Die Textperson im dokumentarischen Film: Das kreative Werkzeug für fesselnde Filmtexte. Kino - TV - Netz [1. Aufl. 2020] 978-3-658-28455-8, 978-3-658-28456-5

Im dokumentarischen Film – und Film im Netz - agiert der Filmtext dramaturgisch als eine unsichtbare Nebenfigur. Das Pub

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German Pages XV, 366 [374] Year 2020

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Die Textperson im dokumentarischen Film: Das kreative Werkzeug für fesselnde Filmtexte. Kino - TV - Netz [1. Aufl. 2020]
 978-3-658-28455-8, 978-3-658-28456-5

Table of contents :
Front Matter ....Pages I-XV
Front Matter ....Pages 1-1
Warum überhaupt soll da jemand sprechen? (Gregor Alexander Heussen)....Pages 3-14
Wer spricht denn da? Filmtext wirkt als „Jemand“ (Gregor Alexander Heussen)....Pages 15-26
Was macht den Filmtext zum Erzähler? (Gregor Alexander Heussen)....Pages 27-34
Wer soll den Film erzählen? Eine Textperson gestalten (Gregor Alexander Heussen)....Pages 35-38
Wer könnte den Film erzählen? (Gregor Alexander Heussen)....Pages 39-50
Welche Dokumentarischen Textperson-Typen sind günstig? (Gregor Alexander Heussen)....Pages 51-203
Front Matter ....Pages 205-205
Wie soll die Arbeit ablaufen? (Gregor Alexander Heussen)....Pages 207-232
Welche Kriterien führen zur Entscheidung für eine Textperson? (Gregor Alexander Heussen)....Pages 233-249
Wie wird eine Textperson konkret? (Gregor Alexander Heussen)....Pages 251-261
Wie gelingen der Textperson die Verzahnung zum Bild und Spannung bis zum Schluss? (Gregor Alexander Heussen)....Pages 263-297
Welche dramaturgischen Entscheidungen fallen beim Texten? (Gregor Alexander Heussen)....Pages 299-324
Worauf kommt es beim Redigieren an? (Gregor Alexander Heussen)....Pages 325-330
Welche Wirkung entsteht beim Publikum? (Gregor Alexander Heussen)....Pages 331-337
Und jetzt?? (Gregor Alexander Heussen)....Pages 339-340
Back Matter ....Pages 341-366

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Journalistische Praxis

Gregor Alexander Heussen

Die Textperson im dokumentarischen Film Das kreative Werkzeug für fesselnde Filmtexte. Kino – TV – Netz

Journalistische Praxis Reihe herausgegeben von Gabriele Hooffacker, Leipzig, Deutschland Reihe gegründet von Walther von La Roche, München, Deutschland

Der Name ist Programm: Die Reihe Journalistische Praxis bietet ausschließlich praxisorientierte Lehrbücher für Berufe rund um Journalismus und Medien. Praktiker aus Redaktionen und aus der Journalistenausbildung zeigen, wie’s geht, geben Tipps und Ratschläge. Alle Bände sind Leitfäden für die Praxis – keine Bücher über ein Medium, sondern für die Arbeit in und mit einem Medium. Walther von La Roche begründete die Reihe 1975 mit der „Einführung in den praktischen Journalismus“ (heute: „La Roches Einführung in den praktischen Journalismus“). Seit 2013 erscheinen die Bücher bei SpringerVS. Die gelben Bücher mit ihren Webauftritten geben allen, die journalistisch tätig sind oder sein wollen, ein realistisches Bild von den Anforderungen redaktionellen Arbeitens und zeigen, wie man sie bewältigt. Lehrbücher wie „Recherchieren“, „Informantenschutz“, „Frei sprechen“ oder „Interviews führen“ konzentrieren sich auf Tätigkeiten, die in mehreren journalistischen Berufsfeldern gefordert sind. Andere Bände führen in das professionelle Arbeiten bei einem Medium ein (die Klassiker zu Radio-, Fernseh- oder Online-Journalismus). Es gibt Bücher zu journalistischen Techniken („VR-Journalismus“, „Mobiler Journalismus“ oder „Social Media für Journalisten“), und zu Berufsfeldern wie Pressearbeit und Corporate Media („Pressearbeit praktisch“) oder redaktionellem Arbeiten für Unternehmen oder Institutionen („Gebrauchstexte schreiben“). Jeden Band zeichnet ein gründliches Lektorat und sorgfältige Überprüfung der Inhalte, Themen und Ratschläge aus. Sie werden regelmäßig überarbeitet und aktualisiert, oft in weiten Teilen neu geschrieben, um der rasanten Entwicklung in Journalismus und Medien Rechnung zu tragen. Viele Bände liegen inzwischen in der dritten, vierten, achten oder noch höheren Auflagen vor wie La Roches „Einführung“ selbst. Allen Bänden gemeinsam ist der gelbe Einband. Deshalb ist die Reihe unter Lehrenden, Studierenden und angehenden Journalistinnen und Journalisten auch als „Gelbe Reihe“ bekannt.

Weitere Bände in der Reihe http://www.springer.com/series/11722

Gregor Alexander Heussen

Die Textperson im dokumentarischen Film Das kreative Werkzeug für fesselnde Filmtexte. Kino – TV – Netz

Gregor Alexander Heussen Darmstadt, Deutschland Illustrationen: Karla Marlene Grosbüsch, Darmstadt, Deutschland

ISSN 2524-3128 ISSN 2524-3136  (electronic) Journalistische Praxis ISBN 978-3-658-28456-5  (eBook) ISBN 978-3-658-28455-8 https://doi.org/10.1007/978-3-658-28456-5 Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich vom Urheberrechtsgesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlags. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von allgemein beschreibenden Bezeichnungen, Marken, Unternehmensnamen etc. in diesem Werk bedeutet nicht, dass diese frei durch jedermann benutzt werden dürfen. Die Berechtigung zur Benutzung unterliegt, auch ohne gesonderten Hinweis hierzu, den Regeln des Markenrechts. Die Rechte des jeweiligen Zeicheninhabers sind zu beachten. Der Verlag, die Autoren und die Herausgeber gehen davon aus, dass die Angaben und Informa­ tionen in diesem Werk zum Zeitpunkt der Veröffentlichung vollständig und korrekt sind. Weder der Verlag, noch die Autoren oder die Herausgeber übernehmen, ausdrücklich oder implizit, Gewähr für den Inhalt des Werkes, etwaige Fehler oder Äußerungen. Der Verlag bleibt im Hinblick auf geografische Zuordnungen und Gebietsbezeichnungen in veröffentlichten Karten und Institutionsadressen neutral. Lektorat: Barbara Emig-Roller Springer VS ist ein Imprint der eingetragenen Gesellschaft Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH und ist ein Teil von Springer Nature. Die Anschrift der Gesellschaft ist: Abraham-Lincoln-Str. 46, 65189 Wiesbaden, Germany

Vorwort

Ein Nachmittag Natürlich ist es mit der Textperson genauso wie mit allen Entdeckungen: Das Entdeckte war lange vorher schon da. Aber es wurde nicht gesehen, nicht erforscht und nicht bewusst genutzt. Und wie viele Entdeckungen beginnt auch diese Geschichte mit einem Misslingen. Ein Seminarraum im Untergeschoss, ein heller Nachmittag, warm, es war schon Sommer, zwölf Redakteurinnen und Redakteure ganz unterschiedlicher Fernseh-Redaktionen, die dokumentarisch-journalistisch arbeiten. „Die Film-Abnahme langer Formate“ war seit zwei Tagen das Thema. Gerade haben wir den Film einer der Redaktionen angeschaut: über „Pflegemütter“, eine der damals zahlreichen Sozialdokumentationen. Die übliche lange Pause, bis jemand beginnt; und er formuliert seinen Zorn. Andere folgen: Worte im Sinn von „geht gar nicht“, „wie kann man nur?“, „die Frauen werden fertig gemacht“, „worauf stützt sich die Recherche?“, „Einseitig“, „kann man so nicht senden“ prasseln in den Raum. Elf gegen Eins. Die verantwortliche Redaktion ist entsetzt. Der Film hatte Preise gewonnen. War mehrfach gesendet worden. Als Seminarleiter war ich in der Klemme. Die Reaktion der Teilnehmer hatte mich überrascht. Ich hatte viele intensive Szenen in dem Film gesehen, viele überzeugende Situationen, eine im Grunde gut funktionierende Geschichte. Was in dem Film könnte der Grund gewesen sein für diese heftige allgemeine Reaktion? Und wie bekäme ich die Teilnehmenden dazu, wieder aufeinander zu hören? Ich schlug vor, die ersten Minuten des Films nochmals anzuschauen und sich die eigenen Emotionen zu notieren. Ich selbst notierte mir alle Text-Formulierungen, die mir bekannt vorkamen. Denn ich hatte selbst Filme mit sozialen Themen gemacht und kannte mich – zufällig – in diesem Milieu gut aus. V

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Vorwort

Meine Wörterliste wirkte auf mich wie ein Flash: Sie klang wie ein Auszug aus Akten eines Jugendamtes, mit den dort üblichen fachlichen, aber herablassend klingenden Formulierungen über Personen und Lebensumstände. Ich kannte solche Formulierungen aus vielen Recherchegesprächen und Dokumenten. Das Gespräch im Seminarraum zeigte, dass nicht die Bilder, sondern die Wörter die Beteiligten zur Abwehr gereizt hatten. Und dann stellte sich heraus, dass die Autoren* des Films ausgebildete Sozialpädagogen waren. Denen war nicht aufgefallen, und der Redaktion auch nicht, dass die eigene Fachsprache mit ihren herablassenden Infoladungen als Filmtext viele Zuschauer zum Zorn reizen könnte. Seit jenem Nachmittag wollte ich dieses Phänomen entschlüsseln: Die Wirkung einer Filmtext-Sprache, die das Publikum unabsichtlich in Wut oder in Langeweile versetzen kann. Denn wenn sie Wut oder Langeweile weckt, könnte sie ja auch Lust und Vergnügen wecken, ernsthaftes Interesse und zufriedenstellendes Verstehen. Dachte ich. Und hoffte, etwas zu finden, das man als Text-Werkzeug benutzen könnte. Die Zeit der Suche wurde lang und war gefüllt mit Gesprächen, Fragen und wissenschaftlicher Lektüre. Mit Ausprobieren und Verwerfen. Daran waren viele beteiligt: die Volontäre in Ausbildungskursen und die Beteiligten in Seminaren der ARD.ZDF medienakademie und deren Vorgängerin, der ZFP; und auch die Autoren* und Redakteurinnen*, die ich in Redaktions-Coachings dokumentarisch arbeitender Redaktionen erleben konnte. Sehr wichtig wurden die Filmemacher*, deren Werke ich angeschaut habe, die ich aber nie kennenlernen konnte. Sie sind unsichtbar mit ihrer Kreativität, deren Scheitern und Gelingen an meinen Erfahrungen und Erkenntnissen beteiligt. Ohne viele Filme anzuschauen hätte ich das Potenzial der Textperson und des Filmtextes nicht ausreichend erfassen können. Und Michael Eimler hat mich in zwölf Jahren der Ausbildungs-Zusammenarbeit beim NDR dazu gezwungen, sprachlich genau zu sein; er hat Anwendungs-Ideen beigesteuert und mich auf Lücken aufmerksam gemacht. Das Ergebnis – nach Studien, Experimenten, Erprobung mit jungen und älteren Autorinnen und Autoren, mit Redakteurinnen und Redakteuren, mit größerer Einsicht und Sicherheit als damals, steht in diesem Buch.

Überlegung Die Motive von Zuschauern sich für einen Film zu interessieren – im Programm oder im Netz – reichen von Interesse an einem Thema, der Lust, einer Präsenterin* zu folgen, bis dazu, einfach sich berieseln zu lassen. Die Fülle solcher Motive ist als Mediennutzertypologie und Darstellung von Erlebnisfaktoren ausführlich er-

Vorwort

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forscht. Die einzelnen Filmerzähler, die Textpersonen, sind allein wohl nur selten ein hinreichendes Motiv, einen Film anzuschauen oder anzuklicken. Sobald aber ein Zuschauer in einen Film hineingerät oder ihn bewusst eingeschaltet hat, wird ihn die Textperson stark beeinflussen in seiner Reaktion und darin, ob er dranbleibt. So genannte schwierige Themen werden durch eine passende Textperson für Zuschauer attraktiver, als sie es sonst wären. Und die leichten Themen werden variantenreicher. Und eine unglücklich gewählte Textperson kann die gesamte vorherige Arbeit von Autorinnen* zerstören und filmische Misserfolge begründen. Und so könnte für Zuschauer ein Motiv hinzukommen: nach Filmen solcher Autoren zu suchen, die ihre Geschichten im Filmtext lebendig und abwechslungsreich erzählen. Im Netz existieren neben den Mediatheken inzwischen Plattformen für Dokumentarisches. Alle dramaturgischen Werkzeuge jedoch taugen auch zum Lügen; ebenso die Textperson. Dramaturgisch wirksam gemachte Fake News und Gerüchte, rüpelhafte Provokationen, Schmähungen und das Verkünden von „alternativen Fakten“ sind derzeit ein ausufernder Teil öffentlichen Kommunikation, auch in der Politik. Sollten wir deshalb aufhören, dokumentarische Geschichten mit allen Mitteln spannend zu erzählen? Den dramaturgisch effektvollen öffentlichen Lügen lässt sich mit lebensrealen Fakten allein offensichtlich nicht wirksam begegnen. Medienprofis können auf Lebensrealität begründete, genau recherchierte, aber dramaturgisch wirksame Gegen-Erzählungen schaffen. Vom Regionalmagazin bis zum großen Dokumentarfilm. Das Publikum soll nicht belogen werden. Denn gerade Medienprofis wissen aus ihrer Recherche-Erfahrung, dass, um die Welt zu verstehen, seit alters her Geschichten am besten taugen, weil sie Emotion und Argumente auf einzigartige Weise verbinden. Das Publikum vertraut auf Dauer denjenigen Erzählern* und Textpersonen, die ihm nichts vorspielen, vielmehr den Raum zum eigenen Urteil öffnen. Dann können Menschen auf Dauer Echt von Unecht und Zutreffend von Vorgespiegelt unterscheiden. Aus Erfahrung mit Medien aller Art. Dies zu verwirklichen, fällt naturgemäß nicht so leicht, wie es sich schreibt, weil wir alle derzeit die Werbesprache bereits mit der Muttermilch kennenlernen und selbst als Profis inzwischen mit vielerlei inhaltsleeren Sprachformeln hantieren, woher auch immer wir solche übernommen haben. Sie schreiben sich leicht in rascher Routine im Zeitdruck.

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Vorwort

Textpersonen, die ihre erzählerische Kraft aus der Recherche und dem Kontakt mit der Lebensrealität ziehen, sind eine Chance, viele der eigenen Sprach-Stanzen und journalistischen Leerformeln in die Tonne zu befördern. Und die interessegeleiteten Sprechblasen anderer öffentlich Auftretender platzen zu lassen. Zur gesellschaftlichen Rolle dokumentarischer Autoren* und seriöser Medien gehört die Lüge nicht. Das Publikum könnte durch das erzählerische Potenzial der Fakten auf Dauer besser überzeugt werden; es muss nicht dem Pomp inhaltsleerer Ankündigungen und herablassender Provokationen folgen. Zwei Jahrhunderte lang hat das bereits geklappt, seit knapp 100 Jahren auch im Fernsehen.

Bemerkungen Dieses Buch sieht aus wie ein Buch, ist aber ein Raum zum Umherspringen. Man kann es natürlich von vorn nach hinten lesen. Ob das aber wirklich Vergnügen bereitet, wie bei einem Roman? Da bin ich nicht sicher. Kapitel 6 ist ein Lexikon, aus dem man sich die verschiedenen Typen von Textpersonen herausfischen und sie einzeln kennenlernen kann. Kapitel 7 zeigt Arbeitsabläufe, die, je nach Berufserfahrung, mancher Leser* kennen wird. Aber vielleicht konnte er oder sie sich noch nicht eingehend damit befassen, was jeder Arbeitsabschnitt der Filmproduktion für den Filmtext bedeutet und wie man ihn nutzen kann. Vielleicht also fängt jemand mit dem Schlusskapitel an und springt dann in ein Kapitel, das ihm gerade anziehend erscheint. Ich stelle mir Herumspringen als vergnüglich vor, wenn man am Ende erfasst, wie alles zusammenhängt. Textperson und Filmtext benötigen Beispiele. Ich habe als Filme nur Positiv-Beispiele angegeben von Autoren, die intuitiv Textpersonen formuliert haben und solchen, die das Werkzeug „Textperson“ in der Ausbildung oder in Seminaren kennenlernen konnten. Die Filme sind entweder auf DVD/Blu-ray oder im Netz verfügbar. Wenn kein Link angegeben ist, konnte ich keinen finden; oder die Filme stehen nur im Archiv eines Fernsehhauses. Links ins Netz haben bei Abschluss des Manuskripts alle funktioniert. Dass sie auch auf Dauer erreichbar sind, lässt sich nicht garantieren. Oft aber lohnt sich die Suche dennoch; oft stößt man auf einen neuen Link. Text-Zitate habe ich so verfremdet, dass man die wirklichen Autoren nicht erkennt, denn auf das Wiedererkennen kommt es in unserem Zusammenhang nicht an. Einige Textzitate habe ich als Beispiele anhand von echten Filmsituationen

Vorwort

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formuliert. Textbeispiele stehen kursiv und in Anführung, damit sie sich vom Grundtext abheben. In den Film- und Video-Gewerken arbeiten Menschen aller Geschlechter; in manchen deutlich mehr Frauen als Männer, auch in solchen, die vor 50 Jahren noch reine Männerberufe waren. Dem kann der sprachliche Ausdruck im Deutschen nur sehr mühsam gerecht werden. Ich nutze, auch wenn es beim Lesen leicht stören kann, die männliche oder weibliche Berufsbezeichnung abwechselnd. Und zeige mit dem * am Wort-Ende (Redakteur* Redakteurin*), dass immer alle dort tätigen Menschen gemeint sind. „Dokumentarischen Film“ nenne ich jede Art dokumentarischer Darstellung in Film oder Video, jeder Länge und auf jedem Ausspielweg: Kino, Fernsehen, Netz. Auch die dokumentarische Filmformen (Genre) setzen der Textperson keine Grenze. Ob Nachricht, Dokumentation oder Porträt, ob „Langer Dokumentarfilm“ oder Unternehmensfilm, ob Reportage oder Kunsterlebnis-Bericht: alle Filmformen profitieren, sobald man den Filmtext ebenso kreativ und bewusst gestaltet wie Bild und Sounddesign. Der „Große Dokumentarfilm“ – oft ein O-Ton-Film, aber nicht notwendigerweise – ist dann ein wichtiges Mitglied im Club des Dokumentarischen Films. Videos, die ausdrücklich als Kunstwerk beabsichtigt und gezeigt werden, werden sich auch außerhalb der hier geschilderten Arbeitsweisen bewegen und ebenfalls ihr Publikum finden.

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Inhalt

Teil 1 Textperson und Filmtext planen 1 Warum überhaupt soll da jemand sprechen? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3 1.1 Filmtext im dokumentarischen Team . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3 2 Wer spricht denn da? Filmtext wirkt als „Jemand“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15 3 Was macht den Filmtext zum Erzähler? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 27 3.1 Wie gesprochen wird . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 28 3.2 Was gesprochen wird . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 31 4 Wer soll den Film erzählen? Eine Textperson gestalten . . . . . . . . . . . . . . . . 35 5 Wer könnte den Film erzählen? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 39 5.1 Textperson-Typen und die konkrete Textperson . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 40 5.2 Die Typ-Entscheidung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 43 5.3 Der Sonderfall: Sichtbare Textperson . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 48 6 Welche Dokumentarischen Textperson-Typen sind günstig? . . . . . . . . . . 51 6.1 Melden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 52 6.1.1 Bote* . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 52 6.1.2 Protokollant*/Protokoll . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 55 6.1.3 Chronist* . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 58 6.2 Beobachten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 61 6.2.1 Freiwillige Beobachter: Nachbar*, Kollegin*, Freund* . . . . . . . . . . 64 6.2.2 Qualifizierte Beobachter* . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .65

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Inhalt

6.3 Suchen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 69 6.3.1 Rechercheur* / Detektiv* . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 71 6.3.2 Forscher* . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 74 6.3.3 Entdecker* . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 77 6.3.4 Student* . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 79 6.3.5 Kriminalbeamtin*/Polizist*/Kontrolleur* . . . . . . . . . . . . . . . . . . 81 6.3.6 Anthropologe*/ Ethnologe* . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 86 6.4 Argumentieren / Plädieren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 90 6.4.1 Staatsanwalt* . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 94 6.4.2 Strafverteidiger* . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 96 6.4.3 Zivilanwalt* . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 98 6.5 Begleiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 99 6.5.1 Freiwillige Begleiter* . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 102 6.5.2 Professionelle Begleiter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 104 6.5.3 Familiäre Begleiter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 106 6.5.4 Journalistischer Begleiter* . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 109 6.6 Begegnen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 111 6.6.1 Zufällig Begegnen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 113 6.6.2 Besucher*/Gast* . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 116 6.6.3 Professionelle Besucher . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 119 6.6.4 Biograf . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 120 6.6.5 Reisende* . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 123 6.7 Sammeln, ordnen, klären . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 126 6.7.1 Registrator* . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 127 6.7.2 Fachperson* . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 131 6.7.3 Fremdenführer* (Ausstellung / Unternehmen / Stadt / Reise) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 133 6.7.4 Unterhaltsame Lehrperson . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 135 6.8 Gewichten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .139 6.8.1 Gutachter* / Sachverständige* . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 143 6.8.2 Tester* . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 145 6.9 Meinen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 148 6.9.1 Kommentator* . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 152 6.9.2 Anmerker* . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 155 6.9.3 Fan* / Bewunderer* / Liebhaber* . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 156 6.9.4 Kumpel* . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 158 6.9.5 Plauderer* . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 161 6.9.6 „Klatsch & Tratsch“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 163

Inhalt

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6.10 Nachdenken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 165 6.10.1 Innerer Monolog /Gedankenstrom . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 165 6.10.2 „Engel auf der Wolke*“ / „Die Drohne“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 167 6.11 Öffentlich reden – Festredner, Geburtstagsredner, Trauerredner . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 171 6.12 Überreden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 175 6.12.1 Animateur* . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 175 6.12.2 Provokateur* . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 177 6.13 Imitieren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 179 6.13.1 Kurzbotschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 180 6.13.2 Offener Brief / persönlicher Brief an … . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .183 6.13.3 Sprechende Betriebsanleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 184 6.13.4 Werbung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 185 6.13.5 Katalog . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 186 6.13.6 Stil-Imitation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 187 6.13.7 Jargon . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 188 6.14 Sich verwandeln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .191 6.14.1 Gegenstand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 193 6.14.2 Tier . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 194 6.15 Das „Ich“ und das „Wir“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 195 6.16 Satire und Comedy . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 201 Teil 2 Textperson und Filmtext schreiben 7 Wie soll die Arbeit ablaufen? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 207 7.1 Exposé und Treatment – Textvorbereitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 213 7.2 Dreh – Textideen und Textperson erproben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 215 7.3 Beim Filmschnitt – Vorläufige Textgestalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 216 7.4 Nach dem Filmschnitt – Filmtext und Textperson . . . . . . . . . . . . . . . . 219 7.5 Welchen Nutzen bringt ein formatiertes Filmtext-Manuskript? . . . . . 221 7.6 Die Sprecher-Entscheidung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 226 7.7 Zeitaufwand für den Filmtext . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 228 7.7.1 Deadline und Zeitlauf für den Filmtext . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 229 7.8 Sprachaufnahme und Endmischung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 231 8 Welche Kriterien führen zur Entscheidung für eine Textperson?. . . . . . . . .233

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9 Wie wird eine Textperson konkret? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 251 9.1 Das Textperson-Profil . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 252 9.2 Der FILMTEXT-INHALT . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 255 9.3 Fünf Schritte zur Formulierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 258 10 Wie gelingen der Textperson die Verzahnung zum Bild und Spannung bis zum Schluss? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 263 10.1 Die Verzahnung von Textperson und Bild über Infoladungen . . . . . . 265 10.1.1 Infoladungen von Bildern und Szenen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 268 10.1.2 Infoladungen von Wörtern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 272 10.1.3 Verzahnung über Infoladungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 273 10.2 Die Spannung durch Rote Fäden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 276 10.2.1 Rote Fäden aus Erfahrung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 280 10.2.2 Rote Fäden im Erleben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 282 10.2.3 Rote Fäden auf Grund von Regelungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 283 10.2.4 Rote Fäden als Denkwege . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 285 10.3 Die Spannung zwischen Antext und O-Ton . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 290 10.3.1 O-Ton-Sorten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 292 10.3.2 Das Vorgehen beim Antexten („Der Viererschritt“) . . . . . . . . . 294 11 Welche dramaturgischen Entscheidungen fallen beim Texten? . . . . . . . . 299 11.1 Entscheidungen zur Steuerung des Films . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 299 11.2 Der erste Satz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 303 11.3 Der Schluss-Satz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 308 11.3.1 Die Schluss-Satz-Sorten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 312 11.3.2 Eine höhere Abstraktionsebene ansteuern: Feststellung, Zusammenfassung, Aufzählung . . . . . . . . . . . . . . 312 11.3.3 Einen Punkt in der Zukunft setzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 314 11.3.4 Ein Fazit ziehen: Gewichtung, Einschätzung, Urteil, Wunsch, Forderung, Aufschrei . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 316 11.3.5 Einen Nachklapp anhängen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 319 11.3.6 Ausdrücklich „den Schluss setzen“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 321 12 Worauf kommt es beim Redigieren an? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 325 12.1 Der Autoren-Blick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 326 12.2 Der Redakteurs-Blick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 328

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13 Welche Wirkung entsteht beim Publikum? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 331 13.1 Eine Textperson lässt Haltung erkennen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 331 13.2 Dramaturgische Wirkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 335 13.3 Informationswirkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 336 13.4 Wirkung auf die Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 337 14 Und jetzt?? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 339 Anhang Anhang 1: Glossar + Werkzeug . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 341 Anhang 2: Quellen + Anmerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 362

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Teil 1 Textperson und Filmtext planen In diesem Teil wird klar werden, wie Filmtext und Textperson auf ein Publikum wirken. Es zeigt sich, dass geschriebener Filmtext als gehörter Text JEMAND ist, dessen Kraft zu unterschätzen in die Irre führt. Regeln werden deutlich, die das informativ-journalistische Zusammenspiel der Textperson mit Bild, Geräusch, Musik, O-Ton und Schrift charakterisieren. Und es kommt Lust auf, zu erfahren, über was man als Autor* nachdenken sollte, welche Werkzeuge man als Autorin* nutzen könnte und auf welche Weise dokumentarische Filme Attraktivität mit inhaltlicher Kompetenz verbinden. Teil 1 Textperson und Filmtext planen

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Warum überhaupt soll da jemand sprechen?

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1 Warum überhaupt soll da jemand sprechen?

Teil 1 Textperson und Filmtext planen

Zusammenfassung

Durch Text in dokumentarischen Filmen kann in den meisten Fällen viel dichtere und differenzierte Information zum Zuschauer kommen als durch Bild und O-Ton allein möglich wäre. Der Filmtext ist ein Mitglied im Darsteller-Team. Er erweitert die filmischen Gestaltungsmöglichkeiten.

Schlüsselwörter

Filmtext, Off-Text, Dokumentarfilm, informierende Darstellungsebenen im Zusammenspiel, Fernsehbericht, Fernsehreportage, Darsteller-Team, „Die Information“, informationelle Dichte, O-Ton Film, Grenzen von Bild, Geräusch, O-Ton, Text als steuernde filmische Gestaltungsebene, Unterhaltung im dokumentarischen Film

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Filmtext im dokumentarischen Team

Charlie Chaplin wurde hellwach und zugleich unglücklich, als er bemerkte, dass 1927 der Film „Der Jazzsänger“, von Alan Crosland, mit Musik und lippensynchronem Dialog ein Publikumserfolg wurde. Er fürchtete den Niedergang von pantomimisch arbeitenden Schauspielern und der Kraft von Bildern und Szenen. Erst neun Jahre später, nachdem es eine sichere Tontechnik gab, 1936, brachte er „Modern Times“ mit Geräuschen, Musik und Dialogen ins Kino. Er hatte bemerkt, dass Ton die Bilder bereicherte und das Publikum mehr befriedigte. Denn aufgrund des Tons © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 G. A. Heussen, Die Textperson im dokumentarischen Film, Journalistische Praxis, https://doi.org/10.1007/978-3-658-28456-5_1

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und der Dialoge konzentrierten sich Zuschauer intensiv auf das Filmgeschehen und konnten der Erzählung besser folgen. Für den dokumentarischen Film war die Entdeckung des Geräuschs als filmische Darstellungsebene noch wichtiger. Denn erst durch einen realistischen Ton – vom Drehort oder nachvertont – konnten Filmemacher* das Publikum in dokumentarische Geschichten so hineinziehen, als seien sie unmittelbare Lebensrealität. Musik war als Bildbegleitung zur emotionalen Verstärkung der Stummfilme wichtig. Aber sie konnte keine so fesselnde Wirkung entfalten wie das reale Geräusch. Erst Jahrzehnte später entdeckte man die vielfältigen informativen Wirkungen der Musik im Dokumentarischen und ihre Kraft als zweite Ton-Darstellungsebene. Der O-Ton als gesprochenes Wort der im Film handelnden Personen kam als dritte Ton-Darstellungsebene hinzu: das Zeugnis der Authentizität und Wahrhaftigkeit eines Dokumentarischen Films; in vielen Fällen das inhaltlich dominierende. Ob in dokumentarisch-journalistischen Filmen Bilder, Geräusche, O-Töne, Musik und Schrift ausreichend und auf filmische Weise die notwendige Information liefern könnten, ist eine der Situation Charlie Chaplins in den 1930-er Jahren vergleichbare, sehr ähnliche Frage. Denn tatsächlich ist der Filmtext zunächst nur ein zusätzliches Geräusch, das in vielen Fällen heftig stören kann, wie jeder weiß, der im Fernsehen, im Kino oder im Netz Dokumentarisches anschaut. Filmtext bildet die vierte Ton-Darstellungsebene. Im Dokumentarischen Film entsteht „die Information“ im Zusammenspiel von einer visuellen und vier akustischen Informationsquellen; zusätzlich durch Schrift als Verbindung von Visuellem und Text-Inhalt. Bild/Szene liefert, was zu sehen und dort zu verstehen ist, Geräusch, Musik, O-Ton und Filmtext liefern, was man hören und verstehen kann; O-Ton und Schrift liefern, was man zugleich sehen, hören und verstehen kann. Zusammen wird eine hohe informationelle Dichte möglich, und sie wird dichter und zugleich transparenter, wenn man den Filmtext passend gestaltet. Dass viele dokumentarische Filmautoren* den O-Ton-Film als ihre wünschenswerte Arbeitsform betrachten, zeugt von ihrem Vertrauen auf die erzählerische Kraft von Filmen ohne Text. O-Ton-Filme müssen alle notwendigen Informationen und alle dramaturgisch relevanten Sachverhalte in Szenen, O-Tönen und allenfalls einigen Schrift-Elementen zeigen. Sie können so – vor allem in langen Formaten – große erzählerische Intensität entfalten. Sie werden auf jedem Filmfestival bewundert und sind auch im Fernsehen und im Netz hoch respektiert. O-Ton Filme stellen deshalb besondere Anforderungen an die Autorinnen* und Teams und an deren dramaturgisches und gestalterisches Können. Und an ihren

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Stoff, denn der muss die informationsdichten Szenen hergeben, welche die Erzählung tragen. O-Ton-Geschichten müssen sehr klar strukturiert und unkompliziert sein, damit das Publikum einen steuernden Filmtext nicht vermisst. Betsy West, Julie Cohen „RBG – Ein Leben für Gerechtigkeit“, USA 2018, 98 Min.; DVD / Blue-ray. Der O-Ton-Film über das Leben der Bundesrichterin Ruth Bader-Ginsburg erzeugt Spannung und intensive Information durch das im Schnitt erzeugte dichte Zusammenspiel von Bild, Ton und O-Ton. Und natürlich durch den scharfen Humor der handelnden Hauptfigur. Bild, Ton und Schnitt bleiben aber immer mehrdeutig in Bezug auf ihren Informationsgehalt. Insoferm stimmt auch „Ein Bild sagt mehr als tausend Worte“. Bilder haben für die jeweilige Information und deren Entwicklung nur eine eingeschränkte Funktion. Welche das ist, wird aus dem Bild allein aber noch nicht klar. Geräusche verorten und erden zwar die Szenen, sind aber gerade deshalb noch nicht zielführend für den Informationsfluss im gesamten Filmverlauf. O-Töne lassen dem Publikum auch im Zusammenspiel mit Bild und Geräusch noch einen großen Interpretationsraum, den auch Schrift nur dann fokussieren kann, wenn die Gesamthandlung inhaltlich übersichtlich bleibt. Diese grundsätzliche Mehrdeutigkeit von Bild und Ton und zeitliche oder inhaltliche Sprünge von Szenen erfordern sogar in fiktionalen Filmen zuweilen einen Erzähler-Filmtext. Adam McKay „Vice“ USA 2018, 132 Min. DVD Die Geschichte von Dick Cheney, dem Vizepräsidenten von George W. Bush. Der Film hat einen im Film wiederholt sichtbaren, aber nicht klar definierten Filmtext-Erzähler. Der Filmtext ist nötig, weil die biografischen Szenen allein – in diesem Fall – den Erzähl-Zusammenhang nicht herstellen können. Text als filmische Gestaltungsebene wird unerlässlich in den meisten dokumentarisch-journalistischen Filmen für Fernsehen und Netz. Denn die Bedeutung der in Bild und Ton enthaltenen Informationen für die jeweilige Geschichte lässt sich erst durch den Filmtext erschließen und steuern. Politik, Wirtschaft, Kultur und Gesellschaft, Stadtporträt und Reise sind inhaltlich komplizierte Filmstoffe und sie sind – bis auf Unfälle, Katastrophen, Skandale oder Klatsch – nicht von sich aus bereits so bildstark und personenattraktiv, dass sie als O-Ton-Filme ein Publikum zufriedenstellen würden. Sie sind nicht unmittelbar unterhaltsam. Viele Themen sind spröde, scheinbar weit weg vom Alltag, auch wenn sie diesen betreffen und Alltags-Entscheidungen der Zuschauer erfordern. Das Publikum jedenfalls bevorzugt Krimis, Fußball und Unterhaltungssendungen gegenüber gesellschaftlich relevanten 5

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Themen, wie man jedes Jahr in der Statistik der meistgesehenen Fernsehsendungen – online und offline – erkennen kann. Dokumentarisch-journalistische Filme aber wollen und sollen – als Teil der öffentlichen Kommunikation – den Zuschauern die Gesellschaft in der sie leben und die dort öffentlich handelnden Personen möglichst gut verstehen lassen. Filme sollen dem Publikum ermöglichen, Personen und Sachverhalte eigenständig zu beurteilen und daraufhin handeln zu können. Das kann gelingen, wenn dokumentarische Filme diese durchaus drögen Inhalte auf dramaturgisch attraktive, also unterhaltsame, Weise präsentieren. Denn Menschen wollen, anders als viele journalistischen Autoren* denken, sich nur dann mit Fakten beschäftigen, wenn diese sie emotional fesseln. Unterhaltung ist also nicht nur das, was Unterhaltungssendungen bewirken, sondern alles, was Menschen in Spannung versetzt, in ihnen das Vergnügen an Mehr-Wissen anregt und sie auf neue Ideen bringt. Die Forderung nach Unterhaltung dieser Art betrifft die Mehrheit aller dokumentarischen Filme im Fernsehen, von der Tagesmeldung bis hin zur ausgefeilten historischen Hintergrund-Dokumentation mit computergenerierten Bildern (CGI) und Spielszenen (Reenactements), und alle Filme in dokumentarisch-journalistischen Magazinen und auf Lang-Format-Sendeplätzen. Gerade die Filme im Dokutainment, die leichten Geschichten von Landfrauen beim Wettkochen oder Teenies bei der Sonntagsübung der Freiwilligen Feuerwehr wollen und sollen unterhaltsam sein, aber zugleich inhaltsintensiv. Unterhaltung im Dokumentarischen entsteht dann, wenn ein Film die Zuschauer zu eigenen inneren Aktivitäten und Vorstellungen aktiviert; und wenn diese Vorstellungen auf die geschilderte Lebensrealität und die der Zuschauer zutreffen. Menschen erleben auch ernste Dinge und komplizierte Sachverhalte als unterhaltsam, wenn sie dabei innerlich aktiv werden können. Um dieses Ziel zu erreichen, braucht man neben genauer Kamera und präzisem Ton einen inhaltlich und dramaturgisch passenden Filmtext. Ohne Filmtext würde das Publikum diese Filme nicht in ihrer Informationsabsicht verstehen und ihre Erzählweise nicht genießen können.

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Ein Film arbeitet wie ein Basketballteam. Jedes Teammitglied ist deutlich anders als alle anderen. Jedes hat spezifische Fähigkeiten. Der Filmtext ist der Team-Captain, der mit Taktik das Spiel steuert und die Fähigkeiten der Mitspieler anspielt, so dass sie hervorragen. Im Zusammenspiel können sie genügend Körbe werfen, um zu gewinnen. Einige davon wirft auch der Spieler „Filmtext“.

Im dokumentarischen Film ist der Text Teil eines Informationsteams. Im Radio dagegen ist der Text überwiegend alleine und muss über den journalistischen Inhalt hinaus auch die Strukturierung des Radiobeitrags liefern. In der Zeitung wiederum bleibt Text meist der einzige Informationsträger. Das Bild liefert visuelle Ergänzungen oder schmückt die Seite. Im Netz hat Text ganz unterschiedliche Rollen: er enthält – ähnlich wie in der Zeitung – die Information; oder er wirkt wie ein Plakat als Hingucker und Anreger; oder als Bildunterschrift wie ein Erklärer oder Kommentar. Oder er kommt – in einem Video – in die gleiche Funktion wie im dokumentarischen Film.

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Das filmische Informationsteam besteht aus Bild/Szene, Geräusch, O-Ton, Musik, manchmal auch Schrift, und aus Filmtext, verfügt so über fünf Erzähler, manchmal auch über sechs. Unter diesen ist der Filmtext zentral, weil er die Bedeutung von Bild und Ton für die jeweilige Geschichte klärt und den Film in Erwartung und Intensität steuert. Wie das im Einzelnen passiert, wird später klar werden. Auf Grund der Teamleistung von Bild, Ton und Text entstehen der journalistische Inhalt, die dokumentarische Authentizität und die Plausibilität von Sachverhalten und Darstellung. Deren Zusammenspiel lässt dasjenige konkret werden, was man umgangssprachlich und professionell als „die Information“ bezeichnet. Im Zuschauer* wird eine Vorstellung von den gezeigten Sachverhalten und Personen geweckt. Nach diesen Vorstellungen urteilen und handeln Menschen. Das wird täglich deutlich in unseren Urteilen über Geschehnisse und Vorhaben außerhalb unserer unmittelbaren Wahrnehmung (z. B. Politik, Entwicklungshilfe, Kultur, Sport). Und auch in persönlichen wirtschaftlichen Entscheidungen. Es sind nicht die Fakten, die uns entscheiden lassen. Es sind die auf Fakten basierenden, in Bildern, Tönen und Text dargestellten unterschiedlichen Vorstellungen, die uns einen Deutungsrahmen der Fakten liefern und uns argumentieren und handeln lassen. Irritierenderweise wecken Fake News und Arrangiertes in gleicher Weise Vorstellungen wie recherchierte und kontrollierte Fakten. Aus Fake News entstandene Vorstellungen entsprechen aber nicht mehr der Lebensrealität. Deshalb gewinnen in der öffentlichen Kommunikation die Glaubwürdigkeit und die Transparenz, die Authentizität und die Wahrhaftigkeit an Gewicht, weil die Fakten allein eben noch keine zutreffende Vorstellung ermöglichen, auch wenn ein Film-Bild real aussieht und ein Filmtext nüchtern klingt. Wie Zuschauer in Europa Militäreinsätze in Afghanistan beurteilen, hängt wesentlich von den Vorstellungen ab, die sie sich durch Medien verschaffen, auch durch dokumentarische Filme. Sie waren selbst nicht dort. Ob Zuschauer in Hamburg südbadische Landfrauen für kompetente Hof-Unternehmerinnen halten, hängt auch davon ab, welche Vorstellungen sie von diesen Frauen aus einer nachmittäglichen Doku-Serie erhalten, in der es um ein Wettkochen geht. Jede filmische Darstellungsebene kann das ihr Mögliche zur Information leisten; und alle gemeinsam „verantworten“ das Ergebnis. Das gelingt besonders überzeugend, wenn Filmautorinnen* die spezifischen Informations-Möglichkeiten und Informationsgrenzen der Darstellungsebenen nutzen. Wir betrachten die sechs

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filmischen Darstellungsebenen – das Informationsteam – hier nur unter dem Aspekt ihrer Informationskraft, ihrer Informationsgrenze und ihrer Aussagesorte: • Filmbilder zeigen etwas und behaupten: „Das ist…“ Sie beantworten die unausgesprochene Frage des Publikums „Was ist das?“ durch die Behauptung „das ist…“ und „so sieht es aus…“. Wir sehen und verstehen Bilder – und reagieren auf sie – unabhängig davon, ob sie tatsächliche oder inszenierte Geschehnisse zeigen, ob sie unmittelbar aufgenommen oder auf dem Computer entstanden sind. Fotos und Filmbilder sind grundsätzlich noch keine Beweise. Jeder Profi weiß, was Bildbearbeitungsprogramme leisten können und wie schwierig es ist, ein Originalbild als solches zu erkennen und als glaubwürdige Information einzuschätzen. Damit Filmbilder in ihrer Aussage als Beweise funktionieren können, müssen sie in einer den Beweis erfordernden Stelle im Film stehen und der Weg dorthin muss plausibel sein. Als Aussage bleiben die Bild-Behauptungen mehrdeutig. Denn es ist allein auf Grund des Bildes noch nicht klar, welches Gewicht und welche Funktion und Bedeutung sie in dem zu erzählenden Sachverhalt und der dokumentarischen Filmgeschichte haben. Der viel zitierte Spruch: „Ein Bild sagt mehr als 1000 Worte“, der ursprünglich die schnelle Erfassbarkeit von Werbebildern auf Straßenbahnen meinte, hat für dokumentarische Filmbilder ebenfalls einen guten Sinn: Im Film-Bild stecken mehr Informationen als nur der reine Bild-Inhalt. Diese Informationen werden durch Geräusche, Musik O-Ton und vor allem durch den Filmtext zugänglich. Diese grundsätzliche Mehrdeutigkeit ist ein Gestaltungsvorteil: man kann die gleichen Bilder mit sehr unterschiedlichen Texten kombinieren. Je nach Text, werden die Bilder und Szenen anders wirken. Die Mehrdeutigkeit öffnet aber auch die Möglichkeit zu Manipulation und Lüge, auch im Filmtext. • Filmgeräusche wecken die Vorstellungen von Realität und antworten auf die unausgesprochene Frage des Publikums „Wie ist das?“ mit einer detaillierenden Erläuterung: „Dieses Bild, diese Szene gehört zur tatsächlichen Welt, zur Lebensrealität“. Geräusche geben Bildern ihre Bedeutung in der wirklichen Welt, die wir nur als eine Welt mit Geräuschen kennen und erleben. Ob Geräusche beim Dreh aufgenommen wurden, ob sie aus dem Archiv stammen, ob sie künstlich erzeugt wurden: sie erden die Filmszenen in der Lebensrealität. Und sie geben der Mehrdeutigkeit von Bildern eine erste Richtung: wir erwarten, je nach Geräusch, bestimmte nachfolgende Bild-Szenen. Deshalb steigern Geräusche die Attraktivität und Informationskraft auch derjenigen Bilder, die selbst keine Geräusche mitbringen, z. B. Fotos, Film-Stills, Computergenerierte Bilder (CGI) oder Bilder aus dem Weltall. 9

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• Musik im Dokumentarischen Film touchiert unmittelbar unsere Emotion, sie gibt der Information von Bild und Geräusch eine zusätzlich emotionale Bedeutung. Zugleich steuert sie unsere Vorstellung von dem, was sein könnte und dem, was wir erwarten. Filmmusik-Komponisten sprechen von einer Musik, die „zieht“, „verstärkt“ oder auch „irreal macht“. Musik kann über diese spontan verspürte Wirkung noch viele andere dramaturgisch wichtige Rollen im Film bekommen. Hier geht es um ihre Aussagesorte und Informationskraft im Zusammenspiel mit Bild, Geräusch und Filmtext. Musik antwortet auf die unausgesprochene Publikumsfrage „Welches Gefühl…?“ oder „Wie soll es sein…?“ mit einem Appell, der meist zugleich überwältigt: „So soll es sein!!“ oder „Dieses Gefühl jetzt!!“. Musik färbt die Gesamtszene; und wir können einer Musik – anders als einem Geräusch – emotional nicht ausweichen. Das ist einer der Gründe, weshalb in Propaganda und Werbung oft Musik anstelle einer Information auftritt. • O-Ton bewirkt eine plötzliche Änderung im Erzählfluss, denn anstelle der gewohnten Text-Erzählrichtung vom Anfang der Geschichte auf ihr Ende hin und des sprecherischen Erzählflusses spricht im O-Ton eine Person direkt zum Zuschauer. Auch dann, wenn O-Ton-Geber das Publikum nicht direkt anschauen. Auch wenn wir uns an O-Ton im Dokumentarischen gewöhnt haben: Ein O-Ton löst eine für Filmautoren* sehr unangenehme unausgesprochen Zuschauer-Frage aus: „Warum unterbricht da einer jetzt die Erzählung?“ und „Wann geht die Erzählung weiter?“. Ein O-Ton antwortet barsch: „Jetzt rede ich; und so lange, wie ich da bin“. Der Grund für diese seltsame Spontanreaktion liegt darin, dass O-Ton, wie wir ihn im Dokumentarischen kennen, in der Lebensrealität gar nicht, und wenn, dann als Verbal-Aggression oder Dauerrede vorkommt; also immer eine Störung darstellt. Im Spielfilm findet er sich nur dann, wenn die Regie Dokumentarisches nachahmt. Sehr selten also. Im Dokumentarischen aber sind O-Töne ein notwendiges und wirksames Zeichen von Authentizität und Lebensrealität. Der Zuschauer schaut wie durch ein Loch im Bauzaun auf die Baustelle; er hört ins richtige Leben hinein. Zur Information tragen O-Töne in unterschiedlichen Aussagesorten bei, von Behauptung über Widerspruch, Erläuterung, Gefühlsausbruch bis Erinnerung, Ankündigung und Vorwurf. Dramaturgisch aber sind O-Töne ein Erzählungs-Stopp. Um diesen Stopp zu bewältigen, muss man sich im Schnitt und im Filmtext sorgfältig um O-Töne kümmern. • Schrift im Film ist ein Zwitter: sie ist Bild und Text zugleich. Und sie gehört nicht zu den absolut notwendigen filmischen Darstellungsebenen. Sie ist Ein-

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wechselspieler für gesprochenen Filmtext. Schrift antwortet auf die unausgesprochene Frage des Publikums „Fehlt da nicht noch etwas?“. Eine Zahl, ein Name, ein Filmtitel? Ein Organigramm, ein Hinweis, eine Konkretisierung? mit einer kurzen Info „Klar! Das hier!“ oder einem ironischen „Kannst Du auch noch kriegen“. Schrift kommt im Film als Titel, Unterblender, Schrifttafeln, Schriften in Grafiken, Sprechblasen, Abspann vor. Oder sie wird auffällig durchs Bild gejagt. Schrift kann das gesamte Bild füllen, oder sich ins Bild scrollen, sie kann zurückhaltend wirken oder auftrumpfend. Und Schrift kann in kurzen Filmformaten, ganz ans Ende gesetzt, einem zuvor gezeigten Bilderstrom seine Bedeutung und Begründung geben (z. B. in der Reihe „Dezoom“, arte, 2019). Wenn Schrift ins Bild kommt, darf ein anschließender Filmtext nicht so formulieren, als habe er die Schrift nicht gelesen. Wenn Schrift auf einen Text folgt, setzt sie diesen fort. Auch die Filmtitel hinter einem Intro – mit oder ohne Text – werden somit Teil des Filmtextes und warten auf Beachtung durch die Textperson. • Der Filmtext steuert die Filmszenen – Bild, Ton, Geschehen, Stimmung – in ihrer erzählerischen Bedeutung und lenkt die Aufmerksamkeit der Zuschauerinnen* auf dasjenige, was für sie in den Filmszenen relevant sein soll. Der Filmtext antwortet auf ein Bündel unausgesprochener Fragen der Zuschauer. ◦ Auf „Sonst noch was?“ liefert der Filmtext Fakten und inhaltliche Sachverhalte, die Bild, Geräusch, Musik und O-Ton nicht liefern können oder nicht geliefert haben. Im Arbeitsalltag bezeichnet man solche Text-Fakten als „Ergänzungen“ oder „Zusatzinformationen“. ◦ Auf „Was ist denn im Bild und Ton wichtig?“ sichert der Filmtext durch Fakten und Formulierung diejenigen Elemente im Bild und Ton, die zur dokumentarischen Erzählung beitragen. Das muss er meist als erstes tun, um mit ersten Worten die Beziehung zum Bild zu halten. Diejenigen Elemente einer Szene, die für die dokumentarische Erzählung nicht wichtig sind, übergeht er. Im Arbeitsalltag wird diese Text-Funktion mit dem Begriff „Sicherung“ benannt. ◦ Auf „Wie hängt denn alles zusammen?“ präsentiert der Filmtext Fakten zu Abläufen, Kausalitäten und inhaltlichen Hintergründen. Diese spezifischen Text-Fakten, strukturieren und intensivieren das Filmerleben. Im Arbeitsalltag heißt diese Funktion „Beziehungen aufbauen“. ◦ Auf „Wie geht es weiter?“ bietet der Filmtext Fakten, die Erwartung wecken. Häufig Fakten zu Roten Fäden. Solche Text-Fakten halten die Spannung im Publikum lebendig. ◦ Und die Frage „Wer bist du eigentlich?“ beantwortet der Filmtext mit charakteristischen Formulierungen, welche die Textperson für die Zuschauer 11

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spürbar machen. Auf solchen Text-Fakten beruhen Kompetenz, Stimmung, Authentizität und Plausibilität der gesamten Filmdarstellung. • Der Filmtext hält im filmischen Informationsteam das Ganze zusammen, sorgt für erlebbare Verbindung zwischen allen Darstellungsebenen, treibt die Erzählung voran und lässt in allen anderen Darstellungsebenen deren für die Geschichte spezifische Relevanz erkennbar werden. • Filmtext agiert erzählerisch als „zweite Kamera“ , die Unsichtbares und Unhörbares anschaulich werden lässt. Das gelingt durch die Auswahl von Fakten im Filmtext, die sich alle außerhalb der Bild-Kadrierung befinden, aber eine nachvollziehbare Beziehung zum Bild/Szene zeigen. Auf diese Weise erschließt der Filmtext dem Publikum eine weitere filmische Erlebens-Ebene. Er wird zu Recht als Teil der Filmischen Darstellung bezeichnet. Weil der Filmtext nur im Team die filmische Information liefern kann, werden Filmemacher ihn klugerweise genauso behandeln wie Bilder, Geräusche, O-Töne und Musik. Sie müssen auch für den Filmtext dramaturgische Entscheidungen treffen. Denn erst dann kann der Filmtext inhaltlich und emotional seine Rolle ausfüllen. Man kann sich den Film auch als Torte vorstellen mit verschiedenen, geschmacklich zueinander im Kontrast stehenden Schichten, die beim Essen erst gemeinsam im Mund den spezifischen Geschmack erzeugen. Eine dokumentarische Filmgeschichte muss sich linear entwickeln, von der ersten bis hin zur letzten Szene. Das Publikum kann im Film – anders als bei einem Foto – nicht die gesamte Geschichte auf einen Blick überschauen und auch nicht so lange, wie es will, bei einer Szene verweilen. Der Zuschauer muss also immer wieder während des gesamten Filmverlaufs Energie aufbringen, um dranzubleiben: er sollte die Spannung halten können. Während des gesamten Filmverlaufs sind aber immer vier, fünf oder manchmal auch sechs Darstellungsebenen zugleich präsent, um Information herzustellen. Deren Interaktion kann – und sollte – die für den Gesamtfilm erforderliche Spannungs-Energie im Zuschauer wecken. Wenn aber Bild, Geräusch, Musik, O-Ton und Filmtext einander behindern oder einander verdoppeln oder ohne Zusammenhang nebeneinander herlaufen, sinkt das Interesse, und die Spannung, dranzubleiben, fällt ab. Was ja weder Autorinnen* noch die Redaktion und am wenigsten die Zuschauer wollen. Der Filmtext ist sehr rasch dabei, den anderen die Informationskraft zu rauben allein dadurch, dass er redet, wo er schweigen sollte. Autoren* können dafür sorgen, dass die Darstellungsebenen in ihrer Informationskraft zueinander

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Kontraste bilden, welche ihre Interaktion lebendig werden, die dokumentarische Gesamtinformation in der jeweiligen Filmsequenz entstehen und zugleich die Spannung auf alles Nachfolgende stärker werden lässt. Es ist ähnlich wie beim Basketballspiel: Es zählt zwar am Ende das Ergebnis in Zahlen und wie es Punkt für Punkt entstanden ist. Die Zuschauer werden aber immer das Mannschaftsspiel, einige Solo-Szenen und erlebnisreiche Spielzüge im Gedächtnis behalten. Davon erzählen sie dann noch Jahre später. Spannung in der Abfolge der Filmsequenzen und Kontraste zwischen den filmischen Darstellungsebenen ermöglichen Genuss und intensives Verstehen zugleich. Für den Filmtext heißt das Werkzeug, das diesen Kontrast bilden kann, „Die Textperson“. Sie wird den Filmerzähler als kompetent und glaubwürdig ausweisen. Der Begriff „Kontrast“ wird im Alltag oft als „Gegensatz“ missverstanden, weil er, aus lateinischem Ursprung, wörtlich verstanden – contra stare, dagegen stehen – ein Gegensatz sein kann. Im Film ist aber kein Gegensatz gemeint. Denn Kontrast beschreibt als ästhetischer Begriff mehr oder weniger große Unterschiede bei Farben, Materialien oder Tönen. „Gegensatz“ bezeichnet als philosophischer Begriff intellektuelle Positionen, die als unvereinbar oder unvermischbar angesehen werden. Es kann nur jeweils zwei Gegensätze geben. Aber mehrere, unterschiedlich kräftige Kontraste. Kontraste haben die besondere Fähigkeit, auch im dokumentarischen Film die Beziehung zu dem Element zu halten, zu dem sie den Kontrast bilden. Dramaturgisch kann Kontrast deshalb zwischen Bild und Geräusch, zwischen Musik, Geräusch und Bild und besonders zwischen Filmtext und den anderen Darstellungsebenen bestehen. Zu einem in sehr lebhaften Szenen gedrehten Film bildet ein nüchtern agierender Filmtext einen starken, anregenden Kontrast; In einem Bericht mit vielen männlichen Personen bildet eine Erzählerin einen gegenpoligen Kontrast; Einen Wissenschaftsfilm mit vielen erklärenden Passagen und computergenerierten Bildern macht eine junge, noch studierende Text-Erzählerin* kontrastreicher und lebendiger als ein bereits alles wissender Fachmensch. Der Unterschied zwischen Kontrast und Gegensatz wirkt sich konkret aus: Denn Gegensätze zwischen den Darstellungsebenen stören die Information, weil sich das Publikum unwillkürlich mit ihnen beschäftigen muss, um die erzählerische Störung zu beseitigen, was seine Aufmerksamkeit für alle anderen Qualitäten eines Films behindert. 13

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Ein Filmtext gerät sehr schnell ungewollt in Gegensatz und Widerspruch zu Inhalt oder Hauptfigur, wenn er als so genannter „objektiver Beobachtertext“ im Indikativ Präsens formuliert. Denn das Bild wirkt ebenfalls als Aussage im Indikativ Präsens, und damit unwillkürlich als Behauptung. Sobald dann der Filmtext das Gegenteil dessen behauptet was im Bild zu sehen ist, entsteht eine Text-Bild-Kollision. Der Zuschauer glaubt in einem solchen Fall dem Bild, nicht dem Text, weil wir Menschen darauf gepolt sind, uns zuerst mit den Augen zu orientieren. Durch Text-Bild-Kollisionen entstehen Unverständnis oder Fehlinformationen. Wie man Kontraste zwischen Filmtext und Bild plant und gestaltet, wird weiter unten deutlicher werden. ▶ Der Filmtext verstärkt den Film, wenn er – als Textperson – einen Kontrast zu Bild und Ton bildet. Kontraste schaffen Spannung und halten die Bindung. Die Textperson erschließt gestalterische Möglichkeiten, um alltägliche und auch inhaltlich oder gestalterisch schwierige dokumentarische Stoffe unterhaltsam und wissensfördernd zu gestalten. Auch wenn eindrucksvolle Bilder/Szenen, wie bei Naturfilmen häufig, eine gute Grundlage bilden für überragenden Erfolg beim Publikum, kann alle Mühe des Bildes und des Tons, auch der Musik, durch den „Kollegen Text“ der auf die falsche Weise mitspielt, zunichte gemacht werden. Dann wird die dokumentarische Information schon beim Senden zerbröseln.

Wer spricht denn da? Filmtext wirkt als „Jemand“

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2 Wer spricht denn da? Filmtext wirkt als „Jemand“

Zusammenfassung

Fernsehautoren nehmen in ihren Beiträgen unterschiedliche Rollen ein. Das kann erwünschte und unerwünschte Auswirkungen auf die Rezipienten haben. Was das Autoren-Werkzeug „Textperson“ leistet.

Schlüsselwörter

Fernsehjournalismus, journalistische Rollen, Erzählton, Autoren-Werkzeug, Textperson, Zuschaueraktivität, Autoren und die Text-Rolle, Text als filmisches Element, professionelle Distanz, Filmtext als filmdramaturgische Nebenfigur

Dokumentarische Filmtexte werden geschrieben. Ihre Wirkung aber entsteht, weil das Publikum sie hört. Im Zusammenspiel mit Bildern und Tönen entsteht etwas Neues und Eigenes, das im schriftlichen Filmtext allenfalls spürbar wird, aber noch nicht aktiv ist. Filmautoren bemerken diesen Unterschied, sobald sie schriftliche Texte laut auf Bilder lesen. Da passt dann vieles nicht mehr, was in der schriftlichen Form ganz selbstverständlich und klar erschien. Und durchaus flott und kreativ formuliert war. Das Bild erweist sich dann zuweilen eher als störrischer Partner, denn als kreativer und informativer Mitspieler. Das Publikum hört beim Film einem JEMAND zu und bringt dessen Formulierungen mit dem Gesehenen zusammen. Es ist dafür ohne Belang, wer den Filmtext geschrieben hat. Und für diese Wahrnehmung ist ebenfalls unwichtig, ob diese © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 G. A. Heussen, Die Textperson im dokumentarischen Film, Journalistische Praxis, https://doi.org/10.1007/978-3-658-28456-5_2

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Stimme ein Text-Autor* ist oder eine Sprecherin*. Wenn Zuschauer spannend, informativ und kompetent finden, was dieser – nur als Stimme präsente – JEMAND, im Zusammenspiel mit Bild und Ton sagt, wenn sie seine Ausdrucksweise als attraktiv erleben und die akustische Gestaltung als verlockend und abwechslungsreich, dann werden sie der Filmerzählung und der Argumentation folgen. Langweilt die Stimme, widerspricht der Text den Bildinhalten oder ist der Text, aus welchen Gründen auch immer, wenig attraktiv, werden Zuschauer wegzuhören und sich nur mit den Bildern zufriedengeben. Ist ihnen das Thema wichtig, hören sie vielleicht nur den Filmtext allein und bemerken die Bilder nur als bunten Hintergrund. Oder sie schalten weg. In jedem Fall reagieren die Zuschauer spontan. Sie sind von diesem JEMAND in vielfältiger Weise berührt, weil die akustische Wahrnehmung einer Stimme nicht so einfach verschwindet wie visuelle Eindrücke beim Sich-Wegdrehen. Filme können ihr Publikum gewinnen mit diesem bestimmten JEMAND, wegen der Stimme oder der Art zu formulieren. In französischen Dokumentarischen Filmen werden häufig berühmte Schauspieler als Texterzähler engagiert und in dieser Rolle promotet. Immer wieder aber passiert es auch, dass Zuschauer wegschalten, sobald ein bestimmter JEMAND sich hören lässt. Meist, weil dieser JEMAND schon zu häufig zu hören war. Ohren sind deutlich weniger tolerant als Augen. Für die Filmemacher* ist ganz selbstverständlich klar: dieser JEMAND ist die Sprecherin oder der Sprecher; und wenn Autoren selbst sprechen, sind es Autorin oder Autor selbst. Genau so klar ist für sie: Was gesprochen wird, ist der Filmtext, den Filmautoren vor der Sprachaufnahme geschrieben haben. Die Autoren sind für diesen Text und seine Wirkung verantwortlich. Die Zuschauer aber hören nur die Stimme des ihnen meist unbekannten JEMAND, der oft noch nicht mal im Abspann dokumentiert ist. Und so identifizieren Zuschauer – und oft auch die Kritiker* – den Filmtext spontan mit der – professionellen oder privaten – Person der Autoren*, mit der Haltung der Sendung oder auch gleich mit der Sendeanstalt oder dem Fernsehen an sich. „Der Film sagt …“ / „Die Sendung hat behauptet …“ / „Wie kann der Autor so vorschnell darauf beharren …“ / „RTL hat gestern erzählt …“ / „Im Fernsehen hat es gerade geheißen …“ Dem Publikum bleibt nichts anderes übrig. Denn es kann nicht erkennen, wer hinter dem sprechenden JEMAND steht. Zuschauerinnen* spüren das Zusammenspiel von Bild, Ton und Text und erfassen, ob es plausibel und stimmig ist, oder ob ein Film sich als seltsam, möglicherweise fehlerhaft oder vorurteilsvoll zeigt. Sie erkennen

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nicht im Detail, welche Rolle der Filmtext bei diesem Eindruck spielt. Weil sie aber dessen steuernde Wirkung erleben und spüren, wird in Diskussionen ein Film oft auf die Aussagen des Filmtextes reduziert. So scheint es auf den ersten Blick, als seien sich Filmemacher* in ihrer Absicht und Vorgehensweise und die Zuschauer in ihrer Wahrnehmung einig: Die Filmautorin* hat den Text geschrieben und der Zuschauer* schreibt ihr – oder der Redaktion – diesen Filmtext zu. Der zweite – und für Profis relevante Blick – zeigt aber eine Uneinigkeit. Denn bei streitigen Filmabnahmen, bei kritischen Rezensionen oder bei irritierten Publikumsreaktionen im Netz, und spätestens aufgrund von öffentlichen juristischen Auseinandersetzungen wird offensichtlich, wie der Filmtext mit den Bildern oder gegen die Bilder gespielt hat. Und auch, wie er geklungen hat. Dann muss geklärt werden, nach welchen Kriterien ein Filmtext entstanden ist, wer daran mitgeschrieben hat; ob und wie der Text in der Redaktion verändert wurde. Dann lässt sich auch öffentlich erkennen, wie es zu einer Streit auslösenden Wirkung aufgrund des Filmtextes oder anderer Film-Elemente (z. B. fehlende Szenen, mangelnde Recherche, falsche Mischung, irreführender Schnitt etc.) kommen konnte. Joachim Schroeder / Sophie Hafner „Auserwählt und ausgegrenzt – Der Hass auf Juden in Europa“; WDR+Preview 2016; Dazu die Diskussion auf arte und in der Öffentlichkeit im Juni 2017. http://www.ardmediathek.de/tv/Reportage-Dokumentation/Auserw%C3%A4hltund-ausgegrenzt-Der-Hass-au/Das-Erste/Video?bcastId=799280&documentId=43708284 Zuschauer interessieren sich nicht – und müssen das auch nicht – für die dramaturgischen oder inhaltlichen Umstände, in denen Filmtexte entstehen. Es ist ihnen gleichgültig, ob der Filmtext zufällig oder absichtlich in die gesendete Sprach-Form gebracht wurde. Es ist ihnen auch egal, ob der Text unter Zeitdruck entstand und wie er redigiert wurde. Sie hören und erleben den sprechenden JEMAND und spüren, wie er mit Bild und Ton agiert. Sie spüren seinen Charakter und seine Haltung. Den Filmautoren* und ihren Redaktionen aber kann dies nicht gleichgültig bleiben. Denn durch das Zusammenspiel des Filmtextes mit Bildern, Geräuschen, O-Ton, Musik, Schrift und Schnitt entstehen Inhalt, Information, Attraktivität und Wirkung eines Films. Weil die Sprache über vielfältige Darstellungsmöglichkeiten und mehr Gestaltungsvarianten verfügt als Bild und Ton, ist der Filmtext – im 17

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Vergleich mit Bild und Ton – das flexibelste und in vielen Fällen inhaltlich und emotional zielgenaueste filmische Element. Damit gewinnt der Filmtext die Kraft, den anderen Darstellungsebenen (Bild, Geräusch, Musik, O-Ton, Schrift) und Gestaltungsmitteln (z. B. Kameraführung, Tonmischung, Schnitt, Reihenfolge, Positionierung) ihre für die jeweilige Filmerzählung entscheidende Bedeutung zu geben und die Aufmerksamkeit des Publikums für den Filminhalt und die Erzählweise zu gewinnen. Der Filmtext treibt dann durch seine Inhalte und Formulierung die Erwartung des Publikums voran und erweitert die Szenen über den reinen Informationsgehalt von Bild/Szene und Ton hinaus. Er lässt eine weitere filmische Erlebens-Ebene entstehen. Diese Eigenschaften des Filmtextes können aber auch den Widerwillen des Publikums provozieren, seine Aufmerksamkeit lähmen und die Filmwahrnehmung einschnüren: sobald er überhandnimmt, Bild und Ton stört oder keine Verbindung zu Bild und Ton erkennen lässt. Und der Filmtext kann auch seine unangenehmste Eigenschaft zeigen: er kann schon durch seine Dauer, durch Anwesenheit an einer inhaltlich oder dramaturgisch falschen Stelle oder durch die Art seiner Präsenz alle Mühen zerstören, die Autoren auf die Bild- und Tongestaltung verwendet haben. Und dann verfehlt der Film sein beabsichtigtes Ziel beim Publikum und verdirbt dessen möglichen Genuss. Auf Grund dieser durchaus unkalkulierbaren unangenehmen Eigenschaften des Filmtextes liegt der Wunsch nahe – man hört ihn oft von Kameraleuten, Cuttern* und Filmprofessoren* – Dokumentarische Filme sollten vielleicht doch am besten ohne Text auskommen. Dann könnten Bilder und Geräusche im Verbund mit O-Tönen die gewünschten Sachverhalte ausreichend spannend und genau erzählen. Klar: jeder dokumentarische Film benötigt informationsdichte Bilder und Geräusche dringend; es ist alle Anstrengung wert, sie zu beschaffen. Doch allein können Bild und Ton die Komplexität dokumentarischer Sachverhalte der meisten im Fernsehen und Netz wichtigen Themen nicht so genau darstellen, wie es journalistisch wünschenswert und für das Publikum notwendig ist. Sowohl die Sachverhalte wie auch Bilder und Töne lassen, wie alle Medienprofis wissen, vielfältige Interpretationen zu. Statistiken als Grafiken lassen sich nach den Interessen politischer Parteien oder Lobbyisten unterschiedlich lesen. Fotos wirken, je nach Bildunterschrift, anderes. Die informative und erzählerische Wirkung eines dokumentarischen Films verändert sich deutlich, sobald man – bei gleicher Bildebene und gleichem Schnitt – den Filmtext ändert. Sean Morris „Verbotene Früchte“, BBC 1999, 53 Min., im ZDF 1999; auf arte 2007. Der Film erzählt von Pflanzensamen und ihren Anpassungsfähigkeiten.

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Er ist einer der wenigen Filme, in dem der gleiche englische Filmtext ohne Bild-Umschnitt in jeder Version einen anderen Übersetzungs-Text und einen anderen Sprecher bekommen hat. Die Wirkung in Sichtungen bei Volontären* und Seminarteilnehmenden zwischen 2007 und 2014: Alle wollten die Version von 1999 bis zum Ende anschauen. Fast alle wollten die Version von 2007 nach spätestens 6 Minuten abbrechen. Der Filmtext soll die Mehrdeutigkeit von Bild/Szene auf die journalistisch-erzählerisch jeweils relevanten Aspekte fokussieren. Das gelingt dann besonders gut, wenn der Text diejenigen Fakten liefert, die sich außerhalb der Darstellungsmöglichkeiten von Bild und Ton befinden, für die Erzählung aber wesentlich sind. Darum fordert der Filmtext von Autoren* die gleiche gestalterische Energie und Sorgfalt wie Bild-Szenen und Ton. Besonders schwierig wird die Aufgabe des Filmtextes, wenn – aus Zeitnot oder wegen mangelhaften Archivmaterials – Bild und Ton selbst nicht sehr informationsdicht sind und als so genannter Bilderteppich laufen. In solchen Fällen kann nur der Filmtext die Detailfakten liefern, wird aber damit zugleich überlastet und muss sich fast auf Filmlänge ausdehnen. Es ergeht ihm wie einem 100-Meter-Läufer, der mit einem vollen Rucksack Rekord laufen soll. Bei ausdrücklichen Nachrichtenfilmen toleriert das Publikum solche Textlängen. Schon in Magazinfilmen aber wird ein langer Filmtext leicht zum Störer des Erlebens; und bei langen dokumentarischen Formaten wird ein bildfüllender Filmtext zur Plage. Der Einfluss der Autoren* auf Inhalt und Formulierung des Textes ist sehr viel stärker als ihr Einfluss auf Bilder und Geräusche und O-Töne. Dort sind Autor/ Regie oft von äußeren Umständen und häufigen Kompromissen abhängig. Der Filmtext aber entsteht unmittelbar im Autor und ist ihm deshalb sehr viel näher als Filmszenen oder Ton. Autorinnen* schreiben ihre Filmtexte auf Grund von Recherchen, aus der Erfahrung des Drehs, dem Erleben beim Schnitt; sie folgen ihrem Eindruck vom Verhalten der O-Ton Geber und Recherche-Personen und urteilen auf der Basis ihrer eigenen Lebenserfahrung und Berufspraxis. In all dem sind sie unmittelbar von ihren Erlebnissen, Erkenntnissen und Gefühlen gepackt und geprägt. Sie reagieren auf ihr Erleben und Erkennen als Personen, manchmal abwehrend, manchmal betroffen, manchmal cool, manchmal wütend. Diese Befindlichkeiten werden sich im Filmtext unweigerlich bemerkbar machen. Die Zuschauer werden sie spüren. Professionelle Vorgehensweisen und die dramaturgischen Werkzeuge des Filmemachens erfordern also, dass Autor/Regie – wenige Ausnahmen, z. B. bei 19

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ersten Katastrophenberichten, bestätigen die Regel – nicht bei der persönlichen Betroffenheit stehen bleibt, sondern zu einer professionellen Distanz gelangt. Denn dieselben Erkenntnisse und Schlussfolgerungen, die den Autoren* viele Stunden oder Wochen Arbeitszeit abverlangten, sollen die Zuschauer ja in der sehr viel kürzeren Zeit des Filmverlaufs erreichen. Manchmal in nur 90 Sekunden, für die ein Autor mehrere Stunden unterwegs war. Oder auch in einem 90-Minuten-Film, für dessen Recherche und Umsetzung die Autorin* Monate benötigt hat. Der Zuschauer* darf erwarten, dass die Erfahrungen, Erlebnisse und Erkenntnisse der Autoren* filmisch und im Text so aufbereitet werden, dass die Zuschauer in der Film-Laufzeit alles intensiv miterleben, verstehen und sich ihr eigenes Urteil bilden können. Um das zu erreichen, braucht ein Autor* Distanz zu seinem Material. All diese Überlegungen und Hintergründe kennt das Publikum nicht, wenn es im Film einem JEMAND zuhört. Zuschauer reagieren auf die Intensität eines Films und begründen Ihr Urteil letztlich darauf, wie sie diesen JEMAND im Umgang mit Bild und Ton erleben und einschätzen. Die Zuschauer hören in einem Reisefilm über Madagaskar als Erzähler einen älteren Mann in ruhigem abgeklärtem Tonfall. Die Autorin des Filmtextes ist aber eine junge Frau, deren Erfahrung und Text-Intention durch die gravitätische Darstellung des Sprechers nicht mehr zur Geltung kommt. Mick Grogan, „Das große Erdbeben von Lissabon“; ZDF+One 2013. Der Film zeigt in Bild und Ton aufwändig bearbeitete, hochintensive Katastrophenszenen. Der Inhalt ist dem deutschen Publikum unvertraut und spannend. Es hört aber einem Erzähler zu, der offensichtlich dem Publikum nicht die Zeit lässt, die Bilder zu betrachten, weil er dauernd weiterredet. Die Zuschauer spüren, dass der Erzähler den Film nicht mit dem Publikum gemeinsam anschaut. https://www.youtube.com/watch?v=cYud0JLGU_g zeigt „Das Große Erdbeben von Kanto“ aus der gleichen ZDF-Reihe. Filmautoren* im Fernsehen, Kino und Netz müssen also dem Filmtext beibringen, die Emotion und Information des Films für das Publikum wirkungsvoll anzusteuern und die Erzählhaltung zu zeigen, welche die Autoren* zeigen wollen. Dafür benötigen sie ein Werkzeug, das diese Übersetzung von eigner Emotion, Recherche, Erfahrung und Erzählabsicht in einen Filmtext leistet. Der Vorschlag für dieses Werkzeug heißt: Die Textperson. Es ist eine bewusst gewählte Rolle, welche Autoren dem Filmtext zuweisen und sprachlich gestalten. In dieser Rolle agiert dann der Filmtext als eigenständige dramaturgische Figur – gleichsam in Vertretung der Autoren. Autorenpersönlichkeit und erzählerische

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Rolle als Textperson überschneiden sich, sind aber nicht deckungsgleich. Denn Filmautoren* können höchst unterschiedliche Textpersonen schaffen. Autorinnen können Männer-Textpersonen schreiben, Autoren können Frauen-Textpersonen schreiben. Beide können junge oder alte Textpersonen in Sprache gestalten. Und sie können jeder Textperson – auf der Basis der Recherche – die Erfahrung mitgeben, die diese für den jeweiligen Film benötigt. Aber jeder gesprochene Filmtext, ganz unabhängig davon, was Autoren sich dabei gedacht oder beabsichtigt haben, zeigt bereits eine Textperson. Sie ist einfach da, weil der Filmtext nur akustisch präsent ist und gleichzeitig zu Bildern läuft. Wen man in dieser Situation sprechen hört, stellt man sich unwillkürlich als menschliche Person vor. Gesprochenes verbinden Menschen spontan nur mit Personen, selbst dann, wenn der Sprecher ein Computer ist, wie Alexa (Google), Siri (Apple) oder die automatisierte Ansage an Bahnhöfen. Und wie man als Zuhörer von der Stimme auf Verhalten und Eigenschaften einer Person schließt, geschieht das auch spontan beim Hören eines Filmtextes. Auf diese Weise entsteht für den Zuschauer* eine Textperson, selbst dann, wenn die Autorin* gar keine bewusst ausgewählt hat. Eine unbewusst entstandene Textperson ist aber, dramaturgisch betrachtet, ein Zufall. Man weiß als Autor* nicht genau, ob gerade sie in den Film passt und man kann ihre Wirkung nicht kontrollieren. Natürlich treffen Filmautoren* manchmal intuitiv den passenden Erzählton und die Sprecher* leisten häufig gute Arbeit. Eine unbewusst ausgewählte Textperson hat aber, wie wir gleich sehen werden, häufig auch nur eine zufällige Erzählwirkung und in vielen Fällen höchst unerwünschte Folgen. Denn die Nähe, die Autoren aufgrund ihrer Recherche zu ihren Quellen (Personen und Sachverhalten) gewinnen, lässt sie leicht einige Gefahren übersehen, die aus genau dieser Nähe entstehen. Das unerwünschte Ergebnis wird sich auch dann im Filmtext zeigen, wenn die Autoren das gar nicht beabsichtigen. Der Filmtext als Stimme der scheinbar neutralen Textperson „Kommentar zu Bildern“ verbirgt häufig die Intention des Autors in vorgeblicher Objektivität (z. B. Mann, tiefe Stimme) und erzeugt eine Reaktion des Desinteresses gerade dort, wo Autoren Interesse und Beteiligung wecken wollen und das auch sollten. Und wenn man einen Filmtext so schreibt, wie er einem spontan von der Zunge fällt, trifft man auf einige Gefahren. Die erste Gefahr: Formulierungen der Quellen erscheinen undeklariert – und damit für das Publikum nicht in ihrer Kommunikationsabsicht erkennbar – als Filmtext. 21

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Zum Handwerkszeug von journalistischen Autoren* gehört, die Quellen als solche kenntlich zu machen und sie richtig zu zitieren. Aus intensiven Recherchegesprächen und Unterlagen übernimmt man aber unwillkürlich Formulierungen der an Veröffentlichung interessierten Quellen. Man gewöhnt sich daran und so kommen sie unreflektiert in den eigenen Text. Oft sogar dann besonders häufig, wenn sich der Film kritisch mit Unternehmen oder Politik befasst. Je länger und intensiver man in ein Thema eingedrungen ist, umso eher wird man in den eigenen Formulierungen auf die Sprache und Kommunikationsabsicht der Quellen stoßen. „Die Systemparteien…“ / „Der hemmungslose Kapitalismus“ / „Die Preisanpassungen …“ / „Der Steuerdruck …“ / „der hinreißende Roman …“ / „… Rupturen im Darm …“ / „die ansteigende Flüchtlingswelle…“; „… Strafzinsen …“ Wer als Autor* Fachsprache, Werbeformulierungen und beabsichtigte politische Formulierungen kennt, erleichtert sich natürlich die Kommunikation mit Unternehmen, Fachleuten und politischen Parteien. Und auch, wenn man „aus dokumentarischer Treue“ wörtlich und für das Publikum kenntlich zitiert, stehen im späteren Filmtext dennoch oft übernommene Formulierungen von Parteien, Sprechern und Spezialisten. Der fachliche Binnenjargon oder das politische Framing gerät unübersetzt – und damit unverstanden – in den Filmtext. Dadurch verstärkt der Filmtext dann unabsichtlich auch die Kommunikationsabsicht der Quellen, anstatt sie für das Publikum zu klären und sie transparent zu entschärfen. Solche unabsichtlichen Übernahmen stören die Arbeit dokumentarischer Filmautoren für ihr Publikum. Journalisten wollen eigentlich das Framing interessegeleiteter Kommunikation durch eigene Sprache und klarstellende Formulierungen nüchtern aufdecken; Filmtexte sollten fachlich verkürzende Formulierungen in Umgangssprache verwandeln oder eben als Fachsprache ausdrücklich zitieren. Stattdessen entsteht oft unversehens die Textperson „Pressesprecher“ oder „Spezialist“, der nicht auf sein nicht-spezialisiertes Publikum achtet. Der derzeitige Dauervorwurf, „die Politik“ und „die Medien“ steckten unter derselben Decke „des Systems“, kommt nicht von ungefähr, weil Zuschauer aus beiden Quellen allzu oft eine ähnliche, häufig verallgemeinernde oder fachlich unverständliche Sprache hören. Die zweite Gefahr: Persönliche Vorurteile und Sprachklischees prägen unbeabsichtigt den Filmtext. Denn natürlich haben auch Filmjournalisten* Vorurteile. Je tiefer man in einen Stoff eingedrungen sind, umso eher spürt man kräftige positive oder negative Emotionen gegenüber Personen und Sachverhalten, die man kennenlernen konnte. Und natürlich leben Filmautoren* wie alle anderen Menschen in einer Welt voller

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Werbebotschaften und Sprachklischees in allem Kommunikationsumgebungen von Plakat bis Netz. Je schneller man Text schreiben muss, umso rascher gerät man in gewohnte Sprachroutinen. Man hat sie rasch zur Hand. Man hat sie schon tausendmal gehört. Es fällt einem aber auf die Schnelle nichts Besseres ein. Die Sprachaufnahme drängt. In den sich oft gegenseitig steigernden Formulierungswettkämpfen zwischen konkurrierenden Medien trifft man unversehens auch beim eigenen Filmtext auf den Drang, ebenso zu formulieren oder zu übertreiben, um Aufmerksamkeit zu gewinnen. „Kaum zu glauben …“ / „New York, die Stadt, in der das Leben wirklich rauscht …“ / „Die idyllischen Zelte der mongolischen Steppenjäger …“ / „… das ist echt wahnsinnig, hier zu sein …“ Die spontane eigene Reaktion lässt sich bei Recherche und Dreh, die ja immer persönliche Begegnungen einschließen, nur schwer kontrollieren. Autoren gelangen in der Regel, wie alle anderen Menschen auch, in einer Begegnung zu einer eigenen Meinung. Gerade, wenn man als Autor begeistert ist von einer Person, geschmeichelt von einer Einladung oder abgestoßen von Unternehmen, Parteien oder den Drehumständen, finden sich die entsprechenden vorurteilsbeladenen Formulierungen auf einmal im Filmtext, ohne dass Autoren oder die Redaktion das bemerken. So entsteht oft unbeabsichtigt die Textperson „hämischer Kritiker“, „Dauernörgler“ oder „kritikloser Fan“; oft auch „zynischer Beobachter“. Solche Textpersonen sind aber nicht geeignet, den Zuschauern den Inhalt so zu präsentieren, dass sie sich ein eigenes Urteil bilden könnten. Vorurteilsbeladene Textpersonen, die dem Publikum die Autoren-Privatperson fast unverhüllt zeigen, wecken beim Publikum unwillkürlich Abwehr gegen den Filmerzähler. Gerade deshalb sind sie in dokumentarischen Filmen schädlich. Und sie verstärken Vorurteile der Zuschauer. Im dokumentarischen Film sind Autoren* nicht als Privatperson präsent, sondern in ihrer Arbeit an der öffentlichen Kommunikation. Sie sind in einer Rolle. Deshalb nützt eine kritische Auseinandersetzung mit eigenen Vorurteilen und eine Prüfung der eigenen Sprachklischees. Es lohnt auch Kritik an der Gewohnheit, so zu formulieren, wie „man“ es im Fernsehen, im Netz oder in der Redaktion üblicherweise tut oder was angeblich „die Zuschauer wollen“. Das Publikum schätzt hingegen Abwechslung, Variationen des Bekannten, genaue und farbige Formulierungen. Dies lässt sich gut erreichen durch das professionelle Werkzeug Textperson. Denn die Entscheidung für eine Textperson fördert die professionelle tägliche Auseinandersetzung mit Vorurteilen und Sprachklischees, ohne dass man innerlich beleidigt reagieren müsste. Der kreative Druck, den eine bewusst gewählte Textperson auf Autoren* ausübt, fördert einen persönlichen Stil mit Formulierungen, die beim Publikum hängen bleiben. 23

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Die dritte Gefahr: Unbewusste Identifikation mit der Hauptfigur lässt die professionelle Erzähldistanz verschwinden. Bei Reportagen und auch bei Begleit- oder Erlebnis-Berichten, die im Nachmittags- und Vorabendprogramm platziert werden, entsteht aufgrund der meist freundlichen Nähe zwischen Autoren* und dargestellten Personen leicht eine hohe Identifikation mit dem Leben und den Aufgaben, welche die Personen im Filmverlauf zu bewältigen haben (z. B. ein Gebirge zu überwinden oder ein großes Abendessen vorzubereiten). Oft erkennt man diese – durchaus unbewusste – Nähe bereits daran, dass die Personen dem Zuschauer nur mit Vornamen präsentiert werden. Charakteristisch für die unbewusste Identifikation sind Formulierungen, die die dargestellte Person allenfalls als inneren Monolog formulieren könnte. Manchmal spricht ein sich identifizierender Filmtext unversehens so, als sei er für die Hauptfigur und deren Handlungen verantwortlich. Das aber sind Filmautoren* normalerweise nie. „… jetzt darf aber nichts mehr schiefgehen“ / „es kommt auf jede Sekunde an …“ / … und Martha hat sich für heute viel vorgenommen …“ / „Das ist danebengegangen; jetzt heißt es, Zeit aufholen“ / „…da fehlt nur noch etwas Öl, und dann 10 Minuten in den Ofen“ Filmautoren* erleben bei vielen Ihrer Projekte Situationen, die sie aus ihrem persönlichen Leben nicht kennen. Sie bemühen sich, ihre handelnden Personen zu verstehen und deren Handlungsmotive kennen zu lernen. Je besser sie mitfühlen und verstehen, was die handelnden Personen antreibt und je mehr sie – aus Sicht ihrer Redaktion – verinnerlicht haben, was man in Fernsehhäusern als oft wiederholte Devise kennt: „den Menschen nahekommen!“, umso eher entstehen Filmtexte, die so klingen, als stünde ein Filmautor* einer dokumentarischen Person tatsächlich nahe, oder agiere geradezu wie diese Person. Dann spricht auf einmal die Textperson „innerer Monolog“, „anfeuernder Kumpel“, „antreibender Trainer“ oder „fachlich kluger, besserwissender Beobachter“. Genau solche unbewusst entstandenen Texthaltungen lassen aber die dargestellten Personen, die in der Regel ja beruflich erfolgreich sind, für die Zuschauer schwach oder etwas dümmlich aussehen. Natürlich lassen sich antreibende oder urteilende Textpersonen einsetzen (z. B. „Das perfekte Profi-Dinner“ auf Vox). Solche Filme kommen gut an, weil man sich als Zuschauer* dann – gemeinsam mit dem Filmtext – den Filmpersonen überlegen fühlen kann. Die herablassende Textperson müssen Show-profis wohl aushalten. Unbekannte Personen, wie sie in den meisten Dokumentarischen Filmen auftreten, müssen das aber nicht. Sie – und das Publikum – haben Anspruch darauf, im Filmtext die Wertschätzung zu bekommen, die ihnen zusteht.

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Nähe zum Publikum zeigt sich, wenn die Zuschauer ihre eigene Lebensrealität, ihre Erfahrungen, Erwartungen und Einschätzungen wiedererkennen und auch korrigieren können. Die filmische Darstellung sollte deshalb die Befindlichkeit und das Lebensgefühl der Zuschauerinnen* treffen, das diesen meist nicht ausdrücklich bewusst ist, aber alle ihre Entscheidungen mitprägt. Wir leben in dem jedem Einzelnen vertrauten allgemeinen Gesellschaftsklima, unabhängig davon, welches die jeweils konkreten Gründe für dieses Lebensgefühl sind. So unbestimmt die Gründe dafür auch sein mögen, die Stimmung selbst und die konkreten Emotionen sind Lebensrealität. Im Jahre 2019 gehört zu diesem Lebensgefühl in Zentraleuropa unter anderem das Erleben von Unsicherheit auf vielen Gebieten des alltäglichen Lebens und der Politik. Die Wahrnehmung wird klarer, dass Reich und Arm in allen Gesellschaften auseinanderdriften; dass Autokratie und Nationalismus, die man überwunden glaubte, wieder präsent sind. Und dass einige weltweit große Fragen wie der Klimawandel und Migration trotz vieler Anstrengungen offensichtlich nicht gelöst sind und auch nicht konsequent und grenzübergreifend angegangen werden. Auch spüren viele Menschen, dass Digitalisierung und Globalisierung ihnen vieles zeitnah und weltweit zur Verfügung stellen, was ihre Eltern nicht hatten, was aber auch die Verlässlichkeit von Arbeitsplatz und Kommunikation bedroht. Diese Realität billigt das Publikum auch den ihm meist unbekannten dokumentarisch dargestellten Personen zu, die, ebenso wie die Mehrheit des Publikums selbst, keine öffentliche Funktion ausüben. Personen in öffentlichen Rollen von Politik bis Show hingegen will das Publikum kritisieren oder loben können in ihrer Arbeit für das gesellschaftlich Gemeinsame. Und es erwartet, dass journalistisch-dokumentarische Filmautoren* die Handlungen öffentlicher Personen transparent und kritisierbar werden lassen. Denn auch auf Grund von Dokumentarischen Filmen, die ja Teil der öffentlichen Kommunikation sind, müssen Zuschauerinnen* häufig unmittelbare Entscheidungen für ihr Leben ableiten. Das Publikum möchte also auch im Filmtext spüren und erkennen, dass der Film auf Recherche und deren realistischer Gewichtung beruht und die Szenen nicht um eines dramatisierenden Effekts willen nur ausgedacht wurden. Zu dieser filmischen Gesamtleistung können bewusst gewählte Textpersonen im Zusammenspiel mit Bild und Ton ihren wichtigen Anteil einbringen. ▶ Intuition beim Text ist wichtig – Die bewusste Auswahl einer Textperson ist aber die stärkere Lösung. 25

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Teil 1 Textperson und Filmtext planen

Der Vorschlag: eine Textperson bewusst auswählen und nach klaren Kriterien gestalten. Dies ist eine kreative und eine dramaturgische Entscheidung. Innerhalb dieses Rahmens den man im Textperson-Profil zieht, kann jede kreative Intuition sich entfalten. Die Entscheidung, eine Textperson zum filmischen Akteur zu machen, entspricht den vielfältigen inhaltlichen und kreativen Entscheidungen bei der Auswahl und dem Zuschnitt von Recherche-Ergebnissen, Filminhalten, Filmszenen, Tonmontage und Filmschnitt. All diese kreativen Entscheidungen machen aus einem lebensrealen Stoff einen dokumentarisch überzeugenden Film. Ein dokumentarischer Film ist nie eine Abbildung, immer aber eine Übersetzung der Lebensrealität in ein zeitlich ablaufendes Film-Erleben, eine Filmwirklichkeit. Die „Textperson“ ist das Übersetzungs-Werkzeug, indem sie dem Filmtext eine dem Bild und Geräusch ebenbürtige filmische Gestalt gibt, die weit über den früher gewohnten „Kommentar zum Bild“ hinausreicht. Durch die Textperson gewinnen Autoren* professionelle Distanz zu sich selbst und Nähe zum Zuschauer. Sie können der Textperson Aufgaben übertragen, die sie aus eigener Betroffenheit nur schwer lösen könnten (z. B. kalt zu argumentieren in Situationen, in denen sie selbst Zorn verspüren). Das Publikum wird dann durch die Textperson im kurzen Filmverlauf den gleichen Zorn erreichen, den die Autorin* auf Grund ihrer sehr viel länger dauernden Recherche und Erfahrung bekommen hat. Autor/Regie kann mit der Textperson die eigene erzählerische Haltung vielfältiger gestalten, als wenn man sich allein auf das eigene „Dabei-Gewesen-Sein“ stützen müsste. Die persönliche Authentizität kann durch die Authentizität und Plausibilität der Textperson wirksam werden, ohne dass man die Grenzen des eigenen Ich eingestehen müsste. Die Zuschauer werden nur dem gehörten Filmtext begegnen; Autoren* können diese Chance kreativ nutzen.

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Was macht den Filmtext zum Erzähler? 3 Was macht den Filmtext zum Erzähler?

Zusammenfassung

Jede Textperson zeigt ihre eigene Art der Formulierung. Es gibt nicht die eine, einzige, nicht hinterfragbare Gestalt eines Filmtextes. Fakten, die durch Kamera und Mikrofon nicht darstellbar bleiben oder nicht dargestellt wurden, und solche, die den Film insgesamt steuern, passen zu einer Textperson und gehören in den Filmtext.

Schlüsselwörter

Filmtext, Rollen, Gestaltung, Emotion, Fernsehjournalismus, Stimme, Textinhalt, Formulierung, Textpositionierung

Der Zuschauer* erlebt den gesprochenen Text. Die Stimme, ihr Klang, der Tonfall, der Sprechstil, die Sprechgestaltung bewegen die Emotion des Publikums tiefgreifender als der Sach-Inhalt der im Text formulierten Fakten. Zuschauer empfinden die Stimmung des gesprochenen Textes; sie spüren die innere Welt des Sprechenden – ob professioneller Sprecherin* oder Autor* – und machen sich auf Grund dessen unwillkürlich ein Bild von dem Filmerzähler, der Textperson. Die stimmlichen Körpersignale, die Stimmfärbung, der Stimmdruck wecken diese Vorstellung. Zwar entsteht in jedem einzelnen Zuschauer* ein eigenes Bild, die Schnittmenge dieser Erzähler-Vorstellungen im Publikum ist aber sehr groß. In Experimenten haben Psychologen vielfach feststellen können, wie die Vorstellungen eines Publikums aussehen: sie schließen auf die Haltung, schätzen das Alter, sie spüren, ob der Filmerzähler „von oben herab“ oder „auf Augenhöhe“ © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 G. A. Heussen, Die Textperson im dokumentarischen Film, Journalistische Praxis, https://doi.org/10.1007/978-3-658-28456-5_3

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Teil 1 Textperson und Filmtext planen

formuliert, ob er oder sie kompetent ist, neugierig, gelangweilt oder interessiert an der Geschichte, die er zu erzählen hat. All das nehmen Zuschauer unwillkürlich, aber unspezifiziert wahr und beurteilen daraufhin den Film, ohne dass sie den Sprecher kennen oder seinen Beitrag zu ihrem Urteil reflektieren müssten. Dass die Besetzung der Sprecherrolle die Wirkung eines Films erhöhen oder vermindern kann, lässt sich also leicht vorstellen. Professionalität und Berühmtheit von Sprecherinnen und Sprechern ist deshalb zwar ein kräftiges, aber noch kein ausreichendes Kriterium für die Besetzung. Und auch die Autorinnen* selbst sind nicht schon deshalb als authentische Filmerzähler qualifiziert, weil sie den Filmtext geschrieben haben. Wir werden später Kriterien für die Besetzung und das Vorgehen erläutern. Unglücklicherweise werden in der Dramaturgie und in allem, was mit Stimme und Formulierung zusammenhängt, die gleichen oder ähnlich Sachverhalte mit einer Vielfalt unterschiedlicher Begriffe bezeichnet. Die Bedeutungen solcher Begriffe überschneiden sich häufig; wissenschaftlich ist manches weniger klar als es wünschenswert wäre. Damit müssen wir leben und deshalb werde ich für die Textperson alle Begriffe nach neuestem Wissenstand so definieren, dass man sie in der professionellen Kommunikation und Praxis nutzen kann.

3.1

Wie gesprochen wird

Das Publikum erlebt eine Textperson als ein Gesamt ganz unterschiedlicher Elemente. Von denen wirken einige vornehmlich auf die Emotion: • Die Stimme ist hoch oder tief und wird spontan als männlich oder weiblich eingeordnet. Der Zuschauer* schließt daraus – auf Grund der eigenen Lebenserfahrung – ob und wie weit ein Filminhalt spannender werden wird, wenn er von einem Mann oder einer Frau erzählt wird. • Der Stimmklang ist scharf oder weich, aufreizend oder beruhigend; er kann viele Schattierungen haben und sich im Laufe des Films auch ändern. Der Stimmklang wirkt spontan angenehm oder unangenehm auf Zuhörer. Diese Wirkung hat jeder im Privaten erlebt bei Menschen, denen man nicht gut zuhören kann. Und bei solchen, die man mag. Abhängig vom Filminhalt empfinden Zuschauer eine weich klingende Stimme oder eine scharf klingende Stimme als passend. Die Erfahrung mit Textpersonen erleichtert die Entscheidung, welche Stimme für

3 Was macht den Filmtext zum Erzähler?

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das jeweilige Thema eher plausibel wirken wird. Es gibt hierfür keine „Ein-für alle-Mal-Regel“. • Tonfall und Stimmdruck können verlockend sein oder keinen Widerspruch dulden, sarkastisch oder feierlich wirken, getragen oder gehetzt. Der gedruckt vielleicht nüchtern wirkende Filmtext kann jammerig oder fröhlich klingen, distanziert oder ranschmeißerisch, gelangweilt oder anziehend; er kann harsch, herablassend, hämisch oder heiter ausfallen, oder einfach harmlos wirken; er kann auch sachlich referierend sein. Immer wirken Tonfall, Stimmdruck und Sprechtempo auf die Emotion des Zuschauers. Einen Tonfall, den man auch im Privatleben schlecht aushält, wird das Publikum auch bei einem Filmerzähler kaum je als kompetent oder zugewandt erleben. Und allzu aufgesetzte Fröhlichkeit langweilt nach Kurzem; im realen Leben ebenso wie bei einer Textperson. • Die Sprechgestaltung erzielt die auffallendste Wirkung im Publikum. Es hört, ob der Text abgelesen wird oder so gelesen, als entstünde er im Augenblick. Die Betonung, die Sprechgeschwindigkeit, Rhythmus und Tempo vermitteln dem Zuschauer mehr als nur den Text; man nennt es fachlich „paralinguistischer Inhalt“, also dasjenige „Gesamt“, welches eine sprechende Person von einem nur stumm gelesenen Text unterscheidet. Dieses Element eines gesprochenen Textes kann die Sachinhalte eines Filmtextes abmildern oder auch verschärfen. Langsames Sprechtempo wirkt zwar gravitätisch, aber nach kurzer Zeit auch langweilend. Hohes Sprechtempo kann auf Aktion hindeuten, aber auch auf Desinteresse am Inhalt. Der Wechsel von Sprechtempo und Rhythmus wirkt erregender als eine ganz gleichmäßige Sprechgestaltung über die gesamte Filmlänge. Denn die Gleichmäßigkeit lässt die Zuschauer spüren, dass Figuren und Inhalte den Film-Erzähler, die Textperson nicht bewegen. Man spürt dann nicht, was sich gleichzeitig in Bild und Ton abspielt. Diese gleichmäßige Distanziertheit lässt den oft zitierten „Erklär-Bären“ entstehen, und auch den abgeklärten, von keinem Schreckensbild zu erschütternden „Allwissenden Erzähler“ in vielen Dokumentationen: an Jahren alt und üblicherweise männlich. Der Filmtext selbst verbindet emotional wirkende und inhaltsgefüllte Elemente, die beide das Publikum dazu bringen, etwas verstehen zu wollen und tatsächlich zu verstehen. Sie geben einem dokumentarischen Film erzählerisches und argumentatives Gewicht. Und machen dessen Haltung – und die der Textperson – zum Inhalt und zum Publikum erkennbar. Der Bezug zu Bild und Szene wird durch die Text-Fakten erreicht, welche die Bild-Szene vervollständigen und ihr eine zusätzliche Dimension des Erlebens hinzufügen. Die Zuschauer orientieren sich zuerst und spontan an den Szenen, in 29

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Teil 1 Textperson und Filmtext planen

die sie geraten und erwarten, deren Bedeutung vom Filmtext zu erfahren. Natürlich schweigt eine Textperson, sobald eine Szene sich selbst erläutern kann. Sobald aber Filmtext nötig wird, sollen Fakten und Formulierung die Zuschauer spüren lassen, dass die Textperson zugleich mit ihnen den Film betrachtet. Dann entsteht die Vorstellung, der Filmtext sitze gewissermaßen neben der Zuschauerin* und stehe nicht dozierend oder mit Anderem beschäftigt vor ihr. Wie diese Verbindung von Text und Bild im Detail möglich ist, wird später erläutert. Zerstören kann ein Filmtext das gesamte Zusammenspiel von Bild, Ton und Text und infolgedessen das Interesse der Zuschauer auf Null bringen: • • • • •

wenn Fakten im Text erscheinen, die für die Textperson falsch ausgewählt sind; wenn zu viele Fakten an derselben Stelle sich drängeln; wenn Fakten dem Bild-Inhalt widersprechen wenn Fakten an der falschen Stelle stehen; wenn der Text – im Verhältnis zur Bildlänge – zu lang ist und die Szene zudeckt.

Die Formulierung eines Filmtextes charakterisiert die Textperson und zeigt, welche Haltung eine Textperson zu den Film-Inhalten und zum Publikum hat. Jede Textperson zeigt ihre eigene Art der Formulierung. Es gibt nicht die eine, einzige, nicht hinterfragbare Gestalt eines Filmtextes. Textperson können Sachverhalte in sehr knappen oder in langen Sätzen, fachlich oder umgangssprachlich, sachlich detailreich oder zusammenfassend formulieren. Einige besondere Textpersonen dürfen sogar in Sprachklischees schwelgen. Manche Textpersonen können durch die Formulierung hohe Distanz zum Filminhalt oder zum Publikum zeigen, andere auch einen Mangel an Distanz. Je nachdem, in welchen Formulierungen eine Textperson spricht, werden Zuschauer sie für interessant oder langweilig, kompetent oder wenig hilfreich halten. Sie werde sich als einbezogen erleben oder als abgewehrt. Je nach dem Textperson-Typ werden Zuschauer die inhaltliche Leistung des Filmtextes als bereichernd empfinden oder als störend. Und natürlich sollten nur solche Textpersonen erzählen, denen das Publikum gern folgt. Die dramaturgische Positionierung des Filmtextes intensiviert oder schwächt das Zusammenspiel von Bild, Ton und Text. Je nachdem, an welcher Stelle des Bildlaufs einer Szene der Filmtext jeweils startet, je nachdem, wo er jeweils aufhört, entsteht für den Zuschauer eine andere Wirkung. Sie hängt davon ab, was vor dem Start eines Textstücks zu erleben war, und was danach zu sehen oder zu erleben sein wird. Denn solange die Informationen der Bild-Szene anregend sind und das Pu-

3 Was macht den Filmtext zum Erzähler?

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blikum beschäftigen, stört jeder Text. Sobald die Bild-Szene verstanden ist und die Spannung nachlässt, kann Text sich zeigen. Es beeinflusst das Urteil der Zuschauer, • ob ein Filmtext ein kontrastreiches Zusammenspiel mit Bild und Ton erzeugt; • ob und wie die Textformulierungen die Aufmerksamkeit auf bestimmte Bildelemente lenkt; • ob der Filmtext Bild und Ton dominiert oder ihnen Bewegung lässt; • ob er Filmszenen durch Formulierungen zumauert oder öffnet. Auf Grund der Positionierung des Filmtextes wird auch der Charakter der Textperson dem Publikum vertraut. Spannungsreiche und Interesse weckende Filme entstehen – wie das emotionale Mitgehen beim Basketball – durch lebendiges und abwechslungsreiches Abgeben und Aufnehmen zwischen Bild, Geräusch, Musik, O-Ton und Filmtext oder Schrift. Der oft wie ein Dogma zu hörende Satz: „erst ein bisschen Bild, dann Text“ führt zu einer schematischen Positionierung von Text wenige Sekunden nach Bildanfang, ohne Rücksicht darauf, wie die Positionierung in einer Filmszene eine stärkere Wirkung und gezieltere Bedeutung für die Gesamtgeschichte erzeugen könnte. Oft heißt es auch, man solle nach dem Ende eines Textstücks „noch etwas Bild stehen lassen“ in der Meinung, der Zuschauer müsse jetzt nach so viel Text etwas verschnaufen. Oft aber ist in solchen Fällen das noch stehende Bild zu statisch, als dass es Erleben bewirken könnte; es wirkt oft wie übersehen und stehengelassen. Bei Naturfilmen mit wirkungsvollen Einstellungen nach dem Text wirken diese Bilder wie angehängte, aber nicht integrierte Beispiele. In solchen Fällen wird eine flexiblere, dramaturgisch überlegte Text-Verteilung und Positionierung die Wirkung der Szenen steigern. ▶ Erst auf der Basis der emotionalen Aspekte eines Filmtextes können seine Inhalte die Zuschauer erreichen.

3.2

Was gesprochen wird

Die Inhalte eines dokumentarischen Filmtextes sind – isoliert betrachtet – nüchtern, präzise, distanziert und kalt. Als geschriebener Text wirken sie unvollständig und sind ohne Bild/Szene und Ton oft unverständlich. Nicht verwunderlich, denn der Filmtext ist nur einer der Spieler im Informationsteam. 31

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Teil 1 Textperson und Filmtext planen

Die Fakten und Sachverhalte im Filmtext – und deren Formulierung, Positionierung und Sprechgestaltung – wecken im Zuschauer Emotionen, die diesen in die dokumentar-filmischen Erzählung und in die filmische Argumentation hineinziehen und darin vorantreiben. Die Idee, durch emotional formulierten Text die Emotionen des Publikums anzuregen, lässt, entgegen der Erwartung, die Aufmerksamkeit der Zuschauer erschlaffen; wie die von Kindern, die bemerken, dass die Erwachsenen ihnen eine Emotion bereits vormachen, welche die Kinder gern selbst zeigen würden, und anders, als die Erwachsenen erwarten. Alle Fakten, die durch Kamera und Mikrofon nicht darstellbar bleiben oder – aus welchen Gründen immer – nicht dargestellt wurden – und solche, die den Film insgesamt steuern, passen zu einer Textperson und gehören in den Filmtext. Je mehr Sachverhalte durch Szenen und Bildgestaltung, durch Geräusche, O-Töne Musik und Schrift – und durch den Schnitt – bereits filmisch etabliert werden, umso weniger muss der Filmtext sich aufbürden. Dokumentarische Filme benötigen, wenn der Inhalt es verlangt, eine auch in Details differenzierte Text-Darstellung der Sachverhalte. Der Filmtext muss fast immer – weil Bilder und Ton das nur schwer können – deutlich erkennbare Rote Fäden und in vielen Fällen auch inhaltlich klare Argumentationslinien führen. Im Film ist der Text nur einer von sechs Informations-Mitspielern. Dies entlastet – anders als bei Radio oder Zeitung – den Filmtext und die Textperson. In den Filmtext gehören als Inhalte: • in Bild und Ton nicht darstellbare Sachverhalte, die für die jeweilige Filmsequenz und/oder für die Gesamtgeschichte relevant sind; • recherchierte Sachverhalte und Fakten; möglichst konkret und als Details; es sind äußere Fakten und auch innere (z. B. „Sein Magen zog sich zusammen vor Hunger“; „Die Idee, sich in der Normandie niederzulassen und dort zu bleiben …“). Die Textperson kann sie, ähnlich wie die Kamera, als sprachliche Totale (z. B. „Den Odenwald haben 4 Kilometer hohe Eisschichten abgehobelt“). oder als Großaufnahme darstellen (z. B. „An das Handtuch erinnert er sich genau. blau-weiß: das bekam er nass ins Gesicht geschlagen; von seinem Onkel“); • nicht dargestellte, aber relevante Fakten oder Sachverhalte. Die Gründe, warum sie nicht dargestellt wurden (z. B., weil es beim Dreh nicht gelang), zählen nicht; • Fakten, welche das Publikum in Spannung auf das Nachfolgende versetzen (z. B. „Weizen haben sie hier zum ersten Mal gesät. Dass er aufgeht, darauf hoffen sie jetzt“)

3 Was macht den Filmtext zum Erzähler?

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• Fakten zu Roten Fäden, also zu Abläufen (z. B. „noch 24 Kilometer bis zum Tagesziel“; „es müssten, wenn die Probe infiziert ist, nach drei Tagen Pilze wachsen“); • inhaltliche Vorgriffe oder Erinnerungen; Fakten zu Handlungsmotiven (z. B. „NN hat begründete Chancen, selbst Minister zu werden“); echte Handlungsmotive bekommt man nur selten im O-Ton, denn O-Ton Geber nennen nur solche Handlungsmotive, die sie selbst für akzeptabel halten. • Hinweise auf Nebenfiguren oder Geschehnisse, die das Publikum etwas ahnen lassen, es aber noch nicht vorzeitig erklären. Dramaturgisch bezeichnet man diese Technik als „Samen legen“. Insgesamt sieht es durch diese Aufzählung so aus, als müsse ein Filmtext notwendig viele Wörter haben, damit er stimmig und passend wird. Er sollte aber nur relevante Fakten zeigen. Keine sonst. Jede Textperson ist dann daran erkennbar, welche Fakten und Sachverhalte sie auswählt und wie sie diese formuliert. Eine wissenschaftlich argumentierende Textperson wird sich auf diejenigen Fakten beschränken, die ihre Argumentation tragen. Ein nebenbei erzählende Textperson, wie sie in Filmen über Mode oder in einem Personality-Kurzporträt sinnvoll sein kann, wird Details präsentieren, die auf den ersten Blick total nebensächlich erscheinen, dadurch aber die Leichtigkeit der Erzählung stärken. Die scheinbar nahe liegende Lösung, aus Rücksicht auf die Zuschauerinnen* einem Filmtext möglichst allgemein zu formulieren, hat – entgegen der Erwartung, weniger Fakten würden das Filmverstehen fördern – eine fatale Wirkung: der Film wird auf weite Strecken für das Publikum belanglos. Fakten und konkrete Sachverhalte im Filmtext regen die innere Aktivität der Zuschauer an. Die generalisierenden allgemeinen Sätze entstehen dann als Eigenleistung im Publikum selbst, weil es aktiv mitgeht. Bleibt eine Redaktion bei der Lösung, möglichst wenig Fakten in ihre Filmtexte zu lassen, wird sich auf Dauer immer weniger Publikum einfinden, wie schon manche Redaktion erfahren hat; und im Netz diejenigen Unternehmen und Anbieter öffentlicher Dienstleistungen, die mit der Absicht, Publikum zu gewinnen, ihre Image-Videos möglichst detailarm oder faktenrein gelassen hatten. Wenn bei der Sprachaufnahme professionelle Sprecherinnen/Sprecher und sprechgeübte Autoren die im Filmtext angelegte und beabsichtigte Textperson kennen, können sie mit ihren professionellen Gestaltungsmöglichkeiten einen dokumentarischen Film für das Publikum zu einem attraktiven Erlebnis werden lassen. 33

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Teil 1 Textperson und Filmtext planen

Kennen sie die Textperson nicht, oder haben Autoren keine Textperson konzipiert, werden die Sprecher den Filmtext zwar professionell vortragen. Sie können ihm aber kaum eine besondere Wirkung verleihen. Das ist einer der Gründe, weshalb auch aufwändig gemachte dokumentarische Filme oft männlich, behäbiger und belehrender klingen, als es von Autoren* und Redaktion beabsichtigt wurde.

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Wer soll den Film erzählen? Eine Textperson gestalten 4 Wer soll den Film erzählen? Eine Textperson gestalten

Zusammenfassung

Die Erzählhaltung ist nicht identisch mit der persönlichen Meinung, die Autoren zur Hauptfigur oder zu Vorgängen in der Filmerzählung haben. Sie ist das Werkzeug, das dem Publikum ermöglicht, die Gesamtaussage des Beitrags selbst zu erfassen.

Schlüsselwörter

Dramaturgische Erzähl-Position, Textperson, Erzählhaltung, Meinung, Ich?, Keine kreativen Kompromisse beim Filmtext

Mit der Textperson schaffen Autoren* sich ihre dramatische Position im Film. Und damit den Punkt, von dem aus sie die Geschichte erzählen und die Richtung, in der sie die dokumentarischen Inhalte mit dem Publikum entfalten. Daraus entsteht eine eindeutige, der Erzählung dienende Hauptperspektive und eine Erzählhaltung. Sie ist nicht identisch mit der persönlichen Meinung, die Autoren zur Hauptfigur oder zu Vorgängen in der Filmerzählung haben, sondern das textlich gestaltete Werkzeug, mit welchem sie ihrem Publikum ermöglichen, das Ergebnis ihrer Recherchen und ihre Schlussfolgerungen daraus selber zu erreichen. Schon weil die Autoren* im Filmtext nur noch als Stimme präsent sind, begegnen ihnen die Zuschauer nur noch indirekt im Zusammenspiel der filmischen Darstellungsebenen und Gestaltungsmittel. Der Filmtext, den Autorinnen* schreiben und © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 G. A. Heussen, Die Textperson im dokumentarischen Film, Journalistische Praxis, https://doi.org/10.1007/978-3-658-28456-5_4

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Teil 1 Textperson und Filmtext planen

als der sie auftreten, verhält sich also wie eine eigenständige dramatische Figur, die auf der Bühne des Films auftritt. Sie ist nicht mit dem Autor selbst identisch. Warum nicht gleich im „Ich“ erzählen? Bei dokumentarischen Filmen sind Autorinnen* ja in allen Arbeitsphasen dicht am Stoff. Sie haben erlebt, was im Film zu sehen ist, allerdings – auch im kürzesten Magazinfilm – in sehr viel längerer Zeit, als sie dem Zuschauer für dieses Erleben geben können. Könnte es nicht die Authentizität des Films und des Filmtextes steigern, weil die Textautoren sich auf ihr eigenes Erleben stützen? So sieht es tatsächlich auf den ersten Blick aus. Und in den Fällen, in denen Autoren* im Film selbst auftreten, ist das „Filmtext-Ich“ auch eine passende Filmtext-Form und Erzählhaltung mit erheblichen Anforderungen an Inhalte und Formulierung. Aber selbst eine „Ich-Textperson“ erhält sich ihr filmisches Eigenleben. Denn auch sie wird als Filmtext geschrieben, sie wird vom Sprecher oder vom Autor gesprochen, sie tritt nur im Film auf und wirkt nur dort im Zusammenhang mit Szenen und Ton. Sie erreicht nicht die Lebensrealität einer direkten Begegnung. Die „Ich-Textperson“ ist, wie sich beim Vergleich mit anderen Textpersonen noch zeigen wird, eine besonders eigenwillige und – für ihre Autoren* – anspruchsvolle Film-Erzählerin. Der Filmtext ist als Textperson die einzige Gestaltungsebene, über welche die Filmautorinnen* vollständig verfügen können. Beim Drehen von dokumentarischen Szenen und bei der Tonaufnahme bleiben Filmemacher* immer abhängig von den Umständen des Drehortes und der handelnden Personen, von deren Verhalten und eigenen Launen, dem Zeitdruck, dem Wetter und vielen weiteren nicht kontrollierbaren Gegebenheiten. Das bleibt auch beim Schnitt so. Auch beim Arbeiten aus Archiven muss man mit den oft nur kärglich verfügbaren Ressourcen umgehen, neu vertonen, neue Teile konzipieren. Und immer im Budget bleiben. Vieles kann man nicht beeinflussen, weshalb das Bild-Ton-Ergebnis oft ein Kompromiss bleiben muss. Beim Filmtext und der Textperson hingegen müssen Autoren* keine kreativen Kompromisse machen. Klar, der Filmtext ist nur einer von sechs filmischen Informationsträgern und Mitspielern, aber er ist derjenige, der das gesamte Spiel um die Aufmerksamkeit des Publikums steuert. Verglichen mit Bild und Ton ist Filmtext am flexibelsten. Er kann sich, wie Wasser zwischen Felsen, Fluss-Inseln und Steinen, im Filmmaterial überall hinbewegen. Deshalb ist es für Autoren* günstig – wie bei Bild und Ton – auch beim Filmtext eine handwerkliche Vorgehensweise mit ihrer Intuition zu koppeln. Die Gefahr

4 Wer soll den Film erzählen? Eine Textperson gestalten

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ist – vor allem unter Zeitdruck – sehr groß, dass ein Filmtext vorhersehbarer und, klischeebehafteter wird als die Autoren beabsichtigen. Filmtext benötigt einen kreativen Kick. Das Werkzeug dafür ist die Textperson. Damit lassen sich Spannung und filmerzählerischer Kontrast gestalten und steigern. • Beim üblicherweise hohen Arbeitstempo auf die Sendung hin – und die Zeit für Filmtext ist immer zu knapp – verfällt man in gewohnte Routinen. Sprachlich sind das die journalistischen Sprachklischees, Stanzen, Sprachhohlkörper, die „in die Tonne“ gehören. Bei anderen prangert man solche Leerformeln gerne an, ohne zu merken, wie sie einem selbst unversehens aus den Tasten purzeln. Man darf sich dann nicht wundern, wenn Sprachklischees einen Filmtext übermäßig bevölkern. Sie werden die Seriosität des Filmerzählers und des Films beeinträchtigen. • Da dokumentarische Arbeit intensive Recherchen und Kommunikation mit Quellen und Auskunftspersonen verlangt, gewöhnen sich Filmautoren an deren Sprache und die der schriftlichen Quellen. Behörden sprechen Amtssprache. Politiker und politische Dokumente drücken sich gern um konkrete Aussagen und äußern sich in verallgemeinernden und undeutlichen Beschreibungen und Absichtserklärungen. Fachleute und wissenschaftliche Veröffentlichungen benutzen ihren jeweiligen Fachjargon. Je mehr man sich in fremde Inhalte einarbeiten muss, um sie zu verstehen und filmisch darstellen zu können, umso leichter verfällt man den Quellenformulierungen, weil sie einem die Kommunikation mit den Auskunftspersonen erleichtern. Sie erschweren aber das Verstehen beim Publikum und behindern die Steuerungskraft eines Filmtextes. • Wenn man – wie es bei langen Filmen oft von Redaktionen verlangt wird – schon im Treatment Text formuliert hat, ist dieser am Ende einer Phase von Recherche und Sammeln entstanden. Typisch für diese frühe Arbeitsphase vor dem Dreh ist gedanklich und sprachlich der Aufzählungsmodus, der sich sprachlich im Indikativ Präsens ausdrückt (z. B. „ist …, hat …, tut …, geht …, steht …“). Typisch für diese Arbeitsphase ist auch die Inhaltsreihenfolge vom Allgemeinen zum Besonderen (z. B. „das hat die Gewerkschaften geärgert. Sie haben deshalb …“) Im Filmtext aber wird der Indikativ Präsens die Aussagefähigkeit des Bildes schwächen, weil er mit dessen Aussage-Sorte konkurriert, die ebenfalls „Indikativ Präsens“ heißt. Und die Inhaltsreihenfolge einer Erzählung läuft günstig vom Detail ins Allgemeine, ähnlich wie im Krimi, also umgekehrt als beim Treatment Schreiben. Das Unangenehmste: die Formulierungen des Treatments wirken wie Ohrwürmer, die man nicht mehr los wird. Der Treatment-Filmtext – der es im Stadium des 37

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Teil 1 Textperson und Filmtext planen

Textens nicht mehr mit geplanten Szenen, sondern mit dem geschnittenen Film zu tun hat – zeigt nur noch wenig oder gar keine Reaktion auf die tatsächlichen Bilder und Szenen und auf den Spannungsaufbau des gesamten Films. Fehler, die unbewusst passieren, lassen sich nicht vermeiden, auch wenn man die Absicht hat, sie zu vermeiden. Auch Selbstzwang oder redaktionelle Anweisungen helfen nicht wirklich. Daniel Kahnemann, Psychologe und Nobelpreisträger für Wirtschaft 2002, hat in vielen Studien aufgezeigt, wie leicht wir Menschen täuschbar sind und dass wir spontan nicht wirklich rational handeln, auch wenn wir davon überzeugt sind. Er rät: Situationen zu erkennen, in denen Fehler wahrscheinlich sind und auf der Grundlage kontrollierbarer Kriterien – er nennt dies das „System 2“ oder „Langsames Denken“ – weitreichende Fehler zu vermeiden, wenn vieles auf dem Spiel steht. Bei Filmtexten steht, wenn etwas nicht gelingt, nicht so viel auf dem Spiel wie auf einer Intensivstation im Krankenhaus. Der Filmtext steuert aber die Bedeutung und Richtung von Erzählung und Argumentation und lässt im Publikum Vorstellungen von der Welt, von Geschehnissen, Sachverhalten und von Personen entstehen. Weil hierbei Fehler leicht vorkommen, könnten Profis lernen, diese zu vermeiden. Die Vorstellungen sollten in dokumentarischen Filmen nicht unfreiwillig irritieren oder falsch werden. Denn das Publikum wird, wie in allen anderen Fällen von Information, nach den Vorstellungen handeln, die es gewinnen kann. Diese Vorstellungen sind „Die Information“. Professionell handelt, wer eine Textperson bewusst auswählt und sie gestaltet. Dann behält man die Kontrolle über sie und ihre filmische Wirkung; und über die eigene erzählerische Haltung. ▶ Die Textperson arbeitet als lebendige, zusätzliche Kamera – Sie veranschaulicht, was für Kamera und Mikrofon unzugänglich bleibt.

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Wer könnte den Film erzählen? 5 Wer könnte den Film erzählen?

Zusammenfassung

15 journalistisch relevante Textperson-Typen. Typ und Textperson. „Ich“ und „Wir“. Kriterien für die Auswahl für eine bestimmte Textperson? Sonderfall: die sichtbare Textperson.

Schlüsselwörter

Textperson-Typen, Auswahl, sichtbare Textperson „Ich-Textperson“, „Wir“-Textperson

Ebenso, wie man Menschen, ehe man sie als Person wirklich kennenlernt, spontan als Typen einordnet, kann man anhand der journalistisch-dokumentarischen Kernaufgaben bestimmte Textperson-Typen erfassen: Beobachter, Boten, Suchende, Begleitende, Fans, Kritisierende, Fachleute aller Art. Spezifische Merkmale in Sprachduktus, Wortwahl, Herangehensweise und Haltung zum Inhalt und Zuschauer prägen jeden dieser Typen und zeigen sich dann in der Sprache der konkreten individuellen Textperson. Prinzipiell gibt es so viele Textperson-Typen wie Menschentypen. Doch eine solche Vielzahl wäre nicht handhabbar. Im dokumentarischen Film bevorzugen wir diejenigen Textperson-Typen, welche die wichtigsten journalistischen Aufgaben abdecken. Ein Filmtext als bewusst gestaltete Textperson ist somit die konkrete sprachliche und sprecherische Gestaltung eines Textperson-Typs. Aber schon diese – journa© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 G. A. Heussen, Die Textperson im dokumentarischen Film, Journalistische Praxis, https://doi.org/10.1007/978-3-658-28456-5_5

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Teil 1 Textperson und Filmtext planen

listischen – Textperson-Typen sind weit zahlreicher und bieten mehr erzählerische Varianten, als man auf den ersten Blick vermutet.

5.1

Textperson-Typen und die konkrete Textperson

Stimme, Sprechgestaltung, Inhalt und Formulierung eines Filmtextes wecken – wie im richtigen Leben – im Filmzuschauer* spontan die Vorstellung von typischen Charakterzügen einer Textperson. Unabhängig davon, ob Zuschauer die Film-Stimme einem ihnen bereits bekannten Sprecher oder Autor zuordnen, spüren sie im Zuhören einen bestimmten Typ von Erzähler, den Textperson-Typ. Der Zuschauer reagiert darauf schnell und unreflektiert, wie er es im wahren Leben auf einer Party oder einer Konferenz auch täte. „Kompetenter Fachmann“ / „Der will mich belehren“ / „Ein selbstverliebter Angeber“ / „Typisch verärgerter Nörgler“; „Toll, ein genauer Beobachter“ / „Der zitiert nur Wikipedia“ / „Sie redet wie meine alte Tante“ / „so ein herablassend wohlmeinender Onkel“ / „Ein harter Rechercheur, wie ein Detektiv“ Den Textperson-Typ erfassen Zuschauer intuitiv. Sie müssen weder den Begriff „Textperson-Typ“ kennen, noch ihr spontanes Empfinden einer Textperson begründen. Ihr Urteil beruht – wie viele andere Einordnungen im Alltag – auf dem Erfassen von menschlichen Aktions- und Verhaltensmustern, in diesem Fall auf dem Verhalten eines Erzählers, den man gerade erlebt und dem man entweder gerne weiter zuhört oder nur durch Umschalten ausweichen kann. Zuhören und gleichzeitiges Zuschauen zieht das Publikum, ohne dass sich Zuschauer dessen bewusstwerden, in die unmittelbare Hör-Begegnung mit einem Frauen-Typ oder Männer-Typ; mit der Folge, dass Zuschauer diesen Typ mögen, ihn aushalten oder durch Abschalten oder Weiterklicken meiden. Der Filmtext gibt den zeitlich parallel laufenden Film-Bildern eine Bedeutung und zeigt Reaktionen auf O-Töne und Film-Situationen. Auf diese Weise lässt der Filmtext in jedem Fall eine bestimmte Textperson als beschreibbaren Textperson-Typ in den Ohren und der Vorstellung der Zuschauerinnen* entstehen. Die Textperson zeigt die Merkmale des Textperson-Typs sprachlich und konkret. Textperson-Typ und Textperson bilden dasselbe Verhältnis wie ein menschlicher Verhaltenstyp (Draufgängerin*, Anzug-Verkäufer*, Suchender*, Prüferin*, Rheinländerin*) zu einer konkreten Person dieses Typs. Der Textperson-Typ ist

5 Wer könnte den Film erzählen?

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durch seine wesentlichen Charakterzüge, Wahrnehmungsmöglichkeiten und Ausdrucksfähigkeiten definierbar. Die Textperson kann darüber hinaus diesen Typ in unterschiedlichen Stimmungen präsentieren (z. B. rotzig oder wütend, distanziert oder interessiert) und sie kann denselben Typ in unterschiedlichem Alter darstellen (z. B. als 25-jährige junge Frau oder als 60-jährigen Mann). Indem Zuschauer visuell den Film-Szenen folgen und gleichzeitig zuhören, spüren sie, wie eine Textperson mit der Filmsituation und den handelnden Personen umgeht. Auf dieses Verhalten einer Textperson reagiert die Zuschauerin* spontan. Man fasst Vertrauen zum Erzähler, wenn man bemerkt, dass er die Szene auf ähnliche Weise anschaut wie man selbst, und wenn sich der Text auf die Szene bezieht. Man distanziert sich, verliert Interesse oder ärgert sich, wenn Filmtext und Sprechgestaltung von der Szene wegdriften, das Gegenteil behaupten oder sich spürbar abschätzig oder gelangweilt verhalten. Stimme, Formulierung und Sprechgestaltung verraten dem Zuschauer* etwas über das Alter, die Lebenserfahrung und die Haltung der jeweiligen Textperson sowie über die Plausibilität und Konsistenz der Erzählung. In seinem Verhalten zu Bild, Ton und den im Film handelnden Personen manifestiert sich der Textperson-Typ. Zuschauer urteilen dann – spontan und unbewusst – zunächst über die Textperson, mittelbar auch über den Autor* und letztlich über die Redaktion und den Sender. Das Publikum spürt oder bemerkt, in welcher Weise Stimme, Lebenserfahrung und Logik des Textperson-Typs zum Inhalts-Anspruch und der Art des Films passen; oder eben nicht passen. Jeder Textperson-Typ weckt überdies eine Vorstellung von Motivation und Aufgabe des konkreten Erzählers – indirekt auch des Autors* – und auch über dessen gedankliche Begrenzung und inhaltliche Kompetenz. Aufgrund des spürbaren Gesamtverhaltens eines Textperson-Typs empfinden Zuschauer eine konkrete Textperson als irrelevant und nervend oder als passend, einladend und kompetent. Sie werden in jedem Sendeformat und bei jedem Filmthema immer den Mehrwert an Erleben und Wissen genießen, der durch einen glücklich gewählten Textperson-Typ entsteht. Denn jemandem, dem man vertraut, nimmt man Vieles ab. Von jemandem, der Abneigung weckt, mag man sich nicht gern etwas erzählen lassen. Der Textperson-Typ prägt die konkrete sprachliche Form der Textperson. Autoren handeln also günstig, wenn sie zuerst einen passenden Textperson-Typ für ihren Film auswählen und danach erst diesen als Textperson konkretisieren. Diese bewusst gestaltete Rolle ist – im Unterschied zu Erzählern in der Lebensrealität, am Tresen, am Familientisch oder zwischen Tür und Angel – keine wirklich lebendige, differenzierte menschliche Persönlichkeit. Die Textperson bleibt ein 41

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Teil 1 Textperson und Filmtext planen

Rollen-Individuum, nach dessen Lebensdetails kein Zuschauer ausdrücklich fragt, dessen Charakter er im Zuhören aber spürt und das sich deshalb auch nicht auf die wenigen Striche eines Typ-Klischees reduzieren lässt. Die unterschiedlichen Textperson-Typen werden für das Publikum erkennbar an journalistisch und hör-erzählerisch relevanten Kriterien: • an ihrem Umgang mit Fakten; an deren Auswahl und Gewichtung und an der Fülle oder Sparsamkeit, mit welcher Fakten und Sachverhalte im Text vorkommen • an ihrer erzählerischen Vorgehensweise; der Fachmethode in der Anordnung und Reihenfolge der Fakten • an ihrer Denkstruktur; der Fachlogik und Denkweise, die bestimmte Textperson-Typen deutlich charakterisiert, z. B. anwaltliche oder professionelle Begleiter • an ihrer Sprache; an seiner Wortwahl, Formulierung und Sprechstil • an der Sprecher-Präsentation: am Tonfall und an der Sprechgestaltung Diese Kennzeichen bewirken für den Textperson-Typ und damit auch für die endgültige Textperson: • ein Gesamtverhalten zum Film; zu Inhalten, zu Handelnden, zu Bild, Ton Musik und Schrift, zu Film-Situationen. Zuschauer spüren dies und können es beschreiben. • ein Gesamtverhalten zum Publikum (z. B. ebenbürtig, herablassend, aktivierend, mitreißend). Zuschauer spüren dies und reagieren darauf. Die Merkmale eines Textperson-Typs öffnen den Autoren* sprachliche Gestaltungsmöglichkeiten. Sie können mit diesen Textperson-Typen ihre Distanz oder Nähe zu Filminhalten und Publikum steuern, sie können durch bestimmte Textperson-Typen sprachlich eine Bewegung im Film erzeugen – und damit auch bei den Zuschauern innere Bewegung und Spannung wecken. Sie können das Publikum die Kompetenz ihres Recherche-Ergebnisses unmittelbar spüren lassen. Der Textperson-Typ „Kritiker“ wird beim selben Sachverhalt andere Fakten hervorheben und sich anders ausdrücken als der Textperson-Typ „Forscher“; und wieder anders wird sich der Typ „Anwalt“ sprachlich verhalten, und nochmals anders der Typ „Begleiter“ oder der Typ „Chronist“. Bild und Szene werden durch die jeweilige Textperson für die Zuschauer anders wirken. Der Filmtext wird durch solche Typ-Charakteristika genau, farbig, dicht und kompetent. Der Vorschlag, sich an Typ-Charakteristika zu halten und sie sprachlich zu entfalten, wirkt zwar wie eine Einschränkung der Kreativität, weckt aber in

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Film-Autorinnen* Energie für kräftige, das filmische Zusammenspiel verlebendigende Formulierungen. So kann das Publikum einen neuen Blick auf scheinbar Bekanntes richten. ▶ Detailrecherche lohnt sich – Alles, was man selbst kennt, kann eine Textperson nutzen – Mit wachsender Erfahrung wird die Recherche leichter.

5.2

Die Typ-Entscheidung

Welcher Textperson-Typ zu einer Filmform, zu einem bestimmten Inhalt oder zu einem Sendeplatz passt, ergibt sich nicht wie ein Schlüssel zum Schloss. Streng genommen sind so viele Textperson-Typen möglich, wie es Menschentypen gibt, aber nicht alle grundsätzlich möglichen Textperson-Typen passen zu dokumentarischen Filmen. Im Dokumentarischen Film sind Textperson-Typen sinnvoll, die journalistisch relevante Handlungs- und Darstellungsmuster konkretisieren: von den Kernaufgaben („Melden“, „Beobachten“, „Gewichten“, „Kritisieren“, „Plädieren“, „Begleiten“, „Kommentieren“) bis in deren Randzonen, die sich ins Unterhaltsame, Satirische und ins Belanglose strecken („Imitieren“, „Provozieren“, „Quatschen“, „Jargon sprechen“). Um erwartbare und naheliegende Erzähler-Klischees zu vermeiden, wird eine Entscheidung für einen bestimmten Textperson-Typ notwendig. Drei Kriterien schärfen diese Entscheidung: Kontraststärke, Filmziele und Sendeformat/Sendeplatz. Ob eines dieser drei Kriterien bereits allein ausreicht oder ob sie alle drei gegeneinander abgewogen werden müssen, hängt vom Filminhalt ab und von der Programmplatzierung – z. B. in einem Magazin oder auf einem Sendeplatz. Und sie sollte sich nach der Kraft von Information und Erzählung richten, welche der geschnittene Film bereits ohne Text zeigt. Oder die ihm dann noch fehlt. Wenn bereits viele Filme zum gleichen Thema im Programm waren – wie z. B. bei Jahrestag-Filmen – wird man bei der Typ-Entscheidung berücksichtigen, dass ein neuer Film zum gleichen Thema das Publikum mehr bewegen wird, wenn ihn ein Textperson-Typ erzählt, der eine neue Sicht auf den alten Stoff ermöglicht. „Kontrast zu…“ ist am wichtigsten, denn es trifft für jeden Film zu. Die Erzählspannung wird wachsen, wenn der Textperson-Typ einen hohen Kontrast zu wenigstens einem Film-Element aufweist (z. B. zum Geschehen, zum Inhalt, zu einer 43

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Teil 1 Textperson und Filmtext planen

gewohnten Erzählweise, zur Art der im Film auftretenden Figuren, zur filmischen Darstellungsweise). Das kreative Gespür, wie groß dieser Kontrast sein kann und zu welchem der bereits vorhandenen Film-Elemente der Textperson-Typ einen Kontrast bilden soll, folgt keiner Regel und wird immer wieder einmal auch die Grenzen des Filmgeschmacks der Beteiligten (Autor*, Redaktion, Leitung) streifen. Die Entscheidung kann beim gleichen Film unterschiedlich ausfallen. Der am Ende ausgewählte Textperson-Typ sollte kein anderes Element im Film wiederholen, er sollte nicht total vorhersehbar sein und er sollte gestalterische Schwächen in Bild, Ton und Schnitt verdecken können. Ein historisches Thema mit viel Archivmaterial; nahe liegt der Textperson-Typ „Chronist“, der mit hoher Distanz und Übersicht erzählt und Archivmaterial als Quelle nutzt. Der Kontrast: der Textperson-Typ „Geschichts-Studentin“. Eine junge Frau mit historischem Interesse, die sich ins historische Geschehen hineinarbeiten muss und für die Archivmaterial eine Entdeckung darstellt. Der Zuschauer kommt in stärkere innere Bewegung als durch einen allwissenden abgeklärten Chronisten. Der Film über ein Hospiz für Kinder. Er zeigt viele Frauen: Ärztinnen, Pflegerinnen und Mütter. Nahe liegt der Textperson-Typ „Frau im Elternalter“ oder „Pflegerin“. Der Kontrast: der Textperson-Typ „Großvater“. Ein alter Mensch ermöglicht dem Zuschauer etwas mehr Distanz bei einem emotional sehr bewegenden Inhalt, hat aber hohes Interesse an seinen Kindern (die Eltern im Film) und Enkeln. Der Zuschauer kann auf Grund dieses Textperson-Typs seine Familienerfahrung aktivieren und so anders auf das Hospiz schauen, als es ihm durch die Augen einer Krankenschwester möglich wäre. „Filmziele“ klärt die Entscheidung für einen bestimmten Textperson-Typ. Denn Textperson-Typen können beim gleichen Film-Inhalt auf unterschiedliche Weise die beiden Filmziele (Emotions-Ziel und Argument-Ziel) erreichen. Für das Publikum wirkt derjenige Textperson-Typ besser, der die Filmziele überzeugender, auf interessantere Weise und konsequenter erreichen kann. Abhängig ist dies natürlich auch von den Erwartungen und Anforderungen, die Redaktion und Publikum an die jeweilige Sendung stellen (z. B. an ein politisches Magazin; an eine Regionalsendung; an einen Story-Sendeplatz). In die Abwägung für den jeweils passenden Textperson-Typ gehören alle filmischen Elemente: die Erzählkraft der Filmhandlung, die Überzeugungsfähigkeit der handelnden Figuren, die besonderen Stärken von Bild und Ton, gestalterische Mängel, Eingängigkeit oder Sperrigkeit des Inhalts. Und auch die Klischees und Vorurteile

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des Publikums bei jeweiligen Thema und alles, was den Weg auf die Filmziele hin hindern kann oder was nach einem bereits ausgetretenen Erzählweg aussieht: all das stärkt die Überlegung, welcher Textperson-Typ am Ende genommen wird. Je nachdem, ob das Emotions-Ziel oder das Argument-Ziel mehr Gewicht bekommen soll, gewichten sich auch die filmischen Elemente. Am Ende steht die kreative gestalterische Entscheidung für einen bestimmten Textperson-Typ. Und zu diesem könnte es auch gut funktionierende Alternativen geben. Aber man muss sich entscheiden. Der Film berichtet von Korruption in einem Unternehmen. Nahe liegt der Textperson-Typ „suchender Journalist“. Für die Filmziele günstiger: der Textperson-Typ „Staatsanwalt“. Dieser Textperson-Typ betrachtet die Fakten als mögliche Beweise, die O-Töne als relevante Zeugenaussagen und argumentiert mit juristischer Logik; er jammert und klagt nicht. Die Zuschauer erleben geordnete Argumente, erkennen die Lücken im Unternehmen und auch das, was das Unternehmen zu verheimlichen sucht. Sie verstehen; und sie werden wütend werden. Der Film zeigt einen Dirigentenwettbewerb. Ein eher innermusikbetrieblicher Vorgang mit schwierig nachzuvollziehenden Kriterien. Nahe liegt der Textperson-Typ „Beobachter“. Dessen Gefahr: es wird ein langweiliger Ablauf. Für die Filmziele günstiger: „der nörgelnde Taktstockmacher“. Der schaut aus seiner engen Handwerker-Perspektive auf ein Geschehen, das er skurril findet, von dem er aber lebt. Das Publikum bekommt Freude an der Skurrilität des Textperson-Typs und des Vorgangs und versteht gerade dadurch, wie der Wettbewerb funktioniert. „Erzählerische Abwechslung“ macht Magazine und Sendeplätze variantenreich. Die Formatierung von Sendplätzen (Magazin oder Sendung) schließt oft unausgesprochen die Überzeugung ein, die Wiedererkennbarkeit sei für das Publikum dann hoch, wenn die Filme möglichst gleichartig gestaltet sind. Diese Überzeugung kommt aus der Markenstrategie von Unternehmen, die gegenständliche Produkte herstellen. Dort ist es konsequent, auf Gleichartigkeit zu dringen. Im Fernsehen und im Netz geht es aber ums Erleben und Verstehen. Das Publikum schätzt zwar Regelmäßigkeit und Wiedererkennbarkeit, nicht aber gestalterische Monotonie. In Magazinformaten mit oft vorhersehbaren gleichartigen Filmformen (z. B.: Bericht mit O-Ton, im Redaktionsjargon BmE oder BmO genannt) bewirken unterschiedliche Textpersonen erzählerische Variation im Magazinverlauf. Der 45

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Filmtext in Regionalmagazinen entsteht oft unter hohem Zeitdruck und auch in Fachmagazinen (Wissenschaft, Kultur, Politik, Service) bleibt für den Filmtext meist sehr wenig Zeit. In dieser Lage greifen Autoren* spontan auf Textroutinen zurück, die sie kennen und die sich als journalistischer Jargon eingefräst haben. Die Folge: die Texte aller Filme klingen ähnlich, was Magazinsendungen weniger attraktiv macht, als sie auf Grund ihrer Inhalte sein könnten. Es ist tatsächlich nicht einfach, unter den Produktionsbedingungen von Fernseh-Magazinen jeden Film in seine passende textliche Bestform zu bringen. Aber mithilfe unterschiedlicher Textpersonen kann eine Magazinsendung deutlich mehr sprachliche Varianz zeigen. Bei einem Magazin-Format (polythematisch oder monothematisch), können Auftraggebender Redakteur* und Autorin* bereits früh auch über mögliche Textperson-Typen sprechen. Für manche Magazinfilme sind Textperson-Typen bereits durch Thema, Filmform oder Zeitdruck fast mechanisch vorgegeben. Dann lässt sich für diejenigen Filme, die etwas mehr Produktionszeit bekommen, eine attraktive Textperson schaffen. Und so kommen im Magazin immer wieder Filme mit anderen Erzählern vor. Und man erreicht im Verlauf von einigen Monaten sprachliche Abwechslung auf dem Sendeplatz. Ein tägliches Regionalmagazin. Die Filmformen variieren (Bericht, Porträt, Reportage, Wetterfilm, Service, Tipps). Der naheliegende und gewohnte Textperson-Typ für alle ist der „Berichterstatter“ oder der „Bote“. Die Abwechslung: wenigstens zwei Filme des Magazins mit anderen Textperson-Typen planen. Bei der häufigen Filmform „Bericht mit O-Ton“ kann man für den einen oder anderen dieser Filme einen besonderen Textperson-Typ auswählen. Das Publikum wird die Variation bemerken und wertschätzen. Auf Sendeplätzen, die unterschiedliche Themen mit einer definierten Bildsprache präsentieren (Hochglanz-Fernsehen bei Reportagen oder Dokus) kann die Variation von Textperson-Typen den Publikumszuspruch erhöhen, weil Menschen an gewohnten Orten geradezu süchtig sind nach leichten Variationen, sich aber bei gleichartiger Erzählweise leicht langweilen, auch wenn Bilder schön sind und die Musik kräftig. Eine erzählerische Abwechslung durch unterschiedliche Textperson-Typen bei ähnlichen Inhalten (z. B. bei Naturfilmen oder Abenteuern aus Historie und fernen Ländern) wird den Sendeplatz beim Publikum aufwerten, weil die jeweiligen Filminhalte auf das Publikum anregender wirken, als wenn es auf nur einen Textperson-Typ trifft, der eine immer gleiche Stimmung erzeugt. Der von der Redaktion definierte Markenkern eines Sendeplatzes könnte solche Text-Erzähl-Varianten einschließen.

5 Wer könnte den Film erzählen?

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Ein Sendeplatz für Naturfilme. Nahe liegt der häufig vorkommende Textperson-Typ „faszinierter Beobachter, männlich, alt“. Und der gleiche Sprecher für alle Filme. Die Wirkung: die vielfältigen Unterschiede und Darstellungsweisen in den unterschiedlichen Naturfilmen auf dem Sendeplatz werden dann geradezu eingeebnet. Die Abwechslung: Jeder Film auf dem Sendeplatz bekommt eine anderen Textperson-Typ der auch unterschiedlich alt gestaltet wird: mal eine „Jägerin“, mal einen „Naturschützer“, mal einen „Zoologie-Studenten“, mal eine „Bäuerin“, mal einen „Umweltpolitiker aus Brüssel“ oder mal eine „Veterinärin auf Fernreise“. Die Zuschauer werden einen viel variantenreicheren Blick auf die Natur gewinnen und den Sendeplatz gern wieder besuchen. Bei Filmen, die in einem neuen Programm-Kontext gezeigt werden, muss man sich oft mit Archivmaterial befassen. Wenn man solches Material als historische Zeugnisse präsentiert, als Zitat, sollte es unverändert bleiben. Manchmal aber sendet man alte Filme zu einem bestimmten Anlass, oft aus Sparzwängen (z. B. im Nachmittagsprogramm), manchmal aber auch, weil der Film inhaltlich das Programm bereichern kann, obwohl er nicht neu gedreht worden ist (z. B. bei einem Themenabend oder einer Themenwoche). Ältere dokumentarische Filme wurden naturgemäß von einem zeitgebundenen, ehemals vielleicht modischen, zum geplanten jetzigen Sendezeitpunkt aber altmodisch wirkenden Filmtext und Sprecher erzählt. Das Publikum spürt den alten Kontext und die bereits vergangene Sprache. In solchen Fällen könnte ein alter dokumentarischer Film – ohne Änderung von Bild und Schnitt – bei der Wiederaufnahme in einem neuen Programmkontext von einem neuen Textperson-Typ erzählt werden. Dann werden die früher gedrehten Bilder, Töne und Schnitte frisch und neu wirken, weil sie durch einen aktuellen Textperson-Typ eine zum neuen Kontext passende Bedeutung bekommen. Die Entscheidung für einen neuen Text ist nicht trivial. Die kann den Film wirklich frisch machen, aber ein neuer, als modern und cool angelegter Textperson-Typ kann einen alten Film auch verschlimmbessern. Eine vor Jahren erfolgreiche Filmreihe zur Historie des Dritten Reiches wird neu gesendet. Der damals verwendete Textperson-Typ ist der „anklagende Historiker“. Der neue Textperson-Typ könnte sein: eine „Mitglied einer Geschichts-AG eines Gymnasiums“ mit Europa-Hintergrund. Ein solcher Typ würde die Sachverhalte, die im alten Text verwendet sind, aus jüngerer Lebenserfahrung formulieren und damit weiteres Publikum gewinnen können. Wenn jeder Film dieser wieder

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aufgenommenen Reihe eine leichte Variante dieses Textperson-Typs aufweisen kann, werden die Zuschauer gerade dies wertschätzen. Klare Sprache, sachliche Genauigkeit und fachliche Deutlichkeit zeigt die junge Textperson, die für Kinder und Erwachsene plausibel über den 2. Weltkrieg erzählt. In der Reihe „Der Krieg und Ich“ bei KIKA/SWR 2019. https://www. bing.com/videos/search?q=Kindernetz+Der+Krieg+und+ich&&view=detail&mid=4B92D3E5DB499FB096344B92D3E5DB499FB09634&&FORM=VDRVRV Ein Service-Nachmittagsmagazin, das seine Filme im Wesentlichen aus dem Archiv nimmt. Die Textperson-Typen in diesen Filmen aus vormals unterschiedlichen Programmen werden sich nur selten glatt ins neue Programm einfügen. Sie können ihre andersartige Herkunft nicht verleugnen. Neue Textperson-Typen die zum Sendeplatz und zur neu geplanten Filmabfolge im Magazin passen, werden das ganze Magazin als vollwertiges aktuelles Programm erkennbar machen. ▶ Der Textperson-Typ sollte einen spannenden Kontrast schaffen – Er soll die Filmziele erreichen können und auf dem Sendeplatz Abwechslung erzeugen.

5.3

Der Sonderfall: Sichtbare Textperson

In Präsenter-Formaten und in Reportage-Formen, bei denen Reporter* oder Präsenter* sich auch im Bild zeigen, wird der Textperson-Typ über das Akustische hinaus auch sichtbar. Durch diese Doppelung wird die Charakteristik des Textperson-Typs für das Publikum deutlicher, enger und im Detail wahrnehmbar. Das szenische Setting, die Körperhaltung der Präsenter-Figur, ihre Sprech-Darstellung und ihr Umgang mit anderen Personen in der Szene verraten rasch, ob die Präsenter-Figur auch in den OFF-Teilen, in welchen sie nur akustisch wahrnehmbar ist, stimmig und konsequent agiert. Und auch umgekehrt wird klar, ob die akustische Charakteristik mit der nun sichtbaren Figur plausibel übereinstimmt. In Präsenter-Formaten wird besonders deutlich, wie stark sich Rolle und Person unterscheiden können. Denn Zuschauer vergleichen das Gehörte mit der Figur, welche sie als sichtbaren Erzähler* erleben. Das Publikum versucht, eine Verbindung zwischen Figur und Person zu finden. Und schärfer noch als im Akustischen entstehen gegenüber sichtbaren Präsentern Sympathie oder Ablehnung.

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So verschärfen sich die Anforderungen an Faktenauswahl, Formulierung und Vorgehen des Textperson-Typs. Inhalt, Logik, und Sprechhaltung müssen in Präsenter-Formaten deshalb unbedingt zur jeweiligen dramaturgischen und inhaltlichen Aufgabe des Präsenters* und zu seinem sichtbaren Agieren passen. Und, aus der Machersicht betrachtet: Regie, Setting im ON, Präsenter-Verhalten und Kameraführung sollte die Aufgabe der Präsenter-Figur unterstützen. Präsenter können sich einen Textperson-Typ für die Filmteile auswählen. Denn sie stellen eine Präsenter-Figur dar, die mit ihnen als Privatperson nicht identisch ist. Sie müssen allerdings so formulieren, dass die Zuschauer spontan alle Text-Fakten – auch die nur als OFF-Text hörbaren – auf die sichtbare Präsenter-Figur beziehen können. Denn die Zuschauer vermuten jedenfalls, sobald sie Präsenter sehen, dass diese tatsächlich eine gewisse Erfahrung mit den Sachverhalten haben, die sie präsentieren. Sobald sie erkennen, dass ein Schauspieler* oder ein aus anderen öffentlichen Auftritten bekannter Mensch (z. B. Nachrichtensprecher*, Musikerin*) als Präsenter agiert, vermuten sie, dass dieser einen Text präsentiert, der von jemand anderem geschrieben wurde. Die Präsenter* müssen dann große Mühe aufwenden, durch das Szenen-Setting, die Textformulierungen und Textinhalte ausdrücklich zu beweisen, dass sie sich in den präsentierten Stoff wirklich eingearbeitet haben. Häufig nutzen Präsenter* den Textperson-Typ „Ich“. Sie müssen diesen nicht ausdrücklich mit „Ich“ formulieren. Der Typ wird auch erkennbar, wenn sie sich so ausdrücken, dass alle Fakten als plausible konkrete Erfahrung und eigene Überlegung zum Präsenter-Auftritt gehören können („Was machen kleine Kinder, wenn sie Aufmerksamkeit wollen? Sie schreien. Und wiederholen sich so lange, bis sich einer ihnen zuwendet. Und nicht schimpft.“ Die Formulierung ist plausibel, wenn ein Präsenter* im Alter ist, dass er oder sie kleine Kinder haben oder erleben könnte). Der Textperson-Typ „Ich“ kann sogar mit dem tatsächlichen Personen-Ich der Präsenterin* übereinstimmen. Das setzt aber voraus, dass die Präsenterin* als Person die Erfahrungen selbst gemacht hat, von denen sie spricht. Ein Präsenter*, der eigene Erfahrungen plausibel präsentieren kann, steigert natürlich die Authentizität seiner Figur und seine Glaubwürdigkeit beim Zuschauer. Aber es wird eher selten vorkommen, dass ein Präsenter* über diese intensive Erfahrung verfügt. Andreas Kieling, Naturfilmer, in seiner Reihe „Kielings wilde Welt“, ZDF+Viking 2016. https://www.youtube.com/watch?v=6qFdZCUVVoA Andreas Kieling hat über Jahrzehnte in der Natur gelebt und die Tiere beobachtet. Jim Al-Khalili, in seiner Reihe „Welt unter Strom“, BBC 2011. https://www.youtube.com/watch?v=X2JsRcl-ug8 49

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Teil 1 Textperson und Filmtext planen

Jim Al-Khalili ist Professor für Physik an der University of Surrey, Guilford, ein von seinem Fach begeisterter Lehrer. Präsenter-Filme lassen sich unterschiedlich strukturieren. Die Präsenter-Figur kann den ON-Auftritt gestalten und auch alle filmischen Elemente inklusive des Filmtextes. Die Präsenter-Person kann sich auf den ON-Auftritt konzentrieren; die übrigen Elemente des Formats werden von anderen Autoren* und Sprechern* gestaltet. Wichtig ist einzig, dass im Präsenter-Format die Rolle des Präsenters* so plausibel wie möglich wird, ganz gleich, ob die Präsenter-Figur als private Person tatsächliche eigene Erfahrungen aufweist oder sich nur in den Stoff eingearbeitet hat. Wenn ein Präsenter* nicht selbst stoffkundig ist, wird es die Spannung des Formats erhöhen, wenn die Filme der Sendung ihn etwas irritieren. Sie sollten von anderen Textperson-Typen präsentiert werden damit die Präsenter-Figur als suchende und fragende und Schlüsse ziehende Figur auftreten kann und nicht als bereits wissende und nur präsentierende. Je stofferfahrener eine Präsenter-Figur als Person ist, umso eher kann sie auch die Filme in der Sendung selbst sprechen und die im ON etablierte Textperson-Typ im OFF der Einspielfilme weiterführen. Beide Entscheidungen können dramaturgisch richtig sein. Im ersten Fall vergrößert sich die erzählerische Variantenbreite, im zweiten die Authentizität und Glaubwürdigkeit der Präsenter-Figur. ▶ Auch Präsenter* agieren in einer Rolle – Die sollte klar definiert werden – Präsenter* müssen in der Rolle authentisch sein.

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Welche Dokumentarischen TextpersonTypen sind günstig? 6 Welche Dokumentarischen Textperson-Typen sind günstig?

Zusammenfassung

Das Kapitel stellt 15 Typen für die Textperson im dokumentarischen Film vor. Die Bandbreite reicht von der informationsorientierten Faktenwiedergabe über die Argumentation und das Erklären bis zum Text-Ich.

Schlüsselwörter

Textperson-Typen, Melden, Beobachten, Suchen, Argumentieren / Plädieren, Begleiten, Begegnen, Sammeln, Odnen, Klären, Gewichten, Meinen, Nachdenken, Öffentlich reden, Überreden, Imitieren, Sich verwandeln, Das „Ich“ und das „Wir“, Satire und Comedy

15 Typen von „Melden“ bis „Ich“: Professionelle Erzähl-Typen erhalten ihren Charakter und ihre Struktur von grundlegenden kommunikativen Handlungsmustern; solche Muster benutzen Menschen, um sich miteinander zu verständigen und um Verbindungen und Stetigkeit in der Gesellschaft zu erhalten. Im realen Leben stößt man auf viele unterschiedliche Kommunikationsmuster, in der Literatur auf nur wenige (z. B. allwissende Erzähler, Begleiter, das Ich). Im Dokumentarischen Filmen konzentriert man sich günstig auf solche Erzähl-Typen, die professionelle journalistische Handlungsmuster zeigen (z. B. Melden, Plädieren, Suchen, Begleiten, Gewichten, Begegnen). Einige dieser Textperson-Typen lassen sich weiter auffächern (z. B. Melden in: „Bote“, „Protokollant“ „Chronist“; Suchen in: „Rechercheur“, „Forscher“, „Kriminalbeamter/ Polizist/ Kontrolleur“ „Student“, „Anthropologe“). © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 G. A. Heussen, Die Textperson im dokumentarischen Film, Journalistische Praxis, https://doi.org/10.1007/978-3-658-28456-5_6

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Teil 1 Textperson und Filmtext planen

Denn derselbe Textperson-Typ kann sich in unterschiedlichen Verhaltensmustern, Vorgehensweisen und Ergebnissen zeigen. Zu manchen der 15 Textperson-Typen findet man Beispiele im Fernsehprogramm, in dokumentarischen Kinofilmen und auch im Netz. Aber nicht zu jedem. Und nicht jedes der beim jeweiligen Textperson-Typ genannten Beispiele zeigt einen in sich konsistenten Textperson-Typ. Immer wieder einmal entstehen aus Gespür und Intuition von Autoren* überzeugende Filmtext-Erzähler. Doch die bewusste Arbeit mit Textpersonen ist Filmautoren und Redaktionen oft noch unvertraut. Die Beispiele zeigen also anregende Lösungsrichtungen. Die Beschreibungen der Textperson-Typen lassen sich wie ein Lexikon nutzen. Man kann zuerst einen oder zwei Textperson-Typ kennenlernen und ein paar Male ausprobieren. Und dann den nächsten. Autorinnen* werden herausfinden, dass sie sich mit bestimmten Typen leichter tun als mit anderen. Und es lässt sich entdecken, welchen Textperson-Typ man selbst bislang bereits unbewusst genutzt hat. Den kann man anhand der Typ-Beschreibung professionell verbessern.

6.1 Melden Störungen des Gewohnten, Unfälle, Neuigkeiten und gesellschaftliche Veränderungen zu melden, gehört zu den dokumentarischen und journalistischen Grundaufgaben. Mit einer Meldung hält man den Stand der Dinge zu einem bestimmten Zeitpunkt fest und stellt diesen Sachverhalt der Öffentlichkeit zur Verfügung. Was die Öffentlichkeit oder andere Akteure (z. B. Politiker, Wirtschaftsführer, Forscher, Institutionen) aufgrund einer Meldung tun, liegt außerhalb der Verantwortung desjenigen, der die Meldung geliefert hat.

6.1.1 Bote* Boten sind in der Lebensrealität Überbringer einer Botschaft, Nachricht oder Meldung. Sie werden normalerweise von jemandem ausgesandt („der Bote des Königs“, die Nachrichtenkorrespondentin*) und kommen zu denjenigen, denen die Meldung oder Botschaft gilt. Seltener ist jemand Bote aus eigenem Antrieb (z. B. anlässlich eines erstaunlichen Ereignisses oder als Handy- und Twitter-Zeuge). Der

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Bote selbst und seine Zuhörer wissen, dass, was er berichtet, bereits stattgefunden hat, auch wenn dies nur wenige Momente her sein sollte. Diese Prämisse gilt auch für den Textperson-Typ „Bote*“, was der ursprünglichen Aufgabe von Journalisten bis heute entspricht: ein Publikum mit den jeweils neuesten Nachrichten zu versorgen. Filmdramaturgisch können dem Textperson-Typ „Bote*“ drei unterschiedliche Vorstellungen zugrunde liegen: • von der Redaktion zum Publikum geschickt (z. B. ein Nachrichten-Autor*, der einlaufende Quellen – Texte, Bilder, Töne – in der heimischen Redaktion bearbeitet); • im Auftrag des Publikums an einen Ort geschickt, um von dort Informationen zurück zu bringen (z. B. ein Korrespondent* oder eine Krisen-Berichterstatterin*); • hat einem Ereignis beigewohnt, von dem er selbst und eine Redaktion der Ansicht sind, es dem Publikum melden zu müssen (z. B. eine Person, die Handy-Bilder von einem Unfall zeigt; O-Ton Zeugen eines Vorfalls). Der Textperson-Typs „Bote“ fasst Geschehnisse und Sachverhalte knapp zusammen. Das Ziel ist, das Publikum möglichst rasch auf den aktuellen Sachstand zu bringen, so dass es sich eine zutreffende Vorstellung von Vorgängen und Geschehnissen machen und darüber vorläufig, dem Stand der Information entsprechend, urteilen kann. Der Textperson-Typ „Bote*“ • hält sich genau an Recherche-Ergebnisse zum Zeitpunkt des Berichts; • macht keine Bildbeschreibung („eine Spur der Verwüstung …“; „es ist alles unter Wasser …“), sondern liefert Zahlen und recherchierte Fakten; • zitiert Quellen ausdrücklich, bringt aber keine eigenen Vermutungen mit ein, sondern Fakten, die aufgrund der bisherigen Ereignisse in der Zukunft sicher stattfinden werden; • identifiziert sich nicht mit dem Berichtsinhalt, nicht mit den Handelnden und nicht mit der Faktenquelle, ist also kein Pressesprecher oder Lobbyist; • formuliert überwiegend im Perfekt. Durch diese Charakteristika wirkt der Textperson-Typ „Bote“ faktenbezogen, knapp, neutral und kalt. Ein Mensch als Bote könnte auch Verzweiflung oder Begeisterung zeigen. Nicht aber der Textperson-Typ. Von den zu einem Ereignis gehörenden Fakten wählt die Textperson „Bote“ diejenigen aus, die den Kern des Ereignisses bestimmen. Der „Bote“ meldetHauptsachen und Hauptumstände und zwar so, dass deren Auswirkung in den 53

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Teil 1 Textperson und Filmtext planen

Filmszenen möglichst deutlich werden. In den überwiegend kurzen Filmformen mit diesem Textperson-Typ kommt es darauf an, den Filmtext, der ja viele Fakten nennen muss, nicht alle Bilder überdecken zu lassen. Je mehr also Bild/Szene selbst erzählen kann, besonders am Filmbeginn, umso knapper kann sich der Textperson-Typ ausdrücken. Nebenumstände werden nur erwähnt, falls sie die Kern-Informationen stützen. Der „Bote“ folgt in der Regel dem Zeitverlauf, nutzt aber auch Rückblenden. Die Sprachwelt des „Boten*“ ist das Perfekt („NN hat geschossen“; „die Polizei hat geräumt“). Denn was „Boten*“ zu berichten haben, ist bereits vergangen, wirkt aber intensiv in die Gegenwart hinein. Genau das ist die Wirkung des Perfekt. Erwähnt „die Botin*“ die erwartbaren Wirkungen eines Ereignisses, nutzt sie das Futur. („die Straße wird gegen 17 Uhr wieder frei sein“). Berichtet sie von konzentrierten Ereignismomenten, kann sie ins historische Präsens wechseln („um 17:03: ein Knall, eine Feuersäule: in Halle 3 der BASF sind 3 Personen durch Explosion von Chlorgas ums Leben gekommen. Bis die Werksfeuerwehr zu ihnen gelangt, ist eine Viertelstunde vergangen“). Das oft wiederholte Perfekt verstärkt die Intensität der Botschaft. Die Formulierungen dieses Textperson-Typs können knapp sein bis zum Stil ehemaliger Telegramme oder so, wie man heute auf „Whatsapp“ oder „Signal“ schreibt. Immer wieder dürfen Verben fehlen. Weil der Textperson-Typ „Bote*“ die Brisanz eines unerwarteten Geschehens betont, versetzt er den Zuschauer in eine innere Bewegung auf dieses Ereignis hin. Aus demselben Grund aber erreicht der Textperson-Typ „Bote“ seine Grenze, sobald weite Zusammenhänge geschildert oder Fakten aus unterschiedlichen Erfahrungskreisen miteinander verbunden werden sollen. Denn zum „Boten“ gehört die glaubhaft erlebte Nähe zu den berichteten Ereignissen; es wird vorausgesetzt, dass er am Ort war oder seine unmittelbaren Quellen nennt. Der „Bote*“ passt zu (Krisen-)Nachrichten, nachrichtenähnlichen Sachverhalten und zu kurzen Filmformen, auch zu Anspielfilmen und Einspielfilmen. Dadurch hat dieser Textperson-Typ ein begrenztes Einsatzfeld; er passt in viele kurze Formate, auch in solche von nicht streng nachrichtlicher Natur. In langen Filmen wirkt ein „Bote*“ hektisch und nervös, weil der kurzrhythmische Sprachstil dort als „klappernder“ Text wahrgenommen wird. In nachrichtlich geprägten Magazinen schaffen „Bote*“, Protokollant*“ und „Chronist*“ als Kollegen sprachliche Vielfalt. Korrespondentenbericht und Live-Kollegengespräch in einem Nachrichtenmagazin; Meldungen in einer Nachrichtensendung oder einer Magazinsendung

6 Welche Dokumentarischen Textperson-Typen sind günstig?

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Anspielfilm zu einer Talk-Sendung / Einspielfilm in einer Gesprächssendung. Anspielfilm und Einspielfilm können in derselben Sendung dramaturgisch unterschiedliche Rollen bekommen und auch von ganz andere Textperson-Typen erzählt werden.

6.1.2 Protokollant*/Protokoll In der Lebensrealität halten Protokollanten in einem Verlaufs- oder Ergebnisprotokoll Gerichtsprozesse, Entschließungsvorgänge, Sitzungsergebnisse etc. schriftlich fest, so dass die mündlichen Inhalte für die Beteiligten in einer nachprüfbaren Form zur Verfügung stehen. Aussageprotokolle der Polizei dienen der gerichtlichen Beweisführung, wissenschaftliche Protokolle halten Verlauf und Ergebnis von Versuchen und Tests fest. Sitzungsprotokolle dokumentieren Entschlüsse und Vorhaben und deren Zustandekommen durch die Aktivität der Konferenz-Beteiligten. Ein Protokoll wird entweder gleichzeitig zum Vorgang erstellt oder als Gedächtnisprotokoll unmittelbar danach. Auf Grund ihrer Schriftlichkeit sind Protokolle prinzipiell, wenn auch nicht immer rechtlich, auch Nicht-Beteiligten zugänglich. Protokolle dienen den Beteiligten als Bezugsdokument zur weiteren Bearbeitung ihrer Vorhaben. Sie werden Ausgangsmaterial für kommende Sitzungen und gewährleisten für die unmittelbar Beteiligten und die nicht Anwesenden, aber dennoch Betroffenen in wesentlichen Punkten einen gleichen Informationsstand. Mit dem Textperson-Typ „Protokollant*/Protokoll“ ist eine gegenüber der Lebensrealität erweiterte Vorstellung verbunden. Dieser Textperson-Typ schildert auch nicht formalisierte Vorgänge, Ereignisse und Sachverhalte in der Protokollform. Ein „Protokollant*/Protokoll“: • ist auf das Publikum bezogen; auf die Beteiligten nur, insofern sie für das Publikum relevant sind; • agiert zeitlich auf gleicher Höhe mit dem Geschehen und den handelnden Personen; • befindet sich erzählerisch immer auf der Höhe der Hauptfigur, ist gleichsam neben ihr postiert und teilt ihre Wissensgrenzen; • ist nicht an die formellen Grenzen echter Protokolle gebunden. Er kann auch ein Geflecht unterschiedlicher Protokollformen liefern, wenn dies die Erzählung fördert; • präsentiert vornehmlich Fakten, welche die äußeren und/oder inneren Umstände eines Geschehens verdeutlichen. Er veranschaulicht Sachverhalte, die nicht 55

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Teil 1 Textperson und Filmtext planen

sichtbar oder visuell darstellbar sind, aber zum Geschehen notwendig gehören und die Sicht des Publikums auf die Filmszenen beeinflussen; • notiert Zeitpunkte und gewichtende Fakten, Wegstrecken und konkrete Handlungsvoraussetzungen. So erreicht dieser Textperson-Typ eine neutrale Erzähl-Position in Beziehung zum Inhalt eines Geschehens. Ein „Protokollant“ steht zu Geschehen, Personen und Fakten in gleichmäßiger Distanz und schildert Vorgänge und deren Voraussetzungen mit ausdrücklichem Interesse am tatsächlichen Geschehen; • stellt keine Vermutungen an; kann aber Vermutungen anderer als Zitat kennzeichnen. Wie ein Protokoll in der Lebensrealität versetzt der Textperson-Typ „Protokollant*/ Protokoll“ das Publikum in Gleichzeitigkeit zum Geschehen. Was sich außerhalb dieses Horizonts befindet, wird in der Protokoll-Logik so formuliert, dass der Zuschauer die Bedeutung und Wirksamkeit solcher Fakten für den dargestellten Augenblick spüren kann. Eine reine Aufzählung reicht für diesen Textperson-Typ meist nicht. Sprache und Sprachwelt des „Protokollanten*/Protokolls“ sind möglichst knapp und konzentriert. Das Leittempus dieses Textperson-Typs ist der Indikativ Präsens. Er wählt nüchterne Worte, setzt schmucklose Formulierungen und baut kurze Sinnschritte bis hin zu Sätzen im Telegramm-Stakkato ohne Verben, die sich mit vollständigen Sätzen abwechseln. Der „Protokollant*/Protokoll“ vermeidet Adjektive und wirkt dadurch insgesamt trocken. Der Protokoll-Stil lässt aber durch den Indikativ Präsens auch die Vorstellung von unverbunden aufeinander folgenden Punkten aufkommen, die den emotionalen und sachlichen Zusammenhang rasch schwächen können. Deshalb sollte der „Protokollant“ immer wieder für kurze Zeit das Tempus wechseln: ins Perfekt, weil dieser Tempus die Wirkung eines Geschehens bis in die Gegenwart andauern lässt; ins Futur, weil dieses Tempus Spannung und Erwartung steuert; auch das Passiv ist möglich, weil dieser Modus die Einwirkung Anderer auf die Hauptfigur spüren lässt. Immer wieder muss der „Protokollant“ aber zurück in den Indikativ Präsens, damit die Vorstellungen der Gleichzeitigkeit von Geschehen und Zuschauen gewahrt bleibt. Dieser Textperson-Typ ermöglicht dem Zuschauer einen Blick vom Rand eines Geschehens, damit er von dort die Vorgänge zeitgleich und faktengenau erfassen kann. Das Publikum wird auf diese Weise emotional mitten ins filmische Geschehen hineinversetzt, weil der „Protokollant*/Protokoll“ die Textmenge radikal reduziert.

6 Welche Dokumentarischen Textperson-Typen sind günstig?

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Genau diese kalte und distanziert-neutrale Erzählposition bewirkt im Zuschauer – unter bestimmten gestalterischen Voraussetzungen – intensives Mitgehen und hohe Emotion. Dramaturgisch wirksam wird der „Protokollant“ in Reportagen, vor allem in Recherchereportagen; und in Ereignisberichten. Durch die knappen trockenen Formulierungen von äußeren und inneren Umständen eines Geschehens verschafft er dem Zuschauer einen weiten Raum für dessen eigene Emotionen. Die Spannung im Zuschauer steigt, wenn die Kühle der Textperson auf emotional stark bewegende Film-Situationen trifft. Deshalb passt der „Protokollant*/Protokoll“ z. B. auch zu Erlebnisberichten und Fallgeschichten. Liefern aber Stoff und Drehmaterial keine bewegenden Film-Situationen, kommt der „Protokollant“ an seine Grenze. Denn dann verstärkt er die emotionale Trockenheit der Film-Situation, die Spannung sinkt und es entstehen gerade aufgrund dieses Textperson-Typs keine erlebte Nähe zum Geschehen und nur schwache Emotion. Bei historischen Themen ist der „Protokollant“ als durchgehende Textperson ebenfalls keine gute Wahl, weil er mit Indikativ Präsens, Perfekt und historische Zusammenhänge nicht als Verlauf, sondern nur als Reihenfolge von Punkten, darstellen kann, deren Verbindung nicht klar wird. Historische Filmthemen werden durch Textperson-Typen wie „Chronist“, „Entdecker“ oder „Student“ leichter verständlich. Denn diese Textperson-Typen können an wichtigen Stellen, in denen sich die Geschehnisse verdichten, z. B. an einem Abend oder in einer wichtigen Schlacht, kurz ins „historische Präsens“ wechseln, ohne dass der Erzählstrom verloren geht. In Nachrichtenmagazinen, in denen die eigentliche Nachricht mit dem Textperson-Typ „Bote*“ erzählt wird ist „Protokollant*/Protokoll“ eine erzählerische Abwechslung im nachfolgenden detaillierten Ablaufbericht von einem Staatsbesuch oder einer Konferenznacht. Uta Claus/Bodo Witzke: „Reise ins Vergessen – Leben mit Alzheimer“; ZDF 2011; Inhalt: Drei Fallgeschichten; Textperson: „Protokollant*/Protokoll“, männlich. Todd Douglas Miller „Apollo 11; USA 2018; DVD; Inhalt: Start, Flug und Rückkehr von Apollo 11 im Jahr 1969; Textperson: die Originalstimme des damaligen Publikums-Protokollanten in Cap Canaveral. Bei diesem historischen Ereignis zieht – durch Zusammenspiel mit den mächtigen Filmszenen und der dramaturgischen Konzentration auf den Flug – die Protokoll-Textperson heutige Zuschauer in die damalige Situation. 57

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Teil 1 Textperson und Filmtext planen

6.1.3 Chronist* Chronisten – ursprünglich immer Männer – waren offiziell beauftragt, Listen der Herrscher aufzustellen und wichtige Ereignisse wie Kriege, Eroberungen und Hungersnöte schriftlich festzuhalten, mit dem Ziel, dass die Nachfahren von diesen Ereignissen ihrer Geschichte wüssten. Chronisten* • • • •

sortieren historische Fakten; präsentieren sie in einer Zeitreihe; gewichten sie als bedeutsame oder weniger bedeutsame Geschehnisse; schildern öffentlich wirksame Personen und Institutionen in Zusammenhang und Wirkung; • ermöglichen den nach ihnen Geborenen einen konzentrierten, aber auch deutlich ausschnitthaften, gesteuerten Blick auf Vergangenes; • befinden sich in ihren Aufzeichnungen zeitlich hinter den berichteten Ereignissen, oft am Ende einer Zeitperiode oder Epoche; • sprechen zu einem Publikum, das die geschilderten Ereignisse nicht miterlebt oder nicht mehr präsent hat. Einige Chronisten sind zeitlich den Ereignissen noch nahe; andere haben zu diesen bereits einen weiten zeitlichen Abstand. Dieser jeweils unterschiedliche Abstand zum Geschehen verändert die Anforderung an ihre Erzählweise. Heutige Historiker*, die Nachfolger der früheren Chronisten, sind Forscher*, in der Regel ohne offizielle Funktion bei Regierung oder Unternehmen. Man schätzt ihre Unabhängigkeit, selbst bei beauftragten Unternehmensporträts. Sie schildern zusätzlich zu den Informationen ihrer Vorgänger auch politische Abhängigkeiten, gesellschaftliche, wirtschaftliche und kulturelle Zusammenhänge und den Einfluss persönlicher Beziehungen. Sie sind in vielen Fällen aber zeitlich nochmals weiter von den geschilderten Ereignissen entfernt als ihre Vorgänger. Dieser Abstand ermöglicht ihnen aber auch einen schärferen Blick, als er den ursprünglichen Chronisten möglich war. Je weiter Chronisten* zeitlich von den erzählten Ereignissen entfernt sind, umso mehr müssen sie sich die tatsächlichen Begebenheiten und deren Gewichtungen aus Quellen erarbeiten; umso größer werden auch Materialfülle und persönliche Distanz; umso pauschaler aber werden die Gewichtungen ausfallen, weil viele Details in einer Gesamtabwägung zusammenfließen. Als wichtige journalistisch-dokumentarische Aufgabe bauen Chronisten* einem Publikum, das mit den geschilderten Geschehnissen nicht oder nur wenig vertraut

6 Welche Dokumentarischen Textperson-Typen sind günstig?

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ist, Verständnisbrücken, damit vergangene Ereignisse unter den Bedingungen und Kriterien der Vergangenheit eingeschätzt und mit den Umständen und Kriterien der Gegenwart verglichen werden können. Diese dokumentarische Aufgabe überschneidet sich mit der Arbeit wissenschaftlicher Historiker. Der Textperson-Typ „Chronist“ teilt mit realen Chronisten und Historikern die zeitliche Distanz zum Geschehen, das Bemühen um Gewichtung und den Überblick. Der Textperson-Typ „Chronist“ beschränkt sich aber nicht auf historische Ereignisse im strengen Sinn und vor allem nicht ausschließlich auf deren Zeit-Reihenfolge; er kann auf alle vergangenen Inhalte zugreifen, auch solche, die auf den ersten Blick trivial erscheinen. Der „Chronist“ erschließt aus einer zeitlich späteren Erzähl-Position dem Publikum die Inhaltszusammenhänge, Ursachen, Geschehenshintergründe, die Beziehungen und Handlungsmotive der Beteiligten. Sprachlich kann er dafür Rückblenden und Vorausblicke nutzen. Im Unterschied zu „Protokollant“ und „Bote“ ist der Textperson-Typ „Chronist“ nicht gleichmäßig neutral gegenüber den Handelnden und den Ereignissen. Durch die Anordnung der Geschehens-Einzelheiten und durch die Faktenauswahl gibt der „Chronist“ bereits vergangenen Sachverhalten eine Gewichtung. Denn Ereignisse und Vorgänge und Personen lassen grundsätzlich unterschiedliche Interpretationen zu. Der Textperson-Typ „Chronist“ erzeugt dokumentarisch-journalistisch begründete Gewichtungen und liefert dem Publikum Urteilsgrundlagen. Es gehört zu den Anforderungen an diesen Textperson-Typ, dass die Gewichtungen aufgrund von Fakten entstehen, nicht als subjektive Meinung. Das Publikum sollte diese Gewichtungen nachvollziehen können, muss sie aber nicht teilen. Der Textperson-Typ „Chronist“ betrachtet Personen und Geschehnisse aus der Position eines Erzählers*, der seinen Stoff überschauen und Details in den richtigen Zusammenhang bringen kann. Er unterscheidet zufällige Konstellationen von beabsichtigten. Er ordnet die Fakten so, dass sich deren Wirkungszusammenhänge zeigen und begründen lassen. Deshalb wählt dieser Textperson-Typ die Fakten und Sachverhalte danach aus, ob sie solche Zusammenhänge stützen. Die Logik des „Chronisten“ ist nicht in jedem Fall notwendig die der Fachhistoriker. Denn aus erzählerischen Gründen kann er dasselbe Ereignis aus der Sicht gegenläufig agierender Gruppen betrachten (z. B. die Rüstungsentscheidung einer Regierung aus der Sicht von Unternehmern als Wirtschaftsaufschwung und aus der Sicht von anderen Staaten als politische Bedrohung). Aus journalistisch-dokumentarischer Genauigkeit werden auch solche Fakten erwähnt, die gegen die vom Autor bevorzugte Gewichtung sprechen und es wird begründet, warum sie geringer gewichtet werden. 59

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Teil 1 Textperson und Filmtext planen

Der „Chronist“ präsentiert Quellen in Bild und Ton. Er darf aus seinem Material Vermutungen begründen und das Publikum auch solche Zusammenhänge miterleben lassen, von denen die tatsächlich Beteiligten nichts wissen oder auch ahnen konnten (z. B. die unfreiwilligen Folgen gesellschaftlicher, politischer, oder künstlerischer Entscheidungen). Sprachlich bewegt sich ein „Chronist*“ im Leittempus Imperfekt und kennzeichnet damit Vergangenes als abgeschlossen. Vom Imperfekt kann man ins Plusquamperfekt wechseln, um kausal wirksame Zeit-Zusammenhänge herzustellen. Um ereigniswichtige und emotional bewegenden Zeitpunkte hervorzuheben, kann man aus dem Imperfekt unvermittelt für eine kurze Strecke ins sogenannte historische Präsens wechseln; muss aber danach wieder ins Imperfekt zurück, um die erzählerisch konzentrierende Wirkung des historischen Präsens nicht zu schwächen. „Es schien keine Gefahr für die Stadt zu bestehen. Am 11. September 1944, von 23:55 Uhr bis 0:20, zerschlagen sieben britische Bomberstaffeln die gesamte Innenstadt und setzen die Hälfte der Stadt in Brand. 9408 Menschen kommen im Feuersturm um. Viele verbrennen auf der Straße, als sie aus ihren einstürzenden Kellern zu fliehen versuchen. Bis zum Kriegsende blieb die Stadt fast entvölkert. Mitte der 50-er Jahren erst konnte das Einwohnermeldeamt wieder 65.000 Stadtbewohner auflisten.“ „Chronisten*“ nutzen anstelle von wertenden Adjektiven gewichtende Fakten, die den Zuschauer bei der Einordnung von Geschehnissen und Handlungen selbst aktiv werden lassen. Die Textperson „Chronist*“ kann und sollte Vermutungen und alternative Interpretationen im Konjunktiv formulieren, und im Irrealis, wenn die Fakten eine eindeutige Gewichtung oder Zuordnung nicht erlauben. Eine „Chronistin*“ ermöglicht dem Zuschauer den weiten und zugleich detailgenauen Blick auf die Filminhalte. Man schaut gleichsam von oben in die Maschinerie eines Geschehens. Durch den insgesamt erzählerischen Stil von „Chronisten*“ wirkt das emotionale und argumentative Ergebnis häufig sicher, abgewogen und abgeschlossen, zuweilen auch alternativlos. Ein „Chronist*“ verliert allerdings rasch an erzählerischer Wirkung, wenn er als alter erfahrener Fachbuchautor oder als Moralist auftritt. Diese Textperson verliert dann leicht das erzählerisch zupackende und mitreißende Element, mit dem auch vergangene Geschehnisse ihr heutiges Publikum begeistern und neugierig machen können. Daher muss man, um der Filmwirkung willen, entscheiden, ob der „Chronist*“ als alter oder als jungen Erzähler* auftreten soll.

6 Welche Dokumentarischen Textperson-Typen sind günstig?

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Der Textperson-Typ „Chronist“ liegt nahe für politisch-gesellschaftliche Hintergrundfilme und für historische Dokumentationen in langen Formaten. Er kann auch in kurzen Filmen für Nachrichtenmagazine den Blick der Zuschauer erweitern (z. B. Lebenslauf; Porträt von Verstorbenen; Unternehmensgeschichte). Auch bei Fallgeschichten, Erfahrungsberichten und in Porträts erzeugt diese Textperson einen hohen Zuhör-Anreiz. Seine Grenze erreicht der „Chronist“ bei Inhalten, die ein Plädoyer verlangen, denn dort wirkt er trotz seiner Fähigkeit zur Gewichtung zu ausgewogen. In solchen Fällen ist eine anwaltlich argumentierende oder ein detektivisch forschende Erzählerin* die dokumentarisch wirksamere Textperson Bernhard Pfletschinger: „Das Mafia-Paradies“; WDR/arte 2011; Inhalt: Kuba vor der Revolution als Territorium der Mafia; Textperson: Chronist. Ilan Ziv: „Die Welt danach – Die Kriegserklärung“; Zadig, Canada + arteF 2017; Inhalt: Die Reaktion der USA und der westlichen Verbündeten auf den Anschlag vom 11. September 2001 und die katastrophalen Folgen der Fehlentscheidungen; Textperson: junge, sich immer wieder wundernde Chronistin. (Der Filmautor ist ein Mann, geb. 1950). Audry Maurion, Ian Macmillan: „1989 – Platz des Himmlischen Friedens“; arteF 2019; Inhalt: Die Ereignisse auf dem Platz des Himmlischen Friedens im Jahr 1989 vom Beginn der Trauerversammlung bis zur militärischen Räumung; Textperson: Ein Chronist von 2019; ein Protokollant von damals. Jede der beiden Textpersonen erzählt jeweils spezifische Inhalte. https://www.youtube. com/watch?v=1trQ_-MQG7I

6.2

Beobachten

Menschen lieben es, Andere zu beobachten, ohne sich bemerkbar zu machen, ohne sich einzumischen und ohne, dass sie dabei eine besondere Aufgabe erfüllen müssten. Sie beobachten Andere mit Freude, mit Abscheu, mit Staunen oder Interesse, sie betrachten sie aus unterschiedlicher emotionaler und/oder physischer Distanz. Vorgänge und Zustände, die andere betreffen, einen selbst aber nicht, erregen Interesse und den Wunsch nach mehr, ohne dass daraus – außer wohl beim sich Verlieben – ein Wunsch nach mehr Kontakt zu dem Anderen würde. Die besondere 61

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Form, in der jemand Andere beobachtet, resultiert aus einer unterschiedlichen Anfangsdistanz, welche sich aber – auch absichtlich, und im dokumentarischen Film dramaturgisch bewusst – im Laufe des Geschehens verändern kann. Zum Kern journalistischer Arbeit gehört es, aus der Distanz vorurteilsfrei zu beobachten, ohne dazu zu gehören, ohne direkt beteiligt zu sein und ohne sich ausdrücklich mit etwas gemein zu machen. Berufsintern gilt distanzierte Beobachtung geradezu als Kennzeichen der journalistischen Neutralität. Journalisten beobachten mit dem Ziel, • • • •

Veränderungen im Vergleich zum Gewohnten festzustellen; verstellte, verdrehte und lückenhafte Abläufe zu registrieren; daraus Schlussfolgerungen zu ziehen; ihr Ergebnis so darzustellen, dass das Publikum (in dem sich immer Fachleute und Nicht-Fachleute befinden) zutreffend urteilen kann.

Da die Beobachtung gesellschaftlicher Vorgänge zur journalistischen Daueraufgabe gehört, kann die Öffentlichkeit sich darauf verlassen, wichtige Veränderungen zu erfahren; rechtzeitig und unabhängig vom Mitteilungswillen der Beobachteten (z. B. Behörden, Politiker, Unternehmen, Institutionen, Personen). Die Öffentlichkeit wird durch den journalistischen Beobachter im dokumentarischen Film in ein quasi zeitgleich stattfindendes Geschehen versetzt und daran in gewissem Maße beteiligt. Der immer wieder aufflammende Konflikt zwischen Staaten/ Behörden/Unternehmen und Dokumentaristen/Journalisten zeigt, wie wichtig die professionelle Beobachtung für das Funktionieren der öffentlichen Kommunikation in einer Gesellschaft ist. Der Textperson-Typ „Beobachter*“ liegt daher jedem journalistischen Autor nahe. Manche journalistisch-dokumentarischen Filmemacher* sind gar überzeugt, „Beobachter“ sei die einzig passsende Art für einen journalistisch-dokumentarischen Filmtext. Das ist aber nicht so, weil professionelles dokumentarisches Erzählen sich in vielen unterschiedlich agierenden Textperson-Typen zeigen kann. Der Textperson-Typ „Beobachter*“ übernimmt aus der Lebensrealität die unterschiedlichen Arten und Haltungen des Beobachtens und konzentriert sie als Erzähler in unterschiedliche Typen, die alle zum Grundtyp „Beobachten“ gehören: • das freiwillige Beobachten; • das journalistisch-professionelle Beobachten;

6 Welche Dokumentarischen Textperson-Typen sind günstig?

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• in einigen Fällen das Beobachten als Zeuge, von dessen Aussage die Urteile Anderer so abhängen, dass sie sich ohne den Zeugen kein Urteil bilden könnten. Blickrichtung und Möglichkeit von „Beobachtern*“ werden durch die – lokal verstandene und vorstellbare – Position eingegrenzt, von der aus jemand ein Geschehen betrachtet (z. B. von oben, von unten, auf der gleichen Höhe sich durch eine Menge von Leuten bewegend). Dieser Ort verleiht einer Beobachtung ihren besonderen Fokus. Als nahe liegend und journalistisch klassisch gilt z. B. die Position „auf der Galerie“, oder „Fliege an der Wand“, in der Beobachter von oben ein Geschehen betrachten, das sich unterhalb ihrer Position abspielt. Die Textperson des Typs „Beobachter*“ kann aber verschiedene Positionen und sogar Bewegungen wählen. „Beobachter*“ können sich in Augenhöhe mit einer Person oder einem Geschehen positionieren, oder auch unterhalb. Sie können, ähnlich wie die Kamera, eine Parallelbewegung mit Prozessen oder Personen machen. Solche Position und/oder Bewegungen sollten dramaturgisch im ganzen Film durchgehalten werden, weil daraus der Reiz entsteht, auf die wechselnden Film-Situationen sprachlich konsequent reagieren zu müssen. Wenn die Textperson „Beobachter*“ sich innerhalb eines Geschehens im Raum bewegt wie jemand, der aufmerksam durch eine Menge von Menschen geht, dann agiert die Textperson näher am Geschehen, mit geringerem Überblick, auf gleicher Höhe mit den Beobachteten. Die Besonderheit dieser Bewegung wird durch die Wortwahl sprachlich deutlich werden (z. B. „sie haben Notizen zum Antrag 5 vor sich liegen, der den Vorstand vergrößern soll“). Eine solche „Nah-Beobachtung“ kann für Parteitage oder Partys eine passende Position sein, damit man nicht während des Filmberichts schon wie ein Live-Reporter im Statement-ON reagieren und formulieren muss; das unbewegte ON-Statement kann dann als Kontrast am Ende stehen. Eine „Beobachterin*“ kann wie ein Wächter/Bewegungsmelder agieren, der von einer bestimmten – hoch liegenden oder verborgenen oder tiefer liegenden – Stelle aus Ereignisse entdeckt und beobachtet, ob deren Bewegungen auf sie zu laufen und potenziell bedrohlich sind oder, ob sie von ihr weg verlaufen und sich ihrem Interesse entziehen. Die Bewegung und die Positionierung der „Beobachterin*“ werden für den Zuschauer durch die Filmtext-Formulierung deutlich.

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6.2.1 Freiwillige Beobachter: Nachbar*, Kollegin*, Freund* In der Lebensrealität macht es einen großen Unterschied aus, ob jemand freiwillig oder auf Grund eines Auftrags Andere beobachtet. Freiwillig etwas beobachtet zu haben, oft aus Zufall, jedenfalls nicht mit Recherche-Absicht, ist unterhaltsam. Man erzählt es einander gern, weil irgendetwas am Verhalten eines Anderen das Beobachter-Interesse geweckt und geformt hat, vom Staunen bis zum Abscheu. Die besondere Form, in der jemand andere beobachtet, entsteht aus der jeweils spezifischen emotionalen Distanz, die er zu den anderen Personen und zu einem Geschehen von Anfang an hat oder im Laufe des Geschehens einnimmt. Der öffentliche Platz, die Bahn, die Menschenmenge, das Geschäft, die Kantine oder Nachbars Garten sind typische Situationen für freiwillige Beobachter. Und je nach der Distanz, die ein Beobachter spürt oder einnehmen will, fallen ihm andere Sachverhalte einer Situation auf. Der Textperson-Typ „freiwilliger Beobachter“ übernimmt aus der Lebensrealität • die jeweils unterschiedliche Distanz und das dementsprechende Interesse: ein Freund hat zu einer Hauptfigur und deren Verhalten und zu einem Geschehen eine geringere Distanz als ein Nachbar, ein Fremder eine höhere Distanz als ein Kollege; • das aktive menschliche Interesse: dadurch kann er sich einer Hauptfigur immer mehr annähern oder auch von ihr entfernen; • das Ziel, es bei der Beobachtung zu belassen: er deckt nicht systematisch auf und er argumentiert auch nicht fachlogisch. Die Sprache und Sprachwelt des Typs „Freiwilliger Beobachter*“ formuliert vielfältige Details, die im Bild nicht sichtbar, aber mit anderen Sinnen wahrnehmbar sind (z. B. Geruch, Tastsinn, körperliche Erinnerung) und zum Bild gehören. Dieser Textperson-Typ schildert Details in farbigen Verben, vergleicht Bild und Textinhalt mit dem, was er sonst über das Geschehen oder die Person weiß: was er oder sie recherchiert hat. Beobachter* formulieren beabsichtigt etwas naiv – auch mit Vorurteilen oder Klischees, die sich später im Film überwinden lassen – und vermeiden Fachvokabular. Sie ziehen aus dem Beobachteten ihre Schlüsse, wie es Beobachter in der Lebensrealität auch tun würden. Da es sich um einen Filmerzähler handelt, weckt dieser Textperson-Typ durch seinen konkreten Text allgemeine Schlussfolgerungen im Zuschauer. Im Profil dieses Typs sind die Lebenserfahrung und das Alter die entscheidenden Komponenten. Die vorstellbare physische Position der Textperson „Freund, Fan,

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Nachbar, Fremder“, bewirkt einen hohen Reiz für die Zuschauer, weil sie daran Freude haben, sich in die gleiche Lage versetzen zu können. „Freiwillige Beobachter*“ können bei Themen, die man journalistisch als „leicht“ bezeichnet, ebenso unterhaltsam agieren, wie bei so genannten „schweren Themen“ und naturgemäß auch in satirischen Formaten. Die naive erzählerische Distanz ermöglicht dem Zuschauer das Vergnügen eines unverstellten ersten Blicks und kann die Wirkung des kindlich klaren Ausrufs „Der Kaiser ist ja nackt“ (aus dem Märchen von Hans Christian Andersen „Des Kaisers neue Kleider“) erzielen. Der Textperson-Typ eignet sich nicht bei Themen und Filmformen, die ausdrückliche Kompetenz und fachliche Argumentation erfordern (z. B. Recherchereportage, historische Dokumentation). Dieter Wieland: „Donauinseln in Regensburg“; BR 1986; Inhalt: Stadtbaupolitik in Regensburg; Textperson: klagender, aber kompetenter Beobachter von Regensburg. https:// www.youtube.com/watch?v=oxqlYP48imE Patrick Stijfhals: „Zwei Familien steigen aus“; WDR 2018; Inhalt: Erlebnis zweier junger Familien über drei Jahre, die eine in einer Jurte, die andere im selbstgebauten fahrbaren Tiny-Haus; Textperson: freiwilliger, etwas skeptischer Beobachter aus der Stadt. https:// www.youtube.com/watch?v=Hd3V_b3fT-Q

6.2.2 Qualifizierte Beobachter* In der Lebensrealität reproduzieren „Qualifizierte Beobachter*“ auf Grund einer definierten Anforderung ein Geschehen mit möglichster Genauigkeit. Die Anforderung kann in ihnen selbst stecken (z. B. auf Grund einer beruflichen Qualifikation oder eines bestimmten begrenzten Interesses) oder von außen kommen (z. B. auf Grund eines begrenzten Auftrags, der Ladung als Zeuge vor Gericht oder vor einem Untersuchungsausschuss). Qualifizierte Beobachter können ganz unterschiedliche Berufe haben. Journalistinnen* und Dokumentarische Autoren* sind – außerhalb ihres Privatlebens – immer beruflich interessierte Beobachter. Aber damit sind sie nicht zugleich natürlicherweise der Textperson-Typ „Qualifizierter Beobachter*“. Sie können diesen Typ aber auswählen. Die hervorstechendsten qualifizierten Beobachter in der Lebensrealität sind Zeugen vor Gericht. Sie waren meist freiwillige oder zufällige Beobachter eines 65

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Teil 1 Textperson und Filmtext planen

Geschehens. Als Zeugen werden sie zu qualifizierten Beobachtern, weil sie zum Prozess gehören, sich der Aussage nur in Ausnahmefällen entziehen können und, weil sich das Gerichtsurteil auf ihre Aussagen stützen wird. Als qualifizierte Beobachter bezeichnet man auch Personen, welche auf Grund ihres Berufs, ihres spezifischen Interesses, ihres Engagements oder ihrer Parteilichkeit etwas beobachten (z. B. Medizinpersonal; Vogelschützer; Bademeister; Beteiligte an einer Demonstration). Diese Personen schauen unter fachlicher bzw. durch ihr Engagement begründeten Perspektive auf ein Geschehen und haben das Interesse oder den Auftrag, später über ihre Beobachtungen zu berichten. Eine dritte Art qualifizierte Beobachter in der Lebensrealität sind Beauftragte, welche zu einem Ereignis geschickt werden, um dessen – korrekte – Durchführung zu bezeugen, (z. B. Wahlbeobachter oder Lotto-Notare, Leichenbeschauer). Sie schauen beim Ereignis speziell auf diejenigen Einzelheiten, welche die Korrektheit des Ablaufes betreffen; und diese testieren sie. Qualifizierte Beobachter in der Lebensrealität sind am Geschehen nicht beteiligt, aber in Bezug auf das Geschehen kompetent. Sie greifen nicht ein, sondern machen Aussagen und/oder Aufzeichnungen, schreiben Berichte, twittern oder simsen. Als Beauftragte können Beobachter auch Vermutungen anstellen, solange dies die Genauigkeit ihrer Darstellung nicht beeinträchtigt. Als Zeugen vor Gericht und Untersuchungsausschuss dürfen sie dies nicht. Eine auf beruflicher Qualifikation beruhende Beobachtungsperspektive kann man häufig für Themen nutzen in denen eine distanzierte qualifizierte Beobachtung ausreicht, um einen dramaturgisch spannungsreichen Kontrast zur filmischen Hauptfigur zu bilden. Das ist bei viele Themen der Regionalprogramme sinnvoll und auch bei Naturfilmen oder Filmen, die einen unterhaltsamen „Blick hinter Kulissen“ zeigen. Die hier folgende Beschreibung konzentriert sich auf den Textperson-Typ „Qualifizierter Beobachter*“ mit dem Beruf Dokumentarist und/oder Journalist. Der Textperson-Typ „qualifizierter Beobachter*“ mit journalistischem Beruf ist ein vom Publikum beauftragter Zeuge; er ist nicht Zeuge vor Gericht, auch nicht Notar oder von einer Institution beauftragt, denn eine Redaktion gilt dramaturgisch nicht als Institution. Der Textperson-Typ „Qualifizierter Beobachter“ bekommt seinen Auftrag vom Publikum auf Grund seiner journalistisch-fachlichen Kenntnisse und Fähigkeiten, er betrachtet Geschehnisse und Vorgänge unter professioneller Fragestellung mit der Aufgabe, eine filmische Darstellung für die Gesellschaft zu liefern, ein Publikum unterschiedlichen Alters oder eines bestimmten Alters. Nach journalistischen Kriterien gewichtet dieser Textperson-Typ alle Szenen, O-Töne,

6 Welche Dokumentarischen Textperson-Typen sind günstig?

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Informationen und Informations-Angebote. Er kann auch – auf geprüften Informationen beruhende – Vermutungen äußern. Dieser Textperson-Typ erscheint auf den ersten Blick als der für dokumentarische Autoren natürliche und einzig sinnvolle, weil ja in der Realität der Autor von seiner Redaktion im Namen des Publikums zu einem Geschehen geschickt wird, um einen Bericht oder Film zu liefern. Diese Aufgabenstellung ist aber nicht das einzige Kriterium für die Text-Erzählweise im Film. Den Textperson-Typ „Qualifizierter Beobachter“ zu wählen, ist eine Möglichkeit unter anderen; sicherlich häufig eine nah liegende, aber bei den meisten Inhalten nicht die mit der größten Wirkung. In seltenen Fällen (z. B. Unglücke; Umsturz; Wahlbeobachtung) wird dieser „qualifizierte Beobachter“ auf Grund des Inhalts und der Umstände der Berichterstattung ausnahmsweise auch zum ausdrücklichen unmittelbaren Augenzeugen, meist in einer Live-Schalte. In solchen Fällen übernimmt der Textperson-Typ vom Zeugen vor Gericht die Beschränkung auf die Tatsachen und die Verpflichtung zur Genauigkeit. Das Publikum, dem gegenüber er aussagepflichtig und aussagewillig ist, ersetzt Gericht oder Untersuchungsausschuss. Das Publikum wird aufgrund einer Aussage Schlüsse ziehen und sich verhalten. Der Textperson-Typ „qualifizierter Beobachter“: • schaut auf Personen und Geschehen aus journalistisch-professioneller Distanz, er sieht die Oberfläche, erkennt dort Anzeichen für Ursachen, ohne diese Ursachen in jedem Fall wirklich nachweisen zu können; • zeigt die Grenzen seiner Beobachter-Position; • zieht Schlüsse nach journalistischen Kriterien. Er unterscheidet zwischen Zufälligem und Grundsätzlichem, die ja beide an der Oberfläche eines Geschehens oder einer Person erscheinen. Er formuliert nicht, als sei er Geheimdienstler oder jemand, der als Aufmerksamkeit heischender Räsonierer aus nur flüchtiger Beobachtung weit reichende Schlüsse zieht; • gestaltet den Charakter seiner Beobachtung durch die Faktenauswahl. Wählt die „qualifizierte Beobachterin*“ Haupt- und Kernfakten, wirkt die Textperson ernst, wählt sie nebensächliche Fakten, wirkt die Textperson leicht; • präsentiert ausdrücklich relevante Fakten, die im Bild nicht zu sehen, aber außerhalb der Bild-Kadrierung als beobachtet recherchiert sind. Sie gehören entweder unmittelbar zur Film-Situation und/oder ereignen sich, unbeobachtet von der Kamera, zeitlich parallel zum Gezeigten. Der Filmtext agiert bei diesem Textperson-Typ ganz ausdrücklich als „zweite Kamera“.

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Teil 1 Textperson und Filmtext planen

Für seine Sprache nutzt der „Qualifizierte Beobachter*“ die Schilderung in ganzen Sätzen, kann aber von dort, immer für kurze Zeit – um Fakten intensiv hervorzuheben – in einen Telegrammstil wechseln. Dieses Stakkato sollte nur kurz dauern und dann wieder zu ganzen Sätzen wechseln. Die „qualifizierte Beobachterin*“ kann sich sprachlich in jedem Tempus ausdrücken. Man ist nicht ausschließlich an den Indikativ Präsens gebunden. Dieser Textperson-Typ kann auch Vermutungen im Konjunktiv äußern, wenn deren Voraussetzungen in Filminhalt und filmischer Darstellung ersichtlich wurden. Der „qualifizierte Beobachter*“ bewegt sich sprachlich in Formulierungen, deren Mitgemeintes (Infoladungen und Framing) Bewegung und Richtung signalisieren (z. B. „hin gehen“ oder „her kommen“, „hier landen“ oder „dort landen“). Durch den Wechsel vom Aktiv ins Passiv, vom Transitiven ins Intransitive lassen sich Fakten in ihrer Wirkung auf die handelnde Person oder auf ihr Objekt kennzeichnen (z. B. „erobern“ oder „die Eroberung erwarten müssen“; „verbergen“ oder „verborgen bleiben/ sich verstecken“). Der Textperson-Typ „qualifizierter Beobachter*“ kann durch die Formulierung Beziehungen zu Fakten herstellen, die sich zeitlich vor der Filmsituation abgespielt haben oder die als Folgen befürchtet werden, wenn sich in der filmische Darstellung Anzeichen finden auf zuvor Geschehenes oder noch Bevorstehendes (z. B. durch O-Töne der Aussagesorte „Erinnerung“ oder „Erwartung“). Auf diese Weise ermöglicht er den Zuschauern einen tieferen, hintergründigeren Einblick in das beobachtete Geschehen. Durch die Formulierung zeigt er seine innere Reaktion auf die Vorgänge mit dem Ziel, den Zuschauer intensiv ins Geschehen hinein zu ziehen. Weil die Textperson „qualifizierter Beobachter“ sich in der Vorstellung der Zuschauer an einer identifizierbaren Stelle befindet und, wenn sie sich bewegt, diese Bewegung nachvollziehbar werden muss, sollten die Formulierungen die jeweilige Position verdeutlichen (z. B. „vier Kilometer weiter“; „ein Weg von zwei Stunden Autofahrt“; „in der letzten Reihe auf Platz 57“). Die – vorgestellte – Position des Textperson-Typs kann man durch die Kameraführung stützen. Wenn dieser Textperson-Typ schon früh im Arbeitsprozess als sinnvoll vereinbart wird, können Kameraposition, Kamerabewegung und Kadrierung einen Großteil des Textes ersetzen. Der „Qualifizierte Beobachter* versetzt den Zuschauer in eine spürbare Distanz zum Filminhalt. Sprachliche Formulierungen bestimmen das Maß der Distanz und dies lässt sich zur Gestaltung des erzählerischen Kontrastes nutzen. Vor allem durch die Faktenauswahl, durch die Steuerung der Richtung und der Fakten, welche der Zuschauer auf Grund dieses Textperson-Typs wahrnimmt, kann der „qualifizierter Beobachter“ leicht oder gewichtig wirken.

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Deshalb ist dieser Textperson-Typ in vielen Filmformen einsetzbar, in Magazinen, bei Erfahrungsberichten, Reportagen und bei Inhalten, die den Hauptteil der relevanten Fakten bereits in Bild und Ton darstellen. Koppelt man den Textperson-Typ „qualifizierter Beobachter“ allerdings mit fachlich trockenen Inhalten, wird er an seine Grenzen kommen, weil er in dieser Kombination zu distanziert wirken wird und der Kontrast zwischen Inhalt und Text zu gering ausfällt. Kenichi Watanabe: „Die Welt nach Fukushima“; NHK/arteF 2012; Inhalt: Die Situation der Bevölkerung der Präfektur Fukushima; Textperson: Mitfühlender Beobachter mit medizinischer Qualifikation. Diana Zimmermann: „Das Brexit-Drama – Theresa Mays letzter Akt?“; ZDF 2019; Inhalt: Die Geschichte des Brexit vom Referendum bis zum März 2019; Textperson: Beobachterin mit journalistischer Qualifikation, die den gesamten Brexit-Prozess in London mitverfolgt hat. ▶ Beobachten heisst: Distanz halten – Sich der Textperson-Positionierung vergewissern – Wenig Emotion zeigen.

6.3 Suchen Systematisch zu beobachten und zu suchen, dabei die Freiheit zu behalten sich auf Beobachtetes einzulassen, Erkenntnisse daraufhin zu korrigieren und dennoch methodisch vorzugehen, gehört in vielen Berufen zur Grundlage des Erfolges: Ärzte suchen nach Krankheitsanzeichen und sichern ihre Ergebnisse in Diagnosen, Forscher suchen nach Fakten, die ihre Arbeitshypothesen falsifizieren könnten, Kriminalpolizisten suchen nach Spuren, werten diese aus und schlussfolgern auf mögliche Tatverdächtige. Charakteristisch für eine Suche ist das Schritt-für Schritt-Vorgehen, zwischendurch Innehalten, Reflektieren; und dann weiter zur nächsten Such-Etappe. Zum Auftrag von Journalisten* und Dokumentarischen Autorinnen* gehört das systematische Suchen nach Auslösern und Hintergründen von Ereignissen und das Aufdecken von Handlungsmotiven der agierenden Institutionen und Personen: der Blick hinter die Kulissen. Die Suche soll der Bevölkerung in allen für ihr Leben und Urteilen wichtigen Themenfeldern Transparenz verschaffen. Journalistisch-dokumentarische Suche zeigt sich auch harmlos: herausfinden und erläutern, wie das Aufeinanderprallen und Zusammenspielen gesellschaftlicher 69

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Institutionen auf allen Lebensebenen funktioniert. Das Publikum soll seine Neugier auf andere Lebensweisen befriedigen. Es soll – über die eigenen hinaus – andere Lebensbereiche erkennen und verstehen und sich in gesellschaftlichen Institutionen zurechtfinden. In der vernetzten und kommunikationsintensiven Welt, in welcher wir uns auch mit örtlich fernliegenden Sachverhalten und Geschehnissen beschäftigen müssen, erhalten Zuschauer auch durch die Such-Ergebnisse von Film-Autoren* einen wenigstens flüchtigen Einblick in zunächst fremde Vorgänge und finden Begründungen für das alltägliche Handeln. Ergebnisse dieser Art der Suche firmieren im Fernsehprogramm und im Netz als „Service“ und „Infotainment“. Über Tipps und Handlungsanweisungen, Rankings und „Best of…“ hinaus verschaffen Autoren durch Suchen dem Publikum Einblick in Welten, die nicht zu dessen Alltag zählen, diesen Alltag aber berühren, manchmal in ihn eingreifen und bestimmen und deshalb ein Urteil der Zuschauerinnen* erfordern. Investigative Suche hingegen soll Gefahrenquellen für das gesellschaftliche Zusammenleben aufdecken. Film-Autoren* fahnden nach Fehlern, Schlamperei und böser Absicht in Institutionen. Sie agieren dann im grundgesetzlich festgelegten öffentlichen Auftrag und setzen Befragten zu, was für diese – und in der Folge auch für die Journalisten – unangenehm werden kann, wenn auch aus unterschiedlichen Gründen. Unannehmlichkeiten für die Befragten sind durch die Informationsrechte von Journalisten gedeckt. Unannehmlichkeiten für Journalisten entstehen, wenn die Befragten sich wehren. Dokumentarisch arbeitende Autorinnen* recherchieren dann häufig gegen den Widerstand von Behörden, Institutionen und Unternehmen, die Informationen zurückhalten oder verheimlichen, und dies mit vermeintlich höheren gesamtgesellschaftlichen Zielen (z. B. Sicherheit, Terrorismusabwehr) oder auch gar nicht begründen. Institutionen handeln aus dem Interesse ihres eigenen Erhalts. Oft müssen erst Gesetze den Druck verschärfen, so dass die Film-Autoren* Auskünfte erzwingen können. In manchen Ländern und bei manchen Themen ist investigative Suche mit unmittelbarer Lebensgefahr verbunden. ▶ Sechs Varianten – Je eigene Haltung – Je eigene Vorgehensweise und Wirkung.

6 Welche Dokumentarischen Textperson-Typen sind günstig?

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6.3.1 Rechercheur* / Detektiv* In der Lebensrealität bezeichnet „Rechercheur“ eine im journalistisch-dokumentarischen Arbeitsprozess notwendige Funktion, ohne die kein dokumentarischer Film zustande käme. „Rechercheur“ ist aber auch ein eigener Beruf: Rechercheure suchen intensiv und systematisch für Ihre Auftraggeber (Unternehmen, Agenturen, Institutionen, Privatpersonen) nach Fakten zu einem bestimmten Thema und nach Sachverhalten, die für die Auftraggeber in definierter Weise nützlich sind. Das Ergebnis der Recherche wird dem Auftraggeber als zusammenfassender Bericht mit Gewichtungen geliefert. Rechercheure* – auch journalistische – liefern Einzelfakten, Sachverhalte, Hintergründe und Zusammenhänge von Akteuren aller Bereiche der Gesellschaft und des Lebens. Sie suchen hartnäckig und methodisch. Journalistisch-dokumentarisch ist die Arbeit als Rechercheur die Grundlage für Filminhalte und deren Gestaltung. Eine besondere Spielart des Rechercheurs ist der „Detektiv*“, der im überwiegend privaten Auftrag arbeitet und Informationen beschafft, welche sein Auftraggeber durch offenes Nachfragen nicht erhalten könnte. Journalistisch zeigen sich Spielarten des Detektivischen in der investigativen Recherche, weil auch die verdeckte Recherche eine unter begrenzten Umständen erlaubte und dann notwendige journalistische Tätigkeit ist. Rechercheure* arbeiten offen, Detektive* arbeiten verdeckt. Rechercheure erleben die einzelnen Schritte der Recherche, die gesamte Wegstrecke und die Anstrengung zu deren Bewältigung intensiv mit. Und sie erfahren immer wieder den Wechsel von Entdeckerfreude zu Enttäuschung. Der Textperson-Typ „Rechercheur* /Detektiv*“ konzentriert sich auf den Rechercheweg selbst als erzählerisches Material. Er versetzt dadurch den Zuschauer bei Filmbeginn in dieselbe Lage, in welcher sich der Filmautor* zu Beginn seiner Arbeit befand. Am Ende des Films erreicht der Zuschauer dann den derzeitigen Wissensstand des Filmautors. Ein „Rechercheur*“ dokumentiert im Film aber nicht den realen Rechercheweg mit allen Umwegen, sondern schafft – auf der Basis der realen Recherche – einen für die Filmerzählung funktionierenden Weg in dramaturgisch überzeugender Reihenfolge und Darstellungsweise. Dieser Film-Weg kann teilweise mit dem realen Rechercheweg übereinstimmen. Damit die Filmtext-Dramaturgie funktioniert, sollten Autoren* alle für diesen Textperson-Typ relevanten Fakten vor Beginn der Text-Phase bereits gesammelt haben oder sich spätestens beim Texten noch beschaffen können. 71

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Teil 1 Textperson und Filmtext planen

In der Variante „Detektiv*“ verhält sich der Textperson-Typ als verdeckter Ermittler. Eine dokumentarische Geschichte wird erst glaubwürdig, wenn man nicht nur verdeckt dreht, sondern auch so erzählt („außerhalb dessen, was die Firma uns gesagt hat und dem, was sie nicht sagen will, haben wir herausgefunden…“). Für diese Variante existieren allerdings enge Grenzen. Denn das Publikum schätzt zwar die Aufdeckung und das „hinter die Kulissen blicken“, aber ebenso einen fairen Umgang mit denen, über die berichtet wird. Auf manchen Netzportalen ist das allerdings deutlich anders. Dort macht es vielen Beteiligten offensichtlich Freude, alle Anderen herunterzuputzen. Im dokumentarischen Fernsehen und im Kino aber wirkt die „Detektivin*“ erst dann glaubwürdig und plausibel, wenn der Filminhalt offensichtlich für die Öffentlichkeit wichtig ist und das Publikum klar erkennen kann, dass die verdeckte Recherche notwendig war, um Transparenz zu erreichen. Der Textperson-Typ „Rechercheur“ übernimmt die für dokumentarische Autoren* charakteristischen Vorgehensweisen: • die induktive und die falsifizierende Logik: in der induktiven Logik werden Schlussfolgerungen aufgrund von Spuren gezogen; in der falsifizierenden Logik werden Arbeitshypothesen aufgestellt und man versucht, sie zu falsifizieren. Gelingt dies, bleiben sie bestehen. Misslingt die Falsifizierung, wird die Arbeitshypothese verändert oder erneuert. Im Filmtext kommen die Fragen vor, die sich stellen, nachdem bestimmte Sachverhalte sich als sicher oder als unrichtig erwiesen haben; • die Schritt-für-Schritt-Reihenfolge der Faktenpräsentation. Dadurch bleibt das Publikum immer auf der Höhe der jeweiligen Kenntnis der Erzähler und somit gespannt auf das Nachfolgende; • die Begründung der Vorgehensweise. Der Textperson-Typ beschreibt nicht seine Bewegung von Ort zu Ort („wir fahren nach Stuttgart…“) die man ja meistens auch im Bild sieht. Stattdessen formuliert er Fragen oder Überlegungen, welche ihn an diesen Ort kommen lassen („Wie kam das Ministerium in Düsseldorf zu dieser Einschätzung?“ / „Wenn dies so ist, müsste eigentlich die Gewerkschaft protestiert haben“). • die ausdrückliche Begründung von Rückblenden („wir müssen nochmal zurück“; „noch 1982 aber war doch …“) durch Such-Überlegungen und Fragen; • das Benennen von Enttäuschungen und Holzwegen. Sie steigern das Interesse des Publikums, denn sie wecken Spannung. Der Textperson-Typ „Rechercheur* / Detektiv*“ zeigt Sachverhalte und Fakten in ihrer Entwicklung; und dies dramaturgisch konzentriert (z. B. Filmschnitt; Ge-

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räuschwechsel; Musik). Auf diese Weise verschafft dieser Typ dem Publikum das Vergnügen, ein verwickeltes und intransparentes Geschehen trotz einer sprachlich trockenen Textdarstellung intensiv miterleben zu können. Sprachlich zeigt sich dieser Textperson-Typ von einer Ausgangsfrage angetrieben, die er in weiteren Schritten beantworten möchte und dabei auf weitere Fragen stößt. Zur Sprache des Textperson-Typs „Rechercheur*“ gehören daher Fakten, und Wörter, welche die Vorstellung von Suche, von noch nicht Erreichtem und von der Mühe des Herausfindens stützen. Fragen und Arbeitshypothesen werden ausdrücklich formuliert, ihr Scheitern oder ihre Bestätigung beschrieben. Die Folgen, die sich auf Grund von Zwischenergebnissen zeigen, werden formuliert. Solche Formulierungen können bei anderen Textperson-Typen seltsam wirken, kennzeichnen aber den „Rechercheur*“. („800 Gutachten behaupten, so die Bayer AG, Glyphosat sei nicht gesundheitsschädlich. Viele davon sind von Monsanto finanziert. Würde ein Universitätsinstitut zum gleichen Ergebnis kommen? An der TU München vielleicht?“) Auch Überlegungen zur weiteren Recherche und zu Alternativen der Vorgehensweise sind charakteristisch für den Typ „Rechercheur“ („man könnte jetzt fragen …; wahrscheinlich wirksamer aber wird sein …“). Zum Textperson-Typ „Rechercheur“ gehört die deutliche sprachliche Konzentration auf die sich im Filmverlauf entfaltenden Inhalte. Der „Rechercheur*“ kann in der Ich-Form sprechen, muss es aber nicht. Denn eine betonte Beschreibung der persönlichen Ideenfindung lenkt die Aufmerksamkeit der Zuschauer stark auf die Film-Autoren* selbst, auf ihre Privatperson. Und das wird dann in vielen Fällen wahrscheinlich das Erfassen von Inhalt und Argumenten stören. Ob „Ich-Form“ oder nicht, sollten Autoren und Redaktion danach entscheiden, ob sich die Konzentration auf „Ich-Autoren*“ für das Filmthema und auf dem Sendeplatz günstig auswirkt. Der Textperson-Typ „Rechercheur“ macht den Zuschauer* zu einer Art Komplizen der Autoren* und verschafft ihm durch das Erleben des Rechercheweges eine ähnliche Befriedigung, wie sie die Autorinnen* selbst hatten. Das Publikum wird am Entdecken unmittelbar beteiligt. Dieser Textperson-Typ passt daher geradezu naturgemäß zu Recherche-Reportagen, Forschungsberichten, investigativen Themen und zu Reisefilmen. Auch passt er zu Themen, in denen Fakten und Argumente betont werden sollen, um die Emotion des Publikums zu wecken. Besonders geeignet ist die „Rechercheurin*“ auch für Erklärfilme, weil dieser Textperson-Typ den Zuschauer in innere Bewegung und 73

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Neugier versetzt und damit die für diese Filmform oft typische Bewegungsarmut in Inhalt, Bild und Text („Erklär-Bär“) aufheben kann. Bei Porträts von bekannten oder bereits toten Personen bildet dieser Textperson-Typ einen wirksamen Kontrast zu Inhalten, die scheinbar wenig Entdeckenswertes – weil alles schon bekannt ist – enthalten. Ian Connacher: „Addicted to Plastic“; Crypty Moth/Arte 2012; Inhalt: Weltweite Suche nach Schäden durch Plastikgegenstände; Textperson: Ich, der Autor, als Rechercheur. https://www.youtube.com/results?search_query=ian+connacher+addicted+to+plastic Urs Schnell: „Bottled Life“; SF 2011; Inhalt: Wassergeschäft von Nestlé; Textperson: Ein suchender Reporter; DVD. Michael Höft / Carsten Jentzsch: „Der Preis der Blue Jeans“, NDR 2012; Inhalt: Recherche-Reportage auf der Suche nach den Gründen für den niedrigen Preis für Jeans und dessen Folgen; Textperson: „Immer erstaunter und auch irritierter werdender Rechercheur“. https://www.youtube.com/watch?v=nNQnVjlmaMQ Marie Maurisse / Francois Pilat: „Das Geschäft mit dem Blut“; RTS/SRF 2017; Inhalt: Wirtschaftliche Hintergründe der Blutspenden weltweit; Textperson: „Detektiv“. https://www.youtube.com/watch?v=ukfyb4ltISU

6.3.2 Forscher* Forscher* arbeiten in der Lebensrealität wissenschafts-systematisch und nach fachspezifischen Kriterien. Sie nutzen definierte Fachmethoden und interpretieren die Ergebnisse ihrer Forschung nach den Regeln ihrer Fachlogik. Sie beschränken sich in der Regel auf die Inhalte ihres Fachgebiets und wollen dort eine tief reichende Erkenntnis erreichen. Forscher* können im Auftrag handeln oder aus eigenem Antrieb. Sie können an einem bestimmten Ort forschen (z. B. Physiker am CERN bei Meyrin im Kanton Genf) oder sich forschend durch die Welt bewegen (z. B. Archäologen; Tiefseeforscher). In allen Fällen gehört zu forschenden Menschen die Vorstellung von Forscher­ drang und intensivem systematischen inhaltlichem Interesse am noch Unbekannten. Wenn Forscher* öffentlich auftreten, dann überwiegend vor Ihresgleichen; sie verständigen sich dann im jeweiligen Fachjargon. Aber das ändert sich derzeit gerade. Forscher* werden aufgefordert und geschult, selbst an die Öffentlichkeit zu gehen. Anhand der mittlerweile regelmäßigen Wissenschafts-Slams ist sogar

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eine Debatte darüber entstanden, ob Wissenschaftsjournalisten überflüssig sein könnten. Die Kompetenz von Forschern jedenfalls ist durch und auf ihr Fachgebiet begrenzt. Darüber hinaus sind ihre Möglichkeiten und ihr Einfluss nicht größer oder kleiner als die eines Durchschnittsmenschen. Der Textperson-Typ „Forscher“ übernimmt von Forschern in der Lebensrealität deren Denkstrukturen und Teile ihrer Darstellungsmöglichkeiten. Der Textperson-­ Typ: • ist konzentriert auf das fachliche Vorgehen (Fachmethode und Fachlogik) und darin auf die Intensität des Ergründens und Untersuchens. Er erlebt sprachlich mit, wie scheinbar feststehende Fakten sich im Verlauf der Forschung verändern, ja sogar irritieren; • spricht – anders als Forscher in der Lebensrealität – zu einem allgemeinen, nicht oder nur in Teilen fachlich qualifizierten Publikum. Die Textperson spricht daher keinen Fachjargon, sondern zitiert ihn nach einer klärenden verständlichen Formulierung („… die DNA; im Jargon der Genetiker: ‚Desoxyribonukleinsäure‘“). In Fachjargon zu verfallen, ist eine Gefahr, wenn die Autoren selbst Fachleute für Ihren Filminhalt sind (z. B. Juristen; Volkswirtschaftler; Theologen) oder sehr intensiv in einem ihnen nicht vertrauten Fachmilieu recherchiert haben. Fachbegriffe und Fachjargon kommen nur als Zitate vor. („die Fachleute kennen es als Pulmonale Hypertonie“), sind dann aber auch reizvoll, weil wir als Zuschauer es lieben, Fremdes benennen zu können; • vermittelt dem Zuschauer* den Genuss des Fachlich-Systematischen gleichzeitig mit intensivem Erleben und hoher Verständlichkeit; • zeigt die eigene Neugier mit einer seriösen Suchmethode, die es ihm erlaubt, den Zuschauer sicher zu führen (Roter Faden „Fachlogik“). Er zeigt eine für Forscher typische Begeisterung über die eigenen Ergebnisse. Der Textperson-Typ „Forscher“ ordnet die Filmfakten nach den für sein jeweiliges Fachgebiet charakteristischen Fachmethoden und gewichtet sie nach der für die Forschung entwickelten Fachlogik. Die Textperson formuliert Arbeitshypothesen, prüft sie auf ihr Nichteintreffen (Falsifizierung) und kann – auch im Film – dafür sorgen, dass das Publikum neue Sichtweise auf scheinbar bekannte Sachverhalte erfährt. Auf Grund dieser, unterschiedlich zum unmittelbaren spontanen Miterleben, systematischen Herangehensweise (z. B. Biologe; Anthropologe; Psychologe; Rechtshistoriker) müssen Fachmethode und Fachlogik im Profil der Textperson genau definiert werden, damit die jeweiligen Fachmethoden auch in Bild und Geräuschen präsent werden und den Text nicht überlasten, der als einziger die 75

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– unsichtbare – Fachlogik präsentieren kann und muss. In dieser Fachlogik hebt der Textperson-Typ „Forscher*“ diejenigen Fakten hervor, die dem Zuschauer die Bedeutung der sichtbaren Vorgehensweisen zeigen, ihm das Verstehen des Fachlichen erleichtern und ihn über das Alltagswissen hinausführen. Die Sprachwelt des Textperson-Typs „Forscher“ ist die Alltagssprache mit den Fachbegriffen als Zitaten. Er/sie • wählt nüchterne Formulierungen; („… Dünndarm. In diesem über 7 Meter langen Organ werden die in unserer Nahrung enthaltenen Nährstoffe dank der Arbeit der Darmbakterien resorbiert“); • sorgt durch die Faktenauswahl dafür, dass im Zuschauer immer wieder neues Interesse aufkommt. Die nüchterne Sprache wirkt anregend und sogar erheiternd, wenn sie einen deutlichen Kontrast zur lebendigen Bildgestaltung bildet. In solchen Fällen begreift das Publikum die fachlichen Zusammenhänge mit Vergnügen. („Elefanten genießen die Schlammpackung über Stunden wie Fango“); • die Textperson „Forscher*“ benutzt selbst keinen Fachjargon, verwickelt das Publikum nicht in akademische Fachdenke und agiert auch nicht als Pressesprecher eines Instituts; • sie gewichtet Fakten, kann aber auch naiv staunen, Die „Forscherin*“ muss häufig Verwirrung ausdrücken oder Fragen formulieren, damit sich das vom Autor* recherchierte Ergebnis im Filmverlauf entfalten kann. Der Textperson-Typ „Forscher“ eignet sich in Dokumentation, Hybrid-Doku, Essay, Erfahrungsbericht für politische, gesellschaftliche und kulturelle Inhalte, von denen das Publikum sonst häufig nur eine Außenansicht kennt. Forscher erleben ja selbst das Vergnügen und die Schwierigkeit, von einer scheinbar festen Vorstellung in eine neue, aber noch ungefestigte zu wechseln. Dieses manchmal zwiespältige, immer aber anregende Gefühl teilt sich durch diesen Textperson-Typ dem Zuschauer direkt mit. Wenn man überdies der konkreten Textperson „Forscher*“ ein anderes als das vom Film-Inhalt her nahe liegende Fachgebiet zuweist (z. B. Anthropologie anstelle von Biologie bei einem Bericht über Gärten; Stadtplanung anstelle von Geschichte bei einem Ortsporträt), kann ein zusätzlicher erzählerischer Kontrast zu den Filmsituationen entstehen, ähnlich wie ein Laie in der Lebensrealität leichter in ein Fachgebiet eindringt, wenn der Erzähler aus einer anderen Disziplin kommt. Frank Piasecki-Poulsen: „Blood in the Mobile“; D 2010; Inhalt: Die Firma Nokia und die durch Ausbeutung gewonnenen seltenen Erden in Mobiltelefonen;

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Textperson: fachsystematisch vorgehender forschender Ich-Erzähler. https:// www.youtube.com/watch?v=Tv-hE4Yx0LU Thierry Berrod: „Die wunderbare Welt der Exkremente“ 1-3; arteF 2007; Inhalt: Sinn und Wirkung von Exkrementen, Toiletten, Exkremente von Menschen und Tieren; Textperson: Gesellschaftserforscher mit Biologie-Hintergrund. Karin Jurschik: „Warum Menschen Menschen töten“; arteD 2012; Inhalt: Klären der todbringenden menschlichen Antriebe; Textperson: Neuroforscherin. https://www.youtube.com/watch?v=JEkM8kIN1dY

6.3.3 Entdecker* Entdecker* und Forscher* sind im realen Leben zuweilen die gleiche Person. Allerdings erkennt und beschreibt ein Entdecker etwas bislang Unbekanntes als Erster (z. B. ein Land, einen Stern, Partikel, ein Tier, Pflanzen, Verhalten, Lösungen). Das Vorgehen von Entdeckern ist zwar von Fachlichkeit geprägt. In der Lebensrealität aber ist Entdecken gerade dadurch gekennzeichnet, dass die gewohnte Fachlichkeit an ihre Grenzen gekommen ist oder gekommen zu sein scheint, weil die entdeckten Sachverhalte sogleich neue fachliche Vorgehensweisen und Logiken erfordern, welche den gewohnten häufig widersprechen (z. B. Relativitätstheorie; Quantenphysik; Gehirnforschung). Entdecker sind, auch wenn sie Wissenschaftler sind, verkappte Abenteurer, die sich mit Begeisterung vom Gewohnten entfernen (z. B. Alexander von Humboldt (*1769-°1859) in seinen Natur-Entdeckungen; Daniel Kahnemann (*1934) in seinen Entdeckungen zum menschlichen Verhalten). Sie lassen sich überraschen. Der Textperson-Typ „Entdecker“ übernimmt vom realen Entdecker dessen Begeisterung und das Moment des Überrascht-Seins, fügt aber Skepsis in Bezug auf Auswirkungen und Grenzen der Anwendbarkeit hinzu. Der Textperson-Typ ist kein Miesepeter, aber er liefert zusammen mit dem Neuen die für sein Publikum noch bestehenden Grenzen und die noch zu überwindenden Hindernisse. Diese Kombination macht ihn als Erzähler kompetent. Dieser Textperson-Typ • geht – anders als manche realen Entdecker – immer fachsystematisch vor. Er nutzt die Roten Fäden „Fachlogik“ und „Fachmethode“, weil sich an diesen Abläufen das Ungewohnte und die Störung des bislang Gewussten deutlich zeigen

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(z. B. bei Themen der Digitalisierung, der Globalisierung, der sich ändernden politischen Einflussmöglichkeiten, der neuen wirtschaftlichen Übermächte); • achtet besonders auf die so genannten Nebenfakten des neu Entdeckten und prüft sie darauf, in welcher Weise sie bisheriges Wissen erweitern und weiterführen; • wählt diejenigen Fakten aus, die den Zuschauer auf das neue oder die neue Sichtweise aufmerksam werden lassen; • formuliert so, dass der Zuschauer geradezu zeitgleich mit ihm auf etwas aufmerksam wird. Die Begeisterung und Überraschung entsteht dann im Zuschauer und wird ihm nicht vorgemacht. („Das bisherige Steuerrecht hat sich auf Betriebsstätten bezogen. Facebook benötigt aber dort, wo es Geschäfte macht, gar keine Betriebsstätte. Die gewohnte Steuerpflicht erweist sich als nicht anwendbar. Auf was also könnte sich eine Steuer beziehen? Der Umsatz, das ist vielleicht ein gangbarer Weg …“). Der „Entdecker“ verhält sich zu recherchierten und bekannten Fakten wie jemand, der sie soeben kennen gelernt hat oder gerade erst kennen lernt und sogleich die daraus entstehenden weiteren Fragen und Schlussfolgerungen ziehen kann. Die zu den Sachverhalten gehörenden Zusammenhänge werden einer nach dem anderen gefunden und enthüllt. Dieser Textperson-Typ erklärt nicht als jemand, der die Inhalte bereits kennt, sondern er entwickelt, fragt, stößt auf Neues, und wird von seiner Überraschung und Entdeckerfreude inhaltlich vorangetrieben. Die Film-Autoren* hingegen haben natürlich alle Fakten systematisch kennen gelernt und halten sie auf Grund ihrer Fachkenntnis vielleicht bereits für selbstverständlich. Der Textperson-Typ „Entdecker“ kann sogar völlig neue Blicke auf bereits alltäglich gewohnte Sachverhalte provozieren (z. B. in den Lach- und Sachgeschichten von und mit Armin Maiwald (*1940) früher und seinen Nachfolgern heute in der „Sendung mit der Maus“ des WDR). Sprachlich schildert der Textperson-Typ „Entdecker*“ typische, die eigentliche Fachlogik scheinbar nicht stützende und sie in Frage stellende Fakten; er formuliert immer wieder Arbeitshypothesen und zwar so, dass sie sich nicht bewahrheiten; denn dann tritt das eigentliche Such-Ergebnis als Überraschung ein, nicht als logische Konsequenz der zuvor genannten Gründe. Fragen, Konjunktive und Zwischenrufe „Ist eigentlich doch unmöglich!“; „Tatsächlich? Ist so!“) passen zu diesem Typ. Sie machen den Film sprachlich und dramaturgisch frisch und versetzen das Publikum leichthändig in innere Aktivität. Die Wirkung des Textperson-Typs „Entdecker*“ zeigt sich vor allem bei scheinbar alltäglichen Inhalten, die jedermann, auch die Zuschauerin*, bereits verstanden zu

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haben glaubt und nutzt: Sie werden durch diese Textperson neu erlebt; man blickt besser durch und lernt, solche Inhalte mehr zu schätzen. Der Textperson-Typ kann schwierige abstrakte Themen gut erzählen, er passt zu Erklärfilmen und Reisefilmen und fügt sich fast natürlich ins Kinderprogramm. Er kann auch in Präsenter-Formaten auftreten. Immer entsteht eine spannungsreiche Alternative zum allmächtigen und allwissenden „Erklärer“. Manche Folgen der Reihe „Abenteuer Erde“ mit Dirk Steffen, ZDF Inhalt: Geografie und Tierwelt eines Landes; Textperson: Der Entdecker. https://www.youtube.com/watch?v=VSSFeUtVMso Brian Greene: „Der Stoff aus dem der Kosmos ist (1-4); BBC 2012; DVD, Blue-ray. Inhalt: Zeit / Raum Universum /Quantenphysik; Textperson: Begeisterter Entdecker der Dimensionen unseres Lebens und des Universums. https://www.youtube.com/watch?v=uW_qOhSMJ7I

6.3.4 Student* In der Lebensrealität sind Studenten junge Leute in einer fachlichen und im Niveau vielfältig aufgefächerten wissenschaftlichen Ausbildung Sie studieren mit dem Ziel einer Berufsausbildung, nicht notwendig mit dem eines wissenschaftlichen Forscherlebens oder dem eines Universitätslehrers. Im Studium werden sie mit ihnen noch unbekannten Sachverhalten, mit der Wissens- und zuweilen Praxis-Übermacht ihrer Lehrer, mit neuen fachspezifischen Methoden und auch mit der Konkurrenz zu den Mitstudierenden konfrontiert. Sie müssen sich die Kenntnisse erst erarbeiten, die Professoren und Forscher bereits haben. Weil Studierende in der Regel jünger als ihre Lehrenden sind, bringen sie frische unverbrauchte Sichtweisen mit und können bei vielen Themen Erkenntnisse sammeln, frei von Routinen und dem Ballast der Geschichte. Sie setzen sich kritisch auseinander mit herkömmlichen Denkweisen und Methoden und schätzen neue Erkenntnisse. Es gehört zum Jung-Sein, deren Nutzen positiv einzuschätzen und sich weniger um eventuelle Grenzen und Gefahren zu scheren. (z. B. die typischen Äußerungen der damals noch jungen Pioniere aus dem Silicon Valley in den Debatten um die Digitalisierung und Netzkommunikation: „Die Welt retten“). „Studenten*“ können auch ältere Menschen sein, die sich eine junge Mentalität bewahrt haben und sich vor neuen Erkenntnissen und deren Überraschungen nicht scheuen.

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Die Eigenschaft „Sich Kenntnisse erarbeiten“ nimmt der Textperson-Typ „Student“ auf. Diesem Textperson-Typ stehen Fachmethoden und Fachlogiken zur Verfügung, nicht aber die Abgeklärtheit eines bereits Wissenden: viele Zusammenhänge, Ereignisse, historische Daten erlebt die Textperson als neu; das – im Textperson-Profil bestimmte – Lebensalter begrenzt die Zeit, in der diese Textperson eigenständige Erfahrung gemacht haben kann und in der sie deshalb in der sprachlichen Darstellung auf Zeugen, Quellen und Zitate angewiesen ist. Dadurch rückt dieser Textperson-Typ sehr dicht an das dokumentarisch-journalistische Ideal heran, Fremdes zu zitieren und dieses nicht wie selbstverständlich als Eigenwissen auszugeben. Dieser Textperson-Typ kann Selbstverständliches wieder in Frage stellen, er kann übernommenen Kriterien der Beurteilung (von Sachverhalten, Personen oder Ereignissen) neue hinzufügen, er kann ganz selbstverständlich und leichthändig andere als die gewohnten Sichtweisen zeigen und in frischer Weise an bereits Bekanntes herangehen. Durch die Fachrichtung, die man im Textperson-Profil auswählt, zeigt die „Studentin*“ größere oder geringere Distanz zum Thema. Die Sprachwelt des Typs „Student*“ • nutzt Erfahrungen, Vorstellungen und Vergleiche junger Menschen („Die alten Puppenspieler können eben nicht, wie Lady Gaga, ganze Hallen füllen“); • formuliert Fakten, die Ältere als eigene Erlebnisse kennen, als Zitate, als Gehörtes, als aus Wikipedia oder anderen Quellen Entdecktes. An dem was diese Textperson in den Grenzen des eigenen Alters miterlebt haben kann, erkennt das Publikum, wie jung die Textperson ist; • zeigt sprachlich, dass er sich mit den für den jeweiligen Inhalt wichtigen Sachverhalten intensiv beschäftigt und sie zu verstehen sucht, in ihrer Herkunft und in ihrem Nutzen oder Schaden für den jetzigen Moment; drückt sich aber seinem Alter entsprechend aus; • formuliert so, dass man als Zuschauerin* spürt, dass es für diesen Erzähler in vielen Fällen das erste Mal ist, dass er oder sie an einen Ort gelangt, ein Geschehen miterlebt oder von etwas hört (z. B. Sterbebegleitung, nepalesische Kultur, Konfrontation mit Kriegserinnerungen alter Menschen, Begegnung mit Flüchtlingen). Ältere Menschen, die ja oft das Fernsehpublikum bilden, haben vieles bereits mehrfach kennen gelernt und hören einem Jüngeren mit dessen anderer Sichtweise erst mal mit Interesse zu, auch wenn sie sich an die neue Sicht erst gewöhnen müssen;

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• setzt sich ab von bisherigen, gewohnten Denkweisen, Vorstellungen und Vorgehensweisen und erläutert den Unterschied von neu Entdecktem, jetzt eher Gültigem und dessen Nutzen; • nutzt Fachlogik und das Erläutern von Fachbegriffen ebenso wie „Forscher*“ und „Entdecker*“. Er drückt sich aber „jünger“ aus. Der Textperson-Typ „Student“ ist eine erzählerisch höchst wirksame Text-Alternative bei allen Themen, die schon viele Male behandelt wurden, bei Pflichtstücken, historischen Sachverhalten, Porträts und Kulturthemen. Der Sound einer Sendung verjüngt sich, wenn diese Textperson häufiger und in Varianten (weiblich, männlich, Studienstadium, Fachrichtung) auftritt. Knut Weinrich: „Der Überfall“; NDR 2009; Inhalt: Deutschlands Überfall auf Polen 1939; Textperson Polnische Geschichts-Studentin (Autor männlich, Textperson weiblich).

6.3.5 Kriminalbeamtin*/Polizist*/Kontrolleur* Kriminalbeamte, Polizisten und Kontrolleure bilden in der Lebensrealität drei Varianten des gleichen Such-Typs mit gleichartigem Verhaltensmuster: Sie fahnden, ermitteln, untersuchen und prüfen im staatlichen und/oder öffentlichen Auftrag. Sie sind Amtsträger, gehören zu Behörden der Exekutive. Für ihre Aufgaben sind sie mit Rechten und Befugnissen ausgestattet, von denen einige tief ins Leben von Personen, Betrieben und Behörden eingreifen können. Kriminalbeamte, Polizisten und Kontrolleure handeln auf Grund von Anzeigen, auf durch ein Gesetz begründeten Verdacht oder auf behördliche und/oder politische Anweisung. Ihr Interesse ist darauf gerichtet, Abweichungen von einer durch Gesetze und/oder Vorschriften bestimmten Ordnung aufzuspüren. Die Arbeit von Kriminalbeamten und Polizisten dient der Abwehr von Gefahren, der Gewährleistung von öffentlicher Sicherheit und Ordnung, dem Verhindern und Aufdecken von Straftaten und Ordnungswidrigkeiten bei Personen oder Institutionen (Behörden oder Firmen). Ihr Ziel: Beweismaterial zu sammeln, damit eine Staatsanwaltschaft strafbares Verhalten vor Gericht beweisen kann. Die Arbeit von Kontrolleuren sorgt für die Einhaltung gesetzlicher und öffentlicher Regelungen, mit dem Ziel, dass Behörden ordnungswidriges Verhalten ahnden können.

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Die drei Such-Typen werden auf unterschiedliche Weise aktiv. Auch wenn in der Praxis Unregelmäßigkeiten auch bei Polizei und Behörden vorkommen und dort durch interne Taskforces untersucht werden, ist man sich über die Aufgabe und Vorgehensweise von Polizisten und Kontrolleuren prinzipiell einig: • Kriminalbeamte sind vor einer Tat auf Spurensuche (Verdacht, Anzeige), um sie zu verhindern. Nach einer Tat (Anzeige, offensichtliches Verbrechen) sammeln sie Beweise, sichern Spuren und bereiten Strafverfahren vor. Sie gehen – im Rahmen von Gesetzen und Vorschriften – polizei-systematisch vor. Ihre Ermittlungsergebnisse prüfen sie auf Handlungsplausibilität; • Polizisten (Bund, Land, Kommune) sichern durch regelmäßige, in wichtigen Fällen auch massive, Präsenz und Aktion die öffentliche Ordnung. Sie vergleichen das öffentlich gebotene mit dem tatsächlichen Verhalten und greifen ein, wenn Unordnung entsteht oder entstanden ist. Sie sind in ihrem Vorgehen an die Anweisungen ihrer Führung gebunden (z. B. Deeskalation bei Demonstrationen). Überdies arbeiten Polizisten und Kriminalbeamte unterschiedlicher Polizeiorganisationen bei der Fahndung, Ermittlung und Beweissicherung zusammen. So ist jedenfalls der politische Wille; • Kontrolleure werden von Aufsichtsbehörden (z. B. Arbeitsagentur, Finanzministerium, EU-Kommission, Kartellamt, Netzagentur), oder öffentlichen Unternehmen (z. B. Verkehrsbetriebe) mit dem Ziel eingesetzt, das vorschriftsmäßige oder vertragsgerechte Verhalten von Personen und Firmen zu überprüfen. Einige Kontrolleure (z. B. Zollfahndung, Steuerfahndung) haben auch polizeiliche Befugnisse. Kontrolleure der Verkehrsbetriebe oder des Kartellamts beschränken sich auf den Vergleich zwischen Vorschrift, Vertrag und Verhalten und leiten Bußgeldverfahren ein. Am Ende der Suche steht als Ergebnis bei allen drei Such-Typen ein mündlicher und/oder schriftlicher Bericht, auf Grund dessen die Behörden entscheiden, in welcher Weise sie aktiv werden. Der Textperson-Typ „Kriminalbeamtin*/ Polizist/ Kontrolleur“ zeigt sich in drei Spielarten und übernimmt aus der Lebensrealität • den öffentlichen Auftrag zum Suchen und Berichten, auch wenn dies den von der Suche Betroffenen unangenehm werden kann; • das konsequente Suchverhalten im Vergleich von Gesetz / Vorschriften / gesellschaftlicher Norm und tatsächlicher Handlung;

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• die Suchrichtung nach Unregelmäßigkeiten, Verschleierung, Lücken in Vorschriften, Schlampereien und Intransparenz; • die Suchsystematik der jeweiligen Variante dieses Typs. Die Systematik wird erkennbar an der Führung von Roten Fäden, die zum Inhalt und zum Textperson-Typ gehören (z. B. induktive Vorgehensweise und Logik; die jeweilige Fachmethode; die Fachlogik der Falsifizierung; die zum durchsuchten Inhalt oder Ort gehörenden Abläufe; der Zeitablauf mit Deadlines). Damit betont und verdeutlicht dieser Textperson-Typ die öffentliche Aufgabe dokumentarisch-journalistisch arbeitender Autoren*. Diese Aufgabe wird u. a. durch das Informationsfreiheitsgesetz seit dem 1. Januar 2006 gestützt. Dieses Gesetz ermöglicht allen Bürgern – und damit vor allem auch den auf spezifische Informationen angewiesenen dokumentarisch arbeitenden Filmautorinnen* – den Zugang zu Behördeninformationen. Dokumentarische Film-Inhalte betreffen häufig und notwendig auch solche Fakten, die von Behörden, Firmen und Personen in öffentlicher Funktion zurückgehalten oder verheimlicht werden, in einer Demokratie im Interesse der Gesamtgesellschaft aber offengelegt werden müssen. Das öffentliche Aufdecken im Film ist somit eine in der demokratischen Gesellschaft unerlässliche Funktion, nicht aber bereits ein wirkliches Gericht oder eine juristisch wirksame Sanktion. In allen drei Varianten dieses Textperson-Typs bilden die Suche selbst und die sich zu einem Gesamtbild zusammenfügenden Zwischenergebnisse den wesentlichen Erzählungsinhalt: • Bilder, Geräusche, O-Töne und die Film-Situationen werden als Spuren gelesen, die auf Unregelmäßigkeiten hinweisen, welche öffentlich relevant werden können, aber es möglicherweise noch nicht sind; • Der reale Recherche-Ablauf kann dramaturgisch nützlich sein; er muss aber nicht abgebildet werden, denn die reale Recherche-Abfolge der Filmautoren* wird sich oft vom Vorgehen des Textperson-Typs unterscheiden; • Bildführung und Schnitt sollten einen für den Textperson-Typ inhaltlich und dramaturgisch sinnvollen Rechercheablauf unterstützen; • Die Textperson muss nicht als Präsenter* im Bild auftreten. Das passiert zwar häufig, weil es auf den ersten Blick authentisch aussieht. Oft schwächt der ON-Auftritt aber die dramaturgische und inhaltliche Intensität der Erzählung und meist ist es für das Publikum intensiver, wenn der „Kriminalbeamte* / Polizist* /Kontrolleur*“ nur aus Text und Stimme besteht. 83

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Von der öffentlichen Brisanz des Inhalts und den recherchierten und dargestellten Fakten hängt es ab, ob dieser Textperson-Typ als Kriminalbeamter, als Polizist, oder als Kontrolleur gestaltet wird. Durch eine der jeweiligen Typvariante entsprechenden Faktenanordnung in Text und Bild wird die Wahrnehmung des Textperson-Typs verstärkt. Die „Kriminalbeamtin*“ sucht nach den Regeln kriminalistischer Logik und polizeilicher Methodik. Ein „Polizist*“ vergleicht ausdrücklich die Regeln und Anforderungen an das Zusammenspiel von Teilnehmern (z. B. Behörden Firmen, Personen, Aktionen, Initiativen) mit dem realen Verhalten der Agierenden. Als „Kontrolleurin“ vergleicht die Textperson im engen Feld ihrer Kontrollbefugnis das Gesollte und von der Öffentlichkeit Erwartbare mit dem Tatsächlichen. Die Arbeitshypothese der Textperson-Typ „Kriminalkommissar*/ Polizist*/ Kontrolleur*“ folgt der Vorstellung, alle Vorschriften seien eingehalten und das Verhalten sei in Ordnung. Umso überzeugender und spannender wirken daraufhin die kleinen Spuren, die auf Unregelmäßiges hindeuten. Zu jeder Variante des Textperson-Typ „Kriminalbeamter*/ Polizistin*/ Kontrolleur*“ gehören deshalb notwendig drei Rote Fäden: der Rote Faden „Falsifizierende Logik“, weil dessen Ablauf und Faktenanordnung für den Textperson-Typ ebenso wie in der Lebensrealität einen Beweis härtet. Und der Rote Faden „Induktive Logik“ wird den gesamten Suchprozess über die ganze Filmlänge zusätzlich strukturieren, weil er von Spuren – und dramaturgisch durchaus über Umwege – zu einem klar plausiblen Indizien-Schluss führt. Und der Rote Faden „Fachmethode“ zeigt das jeweilige fachliche Vorgehen mit seinen jeweiligen Grenzen. Sehr hilfreich werden auch die Roten Fäden „Quantitative Steigerung/Minderung“ und „Qualitative Steigerung /Minderung“ wirken, weil die Zuschauer, die diese Steigerungen spüren und so lange dranbleiben werden, bis das Ergebnis erzielt ist. Sprachlich präsentiert der Textperson-Typ „Kriminalbeamter* /Polizist*/ Kontrolleur*“ sehr knapp und konzentriert jene Fakten, die im Zuschauer die Vorstellung von der Fahndungsnotwendigkeit und immer wieder auch von Such-Zwischenerfolg wecken. Die Textperson nutzt Formulierungen, die hart klingen und eine konsequente Vorgehensweise zeigen („es kann eigentlich nicht sein, dass…“ / „…bleibt noch die Frage: um welche Uhrzeit wurden die Gelder überwiesen?“). Die Vorstellung von der Suche ergibt sich für den Zuschauer • aus den in der Regel mit Vorstellungen von dem, was sein sollte, nicht zusammenpassenden Fakten; • aus dem Unterschied von Behauptung (oft O-Ton) und Realität; • aus den ausdrücklichen Fakten-Fragen, die sich die Textperson stellt;

6 Welche Dokumentarischen Textperson-Typen sind günstig?

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• aus den Spuren, auf welche die Textperson knapp aufmerksam macht, aus Kleinigkeiten und scheinbar Nebensächlichem, das sie entdeckt; • aus den Vermutungen und Arbeitshypothesen, welche die Textperson immer wieder erstellt und die sie zu falsifizieren versucht, um sie zu erhärten. Dieser Textperson-Typ zitiert Regeln und Vorschriften und liefert in Zusammenspiel und Kontrast von Bild und Text die suchrelevanten Sachverhalte. Durch die Faktenreihenfolge der Filmsituationen und des Textes sollten sich die entdeckten Spuren im Filmverlauf mehr und mehr verdichten, so dass für den Zuschauer sich steigernde Schlussfolgerungen möglich werden. Spannung schafft dieser Textperson-Typ dadurch, dass er – dramaturgisch beabsichtigt oder durch die Rechercherealität gezwungen – zuweilen bei der Suche hängen bleibt und die Spannungslösung hinauszögert. Am Ende aber sollte ein Ergebnis präsentiert werden, mit dem Andere – das Publikum, eine reale Behörde, eine wirkliche Staatanwaltschaft – weiterarbeiten können. Im Unterschied zu einem nüchternen Ergebnisbericht in der Lebensrealität aber bekommt der Zuschauer durch diesen Textperson-Typ mehr: denn er hat an der Entstehung der Erkenntnisse teilgenommen. Vom Textperson-Typ „Staatsanwalt*“ oder „Strafverteidiger*“ unterscheidet sich der Typ „Kriminalbeamter*/ Polizist*/ Kontrolleur* dadurch, dass er Hinweise noch sammelt, nicht die bereits gesammelten Hinweise „vor Gericht“ präsentiert. Dieser Textperson-Typ liegt dem investigativen und institutionenkritischen Aspekt im Berufsverständnis von Journalisten nahe. Filmemacher* nutzen ja oft die Formulierungen: „wir suchen“, „wir wollen wissen“, „wir fahren nach…“; „wir bekommen eine Mail“. Anstelle solcher Formulierungen wirken klare Fragen, Arbeitshypothesen und das Zitieren von Regeln intensiver auf die Zuschauer; und man beschreibt nicht das journalistisch Selbstverständliche („wir wollen wissen…“) oder eine im Bild gerade sichtbare Fahrt („unsere Reise beginnt…“). Vergnügen und Anspannung des Zuschauers* bestehen ja gerade darin, dass er in den präsentierten Sachverhalten selbst etwas entdecken kann. Auch Rufe der Empörung („wirklich?“, „unglaublich!“, „kaum vorstellbar…“) schwächen die Beweiskraft der Textperson, weil in ihnen unversehens die Autoren* persönlich sprechen, ohne im Bild sichtbar zu sein. Solche Ausrufe werden, wenn die Textperson faktenreich erzählt, vom Zuschauer kommen. Der Textperson-Typ Kriminalbeamter*/ Polizist*/ Kontrolleur* passt zu allen Inhalten, die als gesellschaftliche Unregelmäßigkeiten aufgedeckt und diskutiert werden sollten, auf Sendeplätzen von politischen Magazinen und Langformaten mit investigativer Vorgehensweise. In Regionalmagazinen kann dieser Textperson-Typ 85

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bei allen Themen gewählt werden, die öffentliche Aufdeckung und Diskussion erfordern. Textpersonen dieses Typs können auch bei Inhalten greifen, welche aus dramaturgischen Gründen als Aufdecken von Unregelmäßigkeiten wirken sollen (z. B. bei naturwissenschaftlicher Forschung). Der „Kriminalbeamte* /Polizist* /Kontrolleur*“ fahndet im Auftrag des Publikums und beteiligt das Publikum an der Ermittlung. Das tief sitzende Zuschauerinteresse nach Aufdeckung und Verfolgung von Unregelmäßigkeit und Unrecht wird aktiviert. Der Zuschauer wird durch diesen Textperson-Typ gleichsam zurück an den Anfang der Autorenrecherche versetzt, die mit einem Verdacht startete. Der Film lässt dann den Zuschauer den systematischen Suchprozess miterleben, in dem sich ein Verdacht erhärtet. Dieser Textperson-Typ ist – weil der Autor das Ergebnis bereits recherchiert hat – nicht neutral gegenüber dem Filminhalt und den im Film agierenden Personen und Institutionen. Sein Ziel ist, den Verdacht zu beweisen oder die Arbeitshypothese zu falsifizieren. Deshalb wirkt dieser Textperson-Typ auch dann stark, wenn der Beweis oder die Falsifizierung misslingen. Manfred Uhlig: „Tote haben keine Lobby“; WDR 2009; Inhalt: eine Reihe von bislang ungeklärten Mordfällen; Textperson: Kriminalbeamter, der die Untersuchungen wieder aufnimmt. Marie-Pierre Raimbault + Eric Quintin: „Gottes missbrauchte Dienerinnen“; arteF + DreamWayProd 2019; Inhalt: Der sexuelle Missbrauch an katholischen Nonnen durch Priester und Oberinnen; Textperson: Kriminalistin. https://www.youtube.com/watch?v=fwS2g0XgD3I

6.3.6 Anthropologe*/ Ethnologe* Im richtigen Leben ist der Begriff „Anthropologe*“ nicht ganz eindeutig. Man bezeichnet damit Wissenschafts-Personen in Naturwissenschaft, Philosophie und Soziologie, die kulturell-gesellschaftliches menschliches Verhalten erforschen, deuten und darstellen. „Ethnologen*“ erforschen die Verhaltensweisen einzelner Menschen-Kulturen; früher waren dies überwiegend „fremde Völker“ und die Forscher* hießen „Ethnografen“. Heute erforschen Ethnologen* auch die unterschiedlichen Kulturen innerhalb von Völkern und Gesellschaften (z. B. Migrantenkulturen, Führungskräfte, Hartz-IV-Empfänger). Bis weit ins 20. Jahrhundert war die „Völkerkunde“ – betrieben von Europäern, die in fremde Länder zogen – in Haltung, Ergebnis und Darstellung eng gekoppelt mit einem Bewusstsein kultureller Überlegenheit und sprachlicher Herablassung

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gegenüber den erforschten „Eingeborenen“. Heutzutage untersuchen Anthropologen*/Ethnologen* eigene und andere Völker. Sie wollen die Vielfalt unterschiedlicher Handlungsweisen als berechtigt verstehen und sie ohne Diskriminierung darstellen. Sie entdecken Verhalten und suchen es zu verstehen und innerhalb des Gesellschaftskontextes zu begründen. Sie bewerten Verhalten nicht nach moralischen Kategorien, sondern beschreiben es, ohne es als unveränderlich zu fixieren. Eine wichtige Methode der Anthropologen ist die Beschreibung möglichst vieler Elemente des Verhaltens, der Ausdrucksweise und des Denkens einer Menschengruppe, was man fachlich als „Dichte Beschreibung“ bezeichnet. Was Anthropologen* und Ethnologinnen* wissenschaftlich tun, ist in populärer Darstellungsform eine von vielen Leistungen der Dokumentaristinnen* und Journalisten* für die Gesellschaft. In dieser Rolle beschreiben sie die Gesellschaft und stellen sie verstehbar dar. Kritik und Fehlersuche stehen nicht im Vordergrund. Dafür nutzen dokumentarische Filmemacher andere Rollen. Der Textperson-Typ „Anthropologe*/ Ethnologe*“ übernimmt die moderne Denkhaltung der Wissenschaft und beschreibt Zustände, Denkweisen und Verhalten mit dem Blick des Fremden, der eine Kultur kennen und verstehen lernen möchte (z. B. in der Politik, in Industrieunternehmen, in Stadtvierteln, in der Kulturszene, bei Einheimischen, bei Migranten; in der typischen Mittelschicht). Durch den veränderten Blick des Textperson-Typs wirken solche, vielfach auch dem Zuschauer scheinbar – tatsächlich aber meist nur im Klischee – vertraute und gesellschaftlich gewohnte Sachverhalte als Ungewohntes und Nicht-Selbstverständliches, als betrachtenswert. In vielen Fällen bewirkt dieser Textperson-Typ eine Annäherung an tatsächlich Fremdes und von Abwehr Besetztes (z. B. Banker, Migrantenfrauen, Strafgefangene, Obdachlose). Der Textperson-Typ „Anthropologe/Ethnologe“ • sucht nach Fakten, die den Zuschauer in den Bildszenen entdecken lassen, aus welchen objektivierbaren Gründen und subjektbezogenen Motiven die im Film agierenden Personen oder Institutionen handeln. Es geht um Erklärung, nicht um Relativierung oder Ausflucht; • entdeckt Handlungs- (z. B. im Umgang zwischen Eltern und Kindern) und Wertmuster (z. B. die Wertschätzung von Religion), und interpretiert dieses Andersartige – im Vergleich zum sonst oder mehrheitlich Üblichen – so, dass das Publikum verstehen kann, ohne die Handlungen billigen zu müssen; • der Blick richtet sich – anders als der des „Kontrolleurs“ – auf das Regelmäßige und Prägende in einer Kultur, welches dieser Textperson-Typ erfassen und verstehen möchte (z. B. bei Rap, der Netz-Sucht, bei Demenz, Befindlichkeit der dritten Generation von Einwanderern, bei einem Stadtporträt). 87

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Auf Grund dieser Sicht entstehen die Wertungen des Verhaltens in den Zuschauern* selbst, weil diese sich vorstellen können, auf welcher – unsichtbaren – Basis Handlungen zustande kommen; und sie können urteilen, in wie weit sie ein Verhalten für sinnvoll, nutzbringend oder verwerflich halten. Diese Textperson kann deshalb schon durch die Anordnung und Formulierung der Fakten die Vorstellung von der Gleichheit der Menschenwürde mit der Vorstellung von der Ungleichheit des Verhaltens koppeln und so dazu beitragen, ein negatives Werturteil (z. B. „faule Griechen“ „gequälte Kopftuchmädchen“) gar nicht erst entstehen zu lassen. Negative Urteile entstehen auf diese Weise erst dann, wenn die Fakten und der Handlungshintergrund dies zweifelsfrei begründen. Der Textperson-Typ „Anthropologe*/Ethnologe*“ hat durch den eurozentrischen Blick der ersten ethnografischen Forscher viele Filme über Asien und Afrika und andere Kulturen geprägt und zeigt – wenn er heute in dieser historischen, klischeehaften Haltung verbleibt – die Gefahr der Überheblichkeit. Diese grundiert – sicher unbeabsichtigt – bis heute immer wieder den Text von Reisefilmen oder von Berichten über nicht-europäische Kulturen. Filmtexte zeigen eine solche Herablassung der „Ethnologen alter Schule“ zuweilen auch in Situationen, die den überwiegend städtisch lebenden und akademisch gebildeten Autoren* nicht lebensvertraut sind (z. B. auf dem Dorf; bei alten Ritualen; marokkanische Kleingärtner in Deutschland). Es lohnt deshalb, sich der eigenen „Ethnie“ bewusst zu werden und deren Sprachmuster zu reflektieren. Sprachlich bleibt der Textperson-Typ „Anthropologe*/ Ethnologe*“ im Beschreibungsmodus und überwiegend im Indikativ Präsens. Er folgt einer dramaturgisch bestimmten Reihenfolge: zuerst zieht er das Publikum in erlebte Szenen, möglichst im Originalgeräusch und ohne erläuternde O-Töne. Auf Grund dessen, stellt er sich Fragen, er stößt auf Gründe (historische, kommunikative, Motive der Handelnden) und auf Ziele als Sinn einer Handlung; der „Anthropologe*/Ethnologe*“ kann Verweise zitieren und Vergleiche mit – dem Publikum – bekannten Situationen oder Sachverhalten anstellen, in denen sich die im Film agierenden Menschen aber anders verhalten als es das Publikum gewohnt ist. („Im deutschen Parlament würde zwar auch gebrüllt, aber wahrscheinlich würde eine Arbeitsgruppe rasch für einen tragfähigen Kompromiss sorgen. Im britischen scheint es derzeit, als würde ein Kompromiss die Würde des Landes verletzen“). Der Konjunktiv lässt sich gut nutzen, um Handlungen zu interpretieren, nachdem sich – aufgrund der Film-Situation – der Zuschauer über ein im Bild mehrdeutiges Verhalten hat wundern müssen oder es auf Grund seiner Fachlichkeit (z. B.

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die Detailarbeit von Haute-Couture-Näherinnen) nicht hat einordnen können. Der Konjunktiv eröffnet eine Möglichkeit, eine Zukunftsperspektive und weckt im Zuschauer eine Erwartung („Die Dirigentin könnte jetzt zufrieden sein; aber sie sucht auch jetzt wieder danach, wie die Musiker besser in den Flow des Stücks hineinfinden. Besonders die Holzbläser“) Auch wenn Erwartungen sich im Film nicht sofort erfüllen sollten, bleibt es für das Publikum spannend, weil es diese Zukunfts-Möglichkeiten mitdenkt. Der „Anthropologe/Ethnologe“ kann die Berechtigung eines anderen Verhaltens erkennen und dessen kulturellen Gewinn beschreiben, ebenso wie dessen Grenzen und Gefahren. Er vermeidet Formulierungen, welche die Agierenden als – im Vergleich zu Europäern oder Städtern – unerwachsen, ungebildet und in gewisser Weise hilflos charakterisiert. Wenn sich der Film in einer finanziell deutlich wohlhabenderen Gesellschaftsschicht bewegt (z. B. im Milieu der „Schönen und Reichen“), der Journalisten in der Regel nicht angehören, dann sollte die Formulierungen des Anthropologen*/Ethnologen*“ besonders neutral und faktenhaltig sein. Sonst wird unversehens der Neid eines kleinbürgerlichen Milieus spürbar oder ein unerfüllter Wunsch, mit den Agierenden im gleichen Milieu zu leben; was man in Bayern als „Sich-Ranwanzen“ bezeichnet. Die beschreibenden, möglichst adjektiv-freien Formulierungen des „Anthropologen*“/ „Ethnologen*“ verdeutlichen, dass es um Entdecken und Vergewissern geht. Wer mit diesem Textperson-Typ einen Film erzählt, hat die Chance, sich mit eigenen Vorurteilen bewusst auseinanderzusetzen, Fakten zu suchen, die Handlungsmotive und Handlungsbegründungen anschaulich werden lassen und Formulierungen des neutralen Beschreibens zu finden. Als Autor* kommt man damit aus dem Käfig der gewohnten Formulierungen hinaus und weckt auf Grund der tiefer greifenden Perspektive höheres Interesse beim Publikum. Das Publikum gewinnt durch diese Textperson ein konzentriertes und klares Bild von Handlungen und vom Verhalten der im Film Agierenden. Es wird in etwas hineingezogen, das ihm fremd ist, und es nimmt teil an etwas, das nicht sogleich bewertet wird. Die Mehrzahl der Zuschauer kennt ja die allermeisten Inhalte dokumentarischer Berichte nicht aus eigener Lebenserfahrung. Sie sind also darauf angewiesen, ihre Vorstellungen von den Sachverhalten, den Vorgehensweisen und den Motiven der Handelnden immer wieder der tatsächlichen Realität anzupassen. Die Textperson schildert neugierig und sprachdicht innere und äußere Antriebe und Abhängigkeiten, Zwänge und Ziele. Der Zuschauer, der dieser Textperson 89

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folgt, gewinnt eine neue Einstellung, weil diese Textperson ihm Fakten liefert, die Werte und Motive anderer Menschen anschaulich werden lassen. Dieser Textperson-Typ ist in Reisefilmen eine gute Alternative zum nahe liegenden Reklame- und Reiseführer-Deutsch. Berichte über interkulturelle Konflikte innerhalb einer Gesellschaft lassen sich mit dem Typ „Anthropologe*/Ethnologe*“ fesselnd erzählen. Denn er ist sprachlich reflektierter als es ein einfacher „Beobachter“ sein muss. Dieser Textperson-Typ passt auch zu Film-Inhalten, die dem Zuschauer – auch in der eigenen Region – scheinbar und nur an der Oberfläche bekannt sind. Loic Prigent: „Im Hause Chanel“ (1-5); arteF 2005; Inhalt: Das Werden der neuen Kollektion; Textperson: Anthropologe. https://www.youtube.com/watch?v=pbo7VKvMSkQ ▶ Formulierungen auswählen, die spontan die Vorstellung von „methodisch suchen“, „vorankommen“, „weiter machen“ hervorrufen.

6.4

Argumentieren / Plädieren

In der Lebensrealität argumentieren Menschen für oder gegen etwas und sie plädieren mit guten oder weniger guten Gründen. Lebenspartner argumentieren um Wohnung und Urlaubspläne, im Betrieb argumentieren Arbeitsgruppen und Führungskräfte für oder gegen Lösungen für Technik und Vertrieb, in der Kommune argumentieren Parteien und Behörden für oder gegen Finanzen und Stadtplanungsprojekte. Bei Debatten nutzt man sachlich überzeugende oder auch nur rhetorisch eindrückliche Argumente; oder beides. Der Zweck der Argumentation ist • ein inhaltliches Ergebnis, für das man (Person, Gremium) sich entscheidet und es dann ausführt; • oder ein inhaltliches Ergebnis, auch dann, wenn noch keine Entscheidung erreicht werden kann (z. B. Debatte in einem Beratergremium; erste Lesung im Bundestag; Abwägung in der Familie über eine Anschaffung); • oder eine Entscheidung, auch wenn sie inhaltlich niemanden voranbringt (z. B. Parlamentsdebatten zum Brexit 2018 und 2019). Argumentieren und Plädieren empfinden die Beteiligten, die Betroffenen und das Umfeld nur dann als erfolgreich, wenn eine Schluss-Entscheidung den Grundkonsens möglichst vieler Beteiligter trifft; und wenn sie auch von denjenigen überzeugt

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mitgetragen wird, deren Argumente sich als schwächer erwiesen haben. Es reicht nicht, wenn nur die allgemeine Empfindung einer inhaltlich leerlaufenden Debatte übrigbleibt. Als Argumente gelten Aussagen (Fakten, Sachverhalte), die zur Begründung und/ oder als Beweismittel für andere Aussagen herangezogen werden. Mit Argumenten will man Unterschiedliches erreichen, z. B.: • • • •

in der Wissenschaft: eine „Wahrheit in der Sache“, nach dem Stand des Wissens; in der Justiz: ein wenigstens Ordnung schaffendes Urteil; in der Gesellschaft: Lösungen für ein möglichst konfliktfreies Miteinander; in der Rhetorik: ein überzeugtes Publikum.

In der Lebenspraxis sind solche Ziele nicht immer eindeutig, denn es kann ja mehrere gleichberechtigte Wahrheiten und Ordnungsmöglichkeiten geben. Die Ziele gelten also allenfalls für eine gewisse Zeit oder unter bestimmten Umständen und können sich in nachfolgenden Schritten ändern. In vielen Fällen (z. B. in der Politik) gehen die Ziele ineinander über, so dass eine Argumentation zuallererst klären muss, welche Ziele den Beteiligten gemeinsam oder jeweils am wichtigsten sind. Trotz solcher Einschränkungen und Unsicherheiten erwarten alle direkt oder indirekt an Debatten Beteiligten und auch das Debatten-Publikum (außer bei den meisten Talkshows): • dass Argumente inhaltlich, logisch und intersubjektiv kontrollierbar und nachprüfbar sind; sie sollen sich nicht allein auf subjekt-begrenzte Meinungen, Ideologien, Parteibeschlüsse oder Befindlichkeiten stützen; • dass die Verknüpfung von Argumenten – die Argumentation – sich nach einer unbestrittenen Schluss-Regel richtet (z. B., dass aus den benannten Voraussetzungen – den Prämissen – sich zwingend genau dieser Schluss ergibt. Oder, dass aus wenigen Details und zufälligen Vorkommnissen sich noch keine allgemeine Regel machen lässt); • dass die Argumentation einen Grundkonsens der Beteiligten gestaltet und verwirklicht (z. B., dass der Monatslohn steigen und nicht sinken soll; dass der Umstieg auf umweltfreundliche Energie in einem bestimmten Zeitraum nicht teurer werden soll als zurzeit; oder dass er auf jeden Fall teurer werden muss); • dass die Argumentation als Ziel einen ausformulierten praktikablen Beschluss erreicht; mindestens das Beschreiben eines Lösungsweges. 91

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Wenn eine Argumentation im Feststellen eines unüberbrückbaren Dissenses endet, muss die Argumentation mit anderen Beteiligten und/oder anderen Argumenten und meist mit Hilfe von Dritten (Moderatoren*, Schlichterinnen*, Mediatoren*) fortgeführt werden. Als Plädoyer bezeichnet man eine Argumentation, die sich auf die Argumente einer Seite der Beteiligten konzentriert und im Wesentlichen deren Ziele verfolgt (z. B. die Schlussvorträge von Staatsanwalt und Verteidiger im Strafgerichtsprozess; Reden von Parteipolitikern in Parlamenten). Eine Argumentation, welche die Argumente der anderen Seite ausdrücklich – aufnehmend oder widerlegend – berücksichtigt, nennt man Dialektische Argumentation. In dieser Argumentationsart werden die Argumente der jeweils anderen Beteiligten in die eigene Argumentation miteinbezogen, auf ihre Relevanz geprüft, wobei sie sich entweder als gewichtig erweisen oder in Luft auflösen. Eine der ausdrücklichen Kernaufgaben öffentlich-rechtlichen Rundfunks besteht darin, diejenigen Argumente zu finden und öffentlich zu machen, die sich nicht mit den offiziellen Begründungen, Argumentationen oder Rechtfertigungen von Institutionen, Lobbyisten, Unternehmen, Politikern und anderen Mächtigen decken. Ähnlich gilt diese Aufgabe für andere öffentliche Medien wie Qualitätszeitungen, kommerzielle Radio- oder Fernsehstationen und solche Blogs, die ähnlich wie öffentlich-rechtliche Medien funktionieren. Denn sie verstehen sich ausdrücklich als an der Öffentlichen Kommunikation Beteiligte. Solche Medien, die sich nur auf die eigene Person oder Rolle beziehen (z. B. Twitter, konzerneigene Websites, Werbespots, Facebook) müssen diese Aufgabe eigentlich nicht erfüllen. Aber sie haben dennoch zunehmend, je nachdem, wer sich dort äußert (z. B. ein Staatspräsident*, Konzernchef*, Minister*), hohen Einfluss auf die öffentliche Diskussion. Als so genannte „Vierte Gewalt“ bringen Medien ausdrückliches Fehlverhalten an die Öffentlichkeit. Sie benennen diejenigen, die etwas vertuschen oder von ihrer Verantwortung abzulenken versuchen. Zuschauer gleichen in diesem Zusammenhang den Richtern und Schöffen, die zu einem qualifizierten Urteil kommen sollen. Der Textperson-Typ „Argumentieren/Plädieren“ betont die zu den dokumentarisch-journalistischen Grundaufgaben gehörende logisch-argumentative Vorgehensweise „wie vor Gericht“. Es sind drei Rollen: der Textperson-Typ „Staatsanwalt*“, „Verteidiger*“, oder „Zivilanwalt*“, je nachdem, ob Argumentation und das Plädoyer vor einem „Strafgericht“ oder vor einem „Zivilgericht“ vorgetragen werden. Die drei Rollen zeigen eine jeweils charakteristische Argumentationsrichtung:

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• der Textperson-Typ „Staatsanwalt*“ tritt für die Regel ein. Die vorhandenen Gesetze, Regeln und gesellschaftlichen Vereinbarungen und deren bisherige Interpretation sind die Grundlage seiner Argumentation. Diese journalistische Position ist oft notwendig, um gesellschaftlichen Grundvereinbarungen in der Öffentlichkeit neu zu klären und sie zu verlebendigen; • der Textperson-Typ „Verteidigerin*“ tritt für die Änderung der Regel oder die Ausnahme von der Regel ein. Auf der gleichen Argumentationsbasis wie der „Staatanwalt*“, aber mit dem entgegengesetzten Ziel. Dies ist häufig eine journalistisch notwendige Position, um gesellschaftliche Veränderungen als Argumente – nicht als Jammern und Klagen – an die Öffentlichkeit zu bringen. Und auf diese Weise Änderungen des Bestehenden und Anpassung an die gesellschaftliche Realität in Gang zu setzen; • der Textperson-Typ „Zivilanwalt*“ tritt für eine von den Streitenden akzeptierbare Lösung ein. Auf der gleichen juristischen Basis wie die beiden anderen Varianten dieses Textperson-Typs. Aber nicht unter dem Druck einer notwendigen öffentlichen Sanktion. Diese oft journalistisch notwendige Position ist geeignet, um kollidierende Absichten gesellschaftlicher Streitparteien in Bewegung zu bringen und im Fluss zu halten. Diese Textpersonen dürfen beim Publikum kein Misstrauen in die Argumentation aufkommen lassen oder durch ihre Formulierung die Vorstellung von „Behauptung“ wecken. Lücken und Unsicherheiten der eigenen Argumente werden daher ausdrücklich formuliert (was bei einem realen Plädoyer vor Gericht wohl unterbliebe). Je nach dem Inhalt, der gesellschaftlichen Bedeutung und/oder den gesellschaftlichen Auswirkungen eines Film-Themas erfordert dieser Textperson-Typ eine Dialektische Argumentation oder ein – auch einseitiges – Plädoyer. Beim gleichen Thema und bei gleicher Grundhaltung von Autor und Redaktion kann man oft erst im Laufe der Recherche oder des Drehs entscheiden, welche der drei Rollen die größte Wirkung beim Publikum auslösen kann. Wenn die Entscheidung bereits früh in der Produktion möglich wird, lassen sich auch die Bildelemente (Aufnahme, Grafik, CGI, Archiv-Szenen etc.), Ton, Musik und das O-Ton-Setting auf die gewählte Rolle dieses Textperson-Typs ausrichten. Der Textpersonen des Typs „Plädieren“ sind wichtige Erzähler in politischen Magazinen, in Dokumentationen und Erfahrungsberichten. Sie wirken dann als öffentliche Plädoyers vor dem Publikum, das als „Gericht“ betrachtet wird. ▶ Drei Varianten – gleiche Argumentation – unterschiedliche Sichtweise. 93

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6.4.1 Staatsanwalt* In der Lebensrealität werden Staatsanwälte von sich aus tätig, wenn sie strafrechtlich relevante Tat-Hinweise bekommen, denen sie von Amts wegen nachgehen müssen (z. B. durch Anzeigen oder Polizeiaktionen). Staatsanwälte ermitteln auch mit Hilfe und in Zusammenarbeit mit anderen Behörden, vor allem mit der Polizei. Reichen die Ermittlungsergebnisse aus, um eine Verletzung von Strafgesetzen festzustellen und erscheinen die Beweismittel tragfähig, wird Anklage erhoben. Staatsanwälte klagen an mit dem Ziel, dass Angeklagte eine Strafe bekommen und dadurch die Geltung der Strafgesetze in der Gesellschaft sichergestellt ist. Staatsanwälte argumentieren juristisch deduktiv (von der Regel zu den Details). Sie gehen von der Regel aus (Strafgesetz, bisherige Rechtsprechung) und argumentieren, dass der Angeklagte diese Regel verletzt oder gebrochen habe. In öffentlicher Verhandlung sollen die Regeln klar werden, die sich die Gesellschaft gegeben hat, und es wird die Weise geklärt, wie sie eingehalten werden sollten. Durch die Vielfalt der gestuften Prozess-Urteile entwickeln sich in der Gesellschaft das Rechtsbewusstsein; und für alle an der Justiz unmittelbar Beteiligten und davon Betroffenen das Recht selbst. Journalisten haben – weil sie nicht zum Justizsystem gehören, aber für die öffentliche Kommunikation arbeiten – auch die gesellschaftliche Funktion, Missstände zu benennen, deren Gründe zu erforschen und deren Abstellung voranzutreiben. Es ist eine der genuinen Aufgaben der freien Presse, massiv Kritik zu üben und sich mit staatlichen und öffentlichen Institutionen oder mit Unternehmen zu befassen, welche die ihnen gesetzten Grenzen zu überschreiten drohen oder überschritten haben. Der Textperson-Typ „Staatsanwalt*“ verfügt über ein wesentlich weiteres Handlungsgebiet als ein realer Staatsanwalt: dieser Textperson-Typ geht allem nach, was mit der Verletzung öffentlicher, gesellschaftlich relevanter Regelungen zu tun hat und klagt diejenigen an, die sich – im Urteil der Textperson und damit auf Grund der Recherche – durch Handeln oder durch Unterlassen falsch verhalten haben (z. B. Behörden, verantwortliche Personen, eine Firma, eine Institution, ein Staat). Dieser Textperson-Typ argumentiert mit dem Sinn der in Frage stehenden Regeln, Vorschriften oder Kontrollmaßnahmen und plädiert für deren Einhaltung oder Ergänzung (z. B. Regelungen für Tierschutz in Deutschland, der EU und dem daraus folgenden notwendigen Verhalten der Veterinär-Ämter). Dieser Textperson-Typ kann auch Lücken und Mängel von Gesetzen und Ausführungsbestimmungen ausdrücklich nachweisen und deren Schließung fordern. Er muss nicht in alle

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Richtungen ausgewogen argumentieren. Denn die Rundfunk-Ausgewogenheit ist nicht auf den einzelnen Film bezogen, sondern auf das Programm. Wie reale Staatsanwälte auch diejenigen Sachverhalte berücksichtigen müssen, die zugunsten der Angeklagten sprechen, nutzt der Textperson-Typ „Staatsanwalt* als stärkste Methode die Logik der Falsifizierung. Die Arbeitshypothese heißt dann, dass eigentlich alles in Ordnung sei; sie wird durch die Fakten Schritt für Schritt demontiert. Die Vorschrift benennt Grenzwerte für Diesel-Abgase. Die Aussage des Autoherstellers lautet: Alle Grenzwerte werden eingehalten. Es stellt sich aber heraus, dass dies nur auf einem Prüfstand so ist, nicht im Alltagsverkehr. Die gesellschaftliche Vereinbarung und die Grundannahme der Bestimmung von Grenzwerten aber lautet, dass Grenzwerte im Alltag eingehalten werden müssen. Also handelt es sich um den Verdacht von Betrug. Auch wenn juristisch ein Betrug gerichtlich erst noch festgestellt werden muss. Sprachlich benutzt diese Textperson die deduktive Argumentation und Logik der Juristen, nicht aber deren Fach-Jargon. Dadurch wird der Text argumentativ hart und zugleich verständlich. Die Argumentation muss durch ein intensives Informations- und Argumentations-Zusammenspiel zwischen Bild, Ton und Text schlüssig werden. Insofern stellt dieser Typ deutliche Anforderungen an die Szenenauswahl und die Darstellung durch Bild, Ton und Schnitt; und an die Reihenfolge und Intensität der zum Inhalt gehörenden Roten Fäden. Ohne dieses Zusammenspiel wirkt ein Filmtext mit diesem Textperson-Typ sehr rasch als übertreibende Behauptung. Die Textperson „Staatsanwalt*“ zitiert Gesetze, Regeln, Zusammenhänge, Hintergründe, und die genauen Umstände des Fehlverhaltens, so dass sich die Schlussfolgerungen des Verstoßes für das Publikum stichhaltig von selbst ergeben. Vielen Filme in politischen Magazinen und investigativen langen Filmen gibt erst die kalte und nüchterne Genauigkeit der Textperson „Staatsanwalt*“ die notwendige Schärfe. Der naheliegende und oft zu hörende empörte Aufschrei („kaum zu glauben…“, „Bilder, die betroffen machen…“, „Szenen des Grauens…“) wird überflüssig, die innere Bewegung des Zuschauers aber wird intensiver, weil der Filmtext nicht an dessen Stelle handelt. Wird die Textperson „Staatsanwalt*“ in Filmen eingesetzt, deren Inhalt das Publikum nicht als wirklich wichtig empfindet oder in denen sich offensichtliche Recherche-Lücken zeigen, bekommt sie leicht die Wirkung von Gejammer anstelle von Argumentation. 95

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Sebastian Bellwinkel: „Das missbrauchte Kind“; NDR 2011; Inhalt: Die bislang unzureichende Therapie von Pädophilen; Textperson: Nüchterner Staatsanwalt. Die Nüchternheit und klare Argumentation der Textperson verstärkt die Empörung im Zuschauer*.

6.4.2 Strafverteidiger* Der Strafverteidiger* agiert in der Gerichtsrealität als Widerpart des Staatsanwalts*. Er argumentiert ebenfalls juristisch deduktiv, aber im Sinne des Angeklagten, also für die Ausnahme vom Gesetz, für seine milde Anwendung oder auch für Nicht-Anwendung. Eine Strafverteidigerin* • • • • •

prüft die von der Staatsanwaltschaft ermittelten Tatsachen auf Lücken; testet die Kausalitätsketten der Beweise; stellt in Frage, ob die Beweise ausreichen; bietet Gegenbeweise auf; klärt, ob die rechtlichen Regeln eine Verurteilung grundsätzlich oder in der geforderten Höhe zulassen.

Die Rolle von Verteidigern gehört zu den zentralen Aufgaben journalistisch-dokumentarisch arbeitender Autoren und zur gesellschaftlichen Aufgabe der Medien in Demokratien: Den Stummen eine Stimme geben, den Schwachen Gehör verschaffen, für die Entrechteten öffentlich eintreten. Der Textperson-Typ „Strafverteidiger*“ übernimmt das gesamte Handlungsrepertoire von realen Verteidigern. Mit einer in der öffentlichen Kommunikation bedeutsamen Erweiterung: er kann auch für die Änderung und Abschaffung von Regeln und Bestimmungen eintreten, weil sie seine Klientel einschränken und ungerecht belasten. Dieser Textperson-Typ ist einer der wichtigen – und oft eine Geschichte härtenden – Erzähler, welche die Rechte von Unterdrückten und gesellschaftlich Übersehenen einfordern oder die Sicht von Betroffenen darstellen. Er plädiert für Kompromiss oder Freispruch der Personen und Institutionen, die im Film agieren oder für die Änderung der Bedingungen unter denen sie leben müssen. Daher gehört zum Textperson-Typ „Strafverteidiger*“ die Faktengenauigkeit, die klare Gewichtung der Fakten und die Anwendung der professionellen Logik. Auch

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der Typ „Strafverteidiger*“ beruft sich auf Regeln und Gesetze, aber er argumentiert – im Unterschied zum „Staatsanwalt“ – von der anderen Seite der Regeln und Gesetze her. So wird das Publikum – das „Gericht“ – durch diesen Textperson-Typ aufmerksam auf die Möglichkeiten unterschiedlicher Regelauslegung, wird aufmerksam auf Lücken und beabsichtigte oder unbewusste Fehlinterpretationen. Die Formulierungen dieser Textperson sind scharf und exakt, faktenhaltig, schlüssig deduktiv. Sie sollten nicht schwach, jammernd oder klagend daherkommen. Doch auch hier gilt: kein Juristen-Jargon. Der Textperson-Typ „Strafverteidiger*“ formuliert nicht so, als vermute er Bosheit hinter Regeln, Vorschriften und Verhalten, sondern liefert Fakten, die zeigen, dass Regeln oft zeitbedingt sind und nicht immer die Vielfalt menschlicher Situationen treffen. Er liefert Gründe dafür, dass die zuständigen Parlamente und Institutionen Gesetze und Regelungen weiterentwickeln oder verändern, damit sie dem jeweiligen Sachverhalt besser gerecht werden können. Durch den „Strafverteidiger*“ bekommt ein Publikum, welches Sozialthemen und Geschichten von Unterdrückten und Benachteiligten gerne ausweicht, das gesellschaftliche Gewicht solcher Geschichten zu spüren und lernt, auch solche Menschen verstehen, denen viele Zuschauer in der Realität höchstwahrscheinlich nur selten begegnen. Der Textperson-Typ passt eher zu Filmen über die Schwachen als zu Geschichten über die Mächtigen. Michael Richter: „Festung Europa“, NDR 2013; Inhalt: Die Mittelmeerflüchtlinge aus Afrika; Textperson: Flüchtlingsanwalt, der auf Änderung der Einwanderungsregeln pocht.

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Teil 1 Textperson und Filmtext planen

6.4.3 Zivilanwalt* In der Lebensrealität steht eine Zivilanwältin* in einem Rechtsstreit einer der beiden streitenden Parteien bei und vertritt deren Interessen. Jede Partei hat ihren Anwalt*; und jeder der beiden Zivilanwälte könnte, wenn die Kanzlei das jeweilige Mandat bekommen hätte, auch der anderen Streitpartei beistehen. Die Anwalts-Rolle ist demnach von den jeweiligen Interessen der Partei bestimmt, die den Anwalt engagiert hat. Wichtig für das spätere Urteil wird, dass ein Zivilanwalt* die Argumente der gegnerischen Streitpartei gut für seine eigene Argumentation nutzt. Je nachdem, ob sein Mandant der Kläger oder Beklagte ist, stellt er den Sachverhalt so dar, wie ihn sein Mandant sehen möchte oder nach bisheriger Interpretation der Gesetze durch die Rechtsprechung sehen darf. In Verwaltungs-, Finanz-, Familien- oder Zivilverfahren muss das Gericht eine Lösung im Konflikt finden. Diese kann eine bisher gewohnte oder eine neue Gesetzesinterpretation sein oder auch ein Kompromiss, der die beiden Parteien zufrieden stellt und – in der Justizrealität – auch der Einschätzung eines Obergerichts standhält. Ebenso wie Staatsanwalt und Strafverteidiger argumentieren Zivilanwälte* nach juristischer Logik und nach den Vorgaben des Gesetzes. Anders aber als diese können sie die über den reinen Prozess hinaus reichenden Interessen ihrer Mandanten berücksichtigen. Der Textperson-Typ „Zivilanwalt*“ übernimmt die Interpretation und die Logik des realen Anwalts, nicht aber dessen Ziel, die gegnerische Partei anzuklagen oder gegen sie ein Urteil zu erwirken, denn die „gegnerische Partei“ dieses Textperson-Typs ist das Publikum, der Zuschauer*. Der Textperson-Typ hat das Ziel, den Filminhalt in der rechtlichen Logik argumentierend, nicht aber anklagend oder verteidigend vorzulegen. Er wird dem Publikum also alternative Beurteilungsmöglichkeiten veranschaulichen und die Gründe für eine mögliche Lösung insgesamt gewichten. Zusätzlich liefert diese Textperson eine Vorstellung davon, welche Argumente schwerer wiegen und gesellschaftlich relevanter sind. Sprachlich nutzt der „Zivilanwalt*“ die Möglichkeiten der rechtlich-rhetorischen Argumentation, denn er ist bestrebt, dem Publikum eine andere als die gewohnte Sichtweise möglichst leicht zu machen. Fragen, Konjunktive („was würde passieren, wenn…“), und die ausdrückliche Darstellung von Folgerungen und Alternativen im Irrealis gehören zum Formulier-Repertoire. Die Textperson formuliert abgewogen, nüchtern und faktenhaltig.

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Die Textperson „Zivilanwalt*“ ist die argumentativ schärfste, wenn das Filmthema ein Abwägen von gesellschaftlich unterschiedlich gewichteten Sachverhalten verlangt (z. B., wenn Lobbyisten und Parlament entgegengesetzte Auffassungen vertreten), es aber nicht um Überschreitungen oder den Verdacht des Missbrauchs geht. Und bei Themen, die keine ausdrücklich öffentliche Anklage, aber ein genaues Abwägen von Gründen und Gegengründen erfordern (z. B. die Auswirkungen des Betreuungsgeldes, der Einfluss von Steuererleichterungen auf die Kinderzahl). Zu diesem Textperson-Typ gehört das Bewusstsein, dass es für die meisten gesellschaftlichen Entscheidungen nicht nur eine einzige Wahrheit gibt, wohl aber einen Zwang zum Handeln und zur Lösung. Dieser Textperson-Typ ist nicht so neutral wie „Gutachter*“ und nicht so subjektiv wie „Kritiker*“. Die oft genutzten Formate „Bericht“, „Reportage“, „Dokumentation“ „Auslandsbericht“ werden durch diesen Textperson-Typ oft frischer und klarer klingen und durch neue Erzählfarben bereichert. Filme in Service-Formaten und Regionalprogrammen können diese Textperson nutzen. In vielen politischen Stoffen und auch in Fallgeschichten zeigt sich der Vorteil im Vergleich zu einem Nachrichten-„Boten“: die „Zivilanwältin“ kann plausibel die Fakten in einen regel-logischen Zusammenhang stellen. So werden im Zuschauer* konkrete Vorstellungen über Auswirkungen, Alternativen und möglichen Lösungen bei politischen Vorschlägen geweckt, die ihn vor voreiligen Klischees bewahren. Klaus Martens, Michael Grytz: „Alptraum im Fischerboot – Afrikas Flüchtlinge und die europäische Fischereipolitik“; WDR 2007; Inhalt: die Interessen der afrikanischen Fischerei und die der europäischen Fischerei-Industrie kollidieren; Textperson: Zivilanwalt der Afrikaner. ▶ Mit Fakten argumentieren – Juristische Logik nutzen – Nicht klagen und jammern.

6.5

Begleiten

In der Lebensrealität werden Mitmenschen aus unterschiedlichen Gründen und mit unterschiedlichen Zielen begleitet. Immer gehören Begleiter und Begleitete auf definierte Weise zusammen und sind einander – freiwillig oder unfreiwillig – nahe. Die Nähe zeigt sich in einem Zusammengehörigkeitsgefühl, das aber aus 99

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unterschiedlichen Gründen entsteht und sich in unterschiedlich weiter Distanz der Begleiter zu den Begleiteten ausdrückt. Eine Begleitung kann: • freiwillig sein. Dann begleitet eine Person aus Interesse jemand Anderen und benötigt die Zustimmung des Begleiteten. Freiwillige Begleiter leiten die Begleiteten nicht an. Freiwilligkeit kann zufällig zustande kommen (z. B. wenn Leute ein Stück auf dem Jakobsweg gemeinsam gehen). Sie kann auch beabsichtigt sein (z. B. wenn jemand seinen Freund zur Fahrprüfung begleitet und danach wieder abholt). Es entsteht für Begleiter keine Verpflichtung über die allgemeine Verpflichtung der Hilfeleistung in Notsituationen hinaus. Die Sichtweise der Begleiter kann sich aber im Laufe des Weges ändern; • auf einem Auftrag beruhen. In diesem Fall wird jemand einer anderen Person von einem Dritten (Person, Institution oder von dem Begleiteten selbst) auf Zeit oder auch auf Dauer als Begleiter zugeordnet (z. B. als Bewährungshelfer, Betreuer, Coach, Trainer). Mit der Zuordnung und/oder dem Engagement ist eine bestimmte Aufgabe verbunden, welche die jeweilige Begleiterin* nach professionellen Kriterien erfüllen muss. Der Begleiter* hat eine Verpflichtung gegenüber seinem Auftraggeber (der ihn geschickt oder der ihn für sich als Begleitung engagiert hat). Und gegenüber der Person, die er begleitet. Deshalb zeigt sich eine professionelle Begleitung auch (z. B. Bewährungshelfer, gerichtlicher Betreuer), aber nicht immer (z. B. Psychotherapeut) in ausdrücklicher Anleitung des Begleiteten; • aus einer bestehenden Zugehörigkeit entstehen. In dieser Form begleiten Eltern ihre Kinder, Kinder einander als Geschwister und später ihre Eltern und Großeltern im Alter. Die Zugehörigkeit zu einer Gruppe oder Mannschaft kann ebenfalls eine Begleitung auslösen, als Freund oder Freundin, als Konkurrent* oder als Vermittlerin*. Für dokumentarisch arbeitende Autoren* ist „Begleiten“ ein professionelles Handlungsmuster und eine der befriedigendsten persönlichen Erlebnismöglichkeiten. Film-Autorinnen* bekommen Zugang zu Lebensbereichen, die ihnen selbst – und damit auch ihren Zuschauern – sonst verschlossen blieben oder sich allenfalls oberflächlich streifen ließen („Wir haben NN zwei Jahre lang bis nach Tadschikistan begleitet“; „Von der ersten Idee für die Elbphilharmonie bis zur Einweihung waren wir 15 Jahr lang dabei“). Im Begleiten kommt man dem anderen und seinen Interessen nahe, behält aber professionelle, reflektierende Distanz. Ein Begleiter hat teil an einer ihm fremden Erfahrung. Er will niemanden anklagen, er

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hat nicht den absichtlichen Ehrgeiz, Verborgenes aufzudecken, tut es aber, wenn er es beim Begleiten erkennt. Ein Begleiter erlebt Fremdes, das im Alltag des Publikums so nicht vorkommt. Unter dieser Rücksicht ist für einen Zuschauer bereits fremd, was Menschen anderer Berufsgruppen im Detail tun, denken oder entscheiden. Selbst in Bereichen, in denen sich viele Zuschauer kompetent geben (z. B. Fußball, Politik, Umweltschutz, Erziehung), bleiben die konkreten Umstände, die im Hintergrund agierenden Personen oder Institutionen und deren Entscheidungskriterien im Informations-Halbdunkel. Und werden daher für Zuschauer interessant. Das Ziel eines realen journalistischen Begleiters ist eine Geschichte, die das Interesse des Publikums findet, weil es sie in dieser Dimension noch nicht kennenlernen konnte. Die Erlaubnis zur Begleitung bekommen Autoren nur deshalb, weil sie Autoren sind und der Andere (z. B. Person, Unternehmen, Projekt) darauf hofft, dass seine Geschichte mit Hilfe des Autors* öffentlich überzeugen kann. Der Textperson-Typ „Begleiter*“ geht über diese unmittelbare Autorenerfahrung hinaus und kann in allen Formen auftreten, die auch in der Lebensrealität vorkommen. Der Textperson-Typ zeigt sich als „Freiwilliger…“, als „Professioneller…“, als „Familiärer…“ oder als ausdrücklich „Journalistischer Begleiter“. Die konkrete Entscheidung für eine bestimmte Spielart von „Begleiter“ kann also knifflig werden. Anders als in der Lebensrealität, in der man sich in vielen Fällen Begleiter auch aussuchen oder sie ablehnen kann, wird der Textperson-Typ von einer Autorin* ausgewählt und definiert und der Hauptfigur zugeordnet. Die Frage danach, wie Hauptfigur und Begleiter zusammengekommen sind, wird im Filmtext nicht gestellt und natürlich auch nicht beantwortet. Autoren wählen die Art dieses Textperson-Typs so aus, dass sie einen spürbaren, das Erleben und die Information des Zuschauers steigernden Kontrast zu den handelnden Figuren und zu den übrigen filmischen Gestaltungselementen bildet. Der Textperson-Typ „Begleiter“ wählt Fakten und Sachverhalte so aus, dass sie die Voraussetzungen und Umstände des Handelns der Hauptfigur klar benennen und zugleich den jeweiligen Begleit-Charakter der Textperson klären. Wenn man früh entscheiden konnte, dass eine „Begleiterin* den Film erzählen soll, kann man auch die Filmsituationen so planen, dass sie zum Typ „Begleiter“ passen. Wenn es zur besonderen Art der Begleitung passt (z. B. „Familiärer Begleiter“) beschreibt die Textperson auch die inneren Motive und Antriebe, Erfolge oder Niederlagen des Begleiteten. Sie werden nach den für den jeweiligen „Begleiter-Typ“ fachlich 101

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wichtigen Kriterien als Anstrengung und Leistungen der Hauptfigur erkennbar. Was wiederum das Interesse der Zuschauer an der Hauptfigur steigert. „Begleiter“ formulieren Empfindungen der Befriedigung oder Enttäuschung der Hauptfigur, soweit sie sich aus den Film-Situationen ergeben („nach zwei Jahren Kampf gegen die „Amerikanische Faulbrut: zum ersten Mal Honig zum Verkauf“). Dann wirken sie nicht als ungeprüfte Behauptungen („NN ist stolz auf seine Bienen…“ / „NN ist ganz verzweifelt“). Hemmnisse und Entschuldigungsgründe, die für die Hauptfigur relevant sind, werden genannt. Je nach der Distanz des „Begleiter“-Typen und abhängig von seiner Beziehung zur Hauptfigur fallen die Formulierungen härter oder weicher aus. Aber die Faktenauswahl ist streng auf das zuhörende Publikum ausgerichtet. Der Begleiter spiegelt nicht sich selbst – außer in Selbsterfahrungsformaten. In solchen (z. B. in der Reihe „7 Tage…“ des NDR), ist auch die „Ich-Form“ sinnvoll und stimmig. ▶ Varianten – unterschiedliche Motive – gleiche Bewegung – spezifische Sichtweise – unterschiedlicher Kontrast.

6.5.1 Freiwillige Begleiter* Zum Begleiten kann man sich im wirklichen Leben immer wieder entschließen, indem man neben jemandem eine Wegstrecke lang hergeht, solange dieser das nicht als lästig empfindet. Dabei kann man sich miteinander unterhalten und zugleich die Umgebung registrieren. Der Textperson-Typ „Freiwilliger Begleiter*“ zeigt Interesse an dem, was der Begleitete tut und erlebt. Das Interesse kann bereits vorhanden sein (z. B. auf Grund von Vorurteilen oder Klischees), es kann aber auch aus anfänglicher Unkenntnis und Neugier wachsen. Der Textperson-Typ „Begleiterin*“ kann die Stärke und die Richtung seines Interesses im Laufe des Films ändern: seine Distanz zu dem Begleiteten kann kleiner werden oder er kann immer wieder Abstand gewinnen. Und man kann sich als Autor* auch von vorn herein entschließen, einen bestimmten Abstand nicht zu unterschreiten. Das Kriterium für diese Entscheidung liegt darin, welche Art der Distanziertheit – oder welche Art des Distanz-Wechsels dem Zuschauer* einen Erlebnis- und Informationsgewinn verschaffen kann. Der „Freiwillige Begleiter*“ geht eine mehr oder weniger lange Lebensstrecke neben der Hauptfigur durch eine Geschichte. Diese kann eine Stunde lang sein oder

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auch ein ganzes Leben (z. B. bei einer Film-Biografie). Die Ergebnisse der Recherche werden über den gesamten Verlauf der filmischen Geschichte so verteilt, dass der Zuschauer allmählich mitbekommt, was die Hauptfigur für wichtig hält, welche Motive sie antreiben und welche Attribute sie hat. Die Freiwilligkeit der Textperson „Begleiter“ wird für das Publikum dadurch deutlich, dass die Textperson die Informationen als Beobachtung und zufällig Erfahrenes formuliert, nicht als Ergebnis eines methodisch-fachliches Vorgehens. Das von der Autorin Recherchierte und Gesammelte bekommt in dieser Textperson sprachlich wieder seine Ursprungsform. Die Textperson „Freiwilliger Begleiter*“ urteilt auch nicht nach fachlichen Kriterien. Sie schildert, was sie erfährt, was sie erkennen und spüren kann. Sie kann Vermutungen äußern, die im Begleiten Anlass zu Nachfragen werden. Sprachlich wählt der Typ „Freiwilliger Begleiter*“ solche Formulierungen, die bereits innere oder äußere Bewegung miteinschließen (z. B. „vorankommen“, „voraussehen“, „beabsichtigen“, „sich erinnern“, „wieder ins Gedächtnis kommen“). Solche Wortwahl lässt den Zuschauer die innere Bewegung der Hauptfigur und der übrigen handelnden Figuren spüren und richtet die Aufmerksamkeit des Publikums auf die Verbindung zwischen sichtbarer Handlung und verborgenen Motiven der Hauptfigur. Die Begleit-Haltung muss man nicht durch die Ich-Form ausdrücken, denn diese verstärkt eher den Blick auf die Textperson als den auf die Hauptfigur. Um die aber geht es. In seiner deutlichen Nähe zur Hauptfigur unterscheidet sich dieser Textperson-Typ vom Typ „Beobachter“. Ein „Freiwilliger Begleiter*“ kann mit allen Arten von Hauptfiguren umgehen, auch mit Institutionen und Orten und selbst mit Abstrakta. Durch diesen Textperson-Typ entsteht für das Publikum gerade dann ein besonderer Reiz, wenn das Thema oder die Filmform Nüchternheit nahelegen, aber keine ausdrückliche Erforschung oder Argumentation erfordern, z. B. in Reisefilmen, in Service-Filmen ohne Ranking, in Sozialberichten und Auslandsberichten. Philipp Abresch: „Minamisanriku – Schicksal einer Stadt“; NDR 2012; Inhalt: Die Stadt Minamisanriku ein Jahr nach Fukushima; Textperson: Freiwilliger Begleiter. https://www.youtube.com/watch?v=IUPyYUcZeHU Annette von Donop: „Nachhaltig reisen – Wie Urlaub und Klimaschutz gelingen“; ZDF 2019; Inhalt: Reisen mit einer jungen Schwedin;

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Textperson: gleichaltrige Freundin. https://www.youtube.com/watch?v=Zj_Rf2Gy-sM Jörg Adolph: „How to make a Book with Steidl“; ZDF 2010; DVD; Inhalt: Porträt des Verlegers Steidl; Textperson: Freiwilliger Beobachter.

6.5.2 Professionelle Begleiter Manchmal engagiert man sich in der Lebensrealität einen professionellen Begleiter* (z. B. einen EDV-Fachmann; eine Steuerberaterin; einen persönlichen Trainer; einen Bodyguard). Weit öfter aber werden professionelle Begleiter von einer Institution oder einem Auftraggeber zugewiesen (z. B. Sozialarbeiter*; Gefängnisbeamtin*; Insolvenzverwalter*; Altenpfleger*; Bewährungshelfer; Sport-Trainer; Lotsen; gerichtlicher Vormund*; Monitor* beim Compliance-Prozess eines Unternehmens). Der Auftrag solcher professionellen Begleiter – ob freiwillig engagiert oder zugewiesen – lautet, die begleitete Person, Gruppe oder Institution mit Hilfe fachlicher Methoden und Anleitung in einer bestimmten Zeitspanne aus einer schwierigen Situation wieder in eine günstigere Situation zu bringen. Oder, wenn die Begleiter* Lotsen, Polizisten oder Gefängnisbeamte sind, an einen sicheren Ort. Da schwierige Lebenssituationen aus höchst unterschiedlichen Gründen auftreten, ist auch die Gruppe professioneller Begleiter vielgestaltig. Der Textperson-Typ „Professionelle Begleiter*“ kann von seinen Kollegen in der Lebensrealität alles übernehmen. Dramaturgisch steht der „Professionelle Begleiter*“ auf der Seite der Hauptfigur, formuliert aber aus professioneller Distanz und ist nicht neutral. Er hat immer auch ein eigenes Interesse. Denn die Textperson strebt ein fachliches Ziel an (das filmische Argumentziel), das der Begleitete erreichen will oder soll, welches aber die Zuschauer gleichzeitig Zusammenhänge verstehen lässt, die ihnen unvertraut sind. Die „Professionelle Begleiterin*“ • registriert die für die jeweilige Profession des Begleiters charakteristischen Aspekte des Verhaltens der Hauptfigur; • nutzt fachliche Kriterien, anhand deren dieses Verhalten auf dem Weg zum Ziel ausdrücklich beurteilt wird. Je nach Inhalt und erzählerischer Notwendigkeit einer Geschichte müssen Autoren* die Textperson mit Hilfe des Textperson-Profils konkretisieren (z. B. Sozialarbeiter;

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Sport-Trainerin; persönlicher Coach; Modeberaterin; Sterne-Koch). Die wesentlichen Elemente der Fachlichkeit müssen den Autoren klar werden. Sie benötigen also mindestens einige Kenntnisse von der Vorgehensweise realer Profi-Begleiter* und eine gute Recherche dazu. Denn erst dann können einem die passenden Formulierungen zum besonderen Charakter des jeweiligen Begleiters* einfallen. Die Ich-Form schmälert die professionelle Distanz und passt deshalb meist nicht. Denn der Reiz eines „Professionellen Begleiters“ besteht in der nicht-journalistischen Fachlichkeit. „Vor drei Monaten hatte sie sich vorgenommen, täglich Vokabeln zu üben. Täglich zehn neue. Bis heute hat sie durchgehalten. Die nächste Stufe: jeden Tag drei englische Sätze erfinden und aufschreiben.“ „NN rastet immer noch mal aus. Aber weniger oft. Vielleicht kann er ab Mai doch in die zweite Mannschaft. Da wollte er ja hin.“ Alle Filmsituationen und Verhaltensweisen der Hauptfigur und der anderen am Geschehen Beteiligten werden vom Textperson-Typ „Professioneller Begleiter*“ daraufhin gewichtet, ob sie die Hauptfigur dem Ziel näherbringen. Gesetze, Anordnungen, Auflagen, Vorgehensmöglichkeiten werden darauf hin geprüft, wie weit sie dem Klienten helfen oder ihn antreiben. Sein und Sollen werden im Verlauf der Entwicklung der Hauptfigur immer wieder verglichen. Dieser Textperson-Typ wählt Fakten aus, die Anforderungen und Möglichkeiten verdeutlichen. Er zitiert Vorschriften, erläutert Möglichkeiten, sie zu erfüllen und die Folgen, wenn dies nicht geschieht. Sprachlich ist diese Textperson durch Urteile und Gewichtungen charakterisiert, die sich auf Vorschriften und Methoden stützen. Die beiden Roten Fäden „Fachmethode“ und „Fachlogik“ treiben die Erwartung an und zeigen die Kompetenz der Erzähler. Die Roten Fäden „Qualitative und Quantitative Steigerung oder Minderung“ ziehen das Interesse des Publikums auf die Hauptfigur. Die Sprache kann freundlich klingen oder auch ärgerlich, schadenfroh oder ätzend. Wenn Fachlichkeit und Methode im Erzählzusammenhang und auf dem Sendeplatz einleuchten, wirkt dieser Textperson-Typ kompetenter als ein einfacher „Beobachter“ oder ein „Freiwilliger Begleiter“ und dennoch als unterhaltsamer Erzähler. Dadurch zieht dieser Textperson-Typ den Zuschauer in einen professionellen Prozess hinein, der diesem sonst unbekannt geblieben wäre. Zuschauer lernen durch diese Textpersonen unterschwellig, wie die Gesellschaft funktioniert. Der Textperson-Typ „Professioneller Begleiter“ passt zu vielen Themen, die in der Filmform „Bericht“ oder „Dokumentation“ gestaltet sind. Er verstärkt die In105

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tensität solcher Formate. Je nach Sendeplatz und Stoff kann dieser Textperson-Typ auch ironisch ausfallen. Bei Filmthemen, die in Serien oder Reihen erzählt werden (z. B. Tierzucht; Zoo-Dokus; Landschaftsporträts; Filme über Renovierung und Eigenbau), kann der Einsatz unterschiedlicher „Professioneller Begleiter“ die ganze Serie inhaltlich und erzählerisch reizvoller werden lassen als eine einzige, über viele Folgen durchlaufende Textperson, die durch ihre kontinuierliche Gleichartigkeit die Zuschauer irgendwann zu nerven beginnt. „Das perfekte Promi-Dinner“; Vox, seit 2012; Inhalt: ein Promi bekocht andere Promis; Textperson: ein schadenfroher Lehr-Koch. https://www.vox.de/sendungen/das-perfekte-promi-dinner-tvnow.html „Raus aus den Schulden“, RTL von 2007 – 2015; seitdem Einzelsendungen; Inhalt: verschuldete Menschen wissen nicht weiter; Textperson: der Schuldenberater, diesmal live.

6.5.3 Familiäre Begleiter Im wirklichen Leben begleiten Familienangehörige andere Mitglieder der Familie ganz selbstverständlich in Gedanken. Daheimgebliebene begleiten Familienangehörige, die auf Reisen sind, Familienmitglieder machen sich Sorge, wenn für Kinder, Geschwister oder Eltern eine neue Phase im Leben beginnt oder wenn diese in irgendwelche Schwierigkeiten geraten. Trost, Hilfe, Rat, Ansporn oder Ermutigung erwartet man am ehesten von Familienangehörigen; und man ist enttäuscht, wenn solche, eigentlich erwartbaren Reaktionen ausbleiben. Unmittelbar begleiten Eltern kleine Kinder, oder solche Angehörigen, die der Pflege bedürfen. Im Geist begleiten sie auch ihre älteren Kinder, die nicht mehr bei den Eltern wohnen. Besondere Gelegenheiten für alle Arten von familiärer Begleitung sind große Geburtstage, Hochzeiten und Trauerfälle. Der Textperson-Typ „Familiärer Begleiter“ übernimmt aus der realen Erfahrung vor allem die emotional dichte Beziehung zur Hauptfigur einer Geschichte und die Sichtweise auf die Hauptfigur. Diese Sichtweise zeigt sich im Verwandtschaftsgrad (z. B. Großvater; Kusine; Bruder; Nichte) zu ihr und im dazu gehörenden Alter. Eine Tochter hat eine andere Distanz zu ihren Eltern oder Onkeln als ein Bruder zur Schwester oder eine Großmutter zu ihren Enkeln. Da diese Beziehung durch Wortwahl und Textinhalt anschaulich werden kann, erlebt das Publikum

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einen Erzähler oder eine Erzählerin, die an einer Hauptfigur interessiert sind, sich Gedanken über sie machen, ihr wohlwollen und insgesamt – bei aller geäußerten Kritik – positiv zu ihr stehen. Die „Familiären Begleiter“ formulieren natürlich die journalistisch notwendigen recherchierten Sachverhalte, sie kennen und beschreiben die Hauptfigur aber nicht nur von außen, sondern gehen auf – recherchierte – Gegebenheiten ein, welche dem Publikum die Innenseite der Hauptfigur erschließen. Solche gewinnt man nur selten im O-Ton der Beteiligten. Die Distanz der jeweiligen Begleiter ist deutlich geringer als die „professioneller Begleiter* und kann bis zu intensiver Empathie reichen. Es läge nahe, in diesen Textperson-Typ auch Eltern, Onkel und Tanten einzubeziehen. Denn sie wären ja Erzähler mit sehr nahen Beziehungen und intimen Kenntnissen. Für die Zuschauer allerdings wirken „Vater“/„Mutter“ als Textpersonen rasch als „zu nah“, „Onkel“ und „Tante“ zu jovial herablassend. Die Erinnerung an tatsächliche Begebenheiten mit Eltern, Onkel und Tanten, der unmittelbaren Erziehergeneration, spielen bei der Abwehr solcher Textpersonen mit. Gerade diese Varianten des Textperson-Typs „Familiärer Begleiter*“ kommen aber in dokumentarischen Filmen oft unbeabsichtigt vor; sie gewinnen ihr Publikum leider kaum. Das zeigen die spontanen Reaktionen bei Testvorführungen und in Medien-Trainings. Das Publikum bleibt nicht dran. Genaue Untersuchungen dieser unbestreitbar realen und unerwünschten Kommunikationswirkung gibt es bislang nicht. Wir sind auf Vermutungen angewiesen. Dass „Onkel“ oder „Tante“ unbeabsichtigt als Textperson-Typen gewählt werden, könnte aus der unbewussten Überzeugung von Film-Autoren* entspringen, mehr zu wissen als das Publikum und es – wie oft gefordert wird – „an die Hand nehmen“ zu sollen. Gleichaltrige (Geschwister, Kusinen und Vettern) und Großeltern hingegen wecken überwiegend Erinnerungen an weniger durch Autorität geprägte Beziehungen. Sie werden als Textpersonen gut akzeptiert. Und sie liefern Nähe und Spannung zugleich. Durch den Typ „Familiärer Begleiter*“ und seine sprachliche Gestalt entsteht eine deutlich andere Erzähl-Erfahrung. Sprache, Sprechweise und die Perspektive der Formulierungen werden dem – im Textperson-Profil festgelegten – Alter des „Begleiters* angepasst. Jüngere Vertreter des Typs erzeugen eine frischere und voran drängendere Sicht auf die Hauptfigur, ältere Textpersonen dieses Typs erzeugen mehr Gelassenheit. Nähe und Beziehung werden anschaulich durch Formulierung und Faktenauswahl. Familiäre Textpersonen erwähnen mehr Fakten aus dem In107

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nenleben der Hauptfigur als ein „Bote“ oder eine „Staatsanwältin“; eine „Kusine“ kennt andere als ein „Großvater“. Wenn die Textperson „Familiärer Begleiter“ kritisiert – was ja zur dokumentarischen Erzählpflicht gehört – formuliert sie ohne Vorwurf, entschuldigt aber kein Fehlverhalten. Das Publikum kann dann die Nähe und ein – trotz aller Kritik – grundsätzliches Wohlwollen spüren und wird auf diese Weise das informative Gewicht der jeweiligen Geschichte wahrnehmen. Bei diesem Textperson-Typ ist die Auswahl der Sprecher entscheidend dafür, dass die beabsichtigte Erzähl-Wirkung entstehen kann. Die „Familiären Begleiter“ passen zu vielen Filmformen und Inhalten. Gerade zu solchen, bei denen häufig der „Allwissende Gelehrte“ nahe liegt (Historie). Bei sentimental oder überschwer wirkenden Inhalten (Geschichten vom Sterben, vom sich Verlieben, von emotional aufgeladenen Events, von Pop und Mode) sorgt der spezifische Kontrast, den dieser Textperson-Typ zur Hauptfigur aufbauen kann, dafür, dass ein oft aufkommender spontaner Widerstand des Zuschauers sich in Interesse und Miterleben verwandelt. Holger Vogt: „Auf dem Weg zu den Engeln“; NDR 2009; DVD bei „Sternenbrücke Hamburg“; Inhalt: Erfahrungen von Eltern sterbender Kinder aus einem Hospiz; Textperson: Großmutter. In dem Film kommen viele Frauen vor und viele Personen im Elternalter. Und deren Kinder. Die Textperson „Großmutter“ kann all diesen im Film auftretenden Personen eine durch ihr höheres Alter geprägte Empathie zeigen, dennoch aber auch Distanz halten, denn sie selbst ist nicht direkt betroffen. Pari El-Qualqili: „Schildkrötenwut“; BR 2012; Inhalt: Vater kehrt in die Familie zurück und muss sich neu zurechtfinden; Textperson: Beobachtende Tochter. https://www.youtube.com/watch?v=lOehT7MQubM In dieser Geschichte arbeitet sich die Textperson „Tochter“ von der wirklichen Tochter dargestellt, allmählich von der Fremdheit zur Nähe durch. Thomas Kufus: „Unsere 50-er Jahre“; hr 2005; DVD; Inhalt: Erinnerung an Politik und Gesellschaft der 50-er Jahre in Deutschland; Textperson: Damaliger Großvater, der allen im Film Handelnden nah ist. Tobias Lickes: „7 Tage … – im Kinderhospiz“ NDR 2013. Inhalt: Erfahrungen im Verlauf von sieben Tagen; Textperson: Schon erwachsener Vetter – nicht ein realer – von Katharina, die sterben wird. Die Textperson ist in diesem Fall sichtbar und spricht als „Ich“. https://www.youtube.com/watch?v=A-oOQtTTzuk

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6.5.4 Journalistischer Begleiter* Zwar haben alle Autoren dokumentarisch-journalistischen Filmformate – auch wenn sie als Textperson auftreten und ihr Filmtext durch Sprecher gestaltet wird – journalistisches Interesse und machen ihre Filme in journalistischer Absicht. In manchen dokumentarischen Filmformen und Sendeformaten aber etablieren Autoren sich selbst ausdrücklich als – meist auch sichtbare – Begleiter der Hauptfigur (z. B. Reportage; Selbsterfahrungsbericht; Präsenter-Film). Textperson-Typ und Autor werden für das Publikum in diesem Fall fast ununterscheidbar, obwohl der Unterschied zwischen der Person des Autors und der Textperson bestehen bleibt. Denn eine Autorin* verhält sich in diesem Fall nicht als Privatperson, sondern über Recherche und die Regie hinaus in einer Text-Rolle als „Journalistische Begleiterin“. Der Textperson-Typ „Journalistischer Begleiter*“ kann erzählerisch stark wirken und Interesse wecken, weil er den Weg der Hauptfigur und der Betroffenen mitgeht, aber auf andere Weise als die Betroffenen selbst und auch anders als die vorher beschriebenen Spielarten dieses Textperson-Typs. „Journalistische Begleiter*“ können auch als „Ich-Erzähler“ auftreten, und in Selbsterfahrungs-Formaten auch sichtbar werden. Dann sind sie in gewisser Weise Begleiter ihrer selbst. Dann greifen aber auch die für die Textperson-Typ „Ich“ und „Wir“ geltenden erzählerischen und sprachlichen Anforderungen. Der Journalistische Begleiter* • agiert auf der Höhe der Hauptfigur und teilt deren Erfahrungshorizont; • registriert klar, distanziert und nüchtern, was mit der Hauptfigur und mit dem Erzähler selbst und in der Umgebung beider geschieht; • nutzt journalistisch relevante Beurteilungskriterien, auch gegenüber sich selbst; • hält Reaktionen anderer objektiv fest; • zitiert Quellen, die sich in erzählerischer Griffweite befinden; • betrachtet die Aktionen der Hauptfigur immer wieder distanziert; auch in Form eines inneren Monologs oder eines Videotagebuchs der Textperson; • benötigt im Filmverlauf immer wieder Szenen, in denen die Reflexionen der Textperson Platz bekommen. Dadurch ermöglicht dieser Textperson-Typ dem Zuschauer, sich parallel zur Erzählung allmählich ein Urteil zu bilden.

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Sprache und Formulierung der Textperson „Journalistischer Begleiter*“ spiegeln notwendigerweise einen eingeschränkten Sichthorizont. Sie ist ja dicht bei der Hauptfigur und auf diese konzentriert. Fakten, die diesen Horizont überschreiten, sollten durch Verweis und Zitat eingeführt oder als Ahnung, Vermutung oder Konfrontation mit den eigenen – journalistischen – Klischeevorstellungen formuliert werden. Auf diese Weise gewinnt der „Journalistische Begleiter*“ hohe Authentizität, weil er seine Quellen transparent macht und Beziehungen der Hauptfigur zu ihren Lebensumständen erkennbar werden. Die „Journalistische Begleiterin*“ entfaltet die Fakten in der Reihenfolge, in der sie von der Hauptfigur, vom „Journalistischen Begleiter*“ und damit zugleich vom Publikum erlebt werden können. Damit wird aber nichts ausdrücklich Beweisendes oder Enthüllendes verbunden. Das gesammelte Recherchewissen der Autoren* wird im Filmverlauf vor den Augen des Publikums entfaltet. Es wird auf keinen Fall über die Hauptfigur und den Zuschauer* ausgeschüttet. In Selbsterfahrungsformaten geht es entweder um den sich selbst erfahrenden Autor* als Hauptfigur (z. B. „7 Tage im Gefängnis“) oder um die Autorin* als Begleiterin einer Person oder Gruppe in ihrer Situation (z. B. „7 Tage bei den Hippies“ / „Asylbewerber“ als Präsenter-Format). In solchen Fällen kann der Textperson-Typ „Journalistischer Begleiter“ dramaturgisch spannend agieren, weil die Textperson auf den im Bild präsenten Autor schaut und über diesen urteilt, wenn auch zuweilen reflektierend in der Ich-Form. Und auch weil der Zuschauer* deren Blick teilt. Gerhard Widmer: „20000 km Kabel unter dem Meer“; RBr / NDR 2010; Inhalt: Das Aufspüren eines technischen Fehlers im Überseekabel; Textperson: Journalistischer Begleiter der Aktion. Caroline Rollinger / Willem Conrad: „7 Tage … – in der Gerichtsmedizin“ NDR 2015; Inhalt: Eine Woche Mitarbeit in der Gerichts-Pathologie; Textperson: „Journalistische Begleiterin“ der sichtbaren Reporterin. https:// www.youtube.com/watch?v=KDv4miEbTBA ▶ Von Neugier bis Mitgefühl – Die Art der Begleitung verändert die Beziehung, die das Publikum zu einer Hauptfigur erreichen kann.

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6.6 Begegnen In der Lebensrealität begegnen Menschen einander zufällig oder mit Absicht. Ist Absicht im Spiel, mögen die Beteiligten die Begegnung gesucht haben; manchmal sind sie durch ihren Beruf zu Begegnungen mit Fremden verpflichtet. Bei zufälligen Begegnungen kann es vorkommen, dass ihnen die Umstände keine Wahl gelassen haben. Die Begegnungen zwischen Menschen sind das Muster, nach dem sich die Begegnungen lesen lassen, in denen Menschen auf Tiere, auf Orte, Regionen oder abstrakte Sachverhalte treffen. Das ist für den Textperson-Typ „Begegnen“ relevant. Denn auf den ersten Blick scheint er dem Textperson-Typ „Beobachten“ oder „Begleiten“ sehr ähnlich zu sein. „Begegnen“ zeigt aber eine viel deutlichere Bewegungsrichtung auf eine Hauptfigur zu und betont die Ausgangspositionen der erzählenden Textperson in Bezug auf die Hauptfigur. Deshalb kann sich bei „Begegnen“ die Textperson in ihrem Verhältnis zur Hauptfigur auch stark verändern. Das ist für das Publikum spannungsreich und unterhaltend, auch in ernsten und sachlich komplizierten Stoffen. Immer sind Begegnungen von Erwartungen, Vorurteilen und Stimmungen eingefärbt. Bei zufälligen Begegnungen geschieht dies innerhalb weniger Sekunden gleich zu Beginn, beabsichtigte Begegnungen sind schon geprägt, bevor sie stattfinden (z. B. Personaler – Bewerber; Regie – Kamerateam; Dating-Partnerin – Dating-Partner). Deshalb entstehen Begegnungen nicht immer auf Augenhöhe: wer im Vergleich zum anderen mehr Macht oder Einfluss ausüben kann, kann meist auch das Klima und den Verlauf der Begegnung bestimmen oder davon überrascht werden, wenn diese erwartete Überlegenheit nicht eintritt. Auch, wenn Menschen sich anfangs auf Augenhöhe treffen, kann sich das Machtverhältnis ändern (z. B. häufig in Interviewsituationen oder bei geschäftlichen Verhandlungen). Für Filmautoren* ist die beabsichtigte Begegnung mit Anderen ein professionelles Verhaltensmuster: aus Eigenantrieb oder hingeschickt, mit Freude oder mit Abstand, freiwillig oder gezwungen. Autoren wollen und müssen sich durch Augenschein, durch Begegnung mit Personen und Institutionen, davon überzeugen, was hinter einer gedruckten, behaupteten oder vermuteten Information tatsächlich steckt. Und sie müssen dies handwerklich in Bild, Ton und Text darstellen. Die persönliche Einstellung des Beginns muss sich also, wenn die Begegnung zu einem Film führen soll, ins Professionelle und Methodische verwandeln.

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Das Handlungsmuster „Begegnen“ verändert in der Regel den Autor selbst: Man geht an einen beschriebenen Ort, besucht Menschen, von denen man gehört oder gelesen hat; und man hat bereits eine Vorstellung von ihnen. Man trifft zufällig auf Menschen oder auf einen Sachverhalt, an zufälligen Orten und erkennt in dieser Konstellation manchmal schon eine ganze Geschichte oder wenigstens einen wichtigen Teil davon. Jemandem zu begegnen, bewirkt, dass man auf diesen eingeht, sich dabei selbst verändert. Einen neuen Blick gewinnt oder bleibt wie zuvor. In beiden Fällen weiß man am Ende mehr als zu Beginn. Vorurteile, Annahmen, Verdacht und Klischee haben sich entweder bestätigt oder ihre Kraft verloren. Begegnungen dieser Art können den Besucher und Erzähler verändern, meist aber nicht den Besuchten. Beim Textperson-Typ „Begegnen“ setzt das Publikum spontan eine zur Begegnung gehörende Informationsabsicht voraus. Diese („wir wollen wissen…“; „wir sind auf der Suche nach…“) kann im Filmtext wegfallen, weil jeder Zuschauerin* diese Absicht klar ist und sie diese immer wieder im Bild sieht. Sonst gäbe es ja den Film nicht, den sie gerade anschaut. Zuschauer interessieren sich aber für die unterschiedlichen Vorgehensweisen und die Details der Interessen und Fragen, in denen sich der Textperson-Typ „Begegnen“ entfalten kann: als „Zufällig Begegnend“, als „Gast* oder Besucher*“, als „Professioneller Besucher*“, als „Biograf*“ oder als „Reisender*“. Autorinnen* können sich wegen der jeweils deutlich unterschiedlichen Erzähl-Wirkung für eine dieser fünf Varianten entscheiden. Denn jeder dieser Textperson-Typen zeigt seine eigene Art der Informationssuche und des Text-Umgangs mit Fakten und Personen. In allen Varianten will der Zuschauer* miterleben, auf welche Weise sich die Textpersonen bewegen: • ob sie mit Interesse oder mit Widerstand auf jemanden oder auf etwas zugehen; • ob sie auch wieder zurückweichen können, nachdem sie einmal angefangen haben, eine bestimmte Art der Begegnung für richtig zu halten; • mit welchem Vorwissen (Quellen, Vorstellungen, Klischees, Vorurteilen) des Erzählers die Geschichte startet und wie sich dieses Vorwissen im Filmverlauf verändert. Der Textperson-Typ „Begegnen“ geht auf eine Hauptfigur zu, kann sich wieder entfernen, dann nochmals auf die Hauptfigur zugehen, näherkommen und wieder weiter zurück (ähnlich wie im Bild Totale und Nahaufnahme einander abwechseln). Anders als der Typ „Begleiten“ läuft der Erzähltyp „Begegnen“ nicht parallel zur

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Hauptfigur und schaut auf Sachverhalte nicht gemeinsam mit der Hauptfigur, es sei denn, diese lädt ihn oder sie ausdrücklich dazu ein (in Filmszenen oder O-Ton). Dieser Textperson-Typ weiß zugleich mehr und weniger als die Hauptfigur. Die Textperson kann eine Hauptfigur mit vorher gewonnenen Fakten konfrontieren und sie kann auch rätseln, warum sich Handlungen der Hauptfigur nicht sogleich erschließen. Begegnende Textpersonen verändern deshalb im Filmverlauf ihre ursprüngliche, am Filmanfang erkennbar gemachte Einstellung zur Hauptfigur; und dies kann im Filmverlauf mehrfach geschehen. Diese Veränderungsmöglichkeit in der Filmtext-Haltung schafft zusätzliche Erlebens-Spannung für das Publikum. Der Textperson-Typ „Begegnen“ ist einer der wenigen, die Vorurteile, Klischees, Ablehnung oder Vorauskritik gleich zu Anfang artikulieren und sie dramaturgisch zur Steigerung der erzählerischen Fallhöhe nutzen kann. Darin ist dieser Textperson-Typ dem Typ „Forscher“ ähnlich. Anders als dieser nutzt er aber nur journalistische Fachmethoden und Fachlogiken. Der Textperson-Typ „Begegnen“ kann in der Ich-Form sprechen. Ob das sinnvoll ist, hängt von der erstrebten Wirkung auf die Zuschauer ab. Denn es ist keineswegs ein dramaturgisches Gesetz und nicht schon durch die Entscheidung für den Textperson-Typ klar, dass die Ich-Form den Erzähler oder den Besuchten dem Zuschauer näherbringt. Im Gegenteil: sie kann die Abwehr des Publikums gegenüber dem Erzähler steigern. ▶ Fünf Varianten – Unterschiedlicher Start – Die gleiche Bewegung.

6.6.1 Zufällig Begegnen In der Lebensrealität sind zufällige Begegnungen oft überraschend und reizvoll. Menschen, die als Jugendliche umhergereist sind, behalten gerade die zufälligen Begegnungen besonders intensiv im Gedächtnis. Auch wenn sich solche Begegnungen meist nicht wiederholen lassen und meist auch nicht zu wirklichen Freundschaften führen, zählen sie doch überwiegend zu den erwähnenswerten Ereignissen im Leben. Ähnlich sind Überraschung und Freude groß, jemanden, den man mag, zufällig auf dem Markt oder in der Bahn zu treffen. Denen, die man weniger mag, weicht man in solchen Fällen lieber aus oder sucht die Begegnung abzukürzen. Der Textperson-Typ „Zufällig Begegnen“ erzählt von positiven Begegnungen. Unabhängig davon, dass Autoren* für einen Film vorher recherchiert haben, können sie den Film mit der Textperson „Zufällig Begegnen“ schildern. Die Begegnung 113

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ist zwar vorher abgesprochen und findet drehtechnisch tatsächlich beabsichtigt statt. Dramaturgisch aber lässt sich von einer unvorhergesehenen Begegnung erzählen, an einem öffentlich zugänglichen Ort (z. B. im Café, auf der Landstraße, in der Opernpause). Diese Erzählweise lässt sich im Netz und auf manchen Sendeplätzen auch technisch begründen (VJ-Kamera); Begegnung ist eine alte und typische journalistische Form: Der Erzähler entdeckt etwas und nimmt den Zuschauer dorthin mit. Natürlich sind die meisten zufällig wirkenden filmischen Begegnungen wenigstens vorrecherchiert (z. B. in den Reise-Filmen von Franz X. Gernstl). Aber es ist dramaturgisch und für den Film-Inhalt meist unerheblich, ob die Begegnung tatsächlich Zufall ist oder, ob sie als zufällig dargestellt wird. Für das Publikum zählt in solchen Fällen die Filmwirklichkeit. Der Zuschauer* gerät durch Kameraführung und Filmtext geführt, wie zufällig in ein Geschehen hinein und beginnt spontan die eigene Reaktion mit der des Text-Erzählers zu vergleichen. Oft glaubt man, aus dokumentarischer Treue im Text dem Zuschauer mitteilen zu müssen, was man vorhat („wir haben uns mit einer Fachfrau verabredet“; „gleich werden wir NN treffen, der im Café schon auf uns wartet“). Diese Art der Erzählung aber wirkt steif. Denn jeder Zuschauer* weiß ja heutzutage, dass Drehs vereinbart werden. Man kann also den Film so konzipieren und schneiden, dass die Vorstellung von zufälligem Begegnen entsteht. Bei einer zufälligen Begegnung ist die Textperson – nicht der Autor – gedanklich unvorbereitet. Formulierungen, die dieses Unvorbereitet-Sein zeigen, lassen den Zuschauer in Spannung geraten, wie sich die Textperson in die Situation hineinfindet. Diese dramaturgisch begründete Spontaneität wirkt reizvoll auf das Publikum, weil es gewissermaßen einem Wettkampf beiwohnt und gespannt zusieht, ob und wie die Textperson die Begegnung meistert. Beim Erzähler und beim Zuschauer wird dann ein anfangs noch ungerichtetes Erkenntnisinteresse im Verlauf der Begegnung eine Richtung bekommen. Denn im Zuschauer entsteht spontan ein Urteil über den Erzähler und über die Personen und Situationen, welchen dieser begegnet. Am Ende des Films sollte der Zuschauer es als emotionalen und als Erkenntnisgewinn betrachten können, einem Erzähler in diese Begegnung gefolgt zu sein. Stilbildend ist für die Textperson „Zufällig Begegnen“ deshalb eine Faktenreihenfolge, die dem Verlauf der Begegnung nicht vorgreift durch das Präsentieren von Recherchefakten, die erst nach der Begegnung für das Publikum sinnvoll werden. Denn dann wirkt die Begegnungs-Film-Szene nur noch wie eine Fußnote, nicht mehr als wirkliches Erlebnis. Der Zuschauer soll sich gemeinsam mit der Textperson in den natürlichen Ablauf von Vermuten und Klären einlassen können.

6 Welche Dokumentarischen Textperson-Typen sind günstig?

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Sprache, Satzbau und Wortwahl der Textperson müssen diesen Prozess stützen. Denn das Publikum wird sich auf Grund des Verhaltens der Textperson ein Urteil bilden. Sein Erkenntnisfortschritt entsteht im Miterleben der Film-Situationen und die Reaktion der Textperson, die ihn gleichsam unter die Bild-Oberfläche zieht. „Alles sieht so aus, als lebe der Mann schon lange allein“ / „Ah, vielleicht lässt sich mehr erfahren als bei Wikipedia über diesen Ort zu finden ist“ / „Blöd, dass schon Abend ist. Morgen, hat sie doch gesagt, ist Almabtrieb“ Dieser Zufall-Effekt kann auch einer Reporterfigur im Bild mit Quasi-Live-Text in der „Ich-Form“ gelingen. Allerdings besteht gerade dann, wenn man scheinbar besonders authentisch sein möchte, die Gefahr, dass die Textperson in On und OFF sich dramaturgisch als geschwätzig und belanglos zeigt. Denn als „Autor im Bild“ und mit „Frage im ON“ müssen Autoren in der Dreh-Situation die Dreh-Partner gut zum Reagieren und Reden bringen. Das gelingt oft nur mit vielen Floskeln, die man später im Schnitt nicht wegnehmen kann. Die präsente Figur wirkt nicht zielgerichtet. Meist wirkt deshalb der Textperson-Typ „Zufällig Begegnen“ stärker, wenn er die Ich-Form meidet, durch seine Faktenauswahl und Formulierung aber innere Bewegung und Haltung spüren lässt und nicht allzu oft bei Gesprächen im Bild steht. Der Horizont der Textperson „zufällig Begegnen“ reicht weit über die Dreh-Situation hinaus, weil sie viele Erlebnisse, Erinnerungen, Vergleiche, Sehnsüchte einbringen kann, die kaum je in eine tatsächliche Drehsituation mit ON-Partner passen. Die Textperson „Zufällig begegnen“ kann in Ereignis- und Erlebnisreportagen gut wirken. Begreiflicherweise aber ist sie schädlich für die Kompetenz von Autoren, wenn Thema und filmische Darstellung dem Publikum die Vorstellung vermitteln, dass Autoren* die Sachverhalte vorher genau studiert haben sollten und die Zuschauer auf eine fachgenaue Schilderung angewiesen ist. Franz Xaver Gernstl: „Auf der Suche nach dem Glück“; BR 2006; DVD; Inhalt: Autoreise durch Deutschland; Textperson: Der Landstraßenreporter, der zufällig Menschen trifft. https://www.youtube.com/watch?v=4XqRpjRAhKQ Wolfgang Büscher: „Immer nach Osten“; NDR 2012; Inhalt: Fußmarsch von Breslau nach Kiew; Textperson: „Ich“ als Wanderer.

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6.6.2 Besucher*/Gast* In der Lebensrealität kommen Besucher und Gäste nicht zufällig. Gäste sind eingeladen und in der Regel willkommen; Besucher sind in der Regel nicht eingeladen und nicht unbedingt erwünscht (außer in Ausstellungen, Fußballstadien oder öffentlichen Events). Beide, Gäste und Besucher, kommen mit einem Ziel und einer Absicht, sie haben sich Zeit genommen und sie erwarten, dass auch die Gastgeber und Besuchten Zeit aufwenden. Ihre Absicht ist eher allgemein, nicht durch ihren Beruf eingeengt; sie ist auf Kontakt und Interesse an der besuchten Person oder dem besuchten Ort gerichtet. Diese Charakteristik stimmt auch für dokumentarisch-journalistische Besucher*, die in der Regel angemeldet sind. Manchmal allerdings überfallen sie auch die Besuchten (z. B. bei investigativ-Recherchen mit der Kamera). Eine Besucherin* • hat eine – aus bisheriger Erfahrung stammende – Vorstellung von dem Besuchten, ein Vor-Urteil oder sogar ein Klischee. Filmautoren teilen diese Erfahrungen und haben zusätzlich die Vor-Urteile aus ihrer Recherche; • hat ein Ziel, das je nach Besucher sehr unterschiedlich sein kann (z. B. möchte er jemanden oder etwas genauer kennen lernen, etwas Geheimes enttarnen, sich mit jemandem konfrontieren oder jemanden überraschen mit etwas, das dieser noch nicht kennt). Ist man als Gast eingeladen, kann man mit den Gastgebern bereits vertraut sein oder man wird in eine noch unvertraute, aber interessante Welt eintauchen; • verhält sich zum Besuchten und/oder Gastgeber. Ob sich Gastgeber in einer sozial höheren oder niedrigeren Position befinden als der Gast, prägt die Begegnung stärker, als den Beteiligten bewusst ist. Das ist auch bei Film-Autorinnen* so; je nachdem, ob die Autoren* als Gäste zu jemandem in einer höheren Position oder zu jemandem kommen, den sie in irgendeiner Weise unbewusst als ihnen unterlegen betrachten, ändert sich ihr Verhalten. Man kann auch die Textperson mit solchen Unterschieden anlegen (z. B. für satirische Formate). • Besuchte und Gastgeber verhalten sich zum Besucher. Sie verhalten sich abweisend, bedeckt. Oder sie sind dem Gast und Besucher zugewandt. Auch daraus entsteht für den Gast und für Dritte eine tiefgreifende Wirkung: Bestätigung, Überraschung oder Enttäuschung; • Zuschauer erkennen am Verhalten von Besuchern, was diese antreibt und ob sie sich als angenehme oder unangenehme Mitmenschen erweisen. Und sie erkennen das auch an den Besuchten und Gastgebern.

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Der Textperson-Typ „Besucher/Gast“ übernimmt vor allem die in fremdes Terrain eindringende Bewegung. Und zeigt darin die Besuchs-Absicht und das der Situation entsprechende – oder nicht entsprechende – Verhalten. Dadurch wird das Publikum in die Begegnung einbezogen, behält aber dennoch Freiheit, selbst innerlich zu agieren, ohne an der tatsächlichen Begegnung zwischen Reporter*/ Autor* und den Gastgebern und Besuchten beteiligt gewesen zu sein. Denn die für Journalistinnen* und Dokumentar-Autoren* normale professionelle Begegnung ist nicht dieselbe, die das Publikum im dokumentarischen Film erlebt. Journalisten*, Reporterinnen* und Dokumentar-Autoren* sind auf Grund ihrer öffentlichen Rolle in der Regel eher unwillkommene Besucher und selten wirkliche Gäste. Von manchen Besuchten werden sie sogar als Sprachrohr angesehen und benutzt. Das Publikum hingegen ist nicht realer Besucher und Gast. Es schaut einer Begegnung zu und kann – geführt durch den Textperson-Typ „Besucher*/Gast*“ – indirekt, aber wirksam, an der Begegnung teilhaben. Im Unterschied zu vielen anderen Textperson-Typen kann der Besucher*/Gast* • Vorurteile, Erinnerungen, Vermutungen Klischees und Ahnungen direkt und auch gleich zu Anfang eines Films mitteilen; • im Publikum die Erwartung wecken, gemeinsam und gleichzeitig mit dem Erzähler allmählich in den Sachverhalt, die gezeigte Situation oder in eine Person tiefer einzudringen; • die vorher recherchierten Fakten als Erinnerungen oder als Entdeckungen formulieren, nur selten als pure Feststellung. Argumente können als Fragen, als Konjunktiv, als Irrealis formuliert werden; • in konfrontativen Situationen die Fakten als eigene Behauptung präsentieren (auch auf dem Tablet oder als Dokument) und die Reaktion des Besuchten im Bild und Ton dokumentieren. Auf diese Weise entkommt man der Autoren-Versuchung, die Unannehmlichkeiten der realen Begegnung im Filmtext durch Vertraulichkeit, Moralisieren oder Zynismus zu überspielen. Und man verschafft den Zuschauern die Möglichkeit, sich in die geschilderten Situationen selbst einzufühlen und darauf zu reagieren. Die jeweilige Absicht der Textperson „Besucher*/Gast*“ charakterisiert die Textperson konkret und muss dem Zuschauer rasch klar werden. Deshalb gehören zu dieser Textperson 117

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• • • •

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reflektierende Textpassagen; Vergleiche; Einsichten; über den jeweiligen Moment einer Bildszene hinausreichende Überlegungen und Fragen, die die Geschichte vorantreiben und dem Publikum die allmählich sich wandelnde Position der Textperson zur Hauptfigur erläutern.

Durch den Textperson-Typ „Besucher*/Gast*“ entstehen im Zuschauer* Empathie und wirkliche Neugier, welche der Begegnung den unangenehmen Beigeschmack des ungebetenen Eindringlings oder des unkritischen Bewunderers nehmen. Gerade bei Sozialthemen und Begegnungen mit Menschen aus sozialen Schichten, die froh sind, endlich „ihre Geschichte“ öffentlich erzählen zu können und dem journalistischen Besucher hoffnungsvoll und aufgeschlossen begegnen, bewahrt der Textperson-Typ „Besucher/Gast“ die Autoren* vor fremdelnden und spontanen „Oh mein Gott“-Formulierungen. Porträts – die ja oft Jubiläums-Pflichtfilme sind – bekommen durch die Textperson „Besucher*/Gast*“ mehr Frische und innere Bewegung. Denn die wesentlichen Fakten von Porträtierten sind den Zuschauern oft schon lange bekannt; filmisch muss man viel Archivmaterial nutzen. So geraten Porträts leicht zu steifen Nachrufen. Die Textperson „Besucher/Gast“ schenkt dem Archivmaterial einen neuen Blick. Er kann es in seinen Textformulierungen gleichsam neu entdecken. Auch Erlebnisberichte, Reportagen und Enthüllungsgeschichten gewinnen deutlich an Reiz, weil der „Besucher*/Gast*“ naiver agieren kann als ein „Staatsanwalt*“. In solchen Fällen lohnt es aber, den Reporter* im Profil der Textperson mit zusätzlichen professionellen Eigenschaften auszustatten, so dass er nicht nur wie ein vom Fernsehen hergeschickter, aber unwissender Besucher wirkt, sondern wie ein lebenskluger Besucher mit offener Fragestellung. Dadurch intensiviert sich die Wirkung beim Publikum. Der Textperson-Typ „Besucher*“/ „Gast*“ benötigt ein genaues Profil, das ihn in seinen Grenzen als Erzähler exakt charakterisiert. Denn die Textperson kann rasch überheblich wirken (z. B. bei Themen über Armut und Dritte Welt) oder unterwürfig (z. B. bei Themen, welche in der Oberschicht, der Industrie oder Politik spielen); und sie kann auch ungewollt unangemessen oder unverschämt daherkommen. Nikolas Migut: „7 Tage im Kloster“; NDR 2012; Inhalt: 7 Tage Aufenthalt in einem Kloster; Textperson: Der Gast selbst, in diesem Fall: „Ich“.

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6.6.3 Professionelle Besucher Professionelle Besucher unterscheiden sich von Gästen in der Lebensrealität durch ihre beruflichen Absichten: sie kommen – im Verlauf eines Verfahrens, nur selten eingeladen – aus einem eng begrenzten Interesse und meist mit dem Druck, bei dem Besuchten in kurzer Zeit einen eigenen Erfolg zu erzielen (z. B. Gerichtsvollzieher, Versicherungsmakler, Sicherheitsspezialisten, Vormund, Verkäufer und Käufer). Weil auch Medienvertreter oft uneingeladen Besuche machen, zählen auch Reporter in investigativen Berichts-Situationen zu den professionellen Besuchern, mit journalistischem Interesse im Auftrag der Gesellschaft und mit dem Ziel, etwas zu veröffentlichen. Der Textperson-Typ „Professioneller Besucher“ übernimmt – aus erzählerisch-dramaturgischen Gründen – die jeweilige berufliche Einengung (z. B. Gerichtsvollzieher, Sicherheitsspezialist, Käufer), weitet sie aber auf alles aus, was der Autor in der jeweiligen Geschichte erzählen muss und möchte. Der Textperson stehen – wie allen Textpersonen – alle recherchierten Sachverhalte zur Verfügung. Autoren treten in diesem Textperson-Typ mit der Zusatzqualifikation des jeweiligen Profi-Besuchers auf. Deshalb spricht der professionelle Besucher im Text • diejenigen Fakten in Bild und Ton an, die zu seinem beruflichen Interesse gehören und damit auch für das Publikum seine berufliche Qualifikation klären (z. B. „nirgends Feuerlöscher zu sehen …“) • nutzt die Reihenfolge (Roten Fäden) seiner jeweiligen Fachmethoden und der beruflichen Fachlogik. Die Textperson „Gerichtsvollzieher“ wird also auf andere Fakten im Bild, Ton und Film-Situation aufmerksam als die Textperson „Sicherheitsspezialist“ oder „Reporter“. Der „Professionelle Besucher“ spricht überwiegend im Indikativ Präsens und im Perfekt, kann sich aber auch erinnern, seine Klischees äußern, Vermutungen anstellen und Schlüsse ziehen, soweit diese sich aus seiner jeweiligen Fachlogik und seinen Fachmethoden ergeben. Er kann das Futur nur dort nutzen, wo er auf Pläne Anderer verweisen kann. Die professionelle Sichtweise engt auf den ersten Blick die Ausdrucksfähigkeit der Textperson ein. Sie hebt aber genau wegen dieser professionellen Schärfe vieles im Bild hervor, auf das der Zuschauer sonst nicht achten würde. Jede der professionellen Besucher-Textpersonen zeigt dem Publikum neue, für dessen Haltung und Entscheidung notwendige Sichtweisen auf Sachverhalte und Ereignisse und stärkt die Urteilsfähigkeit der Zuschauer. 119

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Wenn der professionelle Besucher „Der Reporter“ ist, hält er sich an den Verlauf der Ereignisse, begegnet der Hauptfigur auf gleicher Höhe der Erfahrung und nutzt das Futur nur als Formulierung für die Pläne einer Person und für den recherchierten oder veröffentlichten Verlauf eines Ereignisses. („in einer Stunde wird noch die Feuerwehr ein kleines Konzert geben und für den Abend ist „Große Party“ auf dem Programm zu lesen“).„Die Reporterin“ verfügt über die für Journalisten typischen – inhaltlich wenig fachspezifischen – Vorgehensweisen (Fachmethoden) und Fragestellungen und Schlussfolgerungen (Fachlogiken). Auf diese Weise bezieht z. B. „Der Reporter“ das Publikum in das Ereignis oder den Besuch intensiv mit ein; seine Formulierungen lassen nicht zu, dass die Zuschauer sich in scheinbarer Allwissenheit über die Erfahrung der im Film erscheinenden Personen erheben können. Nahe liegt die Textperson „Professioneller Besucher“ in Service-Programmen, in Forschungsberichten, in Filmen über Kunstgegenstände. Sie passt zu Biografien und Porträts, weil sie die Distanz des Zuschauers zur porträtierten Person aufnimmt und als Kontrast zu den Film-Situationen durchspielt. Die Textperson „Der Reporter“ passt zu Erlebnisreportagen und Ereignisreportagen. In Recherchereportagen oder in Begleitreportagen sind andere Textperson-Typen überzeugender (z. B. „Forscher*“, „Student*“, „Detektivin*“; „Journalistische Begleiterin*“ oder „Familiärer Begleiter*“). Dieser Textperson-Typ „Professioneller Besucher“ wirkt sehr kontrastreich in satirischen Formaten, weil er Abstand und Spannung zwischen dem jeweils professionell vorgehenden Text und dem Filminhalt erhöht und damit Überraschung, Schadenfreude und Genugtuung im Zuschauer hervorruft. Christian Rach: „Rach – Der Restaurant/Tester“; RTL 2013; Inhalt: Einem Restaurant samt Team wird aus einer geschäftlichen Bredouille geholfen; Textperson: Der erfolgreiche Restaurantbesitzer und Betriebswirtschaftscoach. Claudia Wolters, Brigitte Cappel: „Die Schlau-Schule“ WDR 2013; Inhalt: Lehrgang einer Schule für Migranten; Textperson: „Journalistische Besucherin“.

6.6.4 Biograf Ein Biograf in der Lebensrealität – Buchautor* oder Filmautor* – begegnet seiner Hauptfigur in der Regel nur indirekt über Zeugen und Zeugnisse; er konfrontiert

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sich nicht selbst direkt mit ihr; auch dann nicht, wenn er Interviews macht, die später im Film als Zitate seiner Hauptfigur stehen werden. Und selbst dann, wenn der Biograf-Autor in einem Film im Bild sichtbar werden sollte, geht es nicht um ihn. Die persönliche Begegnung ist nicht Thema der biografischen Darstellung. Zwar zieht ein Biograf – als Nebeneffekt – auch selbst Gewinn aus seiner intensiven Begegnung mit der Figur, deren Biografie er verfasst. Die eigentliche Absicht von Biografen aber zielt auf ein Publikum. Biografen erzählen den Lesern/Hörern/ Zuschauern die Lebensgeschichte einer Person. Oder sie skizzieren – im Porträt – einen konzentrierten Lebens-Moment mitsamt dessen Vorgeschichte. Das Modell „Lebensgeschichte“ gilt auch für die Biografie oder das Porträt einer Institution, eines Ortes, eines Gegenstandes (z. B. Bertelsmann; Darmstadt; Champagner). Zur Biografie gehören die auffallenden (positiven und negativen) Eigenschaften, Handlungsmotive und Wirkungen der jeweiligen Hauptfigur (in Biografie und Porträt ist dramaturgisch immer die beschriebene Person oder Institution die Hauptfigur) und deren Einfluss auf die sie umgebende Welt. Ein Biograf sollte nicht beschönigen, sondern dem Publikum eine zutreffende und differenzierte Vorstellung von Person oder Gegenstand der Biografie zeigen. Ein Biograf* • zeigt Quellen zu Person oder Gegenstand (z. B. Institution, Unternehmen, Ort, Region, Sache) der Biografie; • präsentiert Zeugen; • nutzt Archivmaterial und Quellen zur Darstellung von Situationen, Geschehnissen und Handlungsbedingungen; • deckt die inneren Handlungsmotive von Personen und Institutionen auf ; • bringt das Gesamtmaterial in eine historisch und psychologisch plausible Reihenfolge; • gewichtet die Umstände – persönlich, gesellschaftlich, politisch – und Handlungsbedingungen des Porträtierten; • zieht auf der Basis der für ihn erreichbaren Materials Schlüsse und ermöglicht seinem Publikum dennoch sein eigenes Urteil. Diese Haltung und Absicht übernimmt der Textperson-Typ „Biograf*“. Er konzentriert sich auf die Hauptfigur und schildert Ereignisse, Handlungsbedingungen, persönliche Hintergründe, die deren Lebensweise und Lebenslauf bestimmt haben. Durch die Bedeutung, die dieser Textperson-Typ sprachlich den Ereignissen und Vorkommnissen gibt, erzeugt er eindeutige Gewichtungen. Die Textperson „Biograf*“ zitiert Quellen und zieht Zeugen heran. Sie geht vom Außenbild und der üblichen Wahrnehmung einer Person aus und sollte im Filmverlauf zum Kern der Hauptfigur vordringen. Sie erwähnt unklar Bleibendes. 121

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Die Textperson „Biograf“ hat die Absicht zu einer zusammenfassenden, tiefer reichenden Schilderung seiner Hauptfigur. Er will hinter die Oberfläche der Bilder, muss Verborgenes enthüllen und Zusammenhänge aufzeigen, die nicht an der Oberfläche liegen, auch deshalb, weil Bilder und Szenen nur selten mehr als die Oberfläche zeigen können. Der „Biograf*“ präsentiert Fakten, die eine Hauptfigur für das Publikum wichtig und spannungsreich werden lassen, Sachverhalte, die das Publikum eine Leistung spüren und erkennen lassen. Die Leistung kann eine positive oder negative Wirkung gehabt haben im Leben des Porträtierten oder auf seinen Wirkungskreis (z. B. Politik, Unternehmensführung, Qualität seiner Bücher oder Bilder, eine Region). Anders als der Kriminalbeamte*/Kontrolleur*“, will der Biograf* nicht notwendig Unrechtes beweisen. Und anders als der Typ „Staatsanwalt*“, plädiert er nicht wegen Übertretungen. „Biografen*“ gewichten, was sie vorfinden, im Gesamtzusammenhang eines Lebens oder einer Lebensgeschichte. Es reicht daher nicht, einfach nur den – hier zweifellos notwendigen – Lebenslauf als einzigen Roten Faden abzuspulen. Damit würde sich ein „Protokollant“ begnügen (z. B. für einen knappen Nachruf im „heute-journal“ oder in den „Tagesthemen“). Hinzukommen sollte ein Roter Faden „Qualitative Steigerung“ der Aufgaben und Hindernisse und die Roten Fäden der „Fachmethoden“ und „Fachlogiken“ derjeneigen, mit denen die porträtierte Person/Institution zu tun bekam (solche Informationen erhöhen die dramaturgische Herausforderung). Hinzu kommen die Abläufe der „Verfahren“ und „institutionellen Regeln“, mit denen umzugehen Menschen, Unternehmen und Institutionen lernen müssen. Die Kreuzungspunkte dieser unterschiedlichen Abläufe machen eine Biografie spannungsreich und für das Publikum unterhaltsam, weil man nach aller Erfahrung im Laufe einer Biografie solche Kollisionspunkte ahnen und erwarten kann. Der Textperson-Typ „Biograf*“ redet nicht beiläufig und weckt nicht den Eindruck des Zufälligen oder Belanglosen. Der Stil der Textperson „Biograf*“ ist in der Regel nüchtern, zurückhaltend, feststellend, je nach Bild/Szene im Indikativ Präsens, im Perfekt oder im Imperfekt. Eine Biografin* kann aber auch rotzig, knapp zusammenfassend und flapsig formulieren, wenn die porträtierte Figur dazu anregt und es auch im Film stimmig wirkt. Da diese Textperson zeitlich später positioniert ist als die Ereignisse selbst, formulieren Irrealis und Konjunktiv die im Leben nicht realisierten Möglichkeiten („sie wäre damals auch als Bäuerin glücklich geworden, dachte sie damals …“). Je nachdem welche Fakten ausgewählt werden und welchen Filmstil man wählt, kann dieser Textperson-Typ sehr leichtgewichtig sprechen.

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Die Haltung des „Biografen*“ zur Hauptfigur und die Wirkung, welche die Hauptfigur auf den erzählenden „Biografen“ macht wird – anders als beim „professionellen Besucher“ – nicht sprachlich formuliert, sondern durch die Auswahl der Filmsituationen und in der Auswahl der Textfakten spürbar gemacht. Dieser Textperson-Typ passt für Porträts und Biografien, auch für historische Dokumentationen. Biografien von Gegenständen, Städten (z. B. im Netz) und abstrakten Begriffen lassen sich durch diese Textperson personalisieren. Im Profil der Textperson sind Alter und Geschlecht sehr wichtig, weil dadurch ein erzählerisch wirksamer Kontrast zur Hauptfigur entstehen kann. Ein Film klingt ja anders, wenn ihn ein „Enkel*“ erzählt oder eine „Historikerin um die 50“. In satirischen Filmformaten wirkt die Textperson „Biograf*“ besonders gut, wenn der Zuschauer sie als Erzähler des präsentierten Inhalts nicht vermuten kann. Gero v. Boehm: „Auf Leben und Tod – Peter Scholl-Latour“; ZDF 2014; Inhalt: Der Lebensweg von Peter Scholl-Latour; Textperson: Der – jüngere – Biograf. Udner: „(Fast) Die ganze Wahrheit“ (Porträtreihe); arteF seit 2014; Inhalt: Eine berühmte Person (z. B. Jonny Depp; Godzilla; der Dalai-Lama): Textperson: Der – schnoddrige – Biograf. https://www.arte.tv/de/videos/RC014611/fast-die-ganze-wahrheit/ Stephanie Colaux: „Jeanne Hebuterne und Amedeo Modigliani“; arteF 2019; Inhalt: Leben, Liebe und Werk von Jeanne Hebuterne und Amadeo Modogliani; Textperson: junge Biografin.

6.6.5 Reisende* In der Lebensrealität kann die Absicht, mit der jemand reist, sehr unterschiedlich sein: man kann sich treiben lassen; man will auf Entdeckungsreise gehen; man plant einige Reisebegegnungen, ist aber offen für alles Weitere. Oder jemand nimmt alle Begegnungen so, wie sie kommen. Geschäftsreisende hingegen müssen sich oft auf vorher festgesetzte Begegnungen beschränken. Manche Menschen reisen, um vom heimischen Ort fort zu kommen und Abwechslung zu erleben. Manche reisen, um irgendwohin zu gelangen, zu lernen und ihr Wissen anzureichern. Der Textperson-Typ „Reisende*“ kopiert unterschiedliche Reise-Absichten und Reise-Stile der Lebensrealität. Deren Erlebens-Charakteristikum aber ist in allen Arten gleich: 123

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• die Reise verläuft als Bewegung von Ort zu Ort, mit Abschied und Ankommen. Auch dann, wenn diese „Reise“ nur in der Vorstellung im eigenen Kopf stattfinden sollte. Oder wenn die Reise nur als fiktive Reise einen Film strukturiert (z. B. durch unterschiedliche Labors auf der Welt, mit immer interessanteren Versuchsergebnissen); • im zeitlich kontinuierlichen und von Ort zu Ort geplanten Reiseverlauf kann sehr Unterschiedliches, Unzusammenhängendes und Überraschendes geschehen. Negative Überraschungen steigern die Intensität einer Reise; • in der Erinnerung bleiben die emotional intensiven Geschehnisse und Zeitspannen, nicht nur die Bestätigung von Infos aus dem Reiseführer; • eine Reise kann insgesamt gelingen oder misslingen; auch eine nur durch die Reihenfolge der Filmsequenzen erzeugte „Reise“. Die unterschiedlichen Absichten geben der Textperson „Reisende*“ ihre Grundfarbe und ziehen eine Grenze für Faktenauswahl und Formulierung. Deshalb muss die jeweilige Reise-Absicht im Textperson-Profil definiert werden, denn auf Grund dieser Absicht und der dazu passenden Textgestaltung richtet sich der Blick der Textperson – und damit der des Zuschauers – auf jeweils andere Elemente der Film-Situationen. Aus dieser Absicht entstehen auch die Erzählvarianten von „Reisende*“. Manche reisen zu einem Ziel, das ihnen mehr Befriedigung verspricht als der Herkunftsort oder die Herkunftssituation. Andere können aus Pflicht reisen oder einfach aus Lust an – körperlicher oder geistiger – Bewegung. Dramaturgisch sind bei diesem Textperson-Typ die Roten Fäden „Bewegung im Raum“ und „Zeitablauf“ unentbehrlich, weil sie genuin zu einer Reise gehören. Wenn die Reise nicht körperlich, sondern nur im Kopf stattfindet, verdeutlichen diese beiden Roten Fäden das geistige Vorankommen. Weil sie aber so selbstverständlich sind und daher die Aufmerksamkeit nicht sehr anregen, muss die Textperson einige weitere Rote Fäden zusätzlich führen (z. B. qualitative Steigerung; Verfahrensregelungen), damit der Film mehr Gewicht bekommt und die Fakten abwechslungsreich und Spannung fördernd dargestellt werden. Dafür sind auch die Abläufe (Rote Fäden), von immer wieder steigenden und abfallenden Gefühlen sehr geeignet, weil sie sich auch im Bild und Ton darstellen lassen. Auch das Kennenlernen von Verfahren (Zollkontrolle, Arbeitsabläufe, kulturell spezifische Abläufe) und den jeweiligen kulturellen Regeln macht einen Film intensiv und erlebnisreich. Zu einer Reise gehört die innere Bewegung der Reisenden von Oberflächeneindrücken zum Verstehen tiefer liegender Zusammenhänge. In langen Filmformaten kann dieser Textperson-Typ die Zeit zwischen erstem Eindruck und Verstehen kürzer werden lassen („klar, das ist wieder …“). Ähnlich wird ja ein tatsächlich

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Reisender im Verlauf seiner Reise klüger und verständiger, wenn er sich Mühe gibt. Der Textperson-Typ Reisende*/Entdecker* bleibt nicht fremdelnder Tourist. Die Entscheidung, für einen Textperson-Typ „Reisende“ sollte so früh wie möglich im Arbeitsprozess fallen. Denn dieser Textperson-Typ wirkt dichter und gewichtiger, wenn die zur Vorstellung einer Reise passenden Bewegungen der Kamera und wechselnde Schnittrhythmen die Textperson stärken und glaubwürdig werden lassen. Sprachlich registriert die Textperson „Reisende*“ zunächst Äußerlichkeiten; wie jede Textperson des Typs „Begegnen“. Sie hebt in Bild und Geräusch Details hervor, welche einem Reisenden auffallen und so die Zuschauer in den häufig nicht unmittelbar informationsgeladenen Bildern Neues entdecken lassen. Da die Autoren die Reise bereits hinter sich haben, neigen sie spontan zu Formulierungen, die man nur im Erinnern plausibel findet (Bild: Strand von oben: „Mikronesien ist ein fantastischer Ort: Meer wohin man blickt, winzige Inseln, freundliche Menschen“) Dasselbe als Reisender formuliert („Ankommen am Nachmittag. Kein Grün. Die Palmen sehen staubig aus in Mikronesien; obwohl doch der Wind vom Meer her bläst“). Dieser Textperson-Typ ist kein Forscher, geht aber neugierig den Dingen nach ohne besondere Methode. Er folgt der Logik der Lebenserfahrung und des unmittelbaren Erlebens. Die Textperson „Reisende*“ darf am Filmanfang Vorurteile und Klischees aufweisen und solche zitieren. Sie kann im Filmverlauf auch auf neue Klischees stoßen. Am Film-Ende aber sollte sprachlich eine differenziertere Haltung erreicht sein als sie der Filmanfang vermuten ließ. Klischees sollten im Filmverlauf durch Film-Situationen oder O-Töne eindeutig bestätigt oder falsifiziert werden. Der Zuschauer bekommt sein spezifisches Vergnügen mit diesem Textperson-Typ im Miterleben dieser Veränderung, die sich dramaturgisch nicht mit der Veränderung der Hauptfigur decken muss. Aber decken kann. Der Typ „Reisende*“ liegt nahe bei Reisefilmen, ist aber nicht darauf eingegrenzt. Auch Wissenschaftsthemen oder politische Sachverhalte lassen sich von einer „Reisenden*“ einleuchtend schildern. Zu diesem Textperson-Typ kann eine Ich-Form passen und auch eine Präsenter-Figur. Beides ist nahliegend, aber nicht notwendig. Denn die ausdrückliche Ich-Form bringt notwendig eine Sichtverengung des Erzählers mit sich, die sich nicht mit jedem Thema glaubwürdig verbinden lässt. „Faszination Erde“ mit Dirk Steffens auf „Terra X“; ZDF seit 2011; Inhalt: Neue Erkenntnisse über die Erde, die Lebewesen und die Natur; Textperson: Der Entdecker, der vieles auch an sich selbst ausprobiert und damit für das Publikum erfahrbar macht. 125

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Teil 1 Textperson und Filmtext planen

Sarah Kuttner: „Bambule“; zdf_neo 2013; Inhalt: Eine in jeder Sendung andere Frage; Textperson: Reisende durch die Welt der Argumente und Erfahrungen. ▶ Das Publikum gerät zwischen Neugier und Unsicherheit – Es erlebt Willkommen und Abwehr.

6.7

Sammeln, ordnen, klären

In der Lebensrealität sind Archivare*, Museumsleute und Bibliothekarinnen* diejenigen, die professionell Gegenstände sammeln, ordnen, deren Herkunft klären und sie einem – begrenzten oder öffentlichen – Publikum zugänglich machen. Üblicherweise arbeiten diese Profis in Sammlungen, mit dem Ziel, das kulturelle Gedächtnis der Gesellschaft, einer Institution, einer Familie reichhaltig zu bewahren. Sie haben großes Interesse daran, Lücken ihrer Sammlung zu schließen und dafür möglichst alle relevanten Dokumente in ihren Besitz zu bekommen. Und sie verfügen über vielerlei Methoden, um „echt“ von „unecht“ zu unterscheiden. Sie müssen Ereignisse und Gegenstände rekonstruieren können. Dokumentarische Film-Autoren* handeln ähnlich mit Informationen, Fakten und Sachverhalten, allerdings ohne das Interesse, dass daraus eine Sammlung wird. Sie können mit ihren professionellen Fähigkeiten Schneisen in die Fülle der sich ständig ändernden und Aufmerksamkeit erfordernden Geschehnisse und Lebensumstände schlagen. So ermöglichen sie ihrem Publikum, damit umgehen zu können. Im Dokumentarischen bringen Filmemacher* die unter der Oberfläche liegenden Strukturen gesellschaftlicher, wirtschaftlicher, kultureller, politischer und sportlicher Phänomene ans Licht und ordnen sie so, dass deren Bedeutung und Gewicht für die Gesellschaft ihrem jeweiligen Publikum klar wird. „Echt“ und „Unecht“ zu unterscheiden und nur „Echt“ als Teil der gesellschaftlichen Kommunikation zu liefern, gehört zur journalistischen Aufgabe. So wird • festgehalten, was sich aus welchen Gründen verändert hat (z. B. die Grundannahme, dass Migranten nur kurzfristige Gäste sein könnten); • aufgefüllt, wo sich Wissenslücken aufgetan haben (z. B. zur gesellschaftlichen und/oder technischen Konstruktion von Netzmedien); • beschrieben, was unklar geworden und aus der gesellschaftlich vereinbarten Ordnung geraten ist; (z. B. die auf Grund von Globalisierung und Digitalisierung

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schwierigere Definition des selbständigen Handelns von Nationalstaaten); damit das Publikum ein zutreffendes Bild davon gewinnen, reagieren und auf neuer Grundlage urteilen kann; • erkennbar gemacht, was der Gesamtgesellschaft welchen Nutzen bringt (z. B. die Investition in Bildung, Inklusion und Sprachkurse); und was aus welchen Gründen schadet (z. B. allzu langes politisches Zögern; Korruption im Sport). Auf diese Weise sammeln dokumentarisch-journalistisch arbeitende Filmautorinnen* viele für das kulturelle Gedächtnis einer Gesellschaft wesentliche Fakten und Sachverhalte. Sie handeln nach unterschiedlichen Kriterien, je nach der gesellschaftlichen Aufgabe und Relevanz ihrer Medien und ihrer persönlichen Berufsüberzeugung. Neben den offensichtlich relevanten Geschehnissen (Politik-Ereignisse, Wirtschaftsdaten, Kultur-Highlights, dazugehörende Personen) sammeln sie naturgemäß auch Abseitiges (z. B. „die Letzten ihrer Zunft“) ordnen zufällig Erscheinendes (z. B. aktuell geänderte Verhaltensweisen von Managern) oder klären den Sinn von gesellschaftlichen Moden, die auf den ersten Blick nur die Oberfläche einer Gesellschaft berühren (z. B. das Aufkommen von Flipflops mit Kristallbesatz; Beobachtungen unter Smombies; Kleidungsstil von Promis). Als vielgestaltige Berufsgruppe verfolgen Journalisten* – jedenfalls in demokratischen Gesellschaften – das Ziel, nichts nur vorzutäuschen und verrutschte Ordnungen für alle sichtbar zu machen, damit sie von den dafür Verantwortlichen abgestellt werden kann. Deshalb müssen viele Autorinnen* häufig den Vorwurf der jeweils Mächtigen ertragen, etwas klar dargestellt zu haben, was die dort Agierenden zum eigenen Vorteil gern undeutlicher gelassen hätten. Durch ihre Arbeit des Sammelns, Ordnens und Klärens fordern dokumentarische Autoren die Vereinfacher heraus, welche gern simplifizieren und der Masse nach dem Mund reden. Diese Haltung wird deutlich am Textperson-Typ Sammeln/ Klären/ Ordnen. ▶ Eine Aufgabe – Vier mögliche Typen – Keineswegs nur für Statistik und Nachrichten.

6.7.1 Registrator* In der Lebenswirklichkeit sind Registratoren* Menschen unterschiedlicher Berufsgruppen, die Einträge in Verzeichnisse machen, Informationsbestände pflegen und die Informationen unterschiedlicher Quellen abgleichen. Ihr Handlungsmuster ist die mittelbare Beobachtung. Sie halten im Fluss der Geschehnisse 127

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eine repräsentierende Auswahl von Sachverhalten und Fakten fest, damit diese möglichst rasch und auch für spätere Zeitpunkte und Nutzer verfügbar bleiben. Registratoren • kennen sich in vielfältigen Quellen aus, deren Inhalte sie aber nicht selbst erlebt, erarbeitet oder recherchiert haben; • befassen sich mit bereits – wenn vielleicht auch erst vor kurzem – Vergangenem; • nutzen Methoden der Archivierung und der Gewichtung von Aussagen und Zeugnissen; • erstellen Übersichten auf Grund von thematischen, inhaltlichen oder kausalen Zusammenhängen; • entscheiden in der Regel nicht selbst darüber, in welcher Weise ihre Kenntnisse genutzt werden. Kriterien ihrer Arbeit sind unter anderem die Wichtigkeit und Plausibilität von Vorgängen und Handlungen und die Konsistenz von Informationen im Zeitverlauf. Der Textperson-Typ „Registrator*“ übernimmt aus der Lebensrealität die Fähigkeit, aus Fakten oder Daten mit Hilfe von Fachmethode und Fachlogik Zusammenhänge zu destillieren. Seine Tätigkeit ist auf die Sache ausgerichtet, nicht auf die eigene Befindlichkeit oder die Befindlichkeit von Akteuren in Politik, Kultur und Gesellschaft. Ähnlich wie ein Beobachter stellt er Sachverhalte fest. Anders als der Beobachter, der unmittelbar Vorgänge miterlebt und sich in seinen Formulierungen wesentlich nach dem Augenschein richten muss, kann der Registrator in die Tiefe von dokumentierten oder der sich aus Dokumenten und Daten erschließenden Zusammenhänge vorstoßen. Dieser Textperson-Typ ist umfassend gebildet und kann Sachverhalte klug einordnen. Der Textperson-Typ „Registrator*“ ist in seinem Interesse an Fakten dem Typ „Protokollant*“ ähnlich, er übergeht aber die für „Protokollanten*“ wesentlichen äußeren Detail-Umstände (z. B. eine Uhrzeit oder einen Schritt in einem Ablauf), weil diese für das inhaltliche Ziel der von einem „Registrator“ erzählten Geschichte meist nebensächlich bleiben. Die „Registratorin*“ sammelt und erläutert Inhalte und durch Quellen begründete Fakten, Umstände und Sachverhalte jeder Art. Deren Gewichtung steuert dieser Textperson-Typ über die Faktenauswahl: was nicht erwähnt wird, ist für den Erzähler nicht wichtig. Der Zuschauer muss aber diese Gewichtung nicht teilen. Die Textperson „Registrator*“ kann aber – formuliert in der Art handschriftlicher Notizen – auf andere Quellen verweisen oder eigene Gedanken über seine

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Methode und Vorgehensweise machen. Durch die Auswahl der Informationen und ihre eher trockene sprachliche Darstellung kann diese Textperson ihr Publikum dennoch in spürbare innere Erregung versetzen, wenn sie in starkem Kontrast zu Bildern/ Szenen und Geräuschen agiert. Die Textperson „Registrator*“ äußert sich vorwiegend im Indikativ Präsens, nutzt aber zur Darstellung von Zusammenhängen auch die übrigen Tempora. Sie zeigt insgesamt einen nüchternen, distanzierten Stil. Diese Textperson • sieht die Vorgänge im Ganzen, wie aus der Vogelperspektive; • entfaltet sie durch den wiederholten Wechsel von Übersicht (ähnlich der Bild-Totale) und Nahsicht (ähnlich der „Nah“ oder „Groß“ im Bild); • wählt klare alltagstaugliche Formulierungen; • zitiert fachliche Ausdrücke, prunkt nicht mit ihnen als eigene Formulierung. Die Registratorin* hält sich mit der Textmenge zurück, damit das Wechselspiel zwischen Bildinformation und Filmtext leichter laufen und das Publikum auf Grund dieser emotionalen Bewegung die Inhalte besser verstehen kann. Deshalb sind auch „Ich-Formulierungen“ für diesen Textperson-Typ unangebracht. Der „Registrator* erreicht ein indirektes, aber dennoch intensives Miterleben, denn die Stoffe, die diese Textperson erzählt, liegen oft in der Vergangenheit, bewegen aber ein heutiges Publikum. Die immer vorhandene Faktenfülle muss vom „Registrator*“ deutlich reduziert werden, damit er kompetent wirken kann, und nicht nur als jemand, der mit Fakten um sich wirft. Das gelingt leichter, wenn man Zahlen und Einzelfakten in einen Lebenszusammenhang stellt (z. B. die Art und Unterschiedlichkeit der Tomatengerichte benennt, die auf einer Kreuzfahrt benötigt werden und danach erst die Gesamtmenge der georderten Tomaten erwähnt; es reicht nicht, staunend nur: „zwei Tonnen Tomaten“ zu sagen). Fakten werden durch eine „Registratorin*“ darauf ausgerichtet, eine nachvollziehbare, Emotion weckende Verbindungen zwischen den Fakten aufscheinen zu lassen. Die Textperson „Registrator*“ holt auch solche Lebensumstände ans Licht, die sich nicht unmittelbar zeigen z. B. die Gefühle handelnder oder betroffener Menschen, soweit sie bezeugt sind („er hatte vor drei Tagen noch beteuert, es werde nicht regnen“) Er mutmaßt nicht selbst, sondern zitiert Quellen (z. B. als O-Ton), auch wenn diese Vermutungen enthalten. Der Textperson-Typ Registrator* passt zu Filmen mit historischen oder wissenschaftlichen Inhalten, aber auch zu Filmen mit technischen Abläufen (z. B. Baugeschichten, Hafenaktivitäten). Eine konzentrierte knappe Textperson des 129

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Typs „Registrator*“ belebt Lebensläufe von Preisträgern und berühmten Verstorbenen, wie sie in Nachrichtenmagazinen üblich sind. Sie eignet sich auch für die so genannten „B-Filme“ in Nachrichtensendungen, die den Hintergrund von Meldungen erläutern. Durch die Sachlichkeit von Schilderung und Anmerkungen bewirkt diese Textperson einen spürbaren Kontrast zu Bildern und Geräuschen und nacherlebbaren Film-Situationen. Die Textperson kann den Kontrast durch den Wechsel von Fachzitat und Alltagsbegriff und durch die Sprechgestaltung betonen und dadurch starke innere Bewegung im Zuschauer wecken. Der Kontrast wird deutlich geringer und oft zu schwach, wenn die Bilder und Film-Situationen entweder selbst sehr trocken sind oder schon vielfach gezeigt und gesehen wurden; oder wenn sie nachlässig gedreht und montiert sind. In solchen Fällen wirken andere Textperson-Typen günstiger. Martin Hübner: „Kriegskinder“; mdr/swr 2009; Inhalt: Erlebnisse der Kriegskinder; Textperson: Registrator von heute, der die Umstands-Fakten erwähnt. Nick Watts: „So viel lebst Du“; WDR/NDR 2008; DVD / Blue-ray; Inhalt: Weltverbrauch in Zahlen; Textperson: erstaunter Registrator. Marc Fritz: „Die Kreuzfahrer kommen“; NDR 2015; Inhalt: ein Tag mit sieben Kreuzfahrschiffen im Kieler Hafen; Textperson: an Zahlen interessierter Registrator. Luc Lagier: „150 Küsse“ in der Reihe „Blow up“, arteF 2019; Inhalt: Liste von 150 Küssen der Filmgeschichte; Textperson: ein zunehmend vergnügter werdender Registrator. https://www.youtube.com/watch?v=ETdrFDaEny0 Roland Theron: „Neben-, Gegen-, miteinander – Deutsch-französische Geschichten: Brot, Bier und Wein“; arteF 2019; Inhalt: Vergleich der französischen und deutschen Ess- und Landwirtschaftskultur; Textperson: interessierte, historisch gebildete Registratorin. https://www.youtube.com/watch?v=2Q2S0Q80tv0

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6.7.2 Fachperson* Als Fachleute werden in der Lebensrealität solche Menschen bezeichnet, die sich in spezifischen Sachverhalten auskennen: in wissenschaftlichen, technischen, lebenspraktisch nützlichen oder in abgelegenen Handlungsfeldern. Jedermann benötigt Fachleute – vom Handwerker bis zum Rentenberater – sobald er sich mit Inhalten beschäftigen muss, die ihm nicht vertraut sind. Man fragt Kenner von Computeranwendungen, Lehrer für das Erlernen eines Musikinstruments oder Trainer von Entspannungstechniken. Die Anzahl solcher Inhalte in allen Medien nimmt zu, weil es für niemanden mehr ausreicht, sich nur auf den eigenen Beruf und das private Umfeld zu verlassen. Die Anzahl von lebensrelevanten Entscheidungen im Privaten nimmt zu, deren Qualität und Auswirkung man aus eigenen Lebenserfahrung und Weltwissen nicht mehr zuverlässig beurteilen kann (nützliches Verhalten zum Stopp des Klimawandels, Geldanlagen, Rentensicherung, Kenntnis von Musikstils, den die eigenen Kinder bevorzugen). Fachleute sind deshalb nicht mehr am höheren Alter oder an ihrem Binnenjargon erkennbar. Fachleute argumentieren weniger aufgeregt, laufen aber Gefahr, aus einer zu engen Fachsicht heraus weiterführende Fragen gar nicht erst aufkommen zu lassen. Somit bleiben Fachleute in der Lebensrealität oft sehr argumentationseng. Der Textperson-Typ „Fachperson*“ übernimmt die positiven Aspekte von Fachleuten, denn als Erzähler darf er nicht inkompetent oder dumm erscheinen, er darf Fachwissen nicht vortäuschen und muss die Filminhalte plausibel und kompetent erläutern. Obwohl man in der Lebensrealität Fachpersonen oft als distanziert und sprachlich fremd erlebt, sind Fachpersonen im Filmtext dramaturgisch anregend, denn man kann durch deren Beruf einen erhellenden Kontrast zur Hauptfigur erzeugen. Die Textpersonen dieses Typs können jeden Beruf ausüben; es kommt nur darauf an, welchen frischen Blick der Zuschauer* durch diese fachliche Betrachtungsweise auf die Hauptfigur gewinnt (z. B. ein „Fußball-Trainer“ erzählt ein Projekt des Landesgesundheitsministers; eine „Restaurantbesitzerin und Köchin“ erzählt den Film über Anstrengungen zur Dorferneuerung). Es ist also entscheidend, die Textperson im Rollen-Profil durch einen erkennbaren Beruf zu definieren (nicht allein als „Angestellter“, „Freiberufler“, „Beamtin im mittleren Dienst“) und zu recherchieren oder zu wissen, welche Beurteilungskriterien in diesem Beruf als wichtig gelten. Solche Kenntnisse wachsen mit steigender Film-Berufserfahrung. Die Berufe „Journalistin*“ und „Film-Autor*“ sind in diesem Zusammenhang gesperrt, denn gemeint ist hier der Beruf der Textperson, nicht der von Autoren*. Aus den besonderen Kenntnissen und Einsichten dieses Berufes der „Fachperson“ entsteht Kontrast zum Filminhalt und zur Hauptfigur; und die zu dem jeweiligen 131

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Teil 1 Textperson und Filmtext planen

Beruf gehörenden Roten Fäden lassen Spannung entstehen. Der Textperson-Typ übernimmt aus der Lebensrealität die jeweilige kompetente und fachlich begründete Argumentationsweise (z. B. eines Heizungsbauers, Fußballtrainers, Kunsthistorikers oder jugendlichen Computerkenners mit Programmiererfahrung), drückt sich aber ohne dessen Fachjargon aus. Die alltagsverständliche Ausdrucksweise erhöht in den Augen des Publikums die Erzähler-Kompetenz; ein eingestreutes Zitat des Jargons kann den Filmtext beleben. Denn im Film spricht die Textperson nicht auf einem Fachkongress zu Ihresgleichen. Die „Fachperson*“ liefert alle Arten von Argumenten: solche, die zum Inhalt gehören, aber – als Zitat – auch solche, die eine andere Sichtweise ermöglichen. Dieser Textperson-Typ kann deshalb kontroverse Themen gut erzählen. („Umweltschützer würden Spritzmittel im Hausgarten ablehnen. Aber dieses hier ist für die kranke Magnolie das einzig Hilfreiche. Der Baum müsste sonst gefällt werden, hat der Gärtner gesagt“). Die fachliche Eindeutigkeit und Gewichtung der Schilderung trennt die „Fachperson*“ vom Textperson-Typ „Gutachter*“, welcher eine neutrale Haltung zum Inhalt und zu Lösungen zeigt. Von der „Fachperson“ darf der Zuschauer jedenfalls einen höheren inhaltlichen Durchblick erwarten als von Textpersonen, die von ihre Anlage her zu einer bestimmten Such- oder Denkrichtung verpflichtet sind, wie z. B. der „Staatsanwalt*“ oder „Kritiker*“. Dieser Textperson-Typ nutzt die gehobene Umgangssprache und drückt sich konkret und präzise aus. Seinen Fachjargon zeigt er nur als Zitat. Sprachlich kann er sich in allen Tempora und Modi bewegen. Er ist keineswegs auf den Indikativ Präsens festgelegt. Der Typ folgt den auf der Basis seines im Profil festgelegten Berufes der entsprechenden Fachlogik. Er kann Hypothesen aufstellen und deren tatsächliche und mögliche Folgen vergleichen. Er arbeitet mit Definitionen, liefert Abgrenzungen von Begriffen und Erfahrungen und zeigt Beispiele. Die „Fachperson*“ kann in Serviceformaten auftreten, aber passt auch für Reisefilme oder inhaltlich harmlose, aber unterhaltsame Regionaldokumentationen die oft nur eine – aus Sicht der Programmmacher* naheliegende – Textperson „Kumpel“ zeigen. (z. B. „Die Landfrauenküche“; „Die Büffelranch“; „Im Bauch von …“). Durch den Typ „Fachperson*“ werden die Fähigkeiten und Leistungen der handelnden Personen anschaulich. Und damit steigen beim Zuschauer* Respekt, Interesse und Kenntnis dessen, was er bislang nicht kannte. Die „Fachperson“ verschafft dem Zuschauer auch bei so genannten trockenen Themen Unterhaltsamkeit durch den Hinweis auf dem Zuschauer unbekannte, fachrelevanten Fakten; er aktiviert aus den Bildern und Geräuschen diejenigen Informationen und Infoladungen, die dem Zuschauer neue Einsichten liefern.

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Alexandre Vuillaume-Tylski: „Die Vor- und Abspanne von Quentin Tarantino“; arteF 2019; Inhalt: Gestaltung der Vor- und Abspanne; Textperson: professioneller Filmkenner. https://www.arte.tv/de/videos/083883015-A/blow-up-die-vor-und-abspanne-von-quentin-tarantino/

6.7.3 Fremdenführer* (Ausstellung / Unternehmen / Stadt / Reise) Personen, welche eine Gruppe von Interessierten, Fachkundige oder Laien durch eine Sammlung, ein Unternehmen oder einen Ort führen, sind in der Lebensrealität Fremdenführer. Man bezeichnet sie abgekürzt als Führer (Museumsführer, Angehörige des Besucherdienstes eines Unternehmens, Reiseführer). Charakteristisch ist für diese Personen • ihr Hintergrundwissen und ihre Erfahrung, egal, ob angelesen oder erarbeitet; • ihr spürbares Interesse, bei ihren Zuhörern Staunen und Neugier zu wecken; • ihre Fähigkeit, alles, was der Besucher oder Reisende vor sich sieht, mit einem größeren Zusammenhang zu verbinden und Detailkenntnisse zu vertiefen; • ihre Unterhaltsamkeit, indem sie ihre Besuchergruppe direkt ansprechen und überraschende Verbindungen und Hintergrundgeschichten präsentieren; • die Live-Situation, in der sie agieren. Fremdenführer* kennen fachliche Hintergründe, aber auch Witze und Anekdoten zum Thema, machen auf wichtige Details aufmerksam, erwähnen auch solche Details, die auf den ersten Blick nicht zum Thema gehören. Sie regen die Aufmerksamkeit an und festigen so bei der von ihnen geführten Gruppe die spätere Erinnerung. Der Textperson-Typ „Fremdenführer“ übernimmt von den unterschiedlichen Spielarten der Führer in der Lebensrealität deren hohes Erklär-Interesse, die Präsentationsweisen und ihren Sprachstil. Charakteristisch für den Textperson-Typ ist eine möglichst unmittelbare sprachliche Verbindung zwischen dem, was zu sehen und zu hören ist und – in vielen Fällen – unerwartbaren Hintergrundinformationen; von leicht zu übersehenden Sachverhalten und Fakten bis hin zu Anekdoten und Klatsch.

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Der „Fremdenführer*“ drückt sich direkt aus. Er spricht die Zuschauer unmittelbar an. • Die Textperson nutzt das Präsens („wir stehen hier …“); • die Aufforderung („Achten sie doch einmal …“, „versuchen wir uns mal vorzustellen …“); • das Imperfekt („damals, vor 100 Jahren …“); • das Futur („Der damals erst Sechszehnjährige wird er erst dreizehn Jahre später erkennen, dass …“); • und auch den Irrealis („… hätte er sich sicher nicht vorgestellt, dass nur vier Jahre später das Unternehmen …“); Im Netz zeigt sich dieser Textperson-Typ häufig unbeabsichtigt, weil es dort um direktes Erklären, Sich Zeigen und Anpreisen geht und viele Auftritte und Filme quasi-live entstehen. Doch für sorgfältig geplante Image-Filme, Porträts von Regionen und Städten und auch für Erklärfilme funktioniert diese Textperson gut, wenn man sie nicht als Marktschreier anlegt. Im Fernsehprogramm ist die Live-Situation meist nicht gegeben. Direkte Ansprache kann deshalb „ranschmeißerisch“ und „zu nah“ wirken und die Kompetenz dieses Textperson-Typs schmälern. Dennoch kann man sie nutzen, muss aber Fakten präsentieren anstelle von rhetorisch nur in der Live-Situation wirksamer Formulierungen. Dann bleibt der „Direkt-Charakter“ gewahrt und das Aufdringliche wird vermieden. Die Wirkung dieses Typs: der Zuschauer* erreicht bei jedem Thema im sprachlichen und intellektuellen Vergnügen dennoch intime Kenntnis der Sachverhalte. Der „Fremdenführer*“ kann deshalb eine gute Lösung sein bei Inhalten und Filmformen, die tatsächlich ungewohnt oder seltsam sind; und eine Alternative bei Inhalten, die, weil schon vielfach gezeigt, ohne weiteres auf gewohnte Art betextet würden. Der Textperson-Typ „Fremdenführerin*“ kann in vielen Filmformen gut passen. Auch dann, wenn es eigentlich ums Miterleben und nicht ums Erklären geht, z. B. in historischen Themen oder in Wissenschaftsfilmen, die mit einer fachlich ernsthaften Textperson womöglich langweilig würden. Serge Viallet: „Verschollene Filmschätze; arte seit 2012: Inhalt: Filmdokumente historischer Ereignisse aller Art; Textperson: an Mediendetails interessierter Führer.

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Durch die direkte Ansprache wird die Aufmerksamkeit für nicht perfekte Filme deutlich angeregt. https://www.youtube.com/results?search_query=verlorene+filmsch%C3%A4tze+arte

6.7.4 Unterhaltsame Lehrperson Viele Menschen erinnern sich nicht unbedingt gerne an Schule, wohl aber an Lehrer*, die schwierige Stoffe wie Differentialgleichungen, den Benzolkreis oder die Geschichte der altrömischen Ökonomie in anschauliche Vorstellungen verwandeln konnten, dabei aber wissenschaftlich exakt blieben. Viele Lehrende zeigten sich dabei trotz ihres Wissensvorsprungs selbst als Lernende. Sie spulen ihren Stoff nicht ab, sondern verschaffen den Studierenden ein intensives Miterleben. Was man auf diese Weise erfahren hat, ist meist Lebenswissen geblieben. In der Lebensrealität sind solche Lehrer und Erklärer nicht so oft zu finden, wie sie nötig wären. Als Erzähler von Filmen aber sind sie gerade bei komplizierten, gesellschaftlich wichtigen Themen unentbehrlich. Typisch für solche Lehrpersonen* sind • der intensive Dialog mit den Lernenden; • die erarbeitete Kenntnis der schwierigen Stoffe in allen Details; • der Vergleich komplizierter Sachverhalte mit Erlebnissen und Erfahrungen aus dem Alltag; • die klare Schilderung in Alltagssprache – ohne jedes einzelne Detail – und der Verweis auf Fachbegriffe; • die rhetorische Frage; • die Experimente und Veranschaulichung im Üben; • die Überraschung durch vorher nicht bekannte Denk- und Erkenntniswege. Der Textperson-Typ „Unterhaltsamer Lehrer*“ konzentriert sich auf die Fähigkeit, komplizierte Sachverhalte – auf Grund der Recherche – zu kennen und damit so vertraut zu sein, dass er die Kernpunkte des zu vermittelnden Wissens trifft, ohne sich in deren Details zu verzetteln. Er übernimmt aus der Lebensrealität von Lehrenden deren Grundhaltung, deren Werkzeuge und Vorgehensweisen, wendet sie aber auf den Filminhalt anders an, weil der Film durch seine sechs Darstellungsebenen dem Text viele inhaltliche Lasten abnehmen kann. Die „unterhaltsame Lehrperson“ spielt die unterschiedlichen Darstellungsebenen des Films oft nur an. Sie werden genutzt als Möglichkeit der Frage – denn Bilder sind prinzipiell mehrdeutig – oder als Antwort auf eine Textfrage, wenn das Bild auf Grund seiner Positionierung im Film als Beweis dienen kann. Der Textperson-Typ ist keine Fachperson für das jeweilige Thema, aber er ist auch kein Generalist, der sich sein Wissen nur anlesen 135

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konnte. Es ist also wichtig, im Textperson-Profil Alter und Beruf zu definieren. Die Textperson „Unterhaltsamer Lehrer*“ zeigt sich mit dem Alltagsleben vertraut und kann dies leichthändig mit Fachwissen verbinden. Die „Unterhaltsame Lehrperson“ ähnelt dem Textperson-Typ „Fremdenführer“. Er unterscheidet sich aber darin, dass er sich in der Regel mit langwierigen Erkundungen befasst hat und die Phänomene, die er erläutern möchte, konzentriert und zielgerichtet entfaltet. Obwohl für Autoren* eine erfolgreiche, ein AHA-Erleben auslösende Erklärung darin besteht, den Stoff gut beherrschen müssen, wirkt für den Zuschauer dieser Textperson-Typ häufig so, als lerne er im Erklären selbst etwas. Und darin liegt auch ein wesentlicher Teil seiner unterhaltsamen Wirkung. Deshalb kann dieser Textperson-Typ im Extremfall auch sehr textlastige Inhalte bewältigen. Die „Unterhaltsame Lehrperson“ formuliert im Bewusstsein, dass Zuschauer kein Fachpublikum sind, aber auch nicht naiv oder dumm; und immer lebenserfahren und lebenstüchtig. In Stil und Formulierung zeigt der „Unterhaltsame Lehrer*“ sein Vergnügen am Stoff und am Erklären selbst. Er wählt Formulierungen, die das Miterleben steigern (z. B. „wie kann es nur kommen, dass…?“ / „Wozu, um Himmels willen, braucht man Dirigenten, wenn Musiker doch auch alleine richtig spielen können?“ / „Könnte es nicht einfacher gehen?“ / „Kann eigentlich mal jemand zuverlässig erläutern, warum …“ / „sollen wir uns folgendes vorstellen …? Oder eher dieses …?“ / „Man könnte sich überlegen …; das hätte dann aber diese Folgen“ / „Das ist, als wolle jemand Butter mit der Kreissäge schneiden“). Er wählt für theoretische und komplizierte Sachverhalte lebensnahe Vergleiche, die nicht einfach nett sind, sondern wesentliche Elemente solcher Sachverhalte unmittelbar einleuchtend machen. („Manche Spinnen werfen Ihre Fangnetze ähnlich wie römische Gladiatoren“) Er zitiert, was er gelesen hat und was er aus anderen Zusammenhängen kennenlernen konnte. Die Unterhaltsamkeit entsteht durch immer wieder überraschende sprachliche Anklänge und vergleichende Ausflüge in andere Fachgebiete und Denkgebilde. Die Textperson wirkt auf diese Weise kompetent, aber nicht dozierend. Und eine solche Erzählhaltung ist bei vielen, die Gesellschaft stark bewegenden und umstrittenen Inhalten wirksamer als eine trockene Argumentation. Denn bei solchen Themen sind oft die Bilder und Geräusche nicht wirklich attraktiv. Und auch die O-Töne eher trocken und sachlich. Der Textperson-Typ „Unterhaltsame Lehrperson“ kann häufig als Variante des Typs „Gutachter*“ dienen. Denn bei aller Unterhaltsamkeit und eventuellen Lockerheit in der Sprache übertreibt die „Unterhaltsame Lehrperson“ sprachlich nicht; sie ist inhaltlich exakt und sicher im Beweis. Sie muss am Ende nicht im neutralen „Kann sein, kann aber auch nicht sein“ bleiben, sondern wird die Zuschauer zu einer eindeutigen Stellungnahme ziehen.

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Bei diesem Textperson-Typ könnte man vermuten, der Film selbst sollte, weil ja etwas erklärt und ein sachlicher Inhalt entfaltet werden soll, einer streng sachlichen Logik folgen. Genau das wäre ungünstig. Drehsituation, Reihenfolge und Schnitt sollten wie jede Erzählung dramaturgisch aufgebaut sein. Sie kann inhaltliche Sprünge und Rückblenden enthalten. Dann kann die „Unterhaltsame Lehrerin*“ immer wieder auf im Film bereits Miterlebtes zurückgreifen und Erwartungen auf weitere Enthüllungen wecken. Dramaturgisch und zugleich Spannung weckend sind bei diesem Textperson-Typ die Roten Fäden „Quantitative Steigerung/Minderung“ (z. B. von kleiner Geldmenge zu riesiger Geldmenge; von 0 Grad Temperatur bis minus 273,15 Grad) und „Qualitative Steigerung“ (z. B. von leicht bis ungeheuer schwer; von harmlos bis lebensbedrohlich), die über die gesamte Filmlänge laufen können. Durch solche sich in Information und Vorstellung steigernden Abläufe verbindet sich die Sachinformation mit der Erwartung auf Lösung und sie geben dem ansonsten sachlich gestalteten Stoff eine fachlich-emotionale Ordnung. Die „Unterhaltsame Lehrperson*“ kann auch mit leicht misslungener Dramaturgie und mit – in den Film-Situationen – ungenau geführten oder noch fehlenden Roten Fäden zurechtkommen. Denn dieser Mangel lässt sich im Text durch lebensnahe Vergleiche, durch rhetorische Fragen und Gedankenexperimente ausgleichen. Die „Unterhaltsame Lehrperson*“ • formuliert in Alltagssprache; zitiert Fachausdrücke oder verweist auf diese; • folgt der Logik, die zum Inhalt notwendig gehört; • führt viele Roten Fäden im Filmtext, so dass das Publikum immer wieder neue Aufmerksamkeit gewinnt; • spielt mit allen Verb-Zeitformen und Modi; • reflektiert seine Formulierungen ausdrücklich und kann sie auch in Frage stellen und korrigieren; („war vielleicht noch zu unklar, also: …“; darauf folgt ein klärendes Bild) • stellt rhetorische Fragen („Wenn wir Insekten wären, wie könnten wir wohl Wein von Bier unterscheiden?“) • reagiert auf Bild/Szene, Ton und O-Ton so dass ein text-ausdrücklicher Dialog zwischen den filmischen Darstellungsebenen entsteht („sollte stimmen, was Dr. NN da behauptet, dann müsste …“ / „Diese Wal-Töne klingen ja wirklich nicht wie eine Melodie; aber sie ergeben eine Harmonie der Verständigung: die jungen Wale machen die hellen, die alten die tiefen Töne. … Und man spürt den Rhythmus. … Ein Komponist könnte direkt damit arbeiten. “)

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Der Textperson-Typ „Unterhaltsamer Lehrer*“ ist eine wirkungsvolle Alternative zu dem beabsichtigten oder häufig unbewusst zustande gekommen Filmtext, den Profis als „Erklär-Bär“ bezeichnen, und den eigentlich niemand mag. Denn der „Erklär-Bar“ hat zwar immer recht, hält aber die Zuschauer für dumm; er formuliert wie für Kleinkinder und ist gerade aus diesem Grund oft in der Sache nur schwer zu verstehen. Zuschauer können sich deshalb die Informationen nur schlecht merken. Die „Unterhaltsame Lehrperson“ ist eine große Hilfe für die Darstellung komplizierter Stoffe (z. B. Finanzen; Philosophie; Naturwissenschaften; Messeberichte; schwierige Wettbewerbe) und – außerhalb von Nachrichtenformaten – in sachorientierten Filmformen (z. B. Rechercheberichte; Erklärfilm; Dokumentation; auch Einspiel-Film oder Anspiel-Film). Sie kann deren Argumentationsgewicht anheben, gerade weil der Erzähler nicht so ernst wirkt, wie man das bei gewichtigen und oft auch bildarmen Inhalten erwartet. Der Kontrast zwischen Filminhalt und Textperson wird groß, die Verbindung zwischen beiden aber bleibt stabil. Das Publikum wird sich die Filminhalte merken und über sie sprechen. Der Textperson-Typ „Unterhaltsame Lehrperson“ kann auch als Präsenterin* auftreten. Dann sollte sie auch die Filmtexte sprechen und das sichtbare Verhalten des Präsenters* muss mit dem des Textperson-Typs in den Einspielfilmen übereinstimmen. Denn das Publikum schaut dem Präsenter* zu und erfasst Dissonanzen von dessen Darstellung mit dem Verhalten als Textperson in den Filmen. Ist das Verhalten als Textperson unplausibel oder gar unglaubwürdig, wird das Publikum der Textperson – die es nur hört – weniger glauben als dem Präsenter, den es sieht. Es wird also der Gesamtinformation misstrauen. Man kann – wenn ein Präsenter* bereits durch das Sendeformat festgelegt ist – dieses Missverhältnis ausgleichen, indem man für die Filmtexte einen anderen Textperson-Typ auswählt und andere Sprecher einsetzt. Ist der Präsenter* zwar berühmt, aber in seiner Darstellung professoral trocken, kann in den Einspielfilmen solcher Sendungen der Textperson-Typ „unterhaltsamer Erklärer/Lehrer“ dieses Manko ausgleichen. Jean Michel Meurice: „Der Große Reibach“, arte, YLE, Frankreich, Finnland 2012; Inhalt: die Finanzkrise 2008; Textperson: alter Herr mit Finanzkenntnissen auf der Suche nach Klarheit in der Finanzkrise. Naomi Austin: „Das Spiel der Sinne“, BBC/arte 2013; Inhalt: Experimente mit Sinneswahrnehmungen; Textperson: unterhaltsame Lehrerin. Horst Stern: „Bemerkungen über die Spinne“; SWR 1975; DVD 2012;

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Inhalt: Spinnen in ihrem Leben und ihre Fangmethoden; Textperson: Teilweise direkt ansprechender, Vorurteile beseitigender Lehrer. In diesem Fall ist die Lehrperson staunend und zornig. Dadurch wirkt sie unterhaltsam. Claire Doutriaux: „Karambolage“; arte, seit 2004; DVD 2014; Inhalt: Unterschiede zwischen Deutschland und Frankreich; Textperson: unterhaltsam agierende Lehrerinnen und Lehrer. https://www. youtube.com/channel/UCh5JF-qt2ZXg8acejcJ15Xw ▶ Das Publikum mag auch fern liegende, inhaltsschwere, trockene Themen, wenn sie leicht erzählt sind.

6.8

Gewichten

Nach aller Erfahrung wird es hoch riskant, persönliche und gesellschaftliche Entscheidungen allein auf Grund von Meinungen zu treffen. Meinung und persönliches Interesse oder Lobbyismus sind zwar der möglicherweise lauteste Ratgeber. Aber für Entscheidungen, die viele Menschen betreffen und die Achtung anderer Personen garantieren sollen, bleibt die Meinung das schwächste Argument. Eine der Kernaufgaben des Journalismus ist es, Geschehnisse und Sachverhalte zu gewichten und ihre Bedeutung für die Gesellschaft mit nachvollziehbaren Gründen einzuschätzen. Journalisten äußern sich in ihren Medien auf Grund eines durch Verfassung und Gesetze garantierten professionellen Privilegs, nicht als Privatpersonen. Auch wenn ihre gesellschaftliche Rolle in autoritären Gesellschaften eingeschränkt wird, auch wenn Politiker und Lobbyisten diese Rolle durch Netzmedien umgehen können: die für eine Gesellschaft wesentliche Funktion von Journalismus wird gerade durch dessen Bekämpfung und Behinderung bestätigt. Als Gewichtung bezeichnet man professionelle, vom subjektiven Befinden unabhängige Einschätzungen, die anhand gesellschaftlich gesicherter und akzeptierter Kriterien, Sachverhalte und Fakten nach ihrer Wichtigkeit oder Auswirkung ordnen. Das Urbild von Gewichtung liefern wohl Mathematiker und Statistiker. Sie erzeugen auf Grund von Zahlen und Faktoren begründete und nachvollziehbare Rangordnungen. Die Gewichtungen von journalistisch-dokumentarischen Autoren sind begründet, aber anfechtbar, denn auf der Grundlage der gleichen Fakten lassen sich unterschiedliche Schlüsse ziehen und die Kriterien einer Einschätzung können 139

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Teil 1 Textperson und Filmtext planen

unterschiedlich gewichtet sein. Dennoch sind gewichtende Einschätzungen von Autoren* nicht beliebig oder rein subjektiv. Denn ihre Kriterien sind transparent und ihre Schlussfolgerungen können öffentlich überprüft werden. Gewichtungen sind – wie alle Einordnungen – vorläufige Ordnungshilfen, Sie dienen der Meinungsbildung des Publikums und der Urteilsbildung derer, die für gesellschaftliche und gesetzliche Entscheidungen und deren Ausführung zuständig sind. Man kann Gewichtungen akzeptieren, muss es aber – im Gegensatz zu Gesetzen und endgültigen Gerichtsurteilen – nicht. Im Journalismus gehört Gewichtung zu den Pflichtleistungen, um dem Publikum das Urteilen über öffentliche und öffentlich gewordene Sachverhalte zu erleichtern. Denn die Beteiligten einer öffentlichen Debatte (z. B. Lobbyisten und Regierungsmitglieder; Berufsverbände und Abgeordnete; NGOs und Unternehmen) gewichten Fakten und Sachverhalte überwiegend nach ihrem Gruppen-Interesse, (z. B. der Partei oder Lobby; des Verbandes oder eines Unternehmens; der Taktik oder des Wahlkampfes; als Anklage oder als Schutz). Oft werden Teilinteressen und Absichten als gesamtgesellschaftlich relevant nur behauptet. Die von journalistischen Profis verwendeten Gewichtungskriterien zielen hingegen darauf, die gesamtgesellschaftliche Kommunikation zu klären. Insofern sind Film-Autoren* in ihrer Arbeit nicht Parteigänger eines der jeweils umstrittenen Inhalte, sondern Anwälte der kommunikativen Transparenz und einer politisch und gesellschaftlich überzeugenden Handlungskonsequenz. Die gesamtgesellschaftliche Rolle dokumentarisch arbeitender Film-Autoren besteht unter anderem darin, das Handeln der gesellschaftlichen Akteure* in seiner Bedeutung für das Publikum darzustellen und diesem ein Urteil zu ermöglichen. Und auch, den Druck auf die in gesellschaftlich-politischen Funktionen Handelnden zu erhöhen. Zu solchen dokumentarisch-journalistisch relevanten Kriterien zählen: • Gesellschaftlich vereinbarte und allgemein akzeptierte Grundsätze (z. B. die Grundrechte; die Aufgabenverteilung zwischen Bund und Ländern; internationale Vereinbarungen); • gesellschaftlich relevante Grundüberzeugungen (z. B. Verlässlichkeit; Handlungskonsequenz und Transparenz von Verwaltungsakten); • ausdrücklich vereinbarte und in der Gesellschaft unstrittige Ziele (z. B., dass von der Gesellschaft als wesentlich angesehene Ausgaben durch Steuern zu bestreiten sind, Gebühren aber zweckgebunden erhoben werden); • die Verlässlichkeit von gesetzlich festgelegten Regeln (z. B. das Einhalten von Fristen, welche EU oder Bundesverfassungsgericht gesetzt haben);

6 Welche Dokumentarischen Textperson-Typen sind günstig?

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• Der öffentlich nachvollziehbare Abgleich zwischen Absichten, Ankündigungen und Verwirklichung (z. B. bei einer Steuerreform; bei der Wirtschaftsförderung oder der Kultursubvention); • Die zu verringernde Distanz zwischen Entwicklungsmöglichkeiten und der Wirklichkeit (z. B. in der Entwicklungspolitik oder bei der Energiewende); • Die Verpflichtung von Regierung oder Behörden zum Handeln (z. B. bei der Einrichtung von Kitaplätzen oder der Schaffung von preiswertem Wohnraum); • Die Anwendung inhaltsrelevanter fachlicher Kriterien bei politischen Entscheidungen (z. B. bei der Einbeziehung von Freiberuflern und Beamten in die Rentenversicherung); Diese grundlegenden Kriterien spielen im Filmtext selbst auf der Hinterbühne mit. Sie müssen nicht in jedem Fall ausdrücklich erwähnt werden. Immer dann aber doch, wenn sie undeutlich sein sollten. Sobald es so aussieht, als habe eine Institution übersehen, aus welcher Grundlage sie arbeitet, erinnern Journalisten genau an diese Grundlage. Denn eine ihrer Aufgaben besteht darin, eine höchstmögliche Transparenz des politisch-gesellschaftlichen Handelns einzufordern. Und Gewichtungskriterien öffentlich zu machen, die im Prozess der Gesetzgebung und beim Behördenhandeln übersehen wurden. Je mehr Informationen auf Menschen einprasseln, je mehr sie lernen müssen, sich in ganz unterschiedlichen und in vieler Hinsicht unerprobten Lebensfeldern zurecht zu finden, umso wichtiger wird Gewichtung als verlässlicher Teil journalistisch-dokumentarischer Arbeit: Gewichtungen geben aufschäumenden Debatten wieder eine Richtung und schlagen Schneisen durch die Überfülle von Informationen, die aus unterschiedlichen, oft gegensätzlichen Absichten das Publikum zu überzeugen suchen. Dokumentarisch arbeitende Autorinnen* arbeiten deshalb auch nach Kriterien, die sich aus ihrer Rolle ergeben. Sie betonen • Die Transparenz von Entscheidungsbegründungen (z. B. bei der Entscheidung über den Umgang mit US-amerikanischen NSA-Aktivitäten in der Bundesrepublik); • Die angemessene Verteilung von öffentlichem Geld (z. B. bei Debatten über Schwerpunktfinanzierung von Schulbauten, Kulturaktivitäten oder der Schienen-Infrastruktur). • Das Selbstverständnis von Medien und des Journalistenberufes (z. B. Schnelligkeit, Genauigkeit, Zuverlässigkeit der Information; Gesellschaftliche Relevanz; direkte Auswirkung der Information; Darstellbarkeit im Medium; die Unterschiede der 141

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Darstellung in Fernsehen, Radio, Netz und Social-Media, welche die Redaktion multimedial bedienen muss). • Spezial-Kriterien, die sich für ein bestimmtes Lebensgebiet als relevant erwiesen haben und auf diesen Inhalt beschränkt bleiben, (z. B. Regeln für den Aufstieg oder Abstieg in der Fußball-Bundesliga; Anpassung der Biotonnenleerung an die Jahreszeit). Viele dieser Kriterien sind aus Erfahrung gewonnen, sind eine Zeitlang nützlich und können dann wieder geändert werden. • Neu zu findende Kriterien aufgrund neuer Entwicklungen (z. B. Finanzkrise; Massenflucht aus Kriegsgebieten; Abwanderung hochqualifizierter Wissenschaftler; Sterbehilfe) obwohl bereits politische Entscheidungen notwendig werden. Dafür bedarf es immer einer politischen und öffentlichen Debatte. Und ein Zugeständnis, dass die bisher gültigen vertrauten Lösungen nicht mehr, wie erwartet, taugen. In dokumentarisch-journalistischen Filmen nutzt man Kriterien, die mit denen anderer gesellschaftlicher Akteure (z. B. Politiker, Parteien, Lobbyisten, Berufsverbände) übereinstimmen können, aber nicht müssen (z. B. müssen Journalisten die Kriterien der Polizei, die Herkunft von möglichen Straftätern zu nennen, nicht übernehmen). Und immer ändern sich im Verlauf gesellschaftlicher Entwicklung auch die Kriterien der Gewichtungen in der öffentlichen Kommunikation (z. B. werden Argumente für Atomkraft oder gegen den Klimawandel im Jahr 2019 anders gewichtet als im Jahr 1964). Die Gründe die aus einer journalistischen Gewichtung entstehen, wiegen schwerer als die subjektive Meinung eines Film-Autors*, denn die Kriterien der Gewichtung liegen im Wesentlichen außerhalb seines privaten und persönlichen Lebens. Dokumentarische Filme sollten in der öffentlichen Kommunikation • die unterschiedlichen Lösungsvorschläge der Beteiligten (z. B. Parteien, Lobbyisten, Staaten, EU, betroffene Gruppen) darstellen und nach objektivierbaren Kriterien gewichten; • durch Filmgestaltung und Auswahl der Textperson dafür sorgen, dass Kenner der Materie die Kompetenz der Autoren* spüren; • das allgemeine Publikum in eine häufig noch fremde Materie hineinziehen. In der Textpraxis können Kriterien dieser drei Kategorien kollidieren. Dann gehört zur Leistung dieses Textperson-Typs, diese Kollision ausdrücklich zu präsentieren und einen Lösungsvorschlag zu versuchen. Sind die Gewichtungskriterien aus-

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drücklich erwähnt, wird das nicht fachkundige Publikum die Gewichtung dann verstehen und das Fachpublikum mag sich weiter streiten. Durch journalistisch-dokumentarische Gewichtung können Zuschauerinnen* distanzierter auf die Argumente der Beteiligten schauen. Sie können erkennen, ob von Verbandsinteressen bestimmte Argumente (z. B. der technische Vorsprung der deutschen Autoindustrie dürfe nicht durch EU-Abgasnormen verringert werden) geringeres Gewicht haben als behauptet. Und natürlich kann eine Gewichtung mit den Argumenten von Beteiligten teilweise übereinstimmen, denn auch die an einer Debatte Beteiligten haben ja nachvollziehbare und wichtige Gründe für Ihre Argumente und Verhaltensweisen. Der Textperson-Typ „Gewichten“ übernimmt aus der Lebensrealität jene Aspekte von Beurteilung und Gewichtung, die für Zuschauer und Zuhörer ein Urteil nachvollziehbar machen und ihnen dennoch die Möglichkeit zu einem eigenen Urteil lassen. ▶ Professionelle Haltung – Zwei trockene Typen – Hohe Wirkung.

6.8.1 Gutachter* / Sachverständige* In der Lebensrealität stellen Gutachter* und Sachverständige die Tatsachen fest und wägen sie – im Prinzip unabhängig von den beteiligten Parteien – ab (z. B. Versicherung, Unglücksfall, Sach-Unklarheit bei Gerichtsverfahren). Sie können, müssen aber keine Ratschläge formulieren. Das Ziel der Begutachtung sollte ein gegenüber den Interessierten und Beteiligten neutrales Ergebnis nach anerkannten Kriterien sein. Häufig sollen Gutachter* allerdings nur ein vom Auftraggeber gewünschtes Ergebnis liefern. Deshalb geraten Gutachter* beim Publikum immer wieder unter Verdacht, ihre Fachmeinung auf die Interessen ihrer Auftraggeber eingegrenzt zu haben. Gutachter*/Sachverständige* können bei der gleichen Sachlage zu unterschiedlichen Ergebnissen kommen, weil die Kriterien einer Abwägung nicht in jedem Fall eindeutig sind und weil auch bei Interessen-Neutralität das Gewicht einzelner Kriterien von den Gutachtern unterschiedlich beurteilt werden kann. Die prinzipielle Neutralität gegenüber den Interessen garantiert deshalb noch keine Gleichheit im Ergebnis. Aber ein Ergebnis kann auch gleich lauten, obwohl Gutachter die Kriterien 143

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Teil 1 Textperson und Filmtext planen

unterschiedlich gewichten. Ein Gutachter-Ergebnis kann durch die Auftraggeber und am Inhalt Interessierten, (z. B. Behörden, Unternehmen Lobbyisten, Gerichte), unterschiedlich interpretiert werden. Auch können die letztlich Verantwortlichen anders entscheiden als die Kriterien der Gutachter nahelegen. Der Textperson-Typ „Gutachter*/Sachverständige*“ richtet sich nach dem Ideal eines neutralen Gutachters*. Er verhält sich, unabhängig von den Vorlieben der Film-Autoren*, • • • •

neutral gegenüber den zu prüfenden Inhalten; wendet Kriterien an, die Bedeutung für die Gesellschaft haben und wägt ab; ordnet Sachverhalte und Fakten nach ihrem sachlichen Gewicht; zeigt Sachverhalte in ihren Auswirkungen auf die Hauptfigur des Films. (oft eine Gruppe oder „die Bevölkerung“)

Das Ergebnis sollte sich dann aus Herleitungen und Begründungen erschließen, deren Logik und Inhalt personenneutralen, von der persönlichen Meinung des Autors unabhängigen Kriterien folgt. Die Kriterien sollten sowohl den Betroffenen vertraut sein als auch dem Publikum nachvollziehbar einleuchten. Die Textperson „Gutachter“ gewichtet, weil sie neutral ist, auch die dramaturgische Herausforderung einer Hauptfigur, die sich in der Recherche meist als Institution, Gruppe oder gegnerische Person zeigt. Dieser Textperson-Typ wahrt gleichen Abstand zu den im Film agierenden Figuren und zum Publikum. Die notwendige Empathie des Publikums für die Hauptfigur entsteht daraus, dass es die Gewichtung der Sachverhalte und die Kriterien der Gewichtung einsichtig nachvollziehen kann. Der Textperson-Typ „Gutachter*/Sachverständige*“ wirkt sprachlich zurückgenommen und objektiv, weil er Formulierungen benutzt, die beschreiben und abwägen. Und weil er die Kriterien seiner Gewichtungen offenlegt, bevor er sie auf Sachverhalte anwendet. Dadurch gewinnt er Unparteilichkeit und argumentatives Gewicht beim Zuschauer. Diese Textperson stellt Sachverhalte fest, die bereits geschehen sind. Sie spricht deshalb im Leittempus Perfekt („…hat stattgefunden“; „…ist in dieser Reihenfolge abgelaufen“). Von dort kann sie ins Präsens wechseln, wenn es um Sachverhalte geht, die zugleich im Bild gezeigt werden und sich als Folgen vorheriger Handlungen herausstellen. Sie kann auch das Futur nutzen, um mögliche Folgen darzustellen. Dieser Textperson-Typ formuliert nicht in „Ich“ oder „Wir“, damit die Gewichtungskriterien möglichst deutlich hervortreten. Der „Gutachter“ kann im Textperson-Profil bereits konkrete Ausprägungen durch

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seinen Beruf bekommen (z. B. Sicherheitsexperte; Kaminkehrer; Versicherungsgutachter; Volkswirt). Der „Gutachter*/Sachverständige*“ eignet sich besonders dann, wenn Inhalte in der Öffentlichkeit und von den jeweils interessierten Gruppen streitig behandelt werden. Er bewirkt beim Publikum größere Kenntnis der Hintergründe des Streits und Einsicht in die von den Beteiligten tatsächlich angewendeten und die zur Beurteilung möglichen oder notwendigen Kriterien. Er liefert Beurteilungsgrundlagen zu den Sachverhalten; und Klarheit über die eher stimmige oder unstimmige Argumentation der Beteiligten. Gewichtungen lassen das Publikum deutlich die Absichten der Beteiligten erkennen und beurteilen. Textpersonen dieses Typs wirken stark bei Stoffen und Filmformen, welche keine unmittelbare Aktion des Zuschauers erfordern (z. B. einen Versicherungsvertrag zu kündigen) und ihm etwas mehr Auswahl-Spielraum zur Abwägung lassen. Solche Textpersonen müssen in Argumentation und Sprach-Gestus nachprüfbare und nachvollziehbare Einschätzungen liefern, ohne hämisch zu wirken. Der in manchen Fällen beabsichtigte und berechtigte Spott entsteht so im Zuschauer selbst. Er wird ihm nicht von den Formulierungen der Textperson bereits vorweggenommen. Da dieser Textperson-Typ nüchtern wirkt, kann er zu lebendigen Film-Situationen einen starken Kontrast bilden. Ist hingegen die Bild- und Tondarstellung selbst nüchtern, entsteht die Gefahr, diese Trockenheit zu verdoppeln. Diese Wirkung wird auch eintreten, wenn die Tondarstellung sich allein oder überwiegend auf Musik verlässt. In solchen Filmen sind Textpersonen wirksamer, welche das Erleben betonen, zugleich aber kritische Nüchternheit zeigen, z. B. der „Forscher“ oder der „Student“.

6.8.2 Tester* In der Lebensrealität haben Tester* eine begrenzte Aufgabe: sie erproben etwas (Gegenstand, Stoff, Verhalten) mithilfe standardisierter Experimente unter gegebenen Rahmenbedingungen in einem Labor oder einem Labor-Setting. Sie testen ein Material, einen Apparat, eine technische Lösung, ein Produkt oder eine Serviceleistung auf Tauglichkeit und/oder Nutzungsdauer. Das Setting kann auch ähnliche Produkte oder Serviceleistungen enthalten, um plausible Vergleiche und Rankings erstellen zu können. Mit Hilfe von Tests lässt sich auch die Leistung von Institutionen und Behörden für die Gesamtgesellschaft prüfen, z. B. von Banken (Stresstest durch die Europäische 145

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Zentralbank) oder von einzelnen Politikfeldern (Sinnhaftigkeit des Vorgehens bei der Energiewende; Erfolg oder Misserfolg der Kulturförderung; Umsetzung des NATO-2%-Ziels bei den Verteidigungsausgaben). Als Test werden im Alltag und im Netz allerdings auch Erfahrungsberichte und Meinungsäußerungen zu Produkten bezeichnet, auch wenn die Tester dort nur persönliche Erfahrungen oder Vorlieben mitteilen, keine standardisierten Verfahren anwenden und überdies von den Produktgebern bezahlt werden. Tests unterscheiden sich von Experimenten durch ihre geschlossene Fragestellung: etwas funktioniert und dies ausreichend lange; oder es funktioniert nicht und/oder nicht lange genug. Experimente hingegen sind im Prinzip offen für ein Ergebnis. Mithilfe von Entwicklungs-Tests treibt man in Unternehmen die wissenschaftliche Erkenntnis und die Produktentwicklung voran. Produkt-Tests und Service-Tests von Labors und Test-Instituten (z. B. Stiftung Warentest) dienen der Orientierung von Verbrauchern und Marktteilnehmern. Tester wenden technische, naturwissenschaftliche und psychologische Methoden an, die vorher standardisiert wurden. Sie verfahren nach einer für das jeweilige Produkt oder den Service passenden und für den Auftraggeber – und/oder für jedermann – nachvollziehbaren Fachmethode und Fachlogik (Rote Fäden). Sie nutzen Kriterien, die für die jeweilige Fragestellung Aussagekraft versprechen. Die eigene Vorliebe oder Meinung spielt im Test methodisch keine Rolle. Allen Testern gemeinsam aber ist die Unterschiedlichkeit des Vorgehens je nach Test-Gegenstand und Test-Aufgabe: • Testreihen in der Forschung beginnen mit naturwissenschaftlich gesicherten Methoden, die Tester müssen aber im Testverlauf oft neue Methoden entwickeln, um Aussagekraft und Vergleichbarkeit der Ergebnisse sicherzustellen; • Bei Produkttests stehen die Kriterien der Beurteilung vorher fest; • beim Produktvergleich sichern vorher jeweils neu erarbeitete Kriterien die Vergleichbarkeit und die Gewichtung der Ergebnisse; • Service-Tests und psychologische Tests erfordern das Setting einer Geheimoperation, da die Getesteten sich „wie normal“ verhalten sollen und von der Testabsicht und der Methode nichts erfahren dürfen; Ergebnisse von Tests stehen dem Auftraggeber, der Fachwelt und/oder der Allgemeinheit zur Verfügung. Das Ergebnis eines Tests muss daher einen praktischen Nutzen zeigen.

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Der Textperson-Typ „Tester*“ übernimmt von den Fach-Testern die standardisierte Vorgehensweise und die Anpassung der Methoden an die zu testenden Produkte oder Sachverhalte. Sein Auftraggeber ist das Publikum. Für den Textperson-Typ „Tester“ zählt das Ergebnis: Bestanden oder Nicht-bestanden; und – bei einem Vergleichstest – das Ranking. Zwischen dem Textperson-Typ und dem jeweils zu testenden Sachverhalt entsteht dramaturgisch ein beträchtlicher Abstand. Und damit ein hoher Kontrast. Dadurch verstärkt der Textperson-Typ „Tester*“ dramaturgisch die Herausforderung einer Hauptfigur. Denn die Hauptfigur (z. B. Person, Produkt, Gesellschaft) muss sich häufig mit einem Gegenstand, einem Service, einem politischen Plan oder einer Regelung auseinandersetzen. Eher trockene wirtschaftliche oder politische Themen lassen sich durch den „Tester*“ oft viel lebendiger darstellen, denn der Zuschauer folgt dem für einen Test typischen Arrangement und der zugehörigen Reihenfolge von Urteilskriterien. Er wird interessiert am Scheitern oder Überwinden dieser Kriterien und erkennt mit Vergnügen den Sinn und Wert des Verhaltens einer handelnden Hauptfigur. Eine besonders milde Form des Tests ist der journalistische Selbstversuch, bei dem das Publikum den Autoren* dabei zuschaut, wie sie mit selbstgesetzten Herausforderungen zurechtkommen (z. B. „Ohne Geld durch die Welt“; „Wir kaufen bei…“; „Obdachlos für 24 Stunden“). Diese Reportage-Form sieht wie ein Test aus, lässt das Publikum aber meist über die Test-Kriterien im Unklaren und reicht daher oft nicht über eine unterhaltsame Zufallsgeschichte hinaus. Sie könnte diesen Mangel aber durch eine Textperson vom Typ „Tester“ ausgleichen und auf diese Weise mehr argumentatives Gewicht bekommen. Charakteristisch für den Textperson-Typ „Tester*“ ist die Reihenfolge, in die die Sachverhalte angeordnet werden. Damit das Vergnügen der Zuschauer entstehen kann, müssen zeitlich zuerst die Testkriterien eingeführt werden oder das Setting des Versuchs. Erst dann weckt dieser Textperson-Typ die innere Aktivität der Zuschauerin*, wissen zu wollen, ob die Handlungen der Filmfiguren (Menschen, Institutionen, Produkte) diesen Kriterien standhalten oder an ihnen scheitern werden. Inhaltlich gibt es wohl nur wenige Grenzen für diesen Textperson-Typ: alles, was neu ist oder was als neu gelten möchte, kann sich die „Testerin*“ vornehmen (z. B. die Umweltpolitik einer Landesregierung, der Service einer Firma, neue Geräte, ein neues Gesetz, eine bereits eingeführte Regelung oder die ungewöhnliche Vorgehensweise eines Unternehmens). 147

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Sprachlich steht diesem Textperson-Typ eine große Breite zur Verfügung: er kann feinfühlig, vergnüglich oder ätzend und niedermachend formulieren, bleibt aber inhaltlich geradezu akribisch genau; in Anlehnung an Tester in der Lebensrealität. Er kann im Futur formulieren und im Indikativ Präsens, im Perfekt und im Konjunktiv. Wichtig ist einzig, dass das Ergebnis möglichst ohne Text im Bild gezeigt wird; und dies möglichst spät. Der „Tester“ liegt nahe bei ausdrücklich geplanten Test-Filmen, er passt aber vor allem zu Stoffen, in denen das Publikum eine Haltung gewinnen oder eine Entscheidung fällen möchte oder sollte: politische Inhalte, wirtschaftliche oder kulturelle. „Tester*“ sind nicht an die gewohnten, meist technischen oder Service-Test-Situationen gebunden. In solchen ausgesprochen als Test angelegten Filmen sind als Variation auch Textpersonen des Typs „Gutachter“ „Anwalt“, „Beobachter“ möglich; alle wecken Spannung. Eine „Testerin*“ regt das Publikum an, mit einer Entwicklung mitzugehen und den Test-Kriterien zu folgen. Zuschauer werden dadurch innerlich aktiv. In einer Satiresendung kann die kalte Neutralität des „Testers*“ die beabsichtigt intensive spöttische Wirkung erzeugen. In einer Medizinsendung kann die sorgfältige Argumentation und Vorgehensweise des Testers das Publikum überzeugen. ▶ Journalisten* und Film-Autorinnen* können Politiker und Lobbyisten dazu zwingen, ihre Äusserungen gesamtgesellschaftlich zu begründen.

6.9 Meinen Wohl alle Menschen haben nach relativ kurzer Zeit eine Meinung zu anderen Personen, zu Abläufen, Sachverhalten und Geschehnissen. Manchmal können sie ihre Meinung mit nachvollziehbaren Argumenten und/oder Erfahrungen begründen. Oft nur mit einem Gefühl. Und manchmal gar nicht. In keinem dieser Fälle muss jemand ihrer Meinung folgen. Denn sie ist eine persönliche Einschätzung. Eine Meinung öffentlich verteidigen, ist ein vom Grundgesetz geschütztes Recht eines jeden. So weit, so banal. Wie wichtig diese Freiheit ist, erkennt man am Verhalten von Staaten, die Menschen bereits aufgrund von berichtenden Äußerungen im Netz der Obstruktion beschuldigen und ins Gefängnis stecken.

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Im Unterschied zur Gewichtung ist die Meinung eine subjektive Stellungnahme. Die Basis für die Meinung kann systematische Reflexion sein oder persönliche Erfahrung. Die Meinung kann auf Grund einer moralischen, politischen, religiösen oder anders fundierten Überzeugung entstehen oder aus Zwang; sie kann sogar auf allgemeinem Gerede beruhen oder aus Vorurteil, Bewunderung oder Abneigung resultieren. Social-Media-Äußerungen von Politikern gehören inzwischen zum selbstverständlichen Bestandteil von Ereignissen außerhalb des Netzes, beeinflussen die dort Handelnden und veranlassen sie zu Reaktionen. Und sind inzwischen oft bereits Handlungsanweisungen mit unmittelbarer Wirkung. In der Lebensrealität besteht die Mehrzahl von Stellungnahmen aus Meinung und Ansicht. Eigene Meinungen und die daraus folgenden Vorstellungen begründen das Handeln des Einzelnen unabhängig davon, ob er für die jeweilige Meinung gute, schlechte, überzeugende oder falsche Argumente hat. Unabhängig auch davon, ob Argumente zwar existieren, aber aus Gründen, die nur derjenige kennt, der die Meinung äußert, für die eigene Meinung gar nicht erst zählen. Wegen dieser unterschiedlichen Basis muss niemand der Meinung eines anderen folgen, selbst dann nicht, wenn sie gut begründet ist. Zur Meinung zählt auch der Klatsch; er ist durch die Meinungsfreiheit geschützt. Die als Bunte Blätter bezeichnete Presse, People-Sendungen und viele Netzpräsenzen leben davon. Selbst wenn Klatsch sich häufig nur auf geringe Sachkenntnis stützen kann, entfaltet er im Fernsehen und im Netz große öffentliche Wirkung. Klatsch ist ein kleiner und wichtiger Bestandteil aller Medien. Seine vielfältigen Formen in der Lebensrealität bilden deshalb die Grundlage für eine Gruppe von höchst unterhaltsamen Textpersonen, die alle zum Typ „Meinen“ gehören. Meinungen von Journalisten und dokumentarischen Autoren* verdanken ihre Öffentlichkeit und ihr Gewicht der Rolle, die Medienmenschen für die Gesellschaft spielen. Ihre professionell gewonnenen Meinungen sind in diesen Medien keine private Äußerung. Sobald sie persönliche Blogs schreiben, wird offensichtlich, dass sie – im Interesse ihrer Arbeitgeber und ihrer Nutzer – die Privatheit des Blogs betonen müssen. Außer, sie veröffentlichen ausschließlich im Blog. Dann geraten sie in eine Rolle, die ihren privaten Auffassungen ziemlich nahekommt. Meinung als journalistische Ausdrucksform hat ein anderes Ziel als Meinungsäußerungen von Politikern und Lobbyisten. Schnelle Meinungsurteile („das ist verfassungswidrig“; „Ein Schlag ins Gesicht der Behinderten“; „das ist der Untergang des Straßenverkehrs“; …jenseits des gesunden Menschenverstandes“) sind oft die erste Form politischer und öffentlicher Äußerung, auch dann, wenn die zugrundeliegenden 149

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Sachverhalte noch nicht vollständig bekannt sein können. Eine solche erste scharfe Äußerung provoziert Meinungsäußerungen anderer Parteien oder Experten, die ebenfalls oft nur auf Teilwissen beruhen. Das Publikum wird auf diese Weise einen Meinungs-Tsunami ausgesetzt, in dem häufig die tatsächlichen Sachverhalte erst sehr viel später die Chance bekommen, vom Publikum wahrgenommen zu werden. Überdies kann das Publikum häufig Gewichtung und Meinung der Diskutierenden nicht klar trennen, denn für diese interessegeleiteten Personen spielen Absichten, Taktik und Abhängigkeiten als Hintergrund ihrer Äußerungen mit. Am klarsten zeigen Autoren* ihre professionelle Meinung im Kommentar (filmisch oder live). Anders als zu Zeiten, in denen Namensartikel noch nicht üblich waren und Kommentare die kollektive Meinung „der Zeitung“ äußerten, ist heute der Kommentar die journalistische Aussageform und das Urteil eines Einzelnen. Journalistische Profis begründen entsprechend ihrer Rolle im Unterschied zu Privatpersonen ihre Meinung mit recherchierten und gewichtenden Fakten; und sie stellen sie nach professionellen Kriterien dar. Journalistische Meinung kann sich aber – jedenfalls im dokumentarischen Film – auch unausdrücklich zeigen: • • • • •

in der Auswahl der Bilder und Film-Situationen; in der Kombination von Bild, Geräusch und Musik; in der Anordnung und im Zuschnitt von O-Tönen; in Bildunterschriften und Text-Einblendungen; ausdrücklich in der Textperson, in der die Autorenhaltung sich sprachlich konkretisiert.

Im Fokus steht hier der Filmtext als Textperson, weil er den anderen Film-Elementen ihre Bedeutung gibt. Wenn eine Textperson unbewusst und unbeabsichtigt entstanden ist, erlebt man sie leicht beim Jammern, Klagen oder in Besserwisserhaltung. Denn immer, wenn die Beweisgrundlage im Filmtext unklar bleibt, wirken die Formulierungen als Meinung. In dieser deutlich spürbaren, aber eben doch verdeckten Form kann das Publikum in der Regel nur schwer erfassen, ob es einer Meinung aufsitzt oder zu einer Meinung verlockt wird, die so klingt als sei sie alternativlos. („Diese Zahlungen sind ungerecht“; „Die Autoindustrie verdient sich eine goldene Nase und hat keinerlei Interesse, sich innovativ zu bewegen“). Zwischen „Meinen“ und „Gewichten“ bewegt man sich gedanklich und sprachlich oft auf einem Grat. Denn beides zeigt eine deutlich spürbare Positionierung der Film-Autorinnen* zu den Inhalten eines Films und der Realität, über die sie berichten.

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Deshalb ist immer eine Autoren-Entscheidung fällig: entweder man zeigt seine Meinung offen, z. B. durch die Wahl einer klar erkennbaren Textperson des Typs „Meinen“, oder man wählt eine Textperson, die dem Zuschauer ausdrücklich ein eigenes Urteil ermöglicht, in der Regel eine vom Typ „Gewichten“, „Sammeln, Ordnen, Klären“, „Argumentieren“ oder „Beobachten“. Der Textperson-Typ „Meinen“ übernimmt die Subjektivität, sorgt aber darüber hinaus – anders als in der Lebensrealität – für eine inhaltlich überzeugende und einleuchtende Begründung, im klaren Wissen, dass Andere aus ihrer Subjektivität heraus anders urteilen können und werden. In der Version „Klatsch und Tratsch“ übernehmen Textpersonen aus der Lebensrealität die Naivität und totale Subjektivität, unterfüttern sie aber – anders als in der Lebensrealität – mit Begründungen, so dass die sonst unbewusst bleibenden Kriterien (z. B. Vorlieben, vorbehaltlose Bewunderung, Spontan-Ekel, Spaß am Sonderbaren) ausdrücklich und offen werden. Eine Textperson des Typs „Meinen“ ist sinnvoll bei Stoffen, welche den Zuschauer provozieren sollen: in der Denk-Richtung des Autors* oder auch dagegen. Beides kann dramaturgisch und sachlich stimmig sein. Denn dieser Textperson-Typ bezieht offen eine Position, er will das Publikum unmittelbar überzeugen, ist sich aber bewusst, dass er von den Zuschauern dennoch nicht die gleiche Stellungnahme fordern kann. Die Version „Klatsch und Tratsch“ bietet sich an, wenn es thematisch um eher Leichtes oder Peinliches geht, um Themen, mit denen das Publikum sich gern aus sicherer Distanz beschäftigt; und auch bei Themen, welche üblich nur mit höchstem Ernst behandelt werden. „Klatsch und Tratsch“ sind hervorragende Satire-Erzähler. Für Filme, die vom Zuschauer eine deutliche Stellungnahme erfordern, den Autor aber nicht sichtbar zeigen, wählt man günstig eine Textperson des Typs „Argumentieren/Plädieren („Staatsanwalt“, „Strafverteidiger“ „Zivilanwalt“). Bei diesen Textperson-Typen wird der Zuschauer zum Richter, der sich die Argumente anhört und dann ein Urteil fällt. Sie wirken argumentativ und emotional schärfer als die Textpersonen des Typs „Gewichten/Meinen“. ▶ Dieselbe Haltung – Sechs Text-Farben.

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6.9.1 Kommentator* Die Lebensrealität: Im lockeren Gespräch von Nachbarn, an der Hotelbar, in der Schule, im Wirtshaus und im Netz kommentieren die Leute alles, was um sie herum passiert. Sie äußern ihre Meinungen und streiten darüber oder sind sich einig darin, was „der“ oder „die“ oder „die da oben“ oder „die Politik“ immer noch nicht geschnallt oder schon wieder verbockt haben. Die sprichwörtlichen 40 Millionen deutsche – es mögen auch mehr sein – Fußballnationaltrainer kommentieren mit Lust und Häme die Leistungen von Mannschaft und Trainer. Die Kommentarspalten im Netz sind übervoll, weil offensichtlich viele Menschen ihrer Meinung einen größeren Raum verschaffen wollen. Kommentare sind erst mal folgenlos, weil niemand auf sie hören oder ihnen folgen muss. Manchmal aber treffen sie das Empfinden vieler Menschen; und dann können sich gesellschaftliche und öffentliche Bewegungen daraus entwickeln (z. B. „en Marche“ und „Gelbwesten“ in Frankreich, „Brexiteers“ in Großbritannien, „Fridays for Future“ in Europa). Fernseh-Kommentatoren treten sichtbar auf und stehen als professionelle Person für ihre Meinung ein. Von journalistischen Kommentatoren darf das Publikum professionell erarbeitete Begründungen erwarten, nicht solche, die sich auf persönliche Vorliebe oder Empfindung stützen. Ein Kommentar ist subjektiv, kommt von einer qualifizierten Person und richtet sich über die Öffentlichkeit des Publikums an gesellschaftlich-politisch Verantwortliche, auch wenn diese den Kommentar gar nicht lesen oder hören. Kommentare fokussieren die vielen, zuweilen komplizierten Aspekte eines Sachverhalts auf eine Richtung oder auf wenige Alternativen. Zum journalistischen Handwerk gehört, Bericht und Kommentar zu trennen. Das ist bei Filmen und Fernsehprogrammen deutlich schwieriger als in gedruckten Medien. Denn Bild, Ton, O-Töne und Schnitt von dokumentarischen Filmen zeigen selbst bereits kommentierende Elemente. Und es ist im Jahr 2019 schwieriger als in der Nachkriegszeit, weil heute subjektiv gefärbte Darstellungs- und Textformen auch bei Profis beliebt sind und dem Publikum mehr Authentizität versprechen, als sie halten können. Viel weniger oft als in Zeitung und Radio stehen im Fernsehen Kommentare auf eigens ausgewiesenen Sendeplätzen („Zum Thema XY jetzt der Kommentar von NN.“; „Das Wort zum Sonntag spricht…“) zusätzlich zu den Berichten. In dieser professionellen Form wird die subjektive professionelle Einstellung der Kommentatorin*, die sonst privat bliebe, öffentlich. Weil ein professioneller Kommentator* beim Zuschauer die Grundkenntnis der Umstände und Sachverhalte voraussetzt, muss ein Kommentar zeitnah zum Geschehen platziert sein, damit seine Interpre-

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tation in der Erinnerung der Zuschauer noch mit dem Geschehen selbst und der Berichterstattung darüber verbunden werden kann. Ein Kommentar soll Diskussion und Widerspruch auslösen. Oder Zustimmung. Er ist subjektiv formuliert und durchbricht die professionelle Nüchternheit und angestrebte Neutralität der tagesüblichen Berichterstattung. Wer journalistisch kommentiert, ist nicht für die Sachverhalte verantwortlich; er steht auch nicht im Dienst derer, die verantwortlich sind. Gerade deshalb sind reale Kommentatoren besonders überzeugend, wenn sie für jemanden oder für etwas ausdrücklich Partei ergreifen. Eine journalistische Meinung kann als Aufschrei oder Hohn, als milde Reflexion oder ätzende Analyse formuliert sein. Die Basis von Kommentaren sind persönliche Kenntnis und Erfahrung der Autorinnen*, die von Meinungsmustern in der Gesellschaft und Zeitströmungen mitgeprägt werden. Eine journalistisch geäußerte Meinung kann diese Muster verstärken oder ihnen widersprechen. Das Publikum vermutet hinter der Meinung eines Journalisten, jedenfalls in denjenigen Medien, welche man nicht zum reinen Zeitvertreib nutzt, eine größere professionelle Übersicht über die widerstreitenden Interessen gesellschaftlicher Gruppierungen. Der Textperson-Typ „Kommentator“ übernimmt von realen Kommentatoren die Subjektivität, die Meinungshaltigkeit und deren Begründung. Und auch die für Kommentare typische sprachliche Intensität. Wie ein Kommentator in der Lebensrealität sucht sich auch der Textperson-Typ „Kommentator“ im Film diejenigen Aspekte der Fakten heraus, die seine Ansicht stützen. Denn Fakten und Sachverhalte bieten jedem Betrachter andere Aspekte der Realität. Die „Kommentatorin*“ aber fokussiert auf ihre professionelle Sicht. Und das ist, gemäß der Rolle von dokumentarischen Filmemachern und Journalisten, der Blick auf die Auswirkung eines Sachverhalts oder einer Entscheidung für die Gesamtgesellschaft, die aus unterschiedlichen, von ihren Gruppeninteressegen geleiteten Mitspielern und auch aus solchen besteht, deren Aufgabe es ist, fürs Ganze verantwortlich zu sein. Der „Kommentator“ setzt die Einzelinteressen in ein – aus seiner Sicht – sinnvolles Verhältnis zueinander und in Beziehung zum Gesamten. Er formuliert scharf und genau, so dass Politiker und Lobbyisten bemerken, was ihre Aufgabe sein könnte oder sollte. Sprachlich zeigt der „Kommentator*“ – anders als die Textperson-Typen „Rechercheur“, „Detektiv“, „Bote“ oder „Besucher“ – wertende Kriterien (z. B. gut, schlecht, falsch, richtig, übertrieben, zu zögerlich). Damit seine Wertungen Gewicht bekommen, hebt er unter den unterschiedlichen Aspekten der Fakten diejenigen hervor, welche sein Werturteil plausibel werden lassen; und begründet sie. In dieser Haltung unterscheidet 153

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sich der Textperson-Typ „Kommentator“ deutlich von Unternehmenssprechern oder Partei-Generalsekretären, welche vornehmlich die Sicht ihrer Auftraggeber öffentlich werden lassen, selten aber die Begründungen. Er unterscheidet sich auch von Meckerern ohne Kenntnis, die Klischees bereits für Begründungen halten. Sprachlich wirkt der „Kommentator*“ seriös, ernsthaft, interessiert, selbst dann, wenn er hämische oder ironische Formulierungen benutzt. Als Textperson spricht er nicht, wie der reale Kommentator, in „Ich-Form“, außer er kommt ins Bild. Er kann also zwischen „Ich“ im ON und „Ohne Ich“ im Filmtext wechseln. Die subjektive Färbung des Textes entsteht bei der ja unsichtbaren Textperson durch Formulierungen in „man“ oder „Du“, der präzisesten sprachlichen Form für zusammengefasste Erfahrungen. („Man glaubt ja kaum…“ „Kannst Du dir vorstellen…“). Dieser Textperson-Typ ist einer der wenigen, der deutlich wertende Formulierungen verwendet; und er nutzt als einer der wenigen dokumentarischen Erzähler die deduktive Logik („Staatsanwalt“, „Strafverteidiger“; „Zivilanwalt“) der Reihenfolge von Behauptung und nachfolgenden Detail-Argumenten. Sachverhalte schildert der „Kommentator“ nur, soweit sie seinen Schlussfolgerungen dienlich sind oder soweit er sie dem Publikum in Erinnerung rufen muss. Das Ziel dieses Textperson-Typs besteht darin, sein Publikum mit rhetorischen Mitteln und einer distanzierten Sicht auf das Ganze zu überzeugen und dessen Respekt zu gewinnen. Der „Kommentator“ wirkt besonders plausibel in Präsenter-Formaten, weil der Präsenter – ob Autor oder nicht – sichtbar auftritt und im „Ich“ formulieren kann. Dann kann auch der OFF-Filmtext deutlich subjektiver ausfallen, als wenn er nur von unsichtbaren Sprechern präsentiert wird. Wenn die Textperson in einem Präsenter-Format sichtbar wird, lassen sich Empörung, Ironie, Bewunderung oder Abscheu ausdrücklich formulieren. Auch in Kultursendungen kann dieser Textperson-Typ sinnvoll agieren, weil das Publikum bei Kulturthemen Haltung, Meinung und Urteil geradezu erwartet. In Filmen über so genannte „große“ politische Themen, über die schon in anderen Formaten viel berichtet worden ist und mit welchen sich die Gesellschaft schon länger auseinandersetzt (z. B. Migration, Hunger, Klimawandel, Energiewende, Religionsfreiheit, Europäische Einigung; Kulturförderung), lässt dieser Textperson-Typ das Publikum und die Verantwortlichen deutlicher als andere Textperson-Typen die Dringlichkeit von Entscheidungen spüren. Allerdings ist diese Textperson stark gefährdet, sobald sich sprachlich durchaus plausible Text-Wertungen und Urteile durch Szene, Bild und Ton nicht wirklich begründen lassen. In solchen Fällen wählt man besser einen anderen Textperson-Typ (z. B. „Gutachter“; „Staatsanwalt“; „Professioneller Beobachter“). Sehr hingegen wirkt der „Kommentator“ in Satire-Sendungen, vor allem, wenn man ihn beim Thema überhaupt nicht erwartet.

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Dieter Wieland: „Dresden“; BR 2004; Inhalt: Der Neuaufbau Dresdens nach der Wende; Textperson: der über die vertanen Chancen zornige städtebaulich versierte Architekt aus dem Westen.

6.9.2 Anmerker* In der Lebensrealität ist die Anmerkung ein typisches Element der Alltagskommunikation. Menschen äußern sich spontan und, deshalb auch unvorsichtig und unabgewogen zu Beobachtungen, die sie gerade gemacht haben, zu Vorgängen in ihrer Umgebung, zu Personen, Geschehnissen, Mängeln und Ungeschicklichkeiten Anderer; und auch zu den eigenen, wenn sie dazu fähig sind. Anmerkungen können harmlos, scherzend, genau oder ungenau, passend oder unpassend und auch bösartig sein. Typisch ist, bei gut gesetzten Anmerkungen, die Überraschung der Zuhörenden. Sie genießen die Pointe. Wer sie gesetzt hat, hofft auf Zustimmung. Diese Art der Äußerung ist charakteristisch für Reaktionen in Netz-Foren und in Kommunikations-Netzwerken (z. B. Twitter, Signal, Whatsapp, Threema), in denen die technisch bedingte Text-Kürze zu Aufmerksamkeit erregenden Formulierungen zwingt. Die oft mögliche Anonymität der Schreibenden fördert zugespitzte Formulierungen. Man drückt sich nicht in ausgefeilter Logik und oft auch nicht sachlich aus, sondern in zusammenfassenden emotional wirkenden Urteilen, auch wenn die in vielen Fällen nur Behauptungen bleiben. Auch der Small Talk lebt von Anmerkungen, weil in dieser Gesprächsform nicht Disputation und fachliche Auseinandersetzung dominieren, sondern die Kontaktaufnahme zu fremden Menschen. Deshalb sind Anmerkungen im Small­ talk vorsichtig und sprachlich rücksichtsvoll; bestimmte Themen (z. B. Politik, Sex, Religion, Tod, Krankheit) werden in der Regel umgangen. Der Textperson-Typ „Anmerker“ ist der freche Bruder des „Kommentators“. Er übernimmt aus der riesigen Äußerungsbreite von Anmerkungen in der Lebensrealität vor allem deren Pointiertheit. Weil aber dieser Textperson-Typ dokumentarische Inhalte erzählt, stützt er alle Formulierungen auf Recherche-Ergebnisse, ohne diese und deren Quellen ausdrücklich zu zitieren. Er behauptet nichts einfach drauflos. Der „Anmerker“ kann sich sprachlich nüchtern ausdrücken und urteilen, er kann auch sehr rotzig, großmäulig, herablassend und unfair sein oder fröhliche, liebenswürdige und zugewandte Formulierungen finden. Das gelingt besonders gut, wenn scheinbar nebensächliche Details im Text auftauchen, wie nebenher genannt 155

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werden („Die NNN-Vorsitzende wollte ihn wohl mit weißen Sneakers für 450 Euro beeindrucken. Geht ja mit 57 noch. Zuckerberg hat sich für sein Date mit ihr extra in einen schwarzen Anzug gezwängt. Preis egal.“). Damit der beabsichtigte leichte Stil gelingt, muss das Profil dem Textperson-Typ solche Eigenschaften (z. B. Beruf, Lebenserfahrung, Alter, Haltung zum Inhalt) geben, die seine Äußerungen plausibel machen. Besonders wichtig wird bei diesem Textperson-Typ die Sprechgestaltung, denn die leichte, wie nebenbei gelingende Wirkung entsteht vornehmlich durch die Spreche, nicht allein durch den Text selbst. Mit dieser Textperson lassen sich so genannte „leichte Inhalte“ darstellen, bei denen gewichtige Formulierungen sofort satirisch oder unpassend wirken würden. Wirkungsvoller noch erzählt der „Anmerker“ gewichtige Inhalte auf leichte Weise. So kann eine Filmdarstellung leichter wirken als der Film-Inhalt. In Präsenter-Formaten kann der „Anmerker“ im Bild erscheinen. Meist sollte dieser Textperson-Typ aber nur als Text und Stimme wirken. Die Unsichtbarkeit des „Anmerkers“ löst im Zuschauer vergleichende Vorstellungen über eine sonst gewohnte Stoff-Präsentation aus; und zeigt ihm, wie vergnüglich sich die Präsentation durch einen „Anmerker“ vom Üblichen unterscheidet. Der „Anmerker“ verhält sich zu Fakten und Sachverhalten genauso distanziert und genau wie der „Kommentator“. Aber er formuliert viel weniger abgewogen, geradezu unvorsichtig und generalisierend. („Ist eben doch kein richtiger Minister, hat nur versucht, einen darzustellen. Das hat für vier Wochen funktioniert. Pech eben!“) Vincent Brunner, David Perrault, Nicolas Rendu „Louis XIV“ in der Reihe „(Fast) die ganze Wahrheit“, arteF 2014; Inhalt: 3-Minuten-Porträt von Ludwig XIV; Textperson: rotziger, schlappmäuliger Anmerker, dennoch voller Bewunderung https://www.arte.tv/de/videos/057476-001-A/fast-die-ganze-wahrheit Das perfekte Dinner, Vox, seit 2006; Inhalt: Vorbereitung und Verzehr eines Essens mit Gästen; Textperson: der gegenüber der gastgebenden Hauptfigur und den Gästen süffisante Anmerker.

6.9.3 Fan* / Bewunderer* / Liebhaber* Fans sind in der Lebensrealität von einem Thema, einer Sache oder einer Person emotional bewegt, überzeugt, und oft sogar bis zur Hemmungslosigkeit begeistert. Sie äußern Bewunderung, kennen sich in Details des Lebens ihrer Sehnsuchts-Ob-

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jekte und Sehnsuchts-Personen aus („Wenn Taylor Swift mal länger Zeit nichts postet, krieg ich Entzugserscheinungen“) Ob Filmstar, Fußballmannschaft, Modeschöpfer, Prinzessin, Pop-Sänger, Politiker oder Schriftsteller: Lob und Tadel, Irritation und Trauer der Fans kommen spontan, Geschichten werden erzählt, Gerüchte, Anekdoten, alles, was zum Leben und der Erscheinung des jeweils Bewunderten gehört. Ein Fan benötigt in der Realität nicht einmal notwendig Text. Gekreische, Schrei oder Geste reichen. Der Textperson-Typ „Fan*/Bewunderer*/Liebhaber*“ wirkt auf den ersten Blick kontraproduktiv zur dokumentarisch-journalistischen Aufgabe. Doch gerade dieser Textperson-Typ kann besonders wirksam Kritik austeilen, weil der Zuschauer nicht daran zweifelt, dass der Erzähler seinen Stoff (Sache oder Person) wertschätzt. Aber er kann durch besonders tiefe Kenntnis seines Gegenstandes das Publikum auch zur Bewunderung mitreißen. Der Textperson-Typ „Fan*/Bewunderer*/Liebhaber* übernimmt vom Fan in der Lebensrealität die grundsätzlich positive Haltung zum Gegenstand oder Person, nicht aber dessen spontane Bewunderungs-Äußerungen und die Massenhysterie. Der „Fan*“ spricht konkret, Allgemeinbegriffe und Zusammenfassungen werden vermieden, weil sonst die Bewunderung nicht entstünde, welche dieser Textperson-Typ im Publikum wecken soll. Deshalb sucht der „Fan“ nach Detailfakten und nutzt die Fachkenntnis von Hobby und Leidenschaft. Er sucht bestätigende Fakten, im Positiven wie im Negativen, weil dadurch auch eine allfällige Kritik deutlicher darstellbar wird. Denn bei aller Bewunderung: der Textperson-Typ „Fan*“ hält dennoch Distanz zum Objekt seiner Bewunderung und Vorliebe. Im Zusammen von Bewunderung und auch möglicher Kritik unterscheidet er sich von den Textperson-Typen „Forscher“, „Kritiker“, „Tester“, oder „Chronist“. Diese zeigen Engagement in der Sache, nicht aber Bewunderung. Sie zeigen das – ebenso wie der „Fan*“ – durch ihre Wortwahl, die Formulierungen und in der Sprechgestaltung. Ein „Fan*“ lässt Bildern und Geräuschen grundsätzlich den Vorrang, denn er möchte dem Publikum die eigene Haltung nicht aufzwingen. Begeisterung und Bewunderung kann man eher in der Sprechgestaltung als durch Textmasse darstellen. Oder durch pausenlose Textmasse, was aber nur für sehr kurze Stücke funktioniert und bei einer Film-Reihe Monotonie erzeugt. Wer als Zuschauer gerade staunt, fühlt sich durch Text gestört, möchte aber danach die Bestätigung, dass er zu Recht gestaunt hat.

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In den Filmformen „Bilderbogen“, „Bericht“, in Personality-Geschichten und auch für Stoffe, die spontan eher Müdigkeit oder gar Abwehr auslösen, wirkt diese Textperson höchst effektvoll. Henriette Bornkamm / Carl A. Fechner: „Weil ich länger lebe als Du“; WDR 2012; Inhalt: Porträt des Umweltinitiators Felix Finkbeiner, 12 Jahre alt; Textperson: Mann als Fan von Felix. https://vimeo.com/ondemand/weilichlangerlebealsdu/235880329 (zum Ausleihen); auch DVD. Sebastian Rieck: „FC-St. Pauli-Geschichten“; NDR 2010; Inhalt: Montagsbericht im „Hamburg-Journal“ nach verlorenem Spiel; Textperson: kenntnisreicher Fan des FC St. Pauli. Luc Lagier: „Agnès Varda“ in der Reihe „Blow up“; arteF 2019; Inhalt: das Leben und die Filme von Agnès Varda; Textperson: männlicher Fan. https://www.arte.tv/de/videos/083883-023-A/blow-up-agnes-varda-in-7-minuten/ Es lohnt sich, auch die französischen Originale in der arte Mediathek anzuschauen, denn oft sind im Original andere Textpersonen als im Deutschen entstanden. https://www.youtube.com/watch?v=TgsOW69JmvA

6.9.4 Kumpel* In der Lebensrealität nennen Bergleute einander „Kumpel“. Sie arbeiten in Gruppen und sind, vor allem unter Tage, aufeinander angewiesen, müssen also innerhalb der Gruppe verlässlich sein. Kumpel, umgangssprachlich sehr oft „Kumpels“ (im Bergbau, im Tunnelbau, bei der Arbeit unter Wasser und im Alltag) kennen einander, helfen einander, haben grundsätzliche Sympathie füreinander, weil sie anders als Gruppe nicht überleben könnten. Abgeleitet ist die Bezeichnung vom „Kumpan“, dem Wandergesellen in Gruppe, dem Trinkgenossen oder auch dem Kumpan beim Diebstahl oder dem Kameraden beim Bergsteigen. Der Begriff „Kumpel“ hat aus der Geschichte eine männliche Prägung, gilt aber genauso für alle anderen Geschlechter. Im heutigen Alltag sind Kumpel Gruppen-Gefährten in bestimmten Situationen und für bestimmte Zeit, (z. B. beim Fußball, beim Feiern oder beim Konzert einer Band). Kumpel müssen keine wirklichen Freunde sein. Sie können außerhalb der Kumpel-Situation einander auch fremd bleiben (z. B. Biker, Computer-Spieler). Kumpel sprechen untereinander dieselbe Sprache, die oft nur innerhalb der Gruppe und manchmal nur innerhalb einer charakteristischen Situation verstanden wird.

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Es gibt unter Kumpeln vielerlei unausgesprochene Voraussetzungen: gemeinsame Spezialkenntnisse, Vorlieben, Geschmackrichtungen. Der Textperson-Typ „Kumpel*“ übernimmt aus der Lebensrealität vorwiegend die unausgesprochenen Voraussetzungen. Er zeigt vielerlei Anspielungen und Verweise auf gemeinsame – oder pseudo-gemeinsame – Ereignisse und Erlebnisse. Er spricht gleichsam zu Seinesgleichen, ähnlich wie man sich am Tresen nach Fußballspielen miteinander unterhält, nachdem man als Gruppe das Spiel verfolgt hat. Dieser Textperson-Typ formuliert Fakten als gemeinsames Erlebnis der Textperson und der Zuschauer. Er zeigt also eine gewisse Intimität mit dem Publikum und liefert neben subjektiv geprägten Analysen des Geschehens auch deutliche Wertungen. Der „Kumpel“ orientiert sich an der gesprochenen Alltagssprache der Klientel, auf welche der Film wirken soll. Oft sind das junge Menschen oder solche, die einander in Vorliebe und Kenntnis, aber ohne persönliche Beziehung zueinander, vertrauen (z. B. Sportfreunde, Kulturfans, Filmfreaks). Meinung und All-Aussagen dominieren den Text. Urteile sind wichtiger als allzu subtile Differenzierungen („Was da nervt, kann man nicht so richtig buchstabieren, aber es nervt eben“) Gefühle werden benannt, Ungefähres und Vermutungen sind häufig. Wie in der Alltagssprache einer jugendlichen Peer-Group kann für eine „Kumpel-Textperson“ „Egal!“ als Argument dienen. Eine Erkenntnis fördernde Auswahl von Fakten, die Kenner schätzen, und eine klar erkennbare inhaltliche Genauigkeit sind aber entscheidend für eine Dauerwirkung bei diesem Textperson-Typ, auch wenn die Ausdrucksweise vertraulich und flott klingt. Die Textperson zeigt sich dem Publikum als Kenner unter Kennern die einander verstehen und vertrauen. Dennoch spricht der Textperson-Typ „Kumpel*“ keinen Fachjargon, weil er ja von möglichst vielen Zuschauern verstanden werden will. Fakten, die Kenner schätzen, sind nicht notwendig die gleichen, die zum Typ „Gutachter“ oder „Anwalt“ passen. Sie müssen auch nicht zu einer argumentativen Logik führen. Aber sie müssen zum Inhalt gehören und so genau sein, dass sie für den Typ „Kumpel*“ eine ausreichende Begründung liefern; der Typ „Kumpel“ ist sich sicher, von seinem Publikum verstanden zu werden, auch wenn seine Ausdrucksweise die Fakten nur anspielt oder sie umspielt. Das Publikum sollte am Bild, am Ton und in der Film-Situation die Textaussage genussvoll nachvollziehen können.

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Der „Kumpel*“ passt in Berichte über Mode, Popmusik, CDs, Filme und Computerthemen. Die jeweils unausgesprochenen Voraussetzungen erlauben einen lässigen, flotten, direkten und anspielungsreichen Stil. („Bitte, liebe Wissenschaftler, bitte nie den Geneffekt entschlüsseln, der dafür sorgt, dass wir auch im gesetzten Alter zu ‚Fettes Brot‘ noch im Zimmer rumspringen und die Topfpflanzen kicken müssen“). Mit dem „Kumpel*“ zieht ein Film das Publikum in die Gruppe der Kenner und Genießer hinein. Er passt also auch zu Kulturthemen, Trailern oder filmischen Kochrezepten. Der „Kumpel“ zeigt dem Publikum, dass er es so gut versteht, dass er sich zur Gruppe der dort Eingeweihten zählen darf. Dieser Textperson-Typ kann einen seriösen Inhalt aufpeppen und die normierten Erwartungen des Publikums überraschen (z. B. im Programm-Trailer zur Europawahl 2019 auf arte). Programm-Trailer für das Online-Magazin zur Europawahl 2019; arte 2019; Inhalt: Einladung, sich über die Europawahl zu informieren; Textperson: „Kumpel, jung, weiblich“. Der Filmtext: Sprecherin: „Europa 2019. Ihr habt die Wahl. Institutionen, Kommissionen, Emissionen, Gesetze, Gesetze, Gesetze.“ O-Ton Charles de Gaulle: „l’Europe, l’Europe, l’Europe!“ Sprecherin: „Wer blickt da durch? Mit arte geht’s ganz leicht.“ O-Ton junge Frau: „Kommt mal mit!“ O-Ton junger Mann: „Das ist eine gute Union, das gefällt mir.“ Sprecherin: „Reportagen, Analysen, Fakten in Kleinformat; arte informiert kurz und bündig. Holt euch eure tägliche Dosis Europa!“ O-Ton Helmut Kohl: „Lasst und in diesem Geiste für ganz Europa arbeiten.“ Sprecherin: „Europa 2019, jeden Tag neue Infos bis 5. Juli, auf arte.TV“. https://arteptweb-a.akamaihd.net/am/ptweb/081000/081300/081327-113-A_ SQ_0_VA_04193725_MP4-2200_AMM-PTWEB_17TCxLbGdK.mp4 Der Text selbst ist gedruckt, inhaltlich nüchtern. Erst durch die Sprechgestaltung als verlockende direkte Ansprache wird die junge, weibliche „Kumpel*“-Textperson für das Publikum spürbar und erlebbar. Colin, Maudit & Bonnaud: „Abgedreht – Martin Scorcese“; arteF 2014; Inhalt: Leben und Filme von Martin Scorcese; Textperson: Drei Kumpel (in Französisch sind es die Autoren selbst) quatschen etwas überdreht – wie an der Bar – miteinander; erst über das Thema der Sendung und dann über den Film, den sie gerade gesehen haben und das jeweils folgende Thema. https://www.youtube.com/watch?v=73burCN6Zyo Das monothematische Magazin mit Kultur-Themen lief von 2012 bis 2019 mit 250 Folgen auf arte. Es wählt zum jeweiligen Thema aus 15 Filmformen und

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Rubriken diejenigen mit dem höchsten Drive für das Thema. Jede Filmform hat eine eigene Textperson und alle Filme eine andere als die der Moderatoren. Die Moderation kommt aber immer von den drei, manchmal nur zwei, Kumpeln, die man nie sieht. „heute-show“, Magazin; ZDF, seit 2009; Inhalt: Politik; Textperson des Moderators ist häufig der „Kumpel“ von 30-Jährigen. Die Filme der Sendung werden von sehr unterschiedlichen Textpersonen erzählt. Nicolas Rendu: „Fast die ganze Wahrheit – Elisabeth II“; arteF, 2018; Inhalt: Kurzbiografie von Königin Elisabeth II zum 90. Geburtstag; Textperson: sehr heiterer Kumpel https://www.youtube.com/watch?v=LNJ-FhSHbmE Die Reihe dieser 3-Minuten-Porträts läuft seit 2013, inzwischen mehr als 160 Folgen; die Textperson, männlich, ist nicht immer der heitere Kumpel, oft ein zynischer Betrachter und manchmal auch ein Fan.

6.9.5 Plauderer* In der Lebensrealität sind Plauderer angenehme Gesprächsgenossen, solange sie nicht alle Gesprächszeit für sich selbst beanspruchen. Sie verstehen es, sich locker und leicht über ernsthafte Dinge zu äußern, ohne oberflächlich zu sein. Sie prägen die „Gespräche über den Gartenzaun hinweg“, den Smalltalk unter Leuten, die sich zu einem gemeinsamen Ereignis versammeln, ohne dass sie einander näher kennen müssten. Sie haben viele Details parat, können inhaltliche Verbindungen assoziativ spüren und ausdrücken. Sie verstehen es, zwischen inhaltlich voneinander entfernten Sachgebieten zu springen, zeigen Kenntnis, legen sich aber nicht ernsthaft oder gar wissenschaftlich fest. Sie behaupten nicht einfach eine Meinung, nur weil sie gerade eine Meinung haben. Sie begründen ihre Aussagen, regen Ideen an, verfolgen sie aber nicht wie ein „Forscher“ oder „Gutachter“ mit letzter Konsequenz. Denn das Ziel ist immer ein leichter Sound, der genaue Fakten liefert, aber nicht zu inhaltlichem Streit führt. Der Textperson-Typ „Plauderer“ übernimmt die positiven Eigenschaften des Originals. Er ist gekennzeichnet durch seine vielfältigen Assoziationen und Vergleiche, durch das erkennbare Vergnügen am Ausschmücken und die Belustigung auch über Ernstes; durch Anspielungen auf das, was gerade Mode ist, gleich auf welchem Gebiet. Der „Plauderer“ verbindet sprachlich assoziativ Inhalte, die in 161

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der Realität nicht verbunden sind oder als getrennt wahrgenommen werden. Oder solche, bei denen der Zuhörer spontan eine solche Verbindung auch als unpassend empfinden kann, sie aber überraschenderweise als passend wahrnimmt. Dieser Textperson-Typ kennt sich in vielen Gebieten aus, kann darauf anspielen, aber nicht tiefer einsteigen. Was aber für den Moment ausreicht. Und genauso wie der Textperson-Typ „Kumpel*“ benötigt der „Plauderer*“ eine charakteristische Sprechgestaltung, um für das Publikum erkennbar zu werden. Der plaudernde Stil ist im klassischen Journalismus nur bei wenigen Themen möglich (People, Vermischtes, Glosse). Er wird heutzutage aber auch in Reportagen und Nachrufen oder zur Schilderung gesellschaftlicher und wissenschaftlicher Phänomene geschätzt. Plaudern verleiht seriösen Themen in jedem Medium (Zeitung, Radio, Fernsehen, Netz) einen spritzigen und leichten Sound, aber eben auch einen Hauch von Nebensächlichkeit. Und wenn in einem Magazin alle Filme von diesem Textperson-Typ erzählt werden, klingen alle Inhalte in gleichmäßiger und langweilender Heiterkeit. Die Unterschiede des politischen und gesellschaftlichen Gewichts gleichen sich beim Textperson-Typ „Plauderer“ an. Er klingt flott, aber es wird undeutlich, wie ernst seine Fakten gemeint sind. Der Grat zur Ironie ist schmal. Wenn aber Ironie gemeint ist, hilft die Sprechgestaltung. Sprachlich nutzt dieser Textperson-Typ viele Elemente der mündlichen Unterhaltung, angerissene oder abgerissene Sätze (z. B. „nicht falsch verstehen… ist nach wie vor alles…na klar, in Ordnung“) einschließlich der in direkter Unterhaltung vorkommenden Selbstunterbrechungen (z. B. „Insider, aufgepasst!“), Einschübe (z. B. „kann ja so nur in Berlin vorkommen“) und Reflexionen (z. B. „ist ja bis heute ungeklärt, ob Bienen tatsächlich schmatzen“) Der „Plauderer*“ kann in einem Film unendlich langweilig wirken, wenn der Zuschauer spürt und erkennt, dass die Textperson sich gewollt neckisch gibt, aber keine Fakten liefert, welche Kontrast zwischen Bild und Filmtext und Spannung zwischen Bild und Zuschauer entstehen lassen können. Jedoch kann gerade die Textperson „Plauderer*“ auch harte Gesellschaftskritik präsentieren und selbst in einem Nachruf besondere Qualitäten des Verstorbenen hervorheben. Ein „Plauderer*“ wirkt auf Zuschauer und Zuhörer unterhaltsam, weil er zu ernsten Themen leichte Formulierungen und eingängige Vergleiche findet. Das Gebiet, über das er gerade spricht, kennt er gut und intensiv. Bei den Gebieten, auf die er anspielt, muss er sich nicht wirklich als großer Kenner ausweisen. Die höchste Qualität dieses Textperson-Typs zeigt sich aber darin, wenn Autoren tatsächlich breit informiert und gebildet sind.

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6.9.6 „Klatsch & Tratsch“ In der Lebensrealität spielen Klatsch und Tratsch eine viel größere Rolle als man gern zugibt. Es macht vielen Menschen Freude, zu tratschen oder Klatsch weiter zu erzählen, eben nur „hinter vorgehaltener Hand“ und mit der Versicherung, dass die Zuhörer es niemandem weitererzählen dürfen. Was die aber prompt tun. Viele Erzählungen im engen oder weiteren Familienkreis enthalten Klatsch und Tratsch. Die so genannten „Bunten Blätter“ der Yellow Press erzählen, was echte oder angemaßte Kammerdiener von Menschen berichten, die sich selbst nicht befragen lassen. Vermutungen und Gerüchte werden zu Nachrichten, die häufig ungeprüft weitererzählt werden. Das „Hörensagen“ liefert den Inhalt. Promis, die sich in Netzwerken äußern, fördern Klatsch und Tratsch, weil man aus ihren Äußerungen weiterführende, wenn auch oft unberechtigte Schlüsse ziehen kann. Traditionell wird Tratschen den Frauen zugeschrieben. Offensichtlich aber verhalten sich Männer genauso, nicht nur beim „Kantinenfunk“. Die Lust, Vermutetes, scheinbar Geheimes oder Verbotenes mitzuteilen, ist tief in uns verankert. Und oft ist diese Lust mit unausgesprochenen Moralurteilen über andere verbunden (z. B. „Sowas tut man nicht“, oder „Wie kann man nur?“) Der Textperson-Typ „Klatsch & Tratsch“ gehört schon deshalb ins journalistisch-dokumentarische Repertoire, weil Klatsch-Inhalte immer schon Teil der öffentlichen Kommunikation waren und bis heute sind, im Netz sogar vermehrt. Die Inhalte von Klatsch und Tratsch sind nicht von vorn herein nebensächlich oder belanglos. Es gehört zur Machtausübung, nicht alle wichtigen Inhalte sogleich öffentlich zu machen, sie möglicherweise sogar zu verbergen. So dienen Gerüchte und „Hörensagen“ den journalistisch-dokumentarisch arbeitenden Autoren als Anlass und Ausgangspunkt („aus Kreisen der Partei …“) für tiefer gehende investigative Recherche und Berichte, selbst dann, wenn es am Ende beim Hörensagen bleibt. „Klatsch & Tratsch“ übernimmt die intensive Neugier und das Aufdeckerische vom Klatsch und Tratsch in der Lebensrealität, sie verhält sich konspirativ zum Zuschauer und formuliert so, als decke dieser gerade selbst das Geheimnis auf. Bei Service-Themen fällt dann oft das Wort „Geheimtipp“ obwohl jedermann erkennen kann, dass ein im Fernsehen oder Netz veröffentlichter Hinweis in Wirklichkeit ja nicht mehr geheim ist. Dieser Textperson-Typ formuliert in Alltagssprache, er kann sie zuweilen geradezu imitieren. Konjunktiv, Irrealis, Aktiv und Passiv bereichern die Sprache dieses Textperson-Typs. Und er wirkt deutlich anregender, wenn er einfach unsichtbarer 163

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Filmtext bleibt und nicht von einem Präsenter* benutzt wird. Denn als unsichtbare Textperson animiert er die Vorstellung des Publikums und gerät weniger in Gefahr, dem Publikum vorzuspielen, was es fühlen soll. Der Grat zwischen lustvollem Klatsch und volkstheatermäßiger Übertreibung bleibt aber ziemlich schmal. Der Textperson-Typ benötigt harte Fakten, die bei anderen Textperson-Typen als nebensächlich weggestrichen würden (z. B. Tempoangaben und Zwischenstände von Sternen, welche, von der Erde aus betrachtet, eine Art Wettrennen veranstalten, der Unterschied von 1 cm Hosenumschlagreite bei einen neuen Modestil). Die Textperson gelingt am besten, wenn sie typische Anmachformulierungen (z. B. „Jetzt kommt es auf jede Sekunde an“; „da sollte jetzt nichts mehr schief gehen“) vermeidet und nicht in die oft naheliegende Sprechhaltung verfällt, welche eine herablassende, Nähe suchende, besserwisserische Erzählposition („alter Onkel“ oder „Kindergarten-Tante“) kennzeichnet. Im journalistischen Alltag taugt dieser Textperson-Typ eher für leichte Inhalte und kurze Filmbeiträge in Magazinen. Bei langen Formaten formuliert man zuweilen die Titel so, als enthülle der Film Geheimes und „Verbotenes“. (z. B. „Die geheimnisvolle Welt der Babys“); eine erzählende Textperson „Klatsch & Tratsch“ erfordert in einem langen Film-Format viel erzählerischen und sprachlichen Aufwand und ein virtuoses Spiel mit Bild und Sound. Karl Pleger: „Händel – der Film“; ZDF 2009; Inhalt: Das Leben von Georg Friedrich Händel; Textperson: Vergnügte Dame, die sich auf einer Party befinden könnte und von Händel erzählt. Bei allen Spielarten des Textperson-Typs „Gewichten“ und „Meinen“ richten sich Sprache, Wortwahl und Logik nach seiner Aufgabe im Film. Die Textpersonen nutzen recherchierte Fakten, jede aber auf unterschiedliche Weise. Der Typ „Gutachter/ Sachverständiger“ wählt deutlich neutralere Formulierungen als der Typ „Fan“, obwohl beide über Fachkenntnisse verfügen. Der „Kommentator“, der zum Typ „Meinen“ gehört, darf subjektiver formulieren als der „Tester“, der zum Typ „Gewichten“ gehört. Selbst die flotte Sprache der Textpersonen von „Klatsch & Tratsch“, wie sie in Boulevard und Szene, bei Mode, People-Formaten, und Stil-Themen möglich sind, muss, um filmisch zu überzeugen, mehr Inhalt und Fakten zeigen; er sollte nicht wie ein selbstverliebtes Sprachspiel klingen. In diesen leichthändigen Varianten des Textperson-Typs sollten Begründungen wie nebenbei aufscheinen und scheinbar nebensächliche Fakten den Text bestimmen. Dann kommt auch „Klatsch & Tratsch“ über ein „mag ich“, „ist cool“, „voll der Abtörner“ hinaus.

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▶ Sich für einen Textperson-Typ entscheiden – Die Textperson im Profil konkretisieren – Die Textperson durchhalten.

6.10 Nachdenken In der Lebensrealität ist man beim Nachdenken stumm. Wenn im Nachdenken und Reflektieren jemand laut vor sich hin redet, irritiert sein Verhalten die Umstehenden. Jeder kennt aber aus Erfahrung die Situationen, in welchen man auf der Straße oder im Restaurant ein Geschehen beobachtet oder im Schaufenster oder Museum einen Gegenstand betrachtet und sich dabei Fragen stellt, Urteile fällt, Gedanken einfach laufen lässt, assoziative Vergleiche anstellt. Man ist, ohne dass jemand zuhören könnte, sprachlich sehr aktiv. Der Textperson-Typ „Nachdenken“ macht diese Situation hörbar. Er zeigt einen Erzähltyp, der nicht als erstes nach außen schaut, feststellt, beobachtet und berichtet, sondern einen, der seinen Assoziationen und Gedanken anlässlich des Beobachteten und Betrachteten folgt und dem wir als Zuschauer, die im Film das gleiche Bild sehen wie der Film-Erzähler*, beim Verarbeiten des Beobachteten und Betrachteten zuhören. Genuss und Reiz für das Publikum bestehen dann darin, diesem Nachdenken zu folgen und zugleich sich innerlich damit auseinanderzusetzen und zu prüfen ob man selbst ähnliche oder ganz andere Gedanken und Reflexionen bekommt.

6.10.1 Innerer Monolog /Gedankenstrom Innere Monologe entstehen in der Lebensrealität, wenn sich ein Mensch im Ruhezustand befindet, eine Pause zur Reflexion einlegt, oder auch, wenn jemand unter hohen Stress gerät, sich blitzschnell eine Gesamtübersicht verschaffen und die nächsten Schritte des Handelns deutlich vor Augen führen muss. Ähnlich geht es Journalisten in der Phase, in welcher sie Abstand gewinnen von der Vielzahl von Fakten und sich beispielsweise in einer Zeichnung die Beziehungen und Absichten von handelnden Figuren und Kräfte verdeutlichen. Denn über die akute Chronistenpflicht hinaus erwartet das Publikum Übersicht über das Ganze gesellschaftlicher Prozesse; es hat Anrecht auf den Hintergrund zu den auf der Vorderbühne handelnden Figuren und Aktionen und es verlangt nach Aussicht auf mögliche Weiterungen und Folgen. Charakteristisch für den realen inneren Monolog ist 165

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dessen Versuchscharakter, das Ausprobieren von Möglichkeiten und Einflüssen, das Erproben und wieder Verwerfen, so lange, bis man zu einem stimmigen Bild, einer überzeugenden Vorstellung gekommen ist. Als literarische Erzähltechnik trennt man begrifflich den „Inneren Monolog“ vom „Bewusstseinsstrom“ In diesem sind – nur scheinbar ungeordnet – Empfindungen, Reden, Gedanken, Erinnerungen, Wahrnehmungen und Reflexionen aneinandergereiht. Der Bewusstseinsstrom verläuft in der Realität meist nicht als ausformulierter Text. Der Textperson-Typ „Innerer Monolog/Gedankenstrom“ ignoriert die Trennung der beiden gerade beschriebenen erzählerischen Text-Darstellungsformen. Denn die sprachlichen Regeln für beide Formen sind die gleichen. Der Textperson-Typ „Innerer Monolog / Gedankenstrom“ kann alles Sachliche und Fachliche formulieren, was zu einem Film-Inhalt gehört, zugleich aber auch alles, was den Erzähler selbst betrifft: Erinnerungen, Assoziationen, Empfindungen, Schlussfolgerungen, Wahrnehmungen oder Irritationen. Die Film-Autorin* selbst ist, anders als in der klaren Ich-Form, nicht das erzählende Ich. Denn das ausdrückliche „Ich“ kommt auch in der Lebensrealität des Gedankenstroms nicht vor, wird aber unausdrücklich vorausgesetzt. Natürlich kann bei diesem Textperson-Typ ein Autor auch im Bild auftauchen, aber schweigend, in einer Situation, die als solche Ruhe, Reflektieren, Nachdenken und Gedanken sortieren zeigt (z. B. auf einer Bank am Rande einer Straße). Das „Ich“ ergibt sich aus den Formulierungen von selbst, weil sie bei diesem Textperson-Typ nur sinnvoll sind, wenn sie das erzählerische Ich miteinschließen, ohne es zu erwähnen. So ist der Textperson-Typ „Innerer Monolog / Gedankenstrom“ eine elegante Möglichkeit, die mit dem ausdrücklichen „Ich“ einhergehende Einengung auf die Person der Autorin* zu vermeiden. Sprachlich ist der „Innere Monolog“ eine direkte Rede an sich selbst in allen Varianten von Tempus (Präsens, Imperfekt, Perfekt), Genus (Aktiv, Passiv) und Modus (Indikativ, Konjunktiv, Frage, Ausruf). Auf diese Weise gerät der Zuschauer* direkt neben den Erzähler* und bekommt, ähnlich wie sich bei einer Reportage das Miterleben anfühlt, dessen gedankliche Sichtweisen und Wege unmittelbar mit. („Warum diese Fotos vom Großvater? Konnte er damals, beim Fotografen Kornelius in Duisburg, dem Besten der Stadt, wie alle sagten, etwas anderes empfinden als: ‚Gott wie steif siehst du aus‘?“). Da ein Gedankenstrom assoziativ verläuft, nicht argumentativ-logisch, ist er auch nicht perfekt durchformuliert. Im Filmtext darf alles fehlen, was in der Formulierung fehlen kann, ohne die Klarheit der Darstellung zu beeinträchtigen: je nach Inhalt und Situation fehlen also Namen,

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Personalpronomen, Verben oder Artikel. Der Gedankenstrich, der Doppelpunkt und die Auslassung (…), als Atempause dargestellt, sind für diesen Textperson-Typ wichtige Satzzeichen, ähnlich wie bei mündlicher Ausdrucksweise. Der sprachliche Reiz dieses Textperson-Typs liegt in der Abwechslung von ausformulierten Sätzen mit solchen, bei denen einiges fehlt. Der „Innere Monolog/ Gedankenstrom“ passt zu Inhalten und Filmformen, die dem Publikum Abstand, Hintergrund und Übersicht vermitteln sollen, ohne direkt zu argumentieren oder eine kommentierende Meinung ausdrücklich zu äußern. Dieser Typ kann lange Porträts und Erkundungen erzählen, aber auch ganz kurze Magazinstücke, die Hintergründe ausleuchten. Frederic Baker: „Eine Frau in drei Noten – Romy Schneider“; ORF 2008; Inhalt: Das Leben der Schauspielerin Romy Schneider; Textperson: Innerer Monolog /Gedankenstrom eines mit ihr vertrauten Mannes. Christian Frei: „Im Tal der großen Buddahs“; SRF 2005; Inhalt: Besuch beim Aufbau der zerstörten Buddhas von Bamiyan, Afghanistan; Textperson: Innerer Monolog/ Gedankenstrom des Besuchers, angereichert durch Zitate und Briefe . Christina Hofmeier: „Wulff und Glaeseker“; NDR 2014; Inhalt: Die Beziehung zwischen Christian Wulff und seinem Pressesprecher Glaeseker; Textperson: Innerer Monolog /Gedankenstrom der Betrachterin der Filmbilder und der realen Ereignisse. Jean-Robert Viallet: „Die Erdzerstörer“; arteF 2019; Inhalt: die Zerstörung der Natur und der Lebensgrundlagen der Lebewesen und Menschen; Textperson: Gedankenstrom eines Mannes, der dies sieht und begriffen hat, noch keine Lösung weiß, aber Hoffnung hat. https://www.youtube.com/watch?v=yXYYWVAAKRc

6.10.2 „Engel auf der Wolke*“ / „Die Drohne“ In der Lebensrealität existiert der „Engel auf der Wolke“ natürlich nicht. Wo würde man ihn denn antreffen können? In der Literatur lernen wir diesen Typ allerdings kennen: als den „allwissenden Erzähler“, der alle Vorgänge aus großem Abstand überschaut und beurteilt, aber auch in die Herzen und Köpfe aller Beteiligten blicken kann (Thomas Mann oder Jane Austen nutzen diesen Erzähltyp häufig). Der allwissende Erzähler* in der Literatur kann beschreiben und urteilen, 167

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Teil 1 Textperson und Filmtext planen

vermuten und eigene Überlegungen anstellen. Diese für Fiktion-Autoren komfortable Situation existiert bei dokumentarischen Autoren nur eingeschränkt, denn sie müssen sich strikt in den Grenzen ihrer Quellen, der Interview-Antworten und der Recherche-Ergebnisse halten. Der „allwissende Erzähler“ wirkt deshalb im Dokumentarischen oft arrogant, vor allem in Berichten und Darstellung akuter Geschehnisse, deren Ursachen noch ebenso unklar sind wie deren Wirkungen. Das Publikum erlebt sich dann, als würde es vom Erzähler für dumm gehalten. Dennoch sind manche dokumentarische Stoffe durch einen „Engel auf der Wolke*“ deutlicher und verstehbarer zu erzählen. Dieser Textperson-Typ schaut wie eine Kamera-Drohne „von oben“ auf ein Geschehen und nutzt die Details nur dazu, sich der Richtigkeit und Plausibilität des umfassenden Blicks zu versichern. Der „Engel auf der Wolke*“ nutzt die Sicht von oben , vermeidet aber Arroganz und Häme. Er hält große Distanz zu den im Film handelnden Personen und Geschehnissen und zeigt in seinen Text-Inhalten, in Faktenauswahl und der Formulierung häufig eine „Totale“ des Geschehens, er kann Details und Fakten liefern, auch solche, welche die Handlenden nicht kennen oder nicht kennen konnten. So entspricht dieser Textperson-Typ den Bewegungsmöglichkeiten einer Kamera-Drohne, die wie ein Vogel auf Details herunterjagen und sich blitzschnell wieder in die übersichtliche Höhe erheben kann. Der „Engel auf der Wolke“ kann Alternativen und Entwicklungsmöglichkeiten erwägen und in Wortwahl und Stil zeigen, dass der „Streit der Parteien“ zwar notwendig ist, aber als solcher noch nicht zu Lösungen führt. Dieser Textperson-Typ hat großes Verständnis für Menschen und ihr immer wieder auch kurzsichtiges Handeln. Abschätzige besserwisserische Häme gehört aber nicht zu seinem Charakter. Das Publikum sollte spüren, dass der „Engel auf der Wolke“ Menschen mag, auch wenn er mit deren Verhalten nicht einverstanden ist. Der „Engel auf der Wolke“ kann alt sein und auch jung. In beiden Fällen aber äußert er sich klug, differenziert und ausgesprochen deutlich. Die Voraussetzungen dafür klären die Autoren* im Textperson-Profil Ein „Engel auf der Wolke*“ kennt sich aus mit der Welt und den Menschen und zeigt die Haltung, dass es Alternativlosigkeit unter Menschen allenfalls für kurze Moment geben kann, nicht aber grundsätzlich. Das relativierende „mal so, mal so“ oder „einerseits, andererseits“ das in der Regel das Handeln verhindert oder verdeckt, gehört nicht zu diesem Erzähler-Typ. Er wird darauf aufmerksam, und er prangert es an.

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Die Haltung des „Engel auf der Wolke*“ ist der des „Gutachters“ verwandt, weil er nicht einfach die Argumente und Ansichten einer beteiligten Partei verficht. Der „Engel auf der Wolke ist aber – anders als der Gutachter – an Lösungswegen und Transparenz interessiert. Er schildert Phänomene die – aus der Wolken-Perspektive – durchaus zusammengehören, die aber in der „Sicht von unten“ oder aus der Sicht von Fachleuten getrennt wurden oder werden. Dadurch ermöglicht der „Engel auf der Wolke“ dem Zuschauer Einsichten, die weit über die jeweils aktuelle Diskussion eines Themas hinaus reichen. Dieser Textperson-Typ kann leicht oder gewichtig auftreten, je nachdem, ob der Stoff dies erfordert oder ermöglicht. Das „Leichte“ wird erkennbar an der Stimmführung und an der Auswahl von Fakten als Mischung von sehr wichtigen ernsthaften und eher nebensächlichen, nur die Oberfläche streifendenden Sachverhalten. Daraus entsteht eine ganz leichte, den Menschen zugeneigte Ironie. Bei einem historischen Thema kann der „Engel auf der Wolke“ sich ernsthaft zum Charakter von Personen äußern (z. B. „Kriegsminister Erich von Falkenhayn war ein fester Charakter, verfügte über Intelligenz und Energie, über solide analytische Fähigkeiten und vor allem über Nervenstärke. Was ihn von seinem Vorgänger Helmut von Moltke unterschied“). Das Beispiel stammt aus einem Buch (Gordon A. Craig: Deutsche Geschichte 1866-1945, S. 303) es könnte aber auch als Filmtext in einem Film über den Ersten Weltkrieg zu einem Foto des Generals von Falkenhayn stehen. In der weniger gewichtigen Version kann dieser Textperson-Typ aus unterschiedlichen eigentlich nicht zusammenpassenden, aus verschiedenen Quellen stammenden Wahrnehmungen und Empfindungen einen Gesamteindruck vermitteln. „In New York ist es 3:30 Uhr früh, als die Nachricht kommt, dass David Bowie tot ist. Nicht viele hier in seiner Stadt erreicht sie im Wachzustand. Sie kommt hereingekrochen wie ein böser Traum, in dem sie nun werden leben müssen. Ein paar besonders Feinfühlige wollen plötzlich aus dem Schlaf gefahren sein. Im Puck Fair“, der Kneipe schräg gegenüber, legt der Barkeeper für die letzten paar Betrunkenen „Heroes“ auf. Am nächsten Morgen, vor dem Kindergarten, ruft ein Vater laut „Fuck!! Shit!!“ Einfach so. Ohne jede Erläuterung.“ Auch dieses Beispiel ist schriftlich veröffentlicht (Peter Richter in der SZ Nr. 9/2016), würde aber auch als Filmtext mit ganz kurzen O-Tönen („Fuck! Shit!“) einen spannungsreichen Kontrast bilden zu einer nächtlichen Totale von New York in einem Film zum Tod von David Bowie. Charakteristisch für den „Engel auf der Wolke*“ ist der inhaltliche und sprachliche Wechsel

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• der Fakten-Schilderung; • der Erwägung von Handlungs-Möglichkeiten Begrenzungen und Handlungs-Alternativen; • der Feststellung von genutzten oder nicht genutzten Chancen; • der Erhellung charakterlicher Vor- oder Nachteile; • des Einbeziehens, wirtschaftlicher, kultureller, charakterlicher, wissenschaftlicher und aller psychisch wirksamen Elemente, die ein Geschehen verstehbar machen. Das Publikum bleibt trotz aller Deutlichkeit der Text-Darstellung frei, den Entscheidungen der jeweils Handelnden zuzustimmen oder nicht. Es erkennt auf diese Weise deutlicher als bei Textpersonen des Typs „Anwalt“ oder „Beobachter“ das innere Gefüge von Geschehnissen und Personen. Darin liegt beim „Engel auf der Wolke“ der Unterhaltungswert eines Blicks hinter die Kulissen. Sprachlich kann der „Engel auf der Wolke“ sich in allen Tempora, Modi und Genera ausdrücken, er kann Konjunktiv und Irrealis nutzen und alle Methoden sprachlicher Gestaltung. Anders als der Typ „Innerer Monolog/Gedankenstrom“ spricht der „Engel auf der Wolke“ immer in ganzen Sätzen, denn er hat die Übersicht bereits gewonnen. Er beteiligt die Zuschauer nicht, wie es der „Gedankenstrom“ tut, bei der Suche nach Formulierungen. Der „Engel auf der Wolke“ passt gut zu historischen Themen, zu Hintergrundberichten, zu Nachrufen, Film-Essays, Wissenschaftsgeschichten, zu allen Stoffen und Filmformen, die aus zeitlichem Abstand erzählt werden und nach einer Gesamtperspektive verlangen. Er ist fehl am Platz bei akuten Geschehnissen. Außer bei einem Satire-Format. ▶ „Nachdenken“ mag langweilig klingen – „Nachdenken“ wirkt aber kurzweilig und anregend - mit Szene und Sound. Satiren und Glossen bekommen durch den „Engel auf der Wolke*“ ganz besondere Schärfe. Die ironische Wirkung entsteht oft aufgrund des „Blick von Oben“, welcher – ähnlich wie Flugaufnahmen bei der archäologischen Forschung die Grundrisse verschwundener Orte zeigen – die tief verborgen liegenden Strukturen des Geschehens und der handelnden Personen in aller Begrenztheit und Kurzatmigkeit erkennbar werden lässt. Lode Desmet: Hinter dem Brexit – Protokoll einer Scheidung“; ZDF-arteD 2019; Inhalt: Verlauf des Brexit-Austrittsprozesses vom Referendum 2015 bis März 2019 aus der Sicht des Brexit-Lenkungsausschusses des EU-Parlaments mit Guy Verhofstadt.

6 Welche Dokumentarischen Textperson-Typen sind günstig?

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Textperson: „Engel auf der Wolke“, weiblich. Die englische Fassung des Films hat die männliche Variante. https://www.arte.tv/de/videos/078744-000-A/hinter-den-kulissen-des-brexit/ (deutschsprachige Fassung) https://www.youtube.com/results?search_query=Lode+Desmet (englischsprachige Fassung)

6.11

Öffentlich reden – Festredner, Geburtstagsredner, Trauerredner

Journalisten und dokumentarisch arbeitende Filmemacher berichten über öffentliche Reden – wir können sie zusammenfassend als Anlassreden bezeichnen – sie halten solche Reden in der Regel nicht selbst. Die Textperson aber, die den Film zu einem Anlass erzählt, kann die Rolle eines öffentlichen Redners bekommen und den Film von anderen Berichtsformen abheben. Zur berufsüblichen Chronistenpflicht zählt die Berichterstattung über • Feste und Feierstunden (z. B.: der Nationalfeiertag; das Oktoberfest; die Party am Brandenburger Tor zu Neujahr oder Weltmeisterschaft); • Gedenktage (z. B.: der Volkstrauertag; der 1. Mai; 70 Jahre Auschwitzbefreiung); • Eröffnungen einer wirtschaftlich, politisch oder gesamtgesellschaftlich wichtigen Veranstaltung (z. B.: Buchmesse; Salzburger Festspiele; Berlinale; Modewoche); • Preisverleihungen (z. B.: Büchnerpreis; Friedenspreis des Deutschen Buchhandels); • Runde Geburtstage von Lebenden (z. B.: der 70-ste; 80-ste; 90-ste); • Geburtstage und Todestage von Verstorbenen (z. B.: der 250-ste); • Wechsel, Abschied und Neu-Anfang in wichtigen öffentlichen Institutionen (z. B.: Parlament; Regierung; Unternehmen; Sportclub; Fernsehsendung; Orchester; Intendanz); • Nachrufe. Jeder dieser Anlässe hat in der Lebensrealität für die Beteiligten einen besonderen Erlebnischarakter. Die Eingeladenen und Beteiligten begehen den Anlass mit den dazu passenden Emotionen; sie wissen, dass keiner dieser Anlässe einfachhin Alltag ist. Bei der Neujahrsparty oder der Parlamentseröffnung ist das offensichtlich; es stimmt aber selbst an Jahrestagen, an denen man sich nur mühsam erinnert, warum ein Mensch, der vor 250 Jahren geboren wurde oder starb, heutzutage noch wichtig 171

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Teil 1 Textperson und Filmtext planen

sein sollte. Genau dies aber muss die dem Anlass entsprechende Rede leisten: die Verbindung und Bedeutung des Anlasses über den Tag hinaus für das Publikum zu begründen und erlebbar zu machen. Jeder Anlass stellt spezifische Anforderungen, denen Redner* entsprechen müssen, wenn sie nicht Spott, Müdigkeit, Missachtung oder einen Shitstorm ernten wollen. Sie sind dies dem Publikum mehr schuldig als sich selbst. Denn in einer öffentlichen Rede spricht zwar eine Person zum Publikum; eigentlich aber macht diese Person nur öffentlich, was das Publikum fühlt und denkt; und die Rede kann die Menschen auf neue Gedanken bringen, die den Anlass emotional und im Verstehen vertiefen. So kann eine öffentliche Rede witzig sein oder ernsthaft, routiniert oder aufrüttelnd; sie sollte das Publikum in Herz und Verstand bewegen. In der Lebensrealität gehört der journalistische Berichterstatter zum Publikum im weiteren Sinne, denn sein Bericht wird seinem jeweiligen Medien-Publikum Inhalt und Bedeutung der Veranstaltung und der Rede vermitteln. Der Textperson-Typ „Öffentlicher Redner*“ übernimmt von den unterschiedlichen Rednern in der Lebensrealität wesentliche Elemente: • er/sie ist selbst ein öffentlicher Redner*, weil er dem Publikum einen Film präsentiert, in welchem dieser Textperson-Typ erzählt. Da dem Publikum öffentliche Reden aus der eigenen Lebenserfahrung bekannt sind, spürt und erkennt es diesen Textperson-Typ und erwartet die Ausdrucksweise eines öffentlichen Redners; • er/sie respektiert und nutzt in Ausdrucksweise, Logik und Faktenauswahl die Besonderheiten – und oft Einschränkungen – des jeweiligen Anlasses, welche durch das Profil der Textperson (z. B.: Trauer, Geburtstag, Verabschiedung) definiert werden; • er/sie kann die in öffentlichen Reden mögliche direkte Ansprache des Publikums übernehmen, sogar einschließlich der Anreden und anlassüblichen Formulierungen („Meine Damen und Herren“; „Sie werden also verstehen…“; „Wir alle…“) • er hält sich – ohne zu imitieren – an die einer öffentlichen Rede jeweils angemessene Struktur • er zeigt, je nach Definition der Textperson, eine eher gemessene und unaufdringliche Sprechgestaltung oder er formuliert auffordernd und dramatisch, möglicherweise auch provokativ. Zwischen öffentlichen Rednern in der Wirklichkeit und dem Textperson-Typ „Öffentlicher Redner*“ gibt es allerdings einen gewichtigen Unterschied: Diese Textperson kann zu jedem Thema passen, bei dem sie, inhaltlich stimmig, einen

6 Welche Dokumentarischen Textperson-Typen sind günstig?

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dramaturgisch wirksamen Kontrast zu Anlass, Inhalt und filmischer Gestaltung zeigt. Der „Öffentliche Redner*“ ist nicht an einen offiziellen Anlass gebunden. Das Thema: Überlegungen der Europäischen Finanzminister zur Abschaffung von Bargeld. Hierzu kann eine Textperson „Geburtstagsgratulant“ dem Bargeld zum 3776sten Geburtstag gratulieren und ihm ironisch alles Gute für die Zukunft und den „wohl verdienten Ruhestand“ wünschen. Es könnte aber auch ein „Trauerredner“ das vorzeitige Ableben beklagen und die Verdienste des Bargeldes rühmen. Welche Fakten die einzelnen Varianten des Typs „Öffentlicher Redner*“ nutzen, richtet sich nach ihren Vorbildern in der Lebensrealität; so sind sie an der Faktenauswahl erkennbar und unterscheidbar. An einem Festtag wird vom „Redner*“ erwartet, dass er sich nicht in Verwaltungsdetails verliert, sondern vorwiegend Erinnerungen aktiviert, Traditionen beschwört, Schwierigkeiten nicht auslässt. Und dass er/sie die Auffassungen der aus unterschiedlichen Herkünften und Motiven Anwesenden berücksichtigt. An einem Festtag werden vom Publikum auch Zukunftspläne wenigstens als Skizze erwartet. Beim Trauerfall geht es um Verdienste und Positives, um eingestreute, das Positive und Persönliche unterstreichende Anekdoten, um Fakten, welche der verstorbenen Person ihr gesellschaftliches Gewicht verleihen und ihr eine Bedeutung für die Zurückbleibenden geben. Eine Aufzählung der Lebensdaten und Verdienste reicht in einem solchen Fall nicht aus. Trauernde suchen ein letztes Mal nach dem Besonderen, gerade wenn z. B. ein bekannter Musiker, eine hoch geschätzte Politikerin, ein mit vielen persönlichen Erlebnissen verknüpfter Gegenstand wie die D-Mark verschwunden sind. Die Beispiele zeigen, dass der Textperson-Typ „Öffentlicher Trauer-Redner*“ als Filmtext auch in Situationen sinnvoll sein kann, die man üblicherweise nicht als persönlichen Verlust eines Menschen erlebt. Zu einem Geburtstag gehören Erlebnisse mit der Person oder Institution, die Geburtstag hat, kleine, den Charakter und das Vorgehen kennzeichnende Szenen, Witze, nicht bösartig ausgedrückte Schärfen. Das Erwähnen von Verdiensten und Positivem überwiegt. Überwundene und noch bevorstehende Hindernisse werden gewürdigt. Man kann die Form der Geburtstagsrede sogar zu einer kalten Abrechnung nutzen, was ebenfalls zu diesem Textperson-Typ passt (z. B. der 156ste Geburtstag des Bayer-Konzerns 2019, bei dem als irritierendes Geschenk die Monsanto-Übernahme auf dem Tisch liegt). 173

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Teil 1 Textperson und Filmtext planen

Bei einer Begrüßung und öffentlichen Einführung wird erwähnt, wie unbekannt der, die oder das Neue ist. Gerüchte können geschildert werden. Vor allem aber werden die Aufgaben und Schwierigkeiten skizziert, mit denen sich der, die oder das Neue (z. B. ein Gesetz) wird auseinandersetzen müssen; und ans Ende gehören Erwartung, Hoffnung und gute Wünsche. Bei einer Preisverleihung erwartet jeder Anwesende, dass die „Rednerin*“ sich ausdrücklich auf den Grund für den Preis bezieht, dass sie sich inhaltlich mit dem Werk dessen auseinandersetzt, der den Preis bekommt; unerlässlich ist es, ausdrücklich eine Beziehung dieses Werks zum Publikum herzustellen. Auf diesen Fakten beruht dann der Glückwunsch. ▶ Ausprobieren! – Zuschauer mögen auch solche Erzähltypen! Der Textperson-Typ „Öffentlicher Redner*“ setzt die Schilderung der Geschehnisse oder deren Kenntnis voraus. Er kann keine Meldung liefern und keinen faktenstarken Hintergrundbericht erzählen. Daher wirken Textpersonen dieses Typs gut in so genannten B-Stücken (der Film, der auf eine Meldung folgt und Hintergründe beschreibt) einer Magazin-Sendung. Sie schärfen auch Anreiz schaffende Anspiel-Filme am Anfang eines Talks oder einen Rausschmeißer am Magazin-Ende. Weil dieser Textperson-Typ kommentiert, kann er in vielen Sendungsformen die gewohnten Darstellungsweisen ergänzen und die Berichterstattung insgesamt schärfen. Der „Öffentliche Redner*“ passt seiner eigentlich ernsthaften Natur gemäß in Satire-Formate, weil dort Bildsituation und Textperson einen sehr großen Kontrast bilden sollten. Jedoch kann er ebenso gut als Interesse weckende Alternative zu dem oft üblichen „Professor“ wirken; in einem zusammenfassenden, Übersicht schaffenden 30-Minuten-Film zu einem bereits gut bekannten Thema. Textperson: „Junger Öffentlicher Redner*“ in einem Film über die Schwierigkeiten der EU: „Irgendwann, vor vielleicht einem Jahr, haben wir aufgehört daran zu glauben, dass Sie wirklich die Staatschefs und Chefinnen sind. Oder Ministerpräsidenten. Ihr seid Leute, die Macht haben – jedenfalls von uns bekommen – Europa zusammenzubringen und sich darauf zu einigen, wie das funktionieren soll. Klar: Sie haben auch sonst viel zu tun: Klimaschutz, Trump, Erdogan, und die Russen. Dazu noch den Brexit, bei dem man noch nicht wissen kann, welchen Schaden wir in Europa davon haben. Aber warum Sie keine Lösung für Migranten zustande kriegen? Einer, der ist noch nicht mal Ministerpräsident, hat einfach die Häfen zugemacht und denkt, das Problem wäre dann weg. Ihr denkt das vielleicht auch,

6 Welche Dokumentarischen Textperson-Typen sind günstig?

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haben wir so den Verdacht. Warum lasst Ihr euch das gefallen? Wir haben Euch nicht gewählt, damit jeder von Euch was Anderes macht. Wir haben Euch gewählt, damit ihr Euch einigt. Und Lösungen findet. Und durchhaltet. Dafür habt Ihr die Macht. Wir haben sie ja nicht.“

6.12 Überreden Jemanden zu überreden, gehört nicht zur Kernaufgabe dokumentarisch-journalistischer Darstellung: Phänomene zu erläutern oder Fragen zu erklären aber wohl. Und ein wesentlicher Aspekt dokumentarischer Arbeit im Fernsehen besteht darin, den Zuschauern das Verstehen auch so genannter schwerer Sachverhalte leicht zu machen. Dann liegt die Vorstellung nahe, Zuschauer direkt anzusprechen, so als rede man unter Freunden, Buddys oder Kollegen. Man ist sehr nahe beim Überreden, weil man die Aufmerksamkeit gewinnt, neue Gesichtspunkte ernsthaft wirken zu lassen. Eine solche Haltung zeigt Gelassenheit und Lockerheit im Umgang miteinander, wie sie manchen Menschen auch in der Lebensrealität immer wieder auch bei belastenden oder auch inhaltlich schwierigen Themen gelingt. Ein Filmerzähler dieses Textperson-Typs wird den meisten Erfolg haben, wenn er sich als gebildet, weltläufig, kenntnisreich und als jemand erweist, der Beziehungen zwischen ganz unterschiedlichen Inhalten knüpfen kann. Dieser Textperson-Typ lässt sich in sehr unterschiedlichen Spielarten gestalten, von leichthändig bis zu enorm aggressiv. ▶ Bei Servicethemen ist „Überreden“ oft der passende Schlüssel zur Aufmerksamkeit des Publikums.

6.12.1 Animateur* Im realen Leben trifft auf man Animateure in Urlaubsclubs, man stößt auf sie als fliegende Verkäufer, Versicherungsvertreter, Telefonverkäufer und – im Netz – als Anpreiser von Waren, die man meist nicht benötigt. Insgesamt Figuren, die einem oft etwas zu nahe kommen. Man wehrt sie gern ab, außer vielleicht in Clubs, wenn Eltern ihre Kinder den Spiel-Animateuren anvertrauen. Wenn aber Animateurinnen* einen in angenehmer Form ansprechen, ist die spontane Ablehnung häufig nicht von Dauer. Animateure* erzählen von Dingen, die einen interessieren könnten oder schon mal interessiert haben. Und eine freundliche, unaggressiv verlockende 175

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Art lässt einen vergessen, dass man sich für den Inhalt dessen, was der Animateur erzählt, vor kurzem noch nicht interessiert hat. Man folgt durchaus gern solchen Menschen, die einem etwas Fremdes erläutern, so genannte Geheimtipps zeigen und an besondere faszinierende Orte führen. Die persönlich sprechende Animateurin* mancher Katalog-Texte (z. B. Ikea, manufactum, Pro Idee), erreicht offensichtlich die Kundschaft. Von ähnlichen Figuren ist das Netz voll. Der Textperson-Typ „Animateur*“ übernimmt aus dem realen Leben die positive Seite des persönlichen Beratens und die direkte Ansprache des Publikums. Dieser Textperson-Typ steht direkt vor dem Publikum, will nicht belehren, sondern verlocken – oder auch abschrecken und abraten. Das Kennzeichen des „Animateurs*“ ist die direkte Ansprache mit „Sie“ oder „Du“ in allen Spielarten der Direktheit. Frage, Feststellung, Ausruf, Verlockung Warnung gehören zu seinen Ausdrucksmöglichkeiten. Der journalistischen Anforderung entsprechend, geht es diesem Textperson-Typ um harte Information, aber auf andere als die neutrale Weise wie sie z. B. der unbeteiligten „Protokollanten*“, eine Folgen fordernde „Staatsanwältin*“ oder ein professionell zugeordneter „Begleiter*“ zeigen würde. Der „Animateur*“ zählt zu den – nicht eingeladenen – Freunden des Zuschauers. Er möchte unbedingt dessen Gutes, wenn er zurät oder abrät. Diese Ansprechart kann den einen oder anderen Zuschauer auch etwas nerven. Es kommt also sehr auf die Tonlage an und auf eine animierende, ungewöhnliche Faktenauswahl und Formulierung. Wenn diese gelingt, wird das Publikum nicht genervt. Dieter Wieland: „Licht und Lampen“; BR 2002; Inhalt: Lampendesign und Lampenwirkung; Textperson: persönlicher Einrichtungsberater. Leo Favier: „#Moneypulation“; Reihe von 10 Filmen je 5 min.; arteF 2017; Inhalt: eine fiktive Werbekampagne für ein Produkt, z. B. iPhone, Donald Trump, K-Pop. hybrid-dokumentrisch. Textperson: total versierter Berater; hoher Kontrast zu den Bild-Szenen. https://www.arte.tv/de/videos/075937-001-A/moneypulation-1-10/

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6.12.2 Provokateur* Andere Menschen zu provozieren, ist im echten Leben keine alltägliche Haltung, und auch keine journalistisch übliche. Mit Provokationen erntet man selten spontane Zustimmung, außer bei Gleichgesinnten, die gern andere provozieren. Dennoch ist Provokation eine für die Kommunikation wichtige Ausdrucksmöglichkeit. Dann nämlich, wenn man andere Menschen absichtlich auf etwas aufmerksam machen möchte, das sie aus Unkenntnis oder Borniertheit nicht erkennen oder wahrzunehmen sich weigern. Parteien und Populisten am Rande des Wählerspektrums nutzen derzeit oft die gezielte Provokation, um Aufmerksamkeit zu erregen. Sie wollen ihre radikalen Vorstellungen und Formulierungen wiederholt in die alltägliche Kommunikation einbringen, so dass sie als „normal und aussprechbar“ gelten. Journalistisch kann man Provokation nutzen, um gerade auf solche Praktiken aufmerksam zu machen. Provokationen gehören zur bildenden Kunst; sie werden meist in Performances sichtbar und hörbar. In der Musik aller Zeitalter und Formen von Klassik bis Pop und Rock verändert Provokation die Hörgewohnheiten. In der Auseinandersetzung politischer Parteien erzwingt Provokation deutliche Reaktionen und am Ende Begriffs- und Handlungsklarheit. Wer andere provoziert, möchte, dass die Provozierten intensiv reagieren, er möchte sie wecken. Sie sollen neue, bislang ungewohnte Urteilskriterien anwenden, sie sollen sich anders verhalten als bisher. Am Beginn von Veränderungen steht oft eine Provokation. Wer provoziert, schert sich wenig um Hergebrachtes und Übliches. Rücksicht und Abgewogenheit sind nicht die ersten Ziele. Provokateure verletzen ausdrückliche oder unausgesprochene Normen manchmal einfach aus Lust an der Provokation und der irritierten Reaktion. Meist aber soll eine Provokation neue Sichtweisen möglich machen, neue Ideen hervorkitzeln und die Festigkeit menschengemachter Normen prüfen. Insofern stärkt Provokation den Mut der Provozierten. Im Setting psychologischer Experimente werden Provokationen genutzt, um unbewusste Verhaltensweisen von Menschen wissenschaftlich neutral auswerten zu können. Auch im Journalismus findet sich die Provokation im Instrumentenkasten, allerdings meist in der Rubrik „Kommentar“. Provokateure riskieren mit ihrem Verhalten den Widerstand und die Missbilligung der Anderen und nehmen dies in Kauf, weil ihnen der Gesichtspunkt, den sie vertreten, über das Persönliche hinaus gesamtgesellschaftlich wichtig ist. Sie zielen auf schmerzhafte Überraschung der Anderen.

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Der Textperson-Typ „Provokateur“ übernimmt die grundsätzliche Absicht der Provokateure aus der Lebensrealität. Er zeigt alle Facetten der sprachlichen Darstellung, von der Verführung zu unbedachten Reaktionen („Sie denken doch sicher auch, dass Neger einfach nicht deutsch sein können“) bis zum ausdrücklichen Brechen unausgesprochener Normen („Die katholische Kirche ist einfach davon überzeugt, dass sich alles in einem „guten Gespräch“ lösen lässt; und vor allem Übergriffe von Priestern bei Kindern und Frauen. Klar, das ist auch billiger und weniger öffentlich als ein Gerichtsprozess mit Schadenersatzforderungen“) Als Filmtext nutzt dieser Textperson in der Regel die Vieldeutigkeit harmloser Bilder, um die Aufmerksamkeit und das Nachdenken des Publikums zu erhöhen. Dieser Textperson-Typ kommentiert. Die Fakten, welche er nutzt, stellt er sprachlich in einen anderen als den gewohnten Kontext und weckt damit sein Publikum. Es geht bei diesem Textperson-Typ nicht darum, die persönliche Autorenmeinung ungefiltert in die Öffentlichkeit hinauszublasen, sondern dem Publikum schmerzhaft in Form einer „vergifteten Praline“ eine veränderte Sichtweise zu ermöglichen. Dazu benötigt die Textperson häufig inhaltliche Umwege, die scheinbar weit ab vom eigentlichen Thema führen (Bildsequenz von einem Parteitag mit Redner-Großaufnahmen und Totalen; „Amerikanische Ochsenfrösche brüllen um die Wette, denn die Weibchen werden, wie man im Lexikon nachlesen kann, sich mit dem Lautesten paaren. Diese Methode probiert jetzt gerade die NNN-Partei aus …“) Die Textperson „Provokateur*“ darf, um ihr Ziel wirksam zu erreichen, nicht mit der Provokation starten. Zu diesem frühen Zeitpunkt wird sie als ungedeckte Behauptung wirken. Günstiger ist es, die Zuschauer von allgemein Befürwortetem allmählich wegzuführen. Provokation dieser Art entspricht der Ausdrucksform, wie sie der griechische Philosoph Sokrates in seinen Gesprächen pflegte. Oft fanden sich nach einigen Wortwechseln seine Gesprächspartner mit offenem Mund staunend vor ihrer eigenen Borniertheit wieder. Der Textperson-Typ achtet auf eine genaue Ausdrucksweise, welche die Grenze zum Zynischen nicht überschreitet, denn dann würde seine Argumentation gegen Ablehnung und Widerstand nur noch schwer durchkommen. Nahe liegt dieser Textperson-Typ in satirischen Sendeformaten, in Glossen und in gesellschaftlich orientierten Magazinformaten, deren Ziel im Wachrütteln des Publikums besteht. „Liebe Arbeitgeber, wir sind gerade mit der Ausbildung fertig, und die war ok bei Euch. Wir haben Eure Betriebe kennengelernt, und dafür, dass wir viel für den Betrieb gearbeitet haben, haben wir wenig Geld bekommen. OK, Man muss ja

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auch etwas lernen. Aber warum zum Teufel werft Ihr jetzt 58,3 % von uns wieder raus? Und schickt uns zur Arbeitsagentur? Könnt Ihr nicht rechnen? Ihr habt in uns investiert, in jeden und jede von uns fast 100.000 Euro. Wollt Ihr das Geld nicht wenigstens wieder rausbekommen. Denn das haben wir ja auch gelernt von Euch: alles muss sich rentieren. Wir würden uns sehr gut rentieren. Wir müssen Eure Betriebe nicht neu kennenlernen. Wir können für Euch direkt in der Produktion und in Projekten Geld verdienen. Wir hätte da sogar Ideen für neue Produkte. Weil wir jung sind, wären wir sogar billiger, als wenn Ihr neue Alte einstellt, von der Arbeitsagentur. Was Ihr doch eh müsst, weil Euer Geschäft gerade wächst …“

6.13 Imitieren Kinder ahmen nach, was Erwachsene zeigen, Schüler und Lernende aller Gewerke ahmen nach, was die Meister (oder Alpha-Personen) vormachen, Gruppenmitglieder sprechen so, wie es der gerade herrschende Gruppenstil verlangt (z. B. wie Controller oder Gangsta-Rapper). Wer etwas imitiert, findet Spaß daran, möglichst genau das Original zu treffen. Wer einer Imitation begegnet, genießt die Wiedererkennbarkeit des Imitierten und hat Freude am Kontrast zwischen Genauigkeit der Imitation und der tatsächlichen Situation (Alter, Geschlecht, Rang) des Nachahmenden. Aus einer Imitation kann eine spielerische oder auch eine bittere Stimmung entstehen. Das Muster, dem dieser Textperson-Typ folgt, ist uns in der alltäglichen Kommunikation vertraut. Die Textperson-Typen, die sich aus diesem Muster entfalten, benutzen absichtlich Kommunikationsformen aus fernsehfremden und nichtfilmischen Situationen, (z. B. aus Schrift oder Internet). Und sie imitieren typische – oft bereits Klischee gewordene – Sprechhaltungen, die dem Publikum vertraut sind, (z. B. Politiker-Sprech, Kanak-Sprak, Verwaltungsdeutsch oder den Tonfall von Werbebriefen und Katalogen). Die Imitation verlangt Anpassung an Denkstruktur, Sprechduktus, Wortwahl, Tonfall, Rhythmus und Kommunikationsabsicht des Originals. Und als Grundlage eine genaue Kenntnis dessen, was man imitiert und des Sachverhalts, den man durch die Imitation treffen möchte. Jemanden zu imitieren, gilt als journalistisch unprofessionell, gehört aber zu den Gestaltungsformen von Satire, Comedy und Komik, die ja auch zum journalistischen Repertoire zählen. Imitation kann auch in seriösen dokumentarischen Filmformen 179

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und auf gewohnten Sendeplätzen einen hohen Kontrast zu Bild und Ton erzeugen und den Unterhaltungswert erhöhen, (z. B. bei Reisefilmen, in Serviceformaten oder bei vermutlich unattraktiven Themen der Politik und in Regionalmagazinen) wenn auf dem Sendeplatz Imitation verstanden werden kann. In Nachrichtensendungen würde diese Textperson sehr irritieren. Wer Personen, Gruppen oder Schriftliches imitiert, setzt eine aktuelle Vertrautheit des Publikums mit diesen Personen und Stilformen voraus. Sonst kann die Imitation nicht wirken, weil dem Publikum der Vergleich mit dem Original fehlt. Die Textperson-Typen des Imitierens verlangen – verglichen mit anderen Textperson-Typen – besonders viel Übung und Sprachgefühl. Denn wenn man die Imitation übertreibt, wirkt sie als Karikatur und wirkt nur in einem erkennbar satirischen Umfeld. Wird sie als Imitation nicht deutlich erkennbar durch charakteristische Formulierungen und Logik, verliert der Filmtext seine Spannung zum Bild, seinen Witz und die gestalterische Plausibilität. Man muss das Original genau kennen, damit die Imitation wirkt. Naturgemäß lassen sich vielerlei Ausdrucksformen imitieren. Hier einige davon.

6.13.1 Kurzbotschaft In der Realität heißen Kurzbotschaften alle Formen von knappen Mitteilungen zwischen Personen, vom Notizzettel bis zu Twitter, Whatsapp und ähnlichen Kommunikations-Apps. Der Textperson-Typ „Kurzbotschaft“ konzentriert sich auf vielfach genutzte öffentliche Formen. Im Netz sind Kurzbotschaften die Fortsetzung der alten Form „Telegramm“ und „Postkarte/Ansichtskarte“. Der Textperson-Typ imitiert die Form dieser Medien, kann diese Form aber mit Recherche-Fakten füllen, die in realen SMS, Twitter oder Postkarten nicht erscheinen würden. SMS hat einen Header und muss in 160 Zeichen die Gedanken des Schreibenden ausreichend und vollständig ausdrücken. SMS werden an eine oder mehrere bestimmte Personen gerichtet, wirken also privat. Als Textperson „SMS“ in einem Film werden mehrere SMS gekoppelt und mit Zwischenpausen auf die Szenen gesetzt. Die Textperson „SMS“ spricht nicht im Fließtext, weil dies der Knappheit und dem jeweils abgeschlossenen Inhalt der einzelnen SMS zuwiderläuft. Die typische SMS-Kürze ist charakteristisch für diese Textsorte und auch für die Textperson. Ebenfalls typisch sind klare und konkrete Ausdrucksweise, knappe, auch unvollständige Sätze, eine Mischung von Fakten zur Befindlichkeit des Schreibenden, Meinungen, auch Nebensächlichkeiten.

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Eine SMS richtet sich an einen erkennbaren Adressaten. Das kann der Zuschauer selbst sein oder ein auf Grund der SMS erkennbarer Jemand. Die Textperson „SMS“ imitiert diesen Stil exakt, so dass für das Publikum die SMS als Originalform spürbar und erkennbar bleibt, die aber nur Inhalte präsentiert, die recherchiert und für die Geschichte relevant sind. Die Grenze der 160 Zeichen muss nicht eingehalten, sollte aber auch nicht deutlich überschritten sein. Der Filmtext besteht also aus mehreren SMS. Die SMS passt eher zu kurzen als zu langen Filmformen und eher zu beobachteten als zu reflektierten Inhalten. Twitter geht als Statusmeldung von 140 Zeichen Länge an die eingetragenen Follower. Das können sehr viele sein. Twitter ist insofern ein öffentliches Medium, weil es sich letztlich an eine unbestimmte Anzahl von Menschen richtet. Mit Twitter schickt man Berichte zum eigenen Befinden, zu dem, was man gerade tut, was um einen herum gerade passiert und was man gerade denkt. Die unmittelbare Reaktion auf Geschehnisse macht für die Leser den Reiz von Twitter aus. Bei der Textperson „Twitter“ stellt sich der Filmtext als ein Strom von akustischen Twitter Meldungen dar. Die jeweiligen Inhalte der einzelnen Twitter-Botschaften müssen – ebenso wenig wie im Original – einen folgerichtigen logischen Zusammenhang zeigen. Sie sind persönlich, äußern Meinungen und Sachverhalte unmittelbar nebeneinander. Die inhaltliche und sprachliche Sprunghaftigkeit ist typisch für diese Textperson. Die Zuhörer erkennen den typischen Twitter-Charakter der Sprache, die einen hohen Kontrast zu den Filmszenen und dem Inhalt bildet. Daher ist diese Textperson sehr geeignet für knappe satirische Filme und auch für Reisefilme und für Filme über Kunst. Whatsapp ermöglicht als dialogisches schriftliches Kommunikationsinstrument auf Smartphones eine rasche Verständigung mit unmittelbaren Antworten zwischen zwei Personen und in Gruppen. Es ist kein Wort hörbar. Die Textperson Whatsapp imitiert das schriftliche Kommunikationsmedium. Man kann es als gesprochenen Gesamttext mit zwei Sprechern für einen kurzen Film nutzen. Oder schriftlich als Unterbrechung eines gesprochenen Filmtextes, der eine andere Textperson hörbar werden lässt. So erweitert sich das Repertoire der Filmtext-Darstellung. Und man kann Whatsapp direkt als Film imitieren, bei dem ein Whatsapp-Bildschirm sichtbar ist.

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„Plopp 1“ und „Plopp 2“, jeweils 4 Min. Sendereihe und Netzpräsenz; arte 2018 und 2019; Inhalt: je Sendung ein Allerwelts-Thema mit oft überraschendem Verlauf (z. B. „Ein Baby bekommen“; „Sich eine Meinung bilden“; „Die Jahresbewertung“); Textperson: Imitation eines Whatsapp-Dialogs. https://www.arte.tv/de/videos/RC-014277/plopp/ Postkarte ist ein altes (seit 1870), Ansichtskarte ein etwas jüngeres (seit 1900) Medium für Kurzbotschaften. Postkarten dienten, als Alternative zum Brief, der offenen knappen schriftlichen Kommunikation, auf Ansichtskarten lässt der Absender in wenigen Worten auf der Rückseite eines Bildes jemandem einen Gruß zukommen, oft verbunden mit einer Erläuterung des Bildes oder einer Anmerkung zu sich selbst. Darin ähneln sich Ansichtskarten, Twitter, Whatsapp etc. und Selfies. Heutzutage ist die Postkarte ausgestorben, die Ansichtskarte aber ist noch immer typisch für eine Reise-Situation, in welcher der Absender dem Empfänger mehr Emotion zeigen möchte als mit einer Twitter-Meldung oder auf Signal, Whatsapp und Instagram. Der Schreiber ist unterwegs, der Empfänger zu Hause. Postkarten bringen trotz ihrer Offenheit – jeder Briefträger kann sie lesen – eine persönliche und private Botschaft, aber eben keine geheime. Für den Textperson-Typ „Postkarte/Ansichtskarte“ nimmt das Film-Bild den Platz des Fotos auf der Schauseite der Karte ein. Der Zuschauer sollte sich einen Empfänger vorstellen können, der sich um den Absender Sorge macht und sich über dessen Botschaften freut. Autoren* können sich also sinnvoll vorstellen, an wen genau die Textperson „Ansichtskarte“ sich richtet und in welchen Situationen sich Empfänger und Absender befinden. Das lässt sich im Textperson-Profil konkretisieren. Die Textperson wird plausibel, indem sie den Filmbildern für Empfänger und Absender eine persönliche Bedeutung gibt (z. B. eine Anspielung, eine Erinnerung, etwas Überraschendes, eine Sehnsucht). Es muss nicht dieselbe Bedeutung für beide haben. Die Textperson „Ansichtskarte“ zeigt sich im Filmtext – ähnlich wie andere Formen des Typs „Kurzbotschaft“ als Abfolge unterschiedlicher Textstücke, die sich in Inhalt und Stil sehr unterscheiden können. Dadurch entsteht die Vorstellung von einer lebendigen intensiven Reaktion der Textperson auf die Filmszenen zusammen mit deren Bedeutung für den Empfänger. Mit der Textperson „Postkarte/Ansichtskarte“ gewinnen Autoren* die Möglichkeit Textformen alter (z. B. Bild von 1923) und moderner (aktuelles Bild) Form zu nutzen. Je nach Inhalt des Films bieten beide Textformen einen spannenden Kontrast zu den Filminhalten.

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6.13.2 Offener Brief / persönlicher Brief an … Offene Briefe sind in der Lebensrealität nicht alltägliche, aber gerade deshalb höchst wirksame Mittel, Verantwortliche auf ihre Verpflichtungen hinzuweisen, öffentlich zu klagen, Amtsträger zum Handeln zu zwingen oder zu Aktionen zu provozieren. Der Offene Brief kann schriftlich zugestellt werden und danach erst veröffentlicht oder umgekehrt. In jedem Fall wird er in einem Trägermedium (z. B. Netz; Zeitung; Zeitschrift; Plakat) einem großen Publikum präsentiert. Darüber hinaus ist der Offene Briefe eine literarische Form, z. B.: als schriftliche Geburtstagsrede (Anna Seghers an Christa Wolf), als Literaturkritik (Marcel Reich-Ranicki an Günter Grass) oder als Kolumne („Post von Wagner“ in BILD). Als Offener Brief können auch die oft zudringlichen Werbebriefe an definierte Kundengruppen gelten, denn sie richten sich nicht an eine bestimmte Person. Der Offene Brief kommt von einem klar erkennbaren Absender, ist an einen deutlich bestimmten Empfänger oder eine Empfängergruppe gerichtet und soll von möglichst großem Publikum gelesen und wahrgenommen werden. Die Textperson „Offener Brief“ imitiert Sprache, Faktengewicht und Argumentation realer offener Briefe. Ausdrückliche Anrede und formeller Schluss müssen vorhanden sein, damit man die Form erkennt. Autoren sollten zuvor klären, welche Art von Offenem Brief mit welchem Ziel jeweils gemeint sein soll, wer genau ihn schreibt und an wen exakt er gerichtet wird. Das Rollen-Profil sollte den Absender klar eingrenzen und ihn für das Publikum deutlich konturieren. Ein Offener Brief von Azubis an den Arbeitgeberverband Metall – als Textperson eines Films im Regionalen – sollte anders klingen als ein Offener Geburtstagsbrief in einer Literatursendung oder ein hoch ironischer Offener Brief von Oberstufenschülerinnen an den Kultusminister in einer Satirischen Sendung wie „extra3“ (NDR) oder „quer“ (BR). Ein Offener Brief als Werbebrief an alle Haushalte müsste die ganze Ausdrucksbreite der dort üblichen Schleimerei, die offensichtliche Einseitigkeit der Argumentation und die übliche Unzahl von Adjektiven enthalten. Der Reiz der Textperson „Offener Brief“ liegt in der direkten Rede an den Adressaten und dem im Vergleich zu üblichen Filmtexten hohen Kontrast zu den Filmszenen. Vergnügen und Befriedigung des Publikums liegen in der Teilhabe an einer offenen Auseinandersetzung. ZDF „wiso“, 2008; Inhalt: Lehrstellenmangel; Textperson: Brief von Abiturienten an die Arbeitgeber. „Wir haben gerade Abi gemacht oder kommen von einer Realschule, und sind richtig gut drauf, etwas mit unserm Wissen anzufangen …“ 183

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Heutzutage sind persönliche Briefe etwas Besonderes, denn die allermeisten Briefe gehören zur Geschäftspost oder sind Werbeschreiben. Daher weckt eine Textperson „Persönlicher Brief“ sogleich hohe Aufmerksamkeit, weil man diesem Medium im Alltag nicht mehr oft begegnet. Die Textperson „Persönlicher Brief“ kann alle Spielarten persönlicher zugewandter Kommunikation übernehmen, die sich in Originalbriefen finden. Dadurch kann er auch ein eher abstraktes Thema intim erzählen. John Webster: „Die Welt ist noch zu retten“; BR 2017; Inhalt: Alternative Lösungen für den Klimaschutz; Textperson: Brief eines heute Erwachsenen an seine Urenkelin, die 2063 geboren werden wird. https://www.youtube.com/watch?v=5611dGLso1Q

6.13.3 Sprechende Betriebsanleitung In der Lebensrealität sind Betriebsanleitungen in Druck oder im Netz trockene, erläuternde Texte, oft mit einfachen Illustrationen für die Vorgehensweise. Betriebsanleitungen wollen klar, einfach nachvollziehbar und vollständig sein. Sie sollen – über grundsätzliche Erläuterungen zu Gerät oder Software hinaus – Fragen über das Vorgehen beantworten, wenn Schwierigkeiten auftreten. Vielleicht können sich Verfasser von Betriebsanleitungen die Situationen nicht richtig vorstellen, in denen Benutzer die Betriebsanleitung benötigen. Und so stürzen solche Texte die Benutzer oft in Ratlosigkeit. Übersetzte Betriebsanleitungen für Geräte aus anderen Ländern klingen manchmal, als habe niemand reale Erfahrung mit dem Gerät oder der Software gesammelt, dessen Handhabung sie erläutern sollen. Solche Texte wirken dann besonders verwirrend. Gerade diese Seltsamkeiten aber sind für eine Textperson „Sprechende Betriebsanleitung“ besonders reizvoll, weil sie mit großer Sicherheit einen hohen Kontrast zu den dokumentarischen Bildern und dadurch einen hohen Unterhaltungswert erzeugen. Der Textperson-Typ „Betriebsanleitung“ imitiert den Stil, die Wortwahl und die Formulierungen realer Betriebsanleitung, wendet diese aber auf Sachverhalte an, in denen genau solche Betriebsanleitungen überhaupt nicht passen (z. B. für Säuglingspflege oder einen Tanzkurs). Damit die Textperson gelingt, checkt man günstigerweise eine ganz bestimmte Betriebsanleitung, die man imitieren möchte

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(z. B. die einer Waschmaschine, einer bestimmten Softwareanwendung oder eines Rasenmähers). Das Textperson-Profil wird um die Charakteristika dieser bestimmten Betriebsanleitungssprache ergänzt. Die Textperson „Betriebsanleitung“ kann als ernsthaft wissenschaftliche Textperson agieren (z. B. in Erklärfilmen). Sie kann aber sehr belustigend und unterhaltsam wirken in Stoffen, für die schon der Gedanke an eine Betriebsanleitung als unangemessen empfunden wird (z.B im Bericht über eine Ausstellung moderner Gemälde oder eine Tagung von Digital-Profis). Und natürlich funktioniert dieser Textperson-Typ in einer Satire-Sendung ausgezeichnet, gerade wegen ihrer sprachlichen Trockenheit. Sie funktioniert nicht bei Präsenter-Filmen, weil sie dann, im Kontrast zur Ausdrucksweise des sichtbaren Präsenters unplausibel und unecht wirken wird. Inhalt: Säuglingspflege; Textperson: Betriebsanleitung. „Wir gratulieren zu Ihrem neuen Baby, das Sie soeben erworben haben. Nehmen Sie es vorsichtig aus der weißen Verpackung, denn es könnte beim Runterfallen ernsthaft beschädigt werden“ …

6.13.4 Werbung Auf Werbesprache (Plakat, Radio, Fernsehen, Netz) trifft jeder im Alltag, weil er der Werbung nirgends ausweichen kann. In allen medialen Formen, vom Plakat über Postwurf und Katalog bis zum Fernseh- und Radioclip oder aufploppenden Bannern im Netz zeigt Werbung häufig erzwungene Nähe in direkter Ansprache („kennen Sie nicht auch…“; „Hier müssen Sie zugreifen!“). Viele Adjektive sind charakteristisch („Wechseln Sie jetzt ins beste Netz“). Nie erwähnt Werbung die Grenzen der Anwendbarkeit. Deshalb fällt auch solche Werbung besonders auf, die Sehnsucht im Zuschauer durch die präsentierte Geschichte und durch Fakten weckt und die typischen Werbeformulierungen vermeidet (z. B. in einem Werbespot von Mercedes über die Lautlosigkeit des Wagens. Text: „Fahr doch endlich los!“ „Wir fahren schon“). Weil das Publikum Werbung gewohnt ist, weckt Werbesprache selbst keine besondere Aufmerksamkeit. Und weil auch journalistische Autoren* mit Werbesprache groß geworden sind, fallen ihnen Werbeformulierungen selbst in eigenen journalistischen Filmtexten nicht sofort auf. In der Praxis kann das leicht passieren. Werbesprache 185

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dient nicht dem journalistischen Ziel der Urteilsbildung beim Zuschauer. Eigene und präzise Formulierungen für die Film-Sachverhalte zu finden, ist in der hektischen Praxis nicht einfach, wird aber vom Publikum durch Interesse honoriert. Der Textperson-Typ „Werbung“ ist demnach ungeeignet für journalistische Berichte, die das Publikum etwas verstehen lassen wollen. „Werbung“ kann aber – genau imitiert – sehr gut in einem satirischen Umfeld funktionieren oder als Textperson für Glossen in Magazin-Sendungen. Damit die gewünschte Wirkung eintritt, muss man vorher genau überlegen, welchen Text-Typ der Werbung man imitieren möchte: ob eine Speisekarte, einen Werbespot, Parteienwerbung oder das regionale Anzeigenblatt.

6.13.5 Katalog Mit der Werbeform „Katalog“, gedruckt, möchte ein Anbieter oder Versender gewissermaßen persönlich und auf lange Zeit Käufer gewinnen. Katalogtext • spricht seriös und zurückhaltend, zeigt oft die Vorstellung vergangener guter Zeiten (z. B. „es gibt sie noch, die guten Dinge …“; manufactum 2004); • oder betont die Gruppenzugehörigkeit des möglichen Käufers; stellt Waren möglichst positiv und anziehend dar, in manchen Katalogen auch mit absichtlich gespreizter Selbstironie (zu einem Tisch: „BISTROT hält, was er verspricht. Der Vierbeiner verbreitet überall eine lockere, lebensfrohe Atmosphäre, wie sie in den beliebten französischen Lokalen der Gastlichkeit üblich ist“; Cairo 2013); • Manche prunken mit ihrer Suchleistung („es hat drei Jahre gedauert, bis wir einen Handwerker gefunden haben…“; „in Deutschland noch kaum bekannt“); • Andere protzen in gedrechselten Sätzen mit Fachbegriffen alter Techniken oder mit ihrer Fachkenntnis („Klassisches Steingutgeschirr, das in einem kleinen Dorf in Nordportugal auf traditionelle Weise im sogenannten Schlickgußverfahren hergestellt wird“, Torquato 2013); • wieder andere zeigen umgarnende Anmache („Weg mit dem lästigen Putzen…“; „kein langes Suchen nach kleinen Knöpfen“; pro idee 2013). Katalogtext ist eine variantenreiche Spielart des positiv konnotierenden, adjektivhaltigen Speisekartentextes („Knackiger Salat mit handgepresstem Olivenöl“).

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Die Textperson „Katalogtext“ imitiert den Stil eines bestimmten Katalogs. Denn eine Mischung unterschiedlicher Katalogtexte macht es schwer, sich das Original vorzustellen. Bei Imitationen aber sollte der Zuhörer das Original wenigstens erahnen können, besser noch, aus Erfahrung kennen. Katalogtext kann sich wie ein realer Katalog auf Materiell-Konkretes beziehen, weckt aber mehr Spannung, wenn er abstrakte Sachverhalte und Fakten so schildert, als wären sie konkrete, anzupreisende, verkäufliche Waren (z. B. „Wir finden, das Leben sollte viel ungezwungener und entspannter sein. Daran hat Dein Zuhause, in dem Dich Tag für Tag wohlfühlst, einen ganz großen Anteil“; Ikea 2013). Wenn man ein Parteiprogramm, ein Gesetzesvorhaben, eine gesellschaftliche Regelung mit dieser Textperson versieht, wird, auf Grund der Katalogspreche, der Kern – und damit oft das Hohle – der Information viel klarer als im üblichen journalistischen Stil. Autoren sollten, um die Textperson „Katalogtext“ zu schreiben, unterschiedliche Katalogtexte in ihrer Struktur und Formulierung genau erfasst haben. Denn die Wirkung steigt, wenn das Publikum den Stil von Manufactum, Discovery, Ikea oder Amazon wiedererkennen kann.

6.13.6 Stil-Imitation Die von der Klassik bis in die Popmusik übliche Praxis, dass Jüngere den Stil von Älteren oder bereits Erfolgreichen imitieren und sie dadurch ehren, funktioniert auch im Filmtext. Dort allerdings vor allem als Überraschungskontrast, als Verfremdung und immer wieder auch als Satire. Die Stil-Imitation benutzt bestimmte Personen und Autoren als Originale, nicht einen Fach- oder Gruppenjargon. Damit eine Stil-Imitation wirken kann, muss der Originalstil dem Publikum einigermaßen vertraut sein, (z. B. als typische Formulierungen von Popmusik-Besprechungen in einem Musikjournal für junge Leute). Die Stil-Imitation kann gelingen als junger Text zu älteren Filminhalten und auch umgekehrt. Gewollt jugendlicher Text kann sehr frisch, aber auch ranschmeißerisch wirken. Betont altertümlicher Text kann sich aufregend, aber auch unzeitgemäß anhören. Wie gut es funktioniert, hängt unter anderem von Sendeplatz oder Netz-Plattform ab und von den dadurch geprägten Erwartungen des Publikums. Der Textperson-Typ „Stil-Imitation“ zeigt besondere Wirkung dadurch, dass ein Inhalt erzählt wird, der zu diesem Stil einen hohen Kontrast zeigt. Die Stil-­ Imitation übernimmt Satzbau, Wortwahl, Rhythmus, Stimmung und Aussageziel vom Original, erzählt aber den zum Filminhalt gehörenden Sachverhalt und wählt, wie bei allen Textpersonen, nur konkrete Fakten aus. Die Stil-Imitation 187

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kann jedes Original mit wiedererkennbarer Textform nutzen: einen Schriftsteller, einen Politiker, einen Filmstar, einen Western, die Nachricht oder den Stil eine Modekolumne. Voraussetzung ist ein genaues Studium des Originals, damit die Imitation nicht verrutscht.

6.13.7 Jargon Als Jargon bezeichnet man in der Lebensrealität die besondere Ausdrucksweise von Mitgliedern einer Gruppe. Wissenschaftlich bezeichnet man Jargon als Soziolekt oder Dialekt. Der Begriff ist nicht immer trennscharf. Für die Arbeit mit Textpersonen kann man als Jargon bezeichnen: • den Fachjargon der Angehörigen einer bestimmten Berufsgruppe (z. B. BWLer, Juristen, Fachleute für Krantechnik oder die Schul-Verwaltung). Mit Fachjargon verknappen Berufsangehörige ihre Ausdrucksweise und präzisieren die Verständigung untereinander, weil sie Fachliches nicht in Alltagsworten beschreiben müssen; • den Gruppenjargon von Menschen eines bestimmten Alters oder einer bestimmten Herkunft, (z. B. Schüler, Studenten, Junge Leute mit Doppelkultur, Menschen aus einem bestimmten Stadtviertel). Der Gruppenjargon von Jugendlichen und anderen sozialen Gruppen bewirkt eine starke Abgrenzung gegenüber Erwachsenen und Nicht-dazu-Gehörenden. Er ist modebestimmt und zeitbegrenzt. Je nach Gruppierung entwickeln sich sehr unterschiedliche Jargons, z. B. unter Schülern einer bestimmten Schule, unter Popmusikfans oder unter Hipstern; • den Politikjargon hört man bei öffentlichen Auftritten von Parteien und Verantwortlichen in Politik oder Verwaltung und bei Pressesprechern von Unternehmen. Mit Politikjargon versuchen die Sprecher sich inhaltlich unangreifbar machen, weil die sehr allgemeinen, abstrakten und formellen Formulierungen des Politik-Sprech mit seinen vielen Behauptungen und Abstrakta eventuelle Nachfrager erst einmal abschreckt. Im Politikjargon zeigen sich von Menschen getroffene und zu verantwortende Entscheidungen häufig als unabänderliche, einer Verantwortung nicht unterworfene Naturphänomene; • die Dialekte verschiedener Regionen; und die von Migranten. Der Begriff „Dialekt“ wird wissenschaftlich auch als Oberbegriff für alle Arten von Sprachvarietäten benutzt. Umgangssprachlich kennzeichnet er die Ausdrucksweise der Menschen einer bestimmten Region, die neben der Hochsprache zur allgemeinen Kommunikation dient. Die ursprünglich nur als „schlechtes Deutsch“ quali-

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fizierten Ausdrucksweisen von Migranten, das Pidgin, und die ausdrückliche Mischung zwischen Herkunftssprache und Deutsch junger Deutscher mit türkischen Wurzeln, das Kanak oder Kanak-Sprak, werden von Sprachwissenschaftlern heutzutage zu den Dialekten gezählt. Ein Jargon wirkt in der Lebensrealität für die Mitglieder der jeweiligen Gruppen identitätsstiftend. Er intensiviert emotional und inhaltlich die Binnenkommunikation. Wer dazu gehören will, muss den Jargon so lange lernen, bis er als Gruppenzugehöriger* akzeptiert wird. Ein Textperson-Typ „Fachjargon“ schließt implizit alle Zuschauer aus, die nicht zur Fachgruppe gehören. Daher ist sie als ernsthafte dokumentarische Textperson ungeeignet. Sie kann aber hervorragende Wirkung als satirische Textperson erzielen, selbst dann, wenn der Fachjargon übertrieben formuliert wird. Ein Textperson-Typ „Gruppenjargon“ liegt immer dann nahe, in denen es thematisch um Belange der jeweiligen Gruppierung geht. Filmautoren müssen aber, um diese Textperson plausibel wirken zu lassen, mit dem entsprechenden Jargon sehr vertraut sein. Denn selbst bei nur wenigen Abweichungen von dem in der Gruppe üblichen Jargon wird eine solche Textperson wie schlecht imitiert und ranschmeißerisch wirken. Satirisch wiederum kann Gruppenjargon sehr überzeugend sein. Allerdings darf er nicht nur ungefähr imitiert werden. Gerade in der Satire muss Gruppenjargon genau formuliert sein, damit auch die Gruppenmitglieder lachen können. Filmautoren sind in der Regel nicht in Gruppenjargons zu Hause. Ihr eigener Gruppenjargon als Jugendliche wirkt schon wenige Jahre später für Jugendliche wie eine Fremdsprache. Und die Gruppensprache der Kinder kennt man als Erwachsener nur noch als sporadisches Zitat. Imitieren kann man sie nicht, ohne lächerlich zu wirken. Der Textperson-Typ „Politikjargon“ kommt häufig unbeabsichtigt vor, wenn Autoren sich auf die Sprache ihrer Recherchequellen zu intensiv eingelassen haben. Man benutzt dann die Sprache der Quellen – aus vermeintlicher dokumentarischer Treue – intuitiv oder absichtlich – als eigene Formulierung. Dieses Vorgehen vergrößert die Distanz zwischen Autoren und Publikum, weil dieses die Autoren spontan ebenfalls zu den Politikern oder Pressesprechern zählt, weil sie genau so klingen. Im satirischen Kontext hingegen wirkt eine Textperson „Politikjargon“ ausgezeichnet.

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Olli Dittrich: „Der Sandro-Report“; WDR 2016; Inhalt: Reporterunglück beim Staatsbesuch; Textperson: Sich souverän gebender, unermüdlicher mitteldeutscher Life-Reporter. Jargon ist der Textperson-Typ des Insiders. Eines Erzählers, der sich im Fach, in der Gruppe, im Milieu behände und clever sprachlich bewegen kann. Daher ist Jargon durchaus eine Textmöglichkeit, wenn ein Film sich vom Fernseh-Üblichen absetzen soll. Aber der Schritt vom Gekonnten zum Lächerlichen ist sehr klein. Jemand, der einen bestimmten Jargon-Textperson-Typ benutzen möchte, muss sich sehr genau im jeweiligen Jargon auskennen. Denn leicht werden die wirklichen Jargon-Nutzer den Film als Imitat-Versuch verlachen. In vielen Fällen erzielt man mit Jargon die besten Ergebnisse, indem man eine Textperson wählt, die sich in das Thema oder die Gruppe hineinfinden muss (z. B. Student, Aspirant, Forscher, Entdecker) und den Jargon ausdrücklich zu lernen versucht und zitiert. Diese Vorgehensweise hat zugleich den Vorteil, die Kenntnis der Autoren und die Kompetenz der Recherche zu betonen. ▶ eindeutig nicht-journalistische Textpersonen frischen Magazinsendungen auf und machen Satireformate lebendig. Der berufliche Jargon ist in der Lebensrealität oft ein Grund fürs Weghören, weil alle, die nicht zur Berufsgruppe gehören, ihn nicht vollständig verstehen oder gar nicht folgen können. IT-Gespräche am Hotel-Frühstückstisch, Juristenprosa auf Geburtstagsfesten, Politik-Fachsimpeln auf dem Gartenfest sind keine Freude für die anderen. Als Imitation aber lässt ein beruflicher Fachjargon die Leute zuhören und bringt sie zum Schmunzeln, Lachen und Reagieren. Das gelingt, sobald der Inhalt, über den man in einem solchen Jargon redet, weit entfernt ist von dieser beruflichen Praxis (z. B. Bild: Kleinkinder spielen mit Playmobil-Figuren; Textperson: ein Versicherungsjurist bewertet im typischen Versicherungsjargon die Gefahrensituation des Kindes und die Haftungsrisiken der Eltern). Den hohen Kontrast zwischen Berufsjargon und Inhalt nutzen viele Büttenredner* im Karneval und in die Macherinnen* in Satire-Programmen. Er kann aber durchaus in eine Service-Sendung passen. Der Textperson-Typ „Imitation eines Berufsjargons“ konzentriert sich auf die Fachsprache eines bestimmten Berufes und auf das in der Gesellschaft umlaufende Berufsklischee (z. B. der „männliche Jung-Banker“; die „Assistentin eines Museumskurators mit Kunststudienabschluss“; der „Malermeister mit 30 Jahren Berufserfahrung“). Bei diesem Textperson-Typ prägen – im Unterschied zu allen

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anderen Textperson-Typen – der Beruf selbst und der dazugehörende Jargon die Formulierungen. Andere Textperson-Typen zeigen eine spezifische, dem Inhalt und dem Verstehen förderliche Fachlichkeit (z. B. „Rechtsanwalt“, „fachliche Begleiterin*“). In der Imitation hingegen soll der dem Publikum alltagsfremde Jargon auf einen Inhalt treffen, für den dieser Jargon ungeeignet ist. Dadurch wird Aufmerksamkeit geweckt. Nahliegen würde, dass die „Imitation eines Berufsjargons“ vor allem für satirische und comedyartige Darstellungsformen günstig wirkt. Erstaunlicherweise aber funktioniert er auch für ernsthafte Stoffe und lange Filme, die nur wenig Text benötigen, und deren eher trockener Inhalt durch den hohen Kontrast, den die Textperson dazu erzeugt, mehr Interesse wecken können. Michael Wende: „Der Taktstock“; BR 2012; Inhalt: der Bamberger Dirigentenwettbewerb; Textperson: Der „Taktstockmacher“, nörgelig und etwas muffig; DVD, Bel Air 2012.

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Sich verwandeln

Das Handlungsmuster „Sich verwandeln“ ist jedem Menschen von Kindheit an vertraut und auch für viele Erwachsene ein vergnügliches Spiel mit Rollen. Kinder können wie selbstverständlich als Tiere oder Bauklötze agieren. Erwachsenen fällt das schwerer; doch hört man in fast allen Interviews mit Schauspielern, dass gerade dieser Aspekt ihrer Arbeit sie fasziniert, wenn sie als Autos oder Kastenbrot stimmlich agieren können. Sich in etwas ganz anderes zu verwandeln, weckt die lustvolle Entdecker-Anstrengung, herauszufinden, wie es sich anfühlt, das andere zu werden. Man testet, wie die Umstehenden und Freunde reagieren. Im Netz ist „Sich Verwandeln“ vielfältiger Alltag. Auf den ersten Blick widerspricht eine solche Idee der journalistischen Seriosität. Aber zu den möglichen Varianten dokumentarischer Darstellung zählt auch, sich vorzustellen, in welcher Weise Sachverhalte sich aus der Sicht von Tieren oder Gegenständen, von Pflanzen oder Gebäuden extrem anders – reizvoll oder auch beängstigend – zeigen könnten. Sich bewusst in die Perspektive eines am Filminhalt beteiligten Lebewesens oder Gegenstandes zu versetzen, ist bei Recherchen eines der erkenntnisfördernden journalistischen Werkzeuge. Dabei entsteht ein Gespür für Sichtweisen, welche die der bereits vorhandenen Quellen und deren 191

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Kommunikationsabsichten – Betroffene oder Mächtige – in Frage stellen (z. B. in Darstellungen der Luftverschmutzung, des Artensterbens oder der Überfischung der Meere). Ein radikaler Perspektivwechsel ist auch für den Filmtext zuweilen sinnvoll, weil man in unterhaltsamer Weise die notwendige Informationsdichte halten kann. Denn Der Textperson-Typ „Sich verwandeln“ erfüllt vor allem eine Unterhaltungs-Anforderung und zeigt Erzähler als dokumentarisch möglich, die sonst nur in literarischen Erzählformen vorkommen: sprechende Tiere, Gegenstände, Häuser, Flüsse, Zauberfiguren und Geister. Wenn ein Filmtext ausdrücklich (z. B. als Hund) einen Stadtteil erkundet oder (z. B. als Keyboard) den Auftritt seiner Band miterlebt, lässt dieser Perspektivwechsel das Publikum aufmerksam werden. Solange ein solcher Filmtext den Anforderungen an Faktengenauigkeit, Plausibilität und Konsistenz der Erzählhaltung entspricht, erfüllt ein Film auch die Anforderungen an die Information. Es kostet allerdings Arbeit, sich genau mit der Psyche von Hunden auszukennen oder der Gefühlslage von Häusern, deren Bewohner entmietet werden, damit das Haus abgerissen werden kann. Die Entscheidung für den Textperson-Typ „Sich verwandeln“ muss meist noch vor dem Dreh fallen, denn die Kameraführung wird die visuelle Perspektive der Textperson plausibel darstellen müssen, ob sie z. B. klein ist (z. B. Dackel) oder fliegt (z. B. Adler oder Geist) oder sich nicht bewegen kann (z. B. Hut, Haus, Baum). Geradezu selbstverständlich sind solche Textperson-Typen in Satire, Comedy und Komik. Sie können aber eine ebenso intensive Wirkung bei Sach-Themen auslösen; in Magazinformen sicher häufiger als in Langformaten. In der Natur des sich Verwandelns liegt begründet, dass der Textperson-Typ sich in vielen höchst unterschiedlichen – jeweils eigene Anforderungen stellende – Textpersonen auffalten kann. Er kann sich an bekannten Lebewesen oder Gegenständen ausrichten. Er kann als total erdachte Figur auftreten, (z. B. als Hausgeist) oder als im Bild vorhandener Gegenstand (z. B. Ahnenbild, Brosche). Die beabsichtigte dokumentarische Wirkung entsteht umso stärker, je tiefer man sich genau mit dem „Charakter“ und den Handlungs-Umständen der Verwandlungs-Textperson vertraut gemacht hat.

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6.14.1 Gegenstand Gegenstände können naturgemäß nicht sprechen. Aber man traut ihnen zu, dass, wenn sie es könnten, sie sicherlich auch Enthüllendes und Kluges zu sagen hätten. Der Textperson-Typ „Gegenstand“ nutzt diese eigentlich unmögliche Möglichkeit und liefert die Vorstellung eines „was wäre, wenn…“. Gerade, weil eine Textperson dieses Typs sehr ungewohnt ist und immer einen hohen Kontrast zu den Filmsituationen bildet, sichert sie sich spontane Aufmerksamkeit. „Bernd das Brot“ im KIKA hat sich wohl gerade wegen seines mürrischen Charakters im Jahr 2004 einen Grimme-Preis holen können. Sprechende Gegenstände wecken aber – weil sie sich eben normalerweise nicht äußern – auch spontanen Widerstand. Deshalb darf der Vergleich zwischen der Erfahrung des Publikums und den Möglichkeiten des realen Gegenstandes und dessen Auftritt als Textperson nicht negativ ausfallen. Der „sprechende Gegenstand“ sollte wiederhiolt im Bild zu sehen sein. Und die Kamera sollte die Zuschauer mit der Richtung seiner Sichtweise vertraut machen. Wenn man sich diesen Textperson-Typ nicht in konkreter Beziehung zu den Filminhalten vorstellen kann oder wenn die konkrete Textperson „Gegenstand“ sich plump und dümmlich verhält, glaubt man der Textperson nicht, findet den Film übertrieben, unecht und inkompetent. Oder man empfindet die Filmwirkung als unfreiwillig satirisch oder bekommt den Verdacht, dass die Satire Absicht sei. Dieser Textperson-Typ weckt und hält das Interesse, wenn das Publikum durch Inhalt und Form des Textes sich vorstellt, dass die Textperson „Gegenstand“ geistig beweglich ist und seine physische Unbeweglichkeit, die ja immer ein Handicap darstellt, kreativ nutzt. „Abenteuer Erde“, mit Harald Lesch; ZDF 2011; Inhalt: Der Klimawandel; Textperson: „Mutter Erde“, welterfahren, im Gespräch mit Harald Lesch; und als Filmerzählerin der Klimaereignisse 2011. Sylvie Kürsten „Die Band ‚Katzenjammer‘ auf Reise“ in „aspekte“; ZDF 2012; Inhalt: Die Auftritte der Band Mädchenband „Katzenjammer“; Textperson: „Der Bass“, liebt seine Mädchen. „Bernd das Brot“; KIKA, seit 2000; Inhalt: alles was es auf der Welt gibt; Textperson: „Das Brot“, deprimiert, missmutig, aber genau beobachtend.

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6.14.2 Tier Tiere wecken in Kindern spontan die Idee, auch mal als Tier zu agieren. Bei Erwachsenen entsteht dann vielleicht ein „Ottifant“ oder „Ronny“ (Schimpanse als Moderator einer Show im ZDF), die Otto Waalkes erfunden und auch sprachlich dargestellt hat. Erwachsene erinnern sich, wenn sie einer solchen Textperson begegnen, an ihre Kinderzeit und daran, dass sie sich damals noch problemlos in Tiere verwandeln konnten. Die Textperson-Typ „Tier“ ist auch in der Literatur präsent. Berühmte tierische Erzähler sind der Affe Rotpeter in der Erzählung von Frank Kafka „Ein Bericht für eine Akademie“ (1917), der die Akademiemitglieder über das „äffische Verhalten“ aufklärt. Und der namenlose Kater im Roman „Ich der Kater“ des japanischen Autors Natsume Soseki (1906) erzählt kenntnisreich und ironisch über seinen Herrn, einen japanischen Englischlehrer und dessen gesellschaftliche Umgebung. Die Textperson „Tier“ liegt als Erzählerin* im Tierfilm besonders nahe, weil man durch den Wechsel in die Tier-Perspektive zoologische Daten und biologische Sachverhalte dem Publikum leicht und dennoch genau vermitteln kann. Und weil Tiere nun mal die nächsten Verwandten des Menschen sind. Das Publikum wird dann die Lebensweise von Tieren besonders intensiv miterleben. In Wissenschaftsfilmen (Magazin und Langform) kann ein erzählendes „Tier“ das Publikum zu einer miterlebbaren Aktion verlocken, in der die Schilderung dennoch wissenschaftlich genau bleibt. Der Textperson-Typ „Tier“ kann auch im Alltag von Regionalmagazinen immer wieder sinnvoll genutzt werden, weil diese Perspektive Menschenverhalten auf fremdartig-lustige Weise erlebbar macht (z. B. die Hauskatze erzählt von der Gartenarbeit der Familie). Um die Textperson-Typ „Tier“ treffend formulieren zu können, fragt man als erstes: „Welches Tier?“ Ein Hund, eine Schlange, ein Erdmännchen oder eine Kuh? Und dann: „Welche Rasse dieses Tieres?“ Angorakatze, streunende Katze, Dackel, Rottweiler? Die Textperson „Tier“ wird umso glaubwürdiger, je genauer Autoren* die spezifischen Wahrnehmungsmöglichkeiten, Empfindungen und Verhaltensweisen des Tieres kennen und durch Faktenauswahl und Formulierung erkennbar und spürbar machen. Anthropomorphe Formulierungen sind absolutes No-Go, weil sie einem Tier, entgegen den zoologischen Erkenntnissen, menschliches Verhalten und menschliche Eigenschaften andichten werden, über welche es nicht verfügt. Die Vorstellung von zoologisch und tierpsychologisch wichtigen Sachverhalten sollte in der Textperson so entstehen, dass Zoologen sich beim Zuhören nicht ärgern müssen.

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Die zweite Überlegung: „Wie soll die Kamera agieren?“ Denn an der Bildgestaltung solle das Publikum Größe und Verhalten des Erzähltieres spüren und erkennen, damit die Textperson plausibel wirkt. Man benötigt immer wieder Bild-Einstellungen, die der erzählerischen Tier-Perspektive entsprechen. Auch die Textperson „Tier“ kennt – wie alle Textpersonen – alle recherchierten Daten, verwendet sie aber so, wie eben das entsprechende Tier es erfassen kann: eine Katze mit ihrem ausgeprägten Eigenleben und ihren Vorlieben für Vögel und Mäuse, anders als ein großer Hirtenhund, der laufen will. Ein Tier kann einem Menschen ja zuhören, also kann es ihn auch zitieren. Das erleichtert das Einbinden von O-Tönen. Auch kann ein Tier zuschauen, also auf seine Weise beschreiben und sein Verständnis oder Unverständnis ausdrücken, weil es auch in der Lebensrealität auf Menschen differenziert reagieren kann – jedes Tier auf seine besondere Weise. Luc Jacquet: „Die Reise der Pinguine“; 2005; Inhalt: der jährliche Zug der Pinguine; Textpersonen: „Vater Pinguin“. „Mutter Pinguin“, „Kinder Pinguin“, besorgt und aufgeregt. https://www.youtube.com/watch?v=IIkWiWHsJ2w

6.15 Das „Ich“ und das „Wir“ Für Dokumentarische Filme haben sich Autoren*/Regisseurinnen* intensiv in einen Stoff eingearbeitet und oft über Monate oder gar Jahre geradezu hineingewühlt. Es ist „ihr Ding“ geworden, von dem sie dem Publikum erzählen möchten. Das scheint besonders authentisch zu gelingen, wenn man im Filmtext „Ich“ sagt und ihn als persönliches Erleben und Denken formuliert. Wenn der Stoff das Erleben der Zuschauer ebenfalls umfasst (z. B. Gartenbau, Evolution, Umgang mit Ressourcen) könnte auch das „Wir“ diese Gemeinsamkeit ausdrücken. Bestimmte Textperson-Typen (z. B. Begleiten, Plädieren, Beobachten) lassen sich neutral oder auch in „Ich“ oder „Wir“ formulieren. Sobald man sich für „Ich“ oder „Wir“ entscheidet, tauchen Fragen auf, die mit der Wirkung eines Erzählers* zusammenhängen, der im „Ich“ formuliert, mit Filmszenen agiert, unsichtbar bleibt und im Hören verstanden werden muss. Authentizität und Plausibilität, die sich so selbstverständlich erwartbar mit der „Ich-Form“ einstellen, werden plötzlich unscharf. Denn das „Ich“ oder „Wir“ im Filmtext ist – wie jede andere Textperson – eine Rolle, in welcher Autoren auftreten. Die aber wird für das Publikum nicht ohne weiteres als solche erkennbar, weil das 195

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Teil 1 Textperson und Filmtext planen

„Text-Ich“ – unabhängig davon, ob ein Sprecher *oder ein Autor* spricht – spontan mit der sprechenden Person als „Autor /Autorin“ verbunden wird. Deshalb muss die Textgestaltung verdeutlichen, wer dieses „Ich“ und „Wir“ jeweils sein soll und wie nahe es dem Film-Autor persönlich kommen darf. In der Lebensrealität können „Autor*“ und „Erzähler*“ durch die Ich-Form fast identisch werden. Wer vor Publikum (Fernsehen; Radio; Netz; Live) sichtbar in der Ich-Form erzählt, erhebt einen hohen Anspruch: er/sie will selbst Erlebtes und Erkanntes unmittelbar bezeugen und verringert daher für das Publikum die Distanz zwischen sich und dem Erlebten und Berichteten; und auch die zwischen sich und dem Publikum. Das Erzählte gilt seinen Zuhörern dann als selbst erlebt und deshalb authentisch; nicht als angelesen, zusammengesammelt oder sonstwie aus zweiter oder dritter Hand. Glaubwürdigkeit und Kenntnis eines Ich-Erzählers stehen und fallen mit dem Vertrauen in dessen auch private Person. Erzählen in der „Ich-Form“ verengt aber die Argumentation und Beweiskraft auf die konkreten Erlebensmöglichkeiten der erzählenden Person. („Kann sie/ er wirklich dabei gewesen sein?“). Denn ganz besonders verlangen Zuhörer* nach Authentizität für Fakten, zu denen sie keinen eigenen Zugang haben (z. B. weit entfernte Länder, Wissenschaft). Wird das Vertrauen erschüttert, (z. B. durch Nicht-Nachprüfbarkeit oder Fakten-Check, sogar Gerücht oder eine Falschauskunft), fällt die Erzähl-Person ins Nichts. Im freundlichen Fall bleibt dann „Seemannsgarn“ übrig; meist ärgern sich die Leute aber über „Lügengeschichten“ und hören dieser Person nicht mehr zu. Man darf nicht unterschätzen, dass sich in jedem Publikum fachkundige und lebenserfahrene Menschen finden, die den jeweiligen Inhalt genauer kennen, sich nicht gern täuschen lassen und – jedenfalls im Netz – sich auch äußern werden. Das „Ich“ und das „Wir“ werden in der Lebensrealität zu unterschiedlichen Aussagen genutzt. Im persönlichen Gespräch und in Live-Auftritten ist die jeweils sprechende Person physisch anwesend und in der Regel wird zugleich klar, ob „Ich“ den Sprecher selbst und „Wir“ die erzählende Gruppe meint oder ob diese Formulierungen einen anderen Sinn haben. In öffentlichen Rollen meint ein „Ich“ die Rolle der Sprechenden (Parteivorsitzende, Minister, Bürgermeisterin, Vorstand); soll es auch die Person einschließen, muss dies eigens betont werden („Ich persönlich stehe dafür …“). Im Netz (Blogs; Youtube-Kanal; alle Arten von Netzmedien) ist oft nur schwer erkennbar, ob die dort bevorzugte „Ich-Form“ die Präsentierenden in ihrer Performance meint oder als private Personen. Die Haltung der Netz-Protagonisten ist meist klar, aber es ist unklar, ob dies ihre Rolle ist oder ob sie selbst diese Haltung

6 Welche Dokumentarischen Textperson-Typen sind günstig?

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vertreten. Das „Ich“ soll die Authentizität der Erfahrungen garantieren; diese wird aber undeutlich, wenn Netz-Präsenter Erfahrungen mit Produkten behaupten, für die sie von den Herstellern bezahlt werden. Blogger agieren im Netz als Privatpersonen, die sich in Rollen (Werbeträger; Mahner; Video-Macher; Kommentatoren*) inszenieren. Ihre Rollen sind aber in der Regel nicht als journalistisch-dokumentarische definiert und erkennbar. Die Netzpräsenz der ARD „Funk“ ist eine der wenigen, in denen die journalistische Rolle erkennbar wird. Die Seriosität des jeweiligen „Ich“ hängt von der Authentizität und Transparenz der Rolle ab. Das „Ich“ in journalistischen Netz-Präsenzen wirkt dann glaubwürdig, wenn die für Journalisten üblichen Handwerksregeln angewendet werden und dies für die Follower transparent wird. Für die Nutzer schwer unterscheidbar wird es, wenn angestellte oder aus Zeitung, Radio und Fernsehen bekannte Journalisten einen privaten Blog betreiben oder in Netzmedien präsent sind, in welchen sie ihre persönlichen Erfahrungen und Einschätzungen schildern. Solche Auftritte zeigen eine private Rolle, deren Wirksamkeit von der beruflichen Rolle profitiert. Verhaltensregeln für diese unterschiedlichen Präsenzen sind derzeit noch nicht so gründlich geklärt, dass sich Nutzer auf deren Anwendung verlassen könnten. Einige Medienhäuser legen aber Wert darauf, dass Journalisten ihre Blogs als „privat“ kennzeichnen. In einigen Situationen wird die Ich-Form der Lebensrealität ausdrücklich nicht als Hinweis auf das eigenen Ich verwendet: im so genannten „pastoralen Ich“ oder dem „stellvertretenden Ich“, das Prediger im Gottesdienst benutzen („Wenn ich etwas gestohlen habe, dann kann ich nicht mehr einfach darüber hinweg gehen …“) Oder Servicemitarbeiter bei der Beratung („Wenn ich mir den Vertrag so ansehe, ist er sehr vorteilhaft …“) Durch die Ich-Form wollen Sprecher ihren Zuhörern besonders nahekommen. Gemeint ist in beiden Fällen ein allgemeines „Ich“, das anstelle von „Jemand“ oder „man“, „Sie“ oder „Ihr“ stehen könnte und zugleich suggeriert, es sei der eigene Gedanke des Zuhörers. Weil die sprechende Person sichtbar und anwesend ist, wird dieses Ich nicht mit ihr selbst identifiziert. Das „Ich“ in der Literatur ist, wenn Autoren* nicht tatsächlich von sich selbst erzählen, eine Kunstfigur, die sich vom Autor deutlich unterscheidet (z. B. Günter Grass „Das Treffen in Telgte“,1979). Sie ist ein bewusstes literarisches Instrument, mit dem Autoren* die Perspektive einer handelnden Figur, oft der Hauptfigur, einnehmen und die Projektionen der Leser abwehren, diese sei mit dem Autoren-Ich identisch. Doch ist diese Trennung von Autor und Ich-Erzähler den Lesern offensichtlich nicht in jedem Fall ausreichend klar und so müssen Autoren manche 197

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Teil 1 Textperson und Filmtext planen

Nachfragen von Literaturkritikern* zum Ich-Erzähler aushalten („Wer sind Sie selbst in dieser Figur“). ▶ Bei „Ich“ und „WIR“ lohnt sich die Reflexion über die Text-Rolle und deren Authentizität. Ähnlich wie das „Ich“ sieht das erzählerische „Wir“ auf den ersten Blick authentisch und publikumsnah aus. Es bringt Autoren aber ebenfalls in erzählerische Unklarheiten, weil es auch in der Lebensrealität sehr unterschiedliche Haltungen präsentieren kann. Ein ausdrückliches „Wir“ meint in der Lebensrealität • zunächst eine Gruppe und deren gemeinsame Erfahrung („wir kamen in Damaskus an; und dort …“) • Bei öffentlichen Reden wiederum dient das „Wir“ zur Identifikation mit den Zuhörern, auch wenn der Redner nur eine Aufforderung meint, („Wir Sozialdemokraten sind da ganz anderer Meinung …“), aber noch keine bereits erreichte Übereinstimmung feststellt. • Im Kirchenjargon funktioniert das „Wir“ als Aufforderung des Redners an seine Gemeinde („Wir stehen gemeinsam im Glauben…“), um deren Zusammenhalt zu festigen. • In ganz wenigen Fällen kennzeichnet das „Wir“ noch – als so genannter Plural Majestatis – eine hochgestellte Person in ihrer Funktion („Wir, Elisabeth, Königin von Vereinigten Königreichs Großbritannien …“; oder der Papst: „Wir bestimmen hiermit …“). Das „Wir“ kann, wie man es besonders deutlich in öffentlichen Debatten mit Populisten erlebt, andere Menschen und Ansichten ausschließen („Zum christlichen Abendland gehören keine Muslime“; „Wir wissen, dass es anders nicht geht ….“; „Wir müssen gegen die Anderen zusammenhalten“) . Oder das „Wir“ schlie0t die anderen ein („Wir alle sind die Demokratie“; Wir sind für neue Ideen offen“). Anhand der Formulierung allein lässt sich aber nicht leicht klären, welche Haltung die jeweils Sprechenden zeigen wollen. Für die Textpersonen „Ich“ und „Wir“ im Film verstärkt sich diese Unschärfe. Missverständnisse sind leicht möglich. Denn die Textperson wird ja nicht sichtbar. Im Zuhören und gleichzeitigen Betrachten der Filmszenen entsteht neben der erwünschten, Nähe schaffende Wirkung die Irritation, das Ich des Textes sei tatsächlich mit dem des Autors identisch. Man sieht Bilder, hört Töne und dazu einen „Ich“-Erzähler; alles unmittelbar beisammen. Deshalb verbindet das Publikum das

6 Welche Dokumentarischen Textperson-Typen sind günstig?

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„Ich“ des „Textes“ spontan mit dem Autor selbst und ein „Wir“ mit seinem Team. In dieser In-Eins-Setzung von „Ich“/„Wir“ und „Autor*“ wird der Film-Erzähler manchmal zugleich unbeabsichtigt zur Hauptfigur. Das „Ich“ als Textperson wirkt überzeugend, wenn es der professionellen Autoren-Person tatsächlich nahekommt. Denn dann wird der Anspruch an Unmittelbarkeit des Erlebten und Erzählten eingelöst, wodurch eine hohe dokumentarische Authentizität entsteht. Ähnlich verhält es sich beim „Wir“. Es sollte ernsthaft und spürbar die Erfahrungen des Publikums miteinschließen. Oder es sollte sich ausschließlich auf das Filmteam beziehen. Beide Textpersonen verstärken die persönliche Perspektive eines dokumentarischen Films und verringern die Distanz zwischen Text und Autor*. Die Erzähldichte bei „Ich“ und „Wir“ entsteht durch die Enge des Erzählerhorizonts. Denn das „Ich“ kann nur solche Fakten und Einsichten präsentieren, die Autoren* selbst gesammelt und erfahren haben. Alles übrige muss als Zitat formuliert werden. Durch diese Engführung kann eine spannende authentische Ich-Erzählung entstehen. Sie erfüllt in der Regel auch alle journalistischen Anforderungen an Quellenklarheit. Die Ich-Textperson wird für das Publikum journalistisch überzeugend und zugleich unterhaltsam. Das „Filmtext-Ich“ wird in manchen Fällen (z. B. Recherche-Reportage, Forschungsbericht, Filmischer Essay) zugleich – und beabsichtigt – zur dramaturgischen Hauptfigur des Films. In anderen Fällen (z. B. Begleit-Reportage) bleibt das „Text-Ich“ – wie alle anderen Textpersonen – dramaturgisch eine – unsichtbare – Nebenfigur. Bei der Entscheidung für „Ich“ oder „Wir“ muss man überlegen, ob die Verwandlung der Filmautoren zur dramaturgischen Hauptfigur angemessen ist. Und ob die Ich-Figur über die gesamte Filmlänge stimmt. „Ich“ und „Wir“ erhöhen die Anforderungen an das tatsächliche Dabeisein und erfordern Transparenz der übrigen Quellen. Deshalb dürfen sich diese Textpersonen nicht (z. B. durch Bildgestaltung, lasch geführte Rote Fäden, undeutliche Formulierungen) dem Verdacht der Unglaubwürdigkeit aussetzen. Denn dann machen „Ich“ und „Wir“ – obwohl genau dies nicht beabsichtigt ist – ihr Publikum skeptisch und vergrößern die Distanz zwischen Zuschauer und Geschehen und die zwischen Zuschauer und Autor. Eine „Ich-Textperson“ wählt die Fakten und Begründungen aus, die sie selbst erlebt und zu denen sie eine inhaltliche Position gefunden hat. Andere darf sie nur zitieren. Sie kann Unsicherheit zeigen, im Filmverlauf klüger werden, Fakten 199

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Teil 1 Textperson und Filmtext planen

gewichten und sortieren. Alle Text-Fakten und Film-Situationen sollten sich auf den realen Autor* beziehen lassen und dann stimmen. Gelingt dies nicht, ist die „Ich-Textperson“ für den Film ungeeignet. Eine „Wir-Textperson“ wirkt dann authentisch, wenn sie sich auf eine bekannte und für das Publikum fassbare Gruppe bezieht (z. B. „Wir Menschen glauben, dass wir das Pferd gezähmt haben; in Wirklichkeit haben Pferde uns Vertrauen geschenkt“). Wenn mit „Wir“ das Filmteam gemeint ist, sollte dies auch in den Filmszenen zu spüren sein (z. B. Franz Josef Gernstl: „Deutschlandreise“, 2008, DVD). Erlebt man das Team nicht, wirkt ein „Wir“ so, als solle es nur die Autorin* aufplustern. Eine „Wir-Textperson“ kann auch als verallgemeinernde Erzählerin stimmig sein in Filmischen Essays, weil sie dort manchmal auch das Publikum mit einschließt. Wenn aus dem Textzusammenhang klar wird, dass im „Wir“ auch das gesamte Publikum mit eingeschlossen sein soll, muss sich diese Perspektive im gesamten Filmtext erlebbar werden. Die „Wir“-Formulierungen sollten aber nicht als Vorwurf an die Zuschauer klingen („Wir arbeiten zu viel und hetzen unsere Kinder schon mit drei Jahren in Chinesisch-Kurse…“) oder als folgenlose Klage („wir alle sind zu satt geworden…“). Solche Textpersonen jammern und moralisieren im „pastoralen Wir“, anstatt zu zeigen und journalistisch zu argumentieren. „Ich“ und „Wir“ verfallen leicht in Bildbeschreibungen und texten journalistische Selbstverständlichkeiten, die dem Zuschauer grundsätzlich bekannt sind (z. B.„wir wollen wissen …“; „Ich frage mich …“). Es ist ja die allen bekannte Aufgabe dokumentarischer Autoren, etwas wissen zu wollen und sich etwas zu fragen. Auch das ausdrückliche Thematisieren der Filmarbeit als Bildbeschreibung (z. B.„wir fahren nach NN …“; „wir bekommen ein Fax …“) ist nur in sehr seltenen Fällen für die Zuschauer ein Gewinn. Solche Formulierungen wirken wichtigtuerisch anstelle von treffsicher. Im dokumentarischen Film hat das „stellvertretende Ich“ keinen Platz, obwohl es im Service oder in öffentlicher Rede möglich ist. Auch das Rollen-Ich in der Literatur, wenn Autoren in der „Ich-Form“ schreiben, aber dieses „Ich“ die Perspektive einer im Roman handelnden Figur zeigt, gehört nicht in einen dokumentarischen Film. Denn einen gehörten Text bezieht man als Zuschauer* immer direkt auf Autoren und Redaktion. Handelnde Figuren treten dokumentarisch im O-Ton auf, nicht im Filmtext. Die Fakten eines Filmtextes und deren Beziehungen und Einordnung müssen die Prüfung an der Lebensrealität bestehen können.

6 Welche Dokumentarischen Textperson-Typen sind günstig?

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Georg M. Hafner: „München 1970“; hr 2012; Inhalt: Die deutsche Linke und der arabische Terror. Textperson: Ich, Georg M. Hafner, der Neffe. Jean-Michel Meurice: „Von Managern und Menschen“; 2-teilige Dokumentation, F 2014, Arte France, VF Films Production; Inhalt: die Veränderung der Arbeitswelt; Textperson: Ich, der alt gewordene Jean Michel Meurice. Niobe Thomson + Dennis Wells: „Die Geschichte von Pferd und Mensch – Equus“, ZDF 2018; Inhalt: Die Beziehung von Pferd und Mensch durch die Jahrtausende; Textperson: „Wir“ Menschen insgesamt. Pascal Weber, Marine Pradel: „Jemen – der vergessene Krieg“; SRF 2018; Inhalt: Reisereportage durch den Jemen: Textperson: „Wir“, das Filmteam. ▶ „Ich“ und „Wir“ sind ein Gewinn, wenn sie selten auftreten. In vielen Reportage-Formaten und in Präsenter-Formaten agieren sichtbare – die Präsenter* oder Reporterinnen* – und unsichtbare Textpersonen abwechselnd. Deren mögliches Zusammenspiel ist nicht ein für alle Male und mit nur einer einzigen Regel zu klären. Denn es hängt von der Person der Präsenter und der detaillierten Konstruktion des jeweiligen Formats ab, wie das Zusammenspiel funktionieren kann. Mögliche Lösungen sind bereits im Kapitel „Sichtbare Textperson“ skizziert.

6.16 Satire und Comedy In Satiren und Comedy-Sendungen können alle journalistisch möglichen Textperson-Typen auftreten. Das wichtigste Entscheidungskriterium: Sie sollten zu Bild, Filmsituation und zur Geschichte einen unpassenden Kontrast bilden (z. B. eine Erotik-Messe wird von einem Kunstkritiker geschildert). Die satirische oder komische Wirkung ist umso stärker, je genauer man dabei den Stil und die Form der gewählten Textperson einhält und je ungewohnter der Kontrast zum Filminhalt und zu den Situationen ausfällt. Die Vielfalt von Textpersonen bildet einen großen kreativen Fundus für überraschende Wirkungen.

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Teil 1 Textperson und Filmtext planen

Bei Satiren wirken auch solche Textperson-Typen überzeugend, die in dokumentarischen Filmen aus journalistischen Gründen offensichtlich ungeeignet sind. Es bereitet dem Publikum Vergnügen ausgerechnet solchen Erzählern zu folgen, deren Äußerungsformen sie sonst allenfalls im Privatbereich oder als die von anonymen Kommentatoren im Netz erleben (z. B.: Onkel, Tante, Eltern / Pfarrer, Hass-Prediger, Inquisitor / Schimpfkanonade, Lästermaul, Wutbürger, Hasser / Marktschreier / Pressesprecher / altmodische Volkstümler / Nörgler / Klugscheißer / Aufheizer / Hetzer / Ironiker / Zyniker / larmoyante Reporter). Ausprobieren lohnt sich. Satirische und komische Präsentations-Formen brechen unversehens und überraschend die Erfahrung des Publikums mit bekannten Ereignissen, Erlebnissen und typischen öffentlichen oder privaten Situationen. Damit eine solche Brechung nicht missverstanden wird, muss man in jedem Fall die Erwartung so steuern, dass der Zuschauer mit einer Brechung rechnen kann. Meist bewirkt dies ein Reihentitel (z. B. „Toll“ im Politikmagazin „Frontal 21“, ZDF; „sonst noch“ im regionalen Vorabendmagazin, NDR-Kiel). Auch durch eine Moderation kann man auf Satire hinlenken. Und sicher gelingt dies durch einen eigenen Sendeplatz („extra3“, NDR; „heute-Show“, ZDF). Auf derart eingerichteten Plätzen erwartet niemand Nachrichten oder Beiträge, die ebenso gut in der Nachrichtensendung laufen könnten. Und umgekehrt: jede Meldung, die man aus einer Nachrichtensendung original in einen satirischen Kontext verpflanzt, wird als Satire wirken. Die für journalistische Autoren* naheliegende Frage: „Muss man denn tatsächlich ‚Achtung Satire‘ oder ‚Witz‘ sagen?“ lässt sich nach aller Erfahrung nur mit „Ja“ beantworten. Forscher, die sich mit Witz und Satire beschäftigt haben, bestätigen genau dies. Menschen erwarten, wenn es kein ausdrückliches Umschalt-Signal gibt, eine ernst gemeinte Kommunikation und müssen, wenn sie – in der Lebensrealität ähnlich wie in Medien – Satire, Ironie oder Witz verstehen und genießen sollen, erst umschalten. Selbst im kleinen Kreis floppt ein Witz, wenn der Erzähler nicht vorher etwas Ähnliches wie „Kennen sie den …?“ gesagt hat. Und wenn man eine witzige oder komische Situation beenden will, bleibt kaum etwas Anderes als in irgendeiner Form „jetzt ernsthaft …“ zu sagen oder zu zeigen, sonst bleiben alle Beteiligten im Witzmodus. Solche Umschaltsignale zu Witz, Humor und Ironie kann man in der persönlichen Kommunikation oft an den Umständen, an der Körperhaltung, am Gesichtsausdruck oder der Sprechhaltung erkennen. In Filmen müssen solche Zeichen ausdrücklich gesetzt werden. Ist ein satirischer Kontext aber einmal erstellt, kann auch das wörtliche Zitat einer Nachrichtenmeldung Lachstürme auslösen. Bleibt dieser Umschalt-Moment weg, ergibt sich daraus für das Publikum oft sehr Un-

6 Welche Dokumentarischen Textperson-Typen sind günstig?

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terhaltsames und Komisches, (z. B. „Vorsicht, Kamera“ ARD 1961-1966; „Probe“, NDR), dessen Peinlichkeit gegenüber den Beteiligten hinterher ausdrücklich wieder ausgeglichen werden muss. In satirischen Filmen kann man bestimmte Ereignisse, Situationen oder Verhaltensweisen entweder als bekannt voraussetzen (z. B. heute-show, ZDF) oder man muss sie vor dem Erwartungsbruch filmisch etablieren. Das Publikum soll den Bruch von der Realität in die Satire als Vergnügen empfinden. Deshalb beschränken sich satirische Beiträge und Sendungen häufig auf politische oder auf Fernseh-Ereignisse, auf deren grundsätzliche Bekanntheit die Macher vertrauen können. Ein satirisch-witziges Arrangement, das im kleinen Wisser-Kreis funktioniert, wird das große Publikum nicht leicht zum Lachen bringen. Im Film und im Fernsehen sind real-satirische Formen entstanden, die sich in der Darstellung einer Kunstfigur ernsthaft und seriös geben, satirisch gemeint, aber als solche nicht direkt erkennbar sind. Sasha Baron-Cohen, (GB) oder die Yes Men (USA) führen in unscheinbaren Rollen als vorgebliche Journalisten oder Konferenz-Teilnehmer ihre Interviewpartner auf den Leim und vor. Solche Formen sind den Selbsterfahrungs-Reportagen nahe verwandt, in denen Autoren als Versuchsperson agieren, oft mit verdeckter Kamera. Real-satirische Formen haben aber das Ziel satirischer Enthüllung. Diese Enthüllung sollte also im Film gelingen, sonst bleibt die Satire-Form inhaltlich belanglos.

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Teil 2 Textperson und Filmtext schreiben

Alle kreativen Ideen und Vorstellungen über das Zusammenspiel von Filmtext, Bild und Ton müssen den Praxistest bestehen. Der Filmtext muss geschrieben werden; man muss prüfen, ob und wie er das Filmerleben des Publikums tatsächlich steuert, ob er die Filmszenen stört oder ihre Bedeutung vertieft, ob er die Zuschauer packen und in die Geschichte hineinziehen kann. Ein Textmanuskript sollte als Werkzeug für alle an Sprachaufnahme und Mischung Beteiligten funktionieren. Der Filmtext sollte naheliegende dramaturgische Fallen vermeiden (z. B. als ersten Satz einen Schlusssatz zu schreiben; den O-Ton im Antext bereits vorwegzunehmen); er sollte eine Textperson von Anfang bis Film-Ende durchhalten und es wäre sehr gut, wenn er bei aller inhaltlichen Präzision so frisch klänge, als würde er dem Sprecher* soeben einfallen. Zu den für den Filmtext günstigen Arbeitsabläufen und nützlichen Werkzeugen gehören auch einige für den Filmtext nutzbare dramaturgische Elemente. Die Infoladungen von Filmszene und Ton bieten dem Filmtext die Chance, so zu formulieren, dass der Zusammenhang von Textperson und Bild immer gewahrt bleibt. Die Roten Fäden, von denen einige bereits durch den Schnitt in Bild und Ton etabliert sind, werden im Filmtext für die dokumentarische Geschichte aufgenommen werden; und überdies kann der Filmtext weitere Rote Fäden etablieren, die Spannung und Konsistenz eines dokumentarischen Films erhöhen. 205

Wie soll die Arbeit ablaufen? 7 Wie soll die Arbeit ablaufen?

Teil 2 Textperson und Filmtext schreiben

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Zusammenfassung

Textarbeit für kurze und längere Fernsehformate steht im Mittelpunkt dieses Kapitels. Sie reicht vom Verfassen von Exposés und Treatments bis zum Schreiben des Off-Texts und zur Montage des Beitrags aus Bild, O-Ton und Text.

Schlüsselwörter

Fernsehjournalismus, Textarbeit, fürs Fernsehen schreiben, Exposé, Treatment, Sprachaufnahme, Montage, Schnitt, Filmtext-Manuskript, ungünstige und günstige Gewohnheiten beim Texten

Bevor ein Filmtext – und eine Textperson – gesprochen werden kann, muss der Text geschrieben werden. Dadurch wird das Textmanuskript zum Werkzeug für die Sprachaufnahme und alle dort Beteiligten: Autor*, Sprecherin*, Mischer*; es ist zugleich das Dokument für die Abnahme durch Auftraggeber und/oder Redaktion und für eventuelle inhaltliche oder juristische Nachfragen. Einen möglichst günstigen Arbeitsablauf für Autoren* zu finden und dabei ein möglichst leicht nutzbares Werkzeug für alle anderen herzustellen, ist für Film-Autorinnen*unter den üblichen Produktionsbedingungen nicht ganz einfach. Der Arbeitsverlauf beim Texten richtet sich danach, ob ein kurzer, möglicherweise tagesaktueller Film für ein Magazin entstehen soll, (Kurzes Format) oder ein Magazinfilm für ein Fachmagazin, der häufig eine aufwändige Gestaltung © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 G. A. Heussen, Die Textperson im dokumentarischen Film, Journalistische Praxis, https://doi.org/10.1007/978-3-658-28456-5_7

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Teil 2 Textperson und Filmtext schreiben

(Aufwändige Magazin-Formate) erfordert. Oder ein kurzer Film für eine Reihe oder Serie (Aufwändige Kurzformate). Und nochmals anders wird ein langer Film behandelt, der einen Sendeplatz füllen wird (Langes Format). • Kurze Formate nennt man Filme von etwa 30 sek. bis zu 5 min. Länge: sie stehen in Regionalmagazinen, tagesaktuellen Nachrichtensendungen und in vom täglichen Aufkommen abhängigen Boulevardmagazinen. Diese Filme werden nicht immer, aber häufig am gleichen Tag gedreht, geschnitten, getextet und gesendet, auch wenn sie länger vorher geplant sind. • Aufwändige Magazinformate reichen von etwa 2 min. 30 sek. Länge bis zu 7 min. Länge. Sie finden sich in Magazin-Sendungen mit politischen, naturwissenschaftlichen, historischen und kulturellen Themen. Meist erscheinen solche Magazine auf einem wöchentlichen Sendeplatz (Eine Ausnahme: „KULTURZEIT“ auf 3sat“ läuft MO – FR). Alle Beteiligten setzen selbstverständlich voraus, dass man selbst bei einer fast täglichen Sendung („KULTURZEIT“ auf 3sat) oder täglichen („Tagesthemen“ der ARD; „heute-journal“ im ZDF oder dem „arte-journal“ auf arte und allen Regionalmagazinen) einige Filme länger planen muss als von Tag zu Tag und dass man viele davon auch nicht an einem einzigen Tag erstellen kann. Sie benötigen Vorbereitung, differenzierte Absprachen und häufig auch aufwändige Gestaltung in Bild und Ton. • Aufwändige Kurzformate reichen von 2 min. bis zu 6 min. Länge. Sie werden meist als Reihen oder Serien für das Netz und für TV produziert und stehen im Fernsehprogramm auf eigenen Sendeplätzen oder werden als Themen-Programmstrecken gezeigt (z. B. „Plopp 1, 2 und 3“, arte 2018; „DEZOOM“, arte 2019; „Bilder allein zuhaus“, arte 2018; „(Fast) – die ganze Wahrheit“, arte). Oder sie sind Teil eines Magazins und stehen dort meist an einem festen Platz. (z. B. „hierzuland“, SWR, seit 1998). Zu den aufwändigen Kurzformaten gehören auch Einspiel-Filme für Live-Sendungen oder Talk-Runden und auch so genannte kurze Programmfüller (z. B. Sendungs-Trailer; Making-of-Filme) die Programmlücken auf kreative Weise schließen und auf wechselnden Sendeplätzen laufen. • Lange Formate von etwa 15 min. bis 90 min. oder länger. Dazu zählen Filme aller Genres, die einen eigenen Sendplatz füllen. Die Unterscheidungen der Filmformate sind in der Praxis des Filmemachens und Fernsehens nicht so trennscharf, wie sie hier definiert beschrieben wurden. Denn auch für tagesaktuelle Magazine werden fallweise auch aufwändige Filmformate

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geplant. Oder zu einem Kulturmagazin gehört eine Strecke von ganz kurzen Meldungsfilmen. ▶ Die Zeit zum Texten ist bei kurzen wie bei langen Filmen immer (zu) knapp – Nicht jammern! Die Kernfrage beim Arbeitsablauf lautet: Wann soll der Filmtext geschrieben werden. Sie ist nicht mit einem einzigen Satz und nicht mit einem Allzwecktipp zu beantworten. Und „Das hängt davon ab…“ ist zwar eine richtige, aber keine ausreichende Antwort. Filmschaffende treffen auf branchenübliche, überwiegend von Produktionskriterien bestimmte Gewohnheiten, Anweisungen und Vorgaben. • Bei fast allen tagesaktuellen Magazinfilmen müssen Autoren während des Schnitts texten, parallel zur Arbeit der Cutter. Oft ist die Zeit noch knapper, weil die Filmabnahme zusätzlich in die für den Schnitt vorgesehene Zeit hineingepresst wird. Und wenn der Filmschnitt sehr dicht vor den Sendetermin disponiert wurde, wachsen die Probleme beim Texten. • Bei langen Filmformaten werden vor der endgültigen Beauftragung und dem Dreh Treatments verlangt, unabhängig davon, ob man für eine Redaktion direkt oder für eine Filmproduktionsfirma arbeitet. In der Textspalte des Treatments erwarten viele Reaktionen bereits ausformulierte Texte und zuweilen sogar schein-wörtliche Aussagen von O-Ton-Gebern, die noch gar nicht gedreht sind. Durch diese Anforderung erhofft sich eine Redaktion Sicherheit über Inhalt des Textes und den Stil. • Aus den USA ist seit den 60-er Jahren für kurze und auch für lange Formate von manchen Redaktionen eine weitere Gewohnheit übernommen worden: Der Text wird vor dem Schnitt geschrieben und die Bilder werden im Schnitt auf den Text gesetzt. Man erhofft daraus einen erzählerischen Text und kurze Produktionszeiten. Jede dieser Gewohnheiten hat erhebliche Nachteile für die inhaltliche und erzählerische Qualität dokumentarischer Filme, selbst bei Kurzmeldungen. Auf den ersten Blick erscheinen diese Gewohnheiten zwar vorteilhaft für die Produktion zu sein. Sie erschweren aber in Wirklichkeit die Arbeit von Filmautoren*, weil diese häufig unter zu hohen Zeitdruck geraten, oft auf Text-Stanzen zurückgreifen müssen und deshalb nicht ihre besten Textlösungen finden. Wer während des Filmschnitts zugleich texten muss, ist gezwungen, seine Aufmerksamkeit und Kreativität zu teilen. Das geht meist zu Lasten der filmischen 209

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Teil 2 Textperson und Filmtext schreiben

Gestaltung, an der Cutter und Autoren gemeinsam arbeiten, um Inhalte und Dramaturgie zu schärfen. Beim Parallel-Texten aber geraten die Textformulierungen häufig zur Bildbeschreibung. Oder sie lösen sich ganz von der Bildgestaltung ab. Text-Bild-Verklebungen, Text-Bild-Kollisionen und Bild-Text-Scheren sind die unerwünschte Folge. Überdies ist es schwer, die beabsichtigte Textperson sprachlich genau zu formulieren, weil sich während des Schnitts die fürs Texten günstige innere Distanz kaum erreichen lässt. Die Folge sind Formulierungen, die in die Tonne gehören (https://gregor-a-heussen.de/werkzeuge/die-tonne/) und die Autoren* in der Masse aller Anderen unkenntlich werden lassen. Anstelle von frischem Text hört das Publikum tausendmal Gehörtes nochmals. ▶ Auch wenn es anders ideal wäre: In journalistischen Notsituationen muss der Filmtext eben während des Schnitts entstehen – Notfälle kommen vor, in manchen Redaktionen auch öfters – Der Notfall sollte deutlich und redaktonsöffentlich vom Normalfall unterschieden sein. Wenn im Treatment ein bereits ausformulierter Text steht, ist er meist im Indikativ Präsens formuliert und enthält überwiegend Recherche-Aussagen oder Recherche-Absichten. Der Grund dafür: in der Arbeitsphase, in der das Treatment entsteht, sind Autoren noch im bewussten Modus des Sammelns und Recherchierens. Ein erfolgreicher Dreh wird erhofft, aber noch sieht man beim Textschreiben allenfalls vorgestellte, nicht aber reale Filmbilder. O-Ton-Geber sind angefragt und informiert, aber noch kennt – auch wenn die O-Ton-Geber gecastet sind – niemand deren tatsächliche Bild-Wirkung und Aussage im Filmkontext. Auch das Treatment selbst bleibt noch eine Absichtserklärung. Archivmaterial ist vielleicht vorhanden, aber noch nicht geschnitten. Grafik und CGI sind geplant, aber noch nicht ausgeführt. Die den Film prägenden Darstellungsebenen können zu diesem Zeitpunkt nur beschrieben werden. Sie können noch nicht wirken. Ebenso so kann auch ein zu diesem Zeitpunkt formulierter Filmtext nicht filmisch wirken. Er gaukelt die Wirkung nur vor, weil er bereits durchformuliert ist und logisch wirkt. Filmisch kann er noch nicht wirken. Die Folge ist unerfreulich: Als Autor* kommt man von diesen schriftlichen Formulierungen nur noch sehr schwer los. Der Grund ist fatal und erst seit kurzem in der Kognitionspsychologie entdeckt worden: das „Priming“.Bereits zuvor verfasste und zur Verfügung stehenden Informationen und Wahrnehmungen, also auch Text-Formulierungen, prägen alle nachfolgenden Wahrnehmungen, also auch Texte. Das im Treatment Formulierte prägt auch die Erwartungen der Redaktion, der endgültige Filmtext solle dem bereits im Treatment scheinbar so

7 Wie soll die Arbeit ablaufen?

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gut formulierten möglichst gleichen. Jeder Autor hat solche Erwartungen und Diskussionen schon erlebt. ▶ Vvorher geschriebene Texte sind unverzichtbar: wenn die Bilder erst aufgrund des Textes erdacht, gemacht und gestaltet werden können – Nach dem Schnitt muss man solche Filmtexte in jedem Fall überarbeiten. Wenn man Grafiken oder CGIs in Auftrag gibt, (z. B. für Nachrichtensendungen; für Magazine; und auch für lange Filmformate), lässt sich deren Länge, Rhythmus und bewegte Gestaltung erst aufgrund der Textlänge planen. Man muss also einen inhaltlich stimmenden Text vorher schreiben. Und auch an Stellen, an denen es darauf ankommt, dass die Kamera ganz bestimmte Sachverhalte zeigt (z. B. bei Experimenten oder bei handwerklichen Vorgängen), hilft ein vorher geschriebener Text zu einem gelingenden Ergebnis. In all diesen Fällen aber ist der vorher geschriebene Text – der auch im Treatment stehen kann – nur ein notwendiger Anhaltspunkt. Man muss ihn in der Endredaktion immer nochmals bearbeiten, so dass er in Wortwahl, Rhythmus, Stil und Formulierung zur beabsichtigten Textperson, zum Schnittrhythmus und Bildinhalt genau passt. Den scheinbar augenfälligsten Produktionsvorteil bietet die aus den USA der 60-er Jahre stammende Gewohnheit, den Filmtext zu schreiben und sich die dazu passenden Bilder zu drehen oder aus dem Archiv zu holen und sie „auf den Text zu setzen“. Dieses Vorgehen wurde in Zeiten, in denen man noch auf 16-mm-Film drehte, auch in tagesaktuellen Sendungen und Magazinen bevorzugt, weil man selbst – oder ein anderer Autor* – schon am Filmtext arbeiten konnte, während die Bilder noch im Kopierwerk entwickelt werden mussten. Die unausgesprochene Annahme dabei war, dass der eigentliche Inhalt von Nachrichten und Magazinfilmen im Text liege. Wir wissen heute, dass für dokumentarischen Film die gewohnten Text-Regeln von Zeitung und Radio nicht gelten. Denn Filmtext hat, weil er Mitglied eines filmischen Informationsteams ist, grundlegend andere Funktionen als gedruckter Text oder Text im Radio. Auch lange Filme, Reportagen und Features, sind in den ersten Jahrzehnten des deutschen Fernsehens auf diese Weise entstanden, auch von damals berühmten Autoren (z. B. Peter Scholl-Latour; Peter von Zahn). Sie gestalteten den Filmtext wie Literatur, als würde er später gedruckt. Der Text wurde unabhängig von den später zu drehenden Bildern als lebendige eigene Erzählung verfasst. Kameraleute bekamen den Text und konnten daraufhin passend drehen, die Cutter konnten 211

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Teil 2 Textperson und Filmtext schreiben

die Bilder aufs Wort schneiden und so entstand beim Publikum durchaus immer wieder auch der Eindruck, dass Bild und Text zusammenpassten. Bei diesem Vorgehen beschädigt der Vorteil kürzerer Produktionszeit die Gesamt Wirkung eines dokumentarischen Films. Der Filmtext wird – weil den Autoren während des Text-Schreibens das Bild-Erleben fehlt – immer zu lang und füllt fast die Gesamt-Sendezeit des Films. Bilder und Geräusche werden dadurch in ihrer emotional-informativen Wirkung erdrückt und wirken nur als Textbeweise. Die O-Töne werden zu Referenz-Zitaten und dramaturgisch zu Fußnoten. Der Film als Ganzer verliert seinen Erzählcharakter und erreicht keine lebendige filmische Wirkung mehr, weil das spannungsreiche Zusammenspiel von Bild, ‚Geräusch, Musik, O-Ton, Schrift und Text durch den Filmtext erstickt wird. Dieser erlebte Nachteil ist wohl einer der Gründe, weshalb kreative US-amerikanische Dokumentar-Autoren heutzutage meist auf Text verzichten. Die Basis-Erkenntnis und die daraus folgende Regel ist einfach: sobald Autoren* die „Spielzüge“ von Bild und Ton kennen – also frühestens im Schnitt und jedenfalls nach dem Schnitt – können sie mit einer Textperson den Szenen ihre Bedeutung und ihr Gewicht geben und den Film als Gesamterzählung komponieren. Der Filmtext • wird durch seine Positionierung Spannungsmomente erzeugen; er wird Filmszenen und Sachinhalte miteinander verbinden oder voneinander trennen; • muss auf die Erzählinhalte von Bild, Ton und Schnitt reagieren und durch seine Formulierung zeigen, dass er – ebenso wie sein Publikum – die Szene betrachtet, die Geräusche hört, der Erzählung folgt und deutliche Erwartungen aufkommen lässt; • kann als Textperson die Informationsmöglichkeiten der Bild-Szenen und des Schnitts nutzen; er wird diejenigen Bildinformationen anspielen und hervorheben, die zur gewählten Sichtweise und Erzählhaltung passen und diejenigen übergehen, welche stören. In jeder Arbeitsphase – vom Beginn der Recherche und Themensuche an – sind Überlegungen, Ideen und vorläufige Formulierungen zum Filmtext und zur Textperson möglich und wichtig. Es sind Vorarbeiten, man beschäftigt sich, ähnlich wie bei Überlegungen zu Filmszenen oder Fragen an O-Ton-Geber, ausdrücklich und unterschwellig mit dem Filmtext. Am Ende, wenn man den Text dann tatsächlich schreibt, wird er plausibel und glaubwürdig wirken und die Filmerzählung wirksam steuern.

7 Wie soll die Arbeit ablaufen?

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▶ Filmtext und Textperson entstehen am günstigsten, nach dem Schnitt – Nachdem die Positionierung von Schriften und Einblendungen geklärt ist. ▶ Die schnellste und effektivste Schreibtechnik heisst: Texten am laufenden Bild, mit lautem Ton! – Kopfhörer helfen zur Konzentration! ▶ Immer wieder im lauten Lesen die Wirkung prüfen! Alle Text-Vorarbeiten tragen mehr dazu bei, dass – auch unter Zeitdruck – ein Filmtext entsteht, der als Textperson wirkungsvoll agiert und redaktionell ohne große Diskussion abgenommen werden kann. Bei den Vorarbeiten helfen Diktier-Apps im Smartphone oder das analoge persönliche Ideen-Notizbuch. Gerade für tagesaktuelle Filme mit ihren immer sehr kurzen Arbeitsphasen führt dieses Vorgehen zu besseren Formulierungen, weil man rascher bemerkt, welche Sprachklischees einem als erste einfallen. Dazu kann man dann Alternativen suchen.

7.1

Exposé und Treatment – Textvorbereitung

Kurze dokumentarische Filmformate werden für tagesaktuelle Magazine überwiegend ohne Exposé vereinbart. Zur mündlichen Vereinbarung gehört neben inhaltlichen und gestalterischen Absprachen auch eine erste Überlegung zur geeigneten Textperson. In dieser frühen Phase kann es nur eine Überlegung, noch keine Entscheidung sein, denn häufig ist die Recherche noch im Fluss, die Drehorte und die filmischen Gestaltungsmöglichkeiten sind noch unklar. Ein tagesaktuelles Magazin gewinnt an Lebendigkeit, Unterhaltungswert und Informationskraft, wenn unterschiedliche Textpersonen zu hören sind. Planer* und CvDs* (Chefin* vom Dienst; verantwortlicher Sendungsredakteur*; die Bezeichnungen und Verantwortlichkeit sind in jedem Fernsehhaus unterschiedlich) können schon bei der Auftragsvergabe solche Ziele berücksichtigen. Deshalb ist es im Interesse der Planer* und Autoren*, schon früh auch über unterschiedliche Textpersonen zu sprechen. Aufwändige Magazin-Formate sind das Kennzeichen der vielgestaltigen Magazine der Kultur, Wissenschaft, Politik, Natur, Sport, die in der Regel wöchentlich im Programm stehen. Sie enthalten Bildbearbeitungen, Grafiken und auch computergenerierte Bilder (CGI) Aufwändige Filmformate finden sich auch in tagesaktuellen Magazinen an bestimmten Tagen (z. B. am Wochenende) oder zu bestimmten Zeiten (z. B. Ad213

214

Teil 2 Textperson und Filmtext schreiben

ventskalender, Reihen zur Regionalgeschichte). Man nutzt aufwändige Filmformate für Themen, die nicht am gleichen Tag passiert sind. Aufwändige Filmformate benötigen ein Exposé. Schon darin sollten Autoren* auch eine Textperson vorschlagen und begründen. Wenn jeder Film einer Magazinsendung von einer anderen Textperson erzählt wird, wachsen Unterhaltsamkeit und Plausibilität der Sendung. Denn nichts lieben Menschen mehr als leichte Abwechslung. Manche in Recherche und Gestaltung aufwändige Magazin-Themen erfordern zusätzlich ein Treatment, in dem der Filmablauf und die Film-Elemente für die Redaktion und alle Mitarbeitenden erkennbar werden. Das Treatment soll klären, aus welchen dramaturgischen und inhaltlichen Gründen die Filminhalte im Bild, im Geräusch, im O-Ton, in der Grafik, in CGIs oder eben im Text etabliert werden und warum sie an der vorgeschlagenen Position im Film vorkommen sollen. Auch im Treatment sollte eine Textperson als Vorschlag benannt sein. In der Textspalte des Treatments sollte aber noch kein ausformulierter Text stehen. Günstig benennt man in der Textspalte des Treatments nur die Fakten und Sachverhalte, die im Filmtext vorkommen müssen und werden, soweit man sie zu diesem Zeitpunkt bereits kennt. Exposés und Treatments sind die Grundlage für kreative Gespräche zwischen Autoren und Redaktion. Ein ausformulierter Text engt alle Beteiligten ein, zu einem Zeitpunkt, an dem der Film erst sehr anfänglich entsteht. Lange Filmformate erfordern immer Exposés und Treatments, auch dann, wenn sie ihre dramaturgische Struktur erst bei Materialsichtung und Schnitt bekommen können (z. B. Ereignisberichte, lange Begleitfilme, O-Ton Dokumentarfilme) und sich die Notwendigkeit eines Filmtextes oder von Schriften erst spät im Arbeitsprozess zeigen wird. Exposé und Treatment bilden die Grundlage für die inhaltlich, gestalterisch und finanziell relevante Produktionsentscheidung der Redaktion und für die Auftragserteilung. Exposé und Treatment sind auch inhaltliche Bestandteile des Produktionsvertrages. Deshalb gehören in Exposé und Treatment auch die Überlegung und der Vorschlag zum Filmerzähler, der Textperson. Schon deshalb, weil in manchen Fällen die Redaktion und/ oder Produktionsfirma bereits Wünsche für die Sprecherbesetzung äußert. Mit dem Vorschlag zur Textperson erweitern Autoren und Produktionsfirmen den kreativen Dialog über die Filmgestaltung, die Erzählmöglichkeiten des Sendeplatzes und die Sprecher-Besetzung. Sie vermeiden so eigene Enttäuschungen und auch die Enttäuschung der Redaktion. Auch beim langen Filmformat sollte in der Textspalte des Treatments nur Fakten und Sachverhalte aufgezählt und benannt sein; kein ausformulierter Filmtext. Der günstige Zeitpunkt einer erzählerisch wirksamen Formulierung liegt viel später.

7 Wie soll die Arbeit ablaufen?

215

Sobald künstliche Bilder, Reenactements, computergenerierte Gestaltung und vielerlei Arten von Bildbearbeitung genutzt werden, ist die Länge der Bildaufnahmen und der Rhythmus der Schnittsequenzen auch abhängig von der Mindestlänge eines erläuternden oder genau auf ein bestimmtes Bild zusteuernden Filmtextes. Der Film wird zwar erst später geschnitten, doch für solche Filmsequenzen ist ein bereits im Treatment ausformulierter vorläufiger Filmtext sinnvoll, weil er dem Kamerateam und den Mediengestaltern einen Hinweis auf die Bildgestaltung gibt. Er sollte bereits möglichst die Haltung und die Formulierung der zukünftigen Textperson zeigen. Aber man wird ihn beim endgültigen Texten nochmals bearbeiten müssen, damit er mit Bild und Ton sinnvoll zusammenspielen kann.

7.2

Dreh – Textideen und Textperson erproben

Kurze dokumentarische Formate entstehen meist in Eile. Der Zeitdruck, es pünktlich zum Schnitt und in die Sendung zu schaffen, überlagert oft alle weiteren Überlegungen. Dennoch bleibt der Dreh für Filmautoren die Gelegenheit der ersten Begegnung, des ersten Eindrucks. Für den Filmtext hilft es, diese ersten Eindrücke bewusst zu registrieren und für sich selbst zu formulieren. Dann werden diese ersten recht flüchtigen Eindrücke sich beim späteren Texten wieder einstellen. Für den Filmtext wichtig werden auch jene Sinneseindrücke, die durch Kamera und Mikrofon nicht eingefangen oder – außer im Filmtext – nicht dokumentiert werden können (z. B. Gerüche). Sie können den Filmtext in eine charakteristische Kontrast-Spannung zum Bild bringen. ▶ Es entstehen mehr Ideen, wenn Autoren dem Filmteam erzählen, was sie aus ihrer Recherche bereits wissen oder denken; auch von der geplanten Textperson. Zuweilen fallen einem beim Dreh spontane ungefilterte Formulierungen ein: Unabhängig davon, ob sie passen oder nicht, sollte man sie festhalten (Smartphone; Zettel). Später, wenn man sie beim Texten brauchen könnte, werden sie verschwunden sein. Während des Drehs lässt sich immer wieder ausprobieren, wohin die vorgeschlagene Textperson in der Szene schaut, was ihr auffällt und wie sie sich ausdrücken würde. Solche Formulierungen sollte man festhalten. Bei aufwändig gestalteten Magazin-Filmformaten dauern die Dreharbeiten länger und die Autoren gewinnen Zeit, den späteren Filmtext auszuprobieren. Jede 215

216

Teil 2 Textperson und Filmtext schreiben

Textperson hat eine besondere Art, sich in der Welt umzusehen und zu verhalten. Sich dieser Art zu vergewissern und mit den Teampersonen darüber zu sprechen, bringt jeden Beteiligten auf neue Ideen für Bild und Ton. Die Vorstellungen von Exposé und Treatment rücken näher an die Lebensrealität. Bei denjenigen Filmsequenzen die sich – laut Treatment – deutlicher als andere nach dem erläuternden Text richten sollen, sollte man die Bildeinstellungen anhand der Textlängen ausprobieren. Und immer auch Varianten drehen. Denn später, im Schnitt, wird das Material anders wirken als beim Dreh. Dann wird man froh sein für jede Variante und zusätzliches Material. Bei aufwändig gestalteten dokumentarischen Reihen-Formaten sind Exposé und Treatment unerlässlich, weil der inhaltliche und finanzielle Aufwand dem eines langen Films gleicht. In solchen Formaten ist die Definition einer oder mehrerer Textpersonen Teil des gestalterischen Konzepts. Die Diskussion und das Ausprobieren von Formulierungen – auch schon im Treatment-Stadium – lohnt sich. Bei langen Filmformaten entstehen Reiz und Verlockung eines Films – anders als man spontan denkt – auch durch den Kontrast von Bild und Textperson. Dem Team und den Autorinnen* hilft es sehr, beim Dreh bewusst die Haltung der Textperson zum Filminhalt zu registrieren, ihre Blickrichtung auf die Szene auszuprobieren (Kamera-Einstellungen) und sich ihrer durch Alter und Beruf geprägten (Textperson-Profil) Authentizität und Plausibilität zu versichern. Außer über Bilder und Personen könnten Autoren* mit dem Drehteam auch über den späteren Filmerzähler ausdrücklich sprechen. Die Dokumentar-Regie beeinflusst auf diese Weise positiv das Ergebnis des Drehs. Anhand der Faktenliste in der Textspalte des Treatments lässt sich auch immer wieder prüfen, ob alles, was Kamera und Mikrofon von diesen Fakten darstellen können oder sollen, auch wirklich „im Kasten ist“. Je informationshaltiger Bilder und Geräusche sind, umso unbelasteter wird später der Filmtext als Textperson agieren können. Bei langen Filmformaten wird diese Freiheit ein großer kreativer Gewinn.

7.3

Beim Filmschnitt – Vorläufige Textgestalt

Kurze Formate gewinnen Erzählkraft, wenn für den Filmtext und inhaltlich notwendige Sachverhalte ausreichend lange Filmsequenzen an die dramaturgisch, emotional und argumentativ richtigen Stellen kommen. Filmteile, welche viel Text benötigen werden, werden besser wirken, wenn sie nicht durch Großaufnahmen

7 Wie soll die Arbeit ablaufen?

217

die Aufmerksamkeit des Publikums beanspruchen. Und bildstarke Filmsequenzen am Film-Anfang sollten nicht durch Text erdrückt werden müssen. Es reicht also, sich während des Schnitts die Text-Fakten und Sachverhalte aufzuschreiben und die Aussage-Sorten der O-Töne. Möglichst konkret und detailreich. Sequenz für Sequenz kann man dann schon mal Probetext schreiben, auch wenn der dann zu lang wird. Text am Ende des Schnitts zu streichen und das Übrige auszuformulieren ist leichter, als welchen hinzufügen. Neben vielem anderem, was mit den Cutterinnen* besprochen werden muss, sollten Cutter* die beabsichtigte Textperson kennen lernen und darauf achten, dass sie deren Sichtweise im Bildschnitt stärken. ▶ Fakten notieren – Formulierungen ausprobieren – erst am Ende durchtexten – dann reagiert der Filmtext auf Bild, Ton und Schnitt. Gegen Ende des Schnitts kann man mit der endgültigen Formulierung und der sprachlichen Gestaltung der Textperson starten. So dass zur Filmabnahme alles fertig ist. Für aufwändige Magazinformate ist der Schnitt die wichtige Zeit, in welcher der Film seine endgültige Gestalt bekommt und in der sich herausstellt, ob die vorgeschlagene Textperson die Erwartungen tatsächlich erfüllen wird. Die Cutter* sollten die beabsichtigte Textperson kennen lernen, damit sie ihr durch die Filmgestaltung den benötigten Raum geben können. Autoren sollten sich während des Schnitts die für den Text notwendigen Sachverhalte und Fakten notieren und an den ersten geschnittenen Filmsequenzen die für die beabsichtigte Textperson charakteristischen Formulierungen erproben. Klappt das mehrere Male nicht, sollte man eine andere Textperson auswählen; und dies der Redaktion mitteilen und begründen. Ausformulieren und Gestalten der Textperson kann sinnvoll erst nach dem Schnitt Platz finden. Denn bei aufwändigen Magazinformaten ist die Konzentration auf filmische Lösungen und die Kommunikation der Autoren mit den Cuttern eine notwendige Bedingung für ein gelungenes Produkt. Erst danach lässt sich erkennen, was die Textperson im Detail und an welcher Stelle tun muss, um den Film noch spannungsreicher zu machen und ihn richtig zu steuern. Alle Beteiligten werden es schätzen, wenn von Anfang an für den Text eigens Zeit disponiert wird und die Film-Abnahme ebenfalls ihr eigenes Zeitfenster bekommt, das nicht von der Schnittzeit abgezogen wird. 217

218

Teil 2 Textperson und Filmtext schreiben

Für aufwändige Kurzformate die auch als Web-Serien im Netz funktionieren sollen, geht man ebenso vor wie beim aufwändigen Magazin-Film. Der Vorrang liegt bei Bild, Sound und Rhythmus. Im Treatment ist die Textperson skizziert und auch deren Stil in Beispielen. Aber erst nach dem Schnitt kann man erkennen, wie dieser Stil mit Bild und Sound wirkungsvoll zusammenspielen kann. Man benötigt also eine disponierte Zeitspanne für den Filmtext. In langen Filmformaten sind der Schnittrhythmus und die Abwechslung von emotionalen und argumentativen Filmsequenzen ein wesentliches Moment der Attraktivität. Im Schnitt muss man deshalb Haltung und Blickrichtung der gewählten Textperson mitberücksichtigen und möglichst viel Information bereits in Bild und Sound zeigen, so dass der Filmtext entlastet wird. Er sollte nur dort dominieren, wo nur der Text den Film vorantreiben kann. Dafür benötigt er Bild-Sequenzen, in denen ein Text nicht stört; eher Halbtotalen und Totalen als Großaufnahmen. Der Filmtext wird die zweidimensionalen Filmszenen um weitere Erlebensdimensionen erweitern und die Aufmerksamkeit der Zuschauer auf bestimmte Elemente der Bilder lenken. Der oft gehörte Spruch „Der Film muss auch ohne Text als Geschichte funktionieren“ ist zu kurz gedacht, weil er die Mehrdeutigkeit der Bild-Szenen und die filmische Darstellungskraft einer Textperson übersieht. Argumentative und erklärende Filmsequenzen sollten ausreichend lang sein, so dass sie Text – als lange Sätze oder kurze Brocken – gut vertragen. Sie müssen als Bildgehalt (z. B. Halbtotalen; Zoom-out, Schwenk, Grafik) nicht die gesamte Erzähllast tragen. Später, wenn der Text fertig und abgenommen ist, kann man sie in Feinheiten noch kürzen. Bei textdichten Sequenzen hilft es, mit vorläufigen Formulierungen auszuprobieren, ob alle im Treatment für die jeweilige Filmsequenz relevanten Fakten auch auf die geschnittene Sequenz passen. Und die Sequenz entsprechend verlängern, wenn sich Kürzen des Textes an dieser Stelle als ungünstig erweist. Filmsequenzen, die emotional wirken sollen, benötigen starke Bilder und einen Schnittrhythmus – lang oder kurz – der mit möglichst wenig Text auskommt. Das gedrehte Material erfüllt fast nie einfach die Vorgaben eines Treatments. Und im Schnittprozess stellt sich oft auch heraus, dass eine andere als die geplante Textperson den Film besser erzählen könnte. Bei langen Filmformaten bietet das Material der Regie und den Cuttern neue Erzählmöglichkeiten an, die zu entdecken lohnt. Man kann genauer auf die Aussage-Sorten der O-Töne achten und die Infoladungen in Bild-Szenen wahrnehmen.

7 Wie soll die Arbeit ablaufen?

219

Deshalb ist es sinnvoll, den Film fertig zu schneiden und nach der Filmischen Abnahme (Rohschnittabnahme nur mit Texthinweisen) mit der Redaktion ausdrücklich eine endgültige Textperson zu vereinbaren.

7.4

Nach dem Filmschnitt – Filmtext und Textperson

Für Kurze Filmformate muss der Filmtext – und damit die Textperson – meist unmittelbar nach dem Schnitt entstehen. Hat man bereits während des Schnitts einen Großteil des Textes ausprobiert, kommt es jetzt darauf an, durch die Formulierung die Sichtweise, den Charakter und die Plausibilität der Textperson konkret werden zu lassen. Der Zeitdruck ist enorm hoch. Das Ergebnis wird nur selten perfekt werden. Wenn der Filmtext schon früher entstehen musste, sollte man ihn jetzt gründlich aufs Bild hin redigieren und danach erst – gemeinsam mit Bild und Ton – abnehmen lassen. Bei aufwändigen Magazin-Formaten bleibt meist eine Pause zwischen Schnitt-Ende und der Arbeit am Filmtext. Die kann man nutzen, um sich mit gänzlich Anderem als dem Film zu beschäftigen (z. B. Musik hören, durch den Park laufen, Schwimmen gehen). Dadurch gewinnt man Distanz zum eigenen Produkt und einen frischen Blick darauf, wie die Textperson mit dem geschnittenen Film umgehen kann. ▶ Ein Blick ins Textperson-Profil schärft den Blick für die Film-Situation, den Sound und die mögliche Formulierung. Anhand des Schnitts lässt sich einschätzen, welches Element des Profils zu Filmbeginn die größte Spannungswirkung erzeugt. Und welche Formulierung sofort Aufmerksamkeit einfangen wird. Und dann geht man Sequenz für Sequenz weiter: Formulieren; ausprobieren; Komponenten des Profils nutzen; anpassen. Da lange Film-Formate für den Schnitt mehrere Tage oder Wochen beansprucht haben, und Recherche und Dreh oft Wochen und Monate, ist eine Pause nach dem Schnitt-Ende und der Filmischen Abnahme (Rohschnittabnahme) äußerst wichtig, um sich in die für das Texten notwendige Distanz zu bringen. Wenigstens ein Wochenende wäre gut.

219

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Teil 2 Textperson und Filmtext schreiben

Nach langen Filmarbeiten sind Autoren oft matt. Das Texten als vorletzter Arbeitsschritt drückt bei vielen auf die Stimmung. Man hat die Bilder so oft gesehen, erinnert sich an viele Erlebnisse im Verlauf der Recherchen, des Drehs und des Schnitts und weiß am Ende kaum noch, was sich denn dazu texten lässt. Genau jetzt zahlt sich aus, dass man sein Werkzeug „Textperson“ geschaffen hat. Denn wenn diese Textperson stimmt und – nach der Filmischen Abnahme (Rohschnittabnahme) – vereinbart ist, wird sie den gesamten Film und alle seine – aus unterschiedlichen Gründen – schwierigen Stellen plausibel und Spannung weckend erzählen können. Am Text-Anfang langer Filme stolpert man leicht in eine Falle: Man formuliert unwillkürlich das eigenen Abschluss-Gefühl. Und die ersten Sätze geraten zu zusammenfassenden Schluss-Sätzen. Die Textperson zeigt sich unabsichtlich als ermüdeter Dozent (z. B. „Verona in Norditalien, Stadt der Liebe, geschichtsreich und voller Geschichten“; „Grönland, eine Welt aus Eis, unwirtlichen Bergen und dem weiten Polarmeer. Lebensfeindlich, aber wunderschön“). In dieser Arbeitssituation sind Autoren* in ihrer inneren Haltung näher am Schluss. ▶ Es lohnt sich, zuerst den Schluss zu texten, danach erst den Film-Anfang. Der Film-Anfang lässt sich dann leichter als Spannungs-Gegenpol zum Filmschluss formulieren. Es ist nicht wichtig, den Filmtext in der Reihenfolge von Anfang bis Ende zu schreiben. Wer sich gut damit fühlt, kann das durchaus tun. Für manche ist aber wichtiger, sich zuerst der notwendigerweise textlastigen und dramaturgisch kritischen Stellen anzunehmen und danach aller anderen. Auf diese Weise vergewissert man sich immer aufs Neue, was der Zuschauer bisher schon im Film erlebt hat, was er noch erleben soll; und diese Vergewisserung bringt einen auf frische Formulierungen, die zu unterschiedlichen Elementen im Soziogramm der Textperson passen. Zum Schluss redigiert man den gesamten Filmtext – Sequenz für Sequenz – auf die Sichtweise und Haltung der beabsichtigten Textperson. ▶ Die Text-Abnahme sollte immer mit Bild stattfinden, nicht nur als Lektüre. Korrekturen am Text allein produzieren meist Fehlsteuerungen Ein aufgeschriebener Filmtext mit den Zeitangaben für seinen jeweiligen Start lässt nicht das filmische Zusammenspiel von Bild und Text erkennen. Auf diese Fähigkeit der schriftlichen Darstellung des Filmtextes und auf die Erzählhaltung

7 Wie soll die Arbeit ablaufen?

221

der Textperson aber kommt es für die Wirkung des Films an. Bei der Endabnahme werden sich immer noch verbesserungswerte Textstellen zeigen und man muss sicher auch noch das eine oder andere Faktum auf seine genaue Formulierung prüfen oder ändern. Und manchmal werden noch einige kleine Schnittkorrekturen notwendig, damit Rhythmus und Zusammenspiel aller filmischen Erzähl-Ebenen stimmen.

7.5

Welchen Nutzen bringt ein formatiertes FilmtextManuskript?

Im Textmanuskript steht das Endergebnis der Arbeit am Filmtext. Und dort finden sich auch weitere für die Endfassung des Films wichtige Elemente (z. B. die O-Töne, die Angaben für Inserts und Unterblender, Positionierungen von für den Text relevanter Musik und Geräusche). Das Textmanuskript schreiben Autoren auch als Werkzeug für andere am Film Beteiligte. Und nicht zuletzt auch fürs eigene Archiv und für die Projektdokumentation. Der Filmtext wird oft in Eile geschrieben und manchmal ist man als Autor* froh, dass er überhaupt druckbar ist. In einer solchen Situation setzt man eine Zeitangabe vor jedes Textstück; und alle Beteiligten werden sich irgendwie damit zurechtfinden. In vielen Fällen (z. B. für tägliche Magazinformate) schreibt man den Filmtext direkt ins jeweilige Redaktionsprogramm (z. B. Open Media), in dem nur wenige Möglichkeiten zur Formatierung vorgesehen sind. Sobald aber ein Film aufwändiger gearbeitet ist, ein längeres Format hat oder wenn man mit einer Film-Produktionsfirma arbeitet, erleichtert man sich selbst und allen Beteiligten die Arbeit mit einem formatierten Textmanuskript, das am Ende der Arbeit zur Projektdokumentation (dazu gehören auch z. B. Sendepass, Rechteklärung, GEMA-Liste; Treatment, Exposé) hinzugefügt wird. Eine Dokument-Vorlage für das Textmanuskript sollte auf dem eigenen Rechner liegen und/ oder auf dem Server der Produktionsfirma. Ein formatiertes Textmanuskript ist äußerst nützlich, wenn mehrere Autoren*am gleichen Film arbeiten. Es bildet dann die gemeinsame Arbeitsgrundlage für den Filmtext. Den hier dargestellten Vorschlag für ein formatiertes Filmtext-Manuskript kann man als Microsoft-WORD-Datei herunterladen: https://gregor-a-heussen.de/werkzeuge/arbeitsvorlagen/. 221

222

Teil 2 Textperson und Filmtext schreiben

Das Textmanuskript ist eine gemeinsame Arbeitsgrundlage und Handlungsanweisung für unterschiedliche Mitarbeiter*: • für die Sprecher, auch dann, wenn Autoren* selber sprechen; • für die Tonmeister* und Tontechniker, welche die Mischung machen. Für sie ist zusätzlich der Mischplan der Autoren* wichtig; • für die Ablaufredaktion und Regie; es ist für sie die Dokumentation des Filmablaufs mit allen für den Filmtext und das Zusammenspiel von Szene, Text und O-Ton relevanten Angaben; • für die Grafik, die Schriftliches im Film gestaltet; für die Bearbeiter der Inserts und Unterblender; • für die Senderegie und den Sendeton; für beide ist das Textmanuskript Teil des Sendemanuskripts; • für das Archiv und die Projektdokumentation. Deshalb muss das Textmanuskript alle für diese Mitarbeiter relevanten Details enthalten; und zwar auf eine Weise, dass sie sich leicht darin zurechtfinden können. Die Gestaltungsabsichten der Autoren* sollen für alle Beteiligten klar erkennbar werden. Alle arbeiten ja im Team mit. Und die Sprecher* würden meist gern noch letzte Korrekturen, für sie selbst lesbar, eintragen wollen. Das Formular sollte unterschiedliche Schriftformatierungen für die Angaben zu Bild, Zeit, Geräusche, Musik und für andere Angaben und zum Filmtext enthalten, damit man das Wichtigste – den Filmtext und seine jeweiligen Startzeitpunkte – gut von allen anderen ebenfalls wichtigen Angaben unterscheiden kann. Die Zeitangaben werden durch die größere Schrift leichter im Mitlesen erkennbar und der Filmtext selbst wird von anderen Hinweisen durch Schrifttype und Positionierung deutlich abgegrenzt. Wie ein Filmtext als Manuskript aussehen könnte, steht im Anhang.

7 Wie soll die Arbeit ablaufen? Tab. 1

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Beispiel für formatiertes Textmanuskript TITEL:      

Datum:      

Projekt-ID/ Prod. Nr.:      

Autor/in:      

Redakteur/in:      

Kamera / Ton:      

Sendungstag:      

Schnitt:      

Sendungszeit:      

Sprecher/in:      

Länge:      

Textperson:      

BILD

ZEIT

TEXT

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Teil 2 Textperson und Filmtext schreiben

Der Kopfteil kann bei Produktionsfirmen oder Fernsehhäusern unterschiedlich ausfallen. Wichtig für die Sprecher* ist die Angabe der beabsichtigten Textperson. In die linke Spalte kommen: • Bildinformationen. Angaben zu sichtbaren Film-Elementen, die für die Positionierung des Filmtextes und anderer Filmkomponenten relevant sind. Aus den Bildangaben sollte auch ein Fremder (z. B. Ablaufregie, Sprecher) das Bild zweifelsfrei in jeder Projektionsform erkennen können (z. B. „Schwenk r/l über Wohnsiedlung“; nicht: „Totale Düsseldorf-Rath“); • die Inhalte von Inserts, Unterblendern und Schriften samt den zugehörigen Zeitspannen. Denn dies sind ebenfalls Bild-Infos. Die Zeitspanne für Schriftliches sollte so lang bemessen sein, dass der Zuschauer* wirklich mitlesen kann. Autoren* und Redakteurinnen* lesen Inserts schneller als Zuschauer, denn sie kennen die Inserts bereits. Man darf die Personenkenntnisse der Zuschauer nicht überschätzen. Den Namen der meisten Personen begegnet man als Zuschauer in jedem Film neu. Als gute Handwerksregel hat sich herausgestellt: doppelte laute Sprechlänge. Die liegt kaum je unterhalb von 6 Sekunden. Bei Leuten, die jeder kennt, kann man ein Insert auch kürzer stehen lassen (z. B. beim Bundeskanzler; im Regionalen bei der Ministerpräsidentin); • die Namen und Titel der O-Ton-Geber. Das auch zur Kontrolle für alle, die mit diesen Namen im Arbeitsprozess zu tun haben. Die Autoren* sind für deren genaue Darstellung verantwortlich. Allerdings benötigen die Mitarbeitenden manchmal (z. B. für bewegte aufwändige Unterblender oder Sprechblasen) noch eigene Listen für Namen und Schriftinhalte. In die mittlere Spalte kommen: • alle Zeitpunkte, für die Positionierung von Filmtext und anderer mit dem Filmtext unmittelbar zusammenspielender Filmkomponenten. Durch die Zeitangaben in der mittleren Spalte sollten Sprecher* und Tontechnikerin* dem Filmlauf und den jeweiligen Einsätzen von Bild, Geräusch, O-Ton und Filmtext jederzeit leicht folgen können; • Soll der Text exakt auf einen Szenenanfang starten, meint die Zeitangabe sowohl Bild wie Text; • Soll der Text im Szenenverlauf starten, wird der Zeitpunkt des Szenenanfangs angegeben und mit einer zweiten Zeitangabe der Start des Textes. Dann können die Sprecher im Textmanuskript die beabsichtigte Textpositionierung genau erkennen und den Filmtext in die Bildbewegungen einfügen.

7 Wie soll die Arbeit ablaufen?

225

In die rechte Spalte kommen: • Der Filmtext; er sollte in angenehmer Schriftgröße die ganze Spaltenbreite bekommen; • wenn das Textende exakt auf einen Musikanfang hin oder auf ein bestimmtes Geräusch auflaufen soll, oder auf eine in der Szene frei zu lassende O-Ton-Stelle, gehört ans Ende dieses Textabschnitts die Zeitangabe für das letzte Wort. Daran erkennen Sprecher* wann sie fertig sein müssen und der Text rutscht nicht in eine andere Film-Komponente hinein; • Manchmal muss ein bestimmtes Wort, auch wenn es mitten im Satz steht, genau auf einen Bildschnitt oder auf ein bestimmtes Bild passen, (z. B. beim Texten „über den Schnitt“ oder wenn der Gesichtsausdruck, eine Geste oder eine Großaufnahme betont werden soll). In diesem Fall benötigt man eine eigene Zeitangabe für dieses Wort. Dieses Wort sollte allein in einer Zeile stehen, auch wenn der Satz fließend weiter geht. Dadurch werden Sprecher* aufmerksam für die genaue Übereinstimmung von Bild und Text an dieser Stelle; • Beim letzten Textstück am Film-Ende gibt man auch die Zeit für das Ende des letzten Bildes an; und ebenfalls die Zeit für das Ende von Geräusch und das genaue Musik-Ende: Denn diese Filmkomponenten stehen meist deutlich länger als das Textende. So wissen die Sendetechniker*, wie lange es nach dem letzten Wort noch dauern wird, wenn sie auf Studio oder auf eine andere Quelle umschalten müssen; man kann durch diese Angaben vermeiden, dass der Film gleich nach dem letzten Wort gleichsam abgerissen wird; • Infos zu den Einsätzen von Geräusch und Musik. Sie sollten in kleiner Type dargestellt sein, damit sie nicht mit Filmtext verwechselt werden können. Dies ermöglicht den Sprecherinnen* sich in den von Szene, Geräusch und Musik gegebenen Rhythmus einzupassen; • Die O-Töne müssen wörtlich und ganzer Länge ins Textmanuskript kommen. Denn sie müssen anhand des Textmanuskripts als tatsächlich gesprochen kontrollierbar sein. Damit man O-Töne nicht mit Filmtext verwechselt, werden sie eingerückt und in anderer Schrifttype dargestellt. Ein formatiertes Filmtext-Manuskript, in dem sich jeder gut zurechtfinden kann, ermöglicht ein präzises Arbeiten am Zusammenspiel in Mischung und Sprachaufnahme. Es erleichtert allen Beteiligten die Übersicht und Kontrolle der Spannungselemente.

225

226

7.6

Teil 2 Textperson und Filmtext schreiben

Die Sprecher-Entscheidung

Wer den Film sprechen soll und somit als Stimme der Textperson auftritt, bedarf einer Vereinbarung mit der Autorin* und einer Entscheidung in der Redaktion. Die Entscheidungskriterien sind von vielerlei Umständen und Einschätzungen abhängig, unter anderem auch davon, welche Grundüberzeugung eine Redaktion von ihrem Sendeplatz hat. Und wieviel Geld die Produktion für Sprecher ausgeben kann oder will. Autor oder Sprecher: Bei dokumentarischen Magazin-Formaten setzt die Redaktion häufig voraus, dass Filmautoren* auch die authentischsten Sprecher* seien. Dann sind in einem Magazin oder auf einem Sendeplatz unterschiedliche Stimmen von Männern und Frauen zu hören. Dadurch erweitert sich zwar die Ton-Variation eines Magazins oder eines Sendeplatzes. Aber auf einem meist schwachen Darstellungsniveau. Denn Filmautoren sind nicht selbstverständlich auch gute Sprech-Darsteller der von ihnen geschaffenen Textpersonen. Viele gute Autoren haben keine gute Sprech-Stimme und verfügen nicht über den Werkzeugkasten der Sprech-Darstellung. Allzu oft entsteht der typische „Korrespondenten-Singsang“ oder eine oft gehörte „Leier“, in deren Eintönigkeit wichtige Sachverhalte für den Zuschauer nicht mehr greifbar werden. Daher haben sich manche Redaktionen grundsätzlich für professionelle Sprecher entschieden. Aber nur wenige nutzen konsequent die Möglichkeit abwechselnd weibliche und männliche Stimmen einzusetzen. Oft spricht dieselbe Stimme alle Filme eines Magazins, was ebenfalls wieder zu Monotonie führt. Nutzt man dann Textpersonen, ließe sich diese Monotonie verringern, weil Profis über viele sprecherische Darstellungsmittel verfügen, die den unterschiedlichen Textpersonen gerecht werden können. Eine „Ein-für-alle-mal-Regel ist hier dramaturgisch nicht sinnvoll. ▶ Da Autoren für viele Filme tatsächlich die authentischsten Sprecher sein können, sollten sie ihre Sprech-Darstellung ebenso professionell trainieren wie Recherche und Regie. Wenn Autoren selbst sprechen müssen, z. B. weil sie Auslandskorrespondenten sind und am Ende ihres Films noch einen ON-Auftritt haben (Fachjargon: „den Kopf rausstrecken“), könnten Zitate und fremdsprachige O-Töne im Film durch andere Stimmen sich vom Autor-Sprecher absetzen. So wird der Film in der Erzählhaltung attraktiver (Im täglichen arte-journal wird das so gehandhabt). Stimmenvielfalt macht jeden Film attraktiver.

7 Wie soll die Arbeit ablaufen?

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Einer oder mehrere Sprecher/Sprecherinnen: In vielen Fachmagazinen werden nur professionelle Sprecher eingesetzt. Dann wird die Entscheidung notwendig, ob alle Filme vom gleichen Sprecher oder der gleichen Sprecherin präsentiert werden. Häufig wird diese Frage aus Kostengründen und Routine eher durch die Produktion als durch die Redaktion entschieden. „Wiedererkennbarkeit“ und „Marken-Auftritt“ begründen auf den ersten Blick in einem Magazin und oft auch auf einem Sendeplatz das Auftreten nur einer einzigen Erzählerstimme. Die Wiedererkennbarkeit eines Sendeplatzes – auch im Netz – wird aber durch die erzählerische Herangehensweise und gestalterische Variation geprägt. Nur bei Gegenständen kann man Wiedererkennbarkeit allein durch gleiche Farbe und Gestaltung erreichen. ▶ Variantenreich wird ein Magazin, und jeder Sendeplatz, wenn unterschiedliche weibliche wie männliche Stimmen zu hören sind. Nochmals unterhaltsamer und zugleich informativer wird es, wenn fremdsprachige O-Töne der Filme nicht von den Filmerzählern gesprochen werden, sondern von O-Ton-Sprechern. Filme und Sendung wecken dann mehr emotionale Aufmerksamkeit und das Publikum kann den Sachverhalten deshalb besser folgen. Sprecher/Sprecherinnen für lange Filmformate: Bei langen dokumentarischen Filmformaten entsteht für die Filmautoren oft ein Dilemma: sie stellen sich eine bestimmte Textperson vor, die Redaktion aber stellt sich in der Hoffnung auf ein größeres Publikum bereits einen bekannten Sprecher oder eine Sprecherin vor. Manchmal sind Sprecher bereits verpflichtet, ehe die Dreharbeiten begonnen haben. In solchen Fällen lässt sich die Redaktionsentscheidung nur noch selten beeinflussen. Dann müssen Autoren ihre Textperson nach Art und Geschlecht der Sprecher* auswählen: männlich oder weiblich, junge oder älter. Sie können den bekannten Sound der Sprecherin* berücksichtigen und eine Textperson anbieten, welche den Sprechern* die Chance gibt, ihre Sprech-Darstellung weiter zu entwickeln. So werden sich die Wirkung des Films und die Wertschätzung der Sprecher beim Publikum erhöhen. ▶ Günstig einigt man sich zuerst über die Textperson und danach über die Sprecherbesetzung. Die erzählerische Qualität von Filmen wird steigen, wenn Redaktion und Autoren von Anfang an gemeinsam überlegen, welche Textperson oder Textpersonen den 227

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Teil 2 Textperson und Filmtext schreiben

Filmstoff wirksam erzählen könnten. Diese Überlegungen werden im Laufe der Arbeit konkreter, sie können geändert werden, sollten aber in der Schnittzeit zu einer Vereinbarung und spätestens nach der Filmischen Abnahme (Rohschnittabnahme) zu einer Entscheidung führen. Denn ab diesem Zeitpunkt laufen alle Deadlines für die Endabnahme des Films, die Mischung, die Sprachaufnahme, die Farbkorrektur, die technische Abnahme und die Sendung.

7.7

Zeitaufwand für den Filmtext

Die Zeit zum Texten, ganz unabhängig davon, ob der Film kurz wird oder lang, ist immer zu kurz. Das wissen alle Beteiligten. Den Film zu texten ist die vorletzte Arbeitsphase beim Filmemachen. Sie fällt umso schwerer, je tiefer die Autoren im Filmstoff stecken. Um die für den Filmtext nötige Distanz zu erreichen, ist eine vorher konzipierte Textperson eine wichtige Hilfe. Wichtiger aber ist ausreichend Zeit zum Umschalten. Bei kurzen tagesaktuellen Filmen müssen dafür 15 Minuten ausreichen. Bei langen Filmformaten sollte die Umschaltpause wenigstens einen halben Tag lang sein. Es hilft fürs Umschalten, auch wenn es sehr kurz ausfallen sollte, etwas zu tun, was man sehr gern tut und was einen wegbringt vom Filmthema (z. B. Musik hören; sich mit Freunden treffen; Gartenarbeit; Laufen, sich einige Minuten draußen hinsetzen und die Natur betrachten). Autoren brauchen unterschiedlich lang für einen Filmtext und sie brauchen unterschiedliche, ihrer eigenen Person angemessene, Bedingungen. Deshalb gibt es keine Universalregel für den Zeitaufwand beim Texten. Mehr als 15-20 Filmminuten pro Arbeitstag werden aber nur selten gelingen. Und da, wie jeder Schreibende weiß, die erste Fassung eher weggeworfen werden muss und erst die zweite oder dritte Fassung stimmig klingen wird, ist etwas mehr Zeit günstiger als ein dichter Zeitplan. Denn unter Druck verfällt jeder Mensch in seine – auch professionell gewohnten – Sprachformeln und kommt nur schwer von der Bildbeschreibung weg. ▶ Redaktion und Autoren* arbeiten effektiver mit klaren Absprachen für eine Zeitspanne zum Texten. Wenn man früh über diese Zeitspanne spricht, wird sie sich planen lassen. Man kann manchmal auch nochmals während des Schnitts, bei dem der Text-Aufwand deutlich sichtbar wird, mit Redaktion und Produktion über Anpassungen verhandeln. Bei langen Filmformaten lässt sich auch ein wenigstens 24-stündiger Abstand zwischen dem Ende der Textabnahme und der Sprachaufnahme meist disponieren.

7 Wie soll die Arbeit ablaufen?

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Dann werden die nach einer Textabnahme immer fälligen Textkorrekturen eine gute Qualität für alle Beteiligten erreichen.

7.7.1 Deadline und Zeitlauf für den Filmtext Autoren und Redaktion müssen planen, wann die Textperson entschieden sein soll und zu welchem Zeitpunkt der Filmtext fertig sein muss. Diese Festlegung hängt davon ab, wer mit dem fertigen Text als nächster arbeiten muss und wieviel Zeit der jeweils Nächste dafür benötigen wird. Da viele lange Filme von Produktionsfirmen und in Koproduktion entstehen, muss man auch Reisezeiten, Lieferzeiten und Kooperations-Abstimmungen in die Zeitplanung mit einbeziehen. Jeder fertige Filmtext muss in die Endabnahme zur Redaktion oder zum Auftraggeber. Die äußeren Bedingungen von Endabnahmen und die Zahl der beteiligten Personen können höchst unterschiedlich sein. Jede auftraggebende Redaktion und jedes Fernsehhaus haben ihre Gewohnheiten und Routinen. Die können für die Beteiligten und das Ergebnis mehr oder weniger günstig sein. In jedem und auch im günstigsten Fall sind bei der Textabnahme nur Autor* und Redakteurin* beteiligt. Der fertig formulierte Text • wird bei laufendem Bild und Geräusch vorgelesen. Die Abnehmer* hören zu; sie können Notizen machen; • sollte in einer professionellen Filmabnahme (bei Magazinen und langen Formaten) zweimal durchlaufen: beim ersten Durchlauf ohne Unterbrechung wird der Abnehmer* eine generelle Einschätzung des Zusammenspiels der Textperson mit Bild und Ton und der Gesamtwirkung abgeben; dann folgt ein zweiter Durchgang, bei dem an allen kritischen Stellen Lösungsmöglichkeiten vereinbart werden; • wird auf das emotionale und inhaltliche Zusammenspiel mit Bild, Ton, O-Ton und Schrift geprüft; Abnehmer* bemerken Fehlendes oder Unklares und geben Hinweise zur Änderung; • bekommt vom Abnehmer ein OK oder die Autorin* bekommt die Bitte um Änderungen und Wiedervorlage. Als praktisches Zeitmaß für eine Abnahme hat sich das etwa 5 -7-fache der Sendelänge erwiesen; das ergibt für einen Nachrichtenfilm etwa 10-15 Minuten, für eine 45-Minuten-Dokumentation etwa 5 Stunden. 229

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Teil 2 Textperson und Filmtext schreiben

Manche Filmtexte müssen zusätzlich samt Bild vom Justiziarat geprüft werden. Für einige wird ein zusätzlicher Faktencheck notwendig. Aus diesen Gründen kann auch eine zweite Endabnahme nötig werden. Und sobald der Filmtext endgültig fertig ist, benötigen auch die Sprecher, wie oben erwähnt, ihre Vorbereitungszeit. All diese Anforderungen führen dazu, dass Autoren und Redaktion zwischen Filmischer Abnahme und Sprachaufnahme eine ausreichend große Zeitspanne einplanen sollten. Denn diese Arbeitsphase ist kompliziert: Der Filmtext muss verfasst werden. Letzte Recherchen werden notwendig. Die Textperson bekommt ihre endgültige Gestalt. Sie soll in vielen Einzel-Textstücken immer wieder zugleich Spannung zu den Szenen, Tönen und O-Tönen finden und den Erzählfluss und die Erwartungen der Zuschauer steuern. ▶ Wenn der Filmtext gedruckt – und nur gelesen – etwas unverständlich wirkt, spricht das dafür, dass er den Film richtig steuert. Liest er sich „wie gedruckt“, fehlt ihm meist die Verbindung zum Bild. Würde ein Filmtext nur für den Druck konzipiert, dann ließe er sich vielleicht fließend runterschreiben. Er würde aber unwillkürlich zur Bildbeschreibung werden oder zu einer Fülle von Bild-Text-Scheren und Bild-Text-Kollisionen führen, bei denen sich der Filmtext um Bild und Ton nicht weiter kümmert. Es erfordert Zeit, Übung und geistige Mühe, den sich vordrängenden Sprach-Hohlkörpern und den Bildbeschreibungen auszuweichen. Auch nach der Endabnahme eines Films und selbst in der Sprachaufnahme werden immer noch Textkorrekturen dieser Art nötig werden. Die Spanne zwischen Filmischer Abnahme und Sprachaufnahme kann wenige Tage betragen oder auch einige Wochen. Der Filmtext wird in dieser Zeitspanne fertig und abgenommen. Im Rückblick bekräftigen kreative Menschen zwar oft, sie benötigten einen gewissen Zeitdruck, um Ideen zu bekommen. Da ist sicher nicht falsch. Denn Zeitdruck weckt kreative Kräfte und Durchhaltevermögen. Bei zuviel Zeitdruck aber wird ihnen ein Filmtext eher schematisch und wenig attraktiv geraten. In der Praxis ist das richtige Maß schwer zu finden. Ausprobieren und Erfahrung sammeln lohnt sich.

7 Wie soll die Arbeit ablaufen?

7.8

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Sprachaufnahme und Endmischung

Kurze Formate: Die Sprachaufnahme liegt zeitlich meist unmittelbar hinter der Filmabnahme. Oft sprechen die Autoren selbst. Dies engt dies die Auswahl ihrer möglichen Textpersonen ein: sie sollten, um glaubwürdig zu wirken, vom gleichen Geschlecht wie die Autoren sein. Manchmal werden auch Sprecher eingesetzt. Die sehen den Filmtext ganz knapp vor der Sprachaufnahme zum ersten Mal. Deshalb sollte im Textmanuskript die beabsichtigte Textperson prominent, am besten ganz vorn vermerkt sein, damit Sprecher diese Textperson erkennen und darstellen können. Bei kurzen Filmen muss man manchmal in Kauf nehmen, dass Textperson und Sprecher nicht im Geschlecht übereinstimmen. Auch zeigt sich oft erst in der Sprachaufnahme, dass eine Formulierung den Sprechenden „quer im Mund liegt“. Dann ist eine letzte Korrektur fällig. Aufwändige Magazin-Formate werden überwiegend von professionellen Sprechern präsentiert. Manche Redaktionen sind davon überzeugt, dass die beste Wirkung einer Sendung dann erreicht wird, wenn derselbe Sprecher/dieselbe Sprecherin alle Filme spricht. Andere Redaktionen setzten auf unterschiedliche Sprecher, um zusätzliche Abwechslung in der Sendung zu bekommen. In beiden Fällen müssen die Sprechenden die beabsichtigte Textperson kennen lernen, möglichst so früh vor der Sprachaufnahme, so dass sie sich darauf einstellen können. Film-Autoren* können unabhängig von ihrem eigenen Geschlecht männliche wie weibliche Textpersonen schreiben. Sie sollten ihre Textperson so auswählen, dass sie zu den vorgesehenen oder diensthabenden Sprechern passt. Denn es wirkt unglaubwürdig, wenn eine männlich konzipierte Textperson von einer Frau gesprochen wird und umgekehrt. In manchen Redaktionen ist es auch üblich, dass Sprecher des jeweiligen Tagesdienstes die Magazinfilme sprechen. Dann sollte man als Autor wissen, wer Dienst hat, und die Textperson entsprechend gestalten. Für fremdsprachige O-Töne in einem aufwändigen Magazinformat lohnt es sich, eigene Sprecher zu engagieren, mindestens einen Mann und eine Frau (so macht es z. B. immer wieder das „arte-journal“). Durch den Stimmenwechsel zur Film-Textperson werden die O-Töne deutlicher als dramaturgisch relevant wahrgenommen. Lange Filmformate: Beim langen Filmformat ist die Entscheidung, wer sprechen soll, nicht trivial. Denn Stimme und Sprechgestaltung wirken unmittelbar emotional auf das Publikum. Die Wirkung eines Films kann durch eine gelungene Auswahl erheblich steigen, durch einen Fehlgriff aber auch deutlich abstürzen (z. B., wenn die 231

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Teil 2 Textperson und Filmtext schreiben

Sprechhaltung, die Sprechgestaltung oder das im Sprechen wahrgenommene Alter nicht richtig zur Textperson und zum Thema passen. Oder wenn das Publikum eine häufig auftretende Sprecherstimme nicht mehr hören mag). Die Sprechgestaltung kann auch einen gut geschriebenen und zum Film passenden Text wirkungslos werden lassen. Und die Qualität des Films zerstören. Sprecher* benötigen ausreichend Zeit, um für die Textperson eine passende Sprechgestaltung zu finden. Weil das Textmanuskript eines langen Films meist nicht erst in letzter Sekunde fertig wird, kann man diese Zeit disponieren. Professionelle Sprecherinnen* kennen viele Darstellungsmittel, um die passende filmisch-erzählerische Wirkung zu erzielen. Diese Wirkung wird kräftiger, wenn Autoren* oder Redaktion bei der Sprachaufnahme sorgfältig Regie führen.

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Welche Kriterien führen zur Entscheidung für eine Textperson? 8 Welche Kriterien führen zur Entscheidung für eine Textperson?

Zusammenfassung

Das Kapitel stellt Kriterien vor, die bei der dramaturgischen und handwerklichen Entscheidung für eine bestimmte Textperson hilfreich sind. Dazu zählen zum Beispiel die Konsistenz sowie der Kontrast.

Schlüsselwörter

Textperson-Typen, Entscheidungshilfe, Konsistenz, Spannung, Kontrast, „springende Textperson“,

Auch wenn Autoren* sich immer wieder während der Arbeit eine Textperson vorstellen; irgendwann, spätestens, bevor sie den Text schreiben, müssen sie sich für eine bestimmte Textperson entscheiden. Für den gleichen Film zeigen sich fast immer mehrere Möglichkeiten für eine stimmige und richtige Textperson. Man kann diese dramaturgische und handwerkliche Entscheidung an klaren Kriterien ausrichten. Letztlich aber entscheidet das Gespür von Autoren* für die Stimmigkeit und den Kontrast von Filminhalt, auftretende Figuren, Bildsprache, Sounddesign und Filmtext, welche Textperson erzählen soll. Für eine Textperson sollte man sich – idealerweise – zeitlich vor der Sprecherauswahl entscheiden. Diese dramaturgisch und für die Filmwirkung günstigste Variante funktioniert wie die Rollenbesetzung im Spielfilm, wo sich die Entschei© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 G. A. Heussen, Die Textperson im dokumentarischen Film, Journalistische Praxis, https://doi.org/10.1007/978-3-658-28456-5_8

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Teil 2 Textperson und Filmtext schreiben

dung für die Darsteller überwiegend (die Ausnahme sind große Stars) nach den Anforderungen des Drehbuchs und der Produktion richten. Der Zeitpunkt der endgültigen Entscheidung für eine bestimmte Textperson liegt günstig erst dann, wenn alle relevanten Fakten in Bild und Ton vorliegen. Denn zu diesem Zeitpunkt kann für Redaktion und Autor endgültig klar sein, welche inhaltliche und erzählerische Leistung die Textperson erbringen muss. Das ist bei langen Formaten sinnvoll nach der filmischen Abnahme. Und in Magazin-Filmen während des Schnitts. ▶ Filmtext gelingt leichter in lebendiger Kommunikation zwischen Autoren und Redaktion – Am Ende allerdings müssen Autorinnen* einsam Text schreiben in direkter Kommunikation mit ihrem Film. Ist ein Filmtext bereits im Treatment vorformuliert, wird er nach dem Filmschnitt nicht mehr in die Gesamtwirkung des Films passen. Denn zum Zeitpunkt des Treatments waren Autoren* noch im Sammel- und Registriermodus. Dieses Textregister wird in den meisten Fällen für den geschnittenen Film zu schwach wirken. Die endgültige Entscheidung zur Textperson wird also immer eine Überarbeitung des Treatment-Textes zur Folge haben. ▶ im Arbeitsverlauf an langen Filmformaten werden sich auch andere als die ursprünglich geplanten Textpersonen anbieten – Es lohnt sich, Änderung der Redaktion vorzuschlagen. Wenige grundlegende Kriterien erleichtern diese Entscheidung. Sie führen zu einer Gesamtwirkung des jeweiligen Films und begründen die Plausibilität des Filmerzählers.

Kriterium 1: Die Textperson soll von der ersten bis zur letzten Szene erzählen können: Konsistenz Zuschauer erwarten, dass der Filmerzähler im Filmverlauf nicht plötzlich wechselt. Eine solche „springende Textperson“ irritiert erheblich. Zuschauer haben sich mit dem ersten Auftreten des Filmtextes – und damit der Textperson – ein ihnen unbewusstes Bild von diesem Filmerzähler gemacht und sich emotional auf seine Eigenheiten eingestellt: auf die Stimme, das vermutete Alter, auf die Sprechgestaltung, auf die Art der Formulierung und Wortwahl, der Umgang mit und die

8 Welche Kriterien führen zur Entscheidung für eine Textperson?

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Auswahl von Fakten, die Haltung zum Inhalt, die Erzählperspektive. Wenn sie diese Erzähl-Person (Textperson) mögen, würden sie ihr gern über die gesamte Länge des Films vertrauen und emotional und argumentativ folgen können. Diese Wirkung wird gefährdet, wenn man als Zuschauer* plötzlich nicht mehr sicher ist, ob es – bei gleicher Stimme – noch dieselbe Textperson ist, die den Film erzählt. Die Irritation steigt, wenn dazwischen immer wieder die bisherige Textperson zu hören ist. Nicht selten starten Filmtexte als „harte Kritiker“ mit vielen Vorwurfsformulierungen, hören sich in der Mitte des Films aber auf einmal als „Beobachter“ an oder als Pressesprecher. Ein Film über die Schulwanderung von 14-Jährigen über die Alpen wird von der Textperson „Bergführer“ erzählt, springt aber mit dem gleichen Sprecher immer wieder in die Textperson „Einer der Schüler“. Das „Springen“ einer Textperson ließe sich in diesem Fall lösen, indem man einen zweiten, in der Stimme zu einem Schüler* passenden, Sprecher besetzte. Oder die gewählte Textperson konsequent formuliert. Ob eine Textperson einen Film konsistent erzählen kann, zeigt sich an den so genannte „schwierigen Stellen“. Diese entstehen auf Grund des Materials und des Schnitts (z. B. lange Landschafts-Schwenks oder Drohnenflüge; beschreibende Miterlebe-Szenen, die sich mit erklärenden Abschnitten abwechseln; mehrere O-Töne hintereinander, der Wechsel von Farbe zu Schwarz/Weiß und von direkter Aufnahme zu CGI oder Grafik). Die ausgewählte Textperson sollte jede dieser „schwierigen Stellen“ sprachlich und in Übereinstimmung mit ihrem Profil gut lösen können. Die Konsistenz einer Textperson zeigt sich in einer spürbaren, den Film prägenden Sicht auf das Geschehen. Textpersonen mit der Grundhaltung „Forschen“, „Suchen“, „Besuchen“, „Begleiten“ lernen im Filmverlauf; Textpersonen vom Typ „Begegnen“ nähern sich einer Hauptfigur oder entfernen sich von ihr. Andere Textpersonen behalten ihre Distanz bei. Ein Künstlerporträt wird von der Textperson „Besucher mit nur angelesenem Wissen“ erzählt. Dann wird die Textperson im Filmverlauf sinvollerweise klüger, weil sie den Künstler unmittelbar kennenlernt und ihre Vorurteile relativieren kann. Dadurch verringert sich die anfängliche Distanz. Die veränderte Wortwahl wird die geringere Distanz spürbar werden lassen. Wird der gleiche Film von der Textperson „Protokollant“ oder „Fachkritiker“ erzählt, würde die Distanz bestehen bleiben. Aller Voraussicht nach wäre diese Erzählweise aber für das Publikum weniger attraktiv. Oft scheint es für Berichte mit Fallbeispielen naheliegend, eine den handelnden Figuren nahe, miterlebende Textperson („Ich“ oder „Wir“, „Freund/Freundin“) 235

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Teil 2 Textperson und Filmtext schreiben

auszuwählen. Diese wird aber bei den erklärenden Abschnitten des Films (oft mit der Formulierung: „NN ist kein Einzelfall“) in eine deutlich andere Tonart verfallen. Die Textperson „springt“ in einen „Analytiker“. Man löst diese Art von „Springenden Textpersonen“ durch eine Erzähl-Person mit etwas größerer Distanz zu den Fallbeispielen (z. B. „Fachlicher Begleiter“). Dramaturgisch kann es sinnvoll sein, eine Geschichte von zwei Textpersonen erzählen zu lassen, die deutlich unterschiedene Erzählhaltungen zeigen. Jede dieser beiden Textpersonen muss eine erkennbar andere Erzählperspektive (definiert im Textperson-Profil), und auf Grund dessen eine deutlich unterschiedene Haltung zum Inhalt zeigen. Beide sollten – abwechselnd, untereinander kontrastierend und inhaltlich aufeinander bezogen – vom Film-Anfang bis zum Film-Ende erzählen können. Einen Filmtext nur auf zwei Sprecher zu verteilen, ergibt für das Publikum zwar eine akustische Variation, aber kein tieferes dramatisches Erleben. Ein medizinhistorischer Film wird im Wechsel von einem „Protokollant“ und einer „jungen Medizinforscherin“ erzählt. Jede Textperson hat ihre spezifischen Fakten und ihre besondere Perspektive auf die Bilder und das Geschehen und die jeweils dazu passenden Formulierungen. Der Protokollant bekommt die historischen Umgebungsfakten, die Zeiten und Zahlen, die „Medizinforscherin“ bekommt alle Fakten, Methoden und Überlegungen, die zur – in diesem Fall noch vergeblichen – Erforschung der Krankheit gehören. Gemeinsam erreichen sie für die historischen Fotos, die in Schwarzweiß und mit nur wenig Kamerabewegung nicht besonders attraktiv wirken, immer wieder eine neue Tiefe. Und die Zuschauer bleiben dran. Wenn zwei Textpersonen erzählen, benötigt jede von ihnen ihr eigenes Profil. Dadurch kann man jeder der beiden Textpersonen spezifische Inhalte zuweisen und durch unterschiedliche Sichtweisen und Fragehaltungen Spannung zwischen den beiden Erzählern aufkommen lassen; die zwei Sprecher* sollten sich stimmlich deutlich unterscheiden.

Kriterium 2: Die Textperson soll sich spannungsreich zur Hauptfigur verhalten: Beziehung zur Hauptfigur Die Textperson soll die Geschichte der Hauptfigur erzählen. Sie ist nicht die Hauptfigur. Darum muss ihre Beziehung zur Hauptfigur definiert werden. Die Entscheidung über diese Beziehung liegt bei den Film-Autoren* als eine der vielen

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dramaturgische Entscheidung, die sich nicht von selbst bereits aus dem Thema oder einem Sendeplatzprofil ergeben. Filmautorinnen* können also die Beziehung zwischen Textperson und Hauptfigur sehr nahe sein lassen (Freundin oder Verwandter), sie können eine professionelle Beziehung etablieren (Sozialarbeiter oder Anwalt); sie können sich für eine sehr weit entfernte Distanz entscheiden (Engel auf einer Wolke oder Registrator). Oder sie lassen die Beziehung durch Widerstreit und Prüfung entstehen (Staatanwalt, Detektiv, Forscher, Tester). Ist die Textperson der Hauptfigur nahe, erwartet das Publikum intimere und persönlichere Fakten, als wenn die Textperson eine hohe Distanz zur Hauptfigur hat. Hat die Textperson eine hohe Distanz zur Hauptfigur, erwartet das Publikum Fakten, die sich der Sicht der Hauptfigur entziehen, die ihre Handlungsweise in Frage stellen oder auch solche, die nicht von ihr beeinflusst werden können. Ein Film über ein Hospiz für todkranke Kinder wird von der Textperson „Großvater“ erzählt. Die ist nah, aber distanzierter als „Eltern“. Ein Film über eine Mordgeschichte wird von der Textperson „Protokollant“ erzählt; die ist fern, aber näher als „Kriminalismus-forscher“. Durch die Entscheidung über die Beziehung der Textperson zur Hauptfigur lässt sich die Intensität eines Films dramaturgisch wirksam steuern. In der Wortwahl wird die Beziehung der Textperson zur Hauptfigur klar. Überdies zeigt sie sich in der Auswahl der Fakten, die jeweils als erste dem Publikum präsentiert werden. Es ist nicht trivial, welche Fakten in den jeweiligen Textabschnitten eines Films als erste genannt werden. Denn durch deren Positionierung und deren Verbindung zu Bild und Ton erkennt das Publikum, wofür sich die Textperson interessiert und welche Erwartung sie wecken möchte. „Ich“ und „Wir“ sind der text-dramaturgischen Sonderfall. Hier muss die Beziehung besonders klar werden. Denn in diesen Fällen ändert sich die vom Publikum erwartete Beziehung zwischen einer im Film agierenden Hauptfigur und einem im Text agierenden Erzähler. Dramaturgisch können Hauptfigur und Textperson identisch sein, sie müssen es aber nicht und sind es in der Regel nicht. Doch in besonderen Fällen kann eine Hauptfigur selbst erzählen. Oder eine im Bild sichtbare Präsenterin in „Ich“-Textperson erzählt die Geschichte von einer filmischen Hauptfigur. Überdies können Präsenter* dramaturgisch auch selbst als Hauptfigur eines Films agieren. Was jeweils die spannendste Lösung sein soll, entscheiden die Autoren*. 237

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Teil 2 Textperson und Filmtext schreiben

• Wenn die Hauptfigur selbst im „Ich“ erzählt, steigen die Anforderungen an die Plausibilität des Textes; und an die durch den Filmtext bestätigte Authentizität der Szenen. Denn das Publikum schaut den Film zeitgleich mit der Hauptfigur und spürt, ob die Formulierungen der erzählenden Hauptfigur das Gesehene treffen (z. B. als Erinnerung oder als Zukunftsidee). Fehlt die Plausibilität, sinkt das Interesse der Zuschauer rapide. • Wenn Präsenter in die Ich-Form schlüpfen, ist nicht von vorn herein klar, ob die Präsenter* zugleich auch die Hauptfigur des Films sein sollen. Das kann so sein (z. B. in Wissenschaftsfilmen), wenn Präsenter* sich durch einen komplizierten Stoff wühlen und im Filmverlauf auf Grund der dramaturgischen Steuerung „immer klüger“ werden (z. B.„ich hätte nicht gedacht…“). Präsenter können aber auch im „Ich“ als „immer kluge Person“ die Geschichte einer filmischen Hauptfigur erzählen. (z. B.„ich zeige Ihnen mal…“) In diesen besonderen Konstellationen muss sich die Beziehung zwischen Textperson und Hauptfigur ausdrücklich durch die Film- und Textgestaltung zeigen, damit alle Filmszenen ausreichend authentisch und plausibel wirken können. Klaus Heinz: „Elke Heidenreich“; WDR 2018; Autobiografie mit „Ich-Textperson“ nur aus O-Tönen: Autor und Hauptfigur sind nicht identisch, aber Hauptfigur und „Ich“-Textperson. Xavier Rosset: „300 Tage allein auf einer Insel“; NDR 2011; Erlebnisbericht mit „Ich-Textperson“; Autor, Hauptfigur und „Ich“-Textperson sind identisch. https://www.youtube.com/results?search_query=300+tage+allein+auf+einer+ insel+dokumentation+hd Craig Foster „Der Polarschwimmer“; OTF+ZDF 2010; „Ich“-Textperson als sichtbare Hauptfigur. http://download.serienjunkies.org/f-86ffb3fe657185d4/ul_polar.html Caroline Rollinger „7 Tage – in der Gerichtsmedizin“; NDR 2018; „Ich-Textperson“ als Präsenterin; Hauptfigur und Präsenterin sind als „Ich“-Textperson identisch. https://dokustreams.de/?s=7+Tage+-+In+der+Gerichtsmedizin „Street-philosophie – Erkenne das Böse“; Ronja von Rönne; arte 2018; Präsenterin als „Ich-Textperson“ und Hauptfigur sind nicht identisch.

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Wenn die Hauptfigur als „Ich-Textperson“ erzählt, können die Auswahl der O-Töne und die Fakten, die das Ich präsentiert, hohe Spannung zu den Filmszenen erzeugen; dadurch entsteht eine gute Grundlage für ein intensives Filmerleben. Manchmal liefern sie aber nicht mehr als eine Bildbeschreibung, wie es immer wieder mal in Promi-Reportagen passiert. „Authentischer O-Ton“ hat zwar einen hohen dokumentarischen Wert, ist aber nicht allein aus diesem Grund bereits erzählerisch überzeugend.

Kriterium 3: Die Textperson soll einen lebendigen Kontrast zu einem der Filmkomponenten bilden: Kontrast zu … Als Kontrast – ursprünglich ein ästhetischer Begriff für Farbunterschiede – bezeichnet man in der filmischen Dramaturgie die Unterschiedlichkeit eines gestalterischen Elements in Beziehung zu einem anderen, bereits vorhandenen: Sound in Bezug auf Bild/Szene, Musik in Bezug auf Text und Bild, Text in Bezug auf Bild und Ton. Kontraste bilden Spannungsmomente zwischen den filmischen Darstellungsebenen und können stark oder schwach ausfallen. Die Textperson wirkt als Kontrast zu Bild und Ton besonders deutlich, weil der Filmtext die Erzählung und das Erleben der Zuschauer steuert. Der Kontrast entsteht dann zwischen der Textperson und anderen dramaturgischen Komponenten (z. B. Figuren, Stimmung, Szenen, Schnitt) und er kann sehr stark oder schwächer gestaltet sein. Ohne eine Entscheidung über seine Kontraststärke wird ein Filmtext sehr leicht zur plappernden Bildbegleitung oder führt sein textliches Eigenleben ohne Rücksicht auf Bild und Szene als Text-Bild-Schere. Mit einem Kontrast entsteht dramaturgisch eine Spannung fördernder Unterschied, nicht ein Gegensatz. Im Alltag vermischt man Kontrast leicht mit Gegensatz, weil beide Begriffe ja Unterschiede beschreiben. Kontrast beschreibt einen Unterschied im Erleben und in der Gestaltung. Als Gegensätze hingegen bezeichnet man äußerste, meist miteinander unvereinbare Verschiedenheiten, die rational begründet sind. Solche Verschiedenheiten treten üblicherweise als Inhalts-Argumente auf, sie werden in der Rhetorik als Argumente und Widerspruch behauptet. Die Rechtmäßigkeit und das Zutreffen der jeweils anderen Position werden in der Regel erst einmal bestritten. Deshalb wirken Gegensätze als scharf und unversöhnbar; und jeder Zuhörer spürt, dass es beträchtliche Mühe kosten wird, solche Gegensätze zu überwinden. Kontraste hingegen erlauben Schattierungen und ästhetisch unmittelbar miterlebbare Spannungsmomente im Zusammenspiel der filmischen Darstellungsebenen.

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Teil 2 Textperson und Filmtext schreiben

Der Filmtext als eine von sechs filmischen Darstellungsebenen gewinnt seine charakteristische Wirkung durch den Kontrast, den die Textperson zu diesen „informierenden und erzählenden Team-Kollegen“ und den im Film sonst noch agierenden Figuren und Sachverhalten bildet. Für das Publikum wirken Filme dann lebendig, wenn es Kontraste spürt, ohne dass die Inhalte von Bild und Text kollidieren oder durch Bildbeschreibung miteinander verkleben. Wenn Zuschauer diesen Kontrast als groß empfinden, wird ein Film für sie abwechslungsreich und antreibend. Wenn sie einen Kontrast als klein erleben, wirkt der Film durch Intimität und Nähe. Man kann als Autor auswählen, welche Kontraststärke am besten zu Inhalt, Erzählweise und Filmzielen passt. Denn jede Kontraststärke hat ihren eigenen erzählerischen Reiz und ihre Berechtigung. Die Serie „Blue Planet II“; BBC 2017 in der deutschen TV-Version „Der blaue Planet“; ARD 2018; DVD; Inhalt: noch nie gesehene Aufnahmen des Meeres und der Tiefsee; Textperson: „Staunender Beobachter“, dargestellt von Axel Milberg. Die ruhige, kenntnisreiche, und oft schweigende Textperson bildet einen mittleren Kontrast zu Bild-Szenen und Geräuschen. Todd Douglas Miller: Apollo 11; USA 2018; DVD/Blu-ray; Inhalt: der Flug zum Mond und zurück, dargestellt aus Archivmaterial; Textperson: „Protokollant“, dargestellt im O-Ton des damals für die Live-Besucher hörbaren Sprechers in Cap Canaveral. Der sehr trockene faktenhaltige Text zeigt einen hohen Kontrast zu den überwältigenden Bild-Szenen und den O-Tönen der Beteiligten und zieht die Zuschauer ins unmittelbare Miterleben. Auch zu weiteren „Mitspielern“ im Film kann die Textperson einen Kontrast zeigen: zur Hauptfigur und anderen handelnden Personen (Textperson „Forscher“ oder „Staatanwalt“), zur Herausforderung der Hauptfigur (Textperson „Protokollant“) oder zu deren Veränderung (Textperson „skeptischer Freund“). Autoren können durch die Textperson einen Kontrast auch zum Gesamtinhalt setzen, zum Geschlecht der handelnden Personen (Textperson „Mann“ oder Textperson „Frau“), zur Stimmung in Bild und Ton (Textperson „Beobachter“), zu Ort und Gegend, in welcher der Film spielt (geografische und/oder soziale Herkunft der Textperson). Eine kontrastierende Textperson bringt dem Zuschauer* ein zusätzliches Spannungsmoment und vergrößert die Erlebnisfülle. Die Entscheidung, zu welcher filmischen Komponente eine Textperson den Kontrast bilden und wie groß dieser sein soll, steigert auch die Lust und Fähigkeit von Autoren* zu kreativen filmischen Lösungen. Zeigt ein dokumentarischer Film überwiegend Männer, kann bereits eine Textperson „Frau“ einen Kontrast bilden. Sind es Männer eines bestimmten Alters, kann die Textperson auch „Junge Frau“ oder auch „erfahrene ältere Frau“

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heißen. Handelt der Film von technisch interessierten Männern, kann man den Kontrast durch eine Textperson „Technisch interessierte junge Frau“ oder auch durch „Professorin der Ingenieurwissenschaften“ erzeugen. Ob der Kontrast zwischen der Textperson und den jeweiligen anderen Filmelementen groß oder klein ist, lässt sich nicht abstrakt entscheiden und nicht, ohne das endgültige Filmmaterial zu kennen. Es ist eine kreative Entscheidung. Alle Schattierungen von Kontrasten können deshalb wirkungsvolle filmische Lösungen sein. Ein Film zum Überfall Deutschlands auf Polen 1939 wird natürlich von historisch erfahrenen Autoren gemacht. In einem solchen Film kommen vornehmlich Männer vor; und alt gewordene Zeitzeugen. Den Film kann die Textperson „junge polnische Geschichtsstudentin von heute“ erzählen. Sie muss sich – auf Grund ihrer Jugend – die damaligen Zusammenhänge erarbeiten. Die Textperson kann, weil sie deutlich jünger ist als alle Zeitzeugen im O-Ton, heutige Fragestellungen mit den Erinnerungs-O-Tönen der Überlebenden konfrontieren und überdies – sie ist als Polin konzipiert – das Geschehen aus der Sicht der Zeitzeugen von Polen aus schildern (z. B.„sie hatten von Truppenansammlungen gehört“; sie erwarteten …“). Der in solchen Filmen übliche „allwissende Historiker“ würde hingegen wie gewohnt aus der Sichtweise des Archivmaterials, von Westen nach Osten formulieren („Vorbereitung“ „Truppen sammeln“, „Anlass nutzen“). Das Publikum wird den Kontrast zwischen Jung und Alt spüren. Die Sichtweise von Polen aus zeigt dann für deutsche Zuschauer eine andere als die gewohnte Sichtweise („damals“, „ahnen“, „erwarten“, „Gefahr“ „plötzlich“, „rasend schnell“). Der Kontrast zwischen der Textperson und einem – oder mehreren – der übrigen Filmelemente weckt im Publikum innere Aktivität und Interesse. Es will dann diesem Erzähler weiter folgen. Es kommt nicht darauf an, ob der Kontrast sehr groß oder provozierend ist. Die Zuschauer sollten ihn spüren können.

Kriterium 4: Die Textperson soll zeigen, dass sie vom Inhalt etwas versteht: Kompetenz für … Die Kompetenz einer Textperson ist in einem gewissen Sinne eine konzentrierte Übersetzung der Autorenkompetenz. Denn natürlich wissen Autorinnen* weit mehr über den Filmstoff als in einen Filmtext inklusive aller Bilder, Geräusche und dramaturgischer Gestaltung passt. Und natürlich benötigt man für einen Film über den modischen Zuschnitt von Sommersandalen eine andere Kompetenz als für einen Film über die Gefahren für den Euro. Ein Landschaftsporträt wird durch geologische und soziologische Kompetenz gewichtiger; ein Musikerporträt durch die Kenntnis von Anekdoten leichter. Am Ende ist es eine kreative Entscheidung, 241

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Teil 2 Textperson und Filmtext schreiben

welche Art und Fülle von Kompetenz die Textperson vom Autor erhalten soll. Denn klar ist immer: Nie wird alles, was Autoren zum Thema wissen, in den Film passen. Die Textperson muss eine für den Inhalt und die Darstellungsweise des Films ausreichende Kompetenz zeigen. Sonst wirkt die Textperson geschwätzig und uninformiert. In Filmen mit politischen, historischen oder wissenschaftlichen Inhalten muss die Darstellung der Zusammenhänge zugleich hohe Kompetenz zeigen, und zwar unabhängig davon, welche Textperson erzählt und wie kurz der Film ist. Sobald der Zuschauer* aufgrund der Formulierungen spürt, dass eine Textperson offensichtlich wenig oder nichts zum Filminhalt erläutern kann und nur allgemeine Formulierungen, Sprachklischees und altbekannte journalistische Sprachbilder nutzt, verliert der Film, unabhängig von der Relevanz seines Themas, an Reiz und Verständlichkeit. „Sie sind das Paradies auf Erden. Schönheit, Harmonie und Lebenskunst. Vielfalt wohin man nur blickt. An Land wie unter Wasser.“ „Einfachheit ist Trumpf. „Die Geheimwaffe gegen stark verschmutzte Töpfe: Sodawasser“. „Die Wälder reichen bis an die Ufer des Flusses. Es ist eine geheimnisumwitterte Landschaft, in der Märchen wahr werden können.“ Textpersonen, die mit ihrem Wissen protzen und das Publikum in hohem Sprechtempo mit Fakten überschütten, wirken auf das Publikum unangenehm besserwisserisch, herablassend und nervig. Damit riskiert man Wegschalten und Wegklicken. Im Netz allerdings scheint ein hohes Sprechtempo bei vielen Netzaktivisten Kompetenz zu signalisieren aber mit Tempo zischen viele über die Aufnahme-Kapazität und die möglichen Argumente der Nutzer hinweg. Unser Gehirn arbeitet beim Zuhören mit Geschwindigkeitsbegrenzung und klarer Taktung für die Aufnahmefähigkeit. Welches Maß an Kompetenz das jeweils stimmige ist, müssen die Autorinnen* entscheiden und im Gespräch mit der Redaktion überzeugend vertreten. Da zählen nicht einzelne Formulierungen, denn auch Fachbegriffe und Fremdwörter können im Filmtext sinnvoll sein; es geht um eine das Ganze bestimmende Erzählhaltung. Die erzählerische und zugleich inhaltliche Kompetenz wird im Textperson-Profil definiert, durch die Elemente „Beruf“ und „Lebenserfahrung“. Auf den ersten Blick scheint nur eine bereits ausgebildete Person ausreichend Kompetenz auszustrahlen. Mehr Spannung aber schafft oft eine lernende, im Filmverlauf an Kompetenz gewinnende Textperson, („Studierende* in höheren Semestern; „Berufsanfängerin*“;

8 Welche Kriterien führen zur Entscheidung für eine Textperson?

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„Person, die gerade die Firma gewechselt hat“). Oder auch eine Textperson, die einen ganz anderen als den beim Filminhalt naheliegenden Beruf ausübt. Jean Michel Meurice: „Der Tanz der Geier“; arte F 2012; Inhalt: Die europäische Schuldenkrise; Textperson: „Gruppenpsychologischer Forscher“. https://dokustreams.de/arte-der-grosse-reibach-und-der-tanz-der-geier

Kriterium 5: Die Textperson soll dem Film eine charakteristisch Erzählfarbe geben: Stimmung des Films Die Textperson prägt auch die Gesamtstimmung eines Dokumentarischen Films. Ob deutlicher als Bild und Ton? Darüber mag man streiten. Viele Filme, die mit bewegenden Bildern und sorgfältigem Sounddesign auftreten, wecken dennoch keine Begeisterung beim Publikum, weil die Textperson zu herablassend, oder zu desinteressiert wirkt. Maulige oder allzu routinierte Erzähler drücken die Stimmung, weil man solchen Menschen auch in der Lebensrealität nicht gern folgt. Die Textperson verleiht einem Film eine charakteristische Stimmung: komisch oder ernsthaft, leicht oder gewichtig, geschwätzig oder argumentierend. Die Stimmung muss dem Filminhalt das erforderliche Gewicht und den gewünschten Dreh geben. Die Stimmung eines Films ist nicht mit seinem Thema bereits mitbestimmt. Ernste und gewichtige Themen können sehr wohl eine leichthändige Stimmung verbreiten. Und leichte Themen des Boulevards benötigen manchmal eine richtig seriöse Stimmung, damit sie leicht wirken. Die Text-Stimmung entsteht durch das Sprachregister, das die Textperson nutzt: leichtfüßig oder lehrhaft dozierend, heiß argumentierend oder emotional nahekommend, verlockend oder Zustimmung einfordernd. Die Bezeichnung „Register“ soll an die Orgel erinnern, die einen bestimmten Noten-Ton in sehr unterschiedlicher Klangfarbe hörbar werden lassen kann. Übertragen auf den Filmtext entsprechen die Sachverhalte und die konkreten Fakten dem, was in der Musik „Noten-Ton“ heißt, Formulierung und Sprechgestaltung entsprechen in diesem Vergleich dem Instrument, auf dem der Noten-Ton hörbar wird. Jeder Textperson stehen unterschiedliche Sprachregister zur Verfügung, und die Auswahl eines bestimmten Textperson-Typs und dann einer Textperson (z. B. Nachbarin, Rechtsanwalt, Testerin, Student) bedeutet noch keine Festlegung auf das Sprachregister. Es gehört zur kreativen Freiheit, sich für eine eher strenge oder eher leichte Sprache zu entscheiden. Der Unterhaltungswert eines Films, 243

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die Wahrnehmung der Szenen, die spontane Beurteilung der Personen durch das Publikum und dessen Lust für die Geschichte oder Widerstand gegen ihn wird durch das Sprachregister gesteuert. Die deutlichste Wirkung erzielt das Sprachregister einer Textperson im Zusammenspiel mit den Filmszenen. Es gibt dafür keine Ein-für-alle-Mal-Regeln; aber das Ausprobieren lohnt, weil man immer wieder überraschende erheiternde oder ernsthaft in den Stoff hineinziehende Konstellationen findet. Ganz nüchterner, geradezu trockener Text kann im Zusammenspiel mit unerwarteten Bildern Heiterkeit wecken. Thierry Berrod, Quincy Russell: „Die wunderbare Welt der Exkremente“; arte 2007; Inhalt: Die Biologie der menschlichen und tierischen Ausscheidungen; Textperson: Interessierter Registrator mit sehr lehrhaftem trockenen Sprachregister. Die Heiterkeit im Zuschauer* entsteht durch das Aufeinandertreffen einer nüchtern sprechenden Textperson auf sehr reale und überdeutliche, aber oft farb-verfremdete Bildszenerie. http://dokujunkies.org/dokus/tiere/die-wunderbare-welt-der-exkrementeatv-xvid.html Michael Wende: „Der Taktstock“; BR 2010; DVD; Inhalt: der Bamberger Dirigentenwettbewerb; Textperson: ein sich ärgernder spöttischer Taktstockmacher, der das Ganze zu Beginn eher sinnlos findet. Die Unterhaltsamkeit für diesen trockenen Stoff entsteht durch das leicht verärgerte Sprachregister der Textperson, das auf hoch engagierte Musiker im Wettbewerb trifft. Welches Sprachregister eine Textperson benutzen soll, damit die für den Film und/ oder den Sendeplatz bevorzugte Stimmung aufkommen kann, ist eine kreative Entscheidung. Das Sprachregister prägt Wortwahl und Formulierungen, in denen sich die Sachverhalte und Text-Fakten präsentieren Eine Auswahl: • • • • •

lehrhaft dozierend; leichtfüßig und kenntnisreich plaudernd; nachdenkend; hitzig oder kalt argumentierend; mit Bildern und Tönen spielend, die O-Töne wie mit einem Zaubertrick aus den Kulissen holend; • fordernd, markant, Zustimmung einfordernd;

8 Welche Kriterien führen zur Entscheidung für eine Textperson?

• • • • • •

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gravitätisch und gesetzt; verlockend, verführerisch; nah am Publikum; entfernt vom Publikum; nah an der Hauptfigur; entfernt von der Hauptfigur.

Autoren* werden etwas Zeit benötigen, um sich mit dem Kriterium „Stimmung“ zu erproben, bis sie es wie selbstverständlich in ihre Entscheidungen einbeziehen. Denn im Vergleich mit den professionell üblichen Sprachregistern (z. B. „erklären“; „dozieren“; „feststellen“; „Wissen versprachlichen“) scheinen alle übrigen in einem dokumentarischen Film möglichen Sprachregister zunächst einfach unjournalistisch zu sein. Gehörter Filmtext aber hat im Zusammenspiel der sechs Informanten eine viel breitere Wirkungsmöglichkeit als Text in gedruckten Medien.

Kriterium 6: Die Textperson soll sich zu Inhalt und Erleben von Bild und Ton so verhalten, dass der Film seine Ziele erreicht?: Text-Erlebens-Ebene Jeder dokumentarische Film macht in Bild und Ton gestalterische Kompromisse; wodurch erzählerische Unebenheiten und inhaltliche Unklarheiten entstehen. Manche Filme zeigen aus dramaturgischen Gründen keine ereignischronologische Reihenfolge oder geografisch fließende Bewegung. Zuweilen lässt sich mit dem Drehmaterial noch keine erzählerische Genauigkeit erzielen. In Patchwork-Formaten werden Inhalte ganz unterschiedlichen dokumentarischen Gewichts aneinandergehängt (Original-O-Töne, Live-Szenen, Archivmaterial, Grafiken, neu Gedrehtes); in Listenfilmen stehen mehrere einzelne Geschichten mit thematischem Bezug hintereinander. Zuweilen ergibt sich aus dem Drehmaterial nur eine Aneinanderreihung von Szenen. Und manchmal fehlt einem einfach das infodichte Bild, das man gern hätte. Zuschauer* erwarten in solchen Fällen dennoch und zu Recht, dass inhaltlichen Lücken geschlossen, gestalterische Brüche abgefedert werden. Sie wollen einen Film als ein Ganzes wahrnehmen und erleben. Die Textperson darf daher an gestalterischen Brüchen nicht scheitern, sondern muss den Film auch trotz filmgestalterischer und inhaltlicher Kompromisse glaubwürdig und vollständig bis zum Erreichen der Filmziele erzählen können.

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Teil 2 Textperson und Filmtext schreiben

▶ Meist kann eine Textperson, die über etwas mehr Distanz zu den im Film Handelnden verfügt, gestalterische Unebenheiten und inhaltlich schwierige Stellen besser steuern. Das Emotionsziel eines Films beschreibt, was das Publikum am Ende des Films spüren und fühlen könnte. Das Argumentziel beschreibt, was das Publikum am Ende des Films verstanden haben sollte. Die Textperson-Typen erreichen diese Ziele auf die ihnen jeweils eigene Weise. Diejenige Textperson sollte den Vorzug bekommen, welche eines der Filmziele oder beide am überzeugendsten erreichen kann. Oft ist das eine Textperson, die in starkem Kontrast zu einem der beiden Ziele steht. Wenn man tiefe emotionale Betroffenheit erreichen möchte, sollte die Textperson eher ein kalt argumentierender Anwalt oder ein Gutachter sein als ein aufgeregter Aktivist. Denn ein Anwalt wird das Argumentziel leicht erreichen und zugleich das Emotionsziel. Will man bei einem komplizierten Inhalt ein gründliches Verstehen erreichen, dann ist die „Unterhaltsame Lehrperson“ günstiger als der „Wissenschaftsprotokollant*“. Denn eine „Unterhaltsame Lehrperson“ wird das Publikum in permanenter Neugier und Spannung halten, es emotional wecken und dadurch genaues Verstehen bewirken. Die im Bild und Ton noch fehlenden Inhalte sollte eine Textperson aufgrund ihres Typs (z. B. „Offener Brief“, „Protokollant“, „Chronist“, „Kriminalist“) und Profils (z. B. Alter, Beruf, Lebenserfahrung) wie selbstverständlich ergänzen und liefern können. Solche Anforderungen können nicht, wie naheliegend, nur ältere und lebenserfahrene Text-Erzähler erfüllen, sondern genauso gut junge, neugierige, die sich die Berufserfahrungen erst noch erarbeiten müssen. Die Filme werden infodichter, wenn der Filmtext möglichst viele konkrete Fakten beisteuern kann. Und sie werden dadurch zugleich unterhaltsamer, weil das Publikum geistig sich ein wenig mehr anstrengen muss, als wenn es Text-Floskeln hört. Ein Film über Burnout, der mit der Selbsterfahrung des Reporters startet, und dann weitere Fälle und Recherche-Ergebnisse enthält, kann anstelle der naheliegenden Textperson „Ich, der Autor“ besser von der Textperson „junger Forscher“ erzählt werden. Denn dadurch entsteht für das Publikum eine kleine Distanz die – paradox erscheinend, aber dramaturgisch überzeugend – das Publikum stärker in die Nähe der Betroffenen zieht. Es bleibt dann nicht mehr beim privaten Erleben des Reporters, das man als Zuschauer leicht abwehren kann. Es geht dann um den Burnout überhaupt, in dessen Schrecken auch das Publikum verstrickt wird.

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Die Textperson kann und sollte also den Zuschauern eine zusätzliche Erlebens-Ebene verschaffen, die ähnlich wie Bild und Ton eigenständige, aus Empfindung und Nachdenken entstehende Erlebensmöglichkeiten weckt. So kommt der Filmtext deutlich über seine früher übliche Form eines Bildkommentars hinaus und wird zur zusätzlichem filmischen Darstellungsebene. Sie entsteht aus dem Gesamt von Stimmung, Kontrast, und Kompetenz einer Textperson. Das Publikum kann dieses zusätzliche Erleben spüren. Profis können die Gründe dafür analysieren und benennen. Die Kraft zur inhaltlichen Ergänzung und das Entstehen einer zusätzlichen Erlebensebene erlauben einer Textperson einen souveränen Umgang mit dem Filmmaterial in all seinen Spielarten und Schnittfolgen. Wie stark diese Möglichkeiten jeweils ausgespielt werden können, hängt von der Autoren-Entscheidung für die konkrete Textperson ab.

Kriterium 7: Die Textperson soll ins Programm passen: Sendeplatz-Tauglichkeit Im Programmumfeld und im Vergleich zu Konkurrenzsendungen bestimmen die auf einem Sendeplatz auftretenden Textpersonen den für eine Sendung typischen erzählerischen Zugriff auf Inhalte. Wiedererkennbarkeit und Markencharakter erreicht ein Sendeplatz durch Sendungsinhalte, Themenzuschnitt und Filmgestaltung. Im kontrastierenden Zusammenspiel mit diesen Elementen und in den durch sie gegebenen Grenzen stärken unterschiedliche, bewusst ausgewählte Textpersonen die erzählerische Attraktivität des Sendeplatzes und die Unterhaltsamkeit der dokumentarischen Information. Sie liefern innerhalb der Wiedererkennbarkeit die Erlebnisvarianten, die wir als Publikum erwarten und wertschätzen. Überlegungen zu möglichen Textpersonen gehören daher möglichst bereits in die Planungsgespräche zwischen Redaktion und Autoren. Eine Nachrichtensendung hat nur wenig Auswahl an Textpersonen, aber sie hat eine: „Bote“, „Chronist“, „Registrator“, „Protokollant“. Ein Regionalprogramm kann auf die ganze Typenvielfalt von Textpersonen zugreifen, von „Bote“ bis „Whatsapp-Imitation“. Ein frühabendlicher Abenteuer-Sendeplatz kann alle Arten von Such-Textpersonen nutzen; und darüber hinaus z. B. auch „Protokollant“, „Chronist“ „Tagebuch“ und weitere. Eine Service-Sendung kann Textperson-Typen wie „Tester, „Kritiker“ „fachliche Begleiter“ aller Berufsgruppen beschäftigen. Wenn es einen Glossen-Platz gibt, können noch viele andere Typen sich präsentieren. 247

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Teil 2 Textperson und Filmtext schreiben

Ein politisches Magazin wird sich auf „Staatsanwalt“ „Zivilanwalt“, „Detektiv“ und „professionelle Beobachter stützen. Aber es hat durch seine Themenvielfalt auch Zugriff auf viele weitere Textpersonen. Die Netzpräsentation eines Unternehmens kann für die Videos auf die ganze Palette möglicher Textpersonen zugreifen. Außer „Pressesprecher*“, denn das ist die immer naheliegende und deshalb für die Nutzer uninteressanteste Erzähl-Figur. Abwechselnde, unterschiedliche Textpersonen in einem Magazin oder auf einem Sendeplatz verstärken das Zuschauerinteresse, da die jeweils etwas andere Erzählweise einen Reiz darstellt. Solche leichten Variationen entsprechen dem Vergnügen von Menschen, Neues kennen zu lernen. Immer gleiche Textpersonen schaffen Monotonie und lassen das Interesse abflauen. In Magazinen sind unterschiedliche Textpersonen ein wichtiges Mittel zur emotionalen Steuerung der Gesamtsendung. Monothematische Magazine gewinnen dann die Möglichkeit, erkennbar unterschiedliche Sichtweise auf gleiche oder zusammengehörende Inhalte zu präsentieren. Im Publikum lösen sie Überraschung, Staunen und dadurch tragfähige Erkenntnis aus. In polythematischen Magazinen kann die Auswahl der Textpersonen die inhaltliche Besonderheit der Stoffe betonen. Wenn man unterschiedliche Textpersonen mit dem Hauptcharakteristikum „Sachkompetenz in jeweils unterschiedlichen Inhalten“ drei Filme hintereinander erzählen lässt, zeigt sich, dass die oft zufällig dargebotenen Inhalte sich durch die texterzählerische Kompetenz zum Schwerpunkt einer Sendung verweben lassen. Auf dem Sendeplatz einer Lebenshilfesendung können als Textpersonen z. B. „Partner“, „Sozialarbeiter“, „Gutachter“, „Staatsanwalt“, „Protokollant“, „Freund“ auftreten. In einem multithematischen Spätabend-Nachrichtenmagazin können nacheinander und in wechselnder Reihenfolge die Textpersonen „Bote“, „Protokollant“, „Chronist“, „Bedienungsanleitung“ und „Beobachter“ auftreten. In einem monothematischen Servicemagazin können als Textpersonen z. B. „Tester“, „Gutachter“, „Rechtsanwalt“, „Ich-Rechercheur“, „Staatsanwalt“, „Erzieher“ und „Lästermaul“ auftreten. Mit sieben Kriterien zur Textperson-Auswahl findet man sich leicht in der Situation eines Jongleurs mit sieben Keulen vor, der vorher mit nur einem einzigen Tennisschläger gearbeitet hat. Nicht weiter schlimm. Mit einer Keule anfangen: Vielleicht mit „Kontrast“, oder mit „Kompetenz“ oder mit „Beziehung zur Hauptfigur“. Da

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wird nichts total Dummes entstehen. Gespräche darüber helfen. Nach ein paar solcher Entscheidungen entwickelt sich das Gefühl dafür, welche Kriterien beim jeweiligen Film die notwendigen sind und welche anderen sich daraus ergeben. Es wird nicht sehr viele Film-Versuche dauern, bis dieses Gefühl fester wird und anhand der konkreten Arbeit mit Textpersonen wird das Entscheidungstempo schneller werden. Am Ende fallen die Entscheidungen fast unbewusst, wie beim Autofahren. ▶ Mit einem oder zwei Auswahlkriterien starten – Mit denen, die einem am leichtesten fallen – Danach die weiteren nutzen. Es ist ähnlich wie beim Lernen eines Musikinstruments: anfangs fingert man nur Griffe und die Finger koordinieren sich allmählich mit den Noten, den Tönen und dem Atem. Und irgendwann kapiert man, wie eine Melodie klingen könnte. Nochmals etwas später, aber nicht sehr viel später, erlebt man, dass die eigenen Ohren auch die anderen Instrumente im Orchester hören. Ein Gesamtklang entsteht. Das wird ein gutes Gefühl sein.

Die Textperson soll den Autoren* helfen. Autoren haben zu jedem ihrer Stoffe eine andere Beziehung. Und sie haben eine persönliche Einstellung. Mal kennen sie sich tatsächlich gut aus; mal sind sie sich nicht sicher, ertappen sich bei Vorurteilen und entdecken Recherchelücken. Sie mögen manche Stoffe oder Protagonisten nicht leiden, bei anderen werden sie zu begeisterten Fans; trotz aller professionellen Distanz. Durch die Auswahl der Textperson kann man solche Situationen dem Publikum andeuten oder auch in den Hintergrund schieben, damit das Publikum sich nicht auch noch mit der privaten Autorenperson befassen muss. Wenn ein Autor* inhaltlich unsicher ist, neigt er instinktiv zu behauptenden allwissenden oder auch übertrieben fordernden Formulierungen. In solchem Fall wirkt eine fragende, suchende, sich klug machende Textperson günstiger. Und wenn er persönlich vom Stoff allzu begeistert ist, hilft eine Textperson, die mehr Distanz zeigt.

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Wie wird eine Textperson konkret? 9 Wie wird eine Textperson konkret?

Zusammenfassung

Die Textperson lässt als unsichtbare Nebenfigur die journalistisch-dokumentarische Haltung der Autoren hörbar werden. Damit sie nicht gegen die Absichten der Autoren* arbeitet, hilft ihnen das Textperson-Profil. So kann Spannung erzeugt und Rote Fäden können gesponnen werden.

Schlüsselwörter

Textperson, Profil, Persona, Text-Bild-Schere, Rote Fäden

Durch ein – schriftlich skizziertes – soziografisches Profil wird aus einem Textperson-Typ eine konkrete Textperson, Mit den Elementen des Profils können Autorinnen* Blickrichtung und Erzählhaltung der Textperson im Detail steuern und formulieren. Ohne ein detailliertes Profil kann eine Textperson leicht im Klischee hängen bleiben und ihren dramaturgischen Sinn verfehlen. ▶ Jeder Filmtext wirkt dramaturgisch als unsichtbar bleibende Nebenfigur im Film – Durch das Textperson-Profil wird diese Nebenfigur für Autoren* kontrollierbar. Diese unsichtbare Nebenfigur lässt die journalistisch-dokumentarische Haltung der Autoren hörbar werden, übersetzt als professionelle Haltung eines Mitspielers im Film. Es ist nicht die Haltung von Autoren* als Privatpersonen. Diese Nebenfigur sollte nicht gegen die Absichten der Autoren* arbeiten. © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 G. A. Heussen, Die Textperson im dokumentarischen Film, Journalistische Praxis, https://doi.org/10.1007/978-3-658-28456-5_9

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Teil 2 Textperson und Filmtext schreiben

Durch die bewusste Profilierung einer Textperson werden Autorinnen* aufmerksam auf die Formulierungen der Quellen und deren Aussageabsichten. Diese Aussageabsichten (z. B. Pressesprecher, Lobbygruppen oder am Thema Interessierte), stimmen meist nicht mit den Informationsabsichten der Film-Autoren überein. Gerade bei intensiver Recherche kann man den durch Formulierungen gut getarnten Aussageabsichten der Quellen verfallen und unbeabsichtigt deren Formulierungen in den Filmtext übernehmen. Die Zuschauer bekommen dann nicht mit, was die Film-Autoren sagen wollen, sondern nur, was deren Quellen formuliert haben. Ein bewusst gestaltetes Textperson-Profil verhindert, dass die eigenen Vorurteile und privaten Befindlichkeiten unvermittelt im Text auftauchen und dann die journalistische Genauigkeit beeinträchtigen. Gerade dann, wenn man als Autor vom Thema intensiv gepackt worden ist, wächst die Gefahr, die eigene Meinung bereits für ausreichend zu halten, um dem Publikum ein Urteil zu ermöglichen.

9.1

Das Textperson-Profil

Klischees lassen sich vermeiden, indem man konkret wird: Aus einem Textperson-Typ wird durch die möglichst detaillierte Beschreibung siener soziografischen Daten die definierte Textperson. Das Profil liefert Autoren* und Redaktion eine konkrete Vorstellung von der Textperson und ihren Formulierungs-Möglichkeiten. Bei kurzen Filmformaten reicht beim Profil eine knappe Abstimmung von Planung und Autoren*, bei langen Filmformaten sollte man über das Textperson-Profil ebenso sprechen wie über Grafik und O-Töne. Das Profil sollte beschreiben: • Das Geschlecht (Mann, Frau; akustisch ist „divers“ nicht wahrnehmbar); • Das Alter (markiert die Grenze, ab der die Textperson Sachverhalte als eigene Erfahrung formulieren kann); • Die Herkunft, geografisch und/oder sozial (zeigt einen Erzählstandpunkt, mögliche Vorurteile, zeigt erzählerische Entwicklungsmöglichkeiten); • Den sozialen Status / den Familienstand (kennzeichnet Erlebensmöglichkeiten im Filmstoff und Kontraste); • Den Beruf und/oder die Ausbildung (charakterisiert Professionalität und Kompetenz und ermöglicht einen Kontrast zu …; „Journalist“ ist nur sehr selten eine für die Textperson sinnvolle Berufsbezeichnung);

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• Die Lebenserfahrung in Bezug auf den Inhalt der Geschichte oder die Hauptfigur (gering, hoch oder gar nicht; zeigt Möglichkeiten dafür, den Film-Inhalt näher kennenzulernen oder sich von Vorurteilen zu entfernen); • Die Lebensgrundhaltung und deren Entwicklungsmöglichkeit im Verlauf der Geschichte (z. B. Entdeckerfreude, Skepsis, Überheblichkeit, Unterlegenheitserfahrung); • Die Beziehung der Textperson zur Hauptfigur (sollte ausdrücklich benannt werden; sie wird durch die vorhergehenden Komponenten genauer eingegrenzt); • Die Haltung der Textperson zum Filminhalt (sollte ausdrücklich benannt werden; sie wird durch die vorhergehenden Komponenten eingegrenzt); • Die Haltung der Textperson zum Zuschauer (sollte ausdrücklich benannt werden, denn unbewusst schliddert man sonst in die Haltung und die herablassenden Formulierungen eines „besser Informierten“ hinein, der ein Autor* zwar tatsächlich ist, dem aber das Publikum nur dann gern folgt, wenn seine Textperson nicht „von oben herab“ redet). Zum Textperson-Profil für einen bestimmten Film müssen nicht alle aufgezählten Komponenten beitragen. Wie viele von ihnen und wie detailreich sie beschrieben werden müssen, hängt davon ab, wie lang der Film ist, in welcher Stimmung und Haltung eine Geschichte erzählt werden soll und auch davon, wie stark der Kontrast des Filmtextes zu den übrigen filmischen Darstellungsebenen sein soll. Dafür reichen oft bereits drei Komponenten aus (z. B. Beruf; Alter; Beziehung zur Hauptfigur). Immer aber lohnt eine wenigstens kurze Skizze der Haltung zum Film und zum Publikum. Diese Vergewisserung schärft den Blick auf sich selbst als Autor* und weckt Formulierungs-Ideen. Durch jede dieser soziografischen Angaben kann eine Textperson den Kontrast zu Inhalt, Hauptfigur oder auch dem gesamten dokumentarischen Personal bilden. Mehrere Komponenten des Profils lassen sich kombinieren, um beispielsweise Kompetenz und Haltung der Textperson zum Filminhalt zu konkretisieren. Jede Komponente zeigt Anhaltspunkte für die Textformulierungen, die das Profil der Textperson hörbar werden lassen. Im Film kommen überwiegend Frauen vor. Dann kann der Kontrast dazu durch einen männliche Textperson entstehen. Im Film kommen viele alte Menschen vor. Dann kann eine junge Textperson den Kontrast bilden.

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Teil 2 Textperson und Filmtext schreiben

Jede dieser Angaben eröffnet einen Bereich, in dem die Textperson von eigenen Erfahrungen sprechen kann und zeigt die Grenze, ab der sie andere Quellen zitieren muss. Wenn die Textperson als „25-jährig“ definiert wird, ist sie – bezogen auf das Jahr 2019 – im Jahr 1994 geboren. Sie kann also von Ereignissen, die vor 1997/1998 stattgefunden haben, nicht so sprechen, als habe sie diese selbst erlebt; denn damals konnte sie noch keine wirklich bewussten Erfahrungen machen. Sie muss zitieren. Wenn die Textperson als „Stadtbaumeister“ definiert wird, kann sie nicht die Berufserfahrung von Straßenbauern haben; kann solche Berufserfahrungen aber zitieren. Dadurch wird ein Bericht über neue Straßenführung einer Großstadt konkreter und spannungsreicher. Häufig erreicht man mit diesem Kunstgriff – der Textperson ein bestimmtes Alter und/oder einen bestimmten Beruf zu geben – eine journalistisch sehr hilfreiche dokumentarische Zitiergenauigkeit. Setzt sich ein Autor* selbst als Erzähler einer Geschichte ein, muss er den Anspruch des Publikums an die Glaubwürdigkeit seiner Autoren-Person berücksichtigen. Formulierung und Inhalte dürfen dann die Grenzen seiner tatsächlichen Erfahrung nicht überschreiten. Und er muss mehr von seiner wirklichen Person preisgeben, als er es in einer anderen Rolle müsste. Üblicherweise muss er sich dann irgendwann einmal im Filmverlauf dem Publikum auch im Bild zeigen (z. B. Begleit-Reportage; Korrespondentenbericht, Erlebnisbericht). ▶ Normalerweise kann nur ein einziger Erzähler* glaubwürdig und kompetent einen Film erzählen. Daraus folgt: wenn man eine Geschichte mit zwei Textpersonen erzählen möchte, muss man dafür zwei getrennte Profile entwerfen und deren Dualität sollte dramaturgisch eine unterschiedliche Sicht auf den Stoff zeigen und dadurch dem Publikum einen erzählerischen Gewinn bringen. Das Wichtigste aber ist von der kreativen Kraft der Autorinnen* abhängig: Die Zuschauer sollten die Textperson mögen können. Denn nur dann werden sie gerne der von ihr erzählten Geschichte folgen. Diese Erwartung ist sehr tief in uns verankert. Wir kennen sie, seit wir als Kinder Geschichten gehört haben. Seitdem wissen wir, dass eine Geschichte – ganz unabhängig, ob schön oder schrecklich – umso überzeugender wird, je mehr wir die Erzähler mögen. Was auch immer Autorinnen* als Filmstimmung und Filminhalt zu berichten haben: das Publikum

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sollte die Textperson als emotional überzeugend und inhaltlich kompetent erleben. Gedankliche Exaktheit und sprachliche Härte gehören dann zum Repertoire einiger Textpersonen (z. B. Gutachter, Staatsanwalt), weil solche Textpersonen das Ziel verfolgen, die Emotion des Zuschauers durch Genauigkeit und Logik anzufachen. Man wird sie genau deshalb mögen. ▶ Die Hauptfigur eines Films darf für das Publikum durchaus unangenehm und irritierend wirken – Eine Textperson nicht! Das Textperson-Profil zeigt auch den Sprechern Anhaltspunkte, um den Filmtext in Tonfall, Sprechhaltung und Modulation so darzustellen, wie die Autoren dies beabsichtigen. Die Zusammenarbeit wird leichter, wenn die Sprecher im Textmanuskript die Textperson bereits benannt finden und im Gespräch Gespräch mit den Autoren wichtige Komponenten des Textperson-Profils erfahren. So werden sie ausdrücklich in die Filmdramaturgie mit einbezogen.

9.2

Der FILMTEXT-INHALT

Angenommen, ein dokumentarischer Film zeigt eine spannende Geschichte, ist sorgfältig gedreht, interessant geschnitten, verfügt über anregende O-Töne, hat einen animierendes Sound-Design und einen anziehenden Titel: Was kann dann noch in einen Filmtext gehören? Naheliegend hört man dann: „ein paar Ergänzungen“, „etwas mehr Hintergrundwissen“ „etwas, das unserem Publikum das Verstehen erleichtert“. Angenommen, ein dokumentarischer Film zeigt eine eigentlich spannende Geschichte, ist ein bisschen zu schnell und flüchtig gedreht, zeigt im Schnitt viele Kompromisse und zu lange Szenen, Was kann dann in einen Filmtext gehören? Naheliegend kommt dann die Ansage: „da muss Text rein, sonst versteht man zu wenig“. oder auch „hier muss noch Text hin und die Lücke füllen“. In keinem der beiden Fälle wird für die Autoren* klar, was genau der Inhalt ihres Filmtextes werden kann und wonach sie suchen und ihre Recherchen sortieren sollen, auch wenn sie sich bereits Gedanken über eine Textperson gemacht haben. Jede Textperson verfügt über alle Fakten und Sachverhalte, die ein Autor* recherchiert hat. Jede Textperson kann diese Fakten benutzen. Nichts muss inhaltlich verschenkt oder weggeworfen werden. Im Gegenteil: jede Textperson gibt den Fakten durch den speziellen Blick ihrer Profilkomponenten ein charakterisierendes 255

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Teil 2 Textperson und Filmtext schreiben

Gewicht. Die gleichen Sachverhalte wiegen erzählerisch schwerer oder leichter, je nachdem, welche Textperson sie nutzt. Bild: ein Sommergarten; einige Blumen sind bereits verblüht, einige wenige vertrocknet; Eine Glyzinie drängt mit aller Macht an die Hauswand; es ist Ende Juli. Die Textperson „Protokollant“ hebt aus den recherchierten Sachverhalten das Datum hervor und die Blühzeit der unterschiedlichen Pflanzen; die Textperson „Freundin der Familie“ erinnert an die Wochen der vollen Blüte und an die Pflanzen, deren Blüte noch bevorsteht; Die Textperson „Gutachter“ zielt auf den Bodenzustand und betont den Wasserverbrauch zum Gießen. Film-Autorinnen* die über mehr und detailreicheres Recherchematerial verfügen, tun sich leichter, weil sie unterschiedliche Textpersonen inhaltsreich gestalten können. Oft aber reicht, wenn noch Fakten fehlen, auch ein nachträgliches Telefonat, ein Blick ins Netz oder die Frage an eine Kollegin*, um noch nicht recherchierte Details einzufügen. Der Filmtext als Textperson wird erzählerisch dadurch wichtig, dass er durch seine Inhalte und deren Formulierungen in den Zuschauern* neue Vorstellungen wecken kann, die über die Szene hinausführen. Filmisch agiert er, weil er zu Bild und Sound eigene Sachverhalte beisteuert, die das Zusammenspiel der Darstellungsebenen und die Steuerung der Filmgeschichte erst wirklich ermöglichen. Dadurch entsteht die „fünfte Erlebensebene“ eines dokumentarischen Films. Man könnte meinen, der Filmtext schaffe dies dadurch, dass er das Erleben selbst formuliert. Oft auch hören Autoren* die Ansicht, der Filmtext ermögliche die Wirkung von Bild und Ton vor allem dann, wenn er selbst möglichst faktenfrei und allgemein formuliere. Das Publikum dürfe nicht mit Fakten überfordert werden. „Ergänzen“, „Verstehen erleichtern“, „Lücken füllen“: diese Aufgaben haben Filmtexte tatsächlich. Sie bewältigen sie aber am wirksamsten, wenn sie – im Rahmen der Sprachregister der jeweiligen Textperson – Fakten und Sachverhalte präsentieren, die diese Wirkungen im Zuschauer* auslösen. In den Filmtext gehören • Fakten und Sachverhalte außerhalb der Bildkadrierung, die aber zur jeweiligen Film-Situation gehören; unsichtbar, demnach mit der Kamera nicht darstellbar; unhörbar, also mit dem Mikrofon nicht darstellbar; nicht dargestellt, weil sie aus irgendwelchen Gründen nicht gedreht oder aufgenommen werden konnten, jetzt aber für die Szene notwendig werden.

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• Nur konkrete, recherchierte Fakten, Umstände und Sachverhalte, äußere Fakten (z. B. Zeit, Größe Menge, Währung), innere Fakten (z. B. Erinnerung, Handlungsmotive, Ideen, Ziele, Sehnsucht, Schmerz, innere Bewegung der agierenden Personen). • Gewichtende Fakten und Sachverhalte: Details und Sachverhalte, die den Bildern und Tönen ihre spezifische Bedeutung für die dokumentarische Erzählung geben und dadurch im Zuschauer innere Bewegung auslösen • Fakten und Sachverhalte, die zu Roten Fäden gehören (z. B. Zeitabgaben, Entfernungsangaben, Phasen eines Behörden-Vorgehens, eine Zahl, die als Stufe einer quantitativen Steigerung wirkt; z. B. „560 Millionen, doppelt so viel Umsatz“) und solche Fakten, die Ansätze von Roten Fäden aus Bild und Ton im Text aufnehmen und weiterführen. Fakten, die neue Rote Fäden anfahren. • Fakten und Sachverhalte, die Erwartungen wecken und Spannung auslösen (z. B. die Entscheidung einer handelnden Person: „sie wird alleine durch Myanmar trampen“; „Die Bafin wird in drei Tagen seinen Bescheid losschicken, die Deutsche Bank hat bisher noch niemanden bestimmt, der diesen umsetzen soll“) • Fakten und Sachverhalte, die, wie Samen, erst später im Film ihre ganze Bedeutung entfalten werden (z. B. „sie hat ein Geschenk, das ihre Freundin noch nie zu Gesicht bekommen hat“; oder einen Fachbegriff nennen, aber nicht sofort erklären) • Fakten und Sachverhalte, welche die dargestellte Situation für die Hauptfigur oder eine der Nebenfiguren relevant machen (z. B. Die Filmszene als dramaturgisches Attribut kennzeichnen: „er ist in der letzten Arbeitsphase seiner Doktorarbeit“); die Filmszene als Handlungsmotiv einer Figur kennzeichnen: „auf fünf Quadratmetern will sie ihren neuen Arbeitsbereich einrichten“) • Fakten und Sachverhalte, die den Zuschauer* in eine weitere Erlebensebene versetzen, sich von der Szene entfernen, aber durch Infoladungen mit ihr verbunden werden können. (z. B. Bild: Mischwald von oben; Ton: Vogellaute: „Das täglich neu erwachte Orchester wird nur noch wenige Tage spielen. Dann beginnt die Brutzeit.“). Diese Aufzählung fasst zusammen, was alles in einem Filmtext Platz finden kann. In der jeweiligen Szene aber werden immer nur eine oder zwei dieser Kategorien nötig sein. Und jede Textperson wird durch ihre besondere Blickrichtung die eigentlich trockenen Fakten anders formulieren können. Auf Grund der Fakten werden die generalisierenden Sätze (z. B. „Eine ungerechte Entscheidung“; „das muss aber toll schmecken“) im Zuschauer selbst entstehen. Jede Textperson sollte faktenreich sprechen; und dies mit allen sprachlichen Mitteln und in allen zu ihr passenden Sprachregistern (z. B. Feststellungen, Fragen, 257

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Teil 2 Textperson und Filmtext schreiben

Aussagen Konjunktive, Aktiv, Passiv, Ausrufe, Slang Hochsprache, Argumentierend, assoziativ). Die Spielarten der Formulierung reicht immer so weit wie die Vorstellungskraft und Sprachgewalt der Filmautoren. Fakten und recherchierte Sachverhalte sind ja nur das Material eines Filmtextes. Sie sind aber die unerlässliche Voraussetzung für einen zur Szene kontrastierenden und bis zum Film-Ende spannungsreichen Text. Alle verallgemeinernden und undeutlichen Formulierungen schwächen einen dokumentarischen Film. ▶ Um die Unsichtbaren, unhörbaren, nicht dargestellten Fakten zu erfassen, schaut man beim Texten neben die Bild- Kadrierung und fragt: „Was ist unsichtbar, unhörbar, nicht dargestellt, gehört aber zur Szene und hierher?“

9.3

Fünf Schritte zur Formulierung

In Wortwahl und Formulierung muss die Textperson charakteristische Reaktionen auf Bilder, Töne und Filmsituationen zeigen. Dann kann man sie in der Sprachaufnahme entsprechend gestalten. ▶ Szene für Szene texten! Und, wenn man mag, erst die leichten Stellen, dann die schweren – Oder umgekehrt! Erst im Texten lernt man die Textperson richtig kennen. Man erprobt immer wieder, welche Komponente des Textperson-Profils in einer Filmszene aktiv werden kann und wie der Text dann klingt. Man entdeckt, worauf die Textperson in den Filmszenen schaut, was sie an unsichtbaren Sachverhalten dort vermisst und jetzt vervollständigen kann. Mit jeder Entscheidung in der Arbeit mit Textpersonen wird man genauer, schneller und filmisch kreativer. Ein-für alle-Mal-Regeln für die Reihenfolge beim Texten sucht man vergeblich. Autoren müssen die ihnen passende Arbeitsreihenfolge herausfinden. Filmtext muss nicht als gedruckter Fließtext funktionieren. Man kann deshalb beim Texten von den schwierigen zu den leichten Stellen springen oder umgekehrt vorgehen. Einzig wichtig ist das Beibehalten der ausgewählten Textperson. Denn ihr Profil weckt Ideen für Formulierung und Faktenauswahl. Damit die für das Publikum wichtige Verzahnung von Szene und Filmtext gelingt, achtet man auf diejenigen Infoladungen im Bild und Ton, welche die Textperson an dieser Stelle besonders interessieren. Man kann entscheiden, welche

9 Wie wird eine Textperson konkret?

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Komponente des Textperson-Profils dafür Vorrang bekommen soll (z. B. das Alter, die Lebenserfahrung, der Beruf, die Haltung zur Hauptfigur). Im lauten Sprechen – nie im Murmeln oder Vor-sich-hin-Brabbeln – lässt sich am besten spüren, ob und wie der Filmtext auf Bild und Ton reagiert und ob er auch sprachlich anregend geworden ist. Um Rote Fäden im Filmtext zu führen, kann man sich vergewissern, welcher Rote Faden in einer Filmszene in Bild oder Ton bereits läuft; ob einer anfährt oder gerade zu Ende geht. Oder, ob Rote Fäden fehlen. Dann kann man solche, die Kompetenz, Spannung und Unterhaltsamkeit erhöhen, im Filmtext neu anfahren und später weiterführen. Mit dem Filmtext lässt sich das Geflecht von Roten Fäden zuverlässig steuern. Denn jeder Rote Faden kommt durch die Textfakten, die zu ihm gehören in den Vordergrund des Films und ins Blickfeld des Publikums. Sobald Bild oder Filmtext solche Fakten nicht zeigen, verschwindet der jeweilige Rote Faden. Sobald kein Roter Faden mehr läuft, entsteht unversehens ein unbeabsichtigter Filmschluss; an jeder Stelle eines Films. Der Filmtext ist dann der einzige, der das verhindern kann, indem er kurz vorher einen Roten Faden wieder aufnimmt oder neu anfährt. Vor einem O-Ton schreibt man Text, der als Gegenpol zur O-Ton-Sorte funktioniert und zur Textperson passt. Und streicht dann dessen letzten Sinnschritt – manchmal auch den ganzen letzten Satz – ersatzlos weg. Dadurch steigt die notwendige Spannung zwischen Antext und O-Ton. ▶ Mit dem Schlusssatz starten – Dann mit dem ersten Satz weitermachen – Ist ungewöhnlich, aber wirksam. Wenn sie mit dem Texten starten, haben Autoren* gerade das Ende des Schnitts bewältigt, sind mit dem geschnittenen Film vertraut und kennen das Textperson-Profil. Ein Schlusssatz fällt also leichter als ein Anfangssatz. Die ungewohnte Reihenfolge verhindert jedenfalls, dass der erste Satz im Film bereits wie ein Schlusssatz klingt; und dass Erwartung und Interesse des Publikums spätestens am Ende des Intros erlahmen, weil keine Fragen mehr offen und keine weiteren aufgekommen sind (z. B. „Romantisch und modern, französisch und deutsch. Der Fluss hat viele Gesichter. Handfest und kapriziös. Er war und ist Freizeit- und Arbeitsfluss, Grenzfluss und Naturparadies.“) Beispiele für Schlussätze im Intro und am Filmanfang findet man leicht und täglich im Fernsehprogramm.

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Teil 2 Textperson und Filmtext schreiben

Ideen für die Formulierung entstehen, indem die Autorin* sich die Filmszene anschaut, den Sound hört und fragt: • Welcher Inhalt muss an dieser Stelle von der Textperson erzählt werden? • Was bedeutet die jeweilige Film-Situation (Filmsequenz) für die Hauptfigur? Die Antwort auf diese beiden Frage bewirkt, dass man sich der erforderlichen Sachverhalte und Fakten vergewissert. Durch Formulierung lassen sich alle Fakten auf die Hauptfigur ausrichten. Der Charakter der Textperson und ihre Beziehung zur Hauptfigur werden spürbar. Jede Film-Situation ist ja in den Film gekommen, weil sie irgendeine Bedeutung für die Hauptfigur hat. (z. B. sie ist eine Erinnerung oder eine zukünftige Aussicht; sie ist für die Hauptfigur belanglos oder emotional intensiv; sie zeigt eine Entdeckung der Hauptfigur und erfordert deshalb genaues Hinsehen; sie kann auch eine emotionale Pause für die Hauptfigur darstellen). Die Textperson muss diese Bedeutung sprachlich ausdrücken, wenn sie nicht bereits durch die Positionierung der Szene offensichtlich sein sollte. In den Text sollten Fakten kommen, die diese Bedeutung klären, stützen oder halten. („das ist jetzt 73 Jahre her und war mit Angst verbunden“; „in drei Wochen wird die Deutsch-Sprachprüfung für Level C 1 stattfinden“; „die rote Verfärbung der Laborprobe hätte Zufall sein können.“) Und noch eine Frage führt weiter: • Worauf schaut die Textperson in dieser Filmsituation? Welche Infoladung fällt ihr auf? Die Antwort auf diese Frage richtet den Blick der Zuschauer auf bestimmte Elemente des Bildes und/oder des Tons. Jede Textperson schaut auf spezifische Weise auf die Filmsituation. Ihre Sichtweise ist bestimmt durch ihr Profil (z. B. das Alter, Geschlecht, Beruf, spezielle Lebenserfahrung) Ihr fallen also bestimmte Gegenstände oder Infoladungen in eine Filmszene oder Filmsequenz auf (z. B. die Jahreszeit, den Wohnungsstil, die Art der Bewegung). Aus den für die Geschichte relevanten Infoladungen wählt man diejenigen aus, die zu einem der Elemente des Textperson-Profils passen. Dadurch aktiviert der Filmtext in der jeweiligen Szene die für die Erzählung wichtigsten Infoladungen; die Textperson wird plausibel als Erzähl-Figur und lenkt die Aufmerksamkeit der Zuschauer. Die nächste Frage führt zur journalistischen Gewichtung. • In welcher Weise denkt die Textperson: was ist ihre besondere Logik, ihre Denkstruktur; welches Gewicht haben deshalb bestimmte Inhalte für sie?

9 Wie wird eine Textperson konkret?

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Die Antwort auf diese Frage weckt Formulierungsideen, die einer Textperson ihren spezifischen Charakter geben. Jede Textperson hat eine ihrem Typ eigene Art zu denken (z. B. ein „Gutachter“ denkt viel systematischer als eine „Boulevard-Dame“; ein „Großvater“ berücksichtigt die Emotionen der Film-Figuren viel mehr als ein „Strafverteidiger“). Indem der Filmtext diese Art der Denkweise, die Denkstruktur – nicht den Fachjargon – übernimmt, macht er das Besondere der Textperson für das Publikum spürbar und überzeugend. (z. B. „Sozialarbeiter“: „Sie hätte bereits um 7 Uhr am Arbeitsplatz sein müssen; so war es vereinbart“; „Freundin“: „nach vier Monaten Arbeitslosigkeit fiel Regelmäßigkeit schwer; halb acht: eine halbe Stunde zu spät“) Es geht um die Denkschritte und die Gewichtung dessen, was in einer Filmszene zu sehen ist, nicht um sprachliche Imitation eines Berufsklischees oder gar um Übernahme eines Fach-Jargons. Und zuletzt: • Welche Ausdrucksweise, welchen Sprachstil hat die Textperson? Die Antwort auf diese Frage führt zu dem für die jeweilige Textperson typischen Stil und Sound. Zu jedem Textperson-Typ und zur darauf beruhenden Textperson passt eine bestimmte Ausdrucksweise mehr als andere Arten der Formulierung. Wortwahl, Sprachschicht, Stil und Ausdrucksweise sollen die Denkweise und der Charakter der Textperson über den ganzen Film hin konsistent zeigen. (z. B. nutzt die Textperson „Protokoll“ aus diesem Grunde überwiegend den Indikativ Präsens; die Textperson „Staatsanwalt“ nutzt Begriffe, welche die Vorstellung des Übertretens von Regeln wecken). Der Sprachstil kennzeichnet vor allem das zum Profil gehörende Alter der Erzähl-Figur. Vielen Textpersonen aber können die Autorinnen* einen eigenen Stil geben. Die fünf Fragen wecken Ideen. Jede Autorin * wird diese Ideen auf ihre Weise nutzen und miteinander verbinden in kreativer und dennoch geordneter Vorgehensweise. ▶ Um den Sound einer Textperson zu finden und zu halten: Den Filmtext in „Ich“ schreiben – Dann alle „Ich“ streichen und die Verben anpassen! Der Blick der Textperson bleibt erhalten aber auch die Distanz zwischen Autor* und Textperson.

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Wie gelingen der Textperson die Verzahnung zum Bild und Spannung bis zum Schluss? 10 Wie gelingen Verzahnung zum Bild und Spannung bis zum Schluss?

Zusammenfassung

Wie formuliert man die Textperson konkret? Anleitung in fünf Schritten. Infoladungen von Bild, Ton und Text erweitern die Erzähl-Möglichkeit. Andocken des Filmtextes an die Infoladungen in Bild und Ton sorgt dafür, dass der Filmtext als zugehörig erlebt wird, egal mit welcher Textperson er auftritt. Rote Fäden in Bild, Ton und Text führen die Spannung im Zuschauer. Wie man unterschiedliche O-Töne richtig in die Erzählung einbindet und welche Rolle die O-Ton-Sorten dabei spielen.

Schlüsselwörter

Textperson, Formulierung, Texten, schrittweise Anleitung, Rote Fäden, Verzahnung von Bild und Text, O-Ton-Sorten, gegenpolige Antexte, Andocken des Filmtextes an die Infoladungen von Bild und Ton.

Jede Textperson muss zusammenspielen mit der Bild-Szene, damit der Film ein Ganzes wird: sie muss spürbar werden lassen und durch ihre Formulierungen zeigen, dass der Filmtext – genauso wie der Zuschauer* – das Bild sieht, den Ton hört und dass er auf beide reagiert. Wenn dieses Zusammenspiel klappt, empfinden Zuschauerinnen* den Filmtext als passend, ergänzend, erlebenswert und notwendig. Dann steuert der Filmtext die Aufmerksamkeit des Publikums auf Inhalte und Szenen. Gelingt dem Filmtext diese Verbindung zum Bild und Ton nicht, empfinden Zuschauer den Filmtext als störendes Geräusch. © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 G. A. Heussen, Die Textperson im dokumentarischen Film, Journalistische Praxis, https://doi.org/10.1007/978-3-658-28456-5_10

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Teil 2 Textperson und Filmtext schreiben

Daraus wird offensichtlich, was der Filmtext auf keinen Fall tun sollte: dem Bild widersprechen (Text-Bild-Kollision); das Bild verdoppeln (Text-Bild-Verklebung; Bildbeschreibung); sich nicht um das Bild kümmern (Text-Bild-Schere); durch seine pure Anwesenheit die in Bild und Sound bereits etablierte Information oder das Erleben zerstören; • durch seine Masse und Länge Bild und Sound erwürgen. • • • •

Text-Bild-Kollisionen passieren immer, wenn – außer in einer Satire – eine Textformulierung in ihrem Inhalt dem offensichtlichen Bildinhalt widerspricht. Die Kollision kann unabsichtlich passieren (z. B., wenn der Text beim Sprechen verrutscht ist). Sie kann auch passieren, weil man beim Texten nicht an mögliche Kollisionen gedacht hat und sie womöglich für spannungsreich hält. Bei einander widersprechenden Inhalten halten Menschen sich an das, was sie sehen, denn wir orientieren uns immer und überall zuerst mit den Augen. Wir glauben dann nicht dem, was wir hören, weil wir das Gehörte in diesem Fall als falsche Interpretation des Gesehenen wahrnehmen. Ein kollidierender Filmtext schafft Irritationen. Formuliert hingegen der Text einen Kontrast zum Bild (z. B. Bild: Wüste, leer; Text: „Hier liegt die Zukunft der Energieversorgung für Afrika und Europa“) dann kollidiert nichts; es entsteht Spannung, denn der Text zeigt zugleich in die Gegenwart des Bildes und in die Zukunft. ▶ Die Text-Bild-Kollision repariert man, indem man das kollidierende Wort verschiebt oder streicht. Eine Text-Bild-Verklebung entsteht, wenn der Filmtext formuliert, was das Bild bereits zeigt („Eine idyllische Landschaft, frei von jeder Bebauung“). Diese Bild-Verdoppelung passiert häufig in Reportagen, weil Autoren ihr Publikum nahe ins Geschehen ziehen wollen. Die Wirkung aber ist gegenteilig: Die Zuschauer fragen sich, warum sie nochmal gesagt bekommen, was sie bereits im Sehen verstanden haben. ▶ Die Text-Bild-Verklebung wird repariert durch Textfakten, die kontrastierend zur Bild-Szene gehören. Eine Text-Bild Schere nennt man das Phänomen, dass ein Filmtext eine kurze oder längere Strecke lang ohne spürbare Beziehung zum Bild formuliert. Er kümmert sich nur um sich selbst und agiert nicht mit den anderen Darstellungsebenen zusammen. Beispiele für Text-Bild-Scheren finden sich jeden Abend in den Nachrichten und auch vielfach in langen dokumentarischen Filmen.

10 Wie gelingen Verzahnung zum Bild und Spannung bis zum Schluss?

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▶ Die Text-Bild Schere lässt sich nur durch Formulierungen ändern, die sich mit den Bild-Infoladungen verzahnen. Wenn Text spricht, während zugleich Bild, Sound und Schnitt inhaltsdicht und spannungsreich erzählen, zerstört der Text diese Erzählung. Er muss an solchen Stellen schweigen. Wenn Text die gesamte Szene füllt und Großteile des Films bedeckt, erwürgt er jede erzählerische Lebendigkeit, die vorher durch Bild, Sound und Schnitt geschaffen wurde. Die ganze vorherige filmgestalterische Mühe von Autoren* ist dann nutzlos geworden, weil der Filmtext durch seine Masse die Zuschauer dazu zwingt, entweder ihm allein zuzuhören und die Bild-Szenen nicht weiter zu beachten oder sich auf die Bilder zu konzentrieren, dabei aber die Textinformationen zu versäumen. ▶ In diesem Fall hilft nur eine konsequente Reduktion des Textes auf gewichtende Fakten.

10.1

Die Verzahnung von Textperson und Bild über Infoladungen

Dokumentarische Bild-Szenen verfügen über mehr erzählerische Kraft als ihre Oberfläche zeigt. Über die offensichtlichen Bildinhalte (z. B. Landschaft; belebte Autobahn; ein Mann/eine Frau geht in einer Fußgängerzone) liefern Bild-Szene und Ton dem Unbewussten vielerlei wirksame Informations-Elemente (z. B. die Tageszeit; die Stimmung der im Bild sichtbaren Personen; den Stil einer Wohnungseinrichtung; die Umstände einer Unfall-Szene). Solche Elemente bezeichnet man sinnvoll als Infoladungen, weil es sich um wirkliche Informationen handelt, die aber im Hintergrund bleiben und für die dokumentarische Erzählung noch nicht aktiv sind, bis sie durch Schnitt oder Text eigens in die Aufmerksamkeit gezogen werden. Sie sind aktivierbare Informationsmöglichkeiten, die den besonderen Charakter von Bild und Ton mitprägen, aber – bis auf den allgemeinen Eindruck der Bild-Szene – nicht weiter ins Bewusstsein der Zuschauer gelangen. Mehr Beispiele für Infoladungen finden sich im Anhang. Auch die Fakten und Formulierung des Filmtextes haben über die unmittelbaren Wort-Inhalte hinaus solche Infoladungen. (z. B. das Wort „wach“ trägt die Infoladung „Normalität“, wenn es Tag ist; bei Nacht trägt es die Infoladung „Besonderheit“, oder auch „Krankheit“). Wenn der Filmtext so formuliert wird, dass 265

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Teil 2 Textperson und Filmtext schreiben

die Info­ladungen seiner Formulierungen bestimmten, für die Erzählung jeweils wichtigen Infoladungen in der Bild-Szene ähnlich oder gleich sind, obwohl sich die Inhalte von Wort und Bild nicht gleichen, koppeln sich Text und Bild so, dass man als Zuschauer* diesen Text für sinnvoll und passend empfindet, weil er mehr als die Oberfläche der Bild-Szene erschließt. Text verzahnt sich mit Bild und wird zum echten filmischen Mitspieler. Die für die Film-Erzählung und den Filminhalt relevanten der Bilder und Töne werden durch die Textformulierung in die Aufmerksamkeit des Zuschauers* gezogen und aktiviert. Verzahnung gelingt nicht über die jeweiligen Inhalte von Bilden und Wörtern, sondern über deren Infoladungen. „Infoladung“ dient als Begriff zur professionellen Verständigung beim Texten und für die Abnahme. Mit „Infoladung“ fasst man einzelne wahrnehmbare Elemente einer Bild-Szene in einem etwas abstrakteren Gruppenbegriff zusammen (z. B. das Tageslicht, eine sichtbare Uhrzeit 10:35 Uhr gehören zur Infoladung „Vormittag“; die Schnittfolge von einer Szene am Abend zu einer Szene in hellem Licht trägt die Infoladung „nächster Tag“ oder „nächste Woche“ oder „ein Jahr später“, weil nach einem Abend immer ein unterschiedlich großer Zeitsprung möglich ist). Beim Texten muss man sich deshalb der in der Bildszene vorhandenen Infoladungen vergewissern und entscheiden welche von ihnen für den Filminhalt und/oder die Dramaturgie der Erzählung relevant sein kann. Alle übrigen Infoladungen bleiben im Hintergrund. Für die relevanten sucht man dann Text-Formulierungen mit ähnlichen Infoladungen, die dann an die Infoladungen der Bild-Szene andocken. Es kommt also auf den Filmtext an, was man als Zuschauer vom Bild und Ton ausdrücklich wahrnimmt. Der Filmtext lenkt die Aufmerksamkeit des Publikums auf bestimmte, für die jeweilige Erzählung wichtige Elemente in Bild und Ton. Im Bild ist eine Uhr zu sehen oder die Radio-Ansage: „18:30, Die Nachrichten“ zu hören oder der bereits niedrige Sonnenstand ist spürbar. Die Textformulierung „NN hatte sich vorgenommen, früher da zu sein.“ Dann bemerkt der Zuschauer die Radioansage als relevant, weil sich die Text-Infoladungen „Absicht“ und „Zeit“ an die Bild- und Ton-Infoladungen „Uhrzeit“ und „Tageszeit“ angekoppelt haben. Eine Filmszene ist immer konkret, mit vielen Details, die nicht alle zugleich wahrgenommen werden können. Beim Text-Machen muss man sich darüber verständigen, welche dieser Details für den Text relevant werden können oder müssen. Dazu hilft ein die Gruppe von Einzelinformationen umfassender Begriff (z. B. „Jahreszeit“; „Geografische Markierung“; Kamerabewegung Zoom-out“; „Stimmung, angespannt“).

10 Wie gelingen Verzahnung zum Bild und Spannung bis zum Schluss?

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▶ Infoladungen kann man sich vorstellen wie mitschwingende Obertöne, durch die sich jedes Musikinstrument im Klang hörbar von anderen Instrumenten unterscheidet. Der Begriff Infoladung überschneidet sich teilweise mit dem in der Sprachwissenschaft gebräuchlichen und auf Wörter und Formulierungen zielenden Begriff „Konnotation“. Beim Filmtext ist die Schnittmenge der beiden Begriffe noch einigermaßen groß. In Film-Situationen aber, wo „Infoladung“ die durch Bildgestaltung und Schnitt entstandenen, aktivierbaren Informations-Elemente bezeichnet, kann Art und Wirkung von Infoladungen weit über textübliche Konnotationen hinaus reichen. Infoladungen sind objektiv erkennbar; man kann sich beim Sichten von Film und Text leicht über sie verständigen. Deshalb haben sie beim Bild und auch beim Text mehr Gewicht als spontane oder gesellschaftlich übliche Assoziationen, die einem Zuschauer* auch einfallen könnten. Eine dokumentarische Filmsequenz: 6 Schnitte; deren Bild-Inhalt: • ein helles Wohnzimmer, Blick in den Garten / • eine Frau kommt in den Raum / • sie setzt sich an den Tisch und beginnt / • einen Stapel Hefte / • eins nach dem anderen / • aufzuschlagen und darin zu lesen. Im Hintergrund ist Radio zu hören, DLF-15-Uhr-Nachrichten. Die Szene zeigt unterschiedliche Bild-Kadrierungen – von Halbtotal bis Groß – und Kamerabewegungen. Auf den Zuschauer wirken in dieser Szene mehr Informationen als der erkennbare Bild-Inhalt: Infoladungen im Bild und Ton, durch die die Kameraführung und den Schnitt. Die Infoladungen verweisen auf Sachzusammenhänge, wecken Fragen und provozieren Urteile: • Bild: Das Wohnzimmer – Einrichtung – ist hell (Tag, nicht Nacht! / Vormittag? / Nachmittag?) Die Infoladung: „Zeitpunkt“ (noch unklar) • Bild: Die Möbel (ein alter offensichtlich viel benutzter Tisch; ein moderner Bürodrehstuhl) Die Infoladung: „Wohnstil“ • Bild: Blick in den Garten – wildwachsend; die Infoladung: „Lebensstil“;

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Teil 2 Textperson und Filmtext schreiben

• das Aussehen der Pflanzen (Frühling? / früher Sommer? /gepflegt? vertrocknet?) Die Infoladung: „Jahreszeit“, „Zeit für Gartenarbeit“ • Bild: Das Gesicht der Frau (ihr Gesicht sagt: etwa Mitte 40, jedenfalls nicht 30 oder mehr als 50 Jahre alt) Die Infoladung: „Alter“ (als Zuschauer schätzt man spontan) • Bild: Die körperliche Ausstrahlung der Frau (spontanes Urteil: müde für ihr Alter? / jugendlich für ihr Alter?) Die Infoladung: „Präsenz“ der Person Die Infoladung: „Sympathie“, „Antipathie“ (als Zuschauer urteilt man spontan) • Bild: Die Kleidung (sie trägt graue Jeans und einen weiten grauen Pulli – modisch? / altbacken? / Landei? / knapp bei Kasse?) Die Infoladung: „Kleidungsstil“ • Ton: nur Radio im Hintergrund („15 Uhr: Die Nachrichten“ / Ist ihr Haussender DLF?) Die Infoladung: „Zeitpunkt“ (jetzt durch den Ton eindeutig) Die Infoladung: „Umstände“ (z. B. Vorliebe für Radio oder Zufall?) • Bild: sie geht durch den Raum (die Bewegung ist langsam? schleppend? frisch? forsch?) Die Infoladung: „Stimmung der Frau und der Szene“ • Bild: Sie setzt sich an den Tisch (Hat sie kein Arbeitszimmer? / Ist das ihr Lieblingsplatz?) Die Infoladung: „Arbeitsumstände“ • Bild: Ein Stapel Hefte liegt auf dem Tisch (Schulhefte; / Klassenstufe? / Lehrfach? / Berufsschule? / Oberschule?) Die Infoladung: „Berufsdetails“, „Stellung“ • Bild: Sie liest (Aufsatz oder Matheklausur? / Sie liest resigniert? / Intensiv? / Interessiert?) Die Infoladung: „Lehrfach“ Die Infoladung: „Arbeitshaltung“

10.1.1 Infoladungen von Bildern und Szenen Bilder sind und bleiben, wie jeder Profi erfahren hat, mehrdeutig. Ein Grund dafür liegt in den Infoladungen, die mögliche Anknüpfungen für Schnitt und Text sind, aber „schöne Bilder“ bleiben, solange sie nicht aktiviert werden. Im obigen Beispiel ist deshalb die dramaturgische Text-Entscheidung notwendig, welche der vorhandenen Infoladungen aktiv werden soll und welche man einfach übergeht und im Hintergrund belässt. Eine solche Entscheidung wird durch einige Kriterien konkret.

10 Wie gelingen Verzahnung zum Bild und Spannung bis zum Schluss?

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Infoladungen enthalten das Potenzial für Informationsdichte und Reichtum einer filmischen Aussage. Alle Infoladungen im Hintergrund von Bildern und Geräuschen (z. B. das Wetter, der Einrichtungsstil, die Heiterkeit einer Musik, der Kontrast von Geräusch und Bild-Situation) sind mögliche Kontaktpunkte für eine Textperson, mit den Infoladungen ihrer inhaltlich kontrastierenden Formulierungen an die Bild-Infoladungen anzudocken. Jede Textperson wird aber nur einige der Bild-Infoladungen benötigen, um sich mit Bild und Ton erzählerisch zu verzahnen und die Erzählung zu verdichten. Und jede Textperson wird auf die zu ihr möglicherweise passenden Infoladungen der Bilder aufmerksam. Diejenigen Bild-Infoladungen werden für einen dokumentarischen Film relevant, die der Filmtext durch seine Formulierung aktiviert. Und erst zu genau dem Zeitpunkt, an dem sie der Filmtext aktiv werden lässt. Das ist der Grund für die erzählerische Kraft die jede konsequent erzählende Textperson filmisch entfalten kann, um eine zusätzliche filmische Erlebens-Ebene zu erzeugen. Vom Publikum werden Infoladungen nicht bewusst erkannt und nicht eigens beachtet. Man nimmt sie – wie die Obertöne unterschiedlicher Musikinstrumente, die deren spezifischen Klang ausmachen – im Unbewussten wahr und erzeugt auf ihrer Basis diejenigen Vorstellungen, welche den ästhetischen und erzählerischen Charakter von dokumentarischen Filmen wesentlich mitbestimmen. Ähnlich wie eine Powerbank, die ihre Ladung erst dann aktivieren kann, wenn ein für sie geeignetes Kabel und Gerät angesteckt wird, entfalten Bild-Infoladungen ihre Kraft zu Information und Erleben erst, wenn sie mit den zu ihnen passenden Formulierungen des Filmtextes in unmittelbaren Kontakt kommen. ▶ Der Filmtext muss sich nach den Infoladungen von Bild/Geräusch richten, nicht umgekehrt. Zu der oben geschilderten Szenen können viele Filmtexte passen. Jede Textperson wird auf diejenigen Infoladungen aufmerksam, die zu den Film-Inhalten, der Erzählhaltung der Textperson, zu ihrer Informationsabsicht und zu ihren Profil-Komponenten passen. Um herauszufinden, wie eine Textperson auf diese Filmsequenz schaut, helfen Fragen zur Szene, die durch Recherche-Fakten beantwortet werden müssen. Anhand solcher Fragen erkennt man auch, welche der Infoladungen für den Filmtext wichtig werden und welche man übergehen kann. • Ist es Vormittag oder Nachmittag? Arbeitet die Frau am Samstag oder hat sie einen Vormittag frei? • Spielt der Wohnstil für die Geschichte eine Rolle? 269

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Teil 2 Textperson und Filmtext schreiben

• Lässt das Alter auf Berufsjahre schließen? Auf Umstände der Umstellung an der Schule, so dass sie sich wieder neu einarbeiten muss oder will? • Wie wichtig ist der Garten für sie? Muss sie ihn vernachlässigen, weil sie so viele Arbeiten korrigieren muss? • Welche Klasse unterrichtet sie? Hat sie sich das gewünscht? Welches Fach? Um welche Aufgabe geht es in den Heften, die sie korrigiert? Für eine Textperson „Beobachter“ könnte jede konkrete Antwort auf diese Fragen eine Rolle spielen (z. B.„Seit drei Stunden korrigiert sie die Bildbeschreibungen“) Für eine Textperson „Arbeitsgutachter“ ist die Tageszeit wichtig, die Klasse, das Alter (z. B.„Deutsch-Korrekturen in der Oberstufe erfordern jeden Nachmittag wenigstens drei Stunden Arbeit“). Eine Textperson „Freund“ oder Freundin“ würde auf den alten Tisch schauen, der dieser Frau, die Lehrerin ist, viel bedeutet; und auf den Garten, den sie ungern vernachlässigt. Oder auf ihre Berufsjahre („Nur einmal noch wird sie eine Klasse 9 führen; dann will sie in die Lehrerbildung wechseln“); mit jeder Textperson können Autoren* diejenigen Infoladungen aktivieren, welche zum Profil der gewählten Textperson passen und dem Publikum über Bild und Ton hinaus noch eine weitere Erlebens- und Informationsebene erschließen. Sobald die Textformulierungen ähnliche Infoladungen zeigen wie diejenigen, auf die sie im Bild und Ton zielen, werden die Hintergrund-Details im Bild in der Wahrnehmung des Zuschauers bedeutsam. Dann richten sie – ähnlich wie ein Magnet die Eisenfeilspäne – die Aufmerksamkeit der Zuschauer genau aus. Er wird dorthin schauen und sich dafür interessieren, wohin die durch den Filmtext aktivierte Infoladung ihn zieht. Wenn Bild und Filmtext an derselben Filmstelle ähnliche Infoladungen tragen, können sich die Inhalte von Bild-Szene und Text weit voneinander entfernen, ohne dass Bild-Text-Kollisionen oder Bild-Text-Scheren entstehen. Filmtext und Bild/Geräusch können dann spannungsreiche Kontraste bilden. (z. B. Bild: Totale einer marokkanischen Wüstengegend; Filmtext: „Die ständige Trockenheit und die Sonne; die haben drei Berliner Ingenieure auf die Idee gebracht, genau hier, 50 Km von der nächsten Siedlung entfernt, die Quelle für Europas Energieversorgung zu planen.“) Mit welchen Infoladungen sich der Filmtext verzahnt und die Art wie das gelingt, begründet den ästhetischen und erzählerischen Reiz von Filmen.

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Abb. 9.1

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Dieser Film erzählt von einem Extremsportler, der in besonders kaltem Wasser schwimmt. Wie Chamäleons mit ihrer langen klebrigen Zunge die Insekten fangen, suchen sich Textpersonen die passenden Infoladungen im Bild, um sich mit eigenen Text-Infoladungen an sie anzuheften.

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Teil 2 Textperson und Filmtext schreiben

10.1.2 Infoladungen von Wörtern Wörter, Formulierungen und Ausdrücke haben ebenso wie Bilder einen offensichtlichen Inhalt, mit dem sie etwas benennen (z. B. „Gans“, „Nobelherberge“ „Drittes Rentenanpassungsgesetz“). Darüber hinaus tragen sie eine Anzahl weiter reichender Bedeutungsanklänge, die Konnotationen, die aus dem bisherigen Sprachgebrauch, aus der Literatur oder auch aus der Verwendung von Wörtern in der Werbung oder Politik entstehen. Zusätzlich werden durch Formulierungen auch Vorstellungen wach, die sich auf Handlungen, Richtungen und Qualitäten beziehen: die meist subjektiv eingefärbten Assoziationen (z. B.: bei „Gans“ „Weihnachtsgans“, bei „Nobelherberge“ „teuer“, „Sehnsucht“ oder „Widerstand“, und bei „Drittes Rentenanpassungsgesetz“ „zu kleine Rente“ oder „Bürokratie und Verwaltung“). Konnotationen und Assoziationen überschneiden sich teilweise mit Infoladungen von Wörtern und Formulierungen, weil die Infoladungen von Wörtern auch historische oder modeabhängige Anklänge enthalten. Aber ebenso wie bei Bildern sind die Infoladungen von Wörtern objektiv benennbar. Man kann sich über sie leicht verständigen. (z. B. „rasche Bewegung im Raum“ bei „rüberflitzen“, „historische Markierung“ bei „Die spanischen Eroberer haben ihre andalusischen Haustürfarben nach Peru mitgebracht.“). Durch die Infoladungen wird deutlich, welche unausgesprochenen Attribute das sprachliche Vorstellungskonzept füllen. Infoladungen machen Wörter genau und die Sprache flexibel, weil mit einer Formulierung sehr oft mehrere Infoladungen mitschwingen. Infoladungen sind aber keine Wort-Synonyme, denn Synonyme gewinnen ihre Sprachfarbe gerade durch unterschiedliche, im Hintergrund mitschwingenden Infoladungen. Sobald die Filmtext-Formulierungen mit ihren Infoladungen an Details von Bild, Ton oder Schnitt mit ähnlichen Infoladungen andocken, erweitert sich die Filmszene und das Erleben verdichtet sich. Die Zuschauer spüren, wie der Text, gleichsam neben ihnen sitzend, die Szene betrachtet. Bild und Ton laden sich dadurch inhaltlich und emotional auf. Der Text erweitert Verstehen und Erleben. Er ist, weit über den „Kommentar zum Bild“ hinaus, eine filmische Darstellungsebene geworden, weil er dem Bild neue Vorstellungen vom Sachverhalt hinzugefügt hat. Szene: Vulkanabhang, dunkelgrau, leichtes rotes Leuchten darin, immer wieder grellrote kleine Ausbrüche; fauchendes Geräusch; Filmtext: „Seit ihrer Entstehung hat die Erde in ihrer Kruste eine erhebliche Menge an Energie angestaut. Seither versucht sie mit allen Mitteln, ihren Kern abzukühlen und sich der überschüssigen Hitze zu entledigen“. Textperson: mit Vulkanen befreundeter, fachkenntnisreicher Forscher.

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▶ Wenn man versucht, die Verbindung zwischen Filmtext und Filmszene über deren Inhalte zu erreichen, bekommt man in der Regel sofort eine Text-Bild-Kollision oder eine Text-Bild-Verklebung. Die folgenden Beispiele zeigen Möglichkeiten, keine Lösungen. Sie machen deutlich, dass Formulierungen Infoladungen enthalten, die den Charakter der Texterzähler sprachlich formen und das Zusammenspiel von Filmtext und Filmszene aktiv gestalten. Formulierung „Absahner“, „Weichei“ „der Broiler“ „Paradeiser“ österreichischer „Hundeknochen“

„operativer Eingriff “ „Im Goldpalast zu Monaco“ „superaffengeil“ „Der entscheidende Schlegelschlag …“ „Das Ja-Wort – es ist genau 10:17 Uhr“. „Sie kommt knallhart zur Sache“ „Überrollen“, „Asylantenwelle“ „enthüllen“ „enttarnen“

Infoladung ein Urteil eine historische Markierung; markiert die DDR eine regionale Markierung; österreichischer Ausdruck für Tomate eine professionelle Markierung, etwas Fachliches, Fachsprache Fachausdruck für ein Spezial-werkzeug von Automonteuren, ursprünglich bei VW medizinische Fachsprache Kennzeichnung einer sozialen Schicht ein Ritual zur Eröffnung des Oktoberfestes Hochzeitsritual ein Image eine Richtung Eine Absicht

10.1.3 Verzahnung über Infoladungen Infoladungen bleiben zunächst passiv im Hintergrund von Bild und Filmtext. Liefert der Filmtext nur Bildbeschreibungen, bleiben die Bild-Szenen unerschlossen. Haben einander ähnliche Infoladungen des Textes und der Bilder durch die Formulierungen der Textperson aber aneinander angedockt, können Bilder ihre Tiefendimension zeigen. Ihre Beziehung ist über die Infoladungen elastisch-fest geworden. Wie ein Halteseil. Das Zusammenspiel von Bild und Text wird dann so wirken, als gehörten Text und Bild gleichsam naturgemäß zusammen. Da jede 273

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Teil 2 Textperson und Filmtext schreiben

Textperson andere Infoladungen der gleichen Filmszene nutzt, können Autoren* zu den gleichen Filmbildern sehr unterschiedliche Textpersonen wählen, die alle stimmig erzählen werden, solange die Verzahnung zwischen den Infoladungen von Bild, Ton und Filmtext funktioniert. Immer wieder muss man in Textabschnitte auch solche Fakten platzieren, die mit der gezeigten Szene nicht unmittelbar zusammenhängen. Denn es findet sich nicht für jede Text-Information eine eigene Szene. Damit dann die Verzahnung für das Erleben der Zuschauer wirksam funktioniert, formuliert man die ersten Worte des jeweiligen Textstarts so, dass eine Bild-Infoladung aktiviert wird, danach können allgemeinen Formulierungen folgen und dann sollte wieder eine Formulierung, die direkt an eine Bild-Infoladung andockt. Bild: Die Bild-Sequenz der oben geschilderten Lehrerin, die nachmittags Schülerarbeiten korrigiert. Filmtext: „Lehrer haben auch außerhalb der Schulzeit viele Aufgaben, die Zeit und Sorgfalt kosten. Alle hessischen Lehrer…“ Oder: „Die Arbeit an diesem Nachmittag wird wohl länger dauern. Sieben der 25 Englisch-Referate verlangen ausführliche Korrekturen. Alle hessischen Lehrer beklagen laut einer Umfrage von XX ihre Überlastung. Ihre Aufgaben außerhalb der Schulzeit haben zugenommen. Noch zwei Referate sind zu korrigieren bis 18 Uhr. Diese Reihenfolge „Verzahnung“ – „Allgemein“ – „Verzahnung“ kann im Film mehrmals aufeinander folgen. Man nennt sie deshalb sinnvoll das „Wäscheklammer-Prinzip“, weil ein nasses Laken vorn und hinten an die Leine geklammert werden muss. Formuliert man hingegen so, dass beim Textstart keine Infoladung des Bildes aktiviert wird – meist sind das dann verallgemeinernde Formulierungen – entsteht sofort eine Text-Bild-Schere. Genauso, wie ohne erste Klammer ein Laken eben von der Leine fällt. Infoladungen von Filmszenen sind sichtbar; und Menschen orientieren sich zuerst mit den Augen und vertrauen in ihrem spontanen Urteil eher auf Sichtbares. Sie trauen den Filmbildern intuitiv mehr, als den Wörtern des Textes. Aber sie erwarten, dass Geräusche und Text – wie in der Lebensrealität – ihre Intuition bestätigen und steuern. Deshalb muss sich der Filmtext nach den Infoladungen der Bildszene richten, weil Bilder in ihrer scheinbaren Unwiderlegbarkeit die Orientierung des Zuschauers unmittelbarer treffen als Formulierungen. Durch das Andocken an eine Infoladung der Bild-Szene wird die Oberfläche des Bildes gleichsam geöffnet zu einer tieferen, intensiveren Information. Die Verzahnung funktioniert für streng

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informative Filme genauso wie für leichte und spielerische. Bei leichten Filmen bringt der Filmtext eher nebensächliche, aber für die Leichtigkeit wichtige Sachverhalte (z. B. Bild: Kaffeekanne; Text „Pause für 10 Minuten“) Bei informationsbetonten Filmen bringt der Filmtext deutlich gewichtigere Fakten (z. B. Bild: Kaffeekanne; Text: „Das Alltagsgift …“). Zuschauer spüren deutlich, wenn die Infoladungen von Bild und Text auseinanderfallen oder keine Rolle spielen. Ein Film wird ihnen langweilig, wenn der Filmtext die Infoladungen der Bilder nicht beachtet; dann mutieren die Filmszenen zum Bilderteppich. Zuschauer erleben sich irritiert, verärgert und desinteressiert, wenn ein Filmtext die falschen Infoladungen aktiviert oder deren inhaltliches Gegenteil behauptet (z. B. moderate Musik; Text: „in aller Hast…“). Solche Irritationen entstehen immer dann, wenn vertraute und für die Orientierung besonders wichtige Infoladungen von Bildern (z. B. die Vorstellung einer Richtung, einer Bewegung, einer bestimmten Zeit und einer Handlungsintensität) mit Texten kollidieren. Solche Text-Bild-Kollisionen registriert man als Zuschauer* auch unbewusst besonders deutlich (z. B. Bild: Plastik zweier Eber auf einem Dorfplatz; Text: „die Eltern der jungen Frau…“; Bild: Auto fährt auf einer Straße in Deutschland von links nach rechts, also in unserer Vorstellung von Westen nach Osten; Text: „von Berlin bis Düsseldorf …“). In diesem Fall kollidiert die Richtung die der Text angibt – von Osten nach Westen – mit der Richtung, die das Bild zeigt. Die Vorstellung von Richtungen ist aber als orientierende Information in unserer Lebenserfahrung als sehr festes Muster gespeichert. Ähnliche Muster existieren für Zeiten, Räume und Entfernungen. Eine definierte Anzahl von Infoladungen lässt sich nicht bestimmen. Leider gibt es auch keine Ein-für-alle-Mal-Regel, welche Infoladungen immer aktiviert werden sollten und welche auf keinen Fall aktiviert werden dürfen. Der Umgang mit Infoladungen in Bild und Filmtext ist deshalb eine Quelle und ein Anzeichen für die Kreativität von Filmautoren. Denn sobald eine Textperson auf ausgewählte Infoladungen der Bilder durch Formulierungen mit kontrastierendem Inhalt, aber ähnlichen Infoladungen reagiert, steigen Informationsdichte, Spannung und Unterhaltsamkeit eines Films beträchtlich, ohne dass man dafür viele Worte benötigt. In der Praxis helfen zwei Fragen: • Welche Infoladung der Filmszene soll aktiviert werden, damit mehr Infodichte und Spannung aufkommen? Dann braucht man eine Formulierung mit ähnlicher Infoladung. 275

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• Welche Infoladung muss übergangen oder gar zurückgedrängt werden, weil sie sonst an dieser Stelle störende Vorstellungen hervorriefe? Dann braucht man eine Formulierung mit ganz anderer, aber nicht gegenteiliger Infoladung. Den Text formuliert und positioniert man so, dass ganz unscheinbare Wörter diese zu übergehende Bildposition der Infoladung zudecken. Die Formulierungen hängen vom Profil der jeweiligen Textperson ab. Jede Textperson schaut auf ihre ganz besondere Weise auf die Bilder und Szenen. Und damit achtet jede Textperson auch auf besondere Weise auf Infoladungen, die zu ihrer Profil-Definition als Textperson passen. Den spezifischen Blick einer jeden Textperson auf die Filmbilder spürt der Zuschauer deutlich, kann aber den Grund dafür nicht auf den ersten Blick erkennen. Und das muss er auch nicht. ▶ Infoladungen von Bildern lernt man leicht beim Schnitt kennen – Infoladungen von Formulierungen der Textperson lernt man beim Wörter-Ausprobieren kennen.

10.2 Die Spannung durch Rote Fäden Unsere Wahrnehmung funktioniert, indem wir in allem, was wir sinnlich erfahren und denken, nach Mustern und Ordnungen suchen und alle Einzelwahrnehmungen spontan mit solchen Mustern abgleichen, die wir bereits kennengelernt haben. Im Laufe unseres Lebens lernen wir aber durch die Veränderung der Lebensumstände immer wieder auch neue Muster kennen, an die wir uns erst einmal gewöhnen müssen und deren Wirksamkeit wir immer wieder anhand der uns bereits bekannten Muster prüfen. Dass die Zeit im Muster von Sekunden, Minuten, Tagen, Monaten und Jahren verläuft, ist heute Allgemeingut. Vor Erfindung der Uhr – und heute zusätzlich zu Uhr und Kalender – ordneten die Menschen die Zeit nach Jahreszeiten, nach Reifungsvorgängen der Pflanzen und dem Erscheinen oder Verschwinden von Tieren und nach Feiertagen in ihrer Gruppe. Die diversen Muster von Behördenabläufen in der Bundesrepublik mussten 17 Millionen Deutsche nach 1989 und endgültig nach dem 3. Oktober 1990 neu lernen, denn die ihnen vorher in der DDR bekannten galten nicht mehr.

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Dass Menschen zuerst Muster wahrnehmen und dann die Einzelheiten ihrer Wahrnehmung in diese Muster einordnen oder, wenn sie nicht hineinpassen, verwerfen, ist eine Grunderkenntnis der Wahrnehmungspsychologie und der Neurobiologie. Wir strukturieren uns unsere Welt durch Sinneswahrnehmungen, Erlebenswirklichkeiten und auch gedanklichen Ordnungen: Im Film sind das die Bilderkennung, Filmsequenzen, Film-Situationen, akustische Sinneinheiten, Sprache und Sinnschritte. Aus Wahrnehmungsmustern entstehen auch die uns gewohnten Stereotype, Vorurteile und Klischees. Unser Leben wird auch durch Muster von Abläufen strukturiert. Ablaufmuster ermöglichen uns schnelles Handeln ohne weiteres Nachdenken über jeden einzelnen Schritt. Wir lernen Abläufe seit unserer Geburt kennen. Wir können Bewegungen und Gesten richtig deuten, wir lernen, mit Regelungen und Abläufen in der Gesellschaft richtig umzugehen, von der richtigen Reihenfolge beim Kochen bis zu den Reihenfolgen, die Entscheidungen in der EU prägen. Wie wirksam diese Muster sind, erleben Menschen, die nach einem schweren Unfall mit Kopfverletzungen viele dieser Muster wieder mühsam neu lernen müssen. Die Muster von Abläufen sind für Bild-Szenen und Filmschnitt, aber auch für Filmtext und Textperson relevant, weil Abläufe im linearen Medium Film ein dramaturgisch wichtiges Element für die sichere Steuerung von Inhalten bilden und für Ahnung, Spannung und Erwartung beim Publikum sorgen. Dramaturgisch heißen die konkreten Abläufe im Film „Rote Fäden“. In der Literatur wie im Film spricht man meist erstmal von „dem Roten Faden“ einer Geschichte. Und meint damit einen einzigen, häufig eine Chronologie oder eine Wegstrecke. Der Begriff stammt von Johann Wolfgang von Goethe. Er bezeichnet damit ein Leitmotiv, das sich durch ein Leben zieht. Wie Goethe den „Roten Faden“ verstand, kann man ihn natürlich auch im dokumentarischen Film verwenden: als erzählerisches Leitmotiv, das wiederholt erscheint. Das deckt sich aber nicht mit den unterschiedlichen Roten Fäden, die als Darstellung von Abläufen im Film gezogen werden. Wir konzentrieren uns hier auf deren Darstellung im Filmtext. Alle Fakten und Sachverhalte, die zu Rote Fäden gehören, und nicht schon im Bild oder im Ton dargestellt sind, bereichern den Filmtext und steuern die Aufmerksamkeit des Publikums. Die Spannung, mit der wir als Zuschauer Rote Fäden verfolgen, liegt unter anderem darin, dass wir immer wieder auf Abläufe stoßen, deren genaue Schritte wir noch nicht kennen, aber kennenlernen wollen. Und in der 277

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Erfahrung, dass die Abläufe, die von unterschiedlichen Interessen der agierenden Figuren angestoßen werden, oft vorhersehbar aufeinanderstoßen werden. Ein Protestmarsch gegen eine Politikerkonferenz wird, sobald er „aus dem Ruder läuft“, notwendig auf Aktionen der Polizei stoßen, die in bestimmter Reihenfolge ablaufen werden. Laborversuche zum schnelleren Erkennen bestimmter Krebszellen verlaufen in bestimmten, dem Publikum nicht vertrauten Schritten, die Wochen oder Monaten beanspruchen. Der Krankheitsverlauf bei derzeit krebskranken Personen, denen die Ergebnisse dieser Forschungen helfen könnten, wird ebenfalls in bestimmten, der Natur der Krankheit folgenden und vielen Menschen vertrauten Schritten verlaufen, aber nach aller Erfahrung deutlich rascher zum Tode führen, als die Forscher zu ihren Ergebnissen kommen. Konkret und handwerklich handhabbar werden Rote Fäden durch ihre Begründung auf Ablaufmustern. Dieser Sinn von Roten Fäden im Film und deren Geflecht ist begründet auf nachprüfbaren, Ordnung und Spannung schaffenden Sachverhalte. Autorinnen* können dann deutlich die Wirkung und das Zusammenspiel unterschiedlicher Roter Fäden erkennen. Sie erkennen, was sie tun müssen, um Rote Fäden zu führen. Bereits in der Recherche werden ihnen die Fakten klar, die zu Roten Fäden gehören, im Bild gezeigt werden können, im Filmtext die Handlung vorantreiben und die Neugier des Publikums wecken werden. Häufig ist die erste Vorstellung von einem Roten Faden eine „Chronologie“ oder einen „Reiseweg“. Durchaus sinnvoll. Aber die Gruppe der der Roten Fäden, die wir weiter unten kennenlernen, bietet weit mehr gestalterische Möglichkeiten für Textpersonen und für Bild und Ton. Denn sobald Autor*/Regie wissen, was Rote Fäden sind und welche dramaturgische Wirkung sie entfalten, kann man sie durch alle filmischen Darstellungsebenen laufen lassen. Und vornehmlich im Filmtext und in der Sichtweise der Textperson. Der Wanderweg auf einen Berg (Roter Faden „Bewegung im Raum“) bleibt gleich, ob sich darauf eine Liebesgeschichte abspielt oder ein Mord. Zu Liebesgeschichte und Mord gehören weitere eigene, für die in einem Prozess beteiligte Hauptfigur und die erzählende Textperson spannende Abläufe. Ein Gerichtsverfahren (Roter Faden „Juristisches Verfahren“) verläuft in den von der Prozessordnung vorgeschriebenen Schritten, auch wenn die Angeklagten daran verzweifeln mögen. Je nachdem, wer in einem Prozess die Hauptfigur und wer die anderen Beteiligten sind, kommen Emotionsabläufe hinzu. Und die Steigerung der Beweise oder das Misslingen der Beweisführung.

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Stunden und Tage vergehen ganz gleichmäßig (objektiver Roter Faden „Zeitablauf“), auch wenn Forscher jede weitere Stunde als Qual empfinden mögen, noch keine Lösung ihres Problems vorzeigen zu können (subjektiver Roter Faden „Zeitempfinden im Ablauf“). Ein Gewitter mit Hagel entsteht auf Grund natürlicher Abläufe (Roter Faden „Naturablauf“), unabhängig davon, wie sich Menschen dazu verhalten. Haben Menschen sich aber nicht vorbereitet, geraten sie in den Ablauf von Unheil und Verlust (Roter Faden „Qualitative Minderung“). Und gleich danach in die Verfahrensabläufe der Schadensregulierung. Rote Fäden strukturieren einen Film durch die Textperson, weil sie die Vorstellung von Bewegung und Richtung wecken und die Ziele und Absichten der jeweils Handelnden ausdrücklich oder hintergründig für Zuschauer* anschaulich werden lassen. Bild, Ton und Textperson können geradezu darin wetteifern, die Roten Fäden darzustellen. Alle Elemente von Abläufen, die sich bereits in Bild und Ton darstellen lassen, müssen dann nicht im Text geführt werden. Und diejenigen, die sich in Bild und Ton nicht darstellen lassen, bereichern den Filmtext. Überdies kann jede Textperson neue Rote Fäden anfahren und führen, durch welche Kompetenz, Spannung und Unterhaltsamkeit dokumentarischer Filme steigen. Manche Filmstoffe wirken erst dann kompetent, wenn sie die zum Inhalt gehörenden Roten Fäden zeigen (z. B. Wissenschaftsfilme müssen die zum jeweiligen Thema gehörenden Fachmethoden und Fachlogiken aufweisen). Ohne diese Roten Fäden wirken solche Filme leicht als allgemeines Gerede. Manche Stoffe, die das Publikum aufregen sollen, können dies erst bewirken, wenn der Filmtext genau diejenigen Abläufe präsentiert, die miteinander kollidieren; und überdies einen nüchtern formulierten deduktiven („Textperson Staatsanwalt“) oder falsifizierenden (Textperson „Naturwissenschaftler“, „Gutachter“), argumentativen Roten Faden durch den ganzen Text führt. Dann entsteht kein empörter Filmtext, sondern Empörung im Zuschauer*.

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Abb. 10.3 Rote Fäden im Film sind nicht immer alle immer im Vordergrund sichtbar; immer wieder springen einer oder zwei ins Sichtfeld und verwinden dann wieder; einige ziehen im Untergrund aufeinander zu und stoßen später sichtbar zusammen; und nicht alle bleiben über die gesamte Strecke dabei. Wenigstens einer oder zwei aber doch.

10.2.1 Rote Fäden aus Erfahrung Bewegungen im Raum und Zeitabläufe sind mit jeder menschlichen Erfahrung verbunden. Wir können uns Erfahrungen ohne Zeit und Raum gar nicht vorstellen. Sie bilden immer einen unausgesprochenen Hintergrund; dramaturgisch zeigen sie sich als ausdrückliche Zeitabläufe und als Wege und Bewegungen im Raum (Bewegungen von Personen und Gegenständen; Kamerabewegungen; vorgestellte Bewegungen).

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Diese beiden Abläufe sind auch im Film als Rote Fäden so alltäglich – sie starten im Bild mit jeder ersten Szene im Filmverlauf – dass man sie in einer Geschichte oft betont und ausdrücklich führen muss, damit sie dramaturgisch wirksam werden können (z. B. in Reisefilmen). Sollen sie das nicht, muss man sie im Filmtext nicht eigens erwähnen. Weil Abläufe in der Zeit und Bewegungen im Raum für unsere Erfahrung so grundlegend sind, findet man ihre Elemente auch in allen anderen Arten von Roten Fäden im Hintergrund, (z. B. als spezifische räumliche Bewegung bei einer Fachmethode in der Archäologie oder als Deadline eines Verfahrens). Rote Fäden von Raum und Zeit selbst laufen, im Vordergrund geführt, durch betonte Darstellung in Bild, Ton und Filmtext. In Reportagen und Verfahren müssen sie immer deutlich präsent geführt werden. • Der Tag von Morgen bis Abend; ein Countdown auf einen festen Termin hin; die Woche von Montag bis Sonntag; der Zeitablauf eines Projekts; das Jahr von Januar bis Dezember, vom Jahr X bis zum Jahr Y; • der Verlauf und die Richtung eines Weges, eines Flusses, einer Bahnstrecke; ein Gang durch ein Zimmer; die Raumabfolge einer Wohnung; die Stockwerke eines Hauses; ein durch die Orte einer Entscheidung gekennzeichneter Weg, der durch unterschiedliche Gremien oder Institutionen führt. Zeitabläufe entfalten ihre stärkste Kraft, wenn sie den Zeittakt wechseln (z. B. „seit vier Tagen …, jetzt aber um vier Uhr …, fünf Uhr …, fünf Uhr 43 …, fünf Uhr 44 …, zwei Stunden später“), oder wenn man die Zeit auf einen bestimmten Zeitpunkt hin als Count down erzählt (z. B.„noch vier Tage …, noch drei Stunden …, noch zwei Minuten, gleich, um 13:30 Uhr“). Die beiden Roten Fäden „Bewegung im Raum“ („ab hier noch 1321 Höhenmeter …“) und „Zeitablauf“ („7 Uhr früh, noch zwei Stunden bis zur Ablösung“) fallen in Filmen nicht weiter auf, weil sie zu jeder Erfahrung gehören. Um sie ausdrücklich zu führen, werden Bilder benötigt und Geräusche, die einige ihrer Elemente zeigen. Oft gehören zu einer Textperson bestimmte Rote Fäden (z. B. bekommt ein „Gutachter“ oft Deadlines gesetzt; eine „begleitende Sozialarbeiterin“ muss Wege wiederholen und kollidiert mit den Zeitabläufen von Behörden), die einen Film zusätzlich spannender machen können. In dokumentarischen Filmen läuft die „objektive Zeit“ für die Handelnden oft sehr unterschiedlich (z. B.: eine Krankenkasse denkt in Monaten, ein Kranker in Tagen oder Stunden). Hinzu kommt aber auch die „subjektive Zeit“, in welcher eine handelnde Figur einen Ablauf empfindet (z. B. als quälend langsam; rasend 281

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schnell, auf der Stelle bleibend). Unterschiedliche Rote Fäden von Zeit und Raum wirken spannungsfördernd, wenn in ihrem Ablauf immer wieder überraschende Geschehnisse auftreten.

10.2.2 Rote Fäden im Erleben Bestimmte Abläufe prägen direkt das Erleben und werden emotional spontan verstanden. Das Emotionale wirkt bei diesen Abläufen erheblich stärker als ihr rein zeitlicher oder räumlicher Verlauf. Wenn man Erlebens-Abläufe in der Lebensrealität unterbricht oder willkürlich ändert, löst das eine hohe Irritation oder große Schäden aus. Macht man das Gleiche im Film, erlebt sich das Publikum oft sehr enttäuscht, oder eben intensiv unterhalten. An den Abläufen des Erlebens erkennt man als Zuschauer rasch die innere Situation von Menschen, man erfasst ihre Sehnsüchte und Hoffnungen. • Das Erleben der Bewegung von Menschen, Tieren und anderen sichtbaren Elementen (z. B. eindringende Bakterien, Schiffe oder Flugzeuge in Bewegung); Gesten im Ablauf (z. B. zögerliches Handshaking unter Politikern); • Die Vorstellung die mit der Bewegungsrichtung von Fahrzeugen, Tieren Menschen (rauf, runter; nach Ost, Nord, Süd, West) verbunden ist; • Naturgegebene, gesellschaftliche und wirtschaftliche Abläufe, die naturähnlich ablaufen (von der Saat über die Blüte und Frucht zur Ernte; Entstehen und Heilen einer Krankheit; die aufeinander folgenden Zeichen einer Jahreszeit; der mit Besorgnis verbundene Ablauf einer Wirtschaftskrise); • Das allmähliche Entstehen und Vergehen eines Gefühls (z. B. das Entstehen von Langeweile in Konferenzen; das Wachsen der Lust, weiter zu forschen); • emotional geprägte Geschehensabläufe (z. B. Kochen in Routine als Profi oder Schritt für Schritt als Amateur); Erlebens-Rote-Fäden vertiefen das Mitgehen des Publikums, weil man aus Bewegungen und Naturabläufen auf die innere Verfassung der Betroffenen schließt. Zuschauer verspüren aber aus demselben Grund rasch eine Enttäuschung, wenn diese Roten Fäden nicht erlebensrichtig geführt, abgebrochen werden oder einfach verschwinden. Wenn die sichtbare – oft geografische – Bewegungsrichtung wichtig ist (z. B. bei Warenströmen, Wanderungen, Verkehrsbewegungen), muss man bereits beim Drehen darauf achten, dass die Bildführung mit der so genannten „Mental Map“

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übereinstimmt. Wenn es um Richtungen geht, stellen sich Menschen das Film-Bild nach Art einer Landkarte vor, in der Norden oben ist und Westen links. Wenn ein Bild in der zum Inhalt gehörenden Richtung nicht stimmt (z. B. Containerschiff fährt nach Westen; der Text müsste aber erwähnen, dass es 540 Container nach Sankt Petersburg transportiert), darf die Textperson nicht ausgerechnet auf dieses Bild die Richtungsangabe setzen. Denn dadurch produziert sie sofort eine hoch irritierende Text-Bild Kollision, weil die Richtungsvorstellung die das Bild zeigt, frontal mit der, die der Text vorstellt, zusammenstößt. Autoren geben mit Roten Fäden der Erfahrung und des Erlebens dem Publikum Sicherheit über den Filmverlauf, weil diese Abläufe uns meistens vertraut sind. Selbst wenn einzelne dieser Roten Fäden nicht über den gesamten Film laufen, sondern immer wieder auch abtauchen oder nur über einige Sequenzen geführt werden, dockt das Verlangen nach sicherer Steuerung einer Filmgeschichte immer wieder an sie an. Sie müssen nicht die höchste Neugier hervorrufen. Dafür sind andere Abläufe und Rote Fäden geeigneter.

10.2.3 Rote Fäden auf Grund von Regelungen Durch Regelungen aller Art, schriftlich festgelegte (z. B. Gesetze, Richtlinien, Beschlüsse, Geschäftsordnungen) und unausgesprochen wirkende (z. B. Firmenstil, institutionsinterne Verhaltensgewohnheiten) ordnen die Menschen ihr Zusammenleben von der Familie bis zur UNO. Regelungen sind an die jeweilige Kultur, die Größe und Unterschiedlichkeit der jeweiligen Gruppe gebunden. Sie müssen von Fremden gelernt werden. In der Lebensrealität – und damit als Material für die filmische Darstellung – existieren sehr viel mehr Regelungsabläufe, als hier dargestellt werden können. Für Autoren* und Zuschauer* ist es spannend, diese kennenzulernen. Man kann dann seine Filme mit deutlich mehr Informationstiefe ausstatten. Alle Regelungen sind durch Abläufe strukturiert und bilden in der filmischen Darstellung Rote Fäden. Alle Regelungen enthalten Zeitspannen, Deadlines und oft auch Wege zu unterschiedlichen Behörden. Manche dieser Abläufe sind im Detail oft nur Fachleuten vertraut (z. B. In welcher Reihenfolge genau eine gemeinsame Entscheidung von EU-Kommission und EU-Rat zustande kommt; welche Arbeitsreihenfolge zu einer gelungenen Modenschau führt). Wenn man solche Roten Fäden, die dem Publikum meist unvertraut sind, die es aber kennenlernen möchte, in der filmischen Schilderung und/oder mit der Textperson führt, gewinnt die 283

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Darstellung an Kompetenz und Drive. Und sie zeigt Respekt vor anderen Kulturen und fachlichen Handlungsweisen. Zu den Roten Fäden aus Regelungen gehören: • öffentliche Verfahren, Maßnahmen und Vereinbarungen (z. B. Gesetzgebungsverfahren; Gerichtsverfahren; der Ablauf von akuter öffentlicher Hilfe bei Notlagen; das Ineinandergreifen von Behördenaktionen bei der Planung; die Abläufe, welche die Zuständigkeiten von Behörden berücksichtigen); • die Abwicklung von Vereinbarungen (z. B. das Zustandekommen eines Versicherungsvertrages; der Ablauf und die Kriterien von Erstattungen; der Ablauf von Ausbildungsetappen; Eingliederungsverfahren in eine Firma); • Der Ablauf von Verhandlungen, Kongressen und Tagungen; die Abläufe innerhalb einer Geschäftsordnung; • Rituale: Gottesdienste; religiöse Handlungen; diplomatische Zeremonien; Vereidigung; Staatsbegräbnis; Karnevalssitzung; Opernball; Tarifauseinandersetzungen im ihren unterschiedlichen Stadien; persönliche, private Rituale; • Spielregeln: Sport-Regeln mit ihren Reihenfolgen; zur jeweiligen Kultur oder Religion gehörige Abläufe; unausgesprochene gesellschaftliche Spielregeln; Benimmregeln mit ihren Abläufen; kulturell spezifische Gesten und Abläufe; unausgesprochene Spielregeln und Abläufe in Institutionen und Unternehmen; • Fachmethoden: den jeweiligen Beruf oder die Tätigkeit kennzeichnende sichtbare Schritte des Vorgehens (z. B. im Labor; bei der Polizei; bei journalistischer Recherche; bei der ärztlichen Notfallversorgung; Versuchsanordnungen). Erwartung und Spannung entstehen manchmal bereits durch ein alltagsfernes Thema, (z. B. Archäologie, Nano-Forschung); vor allem aber dadurch, dass wir als Zuschauer die Vorgehensweisen von Forschern, Behörden, Institutionen kennenlernen und den Handelnden über die Schulter schauen können. Autoren* werden in ihren Recherchen also auf sehr viele und manchmal sehr spezielle Rote Fäden stoßen. Genau solche lohnt es, kennenzulernen und für Kamera, Ton und Filmtext zu nutzen. Dann werden Zuschauer mitfiebern mit den handelnden Figuren, ob ihnen Erfolge gelingen, auf was sie Misserfolge zurückführen und wie sie damit umgehen. Und wir werden mehr von der Welt verstehen. Solchen Roten Fäden zu folgen erhöht das Vergnügen und die Unterhaltsamkeit von Themen, die auf den ersten Blick als „schwierig“ gelten (z. B. Politik; Wirtschaft; Bauwesen; Recht – außerhalb von spektakulären Strafprozessen). Beim öffentlichen Handeln sind immer ganz unterschiedliche Akteure, Institutionen und Behörden beteiligt, von denen jede auch über ihre spezifischen Regelungen und Abläufe verfügt und danach handelt (z. B. das Umweltministerium, eine Zulassungsbehörde, eine Gemeindeverwaltung, eine Umweltinitiative). Solche

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Regelungen kollidieren in ihren Abläufen immer wieder inhaltlich miteinander, was es für Zuschauerinnen* spannungsreich macht, auf solche Kollisionen zuzusteuern. Alle Regelungen dieser Art enthalten Zeitfenster, Deadlines und eine Reihe von zeitlichen Abhängigkeiten von den Entscheidungen anderer. Solche Zeit-Roten-Fäden lassen sich in Bild und Text so führen, dass man ihre baldige Kollision ahnen kann. Und das Interesse steigt. Alle Regelungen und deren Abläufe zeigen sichtbare und hörbare Elemente und solche, die sich nur im Filmtext und durch die Textperson darstellen lassen. Möglichst viel zu Abläufen Gehörendes sollte in Bilder und Szenen und im Ton dargestellt sein, auch wenn es zunächst nur eine Infoladung bleibt. Dann steht der Textperson alles Unsichtbare und Unhörbare dieser Roten Fäden zur Verfügung. Und sie kann an die Infoladungen andocken und wird nicht überlastet. Da Regelungen dem Publikum wenig vertraut sind, müssen, sobald es auf ­genaues Verstehen ankommt, mehr Details filmisch dargestellt werden als bei anderen Roten Fäden, die das Publikum aus Erfahrung kennt. Bei den Fachmethoden und den Ritualen gehen Zuschauer deutlich besser mit, wenn sie den Handlenden auf die Finger schauen dürfen, also viele Schritte im Bild miterleben und diese nicht nur im Filmtext erwähnt bekommen.

10.2.4 Rote Fäden als Denkwege Argumente und Denkvorgänge kann man nicht sehen. Sie zeigen sich als logische Anordnungen von Gedanken und Überlegungen der Handelnden in zeitlicher Abfolge. Dadurch werden deren Gedankenschritte zugänglich und überprüfbar, und professionelle Schlussfolgerungen werden nachvollziehbar. Argumente lassen sich in unterschiedlicher Reihenfolge – und über den gesamten Film laufend – anordnen. Sie bilden Roten Fäden, die ein Film-Autor* durch seine Textperson auch über die gesamte Filmlänge führen kann (z. B. mit der Textperson „Forscher“, „Staatsanwalt“ Fachbegleiter“). Argumentlinien und Denkwege sind nicht naturgegeben. Menschen unterschiedlicher Kulturen haben sie entdeckt oder erfunden. Und sie haben sich im Laufe der Zeit für die Kommunikation und Entscheidungen als sinnvoll erwiesen. Einige dieser Reihenfolgen sind inhaltlich logische Schritte (z. B. induktiv, deduktiv, falsifizierend), einige dieser Reihenfolgen entstehen dadurch, dass sich die Argumente in ihrer inhaltlichen Qualität (z. B. groß, größer, am größten) oder in ihren quantitativen Angaben (z. B. 13, 136, 13458) steigern – oder auch vermindern. 285

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Logiken und Steigerung sind ursprünglich Werkzeuge der griechischen Rhetorik, die wir heute in der westlichen Welt nutzen und überall dort, wohin sich die westliche Kultur ausgebreitet hat. Sie werden in anderen Kulturen zusätzlich zu deren eigenen Logiken in der Kommunikation genutzt. Ob und welche Rote Fäden als Denkwege geführt werden, entscheiden die Autorinnen*, weil sie die Textperson auswählen und gestalten. Doch auch manche der handelnden Figuren im Film nutzen aufgrund ihres Berufes solche Denkwege. Sobald die Bedeutung und die Motive für sichtbare Handlungen den im Film Handelnden anschaulich werden und man als Zuschauerin* durch die Formulierungen der Textperson die zugehörigen Denkwege und Argumentlinien kennenlernt, gewinnt man Einblick in eine neue Welt (z. B. die juristische deduktive Logik der Subsumption; die falsifizierende Logik der Naturwissenschaftler; die Schritte der Schlussfolgerungen von Archäologen; die denk-methodische Vorgehensweise eines Planungsamtes). Besonders spannend sind die Fachlogiken deshalb, weil Zuschauer durch sie die Bildszenen tiefer verstehen können. Denn erst der Ablauf einer fachlichen Logik gibt einer im Bild gezeigten Fachmethode ihre Bedeutung und zieht das Publikum in das Geschehen und ins Denken der handelnden Figuren hinein (z. B. „Der Versuch mit Gummi hat ins Leere geführt. Könnte Kunststoff besser geeignet sein?“). Für den gesamten Film entscheiden Autoren* selbst darüber, welche Denkwege sie als Erzähler mit ihrer Textperson nutzen wollen (z. B. einen detektivisch-induktiven bei suchenden Textpersonen) oder welche sie auf Grund der Recherche als Argumentlinien handelnder Figuren darstellen (z. B. Fachlogiken von Medizinern, Juristen, IT-Fachleuten, Landwirten). Auf diese Weise spielen solche Roten Fäden, die durch den ganzen Film verlaufen, zusammen mit solchen, die nur einige Abschnitte lang laufen. • Induktive, detektivische Logik: vom Detail zum Schluss (z. B. die Schritte und Struktur einer Indizienkette; Denkschritte eines Suchenden und Forschenden; Gesamtlogik in einem journalistischen Recherchebericht). Die induktive Logik ist auch die professionelle Logik von Kriminalisten, Studenten, Fachpersonen, die eine Lösung finden oder etwas aufdecken müssen. Sie charakterisiert auch junge Menschen, weil sie vieles zum ersten Mal machen; • Deduktive, professorale Logik: von der These zu den Entfaltungen und Folgerungen (z. B. Gesamtstruktur eines Kommentars, eines Plädoyers oder einer wissenschaftlichen These und ihrer Begründung; Denkschritte eines Lehrenden, der die Details bereits kennt; die eines parteilichen Redners mit vorgefasster These). Deduktiv ist auch die professionelle Logik von Juristen und Lobbyis-

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ten. Sie ist oft auch charakteristisch für alte Menschen, weil sie oft bereits aus Erfahrung etwas zu wissen glauben, was in Wirklichkeit neu ist; Falsifizierende, naturwissenschaftliche Logik: von einer Arbeitshypothese über deren mögliche Widerlegung zur Festigung oder zum Sturz der Hypothese: (z. B. Gesamtstruktur einer modernen wissenschaftlichen Auseinandersetzung); falsifizierend ist die Fachlogik in den Naturwissenschaften, inzwischen aber auch in Geisteswissenschaften, weil sie Denkfehlern und thesengetriebenen Fehlschlüssen vorbeugt; Qualitative oder quantitative Steigerung oder Minderung: alle Arten von Listen und Aufzählungen, nach einem vom Autor gewählten objektiv strukturierenden Kriterium geordnet (z. B. aufsteigende gesellschaftliche Position; wachsendes Alter; immer knappere Erreichbarkeit); nach einer qualitativen, subjektiv gewählten Bedeutung gewichtend (z. B. schön, schöner am schönsten; neutral schmeckend, gut schmeckend, hervorragend schmeckend). Nach einem rein quantitativen Kriterium aufgereiht (z. B.: Ein Schaden von € 100…, von € 10.000…, von € 1 Million…“). Fachlogiken aller Art, die im Beruf begründet sind und in der Ausbildung gelernt werden (z. B. juristische Schlussverfahren; betriebswirtschaftliche, medizinische, polizeiliche Denkstruktur; die Begründungen für den Ablauf von dokumentarischen Filmproduktionen)

Argumentlinien und Denkwege charakterisieren auch die gedanklich-erzählerische Vorgehensweise bestimmter Textpersonen. Sie werden im Profil mit der Berufsangabe mitdefiniert. So verleiht die Textperson den Filmszenen besonders deutliche Bedeutung und lässt dokumentarische Filmhandlungen in ihren miteinander verknüpften Abläufen verständlich werden. Textpersonen verhalten sich dementsprechend genauso wie handelnde Figuren im Film, die ja auch je nach ihrem Beruf oder ihrer Position bestimmten Argumentlinien folgen. Eine Textperson des Typs „Fachliche Begleitung“ mit dem Beruf „Schuldenberater“ geht induktiv vor, von der Auflistung der Details zur Schlussfolgerung. Zugleich mit einer bestimmten Fachmethode der finanziellen Beratung. Und mit der dazugehörenden, der Methode ihren Sinn gebenden Argumentlinie und Steigerung. Eine Textperson des Typs „Studentin“ mit dem Beruf „zukünftige Chirurgin“ geht ebenfalls induktiv vor: von der Beobachtung der Handgriffe eines Chirurgen zum Verstehen seiner Fachmethode und der dazugehörenden Fachlogik.

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Das Dokumentarische wird abwechslungsreich und faszinierend, weil Autoren* immer andere Berufsfelder, ihnen unbekannte Lebensentwürfe, immer neue Behördenabläufe kennen lernen mit den sehr unterschiedlichen Motiven und Interessen der handelnden Personen und Institutionen. Alle sichtbaren und hörbaren Sachverhalte zu den Abläufen kann man beim Dreh nutzen. Alle unsichtbaren – und auch die aus welchen Gründen auch immer nicht gedrehten – Sachverhalte bereichern den Filmtext und konkretisieren die Textperson. Das Publikum und die Nutzer im Netz sind aber nicht einfach „ein Publikum“. Im großen Netz der „Mediennutzer-Typologie finden sich inmitten jeder der definierten Nutzergruppen viele Menschen mit Fachkenntnissen, die sich mit den dargestellten Film-Inhalten aus Berufs- und Lebenserfahrung auskennen. Wenn Rote Fäden nicht oder unvollständig geführt werden, erkennen solche Zuschauerinnen* und Nutzer* Fehler in der Darstellung und bemerken die Unkenntnis von Autoren* oder mangelnde Sorgfalt der Darstellung. Der Verdacht auf Manipulation wird, entgegen der Absicht der Autoren, gestärkt. Denn es ist eines der – für die Betroffenen unangenehmen – Momente von Unterhaltung, andere bei Fehlern zu ertappen und sich hämisch zu freuen, wenn „den Medien“ etwas misslungen ist. Die Kommentarspalten des Netzes sind gefüllt damit. Rote Fäden professionell im Film und mit der Textperson zu handhaben, erweitert die Weltkenntnis der Zuschauer und stellt zugleich die Erfahrenen unter ihnen zufrieden. ▶ Entlang von Roten Fäden in Berufen und Institutionen zu recherchieren, bringt verborgene Sachverhalte und Personen zutage; man findet die Zeitpunkte, die mit den Abläufen anderer Akteure kollidieren. Damit ein Film Spannung aufbauen und halten kann, müssen mehrere Rote Fäden laufen, von denen wenigstens einer, meistens mehr als zwei oder drei, über die gesamte Länge gezogen werden, damit die dokumentarische Erzählung für das Publikum nicht nur aus unverbundenen Einzelteilen besteht. Durch hinzukommende, immer wieder abwechselnd aufgenommene Rote Fäden entsteht ein – unter der Film-Oberfläche wirkendes – Geflecht von Roten Fäden, von denen einige nur kurze Strecken, andere über längere Zeit geführt werden. Rote Fäden treffen immer wieder aufeinander, dürfen für kurze oder längere Zeit verschwinden, werden vom Filmtext wieder aufgenommen und gegen Filmschluss einer nach dem anderen beendet.

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Teile der Roten Fäden kann man im Bild darstellen (z. B. Uhrzeiten; typische Verhaltensweisen am Abend oder in der Frühe), im Ton (z. B. scharfes Bremsen oder Anfahren), im Schnitt (z. B. Schritte eines Laborversuchs) oder mit Schrift (z. B. „drei Monate früher“). Viele Teile von Roten Fäden werden aber erst lebendig, wenn man sie im Filmtext führt. Erst dort lässt sich ihr Spannung förderndes Zusammenspiel und Aufeinandertreffen zum Auf und Ab von Ahnung, Bestätigung, Erwartung, leichter Enttäuschung, neuer Erwartung und Befriedigung der Zuschauer führen. Bei den Roten Fäden, die dem Publikum geläufig und vertraut sind (z. B. Raumabfolgen; Zeitabläufe; viele Abläufe in der Natur) und ihm Sicherheit im Filmverlauf geben, muss man nur wenige Elemente in Bild und Text darstellen, damit das Publikum mitkommt und den Roten Faden in der eigenen Vorstellung vollständig werden lässt. Die dem Publikum nicht vertrauten Roten Fäden die wir im eigenen Leben nur sehr flüchtig oder gar nicht kennen (z. B. Denklogiken und Vorgehensmethoden von Handwerkern; Verfahrensabläufe von Behörden; Abläufe der Produktkontrolle in Unternehmen; gesellschaftliche Regeln anderer Kulturen) benötigen eine möglichst detailgenaue Darstellung, damit Zuschauer ihnen leicht folgen können. Das Publikum sollte Rote Fäden in ihrem konkreten Ablauf und dramaturgisch in ihrer Bedeutung für die dokumentarische Geschichte verstehen. Erst dann weckt ihr Zusammenspiel und ihre möglichen Kollisionen Erwartung und Spannung. Und eine bessere Kenntnis der Welt, in der wir mit anderen Menschen leben. ▶ Die Roten Fäden „Zeitablauf“, Qualitative Steigerung“, Quantitative Steigerung“ können sehr unterschiedliches Material und unterschiedliche Geschichten zu einem Gesamtfilm verbinden. Die Darstellung von Abläufen im Fernsehen benötigt nicht die Detailgenauigkeit von Lehrfilmen. Im Netz hingegen kann solche Detailgenauigkeit wichtig sein, weil Imagefilme und Erklärvideos von Unternehmen, Organisationen und Institutionen solche Details vermitteln sollen. Das Publikum möchte ja durchaus gerne den Profis über die Schulter schauen und miterleben, mit welcher Methode und mit welchen Gedanken, Absichten und Überlegungen sie ein Problem angehen.

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10.3 Die Spannung zwischen Antext und O-Ton O-Töne erhöhen die Authentizität dokumentarischer Filme und Videos. Als O-Ton bezeichne ich die filmisch-akustischen Zitate in dokumentarischen Filmen: ausdrückliche Äußerungen und Statements von Personen. Sie werden aus einer Szene heraus als „Gespräch mit der Kamera“ aufgenommen oder eigens als Statement oder Interview gedreht. Durch O-Töne wirft das Publikum, wie durch ein Guckloch, mitten in der Filmerzählung einen Blick in die Lebensrealität und in das Denken von Personen. Ein O-Ton löst immer auch eine Störung aus, denn er verändert für kurze Zeit die Erzählhaltung und Erzählrichtung des Films. Im O-Ton wechselt die Stimme von der Textperson zu einer sichtbaren Person, die direkt zum Zuschauer spricht; auch wenn O-Ton-Geber nicht immer diesen direkt anschauen, sondern den Filmautor*, der neben der Kamera steht. Die Veränderung der Erzählrichtung ist dramaturgisch beabsichtigt: ein O-Ton dreht für einen Moment die Aufmerksamkeit des Publikums von der Filmwirklichkeit in die Lebensrealität. O-Töne sind ein charakteristisches Element des dokumentarischen Films; in der alltäglichen Kommunikation vermeidet man normalerweise O-Töne. Nur in besonderen Situationen (z. B. als Vortrag oder Präsentation in einem Seminar) werden sie ertragen und nur für kurze Zeit. Gespräche, in denen Personen mit O-Tönen dominieren, wirken unerquicklich. In Spielfilmen kommen O-Töne nur sehr selten vor; und dann als Darstellung von Dokumentarischem. Für einen Dokumentarischen Film sind O-Töne wie Rohdiamanten, die ihre Wirkung erst zeigen können, wenn sie richtig geschliffen (Auswahl und Schnitt), positioniert (Reihenfolge im Film) und gefasst sind (Antext). Dass der O-Ton dramaturgisch eine leichte Störung bewirkt, spüren alle Filmemacher* und Redakteure und versuchen, diese Störung zu mildern oder zu beseitigen. Viele bestehen darauf, dass ein Antext inhaltlich auf den O-Ton hinführt oder wenigstens signalisiert: „Achtung! gleich kommt O-Ton.“ (z. B. „NN ärgert sich“; „das sieht die XY-Partei ganz anders“; „NN kennt sein Gerät in allen Details“). Dramaturgisch bezeichnet man diese Textform als „Rampe“. Sie führt dazu, dass wesentliche Teile eines O-Tons durch den Antext vorweggenommen werden und der O-Ton dann wie eine schwache Wiederholung des vorherlaufenden Filmtextes wirkt; oder wie eine Fußnote im wissenschaftlichen Apparat „unter dem Strich“.

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Als Antext bezeichnet man das letzte Textelement vor einem O-Ton, egal, ob das ein ganzer Satz ist oder nur ein Wort. Auf den ersten Blick erstaunlich, aktiviert ein Antext die Zuschauer erst dann, wenn er keine „Übergangsformulierungen“ (in manchen Redaktionen heißen sie „Textscharnier“ oder „Hinführung“) enthält. Rampen sollten nicht entstehen. Textscharniere sind nicht notwendig, weil die Erwartung des Publikums durch Bilder Geräusche, Musik und Schnitt angestoßen werden kann. Dramaturgisch bilden Antext und O-Ton den kürzesten Spannungsbogen im Filmverlauf. Um diese Spannung zu erreichen und das Störpotenzial der O-Töne zu nutzen, hilft den Autoren* die Polaritätslogik, die zwischen Antext und O-Ton die nötige Spannung erzeugt. Die Pole passen in dieser erzählerischen Logik in Spannung zusammen (wie Mann und Frau; warm und kalt; hell und dunkel), sind aber keine rationalen Gegensätze (wie Gesetz gegen Willkür). In dieser Logik enthält der unmittelbar vor dem O-Ton stehende Text (Antext) solche Fakten und Formulierung, dass er als Drama-Gegenpol zur O-Ton Aussage-Sorte funktioniert und im Zuschauer* die Erwartung und die Lust auf einen O-Ton, den Drama-Pol steigen lässt. Antext und O-Ton erzeugen so gemeinsam eine aktivierende Wirkung. (z. B. Antext: „es war genau 15:56 Uhr“ – O-Ton: „Ich war total verzweifelt. Wir konnten das Kind nicht beruhigen“). Den O-Ton betrachtet man als Drama-Pol, weil es auf ihn ankommt und er als fertiges Element bereits vorliegt, wenn der Antext noch geschrieben werden muss. Der Antext zündet die Wirkung, indem er durch die Sachverhalte und Fakten, die er erzählt, einen Gegenpol zum O-Ton bildet. Er setzt Spannung in Gang, wenn er gleichsam als Sprungbrett dient, das den Zuschauer aktiv eine winzige inhaltliche Lücke überspringen lässt. Die Lücke darf nicht so groß sein, dass sie zum Abriss des Vorstellungsflusses führt, aber eben auch nicht so klein, dass sich ein Sprung nicht lohnt. Unterhaltungswert, Filmtempo und die Aufmerksamkeit der Zuschauer steigen durch diese Aktivierung. Ein Antext, der ausschließlich konkrete Sachverhalte und recherchierte Fakten nennt, weckt Spannung und aktiviert die Zuschauer und funktioniert am besten, wenn er keine Rampe bildet (z. B.„das hatte sich Heinrich ganz anders vorgestellt“; „Dazu der Regierungssprecher“ sind Rampen). Eine winzige inhaltliche Lücke bleibt absichtlich bestehen, die das aktivierte Publikum reizt, mit Vergnügen in den O-Ton zu springen.

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Teil 2 Textperson und Filmtext schreiben

10.3.1 O-Ton-Sorten In jedem O-Ton hören wir als Zuschauerinnen* bestimmte Inhalte. Wir hören und sehen aber noch mehr: die Stimmführung, den Gesichtsausdruck. Und wir fällen ein spontanes Urteil: ob wir die O-Ton Geber* mögen, sie für kompetent halten oder ob sie uns egal sind. Über seinen Inhalt hinaus gehört ein O-Ton zu einer bestimmten Aussage-Sorte. Er ist – so der Ausdruck in der Sprachwissenschaft – ein Sprechakt (z. B. eine Erklärung; ein Ritual; ein Beweis; eine Erinnerung; ein Widerspruch zu etwas zuvor Gesagtem). Filmdramaturgisch kann man diese Eigenschaft als O-Ton-Sorte bezeichnen, ähnlich, wie man auf dem Markt unterschiedliche Äpfel nach Sorten unterscheidet. Alle O-Töne sind inhaltlich Belege und Zitate, in der Präsentation aber gehören sie zu jeweils unterschiedlichen O-Ton-Sorten. Und darüber hinaus haben sie im dokumentarischen Film noch weitere dramaturgisch wirksame Funktionen: • sie schaffen akustische Abwechslung; • sie wecken im Zuschauer* die Vorstellung eines Dialogs der O-Ton-Geber mit den Gedanken und Überlegungen der Zuschauerin*; • sie reagieren mit der Textperson, mit Bildern und Filminhalten; sie reizen oder beruhigen, treiben voran oder bremsen die Gedanken und das Empfinden der Betrachter*; • Sie können das innere Tempo eines Films beschleunigen, obwohl nur ein einzelner Kopf zu sehen ist und die Kamera meist steht; wodurch sich das äußere Tempo des Films verlangsamt. Nur wenn die Antexte keine Rampen bilden, können O-Töne diese dramaturgischen Wirkungen zeigen. Dann lassen sie sich von den unterschiedlichen Textpersonen richtig ansteuern. Denn jede Textperson kann dann das für sie passende erzählerische Gewicht der O-Töne nutzen (z. B. für den Typ „Suchen“ sind sie Hinweise und Spuren; für Textpersonen vom Typ „Argumentieren“ sind sie Beweise; für den Typ „Beobachten“ sind sie erst einmal neutrale Fakten). In der Art, wie eine Textperson O-Töne ansteuert, zeigt sich besonders deutlich ihr Charakter. Und ihre Haltung zum Inhalt und zum Zuschauer. Je genauer eine Textperson die unterschiedlichen O-Ton Sorten durch ihre Antexte in Spannung bringt, umso lebendiger können Zuschauer mit dem Film mitgehen. Mit Rampen aber – den so genannten „Hinführungen“ – entsteht durch die inhaltliche Vorwegnahme genau an der Stelle, an welcher ein Film besonders

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authentisch und spannungsreich werden könnte, ein dramaturgisches Loch: der O-Ton wiederholt etwas, das unmittelbar vorher im Filmtext gesagt wurde. Die Spannung der Zuschauer sinkt schlagartig. Dieses dramaturgische Schlagloch lässt sich durch den Inhalt von O-Tönen nur sehr selten ausgleichen. Deshalb erfordern O-Töne immer die besondere Aufmerksamkeit der Autoren*. Ein O-Ton zeigt sich als ein Ganzes aus Bild, Text und der sprechenden Person. Er steht aus inhaltlichen und dramaturgischen Gründen absichtlich an einer ganz bestimmten Stelle im Film. Um Spannung weckende Antexte zu schreiben, muss man erfassen zu welcher Sorte der jeweilige O-Ton gehört. Um die O-Ton-Sorte allgemein zu klären, helfen einige Fragen: • Welche Sprache nutzt der O-Ton (z. B. wissenschaftlich; alltäglich; offiziell; persönlich; ein einziger Inhalt; mehrere)? • Wie ist der O-Ton geschnitten (z. B. ein ganzer Satz; nur Teil davon)? • Welche emotionale Ladung zeigt der O-Ton? (z. B. Wut; Trauer; Nüchternheit; Jubel)? Sie zeigt sich in Mimik, Gestik und Tonfall. • Wie wirkt das Bild, auf Grund von Kameraposition, der Kadrierung, seiner Positionierung und Überlagerung in andere Hintergrundbilder? • An welcher Position im Filmverlauf steht der O-Ton? Der gleiche O-Ton (z. B.„… muss jetzt unbedingt geändert werden!“) gehört am Anfang eines Films zur Sorte „Behauptung“ oder „Forderung“; spät im Film aber zur Sorte „Schlussfolgerung“. Alles, was sich als Antwort auf diese Fragen zeigt, ist zueinander beweglich; die emotionale Ladung kann den Inhalt dominieren, der Zuschnitt kann Fragen nach weiteren Inhalten aufwerfen. Derselbe O-Ton kann – anders als bei Äpfeln – zu unterschiedlichen Sorten gehören, je nachdem, welches dieser Elemente dominiert und/oder durch den Antext besonders angespielt wird (z. B. ein Automanager weist sichtbar wütend den Vorwurf der Dieselmanipulation zurück: zugleich ein Emotionsausbruch und eine Rechtfertigung). Die Autorinnen* bekommen so eine weitere Entscheidung in die Hand: welche dieser möglichen Sorten sie durch den Antext anspielen und worauf sie die Aufmerksamkeit der Zuschauer hinsteuern wollen. Der Antext ist ihr Werkzeug dafür, damit O-Töne an der Stelle im Film, an der sie platziert sind, möglichst intensiv die dramaturgischen Ziele des Films (Emotionsziel und/oder Argumentziel) ansteuern und das Publikum in Spannung bringen. ▶ Erst die O-Ton Sorte klären – Dann als Gegenpol dazu den Antext formulieren!

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Teil 2 Textperson und Filmtext schreiben

Die in der Dramaturgie typische Arbeitsreihenfolge verläuft entgegengesetzt zur Laufrichtung eines Films. Man bezeichnet diesen dramaturgischen Denkweg auch als „von hinten nach vorne denken“ oder „erst die Wirkung beschreiben, dann die Voraussetzungen dafür schaffen“. Diese Arbeitsweise sorgt bei O-Tönen dafür, dass Spannung zwischen Antext und O-Ton entsteht. O-Ton-Sorte Dramaturgischer Pol

Antext Dramaturgischer Gegenpol

Stimmung und Gefühl „Es ist hier so großartig; ich fühle mich toll, wirklich!“

Trocken formuliertes Faktum, eine Orts- oder Zeitangabe; charakteristische Fakten für die Umstände „7 Uhr, noch vor dem Ansturm der Touristen“

Beweis, Zeugenaussage „Ich habe ihn um 8 Uhr früh hier gesehen, auf dieser Bank.“

Fakten, die eine Vermutung oder einen Verdacht wecken „Seit gestern Abend wird der Junge vermisst“

Behauptung, Klage „Das ist eine gefährliche Giftquelle“

Ein ganz unauffälliges, normales Faktum; ein Verfahrensschritt „Mitten durch die Stadt fließt die YY“

Die Inhaltsdichte und die Unterhaltsamkeit dokumentarischer Filme steigt, wenn Autoren* die vielfältigen Aussage-Sorten von O-Tönen dazu nutzen, das Erleben der Zuschauer beweglich zu halten. Weitere der im Dokumentarischen häufigen O-Ton Sorten sind im Anhang beschrieben.

10.3.2 Das Vorgehen beim Antexten („Der Viererschritt“) Ein O-Ton wirkt am intensivsten und lässt sich am genauesten durch den Antext ansteuern, wenn er nur einen einzigen Inhaltsaspekt enthält. Es gibt Ausnahmen: emotional intensiv erzählende O-Töne (z. B. Erinnerung, Schilderung eines gerade überstandenen Ereignisses) bewirken Anteilnahme gerade durch Unbeholfenheit, Pausen und Länge. Und natürlich präsentiert man offizielle O-Töne (z. B. Ankündigungen von Ministerinnen*) schon aus dokumentarischer Sorgfaltspflicht vollständig. Die Mehrzahl der O-Töne in dokumentarischen Filmen aber wirkt deutlicher und überzeugender, wenn sie knapp geschnitten werden. Viele Varianten bei Schnitt und Montage sind möglich. Man kann O-Töne einander ins Wort fallen lassen ohne Zwischenteil oder neuen Antext. Man kann einen langen O-Ton, der mehrere Argumente enthält, auseinanderschneiden und die Argumente einzeln präsentieren. Viele Quasi-Dogmen über O-Töne, denen Autorinnen* immer wieder begegnen (z. B. „Ein O-Ton muss immer einen ganzen Satz enthalten“; „O-Töne dürfen nicht

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ganz kurz sein und nicht nur aus Ausruf-Geräusch bestehen“; „Jeder O-Ton benötigt ein Antext-Bild“) erweisen sich als dramaturgisch und gestalterisch ungünstig. Im Schnitt, wo die Entscheidung zu Länge und Positionierung von O-Tönen fällt, liegt auch der erste günstige Zeitpunkt, sich über die jeweilige O-Ton-Sorte an dessen Position im Film klar zu werden und diese zu notieren. • Schritt 1: Den O-Ton auf möglichst nur einen einzigen Inhaltsaspekt oder Argument zuschneiden; Beim Texten selbst und auch beim Redigieren von Filmtexten ist, wie immer bei dramaturgischen Entscheidungen, die günstigste Vorgehensweise die „von hinten nach vorne“. Denn der O-Ton ist jetzt wirksamer Bestandteil des Films geworden und zeigt das, worauf es ankommt. Dann sucht man einen Antext; der wird zum beweglichen und steuernden Element. • Schritt 2: Die O-Ton-Sorte bestimmen; dabei die Notizen checken, die man sich dazu beim Schnitt gemacht hat. Kriterien für diese Bestimmung sind der Inhalt, die Position im Film, die Stimme und der Ausdruck der sprechenden Person, die Bühne: Kameraposition und Umgebung, in welcher die Person spricht; • Schritt 3: Den Antext als Gegenpol zur O-Ton-Sorte schreiben. In den Antext kommen möglichst nur Fakten und Sachverhalte, die diesen Gegenpol zeigen. Keine Formulierung und kein inhaltlich wichtiges Wort des O-Tons darf in den Antext kommen; denn dann wird der O-Ton für das Publikum als unerwünschte und unangenehme Wiederholung wirken; • Schritt 4: Den letzten Sinnschritt des geschriebenen Antextes streichen. Denn da ist dennoch häufig eine Rampe entstanden. Dieser letzte Schritt erleichtert das Schreiben von genauen, dramaturgisch und inhaltlich passenden Antexten. Autoren* kommen beim professionell üblichen raschen Texten fast immer inhaltlich zu dicht an den O-Ton heran, so dass sich unbeabsichtigt eine Rampe bildet. Das Streichen des letzten geschriebenen Sinnschritts – eventuell des ganzen letzten Satzes – befreit vom Starren auf Regeln und Anforderungen. Weil Autoren ihren Film kennen, haben sie in den meisten Fällen intuitiv den passenden Gegenpol im vorletzten Satz oder im vorletzten Sinnschritt vor einem O-Ton bereits formuliert. Durch das Wegstreichen des letzten Sinnschritts wird der Gegenpol wirksam. 295

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Teil 2 Textperson und Filmtext schreiben

Szene: Ein Mann repariert einen Weidezaun. Antext: „Als junger Mann hat er Techniker für Landbau gelernt. Das hilft“ O-Ton: „Jetzt könne se komme, die Büffel“ Korrektur: „Als junger Mann hat er Techniker für Landbau gelernt.“ O-Ton: „Jetzt könne se komme …“ Szene: Auf einem Polizeiboot nachts beim Einlaufen der Queen Mary in die Werft. Antext: „Wenn kleine Bote dem Riesen zu nahe kommen, könnten sie in den Antriebs-Sog geraten. Noch herrscht gute Sicht. Zeit für Kurt Mazur (Polizist) für einen kurzen Moment von einer Fahrt mit der Königin zu träumen“ O-Ton: „Ich bin 11 Jahre zur See gefahren, So ne Kreuzfahrt hab ich allerdings noch nie mitgemacht …“ Korrektur: „… noch herrscht gute Sicht.“ O-Ton: „Ich bin 11 Jahre zur See gefahren …“ Oft passen Fakten, die man spontan vor einen O-Ton setzen möchte, auch direkt hinter den O-Ton. Sie wirken dort als sinnvolle Schlussfolgerung, während sie vor dem O-Ton als ungeprüfte Behauptung stünden und den O-Ton zur Fußnote degradieren. Ob die Wirkung tatsächlich eintritt, muss man ausprobieren. ▶ Wenn die Zeit knapp ist: vor jedem O-Ton nur die Rampe wegstreichen – In den meisten Fällen entsteht allein dadurch bereits eine ausreichende Spannung. Übersetzungen von fremdsprachigen O-Tönen bereiten vielerlei Probleme. Die deutsche Sprache ist gegenüber vielen anderen Sprachen länger. Manchmal sind wörtliche Übersetzungen geboten. Manchmal reicht eine zusammenfassende Übersetzung. Oft übersehen Redaktion und Autoren* aber, dass im Publikum und bei den Netz-Nutzern immer Menschen zuhören, welche die Originalsprache verstehen. Übersetzungen sollten so positioniert sein, dass dem Original anfangs etwa fünf bis sechs Sekunden Zeit in der Originalsprache bleiben. Diese kurze Zeitspanne reicht, um Inhalt, Sound und Stimmung der Sprechenden zu erfassen. Die ersten Worte des Voice-over sollten zeigen, dass die Übersetzung den Originalsprechern zugehört hat. Danach kann man auch zusammenfassend übersetzen. Ideal wird es, wenn die Übersetzung immer wieder eine oder zwei Sekunden Original durchkommen lässt; und wenn am Schluss der Übersetzung dem Original noch einige Sekunden bleiben, in welchen Zuschauer, die mit der Sprache vertraut sind, spüren können, dass die Übersetzung gestimmt hat.

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Eigene Sprecher für die Übersetzung machen den Filmtext abwechslungsreicher. Das Publikum kann dann besser zuhören und die O-Töne zuordnen. Damit Originalsprache länger freistehen kann, lohnt der Versuch, Übersetzung oder inhaltliche Zusammenfassung teilweise vor und teilweise hinter den O-Ton zu platzieren. Oder einen schriftlichen Scroll einzublenden. Originalsprache für begrenzte Zeit (6-12 Sekunden, zwei bis drei Sinnschritte lang) zu hören, ist auch für solche Zuschauerinnen* ein akustisch unterhaltsamer Gewinn, welche diese Sprache nicht oder nur unvollkommen beherrschen.

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Welche dramaturgischen Entscheidungen fallen beim Texten? 11 Welche dramaturgischen Entscheidungen fallen beim Texten?

Zusammenfassung

Der Filmtext steuert die Aufmerksamkeit des Publikums. Dem Einstieg und dem Schluss kommen dabei besondere Bedeutung zu. In diesem Kapitel gibt es praktische Hinweise für die Gestaltung des Anfangs- und des Schluss-Satzes. Man lernt die textdramaturgischen Entscheidungen kennen, als Grundlage für Inhaltsdichte und Spannung.

Schlüsselwörter

Fernsehjournalismus, Filmtext-Anfang, Filmschluss, Filmtext-Schluss, Filmtext, Textperson, Aufmerksamkeit, Spannung, Text-Entscheidungen

11.1

Entscheidungen zur Steuerung des Films

Ein dokumentarischer Film würde an einen Diavortrag aus den 60-er Jahren des vergangenen Jahrhunderts erinnern, wenn eine Autorin* heute noch der vor Jahrzenten – und manchmal noch heute – in Fernsehredaktionen übliche Regel folgte: „Erst mal ein paar Sekunden Bild wirken lassen, dann den Text starten und, wenn nach dem Text-Ende in der Szene noch etwas Platz ist, noch etwas Bild frei stehen lassen.“ Der Filmtext als Textperson steuert immer die Aufmerksamkeit Publikums, weil „Steuern“ eine seiner Grundeigenschaften ist und die Zuschauerinnen* die Aussagen © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 G. A. Heussen, Die Textperson im dokumentarischen Film, Journalistische Praxis, https://doi.org/10.1007/978-3-658-28456-5_11

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Teil 2 Textperson und Filmtext schreiben

jedes Filmtextes sogleich mit den Bildern zu verbinden versuchen, unbekümmert darum, ob diese Verbindung im Sinne der Autoren* funktioniert. Filmtext agiert deshalb, wenn man ihn nicht – ähnlich wie einen Hund – diszipliniert, oft gegen die Absicht von Autoren. Er sollte aber den Film aber so steuern, dass die Absicht der Autoren und die Aktionen der Textperson übereinstimmen. Also müssen Autoren* einige inhaltliche und dramaturgische Text-Entscheidungen fällen, damit die Textperson an jeder Stelle, an der sie im Film auftritt, dasjenige leisten kann, was sie dort soll. Die Entscheidungsnotwendigkeit entsteht bei jeder Filmsequenz und jedes Mal, wenn im Film ein Textstück startet. Sie erfordert von Autoren dramaturgisch und inhaltlich klare Kriterien und Begründungen. Sofort. Deshalb muss man günstigerweise • sich zuerst vergewissern, was Bild und Ton in der jeweiligen Film-Situation bereits für den Filminhalt und die Dramaturgie tun (z. B.: Welcher Inhalt bereits im Bild und Ton deutlich vorhanden ist; welcher der Roten Fäden bereits im Bild und/oder Ton läuft); • ob und auf welche Weise Bild, Ton und Schnitt die Inhalte bereits selbst erzählen, so dass kein Filmtext stören darf; • ob Filmtext an dieser Stelle nötig wird; und welche Sachverhalte er liefern müsste; • dann entscheiden, was in diesem Moment die Textperson genau tun oder nicht tun soll; welche Infoladungen sie aktivieren muss, weil sie für den Inhalt relevant sind; welche Infoladungen sie aktivieren kann, um die Textperson erkennbar zu machen oder um die Dramaturgie zu stärken. Eine Textperson wird bei jedem Textstart innerhalb eines Films ganz unterschiedliche Aufgaben bewältigen müssen, damit die Gesamterzählung ihr Ziel erreicht. Wenn sie das schafft, wird die erzählerische Steuerung stimmen und die Filmziele werden erreicht. Damit sie es schaffen kann, sind bei jeder Filmsequenz eine oder zwei der folgenden Optionen ausdrücklich zu entscheiden: • ob die Textperson schweigen soll (immer dann und so lange, wie Bild, Sound und Schnitt den Inhalt und die Dramaturgie selbst vorantreiben z. B. am Anfang eins Intros und am Anfang eines Films); • ob die Textperson auftreten muss um Inhalt und Dramaturgie voranzutreiben, (z. B., wenn Sequenzen eigens für Text gemacht sind; wenn Sequenzen ohne Filmtext nur schwer verständlich blieben oder die Stimmung verlören; wenn Bildfehler oder Tonschwächen verdeckt werden müssen; wenn Filminhalte miteinander verbunden oder voneinander getrennt werden sollen);

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• wie lang sie reden darf (so kurz, dass sie das Zusammenspiel von Bild, Sound und Text nicht dominiert und so lang, wie sie es nicht stört, sondern rhythmisch anregt); • ob die Textperson mit Text einen gestalterischen Mangel verdecken soll (z. B. ein Tonloch, einen gestalterisch unbeabsichtigten Achsensprung, eine zu lang geratene Szene, die nicht mehr gekürzt werden kann); • ob die Textperson eine oder mehrere für die Erzählung sinnvolle Infoladung aktivieren soll (z. B. eine Stimmung im Bild; die Textzeile einer Musik; die Info eines Geräuschs), um die Bildinformation zu sichern, um Erwartung zu wecken oder einen Charakterzug der Textperson zu betonen; • ob sie eine sich vordrängende Infoladung nicht beachten und übergehen soll (z. B. eine Uhrzeit im Bild oder die Heiterkeit einer Szene); ob sie eine an dieser Stelle vorhandene, aber unerwünschte und wenig nützliche aktive Infoladung (z. B. zufällige, für den Film nicht wichtige Unterhaltungen von Personen im Bild) mit Text zudecken soll; • welches Element aus dem Profil der Textperson an dieser Stelle das Verhalten der Textperson am deutlichsten markiert (z. B.: das Alter, der Beruf, die Herkunft, das Geschlecht, die Lebenserfahrung); • Ob die Textperson einen Roten Faden wieder aufnehmen soll oder einen neuen anfahren; oder ob sie einen Roten Faden verlieren darf; • ob die Textperson ein Faktum gar nicht oder später positionieren soll, weil in der jetzigen Filmsequenz Bild- und Ton-Informationen wichtiger sind; • welche Fakten der Filmtext enthalten muss, damit die sich Aufmerksamkeit Publikums auf den Charakter und Typ des Erzählers, auf das Vorantreiben der Handlung, auf den Sound, auf ein bestimmtes Bild-Element oder auf das Verhalten der Filmfiguren richtet; • ob die Textperson ein wichtiges Faktum aus dramaturgischen oder inhaltslogischen Gründen jetzt präsentieren soll, oder ob dieses Faktum früher (wenn JA, wo) positioniert mehr Spannung erzeugt oder erst später (wenn JA, wo) sinnvoll platziert werden kann; • auf welche Weise die Textperson Ortswechsel, die Einführung neuer Figuren, Zeitsprünge, Rücksprünge und das Verschwinden von handelnden Figuren kennzeichnen soll. (Der Filmschnitt kann diese Steuerung nicht leisten, weil Filmbilder fast immer nur im „Jetzt“ agieren). • ob die Textperson an einem bestimmten Filmschnitt Inhalte oder Filmsituationen miteinander verbinden oder voneinander trennen soll (wenn sie verbinden soll, muss der Text über den Schnitt laufen; wenn sie trennen soll, darf der Filmtext nicht über den Schnitt laufen) 301

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Teil 2 Textperson und Filmtext schreiben

• ob die Textperson in dieser Filmsequenz eine Situation, eine emotionale Bewegung oder einen Inhaltabschnitt schließen soll, oder eine neue Erwartung öffnen (z. B. O-Töne können Inhaltskapitel schließen oder ein neues Kapitel eröffnen. Ob sie das tun, steuert die Textperson); • ob die Textperson in der jeweiligen Filmsequenz ein im Zuschauer entstandenes Gefühl weiterführen oder unterbrechen, es verstärken oder abschwächen soll (alles davon kann dramaturgisch und inhaltlich günstig sein); • ob die Textperson den Inhalt einer Szene oder Filmsituation intensivieren oder abmildern soll (beides kann erzählerisch und inhaltlich stimmig sein); • ob die Textperson einen Aspekt der Film-Situation erläutern oder durch Weglassen Spannung wecken soll; ob sie einen Aspekt hervorheben oder darüber hinweggehen soll (jede dieser Optionen kann erzählerisch günstig sein); • ob die Textperson die Vorstellung von Erinnerung wecken soll oder die eines Vorgriffs auf Späteres (z. B. wenn das Publikum in eine Rückblende gesteuert werden soll, werden Formulierungen mit der Vorstellung von „Erinnerung“ benötigt). Aus diesem Fragen-Set werden Film-Autoren* meist nur ein einziges, höchstens zwei oder drei Kriterien für die jeweilige Entscheidung benötigen. Weil aber bei jeder Filmsequenz und bei jedem weiteren Text-Teil wieder eine neue Entscheidung ansteht, wird das Zuspiel des Textes zur Bild-Szene und Ton und das Abspiel der Film-Szene zum Text beweglich und flüssig verlaufen; und die Textperson wird auf Grund dieser immer wieder neuen, dem Publikum aber verborgenen Entscheidungen vertrauenswürdig: sie zeigt, dass sie gemeinsam mit dem Publikum den Film betrachtet. Sie steht nicht dozierend vor dem Publikum. Beim Redigieren des Filmtextes benutzt man die gleichen Kriterien. Dann können auch andere Text-Entscheidungen fallen und man muss korrigieren, damit das informative und emotionale Zusammenspiel von Text und Bild stimmig wird. Es geht also nicht darum, andauernd zwischen 18 Entscheidungsanforderungen umherzuspringen. Aus einer solchen Unsicherheit würde weder eine Textperson noch ein fertiger Filmtext geschaffen. Einzig wichtig ist die Überzeugung: man muss dramaturgisch-inhaltlich entscheiden, wie die Textperson als Filmtext agieren soll. Und für die konkrete Entscheidung werden die oben genannten Optionen hilfreich sein.

11 Welche dramaturgischen Entscheidungen fallen beim Texten?

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11.2 Der erste Satz Der Zuschauer ist* – ob bewusst oder unbewusst – seit der ersten Filmsekunde aktiv. Auch ohne Filmtext. Die meisten ersten Szenen sind sinnenhafte Erst-Erfahrungen, ähnlich denen, wenn man sich in einer unvertrauten Gegend neu orientieren muss. Zuschauer versuchen, sich in der ersten Film-Szene – und in jeder neuen dokumentarischen Szene im Filmverlauf – zu orientieren. Es dauert ein bisschen, bis unser Gehirn wenigstens die Grundzüge dieser Situation erfasst hat. Manchmal geht es sehr schnell, weil man ähnliche Film-Situationen schon oft erlebt hat (z. B. Schlauchboot auf dem Meer, darin dunkelhäutige Menschen in Schwimmwesten; Kanzleramt in Berlin von vorn); manchmal dauert die Orientierung länger, weil aus dramaturgischer Absicht eine Ahnung im Publikum aufkommen soll, die nicht sofort durch Erklärtext zugeschüttet werden darf. Durch Sound und/oder Musik zieht es die Zuschauerinnen* in eine ihnen noch etwas unvertraute Richtung. Sie spüren und erkennen die Film-Situation, vergleichen sie mit eigenen Erfahrungen, Fragen kommen in ihnen auf, Ahnungen treiben sie voran, eine Stimmung entsteht, Erwartungen werden wach. Wir haben, um diesen Abschnitt zu lesen, etwa 60 Sekunden benötigt. Im Film gelingt unsere innere Bewegung viel rascher. Aber wenigstens 3 Sekunden lang dauert es immer, und manchmal bis 6 Sekunden, um Bild und Ton zu einem erfassbaren Sinnschritt zusammenzufügen und eine Filmische Situation als solche zu begreifen. Unser Gehirn kann nicht schneller arbeiten, als seine Prozesse es zulassen. Ist die erste Filmszene sehr aktiv und lebendig, benötigt man zwei oder drei Sinnschritte, also 6 bis 12 Sekunden. Erst danach kann ein Filmtext sinnvoll starten. Bei einem längen Film kann die erste Phase intensiven textlosen Erlebens auch länger anhalten: bis zu etwa knapp 3 Minuten. Spätestens dann aber sollte ein Filmtext starten, damit das Publikum erkennt, dass Text im Informationsteam steuernd mitspielt. Der Textbeginn – die ersten Worte des ersten Satzes – muss zeigen, dass er das bereits vorhandene Erleben des Publikums aufnimmt (die emotionale Infoladung aktiviert) und die wichtigen Details in Bild und/oder Ton sichert. Mit den ersten Worten sollte die Textperson die emotionale innere Bewegung der Zuschauer weiterführen. Bei jedem Film jeder Länge. Und innerhalb eines Film bei jedem Textstart. Als Mitglied des Info-Teams (Bild, Geräusch, Musik, O-Ton, Schrift, Filmtext) kommt „Filmtext“ – wie der Bandleader einer Jazzband, der die Anfangsakkorde seiner Mitspieler aufnimmt – als letzter aufs Feld. Der einzige Unterschied: der Startpunkt des Filmtextes liegt bei kurzen Filmen früher als bei langen. 303

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Teil 2 Textperson und Filmtext schreiben

In den ersten Sätzen zeigt sich die Textperson in ihrem Charakter. Ohne dass der Text es ausdrücklich erwähnte, spürt das Publikum, wer da erzählt, es bemerkt seine Haltung zum Inhalt und reagiert auf Stimme, Inhalt und Sprechgestaltung. Das Profil einer Textperson kann sich im Laufe des Films entwickeln, aber wichtige Elemente dieses Profils zeigen sich bereits in den ersten Sätzen. Die Autoren-Entscheidung für den ersten Satz besteht also auch darin, zu bestimmten, welches Element des Textperson-Profils sich als erstes zeigen sol. (z. B. Die Stimme gibt einen ersten Hinweis auf das Alter, danach soll die Kompetenz deutlich werden; oder: erst wird die Achtung der Textperson vor der Herausforderung der Hauptfigur spürbar, dann die Lebenserfahrung und dann der Beruf der Textperson). 0‘00“ Bild-Szene: Bürgersteig bei starkem Regen; in den Pfützen: sich spiegelnde gehende, sich vor dem Regen schützende Menschen; halbtotal: eine Frau und ein Mann gehen, mit Akten als Regenschutz über dem Kopf, entlang einer Fassade mit vielen Menschenschattenbildern; langsame Orchestermusik, Violinen 0‘23“ Filmtext (Textperson männlich, Typ: Forscher): „Wir meinen Europa und sagen Brüssel; als ließen sich die 28 Mitglied-Staaten der EU und ihre 513 Mil­ lionen Einwohner auf einen Punkt reduzieren.“ Alain de Halleux: „The Clock is ticking – Das Brexit-Drama“; ARD+ arteF 2019. https://www.youtube.com/watch?v=DT1FSmISCGw 0‘00“ Bild-Szene: ein aus Sternen gebildeter Gepard (CGI) bewegt sich auf einem felsigen Gelände, schreckt vor Feuer zurück; dunkelrote Kanten von Vulkanglut auf schwarzem Grund (dokumentarisch); Orchestermusik Violinen und Celli; leise Trompeten geheimnisvoll dunkel; fauchende Geräusche; Bild: Die Erde, schwarz und von innen glühend, vom Weltall aus gesehen umsegelt von Steinbrocken (CGI); fauchende Geräusche; Bild: (dokumentarisch) Morgen, erstes Licht das sich rot in den Wolken spielgelt; Musik-Ende; Stille 1‘58“ Filmtext (Textperson männlich, Typ: fachlich gebildeter Beobachter): „Im Laufe ihrer Entstehung hat die Erde und in ihrer Kruste eine erhebliche Menge an Energie angestaut. Seitdem versucht sie --- mit allen Mitteln --- diese Hitze loszuwerden“. Francois de Riberolles „Wenn die Vulkane erwachen; arteF+Saint Thomas 2012. https://www.youtube.com/watch?v=harhu4tauK4 0‘00“ Bild-Szene: Kranhaken senkt sich; Amboss wird gehoben; Musik: Klavier elektronisch, treibend;

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T-Träger werden ins Bild geschwenkt von kräftigen Männern; Geräusche der Arbeit, Rufe der Männer; Die Esse wird mit Rütteln gelöst; Schrift: „die Nordstory“; „Gemeinsam Zukunft schmieden“; Musik weg, Geräusche und Stimmen; fünf Männer drehen sich mit schwerem Gerät und schieben. 0‘19“ Filmtext (Textperson weiblich, Typ: Registratorin): „Es muss raus, das Herz der Schmiede. --- Der Lufthammer ---2 Tonnen schwer --- Doch die Männer müssen ihre Zukunft retten. --- Und ohne Lufthammer --- wäre die doppelt schwer“ Katrin Spranger: „Gemeinsam Zukunft schmieden – Projekt Handwerkerhof“; NDR 2019 https://www.youtube.com/watch?v=HsZt2VTMc2E Wie klingt ein guter erster Satz? Was muss ein erster Satz enthalten? Wann funktioniert er nicht? Welcher Satz kann Zuschauer* in einen Film buchstäblich hineinziehen? Zu all dem gibt es keine allgemeine Regel, geschweige denn eine Ein-für-alle-Mal-Regel. Anders als bei Schluss-Sätzen, deren Richtungen und Möglichkeiten sich differenziert beschreiben lassen, lassen sich erste Sätze sehr frei gestalten. Sie müssen noch nicht einmal vollständige Sätze sein. Jeder Zuschauer erkennt spontan einen guten ersten Satz und wird dessen Richtung gern folgen. Aber er wird kaum erklären können, aus welchem Grund. Autoren* aber müssen diesen „guten“ ersten Satz finden und formulieren. Und begründen können. Die Voraussetzung für einen erfolgreichen ersten Satz, seinen Inhalt und seine Richtung ergeben sich daraus, dass Bild-Szene, Ton und Filmtext als Textperson gemeinsam eine Situation erzeugen müssen, in der im Zuschauer* Erregung, Anspannung, Freude und Lust aufkommen, dabeizubleiben. Eine erste Szene, die in Bild, Geräusch und Schnitt bereits Neugier, innere Aktivität und inhaltliches Interesse des Publikums weckt, erleichtert den Textbeginn. Dann entsteht intensives Erleben, das nach Erläuterung, Vertiefung, Erweiterung – nach mehr – verlangt. Ein Mann stolpert durch Trümmer in Mossul; man hört sein Atmen; er hebt Gegenstände auf, wirft sie wieder weg; OFF-Ton „Was denken die sich …“. Auch eine Montage, geschnitten als inhaltliche Steigerung, kann dies leisten und auch eine Folge von erzählenden situativen O-Tönen, deren Intensität sich steigert. Urteilende und zusammenfassende O-Töne hingegen bremsen in einer ersten 305

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Szene die Aktivität der Zuschauer aus. Ebenso der oft gehörte Rat: „Das ‚best of‘ zuerst“ oder „Das stärkste Bild zuerst“. Denn nach einem „best of“ muss der Film notwendig neu starten. Und es fehlen dann oft inhaltliche und ästhetische Steigerungsmöglichkeiten im Filmverlauf. Wenn Text bei langen Film-Formaten bereits vor dem Filmtitel startet, erzielt er mehr erzählerische Wirkung, wenn die Textperson den schriftlichen Filmtitel als Filmtext-Inhalt behandelt und ihn in die Formulierungen einbindet. Dann steht der Filmtitel nicht als beziehungsloser Solitär zwischen Szenen und Filmtext. „… im Land des Ursprungs war ich noch nicht“. TITEL: „YOGA IN INDIEN“;„hier am Ufer des Ganges …“. Lange Filmformate haben als Moderations-Ersatz meist ein „Intro“ oder, wie im Spielfilm, die „Titelei“ vor den eigentlichen Filmstart. Manchmal kommt vor das Intro noch eine Sendeplatzkennung. Die Sendeplatzkennung kann man als Autor* nicht beeinflussen, das Intro aber schon. Im Intro ist meistens Musik zu hören. Manchmal auch Geräusche. Dramaturgisch muss man ein Intro als den Start des Films behandeln, auch wenn der „eigentliche Film“ später startet. Wenn das Intro musikalisch gestaltet ist, sollte der eigentliche Filmstart immer mit Geräuschen auftreten, wie im Spielfilm üblich. Auf keinen Fall sollte nach der Intro-Musik eine andersartige Musik den Film eröffnen. Ein Intro-Filmtext kann durch Fakten und Formulierung ausdrücklich Fragen im Zuschauer aktivieren. Dadurch wird der Übergang zum eigentlichen Filmanfang deutlich spannungsreicher. „… Gerda ist die Frau in Roberts Capa’s Schatten geblieben. Teil der Legende --- Die Geschichte einer Liebe, die den Krieg nicht überlebte.“ Wenn der eigentliche Film anstelle von Musik dann mit kräftigen Geräuschen beginnt steigert dies die Spannung, weil Geräusch die Bild-Szene in die Lebensrealität zieht. Der Filmtext dafür kann dann später starten. Sobald ein Intro den Film bereits zusammenfasst, wird dadurch vor dem Filmstart schon ein Schluss-Satz positioniert; das Interesse sinkt. Der Film muss dann nach dem Intro inhaltlich und emotional zum zweiten Mal starten. Die erste Szene und der Textbeginn wirken anregend – auch bereits im Intro –, wenn sie als emotional-inhaltlicher Gegenpol zur Emotion des Filmschlusses gestaltet sind. So läuft zugleich ein erster emotionaler Roter Faden los, der sich durch unterschiedliche Emotionen bis zum Film-Ende bewegen lässt.

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Anfangsbild: Still von 1917; eine Frau wird von 2 Ärzten begutachtet; Filmtext; (Textperson junge Medizinforscherin)„Die Krankheit beginnt sehr plötzlich …“; Schlussbild: Virus; Filmtext: „Erst viele Jahre später entdeckt man, wer der unheimliche Killer gewesen war: es waren Viren“ Eine Textperson die im ersten Satz Fakten liefert, die das emotionale Erleben aufnehmen und zugleich Erwartungen wecken, zeigt sich von Anfang an als dramaturgisch und inhaltlich kompetent. Sprachlich hilft es, Fakten im Konjunktiv zu formulieren, oder im Irrealis, weil diese Sprachgeste Zuschauer in innere Bewegung bringt. Solche Formulierungen bilden einen Kontrast zu den Bildern, die – als Aussage – immer im Indikativ Präsens stehen. Durch die Formulierung können sich die Fakten sofort auf die Hauptfigur ausrichten, auch dann, wenn diese in den ersten Szenen noch nicht zu sehen sein sollte. Zusammenfassende und urteilende Formulierungen beim Textbeginn stoppen die gerade anlaufenden inneren Aktivitäten des Publikums. Denn solche Formulierungen zeigen sich erst als Abschnitts-Schlüsse und Schluss-Sätze mächtig. Die Positionierung des Textbeginns, gleich welcher Textperson, wird umso leichter, je stärker die Filmszenen wirken und je mehr relevante Informationen sie bereits enthalten. Beim Textbeginn genauso wie bei jedem Textstart innerhalb des Films. Öfters als man als Autorin* denkt, heißt die wirksamste filmische Text-Lösung: Schweigen. ▶ Filmtext darf nicht zerstören, was Bild und Ton bereits aufgebaut haben – Nicht durch Anwesenheit – Nicht durch Inhalte! Filmtext startet günstig genau in dem Moment, in dem das Interesse und das Erleben in einer Film-Situation (Filmszene und/oder Sequenz) nachlässt. Welcher Zeitpunkt das ist, entscheidet sich nicht nach Sekunden. Und sinnvoll auch nicht nach der Einschätzung des Autors*, der im Filmschnitt jede Szene, in der Text starten soll, schon mehrmals gesehen hat. Es zählt das Erleben eines Fremden, der den Film zum ersten Mal anschaut. Diese Sicht lässt sich erreichen, wenn man als Autorin* sich buchstäblich vom Schnittbildschirm weg im Raum nach hinten bewegt und dann bewusst das Erleben in der jeweiligen Szene prüft. Es hilft, dieses Erleben laut zu beschreiben, in einer Art, als sehe man obwohl man sie kennt, die Bilder zum ersten Mal. (Die Methode heißt „Marsmenschenblick“.) 307

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Auch Magazin-Filme sollten erlebnisstarke erste Szenen zeigen, die nicht sofort Text benötigen. Dann entsteht durch den Wechsel von Moderation, Filmgeräuschen und Filmtext ein abwechslungsreicher Rhythmus in der Sendung. Startet in Magazinen der Filmtext unmittelbar nach der Moderation, gerät die ganze Sendung zu einem ununterbrochenen Redestrom, der auf das Publikum niedergeht. Auch Nachrichtenfilme gewinnen Authentizität, wenn die erste Szene starke Geräusche zeigt und Text erst danach startet. Meldungen und Nachrichtenfilme sind für jede Textperson wegen ihrer Kürze und häufigen szenischen Armut besonders anspruchsvoll. Der Filmtext benötigt fast die gesamte Filmlänge. Aber er kann einer erlebnisstarken Bild-Szene den Start lassen und mitten im Film auch einige Sekunden schweigen. Der Filmtext muss nicht in gelesenen Sätzen sinnvoll sein und nicht in einem Zug gesprochen werden, bis danach wieder etwas Bild freistehen kann. Es zählt das Zusammenspiel mit Bild und Ton. Man kann die Textperson so schreiben, dass dort, wo mitten in der Szene nur ein bisschen Bild, winzige Szenen-Gesprächsfetzen oder knappe Geräusche präsent werden sollen, kein Text steht. Zuspiel und Abspiel zwischen Textperson, Bild und Geräusch werden durch Zurückhaltung des Textes an solchen Stellen intensiviert.

11.3 Der Schluss-Satz Dokumentarische Filme müssen – im Unterschied zum realen Leben des Zuschauers*, das nach dem Film-Ende weitergeht – ausdrücklich und auf eindeutige Weise ein Ende finden. Aus der Lebenserfahrung erfasst und spürt das Publikum Ansteigen und Nachlassen von Spannung und Interesse im Erleben (z. B. wann eine Sportart zu Ende ist; wann die Begegnung zweier Personen nicht mehr weiterführt). Überdies kennen Zuschauerinnen* aus ihrer Filmerfahrung diejenigen Signale in Bild und Ton, die normalerweise „Schluss“ anzeigen (z. B. einen Zoomout oder einen Ton-Schluss, ein Musik-Ende oder eine statische Totale mit der sich entfernenden Hauptfigur). Damit ein Film für den Zuschauer wirklich gelingt, darf dieses gespürte Film-Ende nur ein einziges Mal vorkommen: am tatsächlichen Filmschluss. Nicht bereits vorher.

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Ein dokumentarischer Film benötigt also ein ausdrückliches Signal für den Schluss, meistens in Bild, Ton und Text. Oft wird ein ausdrücklicher SchlussSatz nötig, den Bild und Ton deutlich stützen. Auch ein O-Ton oder eine O-TonStrecke kann den Film beenden. Damit diese Lösung aber gut funktioniert, muss der O-Ton die wichtigste Anforderung an einen Schluss-Satz erfüllen: er muss den ganzen Film beenden, nicht nur seinen letzten Inhaltsabschnitt. Das wird nicht oft gelingen. Zwangsläufig und unabhängig vom tatsächlichen Film-Ende entsteht die Ahnung, dass jetzt Schluss ist, wenn wenigstens eines der folgenden Ereignisse eintritt: • das Ziel, das am Anfang des Films versprochen wurde, ist erreicht; • die Hauptfigur hat ihre Herausforderung bestanden, ist an ihr gescheitert oder hat ein erkennbar abgeschlossenes Zwischenstadium erreicht; • die Hauptfigur hat getan oder verweigert, was von ihr erwartet wird oder was ihre Aufgabe ist; • die Fragen, die im Filmverlauf aufgeworfen wurden oder die sich dem Zuschauer gestellt haben, sind beantwortet. Alle im Filmverlauf erwartbaren Argumente sind zu Ende gekommen; • alle im Film gestarteten Roten Fäden sind ans Ende gekommen. Es läuft kein Roter Faden mehr; • ein für die Film-Erzählung begrenzter, physischer oder vorgestellter Raum (z. B. eine Familie; ein Haus; eine Tagung) wird verlassen; • eine unmittelbar voran gestellte Information (in Bild, Ton oder Text) weckt eindeutig die Erwartung auf einen Schluss-Satz; • der Filmtext formuliert an irgendeiner Stelle im Film in einer typischen SchlussSatz-Form; • in Bild oder Ton sind eindeutige Schluss-Signale erkennbar, ohne dass sie durch Text oder andere Film-Elemente als vorläufig gekennzeichnet sind; • Bilder und Szenen erscheinen wieder, die der Zuschauer bereits am Anfang des Films gesehen hat; daraus schließt er, dass sich der Kreis der Geschichte schließt; • Geräusche, die eindeutig „Ende“ sagen, sind in einer als „Ende“ verstehbaren Szene sind zu hören, (z. B. eine Schulglocke; der Abschlusspfiff eines Fußballspiels); • bekannte Schlussakkorde sind zu hören; die Musik endet mit einem deutlichen Schluss;

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Sobald solche filmischen Anzeichen für „Schluss“ in Filmsequenzen auftauchen, die weit vor dem tatsächlichen Filmschluss liegen, spricht man von einem „unfreiwilligen Schluss“. Der unfreiwillige Filmschluss ist für Autoren* und Redaktion eine Katastrophe und für das Publikum ein Schock; aber er passiert unweigerlich, sobald unbeabsichtigte Schluss-Signale auftreten und die Erwartung des Publikums abschneiden, der Film aber danach noch nicht zu Ende ist. Diese peinliche Situation kann bereits am Ende eins Intros eintreten (z. B. durch eine urteilende O-Ton-Montage im Intro; durch abschließende oder behauptende Textformulierungen, die keine Fragen wecken). Damit ein dokumentarischer Film nur einen einzigen Schluss erhält, der das tatsächliche Film-Ende markiert, müssen alle unfreiwilligen Schlüsse verschwinden. Dazu lässt sich: • Der Satz streichen oder umformulieren, der den unfreiwilligen Schluss produziert hat. (Meist ist das eine – im Filmverlauf – noch ungeprüfte Behauptung oder eine Zusammenfassung im Indikativ Präsens, die in der Argumentation zu früh kommt). Man kann den Satzinhalt in einem anderen Tempus oder Modus umformulieren, so dass er Erwartungen weckt; • Der Text, der einem unfreiwilligen Schluss-Satz unmittelbar vorangeht, so formulieren, dass über diesen Satz hinaus weitere Fragen offenbleiben. (z. B. ihn als Frage formulieren oder in den Konjunktiv setzen); • Unmittelbar vor dem unfreiwilligen Schluss im Filmtext ein neuer Roter Faden anfahren oder eine neue inhaltliche Frage aufwerfen; • Durch Filmtext, Geräusche oder Musik die „Schluss“ verursachende Sequenz mit der nächsten verbinden. (Filmtext, Geräusche oder Musik müssen dann über den Schnitt zur nächsten Sequenz hinweg geführt werden). Meist kann man auf diese Weise einen Umschnitt vermeiden. In manchen Fällen hilft aber nur, den Film so umzuschneiden, dass an der irritierenden Stelle keine Schluss-Erwartung mehr entstehen kann. Als Schluss-Satz bezeichnen wir den letzten Satz einer Textperson, nicht den gesamten letzten Textabschnitt. Denn es kann leicht passieren, dass vor dem tatsächlich letzten Satz bereits Formulierungen stehen, die ebenfalls die Anforderungen von Schluss-Sätzen erfüllen: sie verursachen unfreiwillig so genannte Stotterschlüsse. Immer wieder gerät man als Autor* in den letzten Filmminuten in die Situation, Text zu formulieren, der wie „Schluss“ klingt, aber eben noch nicht

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der Schluss-Satz ist. Spätestens bei der Text-Redaktion können Autorinnen* solche Beeinträchtigungen durch Umformulieren entschärfen. Der Schluss-Satz selbst gibt am Ende eines Films auch solchen Bildern und Tönen, die für sich genommen nicht nach „Schluss“ aussehen, die Bedeutung von Schluss-Signalen. Er sichert durch seinen Charakter, seinen Inhalt und seine Formulierungen das Gespür des Publikums für das Ende des Films und schließt, wenn dies nicht bereits unmittelbar vorher passiert ist, den letzten Roten Faden. Auch wenn danach die Filmszene noch weiterläuft, wird dem Publikum klar, dass der Film zu Ende ist und allenfalls noch ein Abspann folgen kann. Inhaltlich und dramaturgisch hat der Schluss-Satz eine besondere Anforderung zu erfüllen: er muss den Film als Ganzen abschließen, nicht nur dessen letzten Inhaltsabschnitt. In dieser Schließfunktion ist die Textperson stärker als Bild, Geräusch oder Musik. Sie kann im Film bereits entstandenen Vorstellungen aufnehmen und sie auf „Schluss“ ausrichten und konzentrieren. Ein Schluss-Satz wirkt durch seinen Inhalt, durch die Vorstellungsrichtung und durch seine Formulierung: • Der Schluss-Satz enthält nur solche Sachverhalte und Fakten, die im Bild nicht zu sehen oder zu hören sind. • Der Schluss-Satz weckt keine neuen Erwartungen; er macht „kein neues Fass auf“. • Der Schluss-Satz endet nicht im Ungefähren (z. B.: „bleibt abzuwarten…“; „… wird sich noch herausstellen“). • Erst der Schluss-Satz schließt alle Fragen und Vorgänge Sobald gegen Ende des Films die Roten Fäden nacheinander geschlossen werden, muss durch ihre Formulierung spürbar bleiben, welche Fragen noch offen sind und welche Roten Fäden noch laufen. • Ein Schluss-Satz, der eine Zusammenfassung oder Abstraktion ansteuert (SchlussSatz-Sorte „Feststellung“), darf als einziger Satz im Filmtext ausdrücklich verallgemeinernde Formulierungen enthalten (z. B.: „Die Banker sind verunsichert“). In Magazinsendungen erleichtern raffinierte Schluss-Sätze den Neustart der Moderation nach jedem Film, heben Stimmung und Gewicht der Sendung, aktivieren die Zuschauer und stärken dadurch die Unterhaltsamkeit. Ein gut formulierter Schluss-Satz bleibt lange im Gedächtnis.

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11.3.1 Die Schluss-Satz-Sorten Ein sprachlich attraktives Film-Ende, das die Zuschauerin* mit einem jeweils charakteristischen letzten Blick entlässt, entsteht durch unterschiedliche SchlussSatz-Sorten. Man kann sie auch als Schluss-Satz-Familien bezeichnen, weil alle Varianten einander nah sind; und doch charakteristische Unterschiede zeigen. Jede Textperson kann ihre am Filmschluss eng begrenzte Aufgabe variantenreich erfüllen. Nur in ganz wenigen Fällen erweist sich eine Schluss-Satz-Sorte als die einzig passende. So entsteht gerade am Film-Schluss eine Chance, dem Zuschauer mit einem ungewohnten Schluss-Satz den letzten im Gedächtnis bleibenden Kick zu geben. Alle Schluss-Satz-Familien funktionieren für alle Textperson-Typen. In jeder Schluss-Satz-Sorte wird ein typisches Sprachscharnier unausgesprochen mitgedacht, z. B. „also“ beim Fazit oder „übrigens“ beim Nachklapp. Dieses Scharnier liegt einem beim Texten immer auf der Zunge. Man darf es aber nicht formulieren, weil es dann die Wirkung des Schluss-Satzes verringert. Der Zuschauer* denkt es mit, sobald er den Schluss-Satz hört.

11.3.2 Eine höhere Abstraktionsebene ansteuern: Feststellung, Zusammenfassung, Aufzählung Das unausgesprochene Sprachscharnier zu dieser Familie von Schluss-Sätzen lautet: „somit …“ oder „und so …“. Der Schluss-Sätze dieser Art führen eine Stufe höher in die Abstraktion als im Filmtext zuvor. Sie ziehen das Publikum in die Vogelperspektive und verschaffen ihm einen letzten Blick aufs Ganze. Für diese Sorte der Schluss-Sätze findet sich in den Märchen ein häufig genutztes Modell mit einem Schluss in Stufen: „Da hielt das treue Mädchen Hochzeit mit seinem Liebsten Roland und war sein Leid zu Ende.“ (Grimm: „Der Liebste Roland“). „Die Prinzessin kam heraus aus dem Kupferschloss und wurde Königin, und das gefiel ihr gut. Die Hochzeit dauerte acht Tage; und die Hunde saßen mit zu Tisch und machten große Augen.“ (Andersen: „Das Feuerzeug“). Ob der Schluss-Satz nur wenig abstrakter oder weiter entfernt vom zuvor Erlebten und Verstandenen formuliert werden kann, hängt vom Typ der Textperson ab und davon, welche Abstraktionsstufe die filmische Schluss-Situation in Bild und Ton zeigt.

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Bild: eine Riesentotale. Dann ist die Bildinformation schon sehr weit vom Vorangegangenen entfernt. Die Textperson muss diese Entfernung nicht noch betonen. Bild: ein Innenraum, noch dicht am Vorausgegangenen. Die Textperson kann eine deutlich höhere Abstraktionsebene ansteuern. Wirkt allerdings die Abstraktionsebene eines Schluss-Satzes zu weit entfernt, empfindet das Publikum dies als abrupt. Die „Fakten-Feststellung“ ist die erste Variante in dieser Schluss-Satz-Familie. Es werden Sachverhalte genannt, die die Veränderung der Hauptfigur in der jetzigen Geschichte auf einen Punkt bringen. Das kann sachlich trocken ausfallen oder einen überraschenden Vergleich liefern. Diese Variante der Abstraktion kann auch als Teil einer Szene formuliert sein. „Die tägliche Talkshow ist jetzt fest etabliert.“ „Die Stadt Hannover hat – gezwungenermaßen – eine neue Rolle gefunden: internationaler Gastgeber zu sein.“ „Dieser Ort hat jetzt einen Namen: ‚Fehlerstelle 33 a‘.“ „Mehr Spenden für die Sozialarbeit: Das ist es, was sich in Braunschweig geändert hat.“ „Frankfurt überzeugt. Bremen spielt sich in eine veritable Krise.“ „Sicher ist nur, dass Handys, Computer und Server inzwischen Kriegswaffen sind.“ Die „Verallgemeinerung“ oder „Generalisierung“ ist die zweite Variante. Der Schluss-Satz erweitert die Erlebnisse und Erkenntnisse des Films auf andere Fälle oder zieht einen die Gesamtgesellschaft betreffenden Schluss. „Wo immer man lebt, es zahlt sich aus, sich ein wenig ums eigene Heim zu kümmern und auf Termiten zu achten; auch, etwas hellhörig zu sein; es könnte vor Überraschungen schützen“. „Ein kriegerisches Jahr geht zu Ende. Weitere werden folgen; bisher hat der Mensch kein Mittel gegen argentinische Ameisen gefunden“. Die „Zusammenfassung“ als dritte Variante nimmt einen zentralen Punkt oder mehrere wichtige Inhalte aus dem Film und präsentiert sie nochmals in anderer Formulierung. Diese Variante ist der typische Anwendungsfall für Redundanz. „Von den 331 kommunalen Vorhaben sind jetzt fast alle auf dem richtigen Weg“. „Jetzt sind es in Deutschland vier. Die ersten Vier! Arbeitslose Frauen gibt es noch 438.000“. 313

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Im „3-Punkte Schluss“ als vierte Variante konkretisiert der Schluss-Satz das Ergebnis als Aufzählung. Der Dreischritt weckt im Zuschauer die Vorstellung von „abgeschlossen“. Er ist seit der Antike ein höchst wirksames rhetorisches Mittel. Man kann seine Wirkung noch verstärken, wenn man mit einem ausformulierten „und“ einen vierten Punkt setzt. Als Drei-Punkte-Schluss kann man eine Bild-Szene um eine winzige Text-Szene erweitern. „Die FDP hat einen neuen Vorsitzenden, einen deutlichen Zwist mit der CDU und eine alles andere als komfortable Ausganglage für die nächste Wahl.“ „China bekommt eine neue Regierung, sieben neue Ministerien, aber keine neue Politik Und die wirtschaftlichen Probleme wachsen rasant.“ „Es ist kühl geworden im Hof; der Wind weht leisen Techno herüber; über dem Pool kreisen die Schwalben.“

11.3.3 Einen Punkt in der Zukunft setzen Das mitgedachte, aber unausgesprochene Sprachscharnier zu dieser Sorte von Schluss-Sätzen lautet: „und dann …“ oder „und dort …“ . Der „Zukunft-Schluss“ steuert ausdrücklich in die Zukunft, die ihrer Natur nach unbekannt ist. Da jeder Zuschauer* diese Eigenschaft der Zukunft kennt, wirken Sätze der Art „wird sich zeigen…“, „bleibt abzuwarten…“, „die Diskussionen werden weitergehen“ als Selbstverständlichkeiten und daher inkompetent. Solche Formulierungen betonen die Unsicherheit – auch die des Berichterstatters*. Das Publikum erwartet am Film-Ende aber eine dramaturgische Ruhe. Denn der Film ist zu Ende. Der Aussage-Inhalt jedoch darf Spannung auf Weiteres wecken. Schluss-Sätze, die in die Zukunft steuern, benötigen deutliche, konkrete Fakten, die als Fixpunkte im sich weitenden Feld zukünftiger Unsicherheit wirken. So wird das Gefühl von „Jetzt abgeschlossen – und dann weiter!“ im Publikum bestärkt. Ein Schluss-Satz in die Zukunft kann deshalb sogar in historischen Filmen, die im Imperfekt erzählt sind, die Vorstellung von Zukunft erzeugen. Journalistische Filme, von denen viele als Teile einer Serie verstanden werden müssen (z. B. über politische Vorgänge, Konferenzen, hochkochende gesellschaftliche Auseinandersetzungen oder Wirtschaftsvorgänge), kann der Futur-Schluss-Satz diesen Seriencharakter betonen und einen Cliffhanger setzen. Ein Cliffhanger kann Fakten enthalten oder Fragen, die den Zuschauer für eine Fortsetzung zu anderer Zeit weiter in Spannung halten.

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„Der nächstfolgende Termin“ ist die erste Variante. Es wird ein Zeitpunkt genannt, der zum Verfahrensablauf oder einem anderen bis zum Schluss reichenden Roten Faden gehört, aber außerhalb der Filmschilderung erreicht werden oder drohen wird. „Der Entwurf liegt jetzt beim Arbeitsminister. Der wird am nächsten Dienstag entscheiden.“ „Das Verfassungsgericht wird den Parteien seine Leitsätze am 20. Februar verkünden.“ „Die kommende Herausforderung“ bildet die zweite Variante und bezieht sich deutlicher auf die Hauptfigur, der eine weitere schwierige Aufgabe (oder Handicap, Ziel, Problem) bevorsteht. Jede Hauptfigur hat innerhalb des Films ihre jeweilige Herausforderung bestanden oder nicht bestanden. Im Schluss-Satz wird die nächste Herausforderung benannt. „Heinrich Meier muss sich jetzt zum ersten Mal im Leben auf ganz neue Arbeitsbedingungen einstellen, noch für weitere 15 Jahre.“ „Sie wird sich nicht mehr herausreden können, wenn sie im Juli sich dem Untersuchungsausschuss stellen muss: dort wird sie unter Eid vernommen werden.“ „Ein wichtiges Detail“ zeigt die dritte Variante. Ein solches Detail kann ein Plan sein, ein Zustand, etwas noch nicht Erreichtes oder nicht Erreichbares. „Jetzt muss er auf die 50.000 Lachse warten, die im nächsten März den Rhein hinauf schwimmen sollen.“ „Die Firma soll bis Juni 2020 wenigstens 20 Millionen Umsatz machen.“ Eine „noch ausstehende Veränderung“ als vierte Variante klingt meist wie eine ausdrückliche Feststellung und kommt schon einem Urteil oder einer Gewichtung nahe. Sie bezieht sich aber ausdrücklich auf die Zukunft. Sie kann auch eine Lücke beschreiben oder ein Mangel, der behoben werden muss. „Die neuen Gesetze erfordern in der Versorgerindustrie deutliche Anpassungen; über deren Details mag zurzeit aber noch niemand reden.“ „Das Ende eines Abschnitts und einen „Grenzübertritt“ beschreibt die fünfte Variante; und auch hier wird etwas festgestellt, aber in Unschärfe gelassen. Der Schluss-Satz registriert den letzten Schritt eines Lebensabschnitts und skizziert den ersten eines neuen Lebensabschnitts. So öffnet sich der Blick in die Zukunft, aber als Zuschauer weiß man, dass man dorthin nicht mehr folgen muss. Es ist also 315

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kein Cliffhanger. Beim „Grenzübertritt“ wird der Blick in die Zukunft ausdrücklich geöffnet. Und startet mit dem Punkt des Übergangs in die Zukunft, z. B. Alter, Lebenseinstellung, Geschäftsveränderung, Ortsveränderung. „Am nächsten Tag begann die Schule wieder. Dorthin konnte er die Liebe nicht mitnehmen.“ „Die Häftlinge mussten ihn sofort verbrennen. Seine Asche wurde entsorgt.“ „Die ehemalige Personengesellschaft ist nun eine gemeinnützige GmbH; Charakteristisch für diese Geschäftsform ist, dass Gewinn nicht gemacht werden muss; und wenn welcher anfällt, er niemandem persönlich zugutekommt.“ „Am Tag nach seinem 18. Geburtstag hat er den ersten Vertrag unterschrieben. Sein Start-up hat schon zwei Mitarbeiter.“ Der „3-Fragen-Schluss“ als sechste Variante ist typisch für Soap-Serien („GZSZ“; „Verlorene Liebe“). Er ist trivial, jederzeit zitierbar, wird immer wieder belächelt. Die Stereotypie und Serienbekanntheit macht einen solchen Schluss-Satz stark bei sachlichen Themen, bei denen man ihn nicht vermutet. Diese Art des Schluss-Satzes macht die Zuschauer mit noch zu lösenden Fragen vertraut und gibt keinen ausdrücklichen Zeit- oder Lösungshinweis. Die Schluss-Satz-Variante bekommt ihre starke, Aufmerksamkeit weckende Wirkung dadurch, dass der auf der Zunge liegende Satz „all das bleibt abzuwarten“ nicht hinter die Fragen gesetzt wird. „Kann die Stadt sich mit diesen Vorschlägen anfreunden? Werden die Eltern zufrieden sein? Und: wollen Kinder sich um diese neuen Regelungen überhaupt scheren?“ „Wird sie im EU-Parlament eine Mehrheit finden? Und wenn ja, bei welchen Parteifamilien? Und wenn von den Rechts-Außen, wird das ihre zukünftige Position gegenüber dem EU-Rat schwächen?“

11.3.4 Ein Fazit ziehen: Gewichtung, Einschätzung, Urteil, Wunsch, Forderung, Aufschrei Das mitgemeinte, nicht ausgedrückte Sprachscharnier zu dieser Schluss-Satz-Sorte heißt: „also: …“ Beim „Fazit“ ändern Autoren* im Schluss-Satz absichtlich die bisherige Erzählhaltung. Der Schluss-Satz zeigt eine subjektiv gefärbte, aus dem vorher Erzählten einleuchtend abgeleitete Gewichtung, Einschätzung oder ein ausdrückliches

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Urteil. Im letzten Satz treten in dieser Schluss-Satz-Form die Autoren* persönlich auf; und das Publikum bemerkt diesen Wechsel von der Textperson zur Autorin*. Zur Schluss-Satz-Sorte „Fazit“ gehören auch Wunsch, Forderung oder Aufschrei. Der knappe, erkennbare Umschwung in die Subjektivität des Text-Autors verschafft dem Zuschauer am Ende des Films einen leicht veränderten, intensivierten Blick auf den Inhalt und weckt eine Ahnung vom Engagement und der Persönlichkeit des unsichtbar bleibenden Autors*. Durch eine „Gewichtung“, die erste Variante dieser Schlussatzt-Form, bekommt das Publikum einen zusammengefassten Hinweis, welches politische, gesellschaftliche wirtschaftliche, kulturelle, religiöse Gewicht die im Film genannten Fakten insgesamt aufweisen. Gewichtungen sind noch keine persönliche Meinung. Sie zeigen anhand nachprüfbarer Kriterien ein Rang-Verhältnis der Bedeutung von Sachverhalten an. „Ihre Anhänger sagen, Marine LePen habe eine gute Chance, 2017 in den Elysee einzuziehen. Die Zahlen geben das nicht her.“ „In Europa hofft man, Papst Franziskus könnte endlich Bewegung in die katholische Kirche bringen: Seine bisherige Biografie spricht dafür.“ „So viel Misstrauen tut dem deutsch-russischen Verhältnis mit Sicherheit nicht gut.“ . Konkreter wird eine „Gewichtung“ mithilfe von Details. Dann verstärken zwei oder drei charakteristischen Fakten die sonst allgemein bleibende Gewichtung. Auf diese Weise kann der Zuschauer selbst Größe und Gewicht einschätzen. Eine solche Gewichtung kann auch mit einem nur vorgestellten Vergleich funktionieren. „Nur einen Moment lang sind die Seile sichtbar geworden, an denen (David) Garrett hängt.“ „Die Forderung der Gläubiger steht zurzeit bei 103 Millionen Euro. Der Insolvenzverwalter sagt, er werde höchstens 25 Millionen erzielen können.“ „Als im 19. Jahrhundert das erste Seekabel zusammenbrach, dauerte die Reparatur 7 Jahre. Die Dienstreise von NN. wird nach 14 Tagen zu Ende sein.“ „Es käme die Pekinger billiger, würden sie sich ihr Autokennzeichen in Gold hämmern: aktuell 40 Euro pro Gramm.“ „Ein Gefühl ausdrücklich registrieren“ zeigt die zweite Variante. Gefühle sind subjektiv. Nicht jede Textperson zeigt sie oder soll sie zeigen. Hier aber, in dieser Schluss-Satz-Variante, zeigt der oder die Berichtende sein oder ihr Gefühl. Das hat an dieser Stelle auch für den Zuschauer eine Bedeutung. 317

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„Man fühlt sich in Würzburg für einen Moment schwebend wie im All.“ „Der Zorn würgt einen noch nach Stunden.“ Die „Einschätzung“ oder „das Urteil“ ist das dritte Mitglied dieser Schluss-Satz-Familie. Die Variante beruht auf den im Film genannten Argumenten der Textperson. Der Schluss-Satz zeigt dann für einen Augenblick die Autorin* unmittelbar, deutlicher als dies der Textperson möglich ist. „Seine Gedanken sind noch heute so bedrohlich wie vor 50 Jahren.“ „Kann man reingehen.“ (Schluss einer Filmbesprechung) „Für Jubel ist es also noch zu früh.“ „Josef Blatter, ein alter Mann, der nichts hat als die FIFA; und eine FIFA, die nichts hat – nur ihn.“ „Ein Wunsch“ oder „eine Forderung“ zeigt die vierte Variante eines „Fazit“. Der Wunsch kann – auf Grund der im Film gezeigten Sachverhalte – ein Verlangen formulieren, eine Sehnsucht, einen Glückwunsch oder eine Bitte. Die Stimmung eines Wunsches ist oft freundlich und darf auch harmlos sein. Die „Forderung“ agiert als die konsequentere und oft nervende Schwester des Wunsches. Denn sie zieht emotional kalt die Schlussfolgerung aus dem, was das Publikum im Film miterleben und verstehen konnte. „Möge endlich eine Nick Knatterton-Ausgabe erscheinen, die diesem Pionierwerk deutscher Comic-Geschichte gerecht wird.“ (Schluss eines Ausstellungberichts) „Es wäre herrlich, wenn das Wetter übers Wochenende hielte.“ „Solche Leinwandhelden sieht man viel zu selten im Kino.“ „Die Idee ‚Betreuungsgeld‘ sollte im Papierkorb verschwinden!“ „Die Steuerfahndung braucht nicht mehr Moral, sondern mehr Personal!“ „Deutschland braucht dringend eine neutrale unabhängige Kommission für Provenienzforschung!“ „Der Aufschrei“ – und die fünfte Variante – zeigt eine kräftige emotionale Reaktion am Film-Ende. Die Berechtigung und Emphase dieser – oft empörten – Reaktion sollte durch den Filmverlauf begründet sein. Denn sonst wirkt ein so pointierter Schluss aufgesetzt und übertrieben.

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„Quote oder Flexi-Quote! Was muss denn alles noch passieren, bis endlich das Parlament tätig wird und die Unternehmen zur Gleichbehandlung zwingt!“ „Schafft endlich funktionierende Kommunikationskanäle, Ihr Polizeibehörden Europas!“ Die „Argumente eines Films in Redundanz“ sind das sechste Mitglied dieser Schluss-Satz-Familie. Im Schluss-Satz wird die Argumentation eines Films, die vorher durch die Textperson kalt präsentiert wurde, nochmals besonders zugespitzt und mit Druck formuliert. Der Zuschauer* kann alles im Filmverlauf verstanden haben und hat sich seine Meinung gebildet. Durch den anschärfend redundanten Schluss-Satz gewinnt der Film in den letzten Sekunden noch einmal einer unerwartete – und damit in der Erinnerung der Zuschauer haftende Intensität. „Erst wenn die Ärzte genau so streng kontrolliert werden wie die LKW-Fahrer, erst dann können wir sicher sein, auf einen Chirurgen zu treffen, der nicht mit dem Skalpell in der Hand einschläft.“ „Nur staatliche Grundrente und private Vorsorge gemeinsam werden einen finanziell sicheren Lebensabend garantieren.“

11.3.5 Einen Nachklapp anhängen Das unausgesprochene Sprachscharnier zu dieser Familie von Schluss-Sätzen heißt: „übrigens: …“ „Der Nachklapp“ setzt einen inhaltlich und dramaturgisch deutlichen szenischen Schluss bereits voraus. Die Erwartung des Publikums ist gestillt. Dann folgt aber noch ein kurzes, unerwartetes, überraschendes Faktum, als letzter leichter Schlenker, wie er auch in der Jazzmusik häufig vorkommt. Der Nachklapp gibt dem Vorherigen insgesamt eine letzte, knappe dramaturgische Drehung. Diese Drehung kann die vorherigen filmischen Aussagen leichter werden lassen oder bitterer und schärfer. „Ein milderndes oder ein gewichtigeres Faktum“ bildet die erste Variante eines „Nachklapp“. Es kann den vorherigen Text – und damit die Aufmerksamkeit der Zuschauer – zu einer leichteren Stimmung oder zum Schwereren hin ein letztes Mal drehen. „Francesca Pascale ist Mitglied der politischen Initiative ‚Silvio (Berlusconi) wir vermissen Dich‘. Wenn das mal nicht Liebe ist.“ 319

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„Eigentlich war die Truhe unverkäuflich. Jetzt aber steht sie mitsamt der Geschichte vom Seemann im Wohnzimmer. Dein Lebensboot sei leicht!“ „Nur staatliche Grundrente und private Vorsorge gemeinsam werden einen finanziell sicheren Lebensabend garantieren. Das Glück allerdings wohl kaum.“ „Mit dieser Veranstaltung will die Feuerwehr dafür sorgen, dass sich ein Traum kleiner Jungen und Mädchen erfüllt: Branddirektor – das wär‘ doch was!“ „Im Spiel geht König Ludwig jeden Abend ins Wasser. Beim echten (König Ludwig) hat es ja schon beim ersten Mal geklappt.“ „Ein beabsichtigt enthüllendes Faktum“ dreht die zweite Variante. Das unerwartete Faktum stößt wie mit einem scharfen langen Messer nochmals tiefer in einen Sachverhalt oder in eine Person hinein. Das Bild, welches der Zuschauer von dem Sachverhalt oder der Person bekommt, wird dann geradezu schmerzhaft deutlich. „Seine Hände haben die ganze Zeit ruhig auf dem Marmortisch gelegen; seine Fingernägel sind schwarz.“ (Bericht über Albert Speer; er betont darin sein Nicht-Wissen und seine Sorgfalt). „Bei ‘Spickmich‘ geht immer noch keiner ans Telefon!!“ (Im Film wird gezeigt, dass die Aktion „Spickmich“ Transparenz von der Schulbehörde fordert, selbst aber nur eine AB-Schleife sendet, nie erreichbar ist,). „Allein in der Laufzeit dieser Dokumentation hat Coca-Cola 10 Millionen Plastikflaschen verkauft.“ „Eine die Information und Emotion des Films bekräftigende Szene“ bildet die dritte Variante des „Nachklapp“. In vielen Fällen ist diese ganz knappe Form eine emotional sehr intensive Möglichkeit, den Film-Schluss zu gestalten. Eine solche Szene sollte wie in einem Brennspiegel alles vorher Geschilderte zusammenfassen und die Zuschauer emotional packen. „… immer noch am Telefon. Im Hintergrund meinen wir, ein metallisches Geräusch zu hören. Plötzlich … ‚Ich blute! Ich blute!‘ brüllt Tzega ‚Helft mir! Sie schneiden mir die Finger ab!“… dann wird die Verbindung gekappt.“ (Schluss eines Berichts über Nomaden, die Schwarzafrikaner foltern, um Lösegeld zu erpressen). „Je näher man den Roboter anschaut, desto fremder schaut er zurück.“ (Schluss eines Berichts über eine Tagung zur Frage des Roboterrechts) .

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„Ein szenisches Element aus einer früher im Film erzählte Szene“ ist die vierte und ziemlich häufige Variante des „Nachklapp“. Man greift auf eine früher im Film geschilderte Szene zurück und setzt ein dort noch nicht erwähntes Detail an den Schluss. So weckt man im Schluss-Satz die Vorstellung eines emotionalen Zusammenhangs der dokumentarischen Geschichte, weil eine unausgesprochene oder im Untergrund mitlaufende Frage am Schluss geklärt wird. „Das Bild von ihrer Tochter, das hat sie bis heute noch nicht fertig gemalt.“ „Der Frühling ist dann doch noch gekommen, aber mit Schnee.“ „Am 10. Juni 1982 lag Fassbinder, 37 Jahre alt, tot in seiner Wohnung. Sein Kopf war auf ein Drehbuch gesunken.“ „Die neue Ministerin geht in Richtung ihres Büros, das sie noch nicht kennt. Einer klatscht. Zaghaft machen die anderen mit.“ „Ein in der Sache sinnloser, aber auf Grund des Film-Inhalts folgerichtiger Vorschlag“ kennzeichnet die fünfte Variante eines „Nachklapp“. Sie spitzt eine Schilderung überdeutlich bis zur Karikatur zu und zeigt, was bei dieser SchlussSatz-Sorte ja erwünscht ist, die Haltung des Autors. Diese Variante kann man zweifellos nicht häufig nutzen. Im Netz funktioniert sie wohl besser als im Fernsehen. „Wenn dieses die entscheidenden Probleme der Marktwirtschaft wären, könnte ja vielleicht eine Familientherapie helfen.“ (Schluss eines Films über die missglückte Adaptation und Inszenierung des „Kirschgarten“ von Anton Tschechow als „Kirschgarten – die Folgen“)

11.3.6 Ausdrücklich „den Schluss setzen“ Das nicht ausgesprochene Sprachscharnier zu dieser Schluss-Satz-Sorte lautet: „jetzt aber …“ Diese Schluss-Satz-Sorte stammt – als technischer Schluss – aus der früheren Praxis der Sender-Umschaltung im Radio und Fernsehen und aus der Mikrofonübergabe vom Studio zum Sende-Ort und zurück. In beiden Fällen benötigten die Techniker ein abgesprochenes eindeutiges Signal des Sprechenden zum Umschalten („Wir schalten um nach Hamburg“, „zurück ins Studio/nach Mainz/zu NN in Kairo“). Die Formeln haben bis heute überlebt, obwohl solch stereotypen Sätze heute nur sehr selten eine Funktion als technisches Signal haben.

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Teil 2 Textperson und Filmtext schreiben

Die abrupte, den Sprachstil wechselnde Art, einen Film zu beenden, bildet eine besondere Form des Cliffhangers: Man wechselt unerwartet in eine der bisherigen Erzählung fremde Ebene und steigert dadurch die Erwartung auf das spätere Weitergehen der Erzählung. Die Technik, einen Erzählfaden durch den Wechsel in eine andere Informations- und Sprach-Ebene abrupt zu unterbrechen, stammt aus „Tausendundeine Nacht“ und kennzeichnet das Ende der einzelnen Erzählungen. Man kann ihn auch „Scheherazade-Schluss“ nennen. „… und sie warfen den bewusstlosen Kaufmann in eine Ecke des Hofes. Da erreichte das Morgengrauen Scheherazade, und sie hörte auf zu erzählen …“ Die Schlussformel sitzt oft mitten in einer Szene, in einigen Fällen mitten in der Bewegung eines Handelnden. „Zugleich warfen die Diener das Geld über die Köpfe von Groß und Klein. Er aber sah, … Da erreichte das Morgengrauen …“ Viele dokumentarische Filme aus Politik, Wirtschaft und Kultur sind thematisch Teile von Serien. Die Varianten der Schluss-Satz-Sorte „Schluss machen“ können diesen Charakter betonen. Sie passen deshalb gut zu allen Berichten, in denen am Film-Ende das Ende der Vorgänge noch nicht erreicht sein kann und die Zuschauer dies auch ahnen oder wissen. Oft trifft das auf Live-Situationen zu. Aber auch auf Filme in Fach-Magazinen und Regionalsendungen, die über länger laufende Vorgänge berichten (z. B. Brexit; Autobahnplanung; FestivalVorbereitungen). In vielen Fällen hält ein Schluss-Satz der Sorte „Schluss machen“ die Neugier wach. Ausdrücklich „Schluss“ sagen, obwohl die Geschichte noch weitergehen könnte oder sollte, zeigt eine Informationsgrenze an oder verspricht weiteres Berichten. Die dafür oft genutzte Formel: „wir bleiben dran“ ist aber eine journalistische Selbstverständlichkeit und kann daher unterbleiben. Interessanter für den Zuschauer* ist es, genau zu erfahren, ob und wann er weitere Fakten erwarten darf. „Wir berichten weiter um 17:00 Uhr.“ „Mehr ist derzeit nicht zu erfahren.“ „Die Positionen sind abgesteckt. Die wirklich brennenden Fragen hat der Parteitag noch nicht berührt.“ „Morgen Abend, wenn Sie mögen.“

11 Welche dramaturgischen Entscheidungen fallen beim Texten?

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Man kann mitten aus einem Spannungsbogen heraus in eine allein auf das Medium bezogene Ebene wechseln: „Überall stehen jetzt die Baukräne und drehen sich vom Morgen bis in die Nacht. Wir können die nächsten Stunden nicht näher ran.“ „Das Fernsehteam wird das Schiff jetzt verlassen. Der Fehler wird fünf Tage später gefunden werden. NN wird ihn fotografieren und das Foto für diesen Film schicken: übers Internet.“ Eine weitere Möglichkeit: In einer Gesprächs-Sendung: abrupt zum Moderator wechseln aus einem Anspiel- oder Einspielfilm heraus mit hartem Schnitt, ohne ausdrückliches Ansprechen mit Namen. Der Moderator nimmt dann den Spannungsbogen mit einer unmittelbar folgenden Frage an einen Gast auf oder zieht ihn noch fester an. „Korruption bei Nokia! Wirklich?“ – Moderator: „Herr Minister, was werden sie bei diesem Verdacht bis nächste Woche machen?“ „Die Gesundheitsministerin hat keinen Plan.“ – Moderator: „Frau NN, Wann kommt er denn: Ihr Plan?“ Auch in Trailern, die als eigenständige dokumentarische Filmform von allen Arten von Textpersonen profitieren, kann man mitten im Spannungsbogen unterbrechen. „Verdient die italienische Mafia wirklich Milliarden mit hessischem Leitungswasser? Am Mittwoch um 20:15 Uhr.“ In Live-Situationen ist der Technische Schluss als ausdrückliches Umschaltsignal für die Techniker ist nach wie vor notwendig, damit elegante Übergaben gelingen, (z. B. bei Übertragungen von Großereignissen mit mehreren Reportern, Einspielfilmen und Studiomoderation). Dann besteht der technische Schluss in einer ausdrücklichen Formel der Reporter oder der Studiomoderatoren, der Art: „Hallo NN in Istanbul!“ oder „Das war’s von hier“ . Auf diesen Satz hin erfolgt die Umschaltung. Ohne ein sprachliches Umschalt-Zeichen löst man das Problem, indem man jedem Sprecher einen exakten Endzeitpunkt für seinen Beitrag vorgibt (z. B. in der ARD-Bundesliga-Konferenz) zu dem dann umgeschaltet wird ins nächste Stadion. Keine der fünf Schluss-Satz-Familien ist dramaturgisch privilegiert. Es lohnt sich deshalb, mehr als eine Variante auszuprobieren und dem Naheliegenden auszuweichen. Mit Übung erkennt man als Autor* rasch, welche Variante die kräftigere ist. Zum Text selbst kommt allerdings die Sprechgestaltung hinzu. Allein vom geschrie323

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Teil 2 Textperson und Filmtext schreiben

ben Text aus betrachtet, kann eine Formulierung zu mehreren Schluss-Satz-Sorten passen. Die eindeutige Zuordnung wird erst durch die Sprechgestaltung deutlich; dann wird offensichtlich, wie das Publikum den Schluss-Satz wahrnehmen wird. ▶ Für jeden Film wenigstens drei Schluss-Varianten ausprobieren!

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Worauf kommt es beim Redigieren an? 12 Worauf kommt es beim Redigieren an?

Zusammenfassung

Worauf achten beim Redigieren des Filmtextes? Das Kapitel zeigt, mit welchen Werkzeugen und welchem Vorgehen Autoren* und Redakteurinnen* die Filmtexte zielgerichtet redigieren können.

Schlüsselwörter

Fernsehtext, Textperson, Redigieren, Redaktion, Fokussierung

Es gibt keine gute erste Fassung! Diese alte, oft zitierte Erfahrung macht jeder, der Text schreibt. Ein zweiter Blick der Autoren* auf den scheinbar fertigen Filmtext zusammen mit Bild und Ton klärt rasch, was am Filmtext genauer und inhaltsreicher werden kann. Wenn aber der Abnahme-Zeitpunkt und der Sende-Zeitpunkt drängen, geht oft die erste Fassung ans Publikum. Das lässt sich wohl nicht immer vermeiden. Doch es ist ein Notfall, der dann auch Notfall-Verhalten rechtfertigt. Gute Planung der Redaktion und der Autoren* kann aber verhindern, dass der Notfall zum Normalfall wird. Filmtext gelingt besser und die Textperson wird kräftiger, wenn Autorinnen* Zeit bekommen, ihren Text vor der Abnahme selbst zu redigieren. Bei der Abnahme werden sie dann nochmals den Blick eines Anderen, der Redakteurin* auf den Film und die Textperson erleben. © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 G. A. Heussen, Die Textperson im dokumentarischen Film, Journalistische Praxis, https://doi.org/10.1007/978-3-658-28456-5_12

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Teil 2 Textperson und Filmtext schreiben

12.1 Der Autoren-Blick Wer den eigenen Text wie ein Fremder laut – nicht murmelnd – aufs Bild liest, hat eine gute Chance, nochmals Distanz zu gewinnen zum Film und zu sich selbst. Im Zuhören erfasst man viel schneller als im stummen Lesen die Unstimmigkeiten der Formulierung, die Schwächen in der Steuerung von Emotion und Argument und der Verbindung des Textes mit Infoladungen von Bild und Ton. Man bemerkt, wo die Textperson undeutlich wird oder springt. Meist spürt man sofort, mit welcher Änderung ein Text sein Ziel besser erreicht. Filmtext gerät häufig zu lang , weil Autoren* und Redaktion überzeugt sind, dass bestimmte Fakten unbedingt im Text noch genannt werden sollten. Und auch, weil zuweilen der Filmtext – weil er am Computer geschrieben wird – einem gedruckt lesbaren Text zu nahe kommt. Die Lösung, dann schneller zu sprechen, überzeugt nicht, weil das Publikum dann im drängenden Tempo sich als überrumpelt erleben wird. So bleiben Kürzen und Umformulieren die einzige Lösung. Einzig die Verzahnung zwischen den Infoladungen von Text und Bild muss bestehen bleiben. Autoren redigieren den Filmtext mit dem Ziel, ihr Werk möglichst attraktiv für die Zuschauer zu machen. Die Textperson soll deutlich spürbar werden und so als Werkzeug agieren, dass Zuschauer zu ähnlichen oder gleichen Ergebnissen wie die Autoren* kommen können, dies aber nicht müssen. Sie sollten sich ihr Urteil bilden können, angeregt durch die intensive Beschäftigung der Autorinnen* mit dem dokumentarischen Material und der Art, in der sie dieses als Film-Erzählung präsentieren. Die Konsistenz der Textperson geht beim Schnitt und im Texten leicht verloren. Man redigiert also die Textformulierungen durch die Fragen und Entscheidungen, • ob die ausgewählte Komponente des Textperson-Profils (z. B. Alter, Fachlichkeit, Haltung zum Inhalt) durch Fakten oder Formulierung stärker werden kann; • ob eine andere als die ausgewählte Komponente des Textperson-Profils (z. B. Alter, Fachlichkeit, Lebenserfahrung, Haltung zum Publikum) an der jeweiligen Stelle stärker wirkt und mit welchen Text-Fakten dies gelingen könnte; • welche andere textdramaturgische Entscheidung an der jeweiligen Stelle die dokumentarische Erzählung voranbringt. Oder sie geschmeidiger steuert; • ob für den Inhalt notwendige Fakten und Sachverhalte im Text ergänzt werden müssen;

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• ob für die emotionale Steuerung des Films notwendige Fakten und Sachverhalte im Text noch ergänzt werden müssen. Der inhaltliche und dramaturgische Check gelingt am besten „von hinten nach vorn“; vom jeweiligen Ende zum jeweils Vorausgesetzen. (z. B. Vom Schluss zum Filmanfang, dann vom jeweiligen Ende einer Filmsequenz zu deren Anfang). Also in umgekehrter Richtung, in welcher das Publikum einen Film erlebt. Man prüft deshalb, welche Fakten in früheren Szenen fehlen, damit die späteren Szenen wirken können. Um das zu erkennen, vergewissert man sich, was die späteren Szenen enthalten und prüft, ob die Voraussetzungen dafür früher schon geschaffen wurden und ob sie sich am inhaltlich und dramaturgisch richtigen Ort befinden. Das Redigieren verläuft günstig mit dem Start beim ersten Satz und dann so weiter, dabei aber immer wieder mit dem Blick „von hinten nach vorn“. Das Ende des Films zeigt Erleichterung und Gewinn. Wo genau wurden die Fakten im Filmtext positioniert die diesen Gewinn besonders schwer gemacht haben? Ein O-Ton zeigt eine wissenschaftliche Schlussfolgerung. Wo vorher wurden die Voraussetzungen für diese Schlussfolgerung beschrieben? Ist die wissenschaftliche Vorgehensweise (Roter Faden „Fachmethode“) vorher richtig geschildert? Mitten im Film beginnt ein besonders schwieriger Abschnitt einer Berg-Wanderung. Wo vorher wurde erwähnt, wie die Handelnden ihre Ausrüstung zusammengestellt haben? Sollten sie etwas vergessen haben oder für unwichtig erklärt, dann könnte das Publikum gespannt sein auf die Lösung. Die Text-Positionierungen korrigiert man am besten selbst, nicht erst die Redakteurin* bei der Filmtext-Abnahme. Immer, wenn ein Filmtext einsetzt, sollte jedem Zuhörenden spontan klar sein, dass es nicht früher und nicht später sein dürfte. Oft ertappt man sich bei zu frühen Textstarts. Das wirkt dann so, als nehme der Spieler „Filmtext“ dem Spieler „Bild“ oder Geräusch“ den Ball weg. Relevante, aber übersehene Fakten kann man meist durch Umformulieren wieder in den Filmtext einfügen. Manchmal ändert man klugerweise auch solche Formulierungen, die juristische Reaktionen provozieren könnten. Am Ende der Arbeit prüft man nochmals den ersten Einsatz und den ersten Satz. Denn dessen Wirkung kann nach dem korrigierenden Durchforsten des Filmtextes nachgelassen haben. Wenn nicht, umso besser.

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Teil 2 Textperson und Filmtext schreiben

12.2 Der Redakteurs-Blick Die Filmabnahme mit Text ist ein wichtiger, intimer und juristisch entscheidender Moment zwischen Auftragnehmer und Auftraggeber. Vieles muss berücksichtigt werden: Film-Inhalt, Emotionale Steuerung des Films, juristische Aspekte, Anforderungen des Sendeplatzes, die professionelle Vorgehensweise (Fachmethode und Fachlogik) und die Psychologie der Verhandlung mit Autoren*. Wir konzentrieren uns hier auf die Rolle von Redakteuren bei der Abnahme des Filmtextes. Es spielt hierfür keine Rolle, ab der Film kurz oder lang ist und ob der Abnahme mit Text eine Filmische Abnahme (auch als Rohschnittabnahme bezeichnet) vorangegangen ist. Der Redakteurs-Blick auf einen Filmtext gelingt am besten, wenn der Text aufs laufende Bild vorgelesen wird und man als Redakteur* genau zuhört und zuschaut. Man notiert sich die Filmzeiten, an denen Fragen aufkommen. Fakten und Zahlen, die einem selbst dabei unklar bleiben, kann man im späteren Gespräch klären. Einen Filmtext „schon mal vorher zu lesen“ und möglicherweise zu korrigieren, hilft einem Film nicht, weil Satzbau und Formulierung erst im Zusammenspiel mit der Bild-Szene sich als sinnvoll oder falsch erweisen. Eine Redakteurin* schaut als Auftraggeberin* auf den Filmtext, nicht als Konkurrentin der Autoren*. Ihre Rolle gleicht der einer Hebamme. Die muss dafür sorgen, dass das Kind der Eltern heil und lebensfroh auf die Welt kommt. Auf die Filmtext-Abnahme übertragen bedeutet dies: Der Redakteur* muss nicht den literarisch besseren Text machen, sondern dem Autoren-Text zu möglichst großer Wirkung verhelfen. Seine Vorschläge zielen auf die Struktur des Films, die Rolle des Filmtextes darin und die Plausibilität und Konsistenz der Textperson. In diesem späten Stadium des Filmemachens ist unerheblich, ob und wie weit alle einzelnen, früher in Exposé und Treatment geplanten Überlegungen verwirklicht werden konnten. Es geht um den Film. So, wie er in diesem Moment vorliegt. Bei kurzen Filmen liegt dieser Zeitpunkt nach dem Schnitt; dann bezieht sich die Abnahme auf den gesamten Film (Bild, Ton, O-Töne. Musik, Schnitt) inklusive Textperson und Filmtext. Es sollte im Normalfall noch etwas Zeit danach disponiert sein für Umschnitte und Textänderungen. Bei langen Filmen liegt der Zeitpunkt nach der filmischen Abnahme (Rohschnitt-Abnahme) und den Umschnitten danach. Einige handwerkliche Griffe kennzeichnen den Redakteurs-Blick bei der Filmtext-Abnahme. Er oder sie wird

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• beim Filmstart den Text so spät wie möglich einsetzen lassen. Bei einem Intro dafür sorgen, dass es möglichst wenig Filmtext zeigt und dass beim Publikum Fragen aufkommen. Oft steigt die Wirkung, wenn die Sätze eines Intros wegfallen; • auf diejenigen Stellen hinweisen, die das Publikum am Erleben und Verstehen hindern. Meist sind es Szenen, bei denen die Textperson im falschen Moment auftritt oder falsch steuert; • prüfen, ob die Textperson die Sach-Argumentation präzise führt, ob relevante Fakten fehlen; juristisch angreifbare Formulierungen wird der Redakteur* verschwinden lassen; • konkrete, die Textperson charakterisierende recherchierte Fakten verlangen anstelle von verallgemeinernden Formulierungen (z. B. Floskeln, Stanzen, ungeprüfte Behauptungen, Sprachbilder, die mit Filmbildern kollidieren); • die Antexte von O-Tönen zu Drama-Gegenpolen der O-Töne werden lassen. Oft reicht es, den letzten Sinnschritt einfach zu streichen. • darauf achten, wie der Filmtext Rote Fäden neu anfährt und andere wieder aufnimmt; • erkennen, wie die Übergänge in Dramaturgie und Inhalt funktionieren, ob, wie beabsichtigt, durch den Filmtext getrennt oder verbunden wird. • unfreiwillige Schlüsse erkennen und korrigieren; den Schluss-Satz zum wirksamen Filmschluss gestalten. Bei kurzen Filmen ist dieser Abnahme-Moment normalerweise die einzige Gelegenheit für den „zweiten Blick“ in der Rolle des „ersten Zuschauers“, in der die Filmgestaltung gemeinsam mit dem Filmtext geprüft wird. Das macht diese Abnahme für Redakteure* anspruchsvoll, weil sie auf unterschiedliche Film-Wirkungen und Inhalte zugleich mit dem Filmtext als Textperson achten müssen. Je nach Sendetermin lässt sich aber selbst in diesem späten Arbeitsstadium die Textperson noch ändern, weil die Fakten zur Hand sind und nur die Formulierungen geändert werden müssen, damit sie zur neuen Textperson passen. Bei langen Filmformaten geht der Filmtext-Abnahme eine inhaltlich-gestalterische Film-Abnahme voraus. Spätestens an deren Ende wurde die endgültige Textperson vereinbart. Die ist dann für die Filmtext-Abnahme relevant. Die Aufmerksamkeit von Redakteurinnen* richtet sich dann nur noch darauf, dass die Textperson nicht unversehens durch Formulierungen eine andere wird. Denn das werden die Zuschauer spüren. Nach der Filmtext-Abnahme wird manchmal noch Feinarbeit am Bild notwendig, damit Bild und Text zusammen leicht ineinandergreifen und insgesamt einen 329

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Teil 2 Textperson und Filmtext schreiben

lebendigen Rhythmus zeigen. Eine solche, meist kurze, Zeitspanne plant man günstigerweise vorher. Die Zeitspanne zur Textkorrektur und eine eventuelle Neuvorlage vor der Sprachaufnahme kommen hinzu.

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Welche Wirkung entsteht beim Publikum? 13 Welche Wirkung entsteht beim Publikum?

Zusammenfassung

Das Spiel zwischen Film-Inhalt, Autoren*, die meist zugleich auch die Regisseure* sind, und Zuschauern* funktioniert spannungsreich. Die Haltung der Autoren zeigen sie in ihren Textpersonen. Damit befasst sich dieses Kapitel sowie mit den Auswirkungen auf Dramaturgie, Inhalt und Autoren.

Schlüsselwörter

Dokumentarisches Fernsehen, Autorenrolle, Dramaturgie, Publikum, Wirkung, Gewichtung, Transparenz

13.1 Eine Textperson lässt Haltung erkennen Im Dokumentarischen Film agieren immer: der Film-Inhalt, die Autoren* die meist zugleich auch die Regisseure* sind, und der einzelne Zuschauer* mitsamt den Zuschauern als Publikum. Autoren und Zuschauer haben in Bezug auf die Film-Inhalte oft sehr unterschiedliche Haltungen, schon deshalb, weil Autoren* sich wiederholt mit den Inhalten beschäftigt haben, oft schon tief und fachlich in der Materie stecken, während Zuschauer von bestimmten Sachverhalten noch kaum etwas gehört haben. Aber aus dem Netz und aus anderen Medien haben sie immer einige Kenntnisse von dokumentarischen Filminhalten. Bei vielen Themen verfügen Zuschauer aber über konkrete Erfahrungen, während Autoren in der Recherche häufig noch bei © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 G. A. Heussen, Die Textperson im dokumentarischen Film, Journalistische Praxis, https://doi.org/10.1007/978-3-658-28456-5_13

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Teil 2 Textperson und Filmtext schreiben

allgemeinen Quellen stecken geblieben sind. Fachlich versierte Zuschauer kennen Details oft besser als die Filmautoren. Fachlich versierte Autoren stoßen mit ihren Filmen oft auf wirkliche Fachleute im Publikum. Zuschauer haben, ebenso wie Autoren, Vorurteile, sie unterliegen Stereotypen und Klischees, aber es sind oft andere als die von Autoren. Viele Sachverhalte und deren Begrifflichkeiten sind sowohl den Autoreninnen* als auch den Zuschauern zunächst unklar. Die Filmautoren* hatten aber die Möglichkeit, sie in Recherchen für sich zu klären. Das Publikum hingegen hatte diese Chance oft noch nicht, denn viele Sachverhalte werden dem Publikum durch Medien – hier durch den dokumentarischen Film – erst bekannt. Die filmische Kreativität wird größer, wenn Autoren* sich die unterschiedlichen Abstände und Zugänge ihres Publikums zu den Themen ihrer Filme von Anfang an vergegenwärtigen. Dann können sie solche Textpersonen auswählen und schreiben, die das Publikum überzeugen, selbst wenn ihm der Filminhalt unbekannt oder sogar widerwärtig sein sollte. Das Publikum kann diese reflektierte Autorenhaltung spüren und erleben; eine Haltung im Text nur zu behaupten oder das Publikum – auf Grund vermeintlichen oder tatsächlichen Besserwissens – zu belehren, wird die Informationswirkung eines Films vermindern und den filmischen Genuss verderben. Filmautorinnen* haben deutlich mehr Zeit aufwenden müssen, um durch Recherche zu ihren Sachergebnissen zu gelangen und ihre Haltung dazu zu finden, als sie dem Publikum an Sendezeit zugestehen können. Selbst für einen 90-Sekunden-Film in einer Nachrichtensendung muss ein Autor* einige Stunden an Recherche und Bearbeitungszeit aufwenden. Bei langen Filmen benötigen Autoren* Wochen und oft Monate für Recherche, Dreh, Schnitt und Filmtext. Dem Publikum bleibt nur die tatsächliche Sendelänge eines Films oder Programmplatzes, um sich – immer auch im Zusammenhang mit anderen Medien – zu informieren, eine Haltung zu gewinnen oder gar sich eine neue Meinung zu bilden. Umso wichtiger wird eine Textperson, welche die Sachinhalte und Zusammenhänge so schildert, dass sie im Publikum selbst entstehen, und zwar in der vorgegebenen Sendezeit. Somit ist die Auswahl einer Textperson nicht Ideen-Willkür oder Zufall; und zum Glück haben Filmautorinnen* meist mehr als nur eine einzige Textperson zur Verfügung, um ihre persönliche Haltung im Film darzustellen. Bei der Aufdeckung eines Steuerskandals entstehen im Autor wahrscheinlich Wut, Empörung und der Wille, möglichst viel öffentlichen Druck zu erzeugen. Würde er diese Einstellung im Filmtext direkt äußern, würde der Film leicht zur

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Moralpredigt. Der Zuschauer verlöre dann die Chance, selbst Wut, Empörung oder Ratlosigkeit zu empfinden. Die journalistische Grundhaltung aber wird durch eine Textperson „Detektiv“ oder „Staatsanwalt“ das Material so zubereiten, dass der Zuschauer* eine eigene, durch den Film begründete Haltung gewinnt, die große Schnittmengen mit der des Autors zeigt. In der journalistischen Praxis werden „Haltung“ und „Meinung“ oft gleichgesetzt. „Meinungsstark“ zu sein, durch mitreißende Bilder und kräftige Worte, gilt häufig als erstrebenswert. Es ist aber günstig, die beiden Begriffe – und ihre filmische Form – auseinanderzuhalten. „Meinung“ benötigt ein dazugehöriges Filmformat, den Kommentar. Denn „Meinung“ ist an die Person gebunden und subjektiv, niemand muss die Meinung anderer Menschen teilen. Auch Filmautoren haben immer auch eine persönliche subjektive Meinung zu ihren Filminhalten und den im Film agierenden Personen und Institutionen. Entscheidend aber ist ihre Erzählhaltung, die, wenn der Film nicht einfach eine Predigt oder Lehrstunde werden soll, auf der Basis der eigenen Meinung eine filmisch gestaltete Form annehmen muss. Zur Haltung dokumentarisch arbeitender Autoren und Journalisten gehört in allen Filmen – außer in Kommentaren – dem Publikum ein Urteil über Personen, Objekte, Vorgänge und gesellschaftliche Sachverhalte zu ermöglichen. Film-Autoren* sollen und wollen Transparenz schaffen, damit das Urteil der Zuschauer möglich wird. Politische Angriffe auf die Pressefreiheit und die Einschränkungen journalistischer Berufsausübung zielen überall in der Welt darauf, diese Grundhaltung unmöglich zu machen. Sie gehört aber zu den für das freie Zusammenleben von Menschen unverzichtbaren Voraussetzungen. Und sie zeigt sich in einer im jeweiligen Medium möglichst transparenten Darstellung recherchierter Sachverhalte. In der öffentlichen Diskussion der Gesellschaft, von der Bundesministerin* bis hinunter zur örtlichen Handelskammer und zu Lobbyverbänden, gewichten die jeweils Beteiligten die gleichen Sachverhalte mehr oder weniger schlüssig aus jeweils ihrer Sicht. Dokumentarische Filmemacher aber lassen diese Unterschiedlichkeiten transparent werden und zeigen ihrem Publikum diejenigen Gewichtungen, die für das Funktionieren der Gesamtgesellschaft relevant sind und deshalb weiter greifen als die Spezialinteressen der jeweils sich Äußernden.

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Bei jedem Thema gewinnen Autoren zusätzlich eine auf das Thema bezogene wertende Einstellung, eine spezifische Haltung dazu. Diese sollte das Publikum kennen lernen. Begründet wird sie im Film durch objektivierbare und nachvollziehbare Gewichtungen. Diese sind aber keine allgemein gültige Begründung. Denn die meisten gesellschaftlich öffentlich gemachte Stellungnahmen können gute Gründe für sich beanspruchen. Die Gewichtungen von Film-Autoren werden, weil sie auf die Erfordernisse der Gesamtgesellschaft verweisen, ein berechtigter und gewichtiger Teil des öffentlichen Diskurses. Über die private Persönlichkeit der einzelnen Autorin* hinaus. Das Instrument, diese Haltung zu zeigen, ist die jeweils ausgewählte Textperson. Sie lässt die Grundhaltung der Transparenz konkret werden, macht die jeweils auf das Filmthema bezogene Autorenhaltung dem Publikum erkennbar und setzt sie dessen Urteil aus. Über die wachsenden Anforderungen an die Altenpflege sind viele Institutionen und Berufsverbände mit eigenen Interessen und jeweils für sie selbst schlüssigen Argumenten öffentlich wahrnehmbar. In einem dokumentarischen Film zum Thema können „Fachlicher Begleiter“, „journalistischer Sucher“, „Zivilanwalt“, „Staatanwalt“, „Familiärer Begleiter“, „Gutachter“ jeweils die Inhalte, Anlässe und Begründungen dieser öffentlichen Äußerungen danach gewichten, welche Sicht auf die Gesamtgesellschaft sie zeigen, in welcher Beziehung sie zu bisherigen Regelungen stehen, welche Vergleiche mit anderen Ländern sinnvoll angestellt werden können und welche nicht. Der Zuschauer* gewinnt einen differenzierten Überblick über die Einzelargumente und kann besser urteilen. Und in Empörung ausbrechen oder Zufriedenheit spüren. Meinungsunterschiede gehören zum öffentlichen Leben. Haltungsunterschiede ebenfalls. Aber Gewichtungen zu finden, die diese Meinungs- und Haltungsunterschiede in eine Rangfolge bringen, gehört zur Professionalität von dokumentarisch arbeitenden Filmautoren. Sie im Filmtext darzustellen, gelingt deutlich leichter, wenn das Publikum einer Textperson zuhören kann, deren Plausibilität und Authentizität überzeugt. Die Haltung einer Textperson – und indirekt die der Autoren* – zeigt sich in der Art, wie sie in Filmszenen reagiert: • ob sie schweigt oder etwas sagt; • was sie sagt; welche Inhalte sie zu Bild und Ton hinzufügt; • wie sie reagiert; auf welche Informationen aus Bild und Ton sie hinweist und welche sie übergeht; • wie sie formuliert;

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Autorinnen / Autoren können diejenige Textperson auswählen und textlich gestalten, die die Recherche-Ergebnisse am wirksamsten ausdrückt und mit der sich Interesse und Erkenntnis des Publikums am ehesten erreichen lassen. Besonders deutlich wird die Wirkung von Textpersonen für die Haltung von Autoren an dokumentarischen Filmen, die aus einer anderen Sprache übersetzt werden und andere Sprecher bekommen: die Filme wechseln dabei zugleich die Textperson. Auch dann, wenn ein dokumentarischer Film in einen neuen Programmzusammenhang versetzt wird, einen neuen Text bekommt und andere Sprecher, wechselt er die Textperson. Das kann dazu führen, dass ein Film vom Publikum begeistert angenommen wird oder dass es nach kurzer Zeit abschaltet. Sean Morris: „Verbotene Früchte“ ZDF 1999; arte 2007; Inhalt: Die Ausbreitung der Pflanzen über die Welt. Der gleiche englische Text liegt zugrunde; zwei unterschiedliche Übersetzungen, zwei unterschiedliche Sprecher, beide männlich. Die beiden Versionen wirken geradezu gegensätzlich in ihrer Haltung zu den Pflanzen und zum Publikum, obwohl kein einziger Bild-Schnitt verändert wurde.

13.2 Dramaturgische Wirkungen Eine Textperson schafft eine zusätzliche, filmisch wirksame Erlebensebene, denn der Filmtext agiert nicht allein als Kommentar zu Bildern, sondern im Zusammenspiel mit Bild-Szenen, Sound, Schrift und O-Ton und fügt hinzu, was diese nicht leisten können. Jede Textperson gibt dem Film eine besondere Erzählfarbe. Das filmische Erleben steigt besonders dadurch, dass jede Textperson die besondere Art des Kontrastes zu Bild und Ton und zu den im Film handelnden Personen steuern kann. Eine weitere Nebenfigur handelt und vergrößert das Ensemble. Sie ist unsichtbar. Ihre Aktionen und ihre Kraft spürt das Publikum auf Grund der Verzahnung mit Bild und Sound. Jede Textperson zeigt auf Grund ihres Profils dem Publikum neue Perspektiven auf den Stoff und die Situation. Solche Variationsmöglichkeiten nützen dem Programm und den vielfältigen Netz-Präsenzen, in denen Videos Informationen liefern sollen.

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Die Erzählspannung zieht an, weil eine stimmig gewählte Textperson bereits früh im Film solche Fakten liefern kann, die Erwartungen auf eine andere als die – bei vielen sich wiederholenden Themen – gewohnte Sicht wecken (z. B. bei Naturfilmen, politischen Themen, Wirtschaft, Wissenschaft). Zu bestimmten Textpersonen gehören deren fachliche Methoden und Logiken, die dem Publikum unvertraut sind und die deshalb die Spannung anziehen lassen. Jede Textperson kann zusätzliche Rote Fäden ziehen und damit die Lust der Zuschauer auf das Kollidieren von Abläufen und das Lösen von Schwierigkeiten der handelnden Figuren steigern. Diese innerlich erlebten Reihenfolgen und Abläufe vertiefen das Erleben. Das Publikum erlebt, wie Textpersonen ihm mehr Blickwinkel und Gestaltungsvarianten innerhalb eines Films zeigen. Zuschauer spüren, wie sie selbst – aufgrund einer klaren Gestaltungsentscheidung der Film-Autoren* – selbst innerlich aktiv werden, auch wenn sie diese Entscheidung nicht ausdrücklich und fachlich beschreiben können. Das müssen sie auch nicht.

13.3 Informationswirkung Die Film-Erzähler zeigen Kompetenz, weil eine stimmig gewählte Textperson so agiert, dass der Zuschauer ihr in Zustimmung folgen kann. Die Textperson verfügt immer über alle vom Autor recherchierten Informationen. Jede Textperson entdeckt darin aber jeweils unterschiedliche Details und gewichtet die Details anders. Sie nutzt die für die jeweilige Textperson charakteristischen Roten Fäden „Fachmethode“ und „Fachlogik“ und sie passt die üblichen Roten Fäden „Zeitablauf“ und „Bewegung im Raum“ den zur jeweiligen Textperson gehörenden Abläufen an. Und eine Textperson wechselt die Perspektiven der Erzählung nicht willkürlich; dadurch erlebt sie der Zuschauer als beharrlich; das schätzt er, weil er es selbst gern wäre. Der Film zeigt Infodichte, indem eine Textperson erlebniswirksam mit Bild und Geräusch agiert und – oft durch Zurückhaltung – dazu beiträgt dass die Informationskraft aller Darstellungsebenen maximal genutzt werden, einander ergänzen, nicht aneinander vorbeilaufen und einander nicht stören.

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13.4 Wirkung auf die Autoren Autoren* können sich von ihrem privaten Erleben und der privaten Meinung entlasten, weil die Textperson im erzählerischen Dreieck: Inhalt – Autor – Textperson das Interesse und die Fähigkeiten von Autoren* intensiviert. Sie können unbeschwert entscheiden, welche Textperson ihre journalistisch-dokumentarischen Ergebnisse am wirksamsten erzählen kann. Sie selbst sind nicht die Textperson, so wenig, wie ein Schauspieler seine Rolle ist. Aber sie werden durch die Textperson schon bei der Recherche aufmerksam auf Material, das fürs Texten taugen wird und sie werden beim Dreh und beim Schnitt die Perspektive einer künftigen Textperson mit bedenken. Da die Textperson erst spät im Arbeitsprozess endgültig entschieden wird und – materiell – nur aus Worten besteht, bleibt den Autorinnen* große Gestaltungsfreiheit. Die Rolle, in welcher die Autoren ihren Film erzählen, gibt ihnen Distanz zur eigenen Person und Schutz; sie gibt dem Publikum aber die Freiheit der Urteilsbildung. Einen Film mit einer Textperson schärfer, pointierter und inhaltlich genauer zu gestalten, ist ein Gewinn für Film-Autoren*. Die scheinbare Enge eines Textperson-Profils und die Forderung der lebendigen Verzahnung von Text und Bild weitet ihr kreatives Potenzial. Die Wirkungen können in den Zuschauern* selbst entstehen, denn durch eine stimmig gewählte und dramaturgisch genau positionierte Textperson werden Zuschauer in dem Moment aktiv, in dem sie das gelingende Zusammenspiel von Szene und Textperson erleben. Wie beim Basketball: das Publikum geht in Spannung mit, wenn der Ball fliegt; es brüllt zufrieden, wenn er im gegnerischen Korb landet und es langweilt sich leicht, wenn ein Spieler einem aus seiner Mannschaft den Ball wegnimmt oder ihn festhält.

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Und jetzt?? 14 Und jetzt??

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Wenn wir als Erwachsene etwas Neues lernen und es mögen, wollen wir am liebsten gleich alles richtig machen. Denn nur ungern erinnern wir uns an die Lern-Rückschläge unserer Schulzeit und glauben fest, dass die bereits erworbene Lebenserfahrung eine beim neu Gelernten noch fehlende Routine ausgleichen wird. Wohl keiner kann sich daran erinnern, wie lange es gedauert hat, bis wir schreiben gelernt hatten. Und das fiel in eine Lebensphase, in der wir von höchster Lern-Lust angetrieben wurden. Autoren* werden deutlich frustriert werden, wenn sie versuchen, alle Instrumente aus dem Werkzeugkasten „Textperson“ auf einmal zu nutzen und wenn glauben jedes davon sofort leichthändig handhaben zu können. Also kann man als Autor* • irgendwo anfangen (z. B. der nächsten in der Sendung üblichen Textperson ein ausdrückliches Profil geben; den Roten Faden „Fachmethode“ für einen „Fachlichen Begleiter“ genau recherchieren); von da aus Schritt für Schritt den Fragen nachgehen, die bei der Arbeit aufkommen; • mit den Planern*der Redaktion eine Textperson vereinbaren und ausprobieren; • eine Textperson mit Fachberuf ausprobieren, die als wichtigste Komponente das Alter des Autors* bekommt (z. B. Ende 20; Mitte 30); so formulieren, wie man das Fachliche im ernsthaften Gespräch mit nichtfachlichen Freunden ausdrückt; • bei einem Film, für den etwas mehr Zeit zur Verfügung steht, sich eine Textperson aussuchen, ihr ein Profil geben und die Fakten recherchieren, die das Profil füllen; • beim nächsten Filmprojekt die übliche und naheliegende Textperson durch eine spannungsreichere ersetzen und dann mit dieser noch einige Filme machen; • darauf vertrauen, dass man die Textpersonen im Machen kennenlernt und „der Appetit beim Essen kommt“. Theoretische Diskussionen führen eher zu Frust, solange man die Argumentation noch nicht wirklich gut beherrscht. © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 G. A. Heussen, Die Textperson im dokumentarischen Film, Journalistische Praxis, https://doi.org/10.1007/978-3-658-28456-5_14

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Teil 2 Textperson und Filmtext schreiben

Redakteure* können das – auch für sie neue – Instrument „Textperson“ als Anregung in die Gespräche mit Autoren einbringen. Film-Autorinnen* werden mit Vorschlägen für Textperson-Profile die Gespräche bereichern. Ein weiteres kreatives Gestaltungselement kommt auf diese Weise in die Planung und Begleitung der Filme hinein. Die Ergebnisse werden sich einige Zeit später als größere Abwechslung in der Sendung oder erzählerische Variation auf dem Sendeplatz zeigen. Im Netz kann man auf Klicks hoffen. Redakteure können • Schritt für Schritt den Raum zum Arbeiten mit Textpersonen erweitern; im Gespräch von der Planung bis zur Abnahme; • Autoren* ermutigen, und mit ihnen daran arbeiten, Textpersonen konsequent zu gestalten; starten kann man mit den erfahrensten Autorinnen* und mit denen, die in der Redaktion das meiste Ansehen bekommen; • gemeinsam mit Autorinnen* die Vorstellungen artikulieren, die durch das Zusammenspiel von Bild, Ton und Textperson entstehen und daran die Kriterien für journalistische dokumentarische Arbeit entwickeln; • darauf vertrauen, dass Filmtext und Textperson die Filme inhaltsreicher machen, das Publikum mehr in Spannung versetzen und dessen Unterhaltung fördern. ▶ Klar: Film ist eine Sache, nur eine Datei – Als Zuschauer aber erleben wir Bild, Geräusch, Musik, O-Ton, Text und Schrift im beweglichen Lebendigen Lauf – Filmtext kann von allen am beweglichsten sein.

Anhang Anhang

Anhang 1: Glossar + Werkzeug Anhang 1: Glossar + Werkzeug

Glossar Im Glossar sind dramaturgische Begriffe erläutert, die die professionelle Kommunikation erleichtern.

Exposé Ein Exposé ist die schriftliche Grundlage zur Vereinbarung eines Filmprojekts zwischen Autoren* und Redaktion oder anderer Auftraggeber. Auf Papier, als Mail oder in Open Media. Für ein Exposé benötigt man erste Recherchen als unerlässliche Voraussetzung, damit das Exposé inhaltsreicher wird als eine Themenbeschreibung. Es umfasst wenige Seiten und sollte die für die Vereinbarung eines Projekts notwendigen Fragen (Filmziele, Dramaturgie, Inhalt, Geschichte, Produktion) beantworten. https://gregor-a-heussen.de/werkzeuge/arbeitsvorlagen/ In dieser Netzpräsenz steht ein Arbeitsformular samt ausführlicher Anleitung zum Runterladen.

Gegensatz Sachverhalte und Argumentpositionen die miteinander unvereinbar sind und sich gegenseitig ausschließen, bezeichnet man als Gegensatz; nicht als Kontrast und nicht als Gegenpol. Im Alltag ist der Begriff unscharf. Man benutzt ihn meist, um große Unterschiede zu kennzeichnen. © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 G. A. Heussen, Die Textperson im dokumentarischen Film, Journalistische Praxis, https://doi.org/10.1007/978-3-658-28456-5

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Der Begriff kommt aus dem spätlateinischen Substantiv „oppositio“ – „Opposition, entgegengesetzte Ansicht. Im Rechtsstreit, wo der Begriff ursprünglich benutzt wurde, kennzeichnet er die jeweilige Gegenposition. In der Philosophie bezeichnet man einander in derselben Denk-Ebene ausschließende Begriffe oder Positionen als Gegensätze, z. B. „Sein“ und „Nicht-Sein“ oder „Ich“ und „Nicht-Ich“. Auf einer höheren Denk-Ebene können sich Gegensätze dennoch als dialektisch aufeinander bezogen erweisen. (Metzler Philosophielexikon J. B. Metzler, Stuttgart 21999; S. 192, Gegensatz; S. 301) https://de.wikipedia.org/wiki/Gegensatz Im dokumentarischen Film ist der Begriff „Gegensatz“ geeignet, um einander gegenüberstehende, nicht verbundene und nur im Kompromiss überwindbare Argumentpositionen handelnder Personen oder Institutionen zu kennzeichnen (z. B. These – Gegenthese; Vorschlag – dessen Ablehnung als sinnlos; Beschreibung – Unterstellung; Plädoyer – Gegenplädoyer). Solche Gegensätze zu betonen, kann dramaturgisch nützlich sein. Bei der Gestaltung aber können Autoren und Redaktion mit den Begriffen Polarität, Kontrast und Spannung deutlich besser kommunizieren. Diese sind für den Film eng definiert.

Gewichtende Fakten Als Gewichtende Fakten bezeichnet man diejenigen Fakten und Sachverhalte in Bild, Ton und Filmtext – vor allem aber im Filmtext – , aus denen sich das Publikum spontan die Beziehungen zwischen handelnden Personen, zwischen filmisch etablierten Sachverhalten und die Bedeutung von filmischen Handlungen erschließen kann, ohne dass diese Bedeutung ausdrücklich beschrieben werden muss. Bedeutung und erzählerische Kraft leuchten dem Zuschauer* spontan ein. Solche Fakten sind grundsätzlich konkret, denn für Zuschauer sind nur solche Informationen wichtig, aus denen sich mehr erkennen lässt als die Tatsache, dass es Personen und Vorgänge gibt. Gewichtende Fakten stärken das Miterleben. Bild: ein Gepard schleicht sich an eine Antilope an. Filmtext: „Seit vier Tagen hat er nichts gefressen …“ Die gewichtenden Fakten heißen „anschleichen“ und „nichts gefressen“. Das Handlungsmotiv des Gepards wird spontan klar. Filmtext: „Der Gepard gehört zu den geschützten Wildtieren“ Das Faktum stimmt zwar, aber es begründet in dieser Szene die Handlung nicht. Es sollte also an einer Stelle positioniert werden, die handlungsärmer ist. Gewichtende Fakten gehören ins Bild als genaue Kameraführung, in den Ton als spezifisches präsentes Geräusch. In der Musik entsteht ein gewichtendes Faktum

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durch eine das Gefühl des Dargestellten genau treffende Auswahl, im O-Ton durch einen den Inhalt und die Aussage-Sorte präzisierenden Schnitt und den gegenpoligen Antext. In den Text gehören nur solche gewichtenden Fakten, die man nicht bereits in einer anderen Darstellungsebene sehen und hören kann. Die Spannung entsteht aus dem Aufeinandertreffen von jeweils zwei oder drei gewichtenden Fakten, gleichgültig, in welcher Darstellungsebene sie etabliert sind. Wenige gewichtende Fakten leisten meist mehr als viele Worte. Autoren* wählen deshalb aus den vielfältigen recherchierten Fakten und Sachverhalten diejenigen aus, die in der jeweiligen Bild-Szene eine dramaturgische Gewichtung begründen.

Gewichtung Als Gewichtung bezeichnet man eine auf professionelle journalistische Kriterien gestützte Einschätzung von Handlungen, Ereignissen und Sachverhalten. Die Gewichtung muss durch Recherche gesichert sein, die Fakten müssen von anderen nachgeprüft werden können. Die wichtigste professionellen Aufgabe von dokumentarisch und journalistisch arbeitenden Autoren* besteht darin, die Fülle recherchierter Fakten zueinander in Beziehung zu setzen und diese Beziehungen filmisch so darzustellen, dass die Zuhörer und Zuschauer ihr Urteil nicht auf die Vorliebe oder Meinung der Autoren stützen müssen. Journalistische Gewichtung unterscheidet sich meistens von den Gewichtungen – und immer von den Meinungen – der an einem Vorgang Beteiligten oder Interessierten. Denn dokumentarisch arbeitende Autorinnen* nutzen Kriterien, die einen gesellschaftlich relevanten Gesamtblick auf einen Vorgang oder ein Geschehen ermöglichen und eine kritische Sicht auf die jeweiligen Partei-Interessen begründen. Gewichtung unterscheidet sich von Meinung durch ihre – in gewichtenden Fakten begründete – methodische Professionalität.

Kontrast Kontrast im dokumentarischen Film bezeichnet die erzählerisch wirksame Distanz zwischen den Darstellungsebenen Bild, Geräusch, Musik, O-Ton, Filmtext und Schrift. Wenn man sich filmische Darstellungsebenen wie eine Torte vorstellt, deren Geschmacksebenen in Schichten übereinander liegen, kennzeichnet der mehr oder weniger große Kontrast der verschiedenen Darstellungsebenen die vertikal wirksamen, aufeinander bezogenen und einen Film insgesamt prägenden Unterschiede der Darstellungsebenen. Der Begriff kommt aus dem lateinischen Verb „contra stare“ – „dagegen stehen“; Kontrast bezeichnet Unterschiede in Helligkeit, Wirkung und Formen. Kontrast 343

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ist ein Begriff für ästhetische Unterschiede. Er kennzeichnet in der Malerei die spannungsreiche Wirkung unterschiedlicher Farben. In der Musik spricht man vom „Kontrapunkt“ als Kontrast. Eine Kompositionstechnik, die „selbständige, aber aufeinander bezogene melodische Ereignisse zu einem sinnvollen Satz zusammenführt“; (Metzler Sachlexikon Musik, Verlag J. B. Metzler, Stuttgart 1998; S. 534.) Man kann den Begriff auch verwenden um das Arrangement unterschiedlicher Musikinstrumente bei einer Komposition zu beschreiben. https://de.wikipedia. org/wiki/Kontrast_(Begriffskl%C3%A4rung) Sinnvoll spricht man von großen und von geringen Kontrasten und deren stufigen Übergängen, während sich auch kleine Gegensätze nicht stufen lassen. Kontrast prägt die „vertikale“ Spannung eines dokumentarischen Films zwischen Bild, Geräusch, Musik, O-Ton, Filmtext und Schrift. Kontraste werden geschaffen durch Kameraeinstellungen, Kamerabewegungen, Geräuschauswahl und deren Positionierung, O-Ton-Kadrierung, O-Ton-Inhalt und Stimmung, Musikfarbe und Musikpositionierung, Schriftgestaltung, Text-Fakten, Formulierungen und Text-Positionierung. Und durch den Schnitt.

O-Ton Als O-Ton im dokumentarischen Film verstehen wir Äußerungen von Personen, die im Bild sichtbar sind und mit der Kamera agieren (tatsächlich mit der neben der Kamera positionierten Autorin*), nicht aber in einer Szene mit anderen Personen. O-Töne können als Statements oder Gesprächs-O-Töne (mit Frager im Bild) inszeniert sein. Sie können wie offizielle Erklärungen wirken oder wie Nebenbei-Äußerungen (situative O-Töne) und sie können alle Aussageformen bekommen, von sachlicher Erläuterung bis zum Wutausbruch. Diese Definition ist eng; so lässt sie sich besser für die Filmtext-Dramaturgie nutzen. Zum dokumentarischen O-Ton insgesamt gehört auch der gesprochene Ton in dokumentarischen Szenen. http://journalistikon.de/o-ton/ Dieser benötigt in der Regel aber keinen Antext, weil er den Erzählstrom nicht unterbricht. Im Spielfilm hingegen wird alles, was am Drehort zu hören ist, als O-Ton bezeichnet. https://www1.wdr.de/kultur/film/dokmal/filmbegriffe/o-ton-100.html. Dieser weite Begriff ist hier nicht gemeint.

Polaritätslogik – Drama-Pol und Drama-Gegenpol Die zur erzählenden Dramaturgie gehörende charakteristische Denkfigur, die Polaritätslogik oder „erzählerische Logik“, entsteht auf Grund der Spannung zwi-

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schen einem Drama-Pol und dem dazu gehörenden Drama-Gegenpol: das Publikum erlebt eine Situation und bekommt darin Informationen (Drama-Gegenpol), ahnt aber zugleich, dass dies so nicht bleiben wird. Er erwartet, dass die Situation sich in eine andere, aber auf die vorherige bezogene Situation (Drama-Pol) verändern wird. Auf diese zweite Situation kommt es in der Erzählung dann an. Im Dokumentarischen enthalten die Drama-Pole diejenigen Fakten die man journalistisch als „Die Information“ bezeichnet. Der – im Film – zeitlich erste Zustand, der Drama-Gegenpol, wird als unausgeglichen, ungerecht, trügerisch, unausgewogen empfunden. Der später erreichte, der Drama-Pol, wird im Verhältnis zum Drama-Gegenpol als ausgewogen, ausgeglichen, klar und in einem gewissen Maß gerechter empfunden. Die Dramalogik beruht auf der Lebenserfahrung, dass Lebenswege und Projekte nur selten gradlinig verlaufen und dass die Anstrengungen bei Handelnden steigen, sobald sie Hindernisse und Unwägbarkeiten spüren. Der Begriff kommt aus den Naturwissenschaften. In Chemie, Biologie und Geografie benutzt man den Begriff „Polarität“ für Zustände, die zeitlich oder örtlich auseinanderliegen, gegensätzlich aussehen, aber wesenhaft zusammengehören. (z. B. Kälte – Wärme; Südpol – Nordpol; getrennte Ladungsschwerpunkte). Pol und Gegenpol bedingen einander. Sie sind keine unvereinbaren Gegensätze. Diese Vorstellung wird in der Dramaturgie genutzt (z. B. klein – groß; Reichtum – Armut; schwach – stark; unzufrieden – Befriedigung; Mann – Frau; Licht – Dunkel). Polarität bewirkt die Vorstellung, dass man sich von einem Gegenpol hin zum entsprechenden Pol bewegen kann. Welchen Inhalt ein Drama-Pol oder ein Drama-Gegenpol zeigen soll, ist eine von der Recherche abhängige Entscheidung. Dasjenige, was in einer dokumentarischen Film-Erzählung jeweils der Gegen-Pol sein soll, muss zeitlich vor dem Pol positioniert werden. Das Paar Pol und Gegenpol tritt im Film – und in Sendungen – in dramaturgischen, inhaltlichen und strukturellen Kombinationen auf: • als inhaltliches und emotionales Film-Ende (Drama-Pol) in Spannung zum Filmanfang (Drama-Gegenpol); • als dramaturgisches Filmende (Drama-Pol) in Spannung zu einem Attribut der Hauptfigur (Drama-Gegenpol); • als Herausforderung der Hauptfigur (Drama-Pol) in Spannung zu einem ihrer Attribute (Drama-Gegenpol); • als O-Ton (Drama-Pol) in Spannung zum Antext (Drama-Gegenpol); 345

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• als inhaltliche und zeitlich spätere Sequenz (Drama-Pol) in Spannung zu einer inhaltlich dazu als Voraussetzung nötigen vorherigen Sequenz (Drama-Gegenpol); • als Faktum (Drama-Pol) in Spannung zu den Informationen, die die Frage danach auslösen (Drama-Gegenpol); • als Studio-Gespräch (Drama-Pol) in Spannung zum Anspielfilm (Drama-Gegenpol); • als Magazin-Film (Drama-Pol) in Spannung zur Anmoderation (Drama-Gegenpol); Den Inhalt eines Drama-Pols bilden diejenigen Fakten oder Sachverhalte, auf die hin die Filmsequenzen jeweils erzählt werden; und die Fakten am Filmschluss, auf die hin der Film insgesamt erzählt wurde. Ein Drama-Pol im Filmverlauf kann auch eine jeweils später positionierte Film-Szene sein, oder ein O-Ton in seiner geschnittenen Form. Auf diese jeweils später im Verlauf positionierten Bild-Szenen und deren Sachinhalt oder Emotion kommt es dann an. Damit Zuschauer deren Bedeutung erkennen, müssen sie durch vorherige Szenen und Filmtexte erzählerisch richtig angesteuert werden. Ein Drama-Pol verlangt nach seinem Drama-Gegenpol. Der muss zeitlich früher liegen. Der Drama-Gegenpol besteht ebenfalls aus Fakten und Informationen in Bild, Ton und Text. Diese bilden charakteristisch den Anfang eines Films und im Verlauf des Films immer wieder den Anfang von Spannungsbögen, die genau dann starten, wenn der vorherige Spannungsbogen seinen Drama-Pol erreicht hat. Inhaltlich und emotional weckt ein Drama-Gegenpol im Zuschauer die auf den Drama-Pol gerichtete, geahnte Erwartungen. Filmautoren* kennen auf Grund ihrer Recherche zuerst die Inhalte ihres Films und die Ziele, die sie in einem bestimmten Filmabschnitt und dann im gesamten Film erreichen wollen: die im Filmverlauf unterschiedlichen Drama-Pole. Die Fakten der dazu gehörenden inhaltlichen oder emotionalen Gegenpole müssen sie im Recherchematerial erst entdecken.

Sinnschritte Der Begriff „Sinnschritt“ ist nicht spezifisch für dokumentarischen Film. Er wird in der Sprachdidaktik benutzt; und auch dort bezeichnet er nicht immer dasselbe. Mit „Sinnschritt“ bezeichnet man meist eine kurze, aus mehreren Wörtern bestehende Sinn-Einheit, auf der dann die nächstfolgende aufbauen kann. Diese Definition lässt

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sich mit Gewinn auch für den dokumentarischen Film nutzen. Der Sinnschritt ist die Maßeinheit und zugleich die Taktung, in der Menschen Informationen als für sie sinnvolle Ganzheit erfassen. Im dokumentarischen Filmtext bezeichnet ein Sinnschritt eine Reihung von Wörtern, die für einen Hörenden eine verständliche Einheit ergeben „Als sie angekommen war …“; „NN versucht gerade“; „… ein noch lauerndes Gefühl.“). Sätze werden verständlich, durch eine Reihenfolge von Sinnschritten, weil unser Gehirn gehörte Laute immer in kurzen Zeitspannen von mindesten etwa 3-4 Sekunden zu etwas Sinnvollem zusammenzufassen sucht und diese Sinnschritte dann als Satz und im weiteren Verlauf als Sinnabschnitte eines Textes verstehen kann. Mit Bildern arbeitet unser Gehirn ähnlich, und auch im ähnlichen Zeitrhythmus. Damit wir in einem für uns neuen, bewegten Bild etwas Sinnvolles erkennen, benötigt das Gehirn etwa 3-4 Sekunden. Wiedererkennen von bereits Bekanntem verläuft schneller. Damit wir aber einzelne Film-Bilder mit ihrer für die jeweilige Erzählung relevanten Information erfassen, benötigen wir länger. Deshalb sollte eine Bildsequenz, die eine bestimmte Information präsentieren soll, wenigstens 3 Bildschnitte oder eine entsprechend lang Plansequenz (ununterbrochene längere Kamerabewegung) umfassen. Ein einzelnes, 3-sekündiges Film-Bild – oder ein einzelner Bildschnitt – reicht nicht aus, um beim Zuschauer als relevante Information wahrgenommen zu werden; es bleibt ein Augenreiz. Einen schnell geschnittener Bildrhythmus versucht der Zuschauer als ein Ganzes wahrzunehmen. Die fürs Erkennen zu kurzen Bilder (z. B. 1-Sekunden-Schnitte) sollten deshalb insgesamt ein sinnvolles Informations-Ganzes zeigen.

„Situation“ im Film In der Lebensrealität bezeichnet man als „Situation“ das Gesamt von äußeren Gegebenheiten, Gegenständen, Orten und Zeiten, die man als „Umstände“ zusammenfasst, sowie die in diesen Umständen handelnden Personen, deren Eigenschaften und Handlungsweisen. Eine Situation unterscheidet sich von einer neutralen Einzel-Wahrnehmung durch die Relevanz ihrer zusammenwirkenden Elemente für die Handelnden und für die Betrachter. Für beide zeigt sich eine Situation als ein Ganzes von Vorgang und Sinn, das sich spüren, erkennen und wiedererkennen lässt. Wir gehen überqueren gemeinsam mit anderen eine breite Straße am frühen Morgen bei Grün. Das ist bereits eine Situation. Eine normale, die wenig Aufmerksamkeit erfordert. Niemand wird sich groß daran erinnern. 347

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Fällt während des Überquerens eine Person zu Boden, kann sich nicht mehr aufrichten und jemand muss gemeinsam mit anderen sie auf die andere Straßenseite tragen und dort den Krankenwagen rufen, ist die Situation deutlich erlebnisintensiver. Die Beteiligten werden Anderen davon erzählen. Im Dokumentarischen Film bezeichnet man als Situation die Darstellung des ‚Gesamt‘ von Umständen, Personen, Eigenschaften und Handlungen in einer oder mehreren aufeinander folgenden Filmsequenzen. In einem dokumentarischen Film folgen – genauso wie im fiktionalen – Bilder oder Szenen aufeinander. Das Publikum versucht aber, in den Bildern eine Situation zu erkennen, die es als bedeutsam, stimmig oder für die jeweiligen Inhalte plausibel und authentisch ansehen kann. Der Zuschauer* baut sich also aktiv aus einzelnen Wahrnehmungen ein Gesamt. Er erlebt einen Film als Abfolge von Situationen, nicht nur als Bilderstrom. Das Publikum nutzt und benötigt filmische Situationen für den aktiven Vergleich von Film und Lebensrealität, es sucht im Bilderstrom nach orientierendem Halt, um die dokumentarisch dargestellten Sachverhalte als relevant für das eigene Leben erkennen zu können: Die filmische Situation muss den Vergleich mit lebensrealen Situationen bestehen, um für den Zuschauer* bedeutsam werden zu können. Da journalistische Filme unter anderem das Ziel haben, gesellschaftliche Wahrnehmungsmuster zu verändern und dem Publikum zu ermöglichen, sie neuen Entwicklungen anzupassen, müssen die im Film gezeigten Situationen Muster anspielen, die für die jeweiligen Inhalte wichtig sind, dürfen diese aber nicht als Klischees und Vorurteile bestätigen. Zuschauer beurteilen wie in der Lebensrealität eine Situation spontan, indem sie sie mit ihrer individuellen – inneren und äußeren – Lebensrealität, mit ihrem Weltwissen und ihrem Medienwissen vergleichen. Dieser Vergleich aktiviert sie und trägt, wenn er zugunsten des Films ausfällt, zur Unterhaltsamkeit bei. Zuschauer spüren und erkennen an der filmischen Darstellung, • • • • •

ob überhaupt eine nachvollziehbare Situation entsteht; ob eine im Filmverlauf stimmige Situation entsteht; ob sie sich auf eine innere oder eine äußere Lebensrealität bezieht; ob sie die innere oder äußere Lebensrealität verfehlt oder übertreibt; ob sie für das Miterleben und Verstehen des Films notwendig oder überflüssig ist.

Auf Grund dieser Einschätzung entscheiden Zuschauer über Relevanz und Kompetenz des Dargestellten. Entsteht für sie gar keine Situation, langweilen sie sich rasch und schalten um oder ab; verfehlt oder übertreibt die Situation die Lebensrealität,

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kann dies Vergnügen auslösen oder aber Ärger und Widerstand gegen den Film. Trifft die dargestellte Situation die Lebensrealität, dann können Erwartung und Spannung steigen. Dokumentarische Filme sollten durch inhaltlich und dramaturgisch treffende Situationen das Publikum an ihr Thema fesseln und auf die beiden Erzählziele hinsteuern.

Spannung – Spannungskurve – Spannungsbögen Im Dokumentarischen Film entsteht Spannung als die geistige Energie und die Zeitspanne, die Zuschauer aufwenden, bis sie durch Ungewissheit, Erwartung, leichte Enttäuschung und neue Erwartung, Überraschung, und immer wieder Bestätigung vom Erleben eines Drama-Gegenpols zum Erleben des Drama-Pols kommen. Spannung ist eine für Menschen grundlegende Emotion und zeigt sich auch sinnenhaft als kribbeliges Gefühl und körperliche Anspannung. Auch wenn wir fast immer von einem „spannenden Film“ sprechen: nicht der Film ist spannend, sondern er löst Spannung im Zuschauer aus – oder Langeweile oder etwas dazwischen. Mit „Spannung“ bezeichnen wir deshalb die emotionale Qualität der Zeitspanne zwischen Anfang und Ende eines Films und der Abschnitte im Filmverlauf. Spannung prägt die zeitliche horizontale Dimension eines Films. Je unterschiedlicher die Höhe der Spannung im Filmverlauf für das Publikum wird, und je öfter sie in inhaltlich sinnvollen Rhythmen wechselt, umso mehr werden Zuschauer mitgehen und auch die zuweilen trockenen und fremdartigen Inhalte dokumentarischer Filme verstehen. Man kann sich Spannung als eine unruhige Kurve vorstellen, die anfangs steil ansteigt, während des Films immer wieder hohe Peaks und niedrigere Phasen zeigt und am Ende schnell und steil abfällt. https://dramaqueen.info/wiki/spannung/ Im Filmalltag spricht man häufig von einem Spannungsbogen in der Vorstellung von einem Regenbogen: am Anfang am Boden, dann steigend, in der Mitte am höchsten dann absteigend und am Ende wieder am Boden. Der Begriff bezieht sich auf die klassische griechische Dramaturgie mit drei oder fünf Akten. Die wurde in Hollywood auf die Spielfilmdramaturgie übertragen. Auf dokumentarische Filme lässt sich diese Bogen-Form nicht wirklich sinnvoll anwenden, außer der Einsicht, dass der Beginn eines Films emotional aus einem Nichts oder Wenig aufsteigt und an dessen Ende – dramaturgisch – wieder Ruhe und Zufriedenheit herrschen. Die Vorstellung von einem ansteigenden Spannungs349

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bogen, der in gleicher Weise – mit einigen verzögernden Momenten – wieder abfällt, entspricht nicht der Wirklichkeit des Theaters und des Films. Weder Sophokles, noch Shakespeare, auch nicht Heiner Müller oder Yasmina Reza haben ihre Stücke so geschrieben. Sie alle lassen die Stimmung der Zuschauer in raschen Rhythmen wechseln. Diese Vorstellung vom Spannungsbogen passt auch nicht auf die Filme der großen US-amerikanischen, britischen und deutschen Dokumentaristen. Selbst die Vertreter von „Fly-on-the-Wall“ haben ihre O-Ton-Filme in viel kürzeren Spannungsrhythmen gestaltet. Einen Spannungsbogen sollte man sich deshalb als kurz und regelmäßig, aber unterschiedlich hoch vorstellen. Eine Spannungskurve, die durch den Filmverlauf von vielen Spannungsbögen getragen wird, kann man sich als lang mit Ausschlägen vorstellen. Dieser Vorschlag führt zu einer praktisch handhabbaren Vorstellung davon, wie Autoren dokumentarische Filme so komponieren und strukturieren können, dass Zuschauer in Spannung geraten. Sie erleichtert die Kommunikation von Film-Profis und führt zu konkreten Gestaltungsideen.

Abb. A.1.1 Autor /Regie* gestaltet die unterschiedlich kurzen Spannungsbögen. Die Zuschauer erleben dadurch eine abwechselnde, im Filmverlauf ansteigende Spannungskurve.

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Die Basis für die Spannung, wie sie das Publikum mit Auf und Ab, erlebt, schaffen Film-Autoren* durch unterschiedlich lange Spannungsbögen (z. B. den kürzesten zwischen Antext und O-Ton, längere über eine oder mehrere Film-Sequenzen) mit unterschiedlich hoher Intensität von Emotion und Erkenntnis. Auf den unterschiedlichen Höhen erlebt das Publikum die wechselnde Intensität von Informationen in Bild-Szenen und Geräuschen, im O-Ton, im Schnitt und in der Textperson als Spannungskurve. Eine Spannungskurve zieht sich mit unregelmäßigen Ausschlägen über den gesamten Film. Die Spannungsbögen bewirken und stützen jeden einzelnen Ausschlag der Spannungskurve. Die Länge jedes Spannungsbogens entsteht durch die Positionierung der jeweiligen Drama-Pole und Drama-Gegenpole in Filmszenen und Textperson. Die Ausschläge (Amplituden) der Spannungskurve bekommen ihre Wucht durch die die Intensität der Film-Szenen, die Fakten in Bild, Ton und Filmtext und durch die Formulierungen der Textperson. Ein kurzer Magazinfilm benötigt vier oder fünf Spannungsbögen, ein 90-Minüter das Vielfache davon. In der Film-Wirklichkeit entstehen der erste Spannungsbogen und der Start der Spannungskurve, sobald das Publikum den Filmanfang erlebt: als eine Film-Situation, die ihn in Unruhe, Neugier und geistige Aktivität versetzt und ihn ins Fragen bringt, das erst am Ende des Films zufriedenstellend beantwortet sein sollte. Die Spannung darf zwischendurch immer wieder leicht nachlassen (z. B. leichte Enttäuschung, Verzögerung), weil dadurch die Erwartung angeregt wird und weiterläuft, sollte aber immer wieder die Intensität der Erzählung steigern bis kurz vor dem Schluss, zu dem die Spannung abfällt. Wie ein Kaminfeuer. Damit es wärmer wird und anhält, muss man immer wieder Holz nachlegen. Die Textperson steuert, auf welche Weise Spannung im Zuschauer* entsteht und ihn im Filmverlauf bewegt. Denn sie fokussiert dessen Aufmerksamkeit auf die für die dokumentarische Erzählung relevanten Elemente. Und sie schafft zusätzliche gewichtende Fakten heran, die dem Auge der Kamera und dem Ohr der Mikrofone entgehen oder entgangen sind.

Treatment Das Treatment ist die – auf einem Exposé beruhende – schriftliche Skizzierung des Filmablaufs, der Film-Situationen und der im Film auftretenden O-Ton Geber und anderer dramaturgisch wichtiger Figuren. Anhand des Treatments können Autorinnen* und Redaktion prüfen, inwieweit das Exposé erfüllt werden kann oder 351

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sollte. Man kann Details für Gestaltung und Produktionsaufwand klären und eine erste Entscheidung über die Textperson fällen. Im Dokumentarischen ist ein Treatment das Pendant zum Film-Drehbuch (man kann es auch als „Dokumentarisches Drehbuch“ bezeichnen). Es bildet die Grundlage für die Dreharbeiten und liefert Anhaltspunkte für den Schnitt. Verglichen mit einem Spielfilm-Drehbuch bestehen allerdings deutliche Unterschiede: • Film-Situationen, Szenen, Geräusche und Musiken kann man im Treatment beschreiben, das Ergebnis wird sich aber nach den Dreh-Umständen und dem Verhalten der Personen richten; • für jede Filmsequenz werden Emotionsziel und Argumentziel festgehalten. Daran kann man bei Planung, Dreh und Schnitt erkennen, ob und wie das Material diese Ziele ansteuert und auf welche erzählerisch-dramaturgische Weise man die Filmziele am Ende des gesamten Films erreichen kann; • O-Töne können im Treatment nicht als wörtliche Zitate stehen (sie sind ja – außer bei Archivmaterial – noch nicht aufgenommen); wichtig aber ist die dramaturgische Begründung für jeden O-Ton und die Richtung seiner möglichen Aussage. Ins Treatment gehört auch die Bildgestaltung von O-Tönen (Vollbild, Teilbild, rechts-links, Schnittgestaltung); weil diese Angaben den Stil des Films mit prägen werden. Die Kameraleute sollten sie kennen; • es gibt noch keinen ausformulierten Filmtext, wohl aber dessen Faktengrundlage und Zielrichtung; • die Produktionsanforderungen sind in ein Treatment integriert. Es gibt nicht, wie bei Spielfilmen, ein gesondertes Produktionsdrehbuch. Außer für die am Computer zu erstellenden Filmszenen. https://gregor-a-heussen.de/werkzeuge/arbeitsvorlagen/ In dieser Netzpräsenz steht ein Arbeitsformular samt ausführlicher Anleitung zum Runterladen.

Vorstellungen Mit dem Begriff „Vorstellung“ bezeichnet man in der Lebensrealität sehr unterschiedliche Erfahrungsphänomene; sie alle sind geistige Bilder und Szenen von hoher Bedeutung für das Handeln der Menschen. Sie entstehen aus spontanen Wahrnehmungen, sind als geistige Repräsentationen aber undeutlicher und „blasser“ als Wahrnehmungen. Vorstellungen wirken als erworbene Muster, sind mit unterschiedlich viel Erfah-

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rung gefüllt, tragen immer eine starke emotionale Färbung und verursachen, je nach Voreinstellung der Person, eine klare Gewichtung nachfolgender Wahrnehmungen. https://de.wikipedia.org/wiki/Vorstellung Vorstellungen wirken – unabhängig von ihrer Intensität – plausibel und überzeugend je nach ihrer Nähe zur Lebensrealität oder zur persönlichen Ideologie. Man spricht von Wahnvorstellungen, wenn sie subjektiv gewiss, objektiv aber unzutreffend sind. Ungenaue und grobe Vorstellungen stützen sich nur auf wenige und stereotype Fakten und schwache Erfahrung; dann heißen sie Klischee und Stereotyp. Von zutreffenden Vorstellungen spricht man, wenn sie durch Wissen, Erfahrung und Praxis stabil und differenziert entstanden sind. Wenn mehrere Menschen auf dieselben Fakten treffen, können sie daraus ähnliche, aber auch sehr unterschiedliche Vorstellungen entwickeln. Aus diesem Grunde liegt bei vielen privaten und öffentlichen Diskussionen der Dissens nicht in den Fakten, sondern in den daraus entstandenen Vorstellungen. Menschen handeln auf der Basis ihrer Vorstellungen, nicht auf Grund von Einzelfakten. Viele psychologische Experimente von Daniel Kahnemann und Amos Tversky zeigen dieses ernüchternde Ergebnis. Im Ernstfall, wenn es darauf ankommt, wollen Menschen möglichst realitätsnahe Vorstellungen gewinnen, denn sie wissen aus Erfahrung, dass mangelhafte Vorstellungen Fehlentscheidungen hervorbringen und Sorgen verursachen. Sind nur wenige und bruchstückhafte Erfahrungen vorhanden, wirken Vorstellungen als unbewegliche Klischees und als Vorurteile. Sind sie mit vielfältiger Erfahrung gefüllt, werden neue Wahrnehmungen geschmeidig in die vorhandenen integriert. Die vormals starren Vorstellungen können dadurch auf die Dauer flexibel werden. In der dokumentarischer Filmdramaturgie sind Vorstellungen der Ausgangspunkt der gestalterischen Arbeit und ebenso das Ziel eines Films. Als Ausgangspunkt – bei Autor und Redaktion – sind sie meist eher vage oder auch dogmatisch, als Ziel sollten sie durch das Rechercheergebnis gedeckt sein und aus dem Film heraus als Eigenleistung der Zuschauer entstehen. In der Regel wollen journalistisch arbeitende Autorinnen* und Redaktionen – unabhängig von der Filmform – den Zuschauern* die Grundlage für möglichst zutreffende Vorstellungen von einer Lebensrealität liefern, die über die persönliche der Zuschauer hinaus reicht. Der Zuschauer* soll veränderte oder neue Vorstellungen der ihn umgebenden Lebensrealität gewinnen, um zu entscheiden, ob er auf gleiche oder auf andere Weise als gewohnt handeln kann oder will. Wenn dies 353

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mit filmischen Mitteln erreicht wird, dann sind Unterhaltung und Information gleichermaßen entstanden. Die journalistische Information, das Neue, besteht in den Vorstellungen, die sich die einzelne Zuschauerin* – und das Publikum insgesamt – von einem Filminhalt erzeugen kann. Die Information besteht nicht in den einzelnen Fakten oder in einer vollständigen Fülle von Sachverhalten. Dramaturgisch sind Fakten das Grundlagenmaterial ohne ausreichenden Zusammenhalt und verändernde Kraft. Sie sind die Basis der Vorstellungen. Der Sinn dramaturgischer Strukturierung und Gestaltung besteht darin, Fakten mit der für Vorstellungen noch fehlenden Kraft auszustatten, ohne sie zu verfälschen; dadurch werden zutreffende Vorstellungen über die uns umgebende Welt möglich; keine Träume und keine Fakes. Dokumentarische Filme unterscheiden sich in diesem Ziel grundlegend von fiktionalen: Die dokumentarische Filmwirklichkeit soll dem Zuschauer einen gangbaren Weg bereiten zu einer immer wieder sich verändernden Lebensrealität; die fiktionale Filmwirklichkeit kann dies auch leisten, muss es aber nicht. Ihre Vorstellungen können in der fiktionalen Filmwirklichkeit bleiben. In der dokumentarischen Filmpraxis müssen Autoren und Redaktion die Vorstellungen prüfen, die durch das Zusammenspiel von Bild, Ton und Text entstehen. Denn alle dramaturgischen Mittel taugen auch zur Lüge und Verfälschung. Sie können irreführende Vorstellungen begründen. Im Schnitt und beim Texten werden immer wieder einige Checkfragen zur Vorstellung sinnvoll: • Welche Vorstellung soll in dieser Filmsequenz / Filmsituation / Textperson entstehen? • Welche Vorstellung entsteht tatsächlich in dieser Filmsequenz / Filmsituation / Textperson? • Soll es diese Vorstellung sein? Oder eine andere? • Wenn JA, soll sie an dieser Stelle entstehen? Wo sonst im Film? • Wenn NEIN, welche dann? Und wo sonst im Film? • Welche Erwartungen weckt die tatsächlich entstandene Vorstellung für den Filmverlauf? • Welche Folge hat dies für die Textperson? Welche Fakten müssen in den Text kommen? Welche Fakten können verschwinden? Bei der Filmplanung spielen die bereits bestehenden Vorstellungen des Publikums von Personen, Geschehnissen und Sachverhalten eine wichtige Rolle. Inklusive Klischees, Vorurteilen und vorläufigem Wissen; oder auch keinem. Sobald man

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diesen Aspekt des Publikums in die Planung einbezieht, lassen sich kreative Lösungen für einen Film leichter finden.

Werkzeuge Werkzeug 1: Textmanuskript Das Beispiel zeigt einen Abschnitt, der in einem historischen Film zum 1. Weltkrieg stehen könnte. Es geht um die Gestaltung des Manuskripts, nicht um seinen Inhalt. Titel: Abra gedi ser Datum: TT.MM.JJ

Prod.Nr.: 1234/5678

Autor/in: AA

Redakteur/in: RR

Kamera: ZZ

Sendungstag: TT.MM.JJ

Schnitt: YY

Sendungszeit: 20:15

Sprecher/in: NN

Länge: 43:34

Textperson: Studentin der Geschichte, 28;

Bild

Zeit

Text

Kriegsministerium Wien; Untersicht

25‘12

Am 25. Juli hat der Kriegsminister NN den Generalstab zusammengerufen. Auf den Termin: 4 Uhr nachmittags

Mann

25‘17“

„Wir wüssten gern, nach welchen Kriterien die damaligen Entscheidungsträger wirklich entschieden haben. Wir versuchen es uns vorzustellen. Die Protokolle erzählen darüber leider nichts“.

26‘05“

Schrittgeräusche, Stühlerücken, sonst Schweigen

NN. Militärhistoriker s/w; Männer kommen ins Zimmer, begrüßen einander und setzen sich

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Bild

Anhang

Zeit

Text

s/w Zwei Männer nicken einander zu

26‘10“

An diesem Tag ist die Entscheidung für den Kriegsbeginn gefallen. Auch für das Datum: 28. Juli. Noch Jahrzehnte später würden Millionen von Menschen Verluste in ihren Familien spüren. Einige dieser Folgen stecken in der DNA der Europäischen Union. … usw. (26‘30“)

Flug über Grüne Wiese und Getreidefelder

26‘35“

Kaum einer der jungen Leute in den Orten ringsum kann sich vorstellen, dass mitten durch die Felder ihre Urgroßväter Schützengräben ziehen mussten … usw. (27‘01“)

Frau

27‘02

„Wir haben schon überlegt, ob wir nicht eine Gedenktafel anbringen sollten. Früher hätte man ein Wegkreuz aufgestellt.

NN. Bürgermeisterin

Werkzeug 2: O-Ton und Antext Diese Liste gibt Hinweise auf O-Ton Sorten, die in dokumentarischen Filmen häufig vorkommen. Sie will nicht vollständig sein, denn Sprache zeigt unendlich viele Ausdrucksmöglichkeiten, auch bei O-Tönen. Trotz aller Vielfalt im Detail lassen sich O-Töne immer einer O-Ton Sorte zuordnen. Auch wenn die hier nicht aufgeführt ist und von Autoren* zum ersten Mal entdeckt und benannt werden wird. Die Textbeispiele zeigen den Kern einer Antext-Lösung. Für eine konkrete Textperson würde die Formulierung spezifischer klingen. O-Ton-Sorte

Antext-Lösung

Widerspruch

Fakten, die als Behauptung oder These wirken

„Das lässt bislang der § xx der Straßenverkehrsordnung nicht zu; und die Roller behin- „Nach Ansicht des ADAC sollten E-Roller auch auf Gehwegen fahren dürfen.“ dern durch ihr Tempo die Fußgänger.“. Frage „Hat man den Vorstandschef gemobbt, dass er jetzt nicht verlängert? Oder traut er sich eine weitere Vertragsperiode mit solchem Erfolg nicht zu?“

Fakten, die klar, eindeutig und bestimmt wirken „Der Umsatz ist stabil bei 130 Millionen Euro. Der Gewinn war ebenfalls stabil.“

Anhang 1: Glossar + Werkzeug

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O-Ton-Sorte

Antext-Lösung

Rechtfertigung

Fakten oder Bilder, die einen Vorwurf begründen

„Herr Y ist der durch seine internationale Erfahrung besonders qualifiziert. Er hat einen normalen Arbeitsvertrag.“ Damals…, Erinnerung „Das war noch 1998 kaum vorstellbar. Damals hat sogar die Hausbank DF einen 10 Millionen Kredit verweigert. Und ohne NN als Investor wäre der Bankrott unausweichlich gewesen.“ Jetzt, Ankündigung, Prophezeiung „Wir werden diesen Betrag erheblich aufstocken, auf mindestens 5 Millionen in der kommenden Spielzeit.“

„Herr X und Herr Y sind miteinander eng verwandt.“ Fakten, die den heutigen Zustand betonen; der jetzige Zeitpunkt „Seit Anfang des Jahrtausends ist der Umsatz um 25 %, genau um 400 Millionen Euro gestiegen.“ Der Verlauf „bis jetzt“; Fakten, die den bisherigen Zustand betonen „Derzeit hat das Filmfest 1,2 Millionen zu Verfügung.“

Stimmung und Gefühl

Trocken formuliertes Faktum, eine Orts„Nichts, Nichts haben wir rausholen können. oder Zeitangabe; charakteristische Fakten für die Umstände Überhaupt nichts.“ „Die Feuerwehr ist gerade abgezogen.“ Beweis, Zeugenaussage „Wir konnten herausfinden, dass das Geld von einem Konto aus Panama kam; und eine Zahlung von den Cayman-Inseln“. Nie vorher war das so.“ Behauptung, Klage „Das ist jetzt die größte Kloake der Gegend, die Textilfabriken lassen ihre Abwässer ungeklärt da rein laufen.“ Begründung „Als Eisenkonstruktion würde der Turm zerbrechen, wenn er starr bliebe. Weil er schwanken kann, steht er bis heute.“ Vermutung „Wir denken, das könnte ihm helfen, wie der Erdboden auszusehen, so dass die Vögel ihn nicht genau orten können.“

Fakten, die eine Vermutung oder einen Verdacht wecken „Die Geldzuflüsse auf das Konto wirken ungewöhnlich.“ Ein ganz unauffälliges, normales Faktum; ein Verfahrensschritt „Der Bach, 2 Meter breit, windet sich seit vielen Jahrhunderten schon durch das Ta.“ Fakten, die als Behauptung oder Zweifel wirken „Der Eiffelturm steht kerzengerade, aber die Spitze schwankt immer, manchmal bis zu 2 Meter.“ Fakten oder Bilder, die in Reihenfolge und Zusammenstellung eine Unklarheit begründen „Die Käfer haben einen harten, schwarz glänzenden Panzer, der sich aber rot verfärben kann, wenn sie verfolgt werden.“

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Anhang

O-Ton-Sorte

Antext-Lösung

Appell

Ein objektiv richtiger oder ein falscher Sachverhalt

„Die Regierung muss endlich die Verkehrsprioritäten umsteuern: zuerst Bahn, dann Auto; Investition ins Schienen-Netz.“ Erläuterung „Darin stecken 5 Jahre Zeit und das Pushen von 10 Handlungsfeldern, von Ausweitung der Öffnungszeiten, was mehr Personal erfordert, bis Sprachenförderung, was spezielles Personal erfordert.“ Erklärung „Er hofft, den Vermieter beeindrucken zu können, damit der die Kündigung zurücknimmt.“

„Und die Pünktlichkeit der Bahn ist auf fast 70 % gesunken.“ Ein Sachverhalt, der insgesamt bislang noch unerschlossen ist; ein neuer Begriff, ein Phänomen, das man erst kennenlernen muss (z. B. „Stabilitätspakt“); „5,5 Milliarden € für das ‚Gute-Kita-Gesetz‘.“ Zwei bis drei Fakten, die, weil sie nicht sogleich zusammenpassen, eine gezielte Frage wecken „NN hat sich, mitten in der Woche, seinen besten Anzug angezogen, den schwarzen. Und sich von seinem Freund den Mercedes geliehen.“

O-Ton, der als Fortsetzung des Autorentex- Kein Antext. Der Autorensatz wird mitten tes mit anderer Stimme verstanden werden im Fluss durch den O-Ton weitergeführt. Die Nahtstelle sollte nicht direkt vor oder kann hinter einem Komma liegen. „werde sich nichts an der Geldpolitik der EZB ändern. Aber wir haben genau auf diese Änderung gehofft.“

„Die Unternehmer hatten gedacht, es …“

Werkzeug 3: Infoladungen von Bildern und Szenen Die Liste zeigt einige häufig vorkommende Bild-Szenen, Bild-Inhalte und Kamerabewegungen. Im dokumentarischen Film kommen unendlich viele Bild-Varianten vor. Es lohnt sich, Infoladungen zu entdecken und sie zu benennen. Und danach erst auszuwählen, an welche man mit dem Filmtext andocken muss oder will. Dann kann man sich professionell leichter verständigen. Infoladung

Bild-Beispiele

eine Richtung, bei der die „Mind- von rechts nach links = von Osten nach Westen; hinauf, map“ mitspielt hinab = nach Norden, nach Süden eine Zeit, eine Jahreszeit

Helle; Dunkel; Schneelandschaft; Frühlingsblumen

Anhang 1: Glossar + Werkzeug

Infoladung

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Bild-Beispiele

eine historische Markierung, eine Schwarz-Weiß-Foto; Haartracht der 60-er Jahre; KleiUrsprungszeit dung der 50-er Jahre außen, innen, weit, eng

Blick durch ein Fenster nach draußen; Blick in eine Zimmer-Ecke

das Wetter

Menschen in Badekleidung; neblige Straße; Regenwolken; aufgespannter Sonnenschirm

eine Befindlichkeit oder Stimmung rennende Menschenmenge; Familie spielt auf dem Rasen hinter dem Haus; Strandleben eine soziale Schicht

Palast; Hütte; Möblierung; Straßenfluchten

eine Geschwindigkeit

Formel 1-Wagen; Schnecke

Umstände einer Situation (Ruhe, Kirchenchor; Publikum beim Open-Air-Konzert; UmHast, Ordnung, Chaos…) kleidekabine während des Basketball-Spiels eine reale oder symbolische Be- der Eiffelturm: eine Stahlkonstruktion; oder: ein Symdeutung bol für Frankreich eine Möglichkeit;

gezeichnete Szene; computergeneriertes Bild

ein Appell

abgemagerte Kinder in schlechter Kleidung

das Klima eines Ortes

mondänes Ambiente; schwaches Licht, gleißende Helle

eine andere Kultur

Weiße Hüte tadschikischer Männer; Sombreros; Männer im langen weißen Gewand

eine geografische Markierung

Kamele im Wüstensand; Pyramiden; charakteristische Architektur oder Landschaft; typische Pflanzen

Sympathie oder Antipathie

entsteht spontan, sobald man Menschen erkennt; im Film vor allem bei Nah- und Großaufnahmen

ein Image

die Auffahrt vor einer großen Villa; extravagante Kleidung; eine Lichtstimmung im Bild.

Mode, Stil

Kleidung; Accessoires; Wohnungseinrichtung

Neugier, Abschied

Zoom-in oder Zoom-out der Kamera

genau hinschauen müssen

Großaufnahme und Zoom-In

das Alter

Gebückte, aufrechte, wackelige Gestalt; faltige, glatte Haut; bröckelnder Putz, frisch renoviert; Windeln;

der Beruf

Berufskleidung; Accessoires; Arztkittel, Mechaniker-Anzug, Mikroskop, Tablett; Umgebung: Bar-Tresen, Hebebühne

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Anhang

Infoladung

Bild-Beispiele

eine Institution

Umgebung: lange Flure, Villa in großem Park; Einrichtung: Liegestühle auf der Terrasse, Fitness-Raum, moderne Kunst an den Wänden; Die Art, wie Menschen sich in einem Raum bewegen: leise, langsam, geschäftig

Werkzeug 4: Infoladungen von Text-Formulierungen Infoladungen von Formulierungen und Wörtern haben eine hohe Schnittmenge mit dem Framing, dem Rahmen des Erlebens und der Erkenntnis, der zugleich mit Formulierungen entsteht und je nach Aussage-Absicht manipulativ genutzt werden kann. Infoladungen und Framing prägen die Vorstellung der Menschen, die eine Formulierung lesen oder hören. Der Begriff „Steuerlast“ lässt die Vorstellung eines anonymen JEMAND entstehen, der anderen willkürlich diese Last auferlegt. In Wirklichkeit aber finanzieren Steuerzahler mit Steuern ihre gemeinschaftlichen Interessen und Aufgaben. Die Formulierungen in Medien prägen einen wichtigen Teil der Vorstellungen des Publikums von der Welt, in der wir leben. Die Mediensprache soll aber zugleich auch kritisch die Sprechblasen von Politik und Werbung aufstechen. Daher sind im dokumentarischen Film sorgfältige Formulierungen ein Muss. Dokumentarisch-journalistisch arbeitende Film-Autoren* nutzen Infoladungen, um die Verzahnung zu ähnlichen Infoladungen der Bild-Szenen zu erreichen. Die nachfolgende Liste zeigt einige Beispiele von Text-Infoladungen. Sie zeigen nur eine Infoladung an; ob die Formulierung im Zusammenhang angemessen oder richtig ist, kann man daraus nicht folgern. Da Sprache unendlich variantenreich ist, werden Autoren viele neue Infoladungen entdecken, die sich gut mit denen von Bild-Szenen verzahnen.

Formulierung

Infoladung

„er zeigt sich als Absahner“; „viele nennen ihn ein Weichei“; „das geht so nicht“;

ein Urteil

„er sieht noch immer die Broiler vor sich und das dazugehörende Genuss-Gefühl“;

eine historische Markierung; markiert die Zeit in der DDR

Anhang 1: Glossar + Werkzeug

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Formulierung

Infoladung

„in das Rezept gehören frische Paradeiser“;

eine regionale Markierung; öster­ reichischer Ausdruck für Tomate;

„Da liegen schon die Hundeknochen, die sie gleich benutzen“;

eine professionelle Markierung; Fachausdruck für ein Spezialwerkzeug von Automonteuren, ursprünglich bei VW

„Sie treffen sich im Goldpalast zu Monaco“;

soziale Schicht

„Es ist der wichtigste Schlegelschlag im Münchner September“ (zur Eröffnung des Oktoberfestes); „Das Ja-Wort – es ist genau 10:17 Uhr“

ein Ritual

„Verdammt noch mal! Was zur Hölle soll das?“

Betonung

„Es war wie ein Treffen unter der Normaluhr“; „…öffnet seine Pforten“; „dero Hochwohlgeboren“; „man darf gespannt sein…“;

Richtung ins Historische; oft ins Pseudo-Historische und ins Klischee

„Die Models können abschwirren“; „Die Kommission anbaggern“; „Die Zahl der Umweltsünden wächst;“

positive oder negative Einschätzung

„Die Kameraden sollten wissen…“ (ein Ausdruck der Rechtsradikalen selbst);

eine Gruppenzuschreibung

„Gestern im Anzug, heute im Flecktarn“ (der Bundeswehr);

ein Gruppenmerkmal

„… eine knallharte Geschäftsfrau“; „… endlich zur Sache kommen“;

ein Image

„endlich kann es losgehen“; „sie tanzen noch mit ihren Vorschriften herum“; „Der Bau schleppt sich schon über Monate hin“;

eine Bewegung

„Die IT-Riesen überrollen Europa“; „eine neue Asylantenwelle schwappt von Süden zu uns“; „die Reise führt nach Rotterdam“;

eine Richtung

„Der Präsident lässt den Minister morgen antanzen“;

eine Forderung

„… eine echt coole Hose“; „… ein starkes Statement der Präsidentin“; „Die ganze Klasse strahlt vor Glück“;

ein Gefühl, Befindlichkeit, Stimmung

„Es hat Monate gekostet, die Russen zu enttarnen“;

eine Absicht

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Anhang

Formulierung

Infoladung

„Die Gegend ist ärmlich und heruntergekommen wie auch die Bewohner des Viertels“;

eine Position des Sprechers

„Das Zentrum hat eine infrastrukturelle Konsolidierung erfahren“;

eine Floskel, etwas überall und ohne Erfahrung Verwendbares, „Plastik“

„Damit ist die Partei erst mal ruhiggestellt“;

etwas Vorgetäuschtes, „Pseudo“, ein Euphemismus

„Die Schulden drohen sie zu erdrücken“;

Unrecht, Bedrohung

„Sein gründliches und solides Vorgehen“

Qualität

„Solche Ideen kann man sich richtig reinziehen“ „Er hat den Betrieb buchstäblich vertickt“

ein Modewort

Anhang 2: Quellen + Anmerkungen Anhang 2: Quellen + Anmerkungen

Überlegung

Viele dieser Forschungen sind in der Zeitschrift „Mediaperspektiven“ seit dem Jahr 2000 erschienen. Forschungs-Fortschritte werden dort dokumentiert. Die Zeitschrift ist Teil der ARD-Werbung Sales & Services GmbH und wird vom Intendanten des Hessischen Rundfunks in Frankfurt herausgegeben. • Ursula Dehm u. Dieter Storll: „TV-Erlebnisfaktoren“ mediaperspektiven 2005, S. 425 ff. https://www.ard-werbung.de/media-perspektiven/fachzeitschrift/2003/artikel/ tv-erlebnisfaktoren/ • Ekkehardt Oehmichen u. Christa-Maria Ridder: „Medien-Nutzer-Typologie 2.0“ Mediaperspektiven Schriftenreihe; Frankfurt am Main 2006. https://www.ard-werbung.de/media-perspektiven/schriftenreihe/ Die Plattformen wachsen. Sie zeigen überwiegend deutschsprachige Fernsehdokus. Bei „dokujunkies“ muss man sich die Filme runterladen, bei Dokustreams kann man sie direkt anklicken. • https://dokustreams.de/

Anhang 2: Quellen + Anmerkungen

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• http://dokujunkies.org/updates

Kapitel 1

• Jörn Hetebrügge: „Vom Stummfilm zum Tonfilm“ https://www.kinofenster.de/filme/archiv-film-des-monats/kf1202/vom-stummfilm-zum-tonfilm/ • David Robinson: „Chaplin – Sein Leben, seine Kunst“ Diogenes Verlag, Zürich 1989; S. 537 • Bayerischer Rundfunk, „Kalenderblatt“ vom 8. Dezember 2017. Der US-amerikanische Werbetexter Frederick Barnard der „Street Railways Advertising Company“ in Chicago warb am 8. Dezember 1921 in einem Fachblatt mit diesem Spruch für seine neuartigen grafisch gestalteten Werbeflächen auf Straßenbahnen. Seine Begründung: die damals üblichen wortreichen Werbetexte seien auf vorüberfahrenden Trambahnen für das Straßenpublikum nicht leicht zu lesen. Seine Titelzeile „One look ist worth a thousand words“. https://www.br.de/radio/bayern2/sendungen/kalenderblatt/0812-ein-blick-sagtmehr-als-1000-worte-102.html • Andrea Laumount: „Brain beats – Die Zukunft des Hörens“ ZDF 2016; Wissenschaftsfilm über die Bedeutung von Geräuschen für die Realitätswahrnehmung. https://www.youtube.com/watch?v=j9BsdbUcFIQ/ • Norbert Jürgen (Enjott) Schneider: „Handbuch Filmmusik II – Musik im Dokumentarischen Film“ Verlag Oelschläger München 1989, S. 101 ff.; dort schildert Schneider im Detail die unterschiedlichen möglichen Funktionen von Musik im Dokumentarischen Film.

Kapitel 2 • Daniel Kahnemann: „Schnelles Denken – Langsames Denken“; Penguin-Verlag, München 72012; S. 164 ff: „Die Wissenschaft der Verfügbarkeit“. Kahnemann zeigt, wie wir Menschen bei Einschätzungen und Entscheidungen möglichst oft auf diejenigen Routinen zurückgreifen, die uns bereits vertraut sind, die wir aus zeitlicher Nähe kennengelernt haben und die uns somit verfügbar sind. • Hertha Sturm: „Der gestresste Zuschauer – Folgerungen für eine rezipientenorientierte Dramaturgie“; Klett-Cotta, Stuttgart 2000. Hertha Sturm hat in ihren Untersuchungen des ZDF-Programms und in ihren Veröffentlichungen die Unterscheidung von Lebensrealität und Filmwirklichkeit als Begriffe eingeführt. Sie betont, dass dem Publikum beim Zuschauen nur die Filmwirklichkeit als Beurteilungsgrundlage verfügbar ist. Andere Medien treten 363

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Anhang

beim Zuschauen in den Hintergrund. Zuschauer vergleichen die Filmwirklichkeit mit ihrer Lebensrealität; und mit dem Wissen aus anderen Medien.

Kapitel 3

• Clifford Geertz: „Dichte Beschreibung“ – Beiträge zum Verstehen kultureller Systeme“; stw 696 Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft, Suhrkamp Verlag Frankfurt am Main 1983, 61999. Geertz entwickelt die Methode der Dichten Beschreibung an vielen Beispielen. • Jens Förster: „Kleine Einführung in das Schubladendenken -über Nutzen und Nachteil des Vorurteils“; GoldmannTB 15507; Wilhelm Goldmann, München 2008. Förster zeigt auf der Basis psychologischer Forschung die Notwendigkeit und die Grenzen von Stereotypen. Stereotype sind Muster in der Wahrnehmung und im Erkennen, die das rasche Erfassen komplizierter Sachverhalte erleichtern. Und sich zu moralisch eingefärbten Vorurteilen und Klischees verhärten können, wenn neue Wahrnehmungen und Erkenntnisse in diese Muster keinen Eingang finden. Dokumentarisch arbeitende Autoren* erkennen hier die eigene Zwickmühle: einerseits müssen sie rasch Handlungsmuster erkennen und beschreiben; und sie nutzen dafür spontan ihre eigenen Stereotype und Vorurteile; andererseits sollten ihre Filme die beim Publikum vorhandenen Vorurteile und Muster geschmeidig machen und verändern. Durch sorgfältige Bildführung und Text-Formulierung kann diese Geschmeidigkeit gelingen. • Yanko Tsvetkov: „Atlas der Vorurteile“ (1); Knesebeck, München, 12013, 62014, (2) Kenesebeck, München 2014. Die beiden Bücher des Künstlers Yanko Tsvetkov zeigen Europa unter der jeweiligen Eigensicht eines der europäischen Völker auf „Die Anderen“. Entstanden sind sie aus seinem „Mapping Stereotypes Project“ 2009.

Kapitel 4 • Daniel Kahnemann: „Schnelles Denken, Langsames Denken“, S. 42. Penguin 7 2017)

Kapitel 5 • Andreas Kieling: https://de.wikipedia.org/wiki/Andreas_Kieling • Interview mit Andreas Kieling: Süddeutsche Zeitung 15.02.2019

Anhang 2: Quellen + Anmerkungen

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Kapitel 6 • Peter L. Berger: „Erlösendes Lachen – Das Komische in der menschlichen Erfahrung“; Walter de Gruyter, de Gruyter, Berlin, New York 1998 • Manfred Geier: „Worüber kluge Menschen lachen“, Rowohlt, Reinbek 2006 • John Vonhaus: „Handwerk Humor“; Zweitausendeins, Frankfurt am Main 2001

Kapitel 7 • Rezo „Die Zerstörung der CDU“ https://www.youtube.com/watch?v=4Y1lZQsyuSQ. Es fällt schwer bei diesem Sprechtempo die Verallgemeinerungen, die Argumentlinie und die genaue Beweisführung sowie deren mögliche Fehler mitzubekommen. • Daniel Kahnemann: „Schnelles Denken – Langsames Denken“; Penguin-Verlag, München 72012; S. 164 ff: „Die Wissenschaft der Verfügbarkeit“.

Kapitel 8 Dan Dedui von der Universität Lyon, zitiert in: Lucian Haas „Alle Sprachen kommunizieren gleich schnell“ in „Forschung aktuell“, DLF vom 5. September 2019

Kapitel 10 • Karl R. Gegenfurtner „Wahrnehmung und Gehirn“; Fischer Taschenbuchverlang, Frankfurt am Main 2003 • Paul Watzlawik (Hrsg.) „Die erfundene Wirklichkeit – Wie wir wissen, was wir zu wissen glauben“; Serie Piper, München 71991 • Eric Kandel „Das Zeitalter der Erkenntnis“; Siedler, München 2012 • Michael Hauskeller (Hrsg.) „Die Kunst der Wahrnehmung – Beiträge zu einer Philosophie der sinnlichen Erkenntnis; 2003 Die Graue Edition, SFG-Servicecenter Fachverlage GmbH Kunsterdingen • Bernward Wember: „Objektiver Dokumentarfilm – Modell einer Analyse“; Colloqium Verlag, Berlin 1972. Der Begriff „Bild-Text-Schere“ ist von dem Medienwissenschaftler Bernward Wember geprägt. Er wurde gefestigt in der filmischen Untersuchung an der Nordirland-Berichterstattung des ZDF „Wie informiert das Fernsehen?“ 1972. Wember zeigt deutlich, dass in der dokumentarischen Berichterstattung der Filmtext häufig monoman agiert, parallel, aber ohne Beziehung zu den Filmszenen 365

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Anhang

und Geräuschen. Seither gehört dieser Begriff zum professionellen Vokabular von Filmemachern, wird aber oft für jede Art von Störung der Beziehung von Bild und Text verwendet. Für die Praxis günstiger zeigt sich eine Differenzierung nach Art der Störungen (Text-Bild-Kollision; Text-Bild-Verklebung; Text-BildSchere; Text-Bild-Erwürgung). Dann kann man diese leichter beseitigen. • Johann Wolfgang von Goethe „Wahlverwandtschaften“, Zweiter Teil, II; Manesse Verlag, Zürich 1996, S. 199 f.: „Wir hören von einer besonderen Einrichtung bei der englischen Marine. Sämtliche Tauwerke der königlichen Flotte, vom stärksten bis zum schwächsten, sind dergestalt gesponnen, daß ein roter Faden durch das Ganze durchgeht, den man nicht herauswinden kann, ohne alles aufzulösen, und woran auch die kleinsten Stücke kenntlich sind, daß sie der Krone gehören. Ebenso zieht sich durch Ottiliens Tagebuch ein Faden der Neigung und Anhänglichkeit, der alles verbindet und das Ganze bezeichnet. Dadurch werden Bemerkungen, Betrachtungen, ausgezogene Sinnsprüche und was sonst vorkommen mag, der Schreibenden ganz besonders eigen und für sie von Bedeutung.“

• Albert Newen (2016): Defending the liberal-content view of perceptual experience: direct social perception of emotions and person impressions, Synthese, DOI: 10.1007/s11229-016-1030-3 http://aktuell.ruhr-uni-bochum.de/pm2016/pm00022.html.de • Werner Stangl „Lexikon für Psychologie und Pädagogik“; Linz 2019 https://lexikon.stangl.eu/1708/selektive-wahrnehmung/ • Woody Allen: „Ehemänner und Ehefrauen“ (USA 1992); DVD. In diesem Film wird eine dokumentarische Recherche mit Handkamera und O-Tönen imitiert. Es gibt noch einige weitere, aber insgesamt sehr wenige Spielfilme, die O-Ton in dieser Form verwenden. Immer imitieren sie eine dokumentarische Drehpraxis.

Kapitel 11 • „Tausendundeine Nacht“, übertragen von Claudia Ott; Beck, München 72004, S. 251