, dass sich ein Mitgliedstaat vergewissern wolle, dass der durch Steuerzahlungen geleistete Beitrag des Studenten bzw. von dessen Eltern ausrei180 Vgl. auch die Besprechung dazu: Wollenschläger, NVwZ 2005, S. 1023–1026; Anmerkung dazu von Bode, EuZW 2005, S. 279–282; Düsterhaus, EuZW 2005, S. 325–326. 181 EuGH, Rs. C-209/03, Bidar, Slg. 2005, I-2119, Rdn. 34. 182 EuGH, Rs. C-209/03, Bidar, Slg. 2005, I-2119, Rdn. 39. 183 EuGH, Rs. C-209/03, Bidar, Slg. 2005, I-2119, Rdn. 46.

VIII. Gleichbehandlung nach der RL 2004/38/EG

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chend zur Gewährung der vergünstigten Darlehen sei. Des Weiteren sei es gerechtfertigt, eine hinreichende Verbindung zwischen dem die Beihilfe beantragenden Studenten und dem Arbeitsmarkt des Aufenthaltsstaates zu verlangen. Darauf entgegnet der Gerichtshof, dass die Mitgliedstaaten zwar „bei der Organisation und Anwendung ihres Sozialhilfesystems eine gewisse finanzielle Solidarität mit den Angehörigen anderer Mitgliedstaaten“ an den Tag legen müssten, dennoch stehe es jedem Staat zu, „darauf zu achten, dass die Gewährung von Beihilfen zur Deckung des Unterhalts von Studenten aus anderen Mitgliedstaaten nicht zu einer übermäßigen Belastung wird, die Auswirkungen auf das gesamte Niveau der Beihilfe haben könnte, die dieser Staat gewähren kann.“184 Insofern sei es legitim, dass die Mitgliedstaaten eine derartige Beihilfe nur solchen Studenten gewähren, die sich bis zu einem gewissen Grad in die Gesellschaft des Aufnahmemitgliedstaates integriert haben. Im vorliegenden Sachverhalt ist die Regelung aber nicht gerechtfertigt, da sie es einem als Student ansässigen Angehörigen eines anderen Mitgliedstaates unmöglich macht, – unabhängig vom Grad eines tatsächlichen Integration in die Gesellschaft – diese Bedingung zu erfüllen.185

VIII. Gleichbehandlung nach der Freizügigkeitsrichtlinie 2004/38/EG VIII. Gleichbehandlung nach der RL 2004/38/EG

Die Richtlinie selbst bekennt sich zur Unionsbürgerschaft, welche das „elementare und persönliche Recht“ auf Freizügigkeit verleiht. Vor dem Hintergrund der Unionsbürgerschaft als grundsätzlichem Status setzt sie sich unter anderem das Ziel, „das Freizügigkeits- und Aufenthaltsrecht aller Unionsbürger zu vereinfachen und zu verstärken“.186 Das Model der „social citizenship“ basiert auf der Beziehung zwischen dem Migranten und dem Aufenthaltsmitgliedstaat. Mit zunehmender Dauer des Aufenthalts wird das Verhältnis zwischen EU-Bürger und Aufenthaltsstaat stärker. Damit geht eine Stärkung der Rechte des Bürgers einher. Dieses Konzept versucht die neue vereinheitlichte Aufenthaltsrichtlinie 2004/38/EG umzusetzen, in der dem Unionsbürger nach dem 5-jährigen ununterbrochenen Aufenthalt ein Daueraufenthaltsrecht mit allen sich daran anschließenden Folgen zugesprochen wird. Art. 24 der neuen Freizügigkeitsrichtlinie enthält eine inhaltsregelnde Bestimmung des Freizügigkeitsrechts. Nach Abs. 1 Satz 1 genießen alle Unionsbürger, die sich aufgrund dieser Richtlinie im Hoheitsgebiet der Aufnahmemitgliedstaaten aufhalten, einen Anspruch auf Gleichbehandlung. Allerdings gilt dieses Recht nur vorbehaltlich der im Vertrag und abgeleiteten Recht vorgesehenen Bestimmungen. Dieses Recht auf Gleichbehandlung gilt auch für drittstaatsangehörige 184

EuGH, Rs. C-209/03, Bidar, Slg. 2005, I-2119, Rdn. 56. EuGH, Rs. C-209/03, Bidar, Slg. 2005, I-2119, Rdn. 61. 186 Vgl. Begründungserwägung (3) RL 2004/38/EG. Unter Punkt (4) ist die Rede von „die Ausübung dieses Rechts zu erleichtern“. 185

188

H. Sozialrechtlicher Gleichbehandlungsanspruch

Ehegatten, die das Recht auf Aufenthalt oder das Recht auf Daueraufenthalt genießen. Von besonderer Bedeutung ist Art. 24 Abs. 2.187 Er lässt einige Ausnahmen von der Gleichbehandlung zu. Danach besteht kein europarechtlicher Gleichbehandlungsanspruch im Hinblick auf Sozialhilfe während der ersten drei Monate des Aufenthalts bzw. während des längeren Zeitraums nach Art. 14 Abs. 4 b (für Unionsbürger, welche zur Arbeitssuche eingereist sind während der Zeit der Arbeitssuche). Weiter wird ein Gleichbehandlungsanspruch bezüglich Studienbeihilfen, Beihilfen zur Berufsausbildung (Stipendium oder Studiendarlehen) vor Erwerb des Rechts auf Daueraufenthalt ausgeschlossen. Hingegen besteht ein Anspruch auf Sozialhilfe bei einem über dreimonatigen bzw. einem entsprechend Art. 14 Abs. 4 b längeren Aufenthalt. Auffallend ist die Differenzierung zwischen Sozialhilfe einerseits und Studienbeihilfen andererseits. Dieses Ergebnis überrascht vor allem auch vor dem Hintergrund, wonach die Mobilität und die grenzüberschreitende Bildung der jungen Menschen ansonsten Europa sehr stark am Herzen liegt (vgl. die Vorschriften über die allgemeine und berufliche Bildung und Jugend, Art. 149 f. EGV). Es wäre wünschenswert gewesen, wenn auch die Studienbeihilfen in den Gleichheitsanspruch miteinbezogen worden wären. Im Hinblick auf die Gewährung von Sozialhilfe sollte das – ein menschenwürdiges Dasein sichernde – existenzielle Minimum abgesichert werden. Art. 24 Abs. 2 der Richtlinie ist so zu verstehen, dass nur die spezifischen Studienbeihilfen/Ausbildungsbeihilfen ausgeschlossen sind; im Übrigen können Studenten und Auszubildende aber auf die Sozialhilfe zurückgreifen. Im Hinblick auf die Gewährung des Existenzminimums darf es keinen Unterschied machen, ob es sich um Studenten, Rentner oder sonstige nichterwerbstätige Unionsbürger handelt. Nach Art. 24 II sind Arbeitssuchende ausdrücklich von sozialen Leistungen ausgeschlossen. Damit stellt sich diese Regelung in einen Widerspruch zu der Entscheidung des EuGH in der Rechtssache Collins.188 Wie bereits ausgeführt sprach der Gerichtshof hierbei gerade Arbeitssuchenden aufgrund ihres Unionsbürgerstatus einen Anspruch auf Gleichbehandlung zu. Damit kommt es bereits jetzt zu einem Widerspruch zwischen der Rechtsprechung des EuGH und der neuen Aufenthaltsrichtlinie.

187 Die Vorschrift könnte einen Rückschritt gegenüber dem Stand der Rechtsentwicklung darstellen. Es ist zu beachten, dass Art. 18 Abs. 2 EGV nur zu erleichternden, nicht aber zu verschärfenden Regelungen des Freizügigkeitsrechts ermächtigt. 188 Ausführlich zum Fall H. VII. 2.

IX. Grenzen der negativen Integration

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IX. Grenzen der negativen Integration IX. Grenzen der negativen Integration

Um eine weitestgehende Freizügigkeit in dem hier verstandenen Sinne zu gewährleisten, sind auf Dauer koordinationsrechtliche Regelungen erforderlich. Die Interpretation des Art. 18 EGV als Diskriminierungs- und in beschränktem Umfang auch als Beschränkungsverbot ist nicht in der Lage, sämtliche wanderungsbedingte Nachteile, insbesondere im Bereich der sozialen Sicherheit, aus dem Wege zu räumen. Die Gefahren der doppelten Inanspruchnahme bzw. der lückenhaften Gewährung von Sozialleistungen oder die Notwendigkeit, einen finanziellen Ausgleich unter den Mitgliedstaaten zu schaffen, belegen das Bedürfnis eines gesetzgeberischen Einschreitens. Ansätze einer Koordinierung sind bereits in VO 1408/71189 enthalten. Nachteile in Bezug auf sozialrechtliche Positionen dürfen nicht einfach deshalb entstehen, weil der Unionsbürger von seiner Freizügigkeit Gebrauch macht. Nach Art. 18 Abs. 3 EGV, welcher auf den Vertrag von Nizza zurückgeht, können Bestimmungen über die soziale Sicherheit nicht auf Grundlage des Art. 18 Abs. 2 EGV erlassen werden. Beachtlich ist in diesem Kontext die Vorschrift des Art. III-9 Abs. 2 des Vertragsentwurfs über eine Europäische Verfassung, welcher gemeinschaftsrechtliche Maßnahmen auch bezüglich der sozialen Sicherheit vorsieht. Damit würde der EU eine neue Kompetenz zuwachsen. In der konsolidierten Fassung des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union wird diese Regelung übernommen. In Art. 21 Abs. 3 AEUV heißt es: „Zu den gleichen wie den in Absatz 1 genannten Zwecken kann der Rat sofern die Verträge hierfür keine Befugnisse vorsehen, gemäß eines besonderen Gesetzgebungsverfahrens Maßnahmen erlassen, die die soziale Sicherheit oder den sozialen Schutz betreffen.“

Unter den Maßnahmen sind nur solche zu verstehen, die der Koordinierung dienen.190 Eine Harmonisierung ist nicht erforderlich und auch nicht wünschenswert. Die unterschiedlichen Systeme der sozialen Sicherheit sind beizubehalten; sie sind geschützter Bestandteil der Vielfalt der EU. Nicht eindeutig geklärt ist auch, was für Auswirkungen ein potenzieller Systemwettbewerb hat. Aufgrund ihres geschichtlich-kulturellen Hintergrundes sind die nationalen Systeme der sozialen Sicherheit in Europa zum Teil sehr verschieden. Es ist ungewiss, ob ein solcher Wettbewerb letztlich nicht nur auf einen Kostensenkungswettlauf, das heißt auf ein „race to the bottom“ hinausläuft.191 Andererseits können Migrationsbewegungen auch eine Chance darstellen, den Erfahrungs189 VO EWG Nr. 1408/71 des Rates vom 14. Juni 1971 zur Anwendung der Systeme der sozialen Sicherheit auf Arbeitnehmer und deren Familien, die innerhalb der Gemeinschaft zu- und abwandern. Vgl. auch: EuGH, Rs. C-135/99, Elsen, Slg. 2000, I-10409, Rdn. 33; Rs. C-28/00, Kauer, Slg. 2002, I-1343, Rdn. 44. 190 So auch: Kanitz/Steinberg, EuR 203, S. 1013 (1035). 191 Schmitz, Gewerkschaftliche Monatshefte 12/2003, S. 716.

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H. Sozialrechtlicher Gleichbehandlungsanspruch

austausch auf europäischer Ebene anzuregen und sich der Stärken und Schwächen der einzelnen nationalen Sozialsysteme zu besinnen und entsprechende Reformen anzustreben. Nach Ansicht von Schmitz stellt „der sozialpolitische Innovationswettbewerb“ für die europäischen Wohlfahrtsstaaten eine Chance dar, „nationale Systemverkrustungen aufzulösen und politische Blockaden aufzubrechen“ und so eine Erneuerung zu erreichen.192

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Schmitz, Gewerkschaftliche Monatshefte 12/2003, S. 716.

I. Die Unionsbürgerschaft als verfassungstheoretische Herausforderung I. Die Unionsbürgerschaft in der Verfassungstheorie Nachdem die Dogmatik des Freizügigkeitsrechts sowie der Gleichbehandlungsansprüche der Unionsbürger umfassend dargestellt ist, soll in einem letzten Kapitel wieder der Bogen zur Unionsbürgerschaft geschlagen werden. Auslöser und zentrales Begründungsmoment der dargestellten Rechtsentwicklung bildet das Institut der Unionsbürgerschaft. Es ist daher geboten, sich in allgemeiner und theoretischer Hinsicht diesem Konzept zu widmen.

I. Erste Bewertungen der Idee einer Unionsbürgerschaft I. Erste Bewertungen

Die mit dem Vertrag von Maastricht im Jahr 1993 geschaffene Unionsbürgerschaft sollte nach den Vorstellungen der Vertragsgeber der Schaffung einer gemeinsamen europäischen Identität dienen und so zusehends die Bedeutung der ethnischen Unterschiede sowie Nationalismen relativieren.1 Während die GASP die „äußere“ Identität der EU stärken soll, bewirke dies für die „innere“ Identität die Unionsbürgerschaft.2 In diesen Gesamtzusammenhang eingebettet ist die Zielvorgabe des Art. 2, 3. Spiegelstrich EUV, wonach die Interessen und Rechte der Angehörigen ihrer Mitgliedstaaten stärker geschützt werden sollen, sowie das Leitbild einer „immer engeren Union der Völker Europas“ (Art. 1 Abs. 2 EUV). Die Idee der Unionsbürgerschaft lässt sich auch als „eine Projektionsfläche politischer Imagination“ begreifen, auf welcher sich die Union als politischer Herrschaftsverband abbilden kann.3 Im Zuge der Transformation von einem überwiegend ökonomisch ausgerichteten Zweckverband hin zu einer politischen Gemeinschaft liegt es auf der Hand, dass sich die Wandlung auch bezüglich der Stellung des Einzelnen in dem Gesamtgefüge widerspiegelt.4 Dabei reflektiert der Status des Bürgers das Verhältnis einer Gemeinschaft zu ihren Angehörigen. Die Einführung der Unionsbürgerschaft ist in zahllosen Beiträgen kommentiert worden.5 Im Großen und Ganzen fallen die Bewertungen der Unionsbürger1

Vgl. Blanke, in: Calliess/Ruffert, Art. 2 EUV, Rdn. 10. Blanke, in: Calliess/Ruffert, Art. 2 EUV, Rdn. 10. 3 Nettesheim, Integration 26 (2003), S. 428. 4 Oppermann, Sinn und Grenzen einer EG-Angehörigkeit, in: Hailbronner u. a. (Hrsg.), FS für Karl Doehring, S. 714. 5 Aus der umfangreichen Literatur vgl. nur: Blumann, Citoyenneté européenne et droits fondamentaux in: Libertés, justice, tolérance: mélange en hommage au Doyen Gérard CohenJonathan, S. 265 ff.; O’Leary, The Evolving Concept of Community Citizenship; De Búrca, 2

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I. Die Unionsbürgerschaft in der Verfassungstheorie

schaft überwiegend zurückhaltend und skeptisch aus: So wurde sie zum Teil als „nichts anderes als ein Sammelbegriff für die bereits bisher bestehenden Rechte“6, als „not revolutionary“7 angesehen. Der Mehrwert liege in ihrem Symbolcharakter: „Citizenship is, in other words, nearly exclusively a symbolic plaything without substantive content“.8 Vorsichtige positive Einschätzungen sprechen von „bemerkenswerter Errungenschaft“9 und sehen die Artikel der Unionsbürgerschaft als „echten Fortschritt“.10 Das Potenzial der Unionsbürgerschaft erahnend, betrachten wieder andere sie als „leere Hülle“, die sich anbietet mit materiellem Inhalt gefüllt zu werden,11 bzw. als „Quelle von Rechten“, welche „die bislang bestehenden Bürgerrechte in den europäischen Verträgen um ein generelles Prinzip der Nichtdiskriminierung und Gleichbehandlung erweitert“.12 Nach Ansicht des Bundesverfassungsgerichts wird im Zuge der Unionsbürgerschaft „zwischen den Staatsangehörigen der Mitgliedstaaten ein auf Dauer angelegtes rechtliches Band geknüpft, das zwar nicht eine der gemeinsamen Zugehörigkeit zu einem Staat vergleichbare Dichte besitzt, dem bestehenden Maß existenzieller Gemeinsamkeit jedoch einen rechtlichen Ausdruck verleiht.“13 Das Personalitätsprinzip werde auf eine höhere Ebene gehoben.14 Generalanwalt Colomer sieht in der Unionsbürgerschaft in VerReport on the further development of citizenship in the European Union, in: 1. Europäischer Juristentag, Der Bürger in der Union, S. 39; Weiler, Journal of European Public Policy 4 (1997), S. 495–519; Randelzhofer, Marktbürgerschaft – Unionsbürgerschaft – Staatsbürgerschaft, in: Randelzhofer/Scholz/Wilke (Hrsg.), GS Grabitz, S. 581; Fischer, EuZW 1992, S. 566 ff.; Jessurun d’Oliviera, European Citizenship, in: Dehousse (Hrsg.), Europe after Maastricht – An Ever Closer Union?, S. 141; Constantinesco, in: Schwarze (Hrsg.), Vom Binnenmarkt zur Europäischen Union, S. 25 ff.; Hilf, Integration 1997, S. 247; Shaw, E. L.Rev. 22 (1997), S. 554; Shaw, Citizenship of the Union: Towards post-national Membership?, Harvard Jean Monnet Working Paper 7/1997; Evans, American Journal of Comparative Law 32 (1994), S. 679; Mouton, La citoyenneté de l’Union: passé, present et avenir; Ruzié, Citoyenneté et nationalité dans l’Union européenne; Dollat, Libre circulation des personnes et citoyenneté européenne: enjeux et perspectives; Fischer, Die Unionsbürgerschaft, in: Haller u. a. (Hrsg.), FS Günther Winkler, S. 237; ders., EuZW 1992, S. 566. Blumann, Citoyenneté européenne et droits fondamentaux en droit de l’Union européenne, in : Libertés, justice, tolérance : mélange en hommage au Doyen Gérard Cohen-Jonathan, S. 265. Aus soziologischer Sicht: La Torre, Citizenship and Social Rights. A European Perspective. Nettesheim, Integration 26 (2003), S. 428. 6 Everling, ZfRV 1992, S. 241 (248). 7 O’Keeffe/Horspool, The Irish Jurist 1996, S. 145. 8 Jessurun d’Oliveria, European Citizenship, in: Dehousse (Hrsg.), Europe after Maastricht – An Ever Closer Union, S. 147. 9 Corbett, The Treaty of Maastricht, S. 52. 10 Curtin, C. M. L.Rev. 30 (1993), S. 67. 11 Graßhof, Melderecht, Reisepassrecht, Namensrecht, Staatsangehörigkeits- und Einbürgerungsrecht, in: Bergmann/Kenntner (Hrsg.), Deutsches Verwaltungsrecht unter europäischem Einfluss, S. 321. 12 Reich, Bürgerrechte in der Europäischen Union, S. 427–428; ders., Unionsbürgerschaft – Metapher oder Quelle von Rechten?, in: Bovenschulte u. a. (Hrsg.), FS für Dian Schefold, S. 279. 13 BVerfGE 89, S. 155 (184); a. A.: Bleckmann, DVBl. 1992, S. 335 (336). 14 Becker, ZESAR 2002, S. 8 (12).

II. Einordnung in verschiedene Konzepte

193

bindung mit dem allgemeinen Freizügigkeitsrechts „einen beträchtlichen qualitativen Fortschritt …, da sie dieses Recht seiner funktionalen oder instrumentalen Bestandteile (Zusammenhang mit einer wirtschaftlichen Tätigkeit oder mit der Verwirklichung des Binnenmarkts) entkleidet und damit in den Rang eines eigenständigen und unabhängigen Rechts erhebt, das zum politischen Status der Bürger der Union gehört.“15 Die Unionsbürgerschaft kann eine Sogwirkung entfalten. So stellte bereits die Europäische Kommission in ihrem Zweiten Bericht über die Unionsbürgerschaft fest, dass durch sie die Erwartungen der Bürger in der Europäischen Union gestiegen sind.16

II. Einordnung der Unionsbürgerschaft in die verschiedenen Konzepte II. Einordnung in verschiedene Konzepte

Wie lässt sich die Unionsbürgerschaft in verfassungstheoretischer Hinsicht begreifen? Aufgrund der zunehmenden Politisierung der Europäischen Union liegt es nahe, die Unionsbürgerschaft zunächst einmal anhand der klassischen Staatstheorien der Nationalstaaten zu beurteilen. Die Staatsangehörigkeit sowie die Staatsbürgerschaft sind Konzepte, welche an den Nationalstaat anknüpfen.17 Diese Vorgehensweise ist für einen ersten Ansatz legitim und als notwendige Ausgangsbasis erforderlich. In einem zweiten Schritt sind, unter Berücksichtigung der besonderen Situation der EU weitere Modelle zu suchen.

1. Zur Rechtsnatur der Europäischen Union a) Begriff der Europäischen Union Die vorliegende Arbeit geht von der Verbandsqualität der Europäischen Union aus. Mit Inkrafttreten des Maastricht-Vertrags fusionierten die bisherigen drei Europäischen Gemeinschaften zu dem neuen Verband Europäische Union.18 Auch wenn sie z. B. unter dem Namen der Europäischen Gemeinschaft handelt, ist 15 Schlussanträge des Generalanwalts Colomer, Rs. C-386/02, Baldinger,Rdn. 25 mit Verweis auf Schlussanträge in den verb. Rs. C-65/95 und C-111/95, Shingara und Radiom, Slg. 1997, I-3343, Rdn. 34; so auch: Becker, ZESAR 2002, S. 8 (12). 16 Europäische Kommission, Zweiter Bericht der Kommission über die Unionsbürgerschaft, KOM (97/230 endg.), ABl. C 226 vom 20.7.98, S. 61. 17 Aufgrund des unterschiedlichen historischen und kulturellen Hintergrunds werden sie in einzelnen Mitgliedstaaten zum Teil unterschiedlich bewertet, dazu: Lemke, Aktive Bürgerschaft und Demokratie in der EU, S. 109. 18 Nach anderer Ansicht wird von einem gestuften Verband ausgegangen, dabei sind die Europäischen Gemeinschaften die Glieder der Union. Noch andere sehen die Europäischen Gemeinschaften und die neuen Politikbereiche der Europäischen Union nebeneinander sehen. Näheres und ausführlich dazu bei: Pechstein/Koenig, Die Europäische Union, S. 5 ff.

194

I. Die Unionsbürgerschaft in der Verfassungstheorie

stets die EU Rechtsträger und Zuordnungssubjekt.19 Die Europäische Union ist als Obergebriff und Zusammenfassung der sonstigen europäischen Gemeinschaften und Zusammenarbeiten zu verstehen. Bildlich ausgedrückt wird von der Union und dem EUV auch als „Dach“ gesprochen, welches die drei „Säulen“ der EG (d. h. die Europäische Gemeinschaft, die gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik sowie die Zusammenarbeit in den Bereichen Justiz und Inneres) überwölbt.20 Die Bestimmung der Rechtsnatur der Europäischen Union ist schwierig, da dieser Herrschaftsverband von einer besonderen eigenen Dynamik angetrieben ist und sich aufgrund seiner Besonderheiten nur schwer in die völkerrechtlichen sowie staatsrechtlichen Kategorien eingruppieren lässt. Ist die EU eine internationale Organisation, bereits ein Staat oder etwas Drittes? Es geht hierbei nicht um bloße Begriffsjurisprudenz; stattdessen ist das Ergebnis von Bedeutung, wenn es darum geht, die Unionsbürgerschaft anhand verfassungstheoretischer Typmerkmale zu kategorisieren. An das Institut der Unionsbürgerschaft sind je nach Integrationsdichte des ihr zugrundliegenden Herrschaftsverbundes unterschiedliche Anforderungen und Erwartungen zu stellen.

b) Abgrenzung zum Staatenbund und zur Internationalen Organisation Bei einem Staatenverbund im klassischen Sinn handelt es sich um Verbindungen von Staaten zur Wahrung gemeinsamer Zwecke auf Grundlage eines völkerrechtlichen Vertrags. Der Staatenbund übt regelmäßig keine unmittelbare Gewalt gegenüber den Angehörigen der Staaten aus, vielmehr obliegt die Durchführung dem einzelnen Mitgliedstaat. Zur Durchsetzung bündischer Verpflichtungen stehen dem Staatenbund völkerrechtliche Zwangsmittel zur Verfügung.21 Ein Beispiel dafür ist der Deutsche Bund von 1815 bis 1866. Heutzutage ist die Verwendung dieses Begriffes nicht mehr üblich; an seine Stelle trat die Internationale Organisation.22 Auch diese beruht auf einer Vereinigung von Staaten auf Grundlage eines völkerrechtlichen Vertrags. Dabei ist die Internationale Organisation mit der selbstständigen Wahrnehmung der ihr übertragenen Aufgaben betraut und auch mit eigenen Organen ausgestattet. Insofern kann die völkerrechtliche Handlungsfähigkeit der Mitgliedstaaten eingeschränkt werden.23 Typische Beispiele dieses Organisationstyps sind der Europarat, UN, ILO.

19 20 21 22 23

Nettesheim, ZEuS 5 (2002), S. 505 (516). Oppermann, Europarecht, S. 335. Zippelius, Allgemeine Staatslehre, S. 412 f. Vgl. im Einzelnen dazu bei: Klein, in: Graf Vitzthum (Hrsg.), Völkerrecht, S. 256. Hailbronner, in: Graf Vitzthum (Hrsg.), Völkerrecht, S. 199.

II. Einordnung in verschiedene Konzepte

195

c) Die EU als supranationale Organisation Als besondere, einen wesentlich höheren Integrations- und Organisationsgrad ausweisende Vereinigung ist die supranationale Organisation aufzuführen. Gegenüber internationalen Organisationen unterscheidet sie sich im Wesentlichen dadurch, dass ihre Rechtsakte nicht nur zwischen den Mitgliedstaaten gelten, sondern dass sie zum Teil auch ohne Umsetzung direkt im Rechtsraum der Mitgliedstaaten angewendet werden können.24 Neben den Mitgliedstaaten als solchen werden dabei auch deren Staatsangehörige zu Rechtssubjekten der supranationalen Organisation.

d) Bewertung Der in der Europäischen Union erreichte Integrationsstand geht erheblich über die Formen der Zusammenarbeit einer Internationalen Organisation hinaus. So wird das EG-Recht nicht durch die Mitgliedstaaten mediatisiert, sondern entfaltet auch unmittelbare Wirkung gegenüber den Bürgern. Die Durchsetzung dieser Rechte wird entweder durch die Möglichkeit der Direktklage vor dem EuGH oder durch Klagen vor nationalen Gerichten, welche auf die Verletzung von Gemeinschaftsrecht gerichtet sind, gewährleistet. Sowohl der quantitative als auch der qualitative Kompetenzzugewinn25 der EU in letzter Zeit und die wechselseitigen Abhängigkeiten zwischen Union und Mitgliedstaaten belegen, dass sich die Europäische Union mittlerweile von der Kooperationsform einer internationalen Organisation bzw. eines Staatenbundes längst abhebt.26 Zudem genießt das Europäische Gemeinschaftsrecht als autonomes Recht Anwendungsvorrang gegenüber dem mitgliedstaatlichen Recht. Die EU ist aufgrund ihres Organisationsgrades und ihrer Integrationsdichte als Staatenverbund und damit als supranationale Organisation zu qualifizieren.27 Den Begriff „Staatenverbund“ prägte maßgeblich Paul Kirchhof;28 er hat seinen Niederschlag im Maastricht-Urteil des Bundesverfassungsgerichts gefunden.29

24

Klein, in: Graf Vitzthum (Hrsg.), Völkerrecht, S. 255. Nettesheim, ZEuS 5 (2002), S. 505 (509, 512 f.); Pinder, Integration 24 (2001), S. 77. 26 Zippelius, Allgemeine Staatslehre, S. 413. 27 Graf Vitzthum, in: ders. (Hrsg.), Völkerrecht, S. 22; Everling, DVBl. 1993, S. 941; Oppermann, Europarecht, S. 339; Zippelius, Allgemeine Staatslehre, S. 424; Randelzhofer, Zum behaupteten Demokratiedefizit der Europäischen Gemeinschaft, in: Hommelhoff/Kirchhof, P. (Hrsg.), Der Staatenverbund der Europäischen Union, S. 39 f.; Tomuschat, in: von der Groeben/Thiesing/Ehlermann, Art. 210, Rdn. 4; Klein, in: Graf Vitzthum (Hrsg.), Völkerrecht, S. 309 f. 28 P. Kirchhof, in: HdBStR, Bd. VII, S. 855 ff.; ders., Das Maastricht-Urteil des Bundesverfassungsgerichts, in: Hommelhoff/Kirchhof, P. (Hrsg.), Der Staatenverbund der Europäischen Union, S. 11 ff. 29 BVerfGE 89, 155 (188). 25

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I. Die Unionsbürgerschaft in der Verfassungstheorie

e) Europäischer Bundesstaat Zum Teil wird bereits der Übergang hin zu einem Staat bzw. zu einem staatsähnlichen Gebilde („Staat im Entstehen“) gesehen.30 Demnach sei die Europäische Union dabei, sich der europäischen Gemeinschaft in umfassender Weise anzunehmen, und werde so zum Träger der Verantwortung für das Gemeinwohl.31 Trotz der vielfältigen Machtzuwächse der EU ist es ihr bislang nicht gelungen, die Schwelle hin zu einem Staat zu überschreiten. Der Übergang von einer internationalen Organisation zu einem Staat ist graduell zu begreifen. Aufgrund der Durchgriffswirkung des EU-Rechts sowie der Kompetenzfülle insbesondere der gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik, der inneren und polizeilichen Sicherheit sowie der Währungshoheit, bewegt sich der europäische Herrschaftsverbund allerdings in staatsähnlichen Sphären.32 Nach klassischer Staatslehre kann die Staatsqualität eines Herrschaftsverbandes mit Hilfe der Drei-Element-Lehre bestimmt werden: Staatsgewalt, Staatsvolk und Staatsgebiet sind danach drei unabdingbare Elemente des Staates.33 Trotz der ständigen Ausweitung der Kompetenzen der europäischen Union kommt ihr keine Staatsgewalt zu. Im Gegensatz zu souveränen Staaten ist ihre Hoheitsgewalt auf die ihr zugewiesenen Aufgaben beschränkt; die Union besitzt keine Aufgabenerfindungskompetenz Die Tatsache, dass die europäischen Verträge als völkerrechtliche Verträge der Mitgliedstaaten geschlossen und nach deren Vorschriften ratifiziert wurden, spräche nicht gegen die Staatsqualität der EU, sofern ihr die zukünftigen Vertragsänderungen selbst überantwortet würden. Dies ist aber nicht der Fall. Auch für zukünftige Änderungen wird diese Verfahrensweise nicht abgelegt; die Mitgliedstaaten behalten die verfassungsgebende Gewalt für sich.34 Die Stellung der Mitgliedstaaten als „Herren der Verträge“ wird im Vertrag von Lissabon auch im Hinblick auf das Austrittsrecht, d. h. die Beendigung der Zugehörigkeit zur EU in Art. 50 EU n. F. deutlich hervorgehoben. Nach Art. 299 EGV wird das Staatsgebiet der Europäischen Union von den Mitgliedstaaten abgeleitet. Dies verdeutlicht, dass ein eigenes Hoheitsgebiet im Sinne eines Staatsgebiets seitens der EU nicht vorliegt. Die Frage nach dem Vorliegen eines europäischen Staatsvolks hängt eng mit der Einordnung der Unionsbürgerschaft zusammen. Voraussetzung dafür wäre, dass zwischen den Unionsbürgern und der Gemeinschaft ein umfassendes Treue30

Grabitz, DVBl. 1977, S. 786; Nettesheim, ZEuS 5 (2002), S. 505 (522). Nettesheim, ZEuS 5 (2002), S. 505 (520). 32 In die Richtung auch: Isensee, Integrationsziel Europastaat?, in: Due/Lutter/Schwarze (Hrsg.), FS Ulrich Everling, Band 1, S. 567 (572). 33 Jellinek, Allgemeine Staatslehre, S. 183 und 394 ff. 34 Vgl. Grimm, Der Vertrag, Die „europäische Verfassung“ ist keine echte Verfassung – aus der Europäischen Union wird kein Bundesstaat, FAZ vom 12. Mai 2005, S. 6. Dies gilt erst Recht für den Vertrag von Lissabon; vgl. nur Oppermann. DVBl. 2008, S. 473 (477) ff. 31

II. Einordnung in verschiedene Konzepte

197

und Schutzverhältnis besteht. Nach hergebrachter Sichtweise wird das Staatsvolk über das formale Bindeglied der Staatsangehörigkeit bestimmt.35 Unter Volk im soziologischen Sinn ist eine Gesamtheit von Menschen zu verstehen, die sich durch ein nationales Zusammengehörigkeitsgefühl auszeichnet.36 Dieses Volk konstituiert sich über eine gewisse Homogenität, welche sich mit Hilfe so unterschiedlicher Faktoren wie Abstammung, gemeinsame Kultur, Sprache, Tradition, Religion oder politische Schicksalsgemeinschaft ergeben kann.37 In dem Wort ‚Nation‘ steckt bereits das Wort ‚nasci‘ und somit weist es auf den biologischen Aspekt der Abstammung hin. Diese Gesellschaft entwickelte sich im Laufe der Geschichte regelmäßig zu einer Kulturgemeinschaft weiter. Oftmals findet die Gemeinsamkeit bereits Ausdruck in einer gemeinsamen Sprache, was jedoch nicht zwingend ist. Aber auch die gemeinsame Sozialmoral, d. h. der gemeinsame Habitus, die Sitte und eine gemeinsame Geschichte, tragen zur Entstehung eines Zusammengehörigkeitsgefühls bei.38 Daneben ist als weiterer wichtiger Faktor die politische Gemeinschaft zu erwähnen. Allerdings ist anerkannt, dass das Staatsvolk heute nicht mehr aus einer einzigen Nation bestehen muss, die aus gleichen ethnischen, sprachlichen oder religiösen Gruppen besteht.39

2. Staatsangehörigkeit und Staatsbürgerschaft Die Staatsangehörigkeit ordnet den Einzelnen einem Staatsverband zu. Sie ist ein Konstrukt des gegen Ausgang des 18. und im 19. Jahrhundert entstandenen Nationalstaats40 und wurde insbesondere zur Abgrenzung nach außen hin verwendet. Insofern kommt ihr eine Ordnungsfunktion zu, als sie eine Person einem Staat zuordnet. Sie dient dadurch der Abgrenzung einer Gruppe von Personen, die das personelle Substrat des Gemeinwesens ausmachen.41 In der Theorie des Nationalstaats bildet sich das Staatsvolk, welches seinerseits die Staatsgewalt legitimiert (Konstitutions- und Legitimationsfunktion). Nicht zuletzt besitzt die Staatsangehörigkeit bzw. Staatsbürgerschaft aber auch eine Integrationsfunktion: Durch dieses rechtlich geschaffene Band wird der Einzelne „in den Wirk- und Entscheidungszusammenhang einer politischen Organisation integriert“42 und kann sich mit ihr identifizieren. Vereinzelt wird der Begriff der „Staatsangehörigkeit“ allerdings abgelehnt, da er insofern als Provokation empfunden wird, als er den Eindruck vermittelt, der 35

Hailbronner, in: Graf Vitzthum (Hrsg.), Völkerrecht, S. 175. Zippelius, Allgemeine Staatslehre, S. 81. 37 Wallrabenstein, Verfassungsrrecht der Staatsangehörigkeit, S. 135 ff.; Wallrabenstein, Integration und Staatsangehörigkeit, S. 247 f. 38 Zippelius, Allgemeine Staatslehre, S. 83. 39 Hailbronner, in: Graf Vitzthum (Hrsg.), Völkerrecht, S. 175. 40 Hobe, Der Staat 32 (1993), S. 245 (251). 41 Becker, ZESAR 2002, S. 8. 42 Sauerwald, Die Unionsbürgerschaft, S. 29 f.; Grawert, Der Staat 1984, S. 180. 36

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I. Die Unionsbürgerschaft in der Verfassungstheorie

Einzelne gehöre dem Staat an bzw. gehöre gar dem Staat.43 Wiederum andere differenzieren zwischen den Begriffen der Staatsangehörigkeit und der Staatsbürgerschaft.44 Sie messen der Staatsangehörigkeit v. a. völkerrechtliche Bedeutung zu; dies zeige sich in der Gewährleistung eines effektiven Schutzes im Ausland, welcher sich insbesondere in der Zuerkennung von diplomatischem und konsularischem Schutz äußere. Im Gegensatz hierzu liege bei der die Mitgliedschaft in einem Staatsverbund kennzeichnenden Staatsbürgerschaft der Schwerpunkt auf dem materiellen Gehalt; die Staatsbürgerschaft sei geprägt von einem Rechtebündel einschließlich der damit einhergehenden Pflichten. Diese Unterscheidung zwischen Staatsangehörigkeit und Staatsbürgerschaft geht maßgeblich auf die französische Revolution zurück. Einhergehend mit der Bildung von Nationalstaaten wurden die Bürgerrechte rechtlich verankert. Das französische Kolonialreich unterschied zwischen der Staatsangehörigkeit (nationality bzw. nationalité) und der Staatsbürgerschaft (citizenship bzw. citoyenneté). So besaßen sowohl die Bewohner des Mutterlandes als auch die der Kolonien die nationalité francaise. Demgegenüber wurde die citoyenneté nur den citoyens zugestanden und berechtigte zur Wahl der Assembleé Nationale.45 Vielfach wird aber bereits in der Staatsangehörigkeit ein umfassendes Rechtsverhältnis mit den dazugehörenden Rechten und Pflichten gesehen.46 So definiert der Internationale Gerichtshof im Fall Nottebohm die Staatsangehörigkeit als „a legal bond having as its basis a social fact of attachment, a genuine connection of existence, interests and sentiments, together with the existence of reciprocal rights and duties“.47 Andere Autoren wollen die Staatsangehörigkeit als eine Eigenschaft bzw. als den Status einer Person verstanden wissen.48 Auch das BVerfG schloss sich in seinem Urteil zum Kommunalwahlrecht für Ausländer aus dem Jahre 1974 wohl dieser Auffassung an. Es stellte hierbei fest: „Die Zugehörigkeit zum Staatsvolk wird also grundsätzlich durch die Staatsangehörigkeit vermittelt. Die Staatsangehörigkeit ist die rechtliche Voraussetzung für den gleichen staatsbürgerlichen Status, der einerseits gleiche Pflichten, zum anderen und insbesondere aber auch die Rechte begründet, durch deren Ausübung die Staatsgewalt in der Demokratie

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Häberle, Europäische Verfassungslehre, S. 357. So z. B. Kotalakidis, Von der nationalen Staatsangehörigkeit zur Unionsbürgerschaft, S. 36 ff. 45 Bleckmann, Probleme der Unionsbürgerschaft sowie der Unionszugehörigkeit der Schiffe und Gesellschaften, in: Cremer (Hrsg.), Tradition und Weltoffenheit des Rechts, FS für Steinberger, S. 1087 (1088). 46 Zippelius, Allgemeine Staatslehre, S. 89; Grawert, Der Staat 1984, S. 183; ähnlich: Kokott, in: Sachs, GG, Art. 16, Rdn. 10. 47 IGH Rep. 1955, S. 4 (23). 48 Zippelius, Allgemeine Staatslehre, S. 89; Badura, Staatsrecht, S. 860; Hailbronner, JuS 1981, S. 712; Kimminich, in: Bonner Kommentar, Art. 16, Rdn. 3; Makarov/von Mangoldt, Deutsches Staatsangehörigkeitsrecht, Einl. I Rdn. 2. 44

II. Einordnung in verschiedene Konzepte

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ihre Legitimation erfährt“.49 Eine vermittelnde Ansicht kombiniert beide Elemente und definiert die Staatsangehörigkeit als „ein Rechtsverhältnis, innerhalb dessen die Eigenschaft der Einzelperson als Subjekt dieses Rechtsverhältnisses einen rechtlichen Status dieser Person bindet“.50 Ungeachtet dieser verschiedenen Konstruktionsmöglichkeiten, welche letztlich rein terminologischer Natur sind und eine nähere Auseinandersetzung daher entbehrlich machen,51 besteht Einigkeit darüber, dass dem Einzelnen aus der Staatsangehörigkeit einander korrespondierende „Rechte und Pflichten erwachsen“52 sowie dass ein besonderes Treue- und Schutzverhältnis zwischen Staat und Angehörigem begründet wird.53 Vor diesem Hintergrund bleibt für eine Differenzierung zwischen den Begriffen der Staatsangehörigkeit und der Staatsbürgerschaft nicht mehr viel Raum. Sie werden im deutschen Schrifttum häufig als Synonyme gebraucht.

a) Strukturmerkmale der Staatsangehörigkeit Die Staatsangehörigkeit wird durch fünf Merkmale näher gekennzeichnet; demnach muss sie unmittelbar, persönlich, beständig, ausschließlich und effektiv sein:54 aa) Die Staatsangehörigkeit ist unmittelbar, wenn sie direkt zwischen Individuum und Staat, d. h. ohne die Hinzuziehung eines vermittelnden Mediums begründet wird. Insbesondere darf die Staatsangehörigkeit nicht durch Familie, Stand oder Gemeinde vermittelt werden. bb) Personalität im Rahmen des Staatsangehörigkeitsverhältnisses bedeutet, dass der Einzelne als Person Subjekt dieses Verhältnisses ist und nicht lediglich als Bestandteil des Territoriums gesehen wird; zugleich erfasst die Staatsangehörigkeit den Einzelnen in seiner gesamten Person in all ihren Facetten.55 Die Personalhoheit über die Staatsangehörigen besteht daher unabhängig vom Aufenthalt im Staatsgebiet. cc) Die Staatsangehörigkeit erweist sich als beständig, wenn sie unabhängig vom Aufenthalt der Person Wirkungen entfaltet. dd) Mit der Ausschließlichkeit der Staatsangehörigkeit soll ausgedrückt werden, dass niemand der Diener zweier Herren sein kann. In der Verfassungswirk49

BVerfGE 83, S. 37 (51). Makarov/von Mangoldt, Deutsches Staatsangehörigkeitsrecht, Einleitung I, Rdn. 3; Randelzhofer, in: Maunz/Dürig, Art. 16 I Rdn. 18. 51 Grawert, Staat und Staatsangehörigkeit, S. 230; von Münch, FAZ vom 8. März 1999, S. 10. 52 BVerfGE 54, 53, 70. 53 Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. I, § 8, S. 257. 54 Hobe, Der Staat 1993, S. 245, 254 m. w. N. in FN 56. 55 Grawert, Staat und Staatsangehörigkeit, S. 218. 50

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I. Die Unionsbürgerschaft in der Verfassungstheorie

lichkeit wird dieses Kriterium nicht mehr strikt durchgehalten; Mehrfachangehörigkeiten sind unter bestimmten Voraussetzungen heute als zulässig anerkannt. ee) Die Staatsangehörigkeit erweist sich als effektiv, wenn sie ihren Angehörigen einen gewissen Schutz und Privilegien vermitteln kann.

b) Rechte der Staatsangehörigen Mit der Staatsangehörigkeit gehen regelmäßig auch staatsbürgerliche Rechte und Pflichten einher. Erst sie machen ihren Träger zu einem vollberechtigten Akteur und Mitgestalter des öffentlichen Lebens. Hier können vier Kategorien unterschieden werden:56 aa) Status activus: Das ist die Aktivbürgerschaft; sie wird gewährleistet durch das aktive und passive Wahlrecht sowie das Recht, öffentliche Ämter zu bekleiden. Dieser Status des citoyen ist klassischerweise den eigenen Staatsangehörigen vorbehalten. bb) Satus negativus: Dieser Status wird maßgeblich durch die Freiheitsrechte verkörpert. cc) Status positivus: Hierbei geht es um Ansprüche des Einzelnen auf staatliche Leistung, wie z. B. Ansprüche auf Sozialleistungen. dd) Status passivus: Auf der gegenüberliegenden Seite sind die staatsbürgerlichen Pflichten anzusiedeln. Er findet seine Ausprägung in der Wehrpflicht oder der Pflicht, für öffentliche Ämter wie als Schöffe etc. zur Verfügung zu stehen.

3. Die Unionsbürgerschaft – keine Staatsangehörigkeit bzw. Staatsbürgerschaft im klassischen Sinn Im Vergleich zu dem Bürgerschaftskonzept klassischer Prägung fällt – wie zu erwarten – die Bewertung der Unionsbürgerschaft negativ aus. Es ist regelmäßig ein qualitatives Minus zu verzeichnen:57 So besteht zwar eine Rechtsbeziehung zwischen der Union und dem einzelnen Bürger, allerdings wird die Unionsbürgerschaft nicht unmittelbar durch die Union vermittelt, sondern über die nationale Staatsangehörigkeit. Vorschläge, den Erwerb und Verlust der Unionsbürgerschaft autonom, d. h. losgelöst von der nationalen Staatsangehörigkeit, zu 56

Zippelius, Allgemeine Staatslehre, S. 90. So: Hobe, Der Staat 32 (1993), 257; Schneider, Die Rechte- und Pflichtenstellung des Unionsbürgers, S. 123; Preuß, Problem eines Konzepts europäischer Staatsbürgerschaft, in: Kleger (Hrsg.), Transnationale Staatsbürgerschaft, S. 249. 57

II. Einordnung in verschiedene Konzepte

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bestimmen,58 konnten sich bislang nicht durchsetzen. Ferner ist sie auch nicht ausschließlich. Die Unionsbürgerschaft ist nicht Ausdruck der personellen Souveränität der Union. Nach Art. 17 Abs. 1 EGV knüpft die Unionsbürgerschaft an die nationale Staatsangehörigkeit an. Die Europäische Union besitzt keine Kompetenz zur Regelung der Voraussetzungen für den Erwerb der Unionsbürgerschaft. Da die Unionsbürgerschaft an die nationale Staatsangehörigkeit anknüpft, können die Mitgliedstaaten durch ihre Bestimmung der Voraussetzungen für den Erwerb und Verlust der nationalen Staatsangehörigkeit zugleich über die Unionsbürgerschaft mitbestimmen. Die mitgliedstaatlichen Voraussetzungen sind unterschiedlich ausgestaltet, so dass die Unionsbürgerschaft zum Teil leichter bzw. zum Teil schwerer zu erwerben ist, je nach Mitgliedstaat. In der Regel bedienen diese sich hierbei des Personalitätsprinzips, welches die Abstammung als entscheidendes Kriterium vorgibt bzw. des Territorialitätsprinzips, wonach der Geburtsort für den Erwerb der Staatsangehörigkeit entscheidend ist, oder verbinden beide Prinzipien. Innerhalb der ihnen durch Völkerrecht gesetzten Grenzen59 können die Mitgliedstaaten aber nach wie vor die Voraussetzungen für den Erwerb und Verlust ihrer Staatsangehörigkeit selbst bestimmen. Wie der Fall Zhu und Chen60 zeigt, sind diese Differenzen durchaus erheblich und verleiten zu Ausnutzung. So wählten die Eheleute Chen den Geburtsort ihres Kindes gerade vor diesem Hintergrund der unterschiedlichen Entstehungsvoraussetzungen für die nationalen Staatsangehörigkeiten und damit mittelbar für die Unionsbürgerschaft aus. Auch die Zusammenschau der Unionsbürgerrechte kann nicht vollumfänglich überzeugen.61 Die Unionsbürgerschaft gewährt nicht jene Anzahl und vor allem jene qualitative Tiefe von Rechten, wie sie der nationalen Bürgerschaft anhaften. Die Teilhabe am status activus wird den Unionsbürgern im Wege des Kommunalwahlrechts (Art. 19 Abs. 1 EGV) sowie der Direktwahl zum Europäischen Parlament (Art. 19 Abs. 2 EGV), dem Petitionsrecht und der Möglichkeit, den Bürgerbeauftragten anzurufen (Art. 21, 194, 195 EGV), vermittelt. Ergänzt werden diese Rechte durch Art. 255 EGV, der das Recht auf Zugang zu Dokumenten garantiert. Anspruchsberechtigt zur Geltendmachung letzteren Freiheitsrechts ist neben Unionsbürgern auch jede natürliche bzw. juristische Person mit Wohnsitz bzw. Sitz in einem Mitgliedstaat. Am weitesten gediehen ist der europäische status negativus: Hierzu zählen die wirtschaftlichen Freiheiten (Art. 23 ff., 43 ff. EGV) sowie 58 Vgl. Hilf, in: Grabitz/Hilf, Art. 8 Rdn. 68; Evans, Union Citizenship and the Equality Principle, in: Rosas/Antola (Hrsg.), A Citizens’ Europe, S. 85 (102); Castro Oliveira, The Position of third-country-nationals: is it too early to grant them union citizenship?, in: La Torre (Hrsg.), European Citizenship, S. 185–199. 59 Vgl. dazu den Fall Nottebohm, IGH 1955, 4, 20. Vgl. Art. 1 des Haager Übereinkommens über gewisse Fragen der Kollision von Staatsangehörigkeitsgesetzen vom 12.4.1930, Art. 3 des Europäischen Übereinkommens über die Staatsangehörigkeit vom 6.11.1997. 60 EuGH, Rs. Zhu und Chen siehe unter E. II. 1. 61 Vgl. Nettesheim, Integration 2003, S. 429 f.; ders., Die politische Gemeinschaft der Unionsbürger, in: Blankenagel/Pernice/Schultze-Fielitz (Hrsg.), Verfassung im Diskurs der Welt, Liber amicorum für Häberle, S. 193 f.

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I. Die Unionsbürgerschaft in der Verfassungstheorie

das allgemeine Freizügigkeitsrecht (Art. 18 EGV) und weitere vom EuGH entwickelte Garantien (Privatsphäre, Wohnungsfreiheit, Religions- und Meinungsfreiheit). Diese Rechte sind auch bereits sehr effektiv; dies gilt auch für das allgemeine Freizügigkeitsrecht des Art. 18 EGV. Dass seine Ausübung an gewisse Schranken (insbesondere ausreichende Existenzmittel) gebunden ist, enttäuscht nicht, da wie ein Vergleich mit dem Freizügigkeitsgrundrecht des Art. 11 GG zeigt, auch dieses nicht völlig schrankenlos gewährleistet wird. Nach Art. 11 Abs. 2 GG kann die Freizügigkeit vor allem in Fällen, in denen eine ausreichende Lebensgrundlage nicht vorhanden ist, eingeschränkt werden. Der status positivus als reines soziales Teilhaberecht wird in Art. 34 der Grundrechtecharta (soziale Sicherheit und soziale Unterstützung) angedeutet. Ob sich daraus allerdings tatsächlich ein einmal Anspruch ableiten lässt, ist äußerst ungewiss.62 Bislang übt die Union für ihre Bürger selbst keinen Schutz aus: So verweist sie ihre Unionsbürger hinsichtlich des Auslandschutzes auf den diplomatischen und konsularischen Schutz ihrer Mitgliedstaaten. Was die Ansprüche auf Gleichbehandlung und der daraus abgeleiteten sozialen Teilhabe anbelangt, so verweist die Union ihre Bürger ebenfalls auf die Mitgliedstaaten als Anspruchsgegner. Gerade die sozialen Schutz- und Gewährleistungsansprüche sind ein zentraler Faktor für den Aufbau einer gemeinsamen Identität. Schließlich ist, was den status passivus anbelangt, auf europäischer Ebene das Fehlen von Pflichten zu konstatieren. Zwar bestimmt Art. 17 Abs. 2 EGV, dass die Unionsbürger die in diesem Vertrag vorgesehenen Rechte und Pflichten haben; allerdings ist dann an keiner Stelle des Vertrags mehr die Rede von Pflichten. Reich spricht in diesem Zusammenhang von der „Pascha-Stellung“ des Unionsbürgers.63 Eine zusätzliche Abschwächung erfährt die Unionsbürgerschaft als solche auch dadurch, dass manche ausdrücklich als Unionsbürgerrechte bezeichnete Freiheiten auch Drittstaatsangehörigen zugestanden werden (vgl. Petitionsrecht, Anrufung des Bürgerbeauftragten (Art. 194, 195 EGV), Recht auf Zugang zu Dokumenten (Art. 255 EGV)).64 Manche erblicken zwar im Unionsbürgerstatus ein gleichheitsrechtliches Element, welches den Unionsbürgern aufgrund dieses Status als solchem zustehe.65 62

Näheres dazu: H. II. 3. Reich, Unionsbürgerschaft – Metapher oder Quelle von Rechten?, in: Bovenschulte u. a. (Hrsg.). FS für Dian Schefold, S. 279 (295). 64 Randelzhofer, Marktbürgerschaft – Unionsbürgerschaft – Staatsbürgerschaft, in: Randelzhofer/Scholz/Wilke (Hrsg.), GS Eberhard Grabitz, S. 592; Sauerwald, Die Unionsbürgerschaft und das Staatsangehörigkeitsrecht in den Mitgliedstaaten der Europäischen Union, S. 75; Hobe, Der Staat 32 (1993), S. 254 ff.; Schneider, Die Rechte- und Pflichtenstellung der Unionsbürger, S. 48 ff. 65 Toner, 7 MJ (2000), S. 169–170: „What is disappointing in the reasoning is the failure even to consider explicitly the effect of Citizenship on the scope of the Treaty. Again, saying the Citizenship is not intendet to extend the scope of the Treaty ‚to matters having no link with Community law‘ simply begs the question of what kind of link with Community law is necessary to bring the situation within the scope of Treaty … Does the Union Citizen only become a Union Citizen when they step outside the confines of their own Member State? … If Citizenship is to have real meaning, in particular by creating a direct link between the Union and the Citizens, 63

II. Einordnung in verschiedene Konzepte

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Für ein vollwertiges Bürgerrecht fehlt es aber an einer umfassenden Gleichheit aller Unionsbürger: Die Unionsbürgervorschriften sind auf grenzüberschreitende Sachverhalte beschränkt.66 Das hat zur Folge, dass sich nur solche Angehörige der Mitgliedstaaten, welche von ihren Freizügigkeitsrechten (wenn auch nur im entferntesten Sinn) Gebrauch gemacht haben, sich auf die Unionsbürgervorschriften berufen können. Unionsbürger, welche sich „nur“ in ihrem Heimatstaat aufhalten ohne einen irgendwie gearteten grenzüberschreitenden Bezug, kommen nicht in den Genuss der Unionsbürgerrechte. Die Unionsbürgerschaft ist bislang keine umfassender Rechte- und Pflichtenbeziehung; eine Staatsbürgerschaft bzw. Staatsangehörigkeit im hergebrachten Sinne ist damit nicht gegeben.

4. Die Vorstellung von einer post-nationalen Bürgerschaft Allerdings ist die Durchschlagskraft dieser hergebrachten Strukturmerkmale der Staatsangehörigkeit und der Staatsbürgerschaft heutzutage erheblich abgeschwächt. Auch auf nationalstaatlicher Ebene hat sich Diskrepanz zwischen dem ursprünglichen Ideal und der Realität vergrößert.67 Zum einen definieren sich die Einzelnen heutzutage in vermehrtem Maße über eigene „Netzwerke“,68 zum anderen erodiert der Unterschied zwischen dem staatsbürgerlichen Status und dem Status eines Nichtstaatsangehörigen zusehends.69 Neben der Zunahme der Mehrstaatlichkeit erfährt die Staatsangehörigkeit auch einen Bedeutungsverlust durch die modernen Entwicklungen des Völkerrechts. So haben die Entwicklung der Menschenrechte sowie des europäischen Rechts die starke Bindung des Einzelnen an seinen Staat relativiert. Ein gestiegener Ausländeranteil führt dazu, dass die vorausgesetzte Kongruenz zwischen Nationalität und Staatsbürgerschaft heute nicht mehr gegeben ist.70 Der Bürgerstatus und die mit ihm einhergehenden Rechte werden nicht mehr allein durch die Nationalität bestimmt.71 Insbesondere hängt laut Meehan der Erwerb von Rechten immer weniger von der kulturellen Zugehörigkeit ab, sondern ergibt sich nach dem Wohnsitz. In der Tat gelten viele Bürgerrechte und soziale Rechte staatsangehörigkeitsübergreifend. Auf diesem Hinterthen it may become increasingly unacceptable to say to the majority of Citizens who do not make use of their rights under the Treaty to live and work in other Member States that Community law has no application to their situation.“ Vgl. auch: Shuibhne, CMLR 39 (2002), S. 731 (757). 66 Obwexer, Die Rechte und Pflichten der Unionsbürger, S. 123. 67 Zürn, Michael: Die Zukunft des Nationalstaats, in: FAZ vom 19.7.2005, S. 8; GöztepeÃelebi, Die Unionsbürgerschaft, S. 38. 68 Nettesheim, Integration 2003, S. 433. 69 Kotalakidis, Von der nationalen Staatsangehörigkeit zur Unionsbürgerschaft, S. 105; Closa, C. M. L.Rev. 32 (1995), S. 492. 70 Lemke, Aktive Bürgerschaft und Demokratie in der EU, S. 107. 71 Meehan, National or European Citizenship?, S. 9.

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I. Die Unionsbürgerschaft in der Verfassungstheorie

grund basiert die Vorstellung einer postnationalen (Staats-)Bürgerschaft.72 Es wird auch von einer „Devolution“ des cititzenship-Konzepts gesprochen.73 So geht beispielsweise Meehan davon aus, dass eine „neue Form von Bürgerschaft, die weder national noch kosmopolitisch ist, sondern mehrfach (multiple) bestimmt ist“74 entsteht. Von den Vertretern des Konzeptes postnationaler Bürgerschaft erfährt auch die Unionsbürgerschaft eine postmoderne Deutung und wird als supranationale Entkoppelung der Staatsangehörigkeit vom Bürgerstatus begriffen.75 Die Unionsbürgerschaft als „postnational citizenship“76 knüpft in der Tat vorrangig an den Aufenthaltsstatus des Unionsbürgers an. Dabei bestehe der große Vorzug der europäischen Bürgerschaft darin, dass sie von Bürgern unterschiedlicher Staatsangehörigkeit geteilt werde. Die Unionsbürgerschaft setze sich ein für Werte und Prinzipien, welche über ethnisch-kulturelle Definitionen hinausgehe, wie zum Beispiel das Diskriminierungsverbot, die Solidarität oder die Menschenrechte.77

5. Das europäische Indigenat Für die Einordnung der Unionsbürgerschaft bietet sich darüber hinaus ein historischer Rückblick an. So kann die Unionsbürgerschaft auch als Parallele zum Indigenat des Art. 3 der Verfassung des Norddeutschen Bundes bzw. der Reichsverfassung von 1871 gesehen werden. Die Verfassung des Norddeutschen Bundes vom 16.4.1867 führte eine bundeseinheitliche Staatsangehörigkeit ein. Ihr Erwerb und Verlust wurde aber über die jeweilige Landesangehörigkeit vermittelt.78 Art. 3 der norddeutschen Verfassung, welcher sich später fast identisch in der Verfassung des Deutschen Reiches vom 16.4.1871 wiederfindet, begründet in materieller Hinsicht auf Bundesebene keine Rechte und Pflichten, sondern knüpft an die verschiedenen landesrechtlichen Rechtspositionen an.79 In Art. 3 Abs. 1 heißt es: „Für den ganzen Umfang des Bundesgebietes besteht ein gemeinsames Indigenat mit der Wirkung, daß Angehörige (Unterthan, Staatsbürger) eines jeden Bundesstaates in jedem anderen Bundesstaate als Inländer zu behandeln und demgemäß zum festen Wohnsitz, zum Gewerbebetriebe, zu öffentlichen Ämtern, zur Erwerbung 72

Kostakopoulou, Citizenship, identity and immigration in the European Union, S. 94. Meehan, Citizenship and European Community, S. 1 ff. 74 Meehan, Citizenship and European Community, S. 1 ff. 75 Shaw, Modern Law Review 61 (1998), S. 293 ff.; Kotalakidis, Von der nationalen Staatsangehörigkeit zur Unionsbürgerschaft, S. 109 ff.; Preuß, European Law Journal 1 (1995), S. 267; Wiener, (Staats)Bürgerschaft ohne Staat, Prokla 105, 26 (1996), S. 497–513. 76 Soysal, Changing Citizenship in Europe, in: Cesarini/Fulbrook (Hrsg.), Citizenship – Nationality and Migration in Europe, S. 20. 77 Weiler, Journal of European Public Policy 4 (1997), S. 495. 78 In der Schweiz vermittelt die Kantonsangehörigkeit die Bundesangehörigkeit (Art. 37 Abs. 1 BV): Schaffhauser, in: Thürer u. a. (Hrsg.), Verfassungsrecht der Schweiz, § 19: Bürgerrechte, Rdnr. 3 f. 79 Näheres dazu bei: Schneider, Die Rechte- und Pflichtenstellung der Unionsbürger, S. 148 ff. 73

II. Einordnung in verschiedene Konzepte

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von Grundstücken, zur Erlangung des Staatsbürgerrechts und zum Genusse aller sonstigen bürgerlichen Rechte unter denselben Voraussetzungen wie der Einheimische zuzulassen, auch in Betreff der Rechtsverfolgung und des Rechtsschutzes demselben gleich zu behandeln ist.“80 Nach dem RuStAG war bis zum Jahr 1934 die Staatsangehörigkeit in einem Bundesstaat das primäre Verhältnis einer Person zum Staat; die Reichsangehörigkeit wurde davon abgeleitet. Deutscher war, wer die Staatsangehörigkeit in einem Bundesstaat besaß (§ 1 RuStAG). Unter der Beibehaltung der einzelnen Staatsangehörigkeiten wurde die Bundes- bzw. Reichsangehörigkeit durch sie erst vermittelt. Hinsichtlich der aufgezählten Rechte wurden die Angehörigen anderer Staaten nicht weiter als Ausländer behandelt, sondern konnten Rechte unter den gleichen Voraussetzungen, wie sie für Einheimische gelten, beanspruchen. Insofern besteht auf EU-Ebene bezüglich der Unionsbürgerrechte eine Parallele. Die Unionsbürger bleiben nach wie vor Staatsangehörige der Mitgliedstaaten und die nationale Staatsangehörigkeit eröffnet erst den Zugang zur Unionsbürgerschaft. Im Hinblick auf die allgemeine Freizügigkeit sind alle Unionsbürger aber umfassend gleich zu behandeln wie die inländischen Bürger. Das europäische Indigenat81 zielt daher dem Grunde nach auf die Abschaffung der unterschiedlichen Behandlung aufgrund der Staatsangehörigkeit innerhalb der Europäischen Union („Abschaffung der Ausländerei“).82 Ob diese Entwicklung auch auf europäischer Ebene letztlich in Richtung einer gemeinsamen EU-Angehörigkeit mündet, ist ungewiss. Allerdings ist unbestritten, dass auch der Unionsbürgerschaft ein erhebliches Entwicklungspotenzial innewohnt. Die Unionsbürgerrechte sind auf eine evolutive Weiterentwicklung hin angelegt. Dies kann zum einen auf politischer Ebene erfolgen (vgl. Art. 18 Abs. 2, Art. 22 EGV). Zum anderen nahmen die Vertragsparteien mit Einführung der Unionsbürgervorschrift in den Vertrag einen theoretischen Rechtsbegriff auf, der erkennbar auf Interpretation und Verwertung abzielt. Eine historische Rückschau der Entwicklung des EG-Rechts belegt, dass typischerweise die rudimentär angelegten Rechte (insb. Freizügigkeit und Nichtdiskriminierung) durch eine Konkretisierung und Auslegung des EuGH zu ihrer heutigen umfassenden Wirkung gelangt sind. Es war daher kurzsichtig zu glauben, der EuGH werde sich zu gegebener Zeit nicht auch der Unionsbürgerschaft annehmen.83 In Kenntnis dieser Entwicklungsprozesse war den Vertragsgebern mit Einführung der Unionsbürgerschaftsbestimmungen deren zukünftiges Potenzial auch bewusst. Es ist Häberle zuzustimmen, dass das Potenzial der Unionsbürgerschaft 80

Art. 3 Abs. 1 der Verfassung des Norddeutschen Bundes. Hobe, Der Staat 32 (1993), S. 259; Hailbronner, Staatsangehörigkeitsrecht, S. 81; Schönberger, AöR 129 (2004), S. 81 (117). 82 Eine ähnliche Regelung enthält Art. 4 Abschnitt 2 (1) der Verfassung der Vereinigten Staaten, welcher bestimmt, dass „die Bürger jedes Einzelstaates Anspruch auf alle Vorrechte und Freiheiten der Bürger in den anderen Einzelstaaten haben“. 83 „Warum sollte ein solcher Prozeß nicht auch für das übergreifende Prinzip einer „Unionsbürgerschaft“ möglich sein?“: Reich, Bürgerrechte in der Europäischen Union, S. 426. 81

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I. Die Unionsbürgerschaft in der Verfassungstheorie

kaum überschätzt werden kann.84 Das heißt die Einführung der Unionsbürgerschaft vermochte es, den europäischen Bürgerstatus von seiner wirtschaftlichen Beschränktheit zu lösen. Der Anwendungsbereich ist heute eröffnet, und zwar unabhängig von der Berufung auf die Arbeitnehmer-, Niederlassungs- oder Dienstleistungsfreiheit; an diese Stelle tritt aber Art. 18 EGV – Ausübung des allgemeinen Freizügigkeitsrechts. Die Unionsbürgerschaft und insbesondere die umfassenden Freizügigkeitsrechte können zur verstärkten Herausbildung einer europäischen Identität und Legitimität beitragen.85 Dabei beruht die Unionsbürgerschaft auf einer Anerkennung der Unterschiede zwischen den Nationalstaaten. Nach Art. 6 Abs. 3 EUV achtet die Union die „nationale Identität ihrer Mitgliedstaaten“. Daher tritt die Unionsbürgerschaft zu der nationalen Staatsangehörigkeit hinzu, ohne diese zu ersetzen (Art. 17 Abs. 1 Satz 3 EGV.86 Ein Bürgerstatus auf Unions- und nationalstaatlicher Ebene schließt sich gegenseitig nicht aus, so dass die Entwicklung abgestufter Identitäten möglich ist. Die Existenz paralleler Zugehörigkeiten zu verschiedenen Verbänden ist anerkannt und im System des Föderalismus sogar üblich. Allerdings wäre es verfehlt zu glauben, die nationale Staatsangehörigkeit und die Unionsbürgerschaft stünden unbeteiligt nebeneinander. Vielmehr kommt es zu Wechselwirkungen zwischen beiden Formen der Identifikation.87

III. Die Suche nach einer europäischen Identität III. Die Suche nach europäischer Identität

1. Voraussetzungen In jüngster Zeit füllt der Europäische Gerichtshof die Unionsbürgerschaft zusehends mit rechtlichem Potenzial. Der EuGH spricht in seinem grundlegenden Grzelcyk-Urteil davon, dass der Unionsbürgerstatus dazu bestimmt sei, „der grundlegende Status der Angehörigen der Mitgliedstaaten zu sein, der es denjenigen unter ihnen, die sich in der gleichen Situation befinden, erlaubt, unabhängig von ihrer Staatsangehörigkeit und unbeschadet der insoweit ausdrücklich vorgesehenen Ausnahmen die gleiche rechtliche Behandlung zu genießen“.88 Bedingung für diese Annahme ist, dass sie als Mitglieder einer gemeinsamen Gruppe betrachtet 84

Häberle, Europäische Verfassungslehre, S. 353. Vgl. näher zum Verhältnis zischen sozialer Integration und Legitimation im Rahmen der Staatsbürgerschaft bei der Bildung von Nationalstaaten: Habermas, Der europäische Nationalstaat, in: Habermas (Hrsg.), Die Einbeziehung des Anderen, 1996, S. 135 ff.; Becker, ZESAR 2002, S. 8 (12). 86 Zum Verhältnis zwischen Staatsbürger und Unionsbürger: Hrbek, Staatsbürger – Unionsbürger: Konkurrenz oder Komplementarität?, in: Hrbek (Hrsg.), Bürger und Europa, S. 119. 87 Vgl. Nettesheim, Integration (2003), S. 428 ff. 88 EuGH, Rs. C-184/99, Grzelczyk, Slg. 2001, I-6293, Rdn. 31. 85

III. Die Suche nach europäischer Identität

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werden können. „Das setzt voraus, dass sie Teil eines einigenden Ganzen sind.“89 Kern der Diskussion bildet die Frage nach der Identität der Europäer.90 Dabei ist unter Identität „die Selbstwahrnehmung und -darstellung eines Menschen“,91 welche sich aus dem Wissen um die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Gruppe ergibt, zu verstehen.92 Dieses Bewusstsein einer europäischen Identität zu stärken, wird durch zahlreiche Symbole sowie sonstige den Gemeinsinn fördernde Maßnahmen versucht.93 Weiter ist es im Interesse eines lebensfähigen Europas wichtig, dass die Jugend sensibilisiert und am europäischen Projekt beteiligt wird. Hierbei ist das Engagement in den Bereichen Erziehung, Sprachunterricht, Jugendaustausch sowie Sport besonders wichtig.94 Der Stärkung des Gemeinschaftsgefühls dient auch die Abschaffung der Kontrollen an den Binnengrenzen. Im Rahmen dieser Bestrebungen können vielfältige Aktivitäten und identitätsbildende Maßnahmen aufgezählt werden: die Europafahne, das europäische Autokennzeichen, die europäischen Pässe, die Europahymne, der Europatag und nicht zuletzt die Kulturhauptstädte Europas. Wie die jüngste politische Entwicklung und insbesondere der Vertrag von Lissabon zeigt, soll nun aber zur Beruhigung der Euroskeptiker die ehemals in Art. I-8 VV erfolgte Aufzählung der staatsähnlichen Symbole (Hymne, Flagge etc.) gestrichen werden. 16 Mitgliedstaaten haben in der Erklärung Nr. 52 zum Lissabonner Vertrag bekundet, dass sie dennoch an den EU-Symbolen festhalten wollen. Das Zusammengehörigkeitsgefühl lässt sich auch nicht nur anhand dieser objektiven Faktoren festmachen; es wohnt ihm auch eine subjektive Komponente inne. Die Bestimmung der gemeinsamen Identität ist aufgrund der hinter ihr stehenden inhomogenen und komplexen Tatbestände diffizil. Es gibt verschiedene Formen von Identität, ebenso wie der Begriff des „Volkes“ im herkömmlichen Sprachgebrauch sehr vielschichtig ist und verschiedene Kombinationen der Zusammengehörigkeit zulässt.95 Die Entwicklung im Einzelfall hängt von einer Vielzahl von sozialpsychologischen Faktoren ab.96 Die Europäische Kommission sieht eine ihrer größten Aufgaben darin, „bei den Bürgerinnen und Bürgern die Entwick89

Haltern, Zeitschrift für Politikwissenschaft, 11 (2005), S. 87. Vgl. Nettesheim, Integration (2003), S. 428 ff; „Die Unionsbürgerschaft ist ein Status der Offenheit“: Preuß, Der EU-Staatsbürger, in: Winter (Hrsg.), Das Öffentliche heute, S. 179 (193). 91 Kadelbach, Unionsbürgerschaft, in: von Bogdandy (Hrsg.), Europäisches Verfassungsrecht, S. 539 (577). 92 Zu den einzelnen Identitäts-Bausteinen: von Bogdandy, JZ 2004, S. 53 ff. 93 Zur Entwicklung einer europäischen Identität: Beck/Grande, Das kosmopolitische Europa, S. 238 ff. 94 Siehe bereits: EU-Kommission, EU-Bulletin, Bulletin der Europäischen Gemeinschaften 1988, Beilage Nr. 2/88, S. 13. 95 Zippelius, Allgemeine Staatslehre, S. 85 (86). Vgl. dazu auch: Derrida/Habermas, Unsere Erneuerung, in: FAZ vom 31. Mai 2003, S. 33. 96 Eine vertiefte Darstellung ist im Rahmen dieser Arbeit nicht möglich. Vgl. näher dazu z. B. die soziologische Betrachtung bei: Münch, Europa als Projekt der Identitätsbildung, in: Blume/Lorenzen/Warntjen, Herausforderung Europa, S. 73. 90

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I. Die Unionsbürgerschaft in der Verfassungstheorie

lung eines Zusammengehörigkeitsgefühls zu fördern und eine europäische Identität zu stiften, so daß die Menschen stärker an die Entwicklung der Europäischen Union teilhaben“.97 Laut EU-Kommission soll die Förderung eines „europäischen Bürgersinns“ von 2007 bis 2013 mit insgesamt 207 Millionen Euro im Rahmen eines Modellvorhabens unterstützt werden. Wenn man auch im Einzelnen über die erforderlichen Formen einer Identitätsbildung und deren Ausmaß geteilter Ansicht sein kann, so ist doch klar, dass „jedes Gemeinwesen auf ein Mindestmaß an Identifikation mit ihm und Integration in ihm angewiesen ist“.98 Für die Entwicklung einer politischen Identität in Europa werden im Wesentlichen zwei Modelle diskutiert.99 Zum einen lässt sich Europa als eine Gemeinschaft verstehen, welche auf den Werten des guten Lebens, der Kultur, der Geschichte und der Religion aufbaut.100 Es wird vorgetragen, die europäische Identität sei das Ergebnis einer jahrhundertealten gemeinsam erlebten Geschichte einschließlich gemeinsamer kultureller Werte.101 Möglicherweise werden dabei aber die Unterschiede der verschiedenen Glaubensrichtungen nicht genügend beachtet. Zudem ist innerhalb der Nationalstaaten ein Wandel weg von einer homogenen und hin zu einer pluralistischen Kultur zu beobachten,102 so dass die Feststellung einer gemeinsamen Kultur auf EU-Ebene umso skeptischer zu beurteilen ist. Der andere Ansatz sieht Europa als universelle Bürgergemeinschaft, welche auf gemeinsamen Vorstellungen von Freiheit und Gleichheit beruht.103 So wird Europa auch als Wertegemeinschaft begriffen, wobei die entscheidenden Bestandteile die in Art. 6 EUV niedergelegten Grundsätze der Freiheit, Demokratie, der Achtung der Menschenrechte und Grundfreiheiten sowie der Rechtsstaatlichkeit sind. Nach Art. 2, zweiter Spiegelstrich behauptet die Union ihre Identität auf internationaler Ebene. Danach soll sich die Union als die die Europäer repräsentierende Gruppe zeigen.104 Diese Werte sind, wenn auch in unterschiedlicher Tiefe, anerkannt. Dass es sich jedoch hierbei um universelle Werte handelt, welche auch in anderen Demokratien Geltung beanspruchen und weltweit verteidigt werden, nicht aber um abgrenzende Werte, muss beachtet werden105; eine Identitätsbildung im Zuge einer

97

So die Aussage von EU-Kommissar Ján Figel in der FAZ vom 19.4.2005, S. 19. Streinz/Ohler/Herrmann, Die neue Verfassung für Europa, S. 10. 99 Darstellung bei: Nettesheim, Integration 2003, S 430 f. 100 Böckenförde, Die Nation – Identität in Differenz, in: Michalski (Hrsg.), Identität im Wandel, S. 129; Kirchhof, EuR Beiheft 1/1991, S. 11; Schmitz, Gewerkschaftliche Monatshefte 2003, S. 716. 101 EU-Kommission, EU-Bulletin, Bulletin der Europäischen Gemeinschaften 1988, Beilage Nr. 2/88, S. 7. 102 Münch, Europa als Projekt der Identitätsbildung, in: Blume/Lorenzen/Warntjen (Hrsg.), Herausforderung Europa – Von Visionen zu Konzepten, S. 73 (77). 103 Zuleeg, American Journal of Comparative Law 45 (1997), S. 524. 104 Streinz/Ohler/Herrmann, Die neue Verfassung für Europa, S. 11. 105 Möstl, Verfassung für Europa, S. 34. 98

III. Die Suche nach europäischer Identität

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Abgrenzung nach außen im klassischen Sinne ist das also nicht.106 Kritiker dieser Art der Definition der europäischen Gemeinschaft tragen vor, die genannten Grundsätze würden für eine politische Union nicht ausreichen. Diese Werte seien zwar wichtig und eine notwendige, allerdings nicht eine hinreichende Bedingung für das geforderte Zusammengehörigkeitsgefühl.107 Es ist zutreffend, dass die auf universeller Basis beruhende europäische Identität nicht jene „Dichte“, wie sie einer tragfähigen nationalen Identität eigen ist, erreicht.108 Europa kann sich nicht wie die Nationalstaaten auf ein in den Bürgern verwurzeltes Zusammengehörigkeitsgefühl berufen. Nach Zuleeg beruht der Zusammenhalt vor allem „on the conviction to belong to a free community in which one can, together with others, safeguard one’s own interests.“109

2. Bedeutung für die Unionsbürgerrechte Die personelle Integration innerhalb der Europäischen Gemeinschaft ist ein dynamischer und langfristiger Prozess. Dabei markiert die Einführung der Unionsbürgerschaft einen wichtigen Abschnitt dieser Entwicklung. Voraussetzung für die Ausbildung einer europäischen Identität ist die Zuerkennung besonderer Rechte an die Unionsbürger. Die weitgehende Überwindung des Fremdenstatus innerhalb der Europäischen Union kann dazu beitragen.110 Wie bereits erwähnt, besteht die Zusammengehörigkeit der Unionsbürger v. a. in einer gemeinsamen Rechtskultur und der Anerkennung von bestimmten universellen Werten. So begründet die Unionsbürgerschaft auf dem Wege über das Verbot der Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit einen Status der Gleichheit. Die Prozesse gegenseitiger Anerkennung sowie die Entstehung von Gruppenbildungsprozessen werden angeregt.111 Das Verbot der Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit wird daher zu Recht als „Magna Charta“ des Vertrags bezeichnet.112 Es war deshalb legitim, dass sich der EuGH die mit Einführung der Unionsbürgerschaft geschaffene Projektionsfläche zunutze machte und sie mit rechtlicher Substanz anreicherte. Die Verwirklichung der Unionsbürgerschaft erfolgt mit Hilfe des Freizügigkeitsrechts. Unklar ist allerdings, wie weit diese Gleichheit reicht. Erstreckt sich diese Gleichheit auch auf Ansprüche der sozialen Grundsicherung? Diese Fragestellungen wurden bereits oben einer dogmatischen Lösung zugeführt. Letztlich kommt es dabei zu einem Abwägungsprozess zwischen den Zielen der Unionsbürgerschaft an einer umfassenden allgemeinen Gleichheit sowie der Verwirklichung 106

Graf Vitzthum, Die Identität Europas, EuR 2002, S. 1 (9). Böckenförde, Nein zum Beitritt der Türkei, FAZ vom 10.10.2004, S. 35. 108 Nettesheim, Integration 2003, S. 430. 109 Zuleeg, The American Journal of Comparative Law 45 (1997), S. 505. 110 von Bogdandy, in: Grabitz/Hilf, Art. 6, Rdn. 1. 111 Streinz/Ohler/Herrmann, Die neue Verfassung für Europa, S. 11; von Bogdandy, VVDStRL 62 (2003), S. 185. 112 Streinz, in: Streinz, Art. 12, Rdn. 8 m. w. N. 107

210

I. Die Unionsbürgerschaft in der Verfassungstheorie

des Freiheitsrechts aus Art. 18 EGV und den Interessen der Mitgliedstaaten an einer Differenzierung zwischen Mitgliedern und Nichtmitgliedern der Solidargemeinschaft. Diese Solidargemeinschaft besteht regelmäßig nur noch in sehr begrenzter Weise aus dem Staatsvolk, an Stelle dessen tritt vielmehr die Gemeinschaft der erwerbstätigen Bevölkerung bzw. die Gemeinschaft aller Menschen, die sich in einem bestimmten Gebiet (nicht nur vorübergehend) aufhalten. Grundsätzlich sollte eine behutsame Vorgehensweise gewählt werden. Damit die EU-Bürger bereit sind, für einander einzustehen, müssen bestimmte sozialpsychologische Voraussetzungen gegeben sein. Bei einer Überstrapazierung droht eine Ablehnung. Bildlich ausgedrückt kommt Graf Vitzthum zu dem Schluss: „Ein zu stürmisches Angeln nach der Zentralidee und Identität Europas ertränkt den Fisch.“113 In seinem Grzlczyk-Urteil sieht der Gerichtshof eine „bestimmte finanzielle Solidarität“ zwischen den Unionsbürgern gegeben.114 Solidarität bedeutet „füreinander Einstehen“. Das Postulat der Solidarität findet sowohl im EU- als auch im EGV Anklang. Bereits in der Präambel des EUV ist der Wunsch festgehalten, die Solidarität zwischen den Völkern unter Achtung ihrer Geschichte, Kultur und Tradition zu stärken. Die Aufgabe, die Beziehungen zwischen den Völkern und zwischen den Mitgliedstaaten solidarisch zu gestalten, wird in Art. 1 Abs. 3 EUV sowie Art. 2 EGV hervorgehoben. Damit spielt Solidarität im Verhältnis zwischen den Mitgliedstaaten und zwischen den Völkern der EU eine Rolle. Eine individuelle Solidarität zwischen den Unionsbürgern wird in den Verträgen nicht angesprochen.115 Zurückkommend auf das Grzlczyk-Urteil des EuGH ist zu untersuchen, ob die Verbindung zwischen den Unionsbürgern bereits derart gefestigt ist, dass sie sich untereinander als Solidargemeinschaft begreifen. Die von Habermas aufgestellte Forderung, wonach sich die bislang auf den Nationalstaat beschränkte staatsbürgerliche Solidarität auf die Bürger der Europäischen Union derart ausdehnen müsse, „dass beispielsweise Schweden für Portugiesen bereit sind, füreinander einzustehen“116 ist eine Vision.117 Das europäische „Wir-Gefühl“ erreicht nicht jene Tiefe, die erforderlich wäre, um eine gemeinsame Verantwortung und gemeinschaftliche Einstandspflichten uneingeschränkt anzuerkennen.118 Insofern tut sich die Unionsbürgerschaft auch schwer mit der Einführung von Unionsbürgerpflichten. Eine allgemeine Wehrpflicht auf europäischer Ebene wäre nicht möglich. Für die Frage nach der Gleichbehandlung in sozialrechtlicher Hinsicht bedeutet dies: Es kann keine uneingeschränkte Gleichbehandlung in sozialrechtlicher Hin113

Graf Vitzthum, Die Identität Europas, EuR 2002, S. 38. EuGH, Rs. C-184/99, Grzelczyk, Slg. 2001, I-6293, Rdn. 44. 115 Bieber, Solidarität als Verfassungsprinzip der Europäischen Union, in: von Bogdandy/ Kadelbach (Hrsg.), Solidarität und europäische Integration, S. 41 (44). 116 Habermas, Die postnationale Konstellation, S. 91 (150). 117 So auch: Strick, NJW 2005, S. 2182 (2187). 118 So auch: Nettesheim, Integration 2003, S. 434. 114

III. Die Suche nach europäischer Identität

211

sicht stattfinden. Das Freizügigkeits- und Gleichheitsrecht findet insofern seine Grenzen, als es der mitgliedstaatlichen Solidargemeinschaft unzumutbar ist, für den Unionsbürger einzustehen. Die aufgrund der dargestellten Grundlage gebildete europäische Identität ist nicht derart gefestigt, als dass sie – wie im klassischen Fall des Nationalstaats üblich – eine individuell uneingeschränkte soziale Umverteilung tragen würde.119 Konkret bedeutet dies, dass die Verwirklichung des Freizügigkeits- und Gleichheitsrechts zwar auch in das nationale Recht der sozialen Sicherungssysteme hineingreift. Ihre Grenzen liegen aber in der fehlenden umfassenden Solidarität, so dass unverhältnismäßige Beanspruchungen der sozialen Sicherungssysteme ausgeschlossen werden können.120 Dieses Ergebnis wird im Rahmen der oben entwickelten dogmatischen Einordnung gewährleistet: Der status negativus der Unionsbürger wird weiter ausgebaut, indem ihnen ein allgemeines Freizügigkeitsrecht zusteht, das vor Beschränkungen des Rechts auf Freizügigkeit und Aufenthalt in einem anderen Mitgliedstaat der Europäischen Union schützt. Der Unionsbürgerstatus gewährleistet auch die Gleichbehandlung unabhängig von der nationalen Staatsangehörigkeit. Diese Rechte finden aber ihre Grenzen darin, dass auf europäischer Ebene der status positivus unterentwickelt ist. Die Europäische Union als solche gewährt den Einzelnen keine sozialen Ansprüche.121 Der zentrale Bereich der sozialen Sicherung verbleibt im Verantwortungsbereich der Mitgliedstaaten. Teilhabeansprüche gegenüber den Mitgliedstaaten finden ihre Begrenzung einerseits durch die Möglichkeit, eine Ungleichbehandlung zu rechtfertigen sowie andererseits durch die den Mitgliedstaaten verbleibende Option der Beendigung des Aufenthaltsrechts von „bedürftigen“ Bürgern. Im Rahmen beider haben die Mitgliedstaaten einen ausreichend großen Ermessensspielraum, der ihnen ein flexibles und auf den Einzelfall bezogenes angemessenes Vorgehen erlaubt. Mit diesen Instrumenten kann der mit dieser Entwicklung einhergehenden Gefahr eines „Sozialtourismus“ ausreichend entgegengetreten werden. Dieses Ergebnis wird auch, wie die jüngste Entwicklung zeigt, von der Rechtsprechung des EuGH mitgetragen.

119 Vgl. Nettesheim, Integration 2003, S. 434: „Sozialstaatliche Solidarität wird die Europäische Union von den Europäern nur in dem Umfang einfordern können, wie dies den Prinzipien der politischen Gerechtigkeit entspricht – als nur insoweit, wie dies zur Verwirklichung des gleichen Wertes der Freiheit sowie zur Sicherung der materiellen Grundlagen der Selbstachtung notwendig ist.“ 120 Vgl. bereits Zuleeg, Die Auswirkung von sozialrechtlichen Tatbeständen auf ausländerrechtliche Entscheidungen, in: Barwig u. a. (Hrsg.), Soziale Sicherung und Aufenthaltrecht, S. 91 f. 121 Vgl. dazu auch: Zacher, EuR 2002, S. 147 (159 ff.).

J. Zusammenfassung in Thesen J. Zusammenfassung in Thesen 1. Art. 18 EGV befreit das Freizügigkeitsrecht von seinem wirtschaftlichen Kontext und schafft damit die Unionsbürgerfreizügigkeit. 2. Art. 18 EGV ist Grundtatbestand zu den speziellen Freizügigkeitsrechten. 3. Das Aufenthaltsrecht des Art. 18 EGV entsteht automatisch mit Einreise. 4. Die in Art. 18 EGV vorgesehenen Beschränkungen und Bedingungen sind im Sinne von Schrankenvorbehalte zu verstehen. 5. Der Wortlaut der drei Aufenthaltsrichtlinien (RL 93/96, 90/364 und 90/365) ist seit dem Maastrichter Vertrag nicht mehr mit den Vorgaben des Primärrechts zu vereinbaren. 6. Art. 18 EGV schützt auch vor Beschränkungen des Rechts, sofern es um den Zugang bzw. die Benachteiligung grenzüberschreitender Sachverhalte geht. 7. Der Anwendungsbereich des Vertrags ist eröffnet, wenn ein Unionsbürger von seinem Freizügigkeitsrecht nach Art. 18 EGV Gebrauch macht. Darunter fallen auch die Wahrnehmung damit zusammenhängender Rechte, insbesondere auch die Beanspruchung sozialer Grundleistungen im Aufenthaltsstaat. Die politische Partizipation auf Landes- und Bundesebene ist davon nicht betroffen. 8. Innerhalb des Anwendungsbereichs besteht grundsätzlich ein umfassender Anspruch auf Nichtdiskriminierung. Bei Geltendmachung berechtigter Interessen ist eine Ungleichbehandlung zulässig. 9. Das Aufenthaltsrecht des Art. 18 EGV kann dem Grunde nach bei Nichtvorliegen ausreichender Existenzmittel beendet werden. Die Schranken des Art. 18 EGV unterliegen ihrerseits Beschränkungen und sind vor dem Hintergrund der Unionsbürgerschaft eng auszulegen. 10. Für den rechtswirksamen Entzug des Freizügigkeitsrechts ist ein konstitutiver Akt der nationalen Behörde erforderlich. 11. Solange der Entzug des Freizügigkeitsrechts nicht wirksam festgestellt wurde, gilt es fort mit allen daran anknüpfenden Rechten. 12. Die neue Rechtsentwicklung verleiht der Unionsbürgerschaft eine materiellrechtliche Substanz. Den berechtigten Interessen der Mitgliedstaaten, ihre nationalen Sozialsysteme zu schützen, wird weiterhin ausreichend Rechnung

J. Zusammenfassung in Thesen

213

getragen: Zum einen können Ungleichbehandlungen, sofern berechtigte Interessen geltend gemacht werden, gerechtfertigt sein und zum anderen kann unter eingeschränkten Voraussetzungen bei Inanspruchnahme sozialer Grundleistungen sogar das Aufenthaltsrecht entzogen werden.

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Sachverzeichnis Anwendungsbereich des EGV 151 Arbeitnehmerfreizügigkeit 39, 114, 121 Aufenthaltsrichtlinien 49 Avello 170, 178 Baumbast und R 67, 96 Berufsausbildung 47, 104 Beschränkungsverbot 114 Bickel und Franz 47, 153 Bidar 184 bilaterale/multilaterale Abkommen 169

Inländerdiskriminierung 170 Internationale Organisation 194 Kommunalwahlrecht 30 Koordinierung 189 Lissabonner Vertrag 28 Maastrichter Vertrag 25, 27 Marktbürger 19 Martínez Sala 64, 156 Morgan/Bucher 138

Collins 180 D’Hoop 129 De Cuyper 136 derivatives Teilhaberecht 172 Dienstleistungsfreiheit 46, 121 diplomatischer und konsularischer Schutz 34 Diskriminierungsverbot 41, 150, 171 Drittstaatsangehörige 32, 58 Drittwirkung 37, 84 Elsen 127 Europäische Identität 206 Europäische Kommission/Bundesrepublik Deutschland 138 Europäische Sozialcharta 91 Europäischer Bundesstaat 196 Europäisches Fürsorgeabkommen 89 Europäisches Indigenat 204 Europawahlrecht 32 Familienangehörige 41, 43, 58 Freizügigkeitsrichtlinie 2004/38/EG 82, 105, 187 Gleichbehandlungsanspruch 149 Gravier-Doktrin 21, 47 Grenzen des Aufenthalts 87, 99 Grzelczyk 66, 93

Namensrecht 135,178 Niederlassungsfreiheit 45, 117 ökonomische Auswirkungen 173 Ombudsmann 36 Ordre-Public Vorbehalt 106 Petitionsrecht 36 postnationale Bürgerschaft 203 Pusa 132 Rechtfertigung von Diskriminierungen 176 Schwarz und Gootjes-Schwarz 138 soziale Kompetenzen der EU 161 soziale Leistungen 43, 44, 161 Sozialvorbehalt 87, 92 Staatenbund 194 Staatsangehörigkeit/Staatsbürgerschaft 197 Standesamt Stadt Niebüll 135 Studenten 44, 48, 93, 104, 127, 138, 184 supranationale Organisation 195 Tas Hagen und Tas 137 Trojani 77 Turpeinen 137 Unionsbürger 23, 54

Sachverzeichnis Unionsbürgerfreizügigkeit 60, 124 Unionsbürgerschaft 54, 191 unmittelbare Anwendbarkeit 67 Verfassungsentwurf der EU 81 Verhältnismäßigkeitsgrundsatz 99

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Wijsenbeek 64, 124 Zhu und Chen 55, 201 zwingende Gründe des Allgemeininteresses 110, 146

SUMMARY Within the past years, the European Union citizenship, established 1992 in the frame of the Maastricht Treaty, has developed into an institution of a meaning which the contracting parties have certainly not foreseen. The European Court of Justice has made Art. 18 ECT the base of a General Freedom of Movement Act which is applied to measures that affect the exercise of the respective liberty. Eventually, the European Union citizenship in combination with a general prohibition of discriminatory practices results in a right to equal treatment which most of all deploys its meaning within the social legislation. The present work indicates the enormous practical pertinence of this jurisdiction widely exceeds the respective judicial field. The author analyzes the enacted jurisdiction in an overall context and offers a dogmatic integration. The work’s core is constituted by reflections as to the European Union citizen’s Freedom of Movement Act and the prohibition of restraint included therein as well as the limits of the right of residence and the right to equal treatment within the social law. The author completes her work by addressing the issue of the jurisdiction’s theoretic-constitutional dimensions.

RÉSUMÉ La citoyenneté de l’Union européenne, introduite par le Traité de Maastricht signé en 1992, est devenu au cours des dernières années une institution dont les parties contractantes n’avaient pas imaginé en son temps l’ampleur qu’elle pourrait prendre. La cour de justice Européenne a pris l’article 18 CE comme base d’un droit de liberté général de circulation et de choix de sa résidence qui est appliqué dans des cas entravant l’exercice de ce droit. Car, de la citoyenneté européenne en correlation avec l’interdiction générale de discrimination découle une revendication à l’égalité de traitement, laquelle est dictée avant tout à son tour par le droit social. Le présent exposé montre que la grande relevance pratique de cette jurisprudence dépasse largement ce secteur juridique. L’auteur analyse la jurisprudence en vigueur dans son interaction intégrale et propose une classification dogmatique. Le point central de l’exposé repose sur des réflexions relatives au droit de liberté de circulation et de choix de sa résidence dans le cadre de la citoyenneté européenne et à l’interdiction de restriction qu’il contient, ainsi que sur les limites du droit de séjour et la revendication d’égalité de traitement dictées par le droit social. L’auteur complète l’exposé en abordant une dimension de constitution théorique de cette jurisprudence.