Das Undenkbare filmen: Atomkrieg im Kino [1. Aufl.] 9783839419953

Der Atomkrieg ist auch ein Ereignis des Films. Während des Kalten Krieges war es vor allem das Kino, das einem großen Pu

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Das Undenkbare filmen: Atomkrieg im Kino [1. Aufl.]
 9783839419953

Table of contents :
Inhalt
Das Undenkbare filmen. Einleitung
Das Unvermeidliche vermeiden. Jayne Loaders, Kevin und Pierce Raffertys. The Atomic Café (1982)
Will the Survivors watch TV? Peter Watkins’ The War Game (1965)
Ausfallsicher. Sidney Lumets Fail-Safe (1964)
Zeiten des Endes. Konstantin Lopušanskijs Briefe eines Toten (1986)
Umkreisung, Stillstand, Tod. Chris Markers La Jetée (1962)
Krieg spielen. Bruce Conners Crossroads (1976)
Autorinnen und Autoren

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Tobias Nanz, Johannes Pause (Hg.) Das Undenkbare filmen

Film

Tobias Nanz, Johannes Pause (Hg.)

Das Undenkbare filmen Atomkrieg im Kino

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2013 transcript Verlag, Bielefeld

Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlagkonzept: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Umschlagabbildung: United States Department of Defense, Operation Crossroads, Bikini Atoll, 25. Juli 1946 (public domain) Lektorat & Satz: Tobias Nanz und Johannes Pause Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar ISBN 978-3-8376-1995-9 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

Inhalt

Das Undenkbare filmen Einleitung

Tobias Nanz und Johannes Pause | 7 Das Unvermeidliche vermeiden Jayne Loaders, Kevin und Pierce Raffertys The Atomic Café (1982) Sascha Simons | 25 Will the Survivors watch TV? Peter Watkins’ The War Game (1965) Johannes Pause | 53 Ausfallsicher Sidney Lumets Fail-Safe (1964) Tobias Nanz | 85 Zeiten des Endes Konstantin Lopušanskijs Briefe eines Toten (1986) Barbara Wurm | 103 Umkreisung, Stillstand, Tod Chris Markers La Jetée (1962) Lars Nowak | 129 Krieg spielen Bruce Conners Crossroads (1976) Eva Kernbauer | 157 Autorinnen und Autoren | 175

Das Undenkbare filmen Einleitung T OBIAS N ANZ UND J OHANNES P AUSE

„Das Undenkbare denken.“ Dieser Satz steht wie kein anderer für den US-amerikanischen Strategen und Politikberater Herman Kahn, der im Kalten Krieg mit den Mitarbeitern seines Think-Tanks verschiedene Szenarien eines Atomkriegs durchspielte und so der Politik wie auch der Gesellschaft die Folgen möglicher Kampfhandlungen zwischen den Vereinigten Staaten und der Sowjetunion vor Augen führte. Gedankenexperimente, Rollenspiele und Simulationen dienten ihm und seinen Mitarbeitern als Methoden, um die Folgen eines „begrenzten“ oder gar „wahnwitzige[n]“1 Atomkriegs zu erforschen. Die Politik der Abschreckung trieb Kahn im Gedankenspiel auf die Spitze, indem er das Konzept einer „Doomsday Machine“2 entwarf, welche im Falle einer Zündung von fünf sowjetischen Atombomben über amerikanischem Gebiet computergesteuert und automatisert den gesamten Planeten zerstören sollte. Diese und ähnliche Überlegungen dienten ihm dazu, sich Klarheit über die militärischen Strategien des Kalten Krieges zu verschaffen und die wünschenswerten Eigenschaften einer Abschreckungswaffe zu entwickeln. Die Strategie solcher Gedankenexperimente scheint

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Kahn 1966, S. 187, 250.

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Kahn 1969, S. 145.

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darin zu bestehen, „die Blockaden und Abwehrmechanismen des Denkens zu umgehen“ und auf diese Weise „so etwas wie das ‚Undenkbare‘ systematisch [zu] erzeugen.“3 Welche neue Qualität dieses Undenkbare hat, wird an einer Frage deutlich, die Kahn seinen Kritikern aus militärischen Kreisen gerne gestellt hat: „[H]ow many thermonuclear wars have you fought? Our research shows that you need to fight a dozen or so to get a feel for it.“4 Die Folgen eines Atomkrieges kann niemand kennen, da dieser bislang – glücklicherweise – noch nicht stattgefunden hat. Man kann die Auswirkungen allein entweder berechnen und durchdenken, wie Kahn und sein Think-Tank dies getan haben; oder man kann Szenarien der Nuklearkatastrophe im Kino, im Fernsehen oder in der Literatur herstellen und die Zuschauer oder die Leser so imaginativ in einen Zustand der nuklearen Postapokalypse versetzen.5 Wie Jacques Derrida einmal festgestellt hat, gilt es zwischen der „Fiktion des Krieges“ und der „‚Realität‘ des Atomzeitalters“6 zu unterscheiden: Die Fiktionen der Literatur und des Films, aber auch jene der Gedankenexperimente und Simulationen, entwerfen virtuelle Szenarien des Atomkrieges und der Zeit danach, die auf die Lebenswirklichkeit der Kalten-Kriegs-Gesellschaften entscheidend ausgestrahlt haben. Das Denken der undenkbaren Zukunft hat Folgen für die Gegenwart, wird doch das kollektive Imaginäre durch die Drohkulissen der Abschreckungspolitik neu formatiert. Zugleich existiert der Atomkrieg nur, weil von ihm gesprochen wird,7 weil er erdacht, berechnet

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Pias 2009a, S. 16.

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Bruce-Briggs 2000, S. 51.

5

Die Atombombe ist nach Jerome Shapiro gerade durch das Kino zu einem „emblem of the apocalyptic imagination“ geworden: Vgl. Shapiro 2002, S. 307.

6

Derrida 2009, S. 87.

7

Vgl. Derrida 2009, S. 87. Wie Hans Krah feststellt, ist der „Diskurs über die Katastrophe“ aus diesem Grund „in spezifischem und emphatischem Sinne ein Diskurs, etabliert er doch erst das, worüber er redet, und schafft

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und simuliert sowie auf der Kinoleinwand oder in einem Buch entworfen wird. Er erweist sich somit als ein diskursives Phänomen, das durch Medien erzeugt und in seinen stärksten Ausprägungen bis über das Ende des Kalten Krieges hinaus am Leben erhalten wurde. Die postapokalyptischen Szenarien, die die Beiträge des vorliegenden Bandes aufgreifen, eint nicht allein der Aufruf der Atombombe oder einer Atomkatastrophe, sondern eine Positionierung in einem spezifischen Gefüge von Wissen, Macht und Medien. Denn die Atomkriegsfilme spiegeln nicht nur die Ängste der Gesellschaft oder Annahmen über Charakter und Verhaltensweisen der beiden Machtblöcke wider. Vielmehr nehmen sie selbst an der Produktion eines hypothetischen Wissens teil, das für die Epistemologie des Kalten Kriegs eine grundlegende Bedeutung besitzt, beständig Machteffekte generiert und in seiner Konstitution grundlegend von technischen Medien abhängt. Eine Analyse von Atomkriegsfilmen muss daher darauf zielen, die Geschichte des Kalten Krieges nicht allein in die Hände historisch arbeitender Textdisziplinen zu legen, sondern zu fragen, inwiefern die Filme selbst aktiv an der Geschichte mitschreiben. Damit soll nicht die Grenze zwischen filmischer Fiktion und lebensweltlichen Geschehnissen geleugnet, sondern konstatiert werden, dass Filme wie auch Akten, Dokumente oder Zeugnisse verschiedener Zeitgenossen ebenso Aussagen produzieren, die gleichermaßen den Diskurs des Kalten Krieges formieren.8 Auch sie erzeugen ein Milieu, in dem sich die diskursiven Gegenstände und Aussagen bilden, und können vielleicht genau das aussprechen, was keine Akte oder politische Rede jemals sagen könnte. Und sie befeuern den Diskurs, indem sie Impulse zu einer Reihe von Aussagen und Kommentaren liefern, die etwa Gründe zur Zensur eines Films angeben, die Abwegigkeit des Gegenstandes vorführen oder die Bevölkerung beruhigen respektive beunruhigen mögen.

er dadurch eine Machtposition über das, worüber geredet wird.“ Vgl. Krah 2004, S. 370. 8

Vgl. Gilles Deleuze über Michel Foucaults Diskursanalyse: Deleuze 1992, S. 34. 

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Mit dem Wissen um eine zukünftige Katastrophe, das das Leben der Menschen prägt, schließen die Filme augenscheinlich an Tradition und Metaphorik der Apokalyptik an, deren Bedeutungswandel von der ursprünglichen „Offenbarung“ zum „Ende der Welt“ sie zugleich vollenden.9 Denn während noch die Offenbarung des Johannes den Christen in sieben kleinasiatischen Gemeinden ein ‚neues Jerusalem‘ nach dem Weltuntergang in Aussicht stellte und auf diese Weise ein privilegiertes, geheimes Zukunftswissen artikulierte, erlebte die Apokalypse seit dem 18. Jahrhundert eine Säkularisierung. Das Erdbeben von Lissabon im Jahr 1755, dessen katastrophale Auswirkungen ganz Europa erschütterten, brachte auch Gottfried Wilhelm Leibniz’ Theodizee ins Wanken: In der bestmöglichen aller Welten, die Gott auswählt und auf der Erde aktualisiert,10 schien ein Erdbeben solchen Ausmaßes keinen Platz zu haben. Die Herbeiführung des Weltendes war seitdem nicht allein ein Privileg Gottes, sondern konnte ebenso durch eine Naturkatastrophe ausgelöst werden. Eine naturwissenschaftliche Schrift Immanuel Kants zur „Frage, ob die Erde veralte“, mag beispielhaft für diesen Wandel stehen, in der der Königsberger Philosoph die Untergangsbeschreibung der biblischen Offenbarung neben seinen Überlegungen zu einem Weltende stellt, das durch natürliche Zerfallsprozesse bedingt ist.11 Durch diese Säkularisierung ist vielen modernen Apokalypsen der Erlösungscharakter abhandengekommen. Sie bestehen nunmehr in einer „kupierten“12 Form, die nur noch den Untergang thematisiert und die zweite Hälfte ausspart, die dem Weltende den Sinn verleiht. In den apokalyptischen Erzählungen, die seit der Romantik zu einem eigenständigen literarischen Genre werden, liefert der Untergang der Welt daher keinen Deutungsrahmen mehr, sondern markiert dessen Abwesenheit – und fordert gerade deshalb zu neuen Sinnstiftungsver-

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Vgl. zu apokalyptischen Motiven im Film Pezzoli-Oligati 2009.

10 Vgl. Leibniz 1996, v.a. Bd. 2, S. 261-269.  11 Vgl. Metzner 1976, S. 5f. und Kant 1961. 12 Vondung 1988, S. 12.

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suchen heraus.13 Das gilt in verstärkter Form für die atomare Apokalypse, ist es hier doch der Mensch selbst, der die Voraussetzungen des Untergangs geschaffen hat und der somit selbst über Sinn und Unsinn seines Daseins verfügen kann. Der imaginierte Weltuntergang tritt nun als Konsequenz einer kühlen militärischen Prognostik auf den Plan, die sich selbst als Ursache und Möglichkeitsbedingung der Apokalypse erkennen muss. Der Untergang ist im Falle des Atomkriegs somit die Folge des Wissens, nicht mehr nur sein Gegenstand, und der Forscher erfährt von der Drohung dieses Untergangs weder von höheren Kräften noch aus einer genauen Beobachtung der Natur, er stellt die Katastrophe vielmehr selbst zu bestimmten Zwecken her, betreibt mit ihr Politik und inszeniert ihre Steuer- und Kontrollierbarkeit. Das Ende der Zeit resultiert nicht mehr aus göttlicher Prädestination, sondern wird zum möglichen Resultat einer politischen Krise, für welche die apokalyptische Narration nun Lösungen anbieten oder vor deren wahrscheinlichem Verlauf sie warnen kann.14 Die Katastrophe wird im Dienst einer bestimmten Politik prognostiziert, simuliert sowie imaginiert und erscheint als eine unter mehreren Handlungsoptionen, die offen gegen andere Alternativen abgewogen werden kann. „Better dead than red“ lautete dementsprechend einer der bekanntesten US-amerikanischen Slogans des Kalten Kriegs. Das Wissen vom Untergang erhält auf diese Weise höchste politische Brisanz. Im gleichen Zug lässt es die Grenzen zwischen Empirie und Theorie verschwimmen, basiert doch die Erforschung des möglichen Untergangs auf der Vorwegnahme militärischer Entscheidungen, die ihrerseits jedoch erst auf der Grundlage solcher Berechnungen getroffen werden. Diese zirkuläre Situation bedingt, dass nur die stetige Imagination des Untergangs dessen realen Eintritt verhindern kann: Die simulierte Aktualisierung des Kriegs hat den Zweck, die reale Ak-

13 Nach Frank Kermode entwerfen solche Erzählungen allerdings gerade dadurch einen neuen Sinn, dass sie der ungreifbaren Endlosigkeit der Welt eine fiktive Begrenzung verleihen. Vgl. Kermode 1967, S. 37.  14 Vgl. Podrez 2011, S. 12.

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tualisierung zu verhindern, indem solche Gedankenexperimente zum Atomkrieg und einem Leben oder Sterben danach als ein probates Mittel der Abschreckung erscheinen. Das „Denken des Atomkriegs“ findet also nicht allein „unter der Bedingung“, sondern auch mit dem Zweck statt, „daß dieser nicht stattfindet.“15 Indem auch das Kino an der Produktion fiktionaler Atomkriege teilnimmt, wird es zu einem jener Akteure, die den realen Untergang zu verhindern oder zumindest aufzuschieben versuchen. Nun gibt es „kein Wissen, das nicht gleichzeitig Machtbeziehungen voraussetzt und konstituiert.“16 Die Ausübung von Macht, sei es in einer Disziplinar- oder Kontrollgesellschaft, setzt ein spezifisches Wissen etwa über eine Bevölkerung frei, während dieses gewonnene Wissen erneut zu Zwecken der Disziplinierung und Kontrolle verwendet werden kann. Eine solche enge Beziehung von Macht und Wissen ist auch in der apokalyptischen Tradition gegeben. So hat Hartmut Böhme darauf hingewiesen, dass die Apokalyptik eine Literaturform ist, in der der Autor nicht selbstbestimmt, sondern fremdgesteuert schreibt. Johannes ist das „vermittelnde Schreibgerät der göttlichen Schrift“,17 da der Prophet die göttliche Nachricht durch eine Vision empfängt und mechanisch niederschreibt, um schließlich die apokalyptische Botschaft als Durchhalteparole an die sieben Gemeinden zu versenden. Das „Schreiben [wird] zum Schauplatz eines Anderen, nämlich Gottes, dessen Autorität die Schrift heiligt“18 und der – um es mit der Psychoanalyse Jacques Lacans auszudrücken – als Herrensignifikant Johannes und die Gläubigen ausrichtet.19 Der göttliche Heilsplan macht Johannes zu einer willenlosen Marionette und sucht die Gläubigen in der Provinz in der christlichen Gemeinde zu halten. Dazu lockt er mit einem Wissen, das ein Paradies nach dem jüngsten Gericht verspricht.

15 Pias 2009b, S. 178. 16 Foucault 1994, S. 39. 17 Böhme 1988, S. 384. 18 Ebd. 19 Vgl. Lacan 1997, S. 322f.

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In vielen postapokalyptischen Szenarien, die der Film bereitstellt, werden gleichermaßen eine Zurichtung des Subjekts oder der Gesellschaft verhandelt. Deutlich wird dies bereits bei den amerikanischen Zivilschutzfilmen der 1950er und 1960er Jahre, die bei weitem nicht alleine die Bevölkerung auf einen möglichen Atomkrieg vorbereiten sollten: Filme wie Survival Under Atomic Attack oder Duck and Cover (beide USA 1951) zeigen Menschen, die ruhig und geordnet die Bunker aufsuchen; sie befassen sich mit der Pflege der Vorgärten, die dem Feuersturm wenig Brennstoff liefern sollen; und sie zeigen die Hausfrau, die die Sorge für die Nahrungsreserven zu tragen hat. Sie führen eine Ausdifferenzierung von Aufgabenbereichen innerhalb der Familie und der Gesellschaft vor, während die Kinder in der Schule oder beim vermeintlich sorgenfreien Spiel im Wald oder in der Stadt auf die ständige Gefahr vorbereitet werden. Die Zivilschutzfilme dienen nicht nur dazu, die amerikanischen Bürger an die atomare Gefahr zu gewöhnen und diese zu verharmlosen,20 sondern sie sind zugleich Verhaltensratgeber, die im Subtext die Konzeption einer gewünschten Gesellschaft entwickeln.21 Gleichzeitig betreiben sie ein Management der Angst: Die Zivilschutzfilme wie auch die großen Produktionen der Filmstudios in Hollywood rückten die nukleare Bedrohung wieder ins öffentliche Bewusstsein, die sonst von der „Apokalypse-Blindheit“22 der Bevölkerungen verdrängt wurde. Solche Filme befeuern im Kalten Krieg das Spiel zwischen „Ausblendung und Konfrontation“ der atomaren Drohung und setzen die Menschen in einen emotionalen Zwiespalt von „Angst und Angstlust“.23 Schließlich sind es die Medien, die postapokalyptische Szenarien überhaupt erst denkbar machen und damit als ein zentraler Bestandteil dem unauflöslichen Gefüge von Wissen und Macht beitreten. So konn-

20 Für die Verharmlosungsstrategien des „Civil Defence“ der Vereinigten Staaten siehe Anders 1981, S. 78f. 21 Vgl. Signori 2010, S. 69. 22 Anders 1987, S. 233-324 und Anders 1981, S. 106-125. 23 Payk 2013, S. 330.

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te der nukleare Winter – eine mögliche Konsequenz des Atomkriegs – erst diskutiert werden, nachdem Computerberechnungen die Staubund Rauchwolkenbildung in der Atmosphäre aufgrund einer Zündung von mehreren Atombomben simuliert hatten. Die dadurch hervorgerufene Blockade des Sonnenlichts, so ein mögliches Schicksal, würde den wenigen Überlebenden eine lebensfeindliche und bis zu -23°C kalte Welt hinterlassen.24 Der Entwurf solcher prognostischer Szenarien generiert ein Wissen, das es ermöglicht, „vom Ende her Licht auf die Gegenwart“25 zu werfen und auf diese Weise die möglichen Ereignisse und Ursachen zu rekonstruieren, die für ein projektiertes Worst-CaseSzenario verantwortlich sein mögen. Die Erzeugung des Undenkbaren basiert somit nicht allein auf einer datengestützten Berechnung wahrscheinlicher Entwicklungen, sondern auch auf dem bewussten Einsatz von Fiktionen: Welches Ereignis als Auslöser des Atomkriegs angenommen wird und welche Ausmaße dieser in der Simulation annehmen soll, sind zunächst willkürliche Entscheidungen. Auf ihrer Grundlage findet erst die Berechnung der Folgen statt, welche dann in erzählbaren, sinnlich erfahrbaren Szenarien veranschaulicht werden.26 Die Konstruktion des Atomkriegs durch unterschiedliche Medien lässt zugleich die Eigenheiten und Operationsweisen der jeweiligen Medien zu Tage treten. Der Film und das Kino mögen diejenigen Medien sein, die einen Atomkrieg für ein großes Publikum erfahrbar machen und einen „Traum“ – besser: Alptraum – „real“27 werden lassen. Der Rezipient nimmt dabei eine offenkundig unmögliche Position ein: Kein Mensch kann vom Ende der Welt berichten oder den Weltuntergang beobachten, da er selbst ein Teil dessen sein müsste, was im gleichen Moment zu Ende sein soll.28 Sitzt er aber im Kino und sieht die Explosion einer oder mehrerer Atombomben, so mag den Zuschauer

24 Vgl. Brandstetter 2005, S. 149f. 25 Horn 2009, S. 95. 26 Vgl. ebd., S. 93f.  27 Münsterberg 1996, S. 39. 28 Vgl. Böhme 1988, S. 380.

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das Schauern einer Erhabenheitserfahrung überkommen, 29 die von den entfesselten Kräften menschlicher Technologie herrührt und die Dialektik der Aufklärung ein weiteres Mal unter Beweis stellt. Denn das Kinoerlebnis ermöglicht Teilhabe und Distanz gleichermaßen: Es konfrontiert den Zuschauer mit einem menschengemachten Schrecken, den er in der Fiktion beherrschen kann und der doch sein Fassungsvermögen übersteigt,30 und belässt ihn zugleich in der sicheren Distanz desjenigen, der die Katastrophe nur als Außenstehender erlebt. Die Atomkriegsfilme befriedigen die Angstlust des Menschen, jene gemischte und paradoxale Emotionslage, die die Lust an negativen Gefühlen beschreibt und mit den Schrecken des Todes und der Vernichtung spielt.31 Diese Distanz des Außenstehenden schwindet allerdings zunehmend, da sich die Grenze zwischen der „direkt sichtbaren Realität und ihrer medialen Darstellung [...]“32 in der Auflösung befindet. Was bleibt, so Paul Virilio zur Verwandtschaft von Krieg und Kino, ist die Projektion eines letzten Bildes der Welt, die sich im Filmbild entmaterialisiert. Auch der Ästhetik des Erhabenen schließen die filmischen Visionen des Atomkriegs an die Tradition christlicher Apokalyptik an. In der Offenbarung des Johannes wird das Weltende als unmittelbare Schau gestaltet, als Zukunft, die für den Apokalyptiker zur reinen Gegenwart wird. Wie Hartmut Böhme gezeigt hat, steht diese präsentische Bildlichkeit des Untergangs in einem komplexen Verhältnis zu der schriftlichen Entfaltung des Wissens, die durch den biblischen Text vorgenommen wird. Einerseits nämlich ist die Schrift der Apokalypse Resultat einer Übersetzung der sinnlich erfahrenen Ereignisse, die ihr in der Vision des Propheten Johannes vorausgingen. Andererseits ba-

29 Vgl. Koschorke 1997, S. 335. 30 Susan Sontag sprach von einer „komplicenhaften (sic) Beziehung zum Entsetzlichen“, welche die filmischen „Katastrophenphantasien“ einrichteten. Vgl. Sontag 2003, S. 298.  31 Vgl. Anz 2013, S. 206 und 209. 32 Virlio 1989, S. 161f.

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sieren die Visionen des Weltendes selbst auf einem Text und sind somit eine Art „‚Film‘ der Schrift, die Visualisierung nämlich der siebenfach versiegelten Buchrolle.“33 In der Apokalypse fließen Zeichen und Bild so beständig ineinander, wird symbolisches Wissen immer von neuem in sinnliche, unmittelbare Erfahrung übersetzt und andersherum. Im Kalten Krieg tritt das Filmbild an die Stelle der Offenbarung. Für die Produktion des Apokalyptischen zeigt sich der Film als überaus geeignet, entwirft er doch genauso wie die biblischen Visionen Bilder, die einerseits wie Zeichen Träger von Bedeutung und also lesbar sind, andererseits aber auf immersives und gegenwärtiges Erleben zielen. Die filmischen Szenarien, die die Beiträge dieses Bandes besprechen, zielen nicht alle auf ein Eintauchen des Zuschauers in die jeweilige apokalyptische Vision, sondern eröffnen dem Genre des Atomkriegskinos ein selbstreflexives Potential. So kann etwa die mediale Produktion eines prekären apokalyptischen Wissens selbst zum Thema werden, die ästhetische Dimension der Explosionen ausgestellt, die Rezeptionssituation thematisiert oder das Verhältnis von bildlichem und schriftlichem Wissen ausgehandelt werden. Die Filme denken so nicht allein über das Undenkbare des Atomkriegs nach, sie entwerfen auch ein autoreflexives Wissen über filmische Medien und ihre spezifische Bedeutung für die diskursiven Konstellationen des Kalten Kriegs. Stand in der Forschung zu Apokalypse-Narrationen in Film und Literatur des 20. Jahrhunderts bislang vor allem die Frage nach den sinnstiftenden Funktionen der Werke im Vordergrund,34 soll hier ein anderer Weg eingeschlagen werden. Ausgespart bleiben daher auch eine Vielzahl kanonischer Werke, in denen der Atomkrieg etwa zum Ausgangspunkt neuer utopischer oder dystopischer Gesellschaftsentwürfe wird35 oder als Chiffre modernen Sinnverlustes fungiert. 36 Der vorlie-

33 Böhme 1988, S 385. 34 Vgl. Krah 2004, S. 10f. 35 So bereits in frühen Filmen wie Things to Come (USA 1936, William Cameron Menzies), in dem noch ein konventioneller Krieg Auslöschung und Wiederaufbau der Zivilisation nach sich zieht, oder in populären

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gende Band unternimmt nicht den Versuch, das Genre des Atomkriegskinos zu definieren und in repräsentativer Breite oder gar in seiner Gesamtheit zu erfassen.37 Vielmehr wurden einige wenige bemerkenswerte Werke ausgewählt, die in den 1960er bis 1980er Jahren entstanden sind und auf die drei Problemfelder Wissen, Macht und Medien in besonders kreativer Weise reagiert haben. Im Vordergrund steht nicht ihr exemplarischer Charakter, sondern ihr reflexives Potential, das ihnen erlaubt, die Diskurse, denen sie entstammen und die sie weiterschreiben, gleichzeitig zu analysieren, zu kritisieren oder gar zu modifizieren. Eine Kritik an historiographischer Teleologie und damit an der Geschichte der Atombombe wird von Sascha Simons in seinem Beitrag „Das Unvermeidliche vermeiden“ formuliert. Er analysiert die Montageformen, die in dem bekannten Found-Footage-Film der Regisseure Jayne Loader sowie Kevin und Pierce Rafferty aus dem Jahr 1982 zur Anwendung kommen, und zeigt in Auseinandersetzung mit klassischen Montage-Theorien auf, wie der Film gegenüber den Werken, auf die er sich bezieht, ein reflexives und emanzipatorisches Potential entwickelt. Scheint der Film zu Beginn noch die Geschichte des Kalten Kriegs anhand der recherchierten Dokumente chronologisch zu rekonstruieren, wird im weiteren Fortgang das Augenmerk auf die filmischen Formen

Hollywood-Filmen wie Planet of the Apes (USA 1968, Franklin J. Schaffner). Wie die Studie Hans Krahs an zahlreichen Beispielen belegt, bleiben auch im Kalten Krieg Versuche der Sinnstiftung ein zentrales Anliegen apokalyptischer Texte und Filme. Der Atomkrieg wird dabei häufig zu einer Art Naturkatastrophe verharmlost, die plötzlich über die unschuldigen Menschen hereinbricht und einen mühsamen Neuaufbau der Gesellschaft nach sich zieht. Vgl. Krah 2004. 36 Etwa in On the Beach (USA 1959, Stanley Kramer) oder in satirischen Werken wie The Bed Sitting Room (GB 1969, Richard Lester).  37 Einen umfassenden Überblick skizzieren u.a. Broderick 1991, Evans 1998, Perrine 1998, Shapiro 2002. 

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des Erinnerns selbst gerichtet. Die mit den dokumentarischen Aufnahmen verbundenen Implikationen von Realismus und historischer Notwendigkeit werden auf diese Weise subtil unterwandert. The Atomic Café entfaltet nach Simons sein kritisches Potential gerade dadurch, dass er die politische Kritik mit einer Analyse der medialen Speicher und Formen verbindet, in welchen der Atomkrieg einzig existiert. Indem der Beitrag den Film als ein Medium etabliert, das Bilder und Narrationen nicht nur erzeugt, sondern über diese auch nachzudenken in der Lage ist, gibt er eine der grundlegenden Stoßrichtungen der in diesem Band versammelten Analysen vor. The Atomic Café zeigt eine Welt vor dem Atomkrieg, in der die filmische Imagination seines Ausbruchs zu einem stetigen Begleiter geworden ist. Wie konkret ein solcher Ernstfall ablaufen könnte, führt Peter Watkins’ The War Game aus dem Jahr 1965 in Form eines hypothetischen Szenarios vor. Der für die BBC gedrehte Fernsehfilm, der in den 1960er Jahren einen der größten Zensur-Skandale der europäischen Filmgeschichte auslöste, setzt sich dabei implizit mit den Zivilschutzfilmen des Kalten Kriegs auseinander. Johannes Pauses Aufsatz „Will the Survivors watch TV?“ richtet das Augenmerk auf die disziplinatorischen Effekte dieser filmischen Simulationen des Ernstfalls, deren spezifische Ästhetik in Watkins’ Film dekonstruiert wird. Zudem ist The War Game als ein Kommentar auf die politische Funktion des Mediums Fernsehen lesbar, dessen normalisierende Effekte Watkins durch den Einsatz widersprüchlicher filmischer Mittel ausstellt und unterläuft. Gegen die modellartig inszenierten Szenarien des Zivilschutzfilms setzt Watkins die Gegenwarts- und Ereignis-Ästhetik des Fernsehens, die jede Illusion von Kontrolle aufhebt. Die Bewohner der betroffenen Städte reagieren angesichts eines Nuklearangriffs eben nicht besonnen, diszipliniert und zivilisiert, sondern verlieren jeden Sinn für gemeinschaftliche Hilfe und bewegen sich plündernd und mordend durch die Straßen. Die Zivilgesellschaft und die staatliche Ordnung haben vor dem Hintergrund einer Atomexplosion abgedankt. Fragen der staatlichen Macht und Kontrolle werden auch im Beitrag von Tobias Nanz zentral behandelt, der in seiner Analyse „Aus-

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fallsicher“ zu Sidney Lumets Fail-Safe der Frage nachgeht, wer die oberste Befehlsgewalt über die Soldaten und die atomar hochgerüsteten Waffenlager hat. Der Film, der 1964 seine Premiere hatte, ist – obgleich die beiden Filme und ihre Romanvorlagen große Ähnlichkeiten aufweisen – ein Gegenentwurf zum wenige Monate vorher erschienenen und ungleich bekannteren Film Dr. Strangelove, der von Stanley Kubrick als Satire angelegt wurde. Fail-Safe ist ein Thriller, der noch ganz im Schatten der Kuba Krise steht und die Schreckensvision eines Atomkriegs zeichnet. Der Ausgangspunkt der katastrophalen Entwicklung, die in der Zerstörung Moskaus und New Yorks endet, ist ein technischer Defekt, der eine Staffel der US Air Force zum Angriff auf die Sowjetunion befiehlt. Die Dramaturgie Fail-Safes besteht darin, die Verteilung der Macht und Befehlsgewalt zwischen menschlichen und nichtmenschlichen Agenten zu beobachten und gleichzeitig vorzuführen, inwiefern dem Präsidenten und seinen Offizieren der Zugriff auf die Ereigniskette entzogen wird, die in einem umfassenden Atomkrieg enden könnte. Und obgleich eine Verhandlungslösung über das Rote Telefon diesen verhindern kann, belegt der Film die Abhängigkeit der Staatsführung von technischen Medien hinsichtlich der Lagebestimmung, der Kriegsführung und Verteidigung sowie der Verhandlungen mittels Kommunikationsdispositiven. Während Fail-Safe noch Verfahren der Eskalation und Deeskalation vorführt und die postnukleare Lebenswirklichkeit ausblendet, ist Konstantin Lopušanskijs Briefe eines Toten aus dem Jahr 1986 dezidiert ein Film, der nach der Atomkatastrophe spielt und das Darben der Überlebenden in den Ruinen der Städte und in ihrer lebensfeindlichen Umwelt zeigt. Barbara Wurm sondiert in ihrem Aufsatz „Zeiten des Endes“ zunächst den politischen und wissenschaftlichen Diskurs der 1980er Jahre und verknüpft diesen mit dem filmischen Lopušanskijs. Ausgangspunkt der Katastrophe sind ein Computerfehler und eine verzögerte Reaktion des wachhabenden Offiziers – also erneut ein unglückliches Zusammenspiel von menschlichen und nichtmenschlichen Agenten –, die als Folge einen Atomkrieg und schließlich eine lebensfeindliche Welt hervorrufen, welche in einen nuklearen Winter einge-

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bettet ist. Im Fokus der Analyse steht dabei die spezifische Zeitlichkeit der postnuklearen sowie heterotopischen Wirklichkeit. Wurm stellt der apokalyptischen Zeit die messianische gegenüber, wägt also das Ende der Zeit mit einer Zeit des Endes ab, und erkennt im Helden Dr. Larsen einen Anhänger der Zeit des Endes, in welcher noch die Hoffnung auf eine Vollendung der Heilserwartung geborgen ist. Larsens Absicht ist es, die Apokalypse zu widerlegen, was ihn letztlich zu seinem Glauben antreibt, noch unverseuchte und damit lebensfreundliche Zonen ausfindig zu machen. Fragen der Zeitlichkeit stehen auch im Mittelpunkt von Chris Markers fast ausschließlich aus Standbildern kompiliertem Kurzfilm La Jetée aus dem Jahr 1962, in dem der Protagonist mehrere Zeitreisen von der postapokalyptischen Gegenwart in die Vergangenheit des Kalten Kriegs und in die ferne Zukunft einer gänzlich veränderten Welt unternimmt. Der Atomkrieg selbst bleibt dabei ausgespart und bildet so eine Art traumatische Leerstelle des Wissens, um welche die Handlung organisiert ist. Lars Nowak setzt in seinem Aufsatz „Umkreisung, Stillstand, Tod“ den Dritten Weltkrieg als Ausgangspunkt des Filmes und zeigt, wie in La Jetée anstelle einer chronologischen Narration ein Kaleidoskop von privaten Erinnerungen und Bildern des kulturellen Gedächtnisses tritt, in dem auch die Zerstörungen des Zweiten Weltkriegs enthalten sind. Auf diese Weise werden Vor- und Nachgeschichte des Atomkriegs bei Marker miteinander verwoben. Die spezifische Zeitlichkeit des Kalten Kriegs wird in dem Bild des seinem eigenen Tod beiwohnenden Protagonisten verdichtet, das die Freud’sche Urszene in ihr Gegenteil verkehrt. Das Leben im Zeichen eines allgegenwärtigen Todes wird zudem auf ästhetischer und medialer Ebene deutlich, lässt die Immobilität der Standbilder doch – im Gegensatz zur Mobilität des Helden – auch die Bewegung des Films erstarren. Referiert La Jetée auf ästhetischer Ebene unverkennbar auf das kollektive Bildgedächtnis des 20. Jahrhunderts, so ist es doch erstaunlich, dass die Bilder der Atombombe bei Marker – ebenso wie bei Lumet – ausgespart bleiben. Ganz anders verfährt hier der Experimentalfilm Crossroads des US-amerikanischen Künstlers und Filmemachers

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Bruce Conner, der mit La Jetée allerdings das Thema der Bildlichkeit teilt. In Eva Kernbauers Aufsatz „Krieg spielen“ stehen die ikonisch gewordenen Filmaufnahmen des Atompilzes im Mittelpunkt, deren Wirkung Conners 1976 uraufgeführter Film zu dekonstruieren sucht. Der Found-Footage-Film besteht ausschließlich aus Aufnahmen eines Kernwaffentests auf dem Bikini-Atoll, die vom US-Militär angefertigt wurden und die Conner in Superzeitlupe abspielt und mit einem speziellen Soundtrack versieht. Crossroads weist so zum einen auf die Erhabenheitsästhetik hin, welche die scheinbar dokumentarischen Bilder durchzieht. Zum anderen versetzt die dauernde Wiederholung der immergleichen Atombombenzündung am Bikini-Atoll den Zuschauer in eine Experimentalanordnung, die den Blick der damals beteiligten Wissenschaftler nachstellt. Die unterschiedlichen Einstellungen, die Zeitlupen und das Schwanken der Kameras durch die Druckwelle der Explosion stehen für den Blick des Experimentators sowie die Authentizität des Geschehens, während die psychedelisch anmutende Musik diese Versuchsanordnung durchbricht und einen neuen, hypnotischen wie auch reflektierenden Blick auf das montierte Geschehen provoziert. Die Sichtbarkeit der Bombe suggeriert dabei ihre Kontrollierbarkeit und gibt das Imago des Atompilzes zugleich zur kulturindustriellen Verwertung frei. Dieser Band ist im Anschluss an eine Vortragsreihe zum „Atomkrieg im Film“ entstanden, die vom Zentrum für Medien und Interaktivität (ZMI, Sektion Medien und Geschichte) und vom DFGGraduiertenkolleg „Transnationale Medienereignisse von der Frühen Neuzeit bis zur Gegenwart“ der Justus-Liebig-Universität Gießen veranstaltet wurde. Die Drucklegung konnte Dank einer großzügigen Unterstützung des ZMI und des Historisch-Kulturwissenschaftlichen Forschungszentrums Trier (HKFZ) der Universität Trier finanziert werden. Die Herausgeber danken den Kolleginnen und Kollegen der genannten Institutionen sehr herzlich für die gewährte Unterstützung.

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L ITERATUR Günther Anders, Die Atomare Drohung. Radikale Überlegungen zum atomaren Zeitalter, München 1981. Günther Anders, Die Antiquiertheit des Menschen 1. Über die Seele im Zeitalter der zweiten industriellen Revolution, München 1987. Thomas Anz, „Angstlust“, in: Lars Koch (Hg.), Angst. Ein inderdisziplinäres Handbuch, Stuttgart/Weimar 2013, S. 206-217. Hartmut Böhme, Natur und Subjekt, Frankfurt/M. 1988. Thomas Brandstetter, „Der Staub und das Leben. Szenarien des nuklearen Winters“, in: Lorenz Engell, Bernhard Siegert und Joseph Vogl (Hgg.), Wolken (=Archiv für Mediengeschichte, Bd. 5), Weimar 2005, S. 149-156. Mick Broderick, Nuclear Movies. A critical analysis and filmography of international feature length films dealing with experimentation, aliens, terrorism, holocaust, and other disaster scenarios, 19141990, Jefferson 1991. Barry Bruce-Briggs, Supergenius. The Mega-Worlds of Herman Kahn, New York 2000. Gilles Deleuze, Foucault, Frankfurt/M. 1992. Jacques Derrida, Apokalypse, Wien 32009. Joyce A. Evans, Celluloid Mushroom Clouds: Hollywood and the Atomic Bomb, Boulder 1998. Michel Foucault, Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses, Frankfurt/M. 1994. Eva Horn, „Der Anfang vom Ende. Worst-Case-Szenarien und die Aporien der Voraussicht“, in: Lorenz Engell, Bernhard Siegert und Joseph Vogl (Hgg.), Gefahrensinn (=Archiv für Mediengeschichte, Bd. 9), Weimar 2009, S. 91-100. Herman Kahn, Eskalation. Die Politik mit der Vernichtungsspirale, Berlin 1966. Herman Kahn, On Thermonuclear War, New York/London 1969.

D AS U NDENKBARE FILMEN

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Immanuel Kant, „Die Frage, ob die Erde veralte, physikalisch erwogen“, in: Frühschriften, hg. von Georg Klaus und Manfred Buhr, Berlin 1961, Bd. I, S. 11-33. Frank Kermode, The Sense of an Ending. Studies in the Theory of Fiction, New York 1967. Albrecht Koschorke, „Der postmortale Blick – Das Erhabende und die Apokalypse“, in: Markus Bauer und Thomas Rahn (Hgg.), Die Grenze. Begriff und Inszenierung, Berlin 1997, S. 325-342. Hans Krah, Weltuntergangsszenarien und Zukunftsentwürfe. Narrationen vom „Ende“ in Literatur und Film 1945-1990, Kiel 2004. Jacques Lacan, Die Psychosen. Das Seminar. Buch III, Weinheim/Berlin 1997. Gottfried Wilhelm Leibniz, Die Theodizee. Von der Güte Gottes, der Freiheit des Menschen und dem Ursprung des Übels, Frankfurt/M. 1996. Joachim Metzner, Persönlichkeitszerstörung und Weltuntergang. Das Verhältnis von Wahnbildung und literarischer Imagination, Tübingen 1976. Hugo Münsterberg, Das Lichtspiel. Eine psychologische Studie (1916) und andere Schriften zum Kino, Wien 1996. Marcus M. Payk, „Kalter Krieg“, in: Lars Koch (Hg.), Angst. Ein inderdisziplinäres Handbuch, Stuttgart/Weimar 2013, S. 325-331. Toni A. Perrine, Film and the Nuclear Age. Representing Cultural Anxiety, New York 1998. Daria Pezzoli-Oligati, „Vom Ende der Welt zur hoffnungsvollen Vision. Apokalypse im Film“, in: Thomas Bohrmann, Werner Veith und Stephan Zöller (Hgg.), Handbuch Theologie und populärer Film, Paderborn u.a. 2009, Bd. 2, S. 255-275. Claus Pias, „‚One-Man Think Tank‘ Herman Kahn, oder wie man das Undenkbare denkt“, in: Zeitschrift für Ideengeschichte 3, 2009a, S. 5-16. Claus Pias, „Abschreckung denken. Herman Kahns Szenarien“, in: ders. (Hg.), Abwehr. Modelle, Strategien, Medien, Bielefeld 2009b, S. 169-187.

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Peter Podrez, Der Sinn im Untergang. Filmische Apokalypsen als Krisentexte im atomaren und ökologischen Diskurs, Stuttgart 2011. Jerome Franklin Shapiro, Atomic Bomb Cinema. The Apocalyptic Imagination on Film, New York 2002. Giorgio Signori, „Loving the Bomb: Cold War Audiovisual Propaganda in the United States“, in: Kathleen Starck (Hg.), Between Fear and Freedom. Cultural Representations of the Cold War, Newcastle 2010, S. 69-81. Susan Sontag, „Die Katastrophenphantasie“, in: dies., Kunst und Antikunst. 24 literarische Analysen, Frankfurt/M. 2003, S. 279-298. Paul Virilio, Krieg und Kino. Logistik der Wahrnehmung, Frankfurt/M. 1989. Klaus Vondung, Die Apokalypse in Deutschland, München 1988.

Das Unvermeidliche vermeiden Jayne Loaders, Kevin und Pierce Raffertys The Atomic Café (1982) S ASCHA S IMONS

Wie gefährlich das Geheimnis werden kann, vermag man erst heute ganz zu erkennen. In verschiedenen Sphären, die nur scheinbar voneinander unabhängig sind, hat es sich mit immer größerer Macht geladen. Der eigentliche Diktator, gegen den die Welt vereinigt Krieg führte, war kaum tot – da war es in der Form der Atombombe wieder da, gefährlicher als je und in ihren Abkömmlichen sich rapid steigernd.1

Die Geschichte der Atombombe ist die Geschichte eines machtvollen Geheimnisses. Dies gilt nach wie vor, umso mehr allerdings für ihre frühe Entwicklung in den arkanen Zirkeln des Manhatten Project. The Atomic Café setzt mit der offiziellen Enthüllung dieser „neuen und geheimen Waffe“2 anlässlich der Trinity-Tests ein und etabliert mit dem

1

Canetti 1960, S. 350.

2

Die erste Einstellung des Films zeigt einen, mutmaßlich einer Wochenschau entnommenen, Schrifttitel, der die historische Situation im Juli 1945 ähnlich beschreibt wie Canetti und wie folgt schließt: „At Alamogordo,

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Wechselspiel von Geheimhaltung und Veröffentlichung bereits zu Beginn ein Motiv, das einen Großteil der folgenden Sequenzen anleiten wird. So auch die unmittelbar an die Zündung in New Mexico anschließende Einstellung (Abb. 1). Eine schwarzweiße Nahaufnahme zeigt den zivil gekleideten Luftwaffenoffizier Paul Tibbets, der in militärisch-nüchternem Ton von den Vorbereitungen auf einen folgenschweren Einsatz berichtet: Bevor er den nach seiner Mutter Enola Gay getauften B29-Bomber von der Pazifikinsel Tinian Richtung Nordwesten steuerte, um über Hiroshima einen nuklearen Luftschlag auszuführen, zeigte er dem Einsatzteam Photographien der TrinityDetonation. And we showed them. We did not use the word: atomic bomb. We did not use that. But we said: “OK, now. This is the bomb. This is what will happen, when we make our flight tomorrow and release it. This is, what we gonna see.“

Tibbets Aussage ist bemerkenswert vor allem aufgrund der expliziten Anerkennung eines impliziten Sprachverbots. Statt den Einsatz und das Geheimnis auf den Begriff zu bringen, vertraut er auf die Evidenz stiftende Wirkung der Photographie. Tibbets macht darauf aufmerksam, dass zwischen der Notwendigkeit, den geheimen Charakter der Mission zu wahren, und der gleichzeitigen Unmöglichkeit dieses Unterfangens ein Widerspruch klafft, der vermittelt werden will. Die Atombombe wird zum Darstellungsproblem. Die Darstellung des atomaren Geheimnisses stellt auch den Film vor eine gleichermaßen ästhetische wie ethische Herausforderung. Jayne Loader und die Brüder Kevin und Pierce Rafferty, die The Atomic Café zwischen 1977 und 1982 produziert haben, begegnen dieser Schwierigkeit mit der gleichen Strategie wie Tibbets. Sie delegieren die Verantwortung, indem sie auf bereits bestehende Darstellungen der Bombe zurückgreifen, die sie ihren ursprünglichen Kontexten entneh-

New Mexico, a new and secret weapon was about to be tested in the desert.“

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men und in neue Relationen setzen. Ihr Film verlässt sich ganz und gar auf bereits vorhandene Aufnahmen aus newsreel-, Militär-, und Propagandaarchiven der 1940er und 1950er Jahre. Die Filmemacher haben weder auch nur einen Millimeter Film belichtet noch eine Sekunde Interview aufgezeichnet. Auf Kontextinformationen über Zwischen- und Untertitel wird weitgehend ebenso verzichtet wie auf den routinierten Kommentar eines wissenden Erzählers. Stattdessen beschränken sich die Urheber allein auf die Auswahl und Zusammenstellung prägnanten Bild- und Tonmaterials aus den ersten zwei Jahrzehnten Kalter Kriegsgeschichtsschreibung. Ein Akt formaler Begrenzung mündet in der kreativen Entgrenzung einer filmischen Collage, die Gattungs- und Medienunterschiede ebenso verwischt wie diejenigen zwischen den unterschiedlichen medialen Organisationsstrukturen von Archiv und Erzählung.

Abb. 1: The Atomic Café. Nuklearer Luftschlag über Hiroshima.

Die Montage filmischen Archivmaterials bildet das dominante ästhetische Prinzip von The Atomic Café und zugleich den ersten Anknüpfungspunkt für theoretische Analysen. Auch dieser Versuch wird hier

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seinen Ausgang nehmen, sich aber nicht primär auf medienspezifische Theorien filmischer Montage stützen, sondern sich stattdessen der medialen Formen der Montage und Collage auch jenseits des Films widmen.3 So wird dem Umstand Rechnung getragen, dass Loader und die Rafferty-Brüder die spezifisch kinematographische Technik der Montage nicht nur nutzen, um Found Footage zu einem neuen filmischen Werk zusammenzufügen. Vielmehr erheben sie das Formprinzip des Montierens zum ästhetischen Selbstzweck und erschließen so ein prägendes Stilmittel der künstlerischen Avantgarden um 1900 für die Populärkultur Hollywoods. The Atomic Café wird daher zunächst aus der Perspektive der Collage- bzw. Montage-Theorien von Theodor W. Adorno, Peter Bürger und Hanno Möbius in den Blick und zugleich aus der Kritik genommen. Denn es soll exemplarisch gezeigt werden, dass sich Kritik am Film in der Regel aus einem impliziten normativen Missverständnis speist, das in den theoretischen Entwürfen ausformuliert ist. Alle hier vorgestellten Konzepte stellen wichtige Koordinaten bereit, um sich im diskursiven Feld der Analyse montierter Oberflächen zu orientieren. Sie beschneiden aber die Anwendungsmöglichkeiten ihres begrifflichen Instrumentariums, indem sie Montage mit Avantgarde identifizieren – und somit zumindest implizit mit ästhetischer Innovation, sozialer Umwertung und politischer Emanzipation. Die Avantgarde lässt sich zwar nicht auf einen Nenner bringen. Alle avantgardistischen Bestrebungen aber sind genau darin geeint, dass sie sich jeder Hypostasierung entziehen. Die Avantgarde ist, wie Hannes Böhringer schreibt, nie dort anzutreffen, wo sie eben noch gewesen ist.4 Alle Verbindungen, die sie eingeht, sind Verbindungen auf (äußerst kurze) Zeit – so auch die Assoziation mit bestimmten ästhetischen Gestaltungsweisen. Wenn die Montage in der spezifischen historischen Konstellation des frühen 20. Jahrhunderts auch das bevorzugte Medi-

3

Vgl. zum Verhältnis von kinematographischer und medienübergreifender Montage: Möbius 2000, S. 37ff.

4

Böhringer 1990, S. 14ff.

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um avantgardistischer Weltentwürfe gewesen sein mag, garantiert dies nicht, dass sie es auch bleiben muss. Ein Film wie The Atomic Café, der kaum unter Kunst-, geschweige denn Avantgardeverdacht gestellt werden kann, und sich trotzdem offen und exzessiv dieses Mittels bedient, beweist das genaue Gegenteil. Der Versuch, exklusive Ansprüche der Avantgarde auf die Montage und umgekehrt zu erheben, um dieses prekäre Verhältnis zu stabilisieren, verkennt gleichermaßen die diskursive wie morphologische Prozessualität und kann daher nur mit autoritären Ausschlussgesten gelingen. Er führt schließlich zu einem paradox verfassten Problem: Ausgerechnet die privilegierte Stellung, die der Montage hier für die Kunst attestiert wird, verstellt der populärkulturellen Aneignung dieser medialen Form die umfassende Entfaltung ihres analytischen Potentials. Im Falle von The Atomic Café besteht dieses in erster Linie in der reflexiven Irritation medialer Referenzialität sowie in der Korrektur einer tragischen Teleologie, die die Diskurse des Kalten Krieges auf die Mutual Assured Destruction und mithin auf die Alternativlosigkeit nuklearer Vernichtung einstimmt. Der entscheidende Hinweis zur Vermittlung von Theorie und Praxis der Montage, welche durch eine kulturgeschichtliche statt kulturkritische Deutung geleistet wird, kann einer Randnotiz Theodor W. Adornos entnommen werden. Da seine Ästhetische Theorie ferner einen ideengeschichtlichen Grundriss für die Montage als moderne Kunstform zeichnet, dessen Verbindlichkeit auch Bürger und Möbius Rechnung tragen, steht sie nicht nur am Ende, sondern auch am Anfang eines einleitenden Kurzreferats moderner Montage-Theorien.

D OPPELCHARAKTER DER M ONTAGE

UND

N EGATIVE D IALEKTIK

Adornos Überlegungen zur Montage sind angeordnet um eine Isomorphie zwischen Kunstwerk und Kunst als sozialem System. Der „Doppelcharakter der Kunst als autonom und als ‚fait social‘ provoziere Zweifel an der idealistischen Einheit der Kunstwerke und mithin „im-

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manente Probleme ihrer Form“5. Als Reaktion hierauf integriere die künstlerische Moderne kunstfremde Elemente in den Werkzusammenhang, ohne sie in der Harmonie eines geschlossenen Ganzen aufgehen zu lassen. Denn die montierten Elemente sperren sich gegen das gewohnte zwanglose Spiel der Bezüge von Teil und Ganzem und die mit ihm verbundene kontemplative Rezeptionshaltung. Sie bleiben Fragment und bewahren einen Doppelcharakter von Wirklichkeitsindex und Werkelement, der jenem der Kunst entspreche. Da sie darauf verzichte, die „reinen Fakten [...] durch Form oder Begriff zu vermitteln und sie unvermeidlich ihrer Faktizität zu entäußern“, reproduziere Montage somit die innere Ambivalenz der Kunst innerhalb des Werks. Im Moment des durch den ästhetischen Isotopiebruch hervorgerufenen Schocks eröffne die „Kunst den Prozess gegen das Kunstwerk als Sinnzusammenhang“, in dessen Verlauf auch über angemessene Antworten auf die andauernde Krise von Sinn und Repräsentation verhandelt werde. Durch Verzicht auf die Ausübung ihres Gestaltungsrechts verweigere sich die Kunst nicht nur dem Schein der Versöhnung mit einer ihr entfremdeten Wirklichkeit, sondern beuge sich vielmehr deren Autorität. Der Schein der Kunst, durch Gestaltung der heterogenen Empirie sei sie mit dieser versöhnt, soll zerbrechen, indem das Werk buchstäbliche, scheinlose Trümmer der Empirie in sich einlässt, den Bruch einbekennt und in ästhetische Wirkung umfunktioniert. Kunst will ihre Ohnmacht gegenüber der spätkapitalistischen Totalität eingestehen und deren Abschaffung inaugurieren. Montage ist die innerästhetische Kapitulation der Kunst vor dem ihr Heterogenen. Negation der Synthesis wird zum Gestaltungsprinzip. [...] Unverbundenes wird von der übergeordneten Instanz des Ganzen zusammengepresst, so dass die Totalität den fehlenden Zusammenhang der Teile erzwingt und dadurch freilich aufs Neue zum Schein von Sinn wird.6

5

Adorno 1970, S. 16; vgl. S. 201 und 374.

6

Alle Zitate: Adorno 1970, S. 232f.

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Der zunächst ahistorisch beschriebenen Strukturhomologie von Kunst und montiertem Werk gewinnt Adorno hier eine spezifisch moderne Aktualität ab. Die Montage wird zur einzigen dem historischen Zeitpunkt des Spätkapitalismus angemessenen Darstellungsweise. Ihre zerrüttete Form verwandle sich die Zersplitterung des sozialen Sinns mimetisch an, um ihn – oder besser seine Suggestion – dadurch erneut zu vereinen, dass selbst eine derart desavouierte Einheit als Formprinzip notwendig an die Vorstellung von Identität gebunden bleibt. In dieser negativ dialektischen Bewegung werde der (falsche) positive Schein ersetzt durch einen (ebenso unvermeidlichen wie authentischen) negativen, der den totalitären Charakter des Identitätszwangs sinnlich erfahren lasse. Diese Schilderung der Montage als angewandte Negative Dialektik stiftet ein Motiv, das auch die anderen hier diskutierten Konzepte von Montage durchzieht, ohne in seinem gebrochen utopischen Gehalt erfasst zu werden.

Z WEIWERTIGKEIT

DER FILMISCHEN

M ONTAGE

Ob hierbei näher zwischen Montage als „fragmentarisierte[r] Räumlichkeit im zeitlichen Prozess“ und Collage als „Gleichzeitigkeit des Räumlichen“7 unterschieden wird, wie Hanno Möbius empfiehlt, ist unerheblich. Für die folgende Analyse ist ein Vorschlag von William Wees hinreichend, der weniger auf kunsthistorische Genauigkeit abhebt als vielmehr auf die Dekontextualisierung von Form, Funktion und Sinn, auf deren Effekten auch The Atomic Café aufbaut. As far as I am concerned, either term will do, so long as it is understood to mean the juxtaposition of pre-existing elements extracted from their original contexts, diverted [...] from their original, intended uses, and thereby made to yield previously unrecognized significance.8

7

Möbius 2000, S. 198.

8

Wees 1993, S. 52.

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Ein räumliche wie zeitliche Strukturen gleichermaßen erfassender Begriff empfiehlt sich auch aufgrund der „spezifischen Möglichkeiten des Films“, die sich einer wegweisenden Einschätzung Erwin Panofskys zufolge „als Dynamisierung des Raumes und entsprechend als Verräumlichung der Zeit“ definieren lassen.9 Die materiellen Eigenschaften des Films verlangen aber noch in weiterer Hinsicht nach einem integrativen Konzept von Montage. Denn das kinematographische Verfahren bedingt die Montage in Gestalt des Filmschnitts als eines ihrer ersten und seitdem dominanten medienspezifischen Gestaltungsmittel und öffnet einen ästhetischen Möglichkeitsraum zwischen medientechnischer Notwendigkeit und künstlerischer Strategie. Diese Pole konstituieren erst das Feld, auf dem gestalterische Entscheidungen getroffen oder verworfen werden und so jeder Film seine Form gewinnt. Die Zweiwertigkeit der filmischen Montage lässt sich daher weder dadurch auflösen, dass zwei unterschiedliche Begriffe gewählt werden, noch durch den normativen Ausschluss eines Pols. Genau dies versucht Peter Bürger, der seine Theorie des montierten Kunstwerks auf Grundlage kunsthistorischer Entwicklungen entwirft, deren Ursprung er in den kubistischen Collagen von Pablo Picasso und Georg Braque ausmacht – und eben nicht in photographischer oder kinematographischer Reproduzierbarkeit.10 Letztere bildet für ihn daher kein konstitutives Element des soziokulturellen Bedingungsverhältnisses eines vollkommen ausdifferenzierten und somit vom Leben entfremdeten Kunstsystems, mit dem er die Genese der Historischen Avantgarde erklärt. Diese Ablehnung technischer Reproduktionsmedien perpetuiert jedoch jene Trennung von Kunst und Leben, deren Überwindung Bürger als tragisches Ziel der Historischen Avantgarden beschreibt.11 Sie verbürgt somit zwar die Erfüllung seiner kulturkritischen Prophezeiung, sperrt sich aber gegen differenzierte Einsichten in das Verhältnis von Kunst und Gesellschaft, sofern diese zweiwertige

9

Panofsky 1993, S. 22.

10 Vgl. Bürger 1974, S. 42f. und 98f. 11 Bürger 1974, S. 72f.

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Unterscheidung um das vergleichende Dritte der Medien ergänzt wird. Letztere können in einer doppelten Vermittlungsfunktion beschrieben werden: als Aufzeichnungs-, Speicher- und Übertragungsinstrumente für Texte, Töne und Bilder und als zwischen Kunst und Leben Vermittelndes. In dieser Doppelfunktion leistet ein Film wie The Atomic Café aufgrund seiner materiellen und formalen Verfassung eben das, woran die Kunst nach Bürger scheitern muss. Ob man die Effekte dieser Vermittlung gut heißt, ist dabei weniger wichtig als die Anerkennung ihrer Existenz und die Beschreibung ihrer Funktionsweise. Bürgers normativer Ausschluss kann hierauf nicht bzw. lediglich resignativ reagieren.12 Auf andere Aspekte seiner Montage-Theorie soll später zurückgegriffen werden. Um die maßgebliche Kritik an The Atomic Café relativieren zu können, muss aber zunächst auf einen weiteren normativen Fallstrick der Montage-Theorie hingewiesen werden, der die Analyse des Films erschwert.

P OLITISCHE INSTRUMENTALISIERUNG DER MONTAGE Hanno Möbius hat eine intermediale Geschichte und Theorie der Montage geschrieben, die insbesondere der Photographie und dem Stummfilm prominente Positionen zubilligt und auch die bereits angesprochene Zweiwertigkeit von Filmschnitt bzw. Montage berücksichtigt.13 Mit Bürger teilt er einen Rückbezug ästhetischer auf soziale Prozesse,14 nicht aber dessen Medienvergessenheit. Bürgers nach Medien geschiedene Wertung der Montage taucht allerdings auch hier auf einer anderen, die Struktur und das Zusammenspiel des montierten Materials betreffenden Ebene wieder auf. Während Bürger lediglich die Montageformen von Malerei und Literatur als kunstwürdig achtet, nicht aber

12 Bürger 1974, S. 68. 13 Vgl. Möbius 2000, S. 411ff. 14 Vgl. Möbius 2000, S. 117ff.

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jene von Photographie und Film, unterteilt Möbius das Formenfeld der Montage in offene und instrumentalisierte Varianten. Auch hier soll die Montage zwischen Kunst und Leben vermitteln, indem sie mit der ausgewogenen Kausalität geschlossener Kunstwerke bricht und die Rezipienten in dem Maße befreit, wie sie deren kontemplative Sicherheit erschüttert.15 Auch Möbius weist auf das Scheitern dieses Unterfangens hin, das sich zwangsläufig zumindest dort einstelle, wo es explizit intendiert werde. Sowohl die Werbung als auch die politisch-didaktischen Montagen von John Heartfield, Erwin Piscator, Sergej Eisenstein oder Bertolt Brecht überführten die radikale Kontingenz des offenen Kunstwerks in die Monovalenz einer neuen Kausalität und die eben erst gewonnene Freiheit der Rezipienten in die engen Bahnen konkreter Handlungsanleitungen. Bei den einseitig ausgerichteten Werken wirkt die Geschlossenheit des Rezeptionsangebots auf seine Elemente zurück und stellt jene Kausalität wieder her, deren Verlust gerade zu der Entwicklung von Montageformen beigetragen hatte. [...] Zwar werden die Elemente der offenen Form weitgehend in ihren Eigencharakter aufgerufen, doch verkümmern sie planmäßig zugunsten eines zielgerichteten Arrangements: das Spielerische wird zum Zweck instrumentalisiert, der Zufall eliminiert. […] Die Montagen organisieren ihr Material so, dass die Rezipienten letztlich nur eine Botschaft entschlüsseln können, die sie zu einer Handlung motivieren soll.“16

Diese rigide Zweiteilung ist jedoch nur dienlich, wenn die Differenz zwischen offener und instrumentalisierter Montage als idealtypische Pole eines kontinuierlich organisierten Formenfeldes konzipiert werden.17 Zumindest The Atomic Café bezieht einen großen Reiz eben aus der Oszillation zwischen diesen Polen. Es fällt dementsprechend

15 Vgl. Möbius 2000, S. 291f. 16 Möbius 2000, S. 226f. 17 Vgl. zur dieser „Logik der Grenzwerte eines Spielraums“: Wiesing 1997, S. 110; vgl. auch S. 61ff.

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schwer, eine eindeutige Zuteilung zu treffen, auch weil der Film nach einer schärferen Justierung der Differenzkriterien verlangt. Zwar mag einleuchten, dass die Montage mit der Ausgewogenheit von Teil und Ganzem bricht, fraglich scheint allerdings, ob sich diese Isotopie mit dem Begriff der Kausalität fassen lässt, zumal wenn man darunter wie Möbius eine semantische Eindimensionalität versteht. Es ist aber keineswegs sicher, dass die gestalterische Kausalität im formalen Aufbau eines Kunstwerks auf eine eindeutige Bedeutung hinausläuft. Der Begriff der Kausalität ist ferner zu grob gewählt, um offene von instrumentalisierten Montagen zu unterscheiden. Falls die neue Kausalität der instrumentalisierten Montage darin bestehen sollte, zu politisch motivierten Handeln aufzurufen, ist diese Relation in einem rein logischen Verständnis – wenn Ereignis A, dann Konsequenz B – nicht mehr oder weniger kausal als in einer offenen Montage, deren Ambivalenz die Sicherheit der Rezeption lediglich erschüttert. Bezogen auf The Atomic Café müsste sich die Kausalität ebenso an narrativen Gesetzmäßigkeiten messen lassen, wie sie sich an anderer Stelle als dialektische Montage figuriert, ohne den dargestellten Widerspruch in jedem der Fälle aufzulösen.18 Auch die für Montageformen so wichtige Funktion allegorischer Anschlüsse lässt sich besser mit einem Verhältnis der Analogie als einem der Kausalität beschreiben. Möbius scheint hingegen die Kausalität eines ästhetischen Artefakts mit dessen Geschlossenheit zu identifizieren. Offenheit und Geschlossenheit medialer Formen sind allerdings ebenso relative wie zeitkritische Eigenschaften, die sich erst aus dem Zusammenspiel eines oder mehrerer Formenrepertoires mit ihrem diskursiven Kontext ergeben und für die der Grad der Konventionalisierung entscheidend ist. Wie bereits Adornos Beharren auf den identifizierenden Effekten des Formprinzips feststellt, tendiert jede offene Montage zur Schließung allein aufgrund ihrer regelmäßigen Einübung durch Produzenten und Rezipienten.19

18 Vgl. zur dialektischen Montage: Eisenstein 1929, S. 200ff. 19 Vgl. zur Offenheit bzw. Geschlossenheit medialer Formendynamik: Leschke 2010, S. 56ff. und 89ff. Leschkes Argumentation kann verkürzt dahin-

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KULTURHISTORISCHES I NTERESSE DER MONTAGE Dass das Stör- und Vermittlungspotential der Montage einer Verfallszeit unterliegt, entgeht weder Bürger noch Möbius.20 Da sie sich aber damit begnügen, die Konsequenzen für den Status des Kunstwerks zu registrieren, fällt ihre Diagnose hinter jene Adornos zurück: Das Montageprinzip war, als Aktion gegen die erschlichene organische Einheit, auf den Schock angelegt. Nachdem dieser sich abgestumpft hat, wird das Montierte abermals zum bloßen indifferenten Stoff; das Verfahren reicht nicht mehr hin, durch Zündung Kommunikation zwischen Ästhetischem und Außerästhetischem zu bewirken, das Interesse wird neutralisiert zu einem kulturhistorischen.21

Wenn man diese Aussage wörtlich nimmt und das heißt für einen Moment ihren normativen Gehalt hinter die Beschreibungsleistung stellt, wird ausgerechnet Adorno zum Anwalt wider das Beharren auf Kunstcharakter und kritischen Wert der Montage. Da Adorno seine Ästhetische Theorie explizit als Kunsttheorie entwirft, geht er hier nicht weiter, weist aber immerhin einen Weg, auch populärkulturelle Montageformen anders denn als falschen Schein der Versöhnung von Kunst und Leben beschreiben zu können. Die kulturhistorische Neutralität entbindet das ästhetische Artefakt vom tragischen Unterfangen der kri-

gehend zusammengefasst werden, dass ästhetische Innovationen in der Regel mit offenen Formen bzw. offenen Formenrepertoires korrespondieren, deren nachahmende Aneignung und Verbreitung zur Gewöhnung und mithin zur Schließung führe. Dieser formschließende Prozess werde dabei von einer semantischen Verschiebung begleitet, die in den meisten Fällen – und vor allem bei der auch hier zu beobachtenden Migration von künstlerischen in populärkulturelle Formenfelder – eine Verknappung von SinnPotentialen nach sich ziehe. 20 Vgl. Bürger 1974, S. 108; vgl. Möbius 2000, S. 292. 21 Adorno 1970, S. 233f.

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tischen Vermittlung von Kunst und Leben. Erst wenn jenes somit von dieser Bürde befreit ist, kann sein analytisches Potential umfassend gewürdigt werden. Eine Analyse wird The Atomic Café also erst gerecht, wenn sie nicht allein oder vorrangig unter dem Vorzeichen der Kritik steht, sondern sich stattdessen an kulturhistorischen Fragestellungen orientiert. Diese Option entgeht sowohl Bürger als auch Möbius, wenn sie, wenn auch nicht in gleicher Weise, so doch gleichermaßen ein normatives Gefälle zwischen künstlerischer und medientechnischer bzw. künstlerischer und politischer Montage errichten. The Atomic Café lässt sich weder an der Leistung nicht-filmischer Montagen messen noch an einem Entwurf des offenen Kunstwerks, das Gültigkeit lediglich innerhalb eines umso rigider geschlossen Kunstsystems beanspruchen kann. Anstatt den Film als kulturindustrielle Schwundform zu beschreiben, soll auf einen relativen Eigenwert abgehoben werden, der ihm als populärkulturellem Produkt aus der Mitte eben jenes Spannungsfeldes zwischen Kunst und Gesellschaft zukommt.

FÜR UND WIDER DEN ZYNISCHEN P OPULISMUS Zu undifferenziert erscheint dementsprechend eine häufig vorgetragene Kritik am Film, die man exemplarisch bei Deirdre Boyle lesen kann. Sie basiert auf einem Argument, das bereits im Plädoyer gegen die Unterscheidung von offener und instrumentalisierter Montage entkräftet werden konnte: Loader and the Raffertys know, [...] that mockery is the best way to deflect propaganda's power. [...] But what [...] the makers of The Atomic Café seem to deny, is that the product of this mockery is still propaganda. [...] To reflect the complexity beneath the placid exterior of the Fifties would have detracted from

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the artistic shape the overall message of the film Loader and the Raffertys made.22

Der an das Produktionsteam von The Atomic Café gerichtete Vorwurf, die buchstäblich explosive Komplexität der gesellschaftlichen Situation in der Frühphase des Kalten Krieges ebenso leichtfertig wie einseitig zugunsten populistischer Pointen aufzulösen, steht daher keineswegs auf sicherem Grund. Widerspruch provoziert nicht nur, dass Boyle dem Publikum des Films eine lediglich passive Rolle zuschreibt, statt auf dessen Urteilskraft zu vertrauen, sondern vor allem, dass sie aus der vermeintlichen Naivität der Filmemacher einen Zynismus des Films ableitet. Ganz ungeachtet der Absichten der Urheber vereinheitlicht diese Unterstellung wiederum selbst die Vielfalt der Beziehungen zwischen den montierten Fragmenten. Die Widerlegung kann sich auf Bürger berufen und auf dessen Einsicht, dass durch das „Nebeneinander politischer und nicht-politischer Motive sogar in einem einzigen Werk [...] ein neuer Typus engagierter Kunst möglich“ 23 geworden sei. Interpreten sollten daher nicht von einzelnen Momenten auf einen grundlegenden Charakter des Films schließen, sondern seine plurale Verfassung würdigen. Statt den vermeintlichen Populismus oder Zynismus des Films zu vermessen, gilt das Interesse der folgenden Analyse daher vorrangig der Relation des Films zur historischen Realität einerseits und zu seinen eigenen Bildern andererseits.

FREMD - UND SELBSTBEZUG DER COMPILATION VÉRITÉ Im Gegensatz zu Boyle betrachtet William Wees The Atomic Café nicht als Symptom einer ebenso selbstgerechten wie zynischen Kultur

22 Boyle 1982, S. 40f. 23 Bürger 1974, S. 127.

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des Spektakels, sondern als Beispiel für eine Klasse24 von Kompilationsfilmen, die den dokumentarfilmischen Realismus transformiere, ohne mit dessen referentiellen Anspruch zu brechen. Unlike traditional compilation films, The Atomic Café does not provide its own voice-over to guide viewers through its archival material and tell them how they should think about it […]. On the other hand, in the conventions of most compilation films, it follows a clear, linear development, and does not continually question the representational nature of the images it uses. While the film implies that the shots of the local people happily leaving their island were staged for American propaganda purposes, its images of the actual explosion are presented as straight fact: this is what the explosions looked like, these are signifiers of an event solidly grounded in reality and contextualized by other real, historical events such as the beginning of the Cold War.25

Tatsächlich orientiert sich der Film vor allem zu Beginn stark an der Linearität der historischen Erzählung und arbeitet sich entlang deren Zeitpfeil von den eingangs erwähnten Detonationen in New Mexico und Japan über den Korea-Krieg, die McCarthy-Anhörungen, die Hinrichtung von Ethel und Julius Rosenberg, erste WasserstoffbombenTests im Pazifik und die Küchendebatten zwischen Nikita Chruschtschov und Richard Nixon bis unmittelbar vor die Kuba-Krise. Indem das kontinuierliche Geschehen durch diese Ereignisse unterbrochen wird, genügt The Atomic Café den Konventionen eines ver-

24 Vgl. Wees 1993, S. 34: Wees scheidet Found-Footage-Filme nach abnehmendem Realitätsbezug in (realistische) Kompilation, (moderne) Collage und (postmoderne) Appropriation bzw. Simulakrum. Diese Typologie besitzt heuristischen Wert, wenngleich die Durchlässigkeit zwischen den Kategorien größer einzuschätzen ist, als die vermeintlich eindeutigen Zuordnungen von Wees vermuten lassen. Diese Analyse von The Atomic Café zumindest widerspricht seiner strengen Verortung des Films und wird den Film im Übergang von Kompilation zu Collage positionieren. 25 Wees 1993, S. 38.

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gleichsweise traditionellen historiographischen Verständnisses, das sich eben solcher hermeneutischer Minimaleinheiten bedient, um den historischen Diskurs im Medium der Erzählung strukturieren und darbieten zu können.26 Die genannten Ereignisse dienen dem Film als Kulminationspunkte, um heterogene Teildiskurse wie Militär, Politik, Wissenschaft, Religion, Bildung, Wirtschaft sowie Architektur bzw. Stadtplanung dort zu synchronisieren, wo sie in den diskursiven Sog der Bombe geraten. Besondere Bedeutung wird hierbei dem wachsenden medialen Einfluss zugestanden. Vor allem die Rundfunkmedien Radio und TV werden in einer Geschichtsmächtigkeit dargestellt, die dem Film interessanterweise verwehrt wird, obwohl dessen Wochenschauen der Großteil des montierten Materials entnommen ist. Die Selbstreferenz auf die Kinematographie erfolgt durch die Reflexion ihrer Produktionssituation, z.B. wenn die bildliche Einbindung der Filmklappe eine vermeintlich dokumentarische Aufnahme als propagandistische Inszenierung kennzeichnet. Im Gegensatz zur Entlarvung filmischer Lügen konzentriert sich die Darstellung von Radio und TV auf distributive Potentiale und somit auf die Fähigkeit, verstreute Publika in ihrer Aufmerksamkeit auf den konkreten Zeit-Raum eines Ereignisses zu verpflichten. Immer wieder werden neue Sequenzen durch Bilder von Radiound TV-Apparaten eingeleitet: Erst nachdem sich die Rezipienten um die Geräte versammelt haben und diese einschalten, wird die Geschichte ihren Lauf nehmen. Während der Film also auf seine repräsentativen Funktionen beschränkt wird, suggerieren diese Szenen, dass der distributiven Struktur des Rundfunks selbst eine ereignisstiftende Wirkung zukommt. Während The Atomic Café vor allem zu Beginn des Films lediglich Ansprüche auf die Repräsentation historischer Realität erhebt, offenbart er im weiteren Verlauf Einsichten in die mediale Präfigurierung der Welterfahrung, die Konsequenzen für das in Anschlag ge-

26 Vgl. zum Ereignis als historiographischem Darstellungsmittel: Koselleck 1973, S. 561.

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brachte Verhältnis zwischen medialem Archivmaterial und Wirklichkeit haben. An image’s historical referent – such as the United States’ nuclear tests in the South Pacific – may continue to be important in a collage film, but the more significant referent will be the image’s original context of production, distribution, and reception: everything the media do to invest their images with an aura of reality.27

Während der Laufzeit des Films verdrängt die Betonung medialer Selbstbezüglichkeit zunehmend die Vorstellung einer unmittelbaren Entsprechung von Darstellung und Dargestelltem. Was aber inhaltlich erst im Verlauf des Films deutlich wird, ist auf formaler Ebene von vornherein angelegt. Wenn die montierten Fragmente selbst medialen Charakter haben, fungieren diese Fragmente nicht länger als Indizes einer dem ästhetischen Artefakt fremden Wirklichkeit. Sie sind zwar nicht weniger real, dies aber im Sinn einer Wirklichkeit der Medien, die jede strikte Trennung zwischen Kunst und Leben, Kunst und Gesellschaft oder Kunst und Realität nivelliert. Es geht nicht länger um Heterogenität, sondern um Kohärenz – und das heißt um die Kohärenz bzw. die dynamischen Relationen medialer Formen. Der montierende Künstler ist damit nicht so sehr ein Vermittler von Fremdem, sondern mehr noch ein Vermittler von Beziehungen.28

Kritiker des Films wie Boyle unterschlagen oftmals, dass es eben nicht die Bilder sind, die hier für sich selbst und eine durch sie verbürgte Wirklichkeit sprechen sollen, sondern die Relationen zwischen ihnen. Die Filmemacher haben ihre filmische Vorgehensweise in Anlehnung an das cinéma vérité konsequenterweise als compilation vérité be-

27 Wees 1993, S. 47. 28 Möbius 2000, S. 283.

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zeichnet.29 Ihre Wahrheit gründet weniger in der Abbildung historischer Realität, sondern in der Reflexion medialer und propagandistischer Mechanismen. Die mal komplementäre, mal narrativ funktionalisierte, mal kontrapunktische Montage kreiert neue Kontexte und regt allein dadurch zum ideologischen Seitenwechsel an, ohne ihn vorzuschreiben.

MEDIALE REFLEXIVITÄT UND KRITISCHES P OTENTIAL Gegen jede euphorische Gleichsetzung von Reflexion und Kritik30 muss allerdings erneut auf Zurückhaltung hinsichtlich der emanzipatorischen Potentiale der Montage gepocht werden und darauf, dass die reflexive Schleife zwar analytische Potentiale freisetzt, nicht aber einen kritischen Automatismus anstößt. Hierauf weisen auch die rezeptionsästhetischen Einsichten der eingangs referierten Montage-Theorien hin. Die durch die Montage erzeugten Leerstellen aktivieren die Rezipienten zu einem Nachvollzug, der sich nicht länger als ein vorrangig hermeneutischer fassen lässt, sondern als formästhetisches Verfahren beschrieben werden muss: Die Aufmerksamkeit des Rezipienten richtet sich nicht mehr auf einen durch die Lektüre der Teile zu erfassenden Sinn des Werks, sondern auf das Konstruktionsprinzip.31

So lange man lediglich oder vornehmlich über Inhalte spricht, mag die Rede von einer nicht minder einseitigen und unterkomplexen Gegenpropaganda also zutreffen. Durch die reflexive Wendung der eingesetzten Formen kann sich aber niemand auf jene Naivität zurückziehen, die

29 http://www.conelrad.com/jayne_loader.html [Zugriff am 16.03.2012]. 30 So z.B. Wees 1993, S. 11ff. und 32. 31 %UJHU6YJO0|ELXV6XQGI

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die Urheber des Quellenmaterials ihren Zuschauern so offensichtlich unterstellten. Für Bill Nichols bildet die Frage: „what we do with people“32 die grundlegende ethische Entscheidung jeglichen dokumentarischen Filmschaffens. Die Spitzfindigkeit von The Atomic Café besteht nun darin, genau diese Entscheidung zu suspendieren bzw. in den Verantwortungsbereich des Publikums zu delegieren. Weder die Filmemacher noch die von ihnen eingesetzten talking heads gestatten eine eindeutige Adressierung. Wenn den im Film abgebildeten Personen durch diese Abbildung ein Unrecht geschehen sollte, so muss dieses Unrecht zurückdatiert werden auf den Zeitpunkt der Aufnahme. Die Kompilatoren machen lediglich (erneut) auf das Unrecht aufmerksam und verdeutlichen es durch die kontrastierende Lösung vom Entstehungskontext. Dass dabei die subtile Distanz der Groteske ein ums andere Mal dem Schauwert der parodierenden Karikatur geopfert wird, sei dahingestellt. Bei allem Mut zum Humor konfrontiert der Film aber immer wieder mit Momenten eines tragic relief, in denen den Zuschauern das Lachen buchstäblich im Halse stecken bleibt und sie irritiert auf ihre subjektive Urteilsfähigkeit zurückgeworfen werden.

THE ATOMIC CAFÉ ALS ALLEGORISCHES ARCHIV Neben diesen rezeptionsästhetischen Schlussfolgerungen liefern die genannten Montage-Theorien wertvolle Hinweise bezüglich des Doppelcharakters der Montage und der daraus resultierenden historiographischen Effekte. Denn wenn Montagefragmente ihren räumlichen und zeitlichen Entstehungskontexten entnommen werden, verändert sich die Qualität ihrer Zeugenschaft innerhalb dieser Umgebungen und somit rückblickend die historische Konstellation.

32 Vgl. Nichols 2001, S. 18f.

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Zeitungstexte, historische Photographien und historische Filmaufnahmen, die besonders häufig als Montagefragmente genutzt werden, sind weiterhin an ihrem Ursprungsort gültig. Sie können als Dokumente gelten, die aber nicht neutrale Zeugnisse eines Ereignisses sind, sondern als Zeugnis zugleich einen Brechungswinkel auf das Ereignis enthalten.33

Die in der Montage „ermöglicht[e] [...] Verlebendigung des Alten nach Maßgabe des Neuen“34 verweist dabei nicht nur auf die konkrete Vergangenheit der Entstehungszeit des verwendeten Filmmaterials, sondern auch auf Vergangenheit schlechthin. Um beide Ebenen dieser kulturellen Gedächtnisleistung koppeln und in ihren Effekten für das kulturelle Zeitverständnis bestimmen zu können, bemüht Catherine Russell ähnlich wie Bürger35 einen Begriff Walter Benjamins. Die von Benjamin als Signum des barocken Trauerspiels eingeführte Ästhetik der Allegorie präge auch zeitgenössische Found-Footage-Filme wie The Atomic Café mitsamt den ihr eigenen geschichtsphilosophischen Implikationen. Als gemeinsames Drittes zwischen barocker Allegorie und moderner Montage dienen hier wie dort die Betonung von „Unfreiheit, Unvollendung und Gebrochenheit“36 und die damit einhergehende Zerstörung von falschem Schein, harmonischer Einheit und zeitloser Präsenz des Kunstwerks bzw. Symbols. Nicht nur, dass Benjamin die allegorische Bewegung als Aufstieg vom dinglichen „Seinsgrund“37 zum ideellen Gehalt charakterisiert, die mit der gegenläufig verfahrenden semantischen Bezugnahme des Symbols gewaltsam kollidiere. Vom Symbol scheide die Allegorie ferner eine Vergänglichkeit, die ebenso Effekt der konstitutiven Bindung ans Materielle ist wie Ausdruck „einer sonderbaren Verschränkung von Natur und Geschich-

33 Möbius 2000, S. 227. 34 Möbius 2000, S. 119, vgl. auch S. 279. 35 Vgl. Bürger 1975, S. 92ff. und 114, Anm. 20: Bürger kommt der Verdienst zu, auf die Grenzen dieser Übertragung hinzuweisen. 36 Benjamin 1925, S. 352. 37 Benjamin 1925, S. 359.

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te“38 im Angesicht eines unvermeidlichen Todes. Gleichsam den „Ruinen im Reiche der Dinge“39 erschließen die allegorischen Trümmer den Geschichtsverlauf aisthetisch im Zustand des Verfalls. Der melancholische Zug Benjamins liefert eine weitere Erklärung, warum Boyles einseitige Fokussierung der satirischen Passagen von The Atomic Café unbefriedigend bleibt. Neben der humoristischen Auflösung oder deren nicht minder ostentativen Verweigerung bietet der Film auch Momente empfindsamen Zauderns. Wenn die Kamera etwa während des mündlichen Augenzeugenberichts über die Hinrichtung der Rosenbergs Kindern folgt, die auf Dreirädern entlang einer auffallend leeren suburb-Straße an den uniformen Fassaden frisch bezogener Einfamilienhäuser vorbeifahren, weisen Farbgebung und Körnung die Aufnahme nicht nur stilistisch als nostalgisches Zeugnis eines (auch medial) überkommenen Zeitgeistes aus. Zusätzlich überführt der Kontrast zwischen narrativem Kontext und der an Edward Hopper gemahnenden Ikonographie die Ambivalenz des amerikanischen Traums angesichts der imaginären Bedrohung durch die Bombe in ästhetische Spannung. In retardierenden Momenten wie diesem scheint es, als seien die Filmbilder mehrfach belichtet: Im allegorischen Verweis fallen die Horizonte von Vergangenheit und Zukunft augenblicklich überein. Dialectical images create a ‚now‘ that is always transitory and momentary. The reference to the past in the form of an image produces the present as a moment in a historical continuum that is in perpetual change. The imagination of the future is thus grounded in the imagery of a past that cannot be salvaged but only allegorically recalled. […] By means of montage [...], the past is transformed from a fixed space of forgetting to a dynamic time of historical imagination. The past is the allegorical form of the future, especially when it is perceived as already embedded in technology, as it is in found-footage filmmaking.40

38 Benjamin 1925, S. 344. 39 Benjamin 1925, S. 354. 40 Russell 1999, S. 253.

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Folgt der Handlungsverlauf von The Atomic Café zwar der Linearität der historischen Erzählung, so implementiert die Montage dagegen allegorische Brüche in die sicher geglaubte Abfolge von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Die gleichermaßen gegen ein teleologisches Geschichtsverständnis wie diegetische Repräsentation zielenden Diskontinuitäten werden im Verlauf des Filmes zunehmend dominant und unterwandern den Anspruch auf historische Faktizität, von dem der Film seinen Ausgang nimmt. Der Kontrast der Montage konfrontiert das Publikum also nicht mit jenem Realismus der Referenz, der – mit einer Wendung Brechts41 – ohnehin in die Funktionale gerutscht ist, sondern mit den Oberflächenphänomenen diskursiver Muster, deren ideologische Aufdringlichkeit nicht länger geleugnet werden kann.

Abb. 2: The Atomic Café. Montage eines imaginären Atomkriegs.

41 Vgl. Brecht 1931, S. 161.

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METONYMIEN WIDER DIE EVIDENZ DES F AKTISCHEN In das found footage sind die diskursiven Kräftefelder, die den legitimierenden Ort historischer Ereignisse bilden, in verdichteter Form eingeschrieben. Die montierten Fragmente komprimieren historische Erinnerung und bilden metonymische Kommentare sowohl zum Erinnerten als auch zu den historischen Weisen des Erinnerns.42 Man kann daher nicht nur verfolgen, wie die Bombe die US-amerikanische Nachkriegsgesellschaft in ihren explizit politischen Debatten, aber auch auf dem nicht unmittelbar politischen Terrain von wachsendem Wohlstand und Konsum definiert, sondern auch, dass die allgegenwärtige Möglichkeit nuklearer Vernichtung nach einem anderen Begriff von historischer Repräsentation verlangt.43 Der Film beginnt mit der ernsthaften Repräsentation der realen Attacke auf Hiroshima und schließt mit der ironisch gebrochenen Bilderfeier eines imaginierten Angriffs (Abb. 2). Wie so viele zuvor kündigt sich auch das fiktive Ereignis eines Nuklearangriffs auf US-amerikanischen Boden als mediales an: Das Ende des Films wird eingeleitet durch Aufnahmen eines Radio-Sprechers, der eine Seifenoper unterbricht, um über die unmittelbar bevorstehende Katastrophe zu informieren. Sein Bericht initiiert eine schnelle Bildfolge, die den umgehend eingeleiteten Gegenschlag bezeugt und ein letztes Mal all jene Übersprungshandlungen vorführt, mit denen die US-Regierung ihre in expressionistischer Großaufnahme erstarrten Bürger für das Unvorstellbare wappnen will. Unter den Köpfen, die sich zu Klängen von Franz Liszts Ungarischer Rhapsodie in c-moll gen Himmel wenden, befindet sich auch ein alter Bekannter. Zum zweiten Mal ist die halbnahe Einstellung eines in die Ferne blickenden Mannes mit asiatischen Gesichtszügen zu sehen. Sie ist bereits zu Beginn des Filmes verwendet worden, um Paul Tibbets Augenzeugenbericht vom Angriff auf Hi-

42 Vgl. Zryd 2002, S. 121 und 125. 43 Vgl. Nutall 1968, S. 74.

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roshima in eine visuelle Narration zu übersetzen (Abb. 1).44 Das Montageprinzip erfährt durch die wiederholte Verwendung dieser Einstellung eine reflexive Wendung, deren rahmende Funktion durch eine Spiegelung von Bildaufbau und Blickachse unterstrichen wird: Zunächst blickt das Gesicht von links nach rechts – also gemäß der gängigen Betrachtungskonvention nach vorne –, am Ende jedoch von rechts nach links – also zurück. Während die Aufnahme zu Beginn einer eindeutigen Zeit sowie einem geographischen Raum zugeordnet wird, ist sie am Ende Bestandteil einer assoziativen Reihung, deren Zusammenhalt sich lediglich ihrer syntagmatischen Anordnung verdankt, nicht länger aber einer zusätzlichen Verankerung in einer historiographisch fassbaren Wirklichkeit. Sie verweist dementsprechend weniger auf einen historischen Zeit-Raum außerhalb des Films als vielmehr auf dessen Anfang. Die als abrupter Einbruch des Realen in das Immergleiche kulturindustrieller Konfektionsware inszenierte Attacke wird vollständig auf die imaginativen Möglichkeiten des Filmschnitts zurückgeworfen. Dass dieser eklektizistische Bilderreigen zudem ausgiebig auf verfremdende Cartoon- und Trickfilmaufnahmen zurückgreift, unterstützt den antirealistischen Effekt zusätzlich. Auch die anschließenden Explosionen werden nicht in vermeintlich wissenschaftlicher Objektivität dargestellt wie zu Beginn des Films, sondern als mediales Oberflächenphänomen. Zahlreiche Variationen stellen die nukleare Apokalypse als ikonographisches Motiv aus und feiern das ästhetische Spektakel ihrer dynamischen Erhabenheit. Im Vergleich mit Tibbets Ankündigung zu Beginn des Film: „This is what we gonna see“, gilt am Ende nur noch der zweite Teil des Satzes. Die Zuschauer sehen und hören, dass sie sehen und hören, nicht aber in einem gegenständlichen Sinne, was sie sehen und hören.45

44 Vgl. zur fiktionalisierenden Funktion dieser Aufnahmen zu Beginn des Films: Arthur 1997, S. 4. 45 Vgl. zur Selbstbezüglichkeit der Wahrnehmung im Angesicht ästhetischer Erhabenheit: Lyotard 1984, S. 159f.

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The atomic age is represented [...] as a new era of representation. The mobilization of images to cover the threat of mutual assured destruction in the 1950s culminates in the spectacle of the mushroom cloud itself. Found-footage filmmaking picks up the pieces of the media facade and reconfigures the fragments as visible evidence of the fiction of history produced in that era.46

The Atomic Café zeichnet die Geschichte eines Fortschritts nach, der prekär bleiben muss, weil er geradewegs auf die nukleare Katastrophe zusteuert. Weder kapitalistische Insignien wie Farbfernseher oder Autos noch das eskapistische Versprechen Suburbias können verbergen, dass jeder Zuwachs materiellen Wohlstands und individueller Freiheit durch eben jene militärische Ultima Ratio gefährdet wird, die ihr Entstehen zuallererst garantiert hatte. Spätestens wenn der Film private fallout shelter als Distinktionsmedien einer um Statussicherung bemühten Mittelschicht vorführt, lässt er keinen Zweifel daran, dass auch die nuclear family längst infiziert ist von der nuklearen Bedrohung – und mit ihr die Keimzelle der liberalen Gesellschaft. Die existentielle Bedrohung wird Alltag. Die Bombe findet Einzug in die Populärkultur. The Atomic Café schildert diese kulturelle Entwicklung, ist selbst aber auch ein Dokument dieser Dynamik, insofern der Film die zeitgleich von Jean-François Lyotard47 propagierte Absage an die großen historischen Erzählungen exemplifiziert und zunehmend auf die ästhetische Sensibilität der medialen Oberfläche setzt, statt der Evidenz des Faktischen zu vertrauen. Der Film verrät mithin ebenso viel über den Gegenstand seiner meta-historischen Untersuchung wie über seine eigene Entstehungszeit. Hierzu zählt eben auch, dass Ironie die Stelle einnimmt, die zuvor von der Kritik besetzt wurde. Die ironische Distanz der populärkulturellen Aneignung wirkt angesichts der Irrationalität der Bedrohungslage allerdings weit weniger hilflos als etwa die

46 Russell 1999, S. 258. 47 Vgl. Lyotard 1979, S. 112ff.

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staatlich indoktrinierte Zwangsrationalität, mit der Schulkinder ihre auf Lehrfilmen festgehaltenen civil defense-Übungen exerzieren.48 Ferner ist der ironische Ton des Films keineswegs gleichbedeutend mit einem umfassenden Verzicht auf aufklärerische Impulse. Die Montage, verstanden als allegorische Form der Erinnerung, bricht nicht nur mit der Geschichte als Fortschrittsnarration, sondern verzichtet auch auf ihre dystopisch gewordenen Versprechen. Indem die metahistorische Betrachtungsweise von The Atomic Café die historische Kontinuität auflöst zugunsten eines augenblicklich vergegenwärtigten In- und Durcheinanders von lebendiger Vergangenheit und Zukunft, muss die Bombe nicht länger das zwangsläufige Ziel historischer Dynamik bilden. Im Bruch mit historiographischer Teleologie und diegetischer Repräsentation bietet sich eine im Paradigma von Fortschritt und Erzählung tabuisierte Alternative. Das verfilmte Undenkbare ist die Möglichkeit, auf die Bombe zu verzichten. Das skandalöse Geheimnis wäre demnach nicht die Existenz der Bombe, sondern die politische Instrumentalisierung dieser drohenden Möglichkeit. Die in The Atomic Café kompilierten Filmausschnitte verstellen den Bürgern nicht nur die Einsicht in die eigene Ohnmacht im Angesicht der zerstörerischen Technologie, sondern gleichermaßen im Angesicht einer Potentialität, die als Telos den historischen Diskurs ausrichtet, ohne aktualisiert zu werden – ja, im Moment ihrer Aktualisierung diesen Diskurs wie auch alles andere vernichten würde. The Atomic Café hingegen macht darauf aufmerksam, dass das Unvermeidliche durchaus hat vermieden werden können.

L ITERATUR Theodor W. Adorno, „Ästhetische Theorie“, in: Gesammelte Schriften, hg. von Rolf Tiedemann, Bd. 7, Frankfurt/M. 1970, S. 7-387.

48 Vgl. zur diesen Übungen inhärenten Absurdität von „mere accident and total rational conrol“: Huyssen 1995, S. 204.

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Paul Arthur: „On the Virtues and Limitations of Collage (Transformations in Film als Reality 6)“, in: Documentary Box Nr. 11, 1997, S. 1-7. Online: http://www.yidff.jp/docbox/11/box11-1-e.html [Zugriff am 16.03.2012]. Walter Benjamin, „Ursprung des deutschen Trauerspiels“, in: Gesammelte Schriften I, hg. von Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser, Frankfurt/M. 1991, S. 203-430. Hannes Böhringer, „Attention im Clair-Obscur: die Avantgarde“, in: Karlheinz Barck u.a. (Hgg.), Aisthesis. Wahrnehmung heute oder Perspektiven einer anderen Ästhetik. Essais, Leipzig 1990, S. 1432. Deirdre Boyle, „The Atomic Café“, in: Cineaste 12/2, 1982, S. 39-41. Bertolt Brecht, „Der Dreigroschenprozess. Ein soziologisches Experiment“, in: Gesammelte Werke, Bd. 18: Schriften zu Literatur und Kunst I, Frankfurt/M. 1967, S. 139-209. Peter Bürger, Theorie der Avantgarde, Frankfurt/M. 1974. Elias Canetti, Masse und Macht, Frankfurt/M. 1960. CONELRAD, „Atomic Café: History done right. An indepth interview with atomic culture visionary Jayne Loader”, 2004. Online: http:// www.conelrad.com/jayne_loader.html [Zugriff am 16.03.2012]. Sergej M. Eisenstein, „Dramaturgie der Film-Form“, in: Schriften 3: Oktober. Mit den Notaten zur Verfilmung von Marx „Kapital“, hg. von Hans-Joachim Schlegel, München 1975, S. 200-224. Andreas Huyssen, „Back to the Future. Fluxus in Context“, in: Andreas Huyssen (Hg.), Twilight Memories. Marking Time in a Culture of Amnesia, New York 1995, S. 191-208. Reinhart Koselleck, „Ereignis und Struktur“, in: Reinhart Koselleck und Wolf-Dieter Stempel (Hgg.), Geschichte – Ereignis und Erzählung, München 1973, S. 560-571. Rainer Leschke, Medien und Formen. Eine Morphologie der Medien, Konstanz 2010. Jean-François Lyotard, „Das Erhabene und die Avantgarde“, in: Merkur. Deutsche Zeitschrift für europäisches Denken 38/424, 1984, S. 151-164.

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Jean-François Lyotard, Das postmoderne Wissen. Ein Bericht, Graz/Wien 1986. Hanno Möbius, Montage und Collage. Literatur, bildende Künste, Film, Fotografie, Musik, Theater bis 1933, München 2000. Bill Nichols, Introduction to Documentary, Bloomington 2001. Jeff Nutall, Bomb Culture, New York 1968. Erwin Panofsky, „Stil und Medium im Film“, in: Die ideologischen Vorläufer des Rolls-Royce-Kühlers & Stil und Medium im Film. Mit Beiträgen von Irving Lavin und William S. Heckscher, Frankfurt/M./New York 1993, S. 17-51. Catherine Russell, Experimental Ethnography. The Work of Film in the Age of Video, Durham/London 1999. William Charles Wees, Recycled Images. The Art and Politics of Found Footage Films, New York 1993. Lambert Wiesing, Die Sichtbarkeit des Bildes, Reinbek 1997. Michael Zryd, „Found Footage-Film als diskursive Meta-Geschichte. Craig Baldwins Tribulation 99“, in: montage AV. Zeitschrift für Theorie und Geschichte audiovisueller Kommunikation 11, 2002, S. 113-134.

ABBILDUNGEN Abb. 1 und 2: The Atomic Café (USA 1982, R: Jayne Loader, Kevin Rafferty und Pierce Rafferty).

Will the Survivors watch TV? Peter Watkins’ The War Game (1965) J OHANNES P AUSE Kurz, welches ist die theoretische Gegenfigur zur Virtualisierung? Oder sollte es eine solche gar nicht geben? LORENZ ENGELL

D ER F ALL W ATKINS „Will the survivors envy the dead?“, fragte Herman Kahn in seiner berüchtigten Reflexion On Thermonuclear War.1 Als Antwort entwarf er ein Gedankenexperiment, in dem er die menschlichen Tragödien, die eine Welt nach dem Atomkrieg hervorbringen würde, in kalkulierbare Faktoren ausdifferenzierte. Seine Spekulationen weisen auf eine grundlegende Paradoxie innerhalb der Axiomatik des Kalten Krieges hin: Einerseits müssen, damit die atomare Aufrüstung als rationale politische wie militärische Entscheidung gerechtfertigt werden kann, die Risiken und Folgen eines Atomkriegs prinzipiell als berechenbar unterstellt werden. Andererseits funktioniert die Strategie der Mutual Assured Destruction nur auf Grundlage der Prämisse, dass beide Parteien genau an dieser Berechenbarkeit zweifeln und daher auf den Erstschlag

1

Kahn 2007, S. 40.

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verzichten. Nur wenn die Kalkulation des Atomkriegs also immer von neuem zu dem Ergebnis kommt, dass seine Auswirkungen letztlich unkalkulierbar sind, ist gewährleistet, dass er niemals tatsächlich stattfindet.2 Der Kalte Krieg entfaltete sich somit in erster Linie als „virtueller Krieg, der gerade in dieser Virtualität – als drohende, aber nicht realisierte Möglichkeit – eine ungeheure Intensität des Denkens, Forschens und Spekulierens“3 entfachte und der sich im Zuge dieser intellektuellen Betätigung beständig mit seinen eigenen Grenzen, mit dem unvorstellbaren, ‚realen‘ Jenseits seiner symbolischen und imaginären Prozeduren konfrontiert sah. In Peter Watkins‘ 45minütiger BBC-Produktion The War Game (UK 1965) wird Kahns Frage erneut gestellt, und auch hier ist sie Anlass für die Simulation eines Ernstfalls, deren Folgen auf wissenschaftlicher Grundlage und anhand eines exemplarischen Szenarios durchgespielt werden. Auch wenn Watkins, anders als Kahn, in seinem Film von Beginn an nahelegt, dass die Lebenden die Toten beneiden würden, bewegt er sich somit auf ersten Blick vollständig innerhalb der Episteme des Kalten Krieges. Dennoch wurde sein Film zu einem der größten Skandale der Fernsehgeschichte. Die TV-Erstausstrahlung von The War Game, die ursprünglich für den 6. August 1965, den 20. Jahrestag der Zerstörung Hiroshimas durch eine amerikanische Atombombe vorgesehen war, fand tatsächlich erst 20 Jahre später statt. Eingebunden in einen Themenabend über Zensur, wurde The War Game 1985 zu einem Zeitpunkt im britischen Fernsehen ausgestrahlt, an dem eine Fülle von TV-Produktionen die zerstörerischen Wirkungen und Folgen eines Atomkrieges längst viel drastischer geschildert hatten, als es Watkins in den 1960er Jahren möglich gewesen war.4 Unmittelbar nach dessen Fertigstellung hatte die BBC den Film aus dem Programm

2

Vgl. Kaldor 1992, S. 202.

3

Horn 2004, S. 312.

4

Die 80er-Jahre waren der Höhepunkt der dramatischen Inszenierung nuklearer Verwüstungen im Fernsehen, denen Mick Broderick ein nahezu pathologisches Interesse fürs Detail attestiert. Vgl. Broderick 1991, S. 40.

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genommen und als Begründung angegeben, dass der vorauszusehende Effekt der Bilder auf das Publikum zu drastisch sein würde, als dass die Ausstrahlung zu verantworten wäre.5 Diese Entscheidung löste eine sich über das ganze Jahr 1966 hinziehende öffentliche Debatte aus, in der die als liberal, unabhängig und engagiert geltende BBC verdächtigt wurde, sich einem Akt der Zensur ergeben zu haben. Tatsächlich stellte sich schließlich heraus, dass die BBC eine Privatvorführung des Films vor Vertretern aus Politik und Militär organisiert hatte, nach welcher der Verteidigungsminister persönlich der Ausstrahlung von The War Game widersprach.6 Um dem Verdacht der Zensur entgegenzuwirken und den eigenen Argumenten Gewicht zu verleihen, veranstaltete die BBC nach der Absetzung des Films zunächst einige Presse-Screenings und erteilte dann dem British Film Institute die Erlaubnis, The War Game an Universitäten und in ausgewählten Kinos aufzuführen. Bei den ersten Vorführungen wurden mehrere Zuschauer ohnmächtig, sodass bei der Premiere in Schottland bereits Krankenwagen vor dem Kino bereitstanden. Von den zahlreichen Unterstützern der BBC wurde der Film infolge solcher Reaktionen als alarmistischer Horrorfilm und als Propaganda der CND, der ‚Campaign for Nuclear Disarmament‘ gelesen, die sich bereits 1957 in Reaktion auf ‚Operation Grapple‘, eine Serie von britischen Atombombentests, um Bertrand Russell und andere Prominente gebildet hatte. Die Befürworter des Films hingegen betonten dessen Realismus und forderten vehement seine Ausstrahlung ein.7 Paradigmatisch hob etwa der US-amerikanische Kritiker-Zar Roger Ebert die „bemerkenswerte Authentizität“ des Films hervor und wiederholte eine Reihe der Informationen und Überlegungen, mit denen Watkins in The

5

Die BBC verkündete über den Film, „[…] that in our judgement it is too horrifying for the medium of broadcasting because of the indiscriminate nature of the television audience." Zitiert nach Chapman 2006, S. 88.

6

Chapman 2006, S. 86.

7

Zu den unmittelbaren Reaktionen auf den Film vgl. Welsh 1983, S. 30ff.

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War Game den Horror eines Atomkriegs belegt.8 Beim New York Film Festival wurde der Film gefeiert, und 1966 gewann Watkins den Academy Award für den besten Dokumentarfilm. Als sich die BBC 1985 dazu durchrang, The War Game doch noch zu senden, hatten ihn laut dem Programmsprecher, der die Ausstrahlung ankündigte, bereits 6 Millionen Menschen gesehen. Auch in der Wissenschaft gab der Fall Watkins Anlass zu zahllosen Analysen und Gegenanalysen.9 Bis heute gilt er auch hier in erster Linie als Zensurskandal, welcher die fehlende Unabhängigkeit des staatlichen Fernsehens und somit eine Krise journalistischer Neutralität zu belegen scheint. The War Game wird dabei zumeist als Aufklärungswerk behandelt, das unliebsame Wahrheiten verbreitete, und wiederum werden seine Authentizität und sein Realismus gelobt, wobei die Frage jedoch offen bleibt, an welchem Referenten sich dieser Realismus messen soll – schließlich gab es nie einen empirischen Atomkrieg, welchen der Film adäquat hätte zeigen können. Dass es sich bei The War Game zudem um einen hochgradig artifiziellen Film handelt, der vielfältige ästhetische Brechungen erzeugt und mit den Gedankenexperimenten des Kalten Krieges ein ebenso untergründiges Spiel treibt wie mit den Konventionen des Mediums Fernsehen, ist nur selten beachtet worden. In diesem Zusammenhang erscheint es als bemerkenswert, dass die BBC nur die Ausstrahlung im Fernsehen unterband, eine Aufführung im Kino aber genehmigte. Diese Akzeptanz hat nicht nur damit zu tun, dass im Kino ein anderes, besser vorbereitetes Publikum anzutreffen war, sondern vor allem mit der Politik des Mediums Fernsehen selbst, das gerade hinsichtlich eines drohenden Atomkriegs keineswegs als unabhängiges Medium betrachtet werden kann. Vielmehr fungierte das Fernsehen während des Kalten Kriegs als Bestandteil einer Disziplinarmacht, die den „imaginäre[n] Krieg“ in die Haushalte trug, den Privatraum politisierte, die ‚nuclear familiy‘ in das nationale Sicherheits- und Verteidigungssystem integrierte und auf diese Weise

8

Ebert 1967.

9

Vgl. u.a. Chapman 2006, Shaw 2006, Wayne 2007.

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dazu beitrug, in den Gesellschaften der westlichen Länder einen politischen Konsens herzustellen.10 Eben diese politische Funktionalisierung des Fernsehens als Medium eines virtuellen Krieges ist es, die Watkins mit The War Game kritisiert und ästhetisch unterläuft.

I MAGINATION UND P ERFORMANZ : M EDIALE M OBILMACHUNG IM K ALTEN

KRIEG

Vor allem aufgrund seiner Reichweite und seiner imaginären Wucht war das Fernsehen besonders gut dafür geeignet, die „nuclear reality“11 mitsamt ihren phantasmatischen Szenarien und ihrer spezifischen Konstruktion von Identität und Feindschaft kulturell zu verankern. In unterschiedlichen Formaten wurden die Zuschauer nicht nur immer wieder mit den Bildern der Atombombentests konfrontiert, sondern auch auf die Gefahren eines Atomkriegs vorbereitet, die in immer neuen Simulationen ganz im Sinne Kahns als zwar desaströs, aber dennoch berechenbar und beherrschbar vorgeführt wurden. Betont wurden die Notwendigkeit der gesellschaftlichen Geschlossenheit sowie die Überlegenheit der westlichen Werte, die das Überleben der Gesellschaft sicherzustellen schienen. Das Fernsehen unterwarf den Atomkrieg dem eigenen Darstellungsregime, domestizierte auf diese Weise die zerstörerische Kraft der Bombe auch auf ästhetischer Ebene und suggerierte so neben seiner eigenen Überlebensfähigkeit auch jene der westlichen Gesellschaft insgesamt. Neben dieser medialen Konfiguration des kollektiven Imaginären trug vor allem die Einbindung von Zivilisten in militärische Übungen und Abläufe zur Herausbildung der westlichen Konsens-Gesellschaften bei. In Großbritannien wurde bereits 1948 das Civil Defense Corps gegründet, das aus freiwilligen Helfern bestand, die auf die Einhaltung

10 Vgl. Kaldor 1992, S. 20.  11 Oakes 1994, S. 78.

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der Sicherheitsvorkehrungen vor, während und nach einem atomaren Angriff achten sollten. Auch für den Zivilschutz war der Drahtseilakt zwischen einer kontrollierten Informationspolitik und einer beruhigenden Rhetorik kennzeichnend: Einerseits musste er die Gefahren der atomaren Bedrohung deutlich genug schildern, um die Bevölkerung zu alarmieren und für die politischen und militärischen Maßnahmen zugänglich zu machen, andererseits evozierte er die Möglichkeit einer gemeinschaftlichen Minimierung der Risiken. Der Zivilschutz ergänzte den imaginären Krieg so um eine performative Dimension, die auf ihre Weise dazu beitrug, nationale Gemeinschaft herzustellen und die Zumutungen des Kalten Krieges auch gegen den sich formierenden politischen Widerstand zu normalisieren. Diese Normalisierung ließe sich pointiert als der eigentliche Effekt des Kalten Krieges beschreiben. Besonders deutlich wird das nicht zuletzt an der massiven Familienpolitik, die im Zuge der ZivilschutzMaßnahmen betrieben wurde. Die Kleinfamilie wurde zur Grundeinheit der nationalen Sicherheit, da sie nicht nur symbolisch für Einheit und Geschlossenheit stand, sondern auch praktisch von Nutzen war. Indem der Familie die Verantwortung für militärische Maßnahmen – etwa den Bau von Bunkern – übergeben wurde, konnten deren Kosten privatisiert werden, während im gleichen Zug das private Engagement im Sinne liberaler Leitvorstellungen als gesellschaftlicher Wert hervorgehoben wurde.12 In den Broschüren, welche die ZivilschutzOrganisationen bereits in den 1950er Jahren in den USA und Großbritannien produzierten, wird die private Kriegsvorsorge bis hin zu Fragen der Tagesgestaltung, der Wohnungseinrichtung und des Haushaltsführung ausdifferenziert. Berühmt sind etwa die in dem USamerikanischen Heft Survival under Atomic Attack aus dem Jahr 1950 publizierten Anweisungen für ein „fireproof housekeeping“, die Sauberkeit und Ordnung innerhalb der Wohnung zu wesentlichen Bestandteilen der nationalen Sicherheit erklären.

12 Vgl. McEnaney 2000, S. 24ff.

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Wie insbesondere Lynn Spigel gezeigt hat, wird dieses familienpolitische Ideal in den Nachkriegsjahren auch durch das Fernsehen verankert.13 Als räumlicher Mittelpunkt des Wohnhauses wurde der Fernsehapparat zu einem (Selbst)-Regierungsinstrument des Familienlebens und des privaten Raums.14 Zugleich eröffnete das neue Medium den Menschen die Möglichkeit, sich als Bestandteile eines nationalen, durch ein gemeinsames Programm vereinigten Kollektivs zu erfahren. Der normalisierende Effekt des Mediums wird dabei schon an der eigentümlichen Selbstbezogenheit von Fernsehsendungen deutlich, die bis heute immer wieder ihre eigene Rezeptionssituation ausstellen, indem sie eine „imaginäre Verdoppelung des Wohnzimmers“ erzeugen und dabei zeigen, „wie ein Wohnzimmer angeordnet und ausgestattet sein muss“.15 Diese Strategie findet sich auch in jenen „thousands of hours of civil defense programming“16 wieder, die vor allem in den USA während des Kalten Krieges produziert und gesendet wurden. Durch diese gleichermaßen informierenden wie instruierenden Spots wurde das Fernsehen zum Einfallstor der politischen Mobilisierung des privaten Raums. Es war somit nicht nur einer der Konstrukteure des kollektiven Imaginären, sondern auch ein Agent jener performativen Kultur des „rehearsals“, welche die Bevölkerung im Kalten Krieg direkt in die militärischen Planspiele einband.17 Die politische Autorität, die das Fernsehen dadurch erhielt, sollte sich vor allem im Ernstfall eines atomaren Angriffs auszahlen, in welchem die Bevölkerung über das Fernsehen angeleitet, informiert und

13 Vgl. Spigel 1992. 14 Zur gouvernementalen Verfasstheit des Fernsehens vgl. Stauff 2005, S. 97ff. 15 Wentz 2009, S. 158. 16 McEnaney 2000, S. 35. 17 Zur Logik des „rehearsals“ vgl. Davis 2007. Zu performativer und imaginärer Dimension des Zivilschutzfilms vgl. Signori 2010, S. 70.

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psychologisch betreut werden sollte.18 Nur ein Jahr vor The War Game wurde 1964 im Auftrag des britischen Home Office für diesen Zweck das sogenannte Civil Defence Information Bulletin (UK 1964, Nicholas Alwyn) produziert, das sieben teilweise schon früher entstandene Zivilschutzfilme zusammenfasste. Es sollte im Falle eines drohenden Weltkriegs von allen nationalen TV-Sendern ausgestrahlt werden.19 Zugleich alarmistischer Appell, verharmlosender Informationsfilm und mediale Instruktion der Bevölkerung, kann das Civil Defence Information Bulletin als Paradebeispiel für jene Art von Fernsehen gelten, das Peter Watkins in The War Game einer radikalen Dekonstruktion unterzieht. Charakteristisch ist zunächst die Rahmung der Serie durch einen vertrauenswürdigen männlichen Sprecher, der die Zuschauer direkt adressiert und eindringlich die Notwendigkeit der zivilen Vorbereitung unterstreicht. Die Rahmenhandlung zeigt ihn in seinem Arbeitszimmer, in dem er anfangs auf der Kante seines Schreibtisches sitzt und die Zuschauer mit väterlichem Habitus darüber aufklärt, dass sie ihre Familie, ihr Heim und sich selbst vor den Folgen eines Atomkriegs zu schützen lernen müssen. Das Arbeitszimmer und die Papiere, mit denen er befasst ist, weisen ihn als Wissensinstanz aus. In den sieben Filmen, welche die Binnenhandlung des Bulletins bilden, bleibt die Stimme des Sprechers stets dominant, indem sie aus dem Off die wesentlichen Informationen mitteilt, während die Bilder lediglich eine illustrative Funktion zu besitzen scheinen. Eine typische Filmaufnahme einer atomaren Explosion steht am Beginn des ersten Beitrags. Die Zerstörungskraft, die hier sichtbar gemacht wird, wird durch den Sprecher

18 Zunächst war in Großbritannien das Radio das Informationsmedium der Regierung; in den 1960er und 1970er Jahren wurde der WTBS, der War Time Broadcasting Service, jedoch auf das Fernsehen erweitert. 19 Die Produktion gilt als Vorläufer der berühmten Protect and Survive-Serie, welche die britische Regierung in den späten 1970er Jahren drehen ließ und deren Veröffentlichung durch die BBC-Sendung Panorama im Jahr 1980 eine breite Diskussion auslöste. Vgl. Shaw 2006, S. 1382.

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jedoch unmittelbar in die drei jeweils bekannten und daher vermeintlich kontrollierbaren Wirkungsbereiche Hitze, Druckwelle und Radioaktivität ausdifferenziert. Stärker noch als die Erklärungen aus dem Off vermittelt ein Schriftzug, der auf dem angehaltenen Bild des Atompilzes eingeblendet wird, die Unterordnung der phantasmatischen Gewalt der Bombe unter das militärisch-politische Wissensregime (Abb. 1).

Abb. 1: Im Civil Defence Information Bulletin regiert das Wissen über die Bombe.

Das Imaginäre steht hier offensichtlich im Dienste einer symbolischen Macht. Die zerstörerische Gewalt der Explosion wird daraufhin noch einmal mit Hilfe von Animationsfilmen detailliert erläutert, welche den Radius und die Intensität der unterschiedlichen Wirkungsbereiche aufzeigen, ohne sie mit konkreten Bildern zu versehen. Die Situation wird somit auch ästhetisch als beherrschbar dargestellt, indem sie im Modus des Schematischen und Modellhaften belassen wird. Der Sprecher betont in seinem Kommentar, dass die Gefahren „all of us“ betreffen, und beschwört so die Gemeinschaft der Bevölkerung herauf. Ausgeblendet bleibt jedoch die Vorgeschichte des imaginierten Krieges, der hier recht unkonkret als eine mögliche Folge der internationalen Spannungen benannt wird, letztlich aber eher wie eine Naturkatastrophe über England hereinzubrechen scheint.

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Nachdem im ersten kurzen Beitrag die Auswirkungen einer Atombombenexplosion erklärt worden sind, folgen in den weiteren Filmen konkrete Anweisungen für die Bevölkerung. Es handelt sich somit weniger um Dokumentar- als vielmehr um Lehrfilme, in denen alle Informationen bereits in Hinblick auf bestimmte Handlungsanweisungen gegeben werden, wodurch die Beherrschbarkeit des Atomkriegs erneut als prinzipiell gegeben evoziert wird. Zunächst geht es um präventive Maßnahmen, die jeder Bürger bereits im Vorfeld des Krieges nach Möglichkeit zu treffen hat. Gefordert wird etwa die Einrichtung eines Schutzraums innerhalb des Hauses, das Anlegen von Vorräten, die Verbarrikadierung der Fenster und die Kontrolle der Funktionstüchtigkeit des Autos, das für eine etwaige Evakuierung gebraucht werden könnte. Daraufhin wird erklärt, was zu tun ist, wenn es zum Ausbruch des Krieges kommt. In unterschiedlichen Situationen vom Einschlag der Bombe überrascht, bringen sich die Darsteller des Films jeweils im privaten Schutzraum, im Straßengraben oder hinter einer Mauer in Sicherheit. Besonderes Augenmerk wird auf das Einüben von Alarmsignalen gelegt, die vor einem bevorstehenden Angriff oder vor radioaktivem Fallout warnen und deren Bedeutung von dem eindringlich in die Kamera blickenden Sprecher mehrfach wiederholt wird. Immer wieder wird zudem die Autorität von Zivilschutz und Medien vorgeführt: So verteilen Zivilschutz-Mitarbeiter Broschüren und kümmern sich vor und nach dem Angriff um die Anwohner ihres Viertels, während in einer anderen Szene Überlebende zu sehen sind, die sich in Erwartung offizieller Verlautbarungen um ein Radio scharen. Der Film verfährt zugleich exemplarisch und idealtypisch, zeigt er doch konkrete Personen, Landstriche und Wohnungen, die im selben Zug als Muster für die britische Bevölkerung und ihre Lebensumstände fungieren. Deutlich adressiert er die Mittelschicht, deren Lebensverhältnisse auf diese Weise als britische Norm ausgestellt werden. So wird der Zuschauer wechselweise als Bewohner einer Mietswohnung, eines Reihenhauses oder eines Einfamilienhauses angesprochen, wobei innerhalb der Wohnungen zumeist Frauen, außerhalb in der Regel Männer zu sehen sind. Charakteristisch für den Zivilschutz-Film ist

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dabei eine Spannung zwischen dem Filmbild als Index,20 das konkrete, gleichsam individuelle Häuser und Straßen in Großbritannien zu zeigen scheint und somit auf eine existierende gesellschaftliche Realität verweist, und dem modellhaften Charakter des Planspiels, das diese Realität selbst als idealtypische entwirft und sie im gleichen Zug in die militärischen Präventionsmaßnahmen einbindet. Zu Personen und Ereignissen behält der Film dabei stets jene „anthropofugale“ Distanz, die Ulrich Horstmann dem Atomzeitalter insgesamt diagnostizierte und die er als reflexives „Auf-Distanz-Gehen […] zu sich selbst“, als „ein unparteiisches Zusehen, ein Aussetzen des scheinbar universalen Sympathiegebotes mit der Gattung, der der Nachdenkende selbst angehört“ sowie als „ein Kappen der affektiven Bindungen“ beschrieb.21 Diese Distanz wird besonders an jenen Stellen deutlich, an denen Zeitraffer oder Standbilder zum Einsatz kommen oder an denen in die fotografischen Aufnahmen Markierungen und Linien eingetragen werden, welche den Blick auf die militärisch relevanten Sachverhalte lenken (Abb. 2). Die vermeintlich lebensnahe Darstellung der britischen Gesellschaft wird auf diese Weise einer militärischen Ökonomie unterworfen, welche den häuslichen Raum bis in die Küchen- und Kleiderschränke durchdringt und dennoch stets in einer ‚strategischen‘ Distanz zu ihren Bewohnern verharrt. Wie stark Peter Watkins sich auf dieses Genre des ZivilschutzFilmes bezieht, geht auch aus einer Bemerkung eines Home-OfficeMitarbeiters hervor, der The War Game mit dem ZivilschutzTrainingsfilm The Warden and the Householders (UK 1961, David Cobham) verglich.22 Auch an diesem etwa halbstündigen Film lassen

20 Nach Peirce ist das fotografisch erzeugte Bild ein Index, da „die physikalische Wirkung des Lichts beim Belichten eine existentielle eine-zu-einsKorrespondenz zwischen den Teilen des Fotos und den Teilen des Objekts herstellt“. Vgl. Peirce 1983, S. 65. 21 Horstmann 1983, S. 8. 22 Vgl. Davis 2007, S. 56.

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Abb. 2: Im Civil Defense Information Bulletin stellen Markierungen im Bild strategische Distanz her.

sich einige der ästhetischen Strategien nachvollziehen, die Watkins in The War Game aufnimmt und unterläuft. The Warden and the Householders zeigt den Eingriff des Zivilschutzes in den häuslichen Raum noch etwas deutlicher als das Bulletin, wendet er sich doch eben an jene Zivilschutz-Mitarbeiter, denen die militärische Anweisung der Bevölkerung im Ernstfall obliegen sollte. Im Mittelpunkt der Handlung steht der titelgebende ‚Warden‘, der von Haus zu Haus geht, um unter Einsatz paternaler Vernunft und Überzeugungskraft mit misstrauischen Hausfrauen zu sprechen und deren uneinsichtige Männer notfalls auch mit erhobener Stimme von der Notwendigkeit der Schutzmaßnahmen zu überzeugen. Als typisches Merkmal des Zivilschutz-Films erscheint auch hier wieder das Herunterbrechen von Gefahrensituationen apokalyptischen Ausmaßes auf konkrete Handlungssequenzen, die zwischen möglichst großer Realitätsnähe und „formalisierende[r] Abstraktion“ oszillieren.23

23 Horn 2004, S. 316.

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Anders als im Bulletin wird der Zuschauer in The Warden and the Householders nun jedoch zur Immersion, zum Eintauchen in eine „quasi-fiktionale“24 Filmwelt aufgefordert, in welcher die Figuren deutlich individuelle Züge tragen. Auch diese Strategie gehorcht allerdings einem militärischen Kalkül, dienen die sensomotorischen Handlungsfolgen doch offenkundig der Einübung bestimmter Verhaltensweisen und Reiz-Reaktions-Ketten, die von den Zuschauern im Ernstfall reproduziert werden sollen. Die scheinbare Individualität der Figuren in The Warden and the Householders illustriert zudem wiederum nur exemplarisch die Schwierigkeiten und Hindernisse, die im Umgang mit ‚realen‘ Menschen auftreten können. Der Film definiert auf diese Weise eine „normalistische“ Abweichungstoleranz: Der Individualität der Bürger kann und muss Rechnung getragen werden, solange sie sich in die militärische Operation integrieren lässt.25 Bemerkenswert an The Warden and the Householders ist die komplexe Erzählsituation. So zeigt die Rahmenhandlung hier erneut einen militärischen Sprecher, der in einer Art Klassenraum auf und ab schreitet und die ihm aufmerksam zuhörenden Zivilschutz-Mitarbeiter instruiert. Die Binnenhandlung besteht hier jedoch aus einem Film im Film, den der Sprecher seinem Publikum nun direkt vorführt, wodurch die Rezeptionssituation von The Warden and the Householders in der Narration verdoppelt wird. Auch der Film im Film beginnt wiederum mit einer Medienrezeption, nämlich mit einer BBC-Fernsehübertragung der fiktiven Eskalation einer politischen Krise, in der das Civil Defence Corps vom Fernsehsprecher zum Einsatz aufgefordert wird. Ziel des Films ist somit die Einübung einer Befehlskette, in welcher der Zivilschutz-Mitarbeiter die Mittlerstellung zwischen Militär und Bürgern einnimmt, wobei er seine Anweisungen, seine Autorität und seinen Einsatzbefehl direkt aus filmischen Medien und insbesondere aus dem Fernsehen erhält. Das Fernsehen wird auf diese Weise als militärisches Medium etabliert, das im gleichen Zug als Medium der Simulation des

24 Vgl. Höltgen 2011, S. 15. 25 Zu Normalismus und Abweichungstoleranz vgl. Link 1997.

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Krieges, der gleichzeitig anschaulichen und abstrakten Antizipation des nuklearen Ernstfalls kenntlich wird. Die Filmbeispiele machen anschaulich, dass der „imaginäre Krieg“ von Beginn an auch ein Produkt filmischer und televisueller Medien war. Als solches zielte er auf eine Disziplinierung und Normalisierung des privaten Raums und des alltäglichen Lebens sowie auf eine Herstellung eines gesellschaftlichen Konsenses. Vom realen Krieg unterschied der imaginäre sich dabei vor allem dadurch, dass es in ihm keinen ‚menschlichen Faktor‘, keine unberechenbaren Einflüsse, keine Zufälle und „Friktionen“ geben durfte.26 Seine Aktualisierung geschah nicht mehr auf dem Schlachtfeld, sondern in den Medien des Imaginären sowie in den Übungen des Zivilschutzes. Der Ausbruch des echten, des dreckigen Krieges musste dagegen in permanenter Latenz gehalten werden. Die Eliminierung aller unkontrollierbaren Faktoren war dafür die Voraussetzung: Sie führte zu einer Spielsituation, in der alle Parteien nach Maßgaben der gleichen Logik handeln mussten, um zu verhindern, dass das Planspiel jemals zum Ereignis werden konnte.

P LANSPIEL UND E REIGNIS : D IE D ARSTELLUNG DES U NDARSTELLBAREN Wie schon der Titel des Films ankündigt, zielt The War Game genau auf diese Spiel- und Simulationslogik, die er durch den Einsatz neuer ästhetischer Strategien zu unterlaufen sucht. Auch Watkins orientiert sich dabei an den Möglichkeiten des Mediums Fernsehen, doch entwickelt er eine alternative Darstellungsform, die zu jener des filmischen Planspiels in einem direkten Widerspruch steht. So visualisiert er zwar ein typisches Gedankenexperiment des Kalten Kriegs, konfrontiert dieses jedoch mit dem Ereignis-Charakter des Mediums, wobei der pädagogische Gestus der Zivilschutz-Filme durch den beobachtenden Live-

26 Clausewitz 2003, S. 36.

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Modus der Fernsehreportage konterkariert wird. Dabei beschränkt sich der Film keineswegs darauf, den schmutzigen Krieg einfach in den imaginären zurückkehren zu lassen. Vielmehr werden beide Seiten der Imagination, werden sowohl die Kontingenz und die ‚Friktionen‘ des tatsächlichen als auch die idealtypischen Gegebenheiten des simulierten Krieges als Produkte medienästhetischer Strategien und somit als artifiziell ausgestellt. Wenn Fernsehen mit Stanley Cavell als eine Überwachung des „Ereignislosen“ konzipiert werden kann, die stets auf den Einbruch des Ereignisses ausgerichtet ist27, so besteht die paradoxe Rhetorik der Zivilschutz-Filme darin, den Atomkrieg gleichzeitig als Ereignis, als Einbruch des Unvorhergesehenen, und als „NichtEreignis“, als erwartetes, beherrschbares Geschehen erscheinen zu lassen.28 Das Ereignis des Atomkriegs wird medial so geformt, dass es unmittelbar in ein Renormalisierungsszenario überführt werden kann.29 Watkins‘ filmische Strategie hingegen zielt darauf, beide Seiten dieses Paradoxes, die Normalität ebenso wie das Ereignis, als Effekte medialer Ästhetiken zu dekonstruieren, ihre Unvereinbarkeit deutlich zu machen und auf diese Weise die inhärente Widersprüchlichkeit der Zivilschutz-Filme auch auf ästhetischer Ebene freizulegen. The War Game wurde für die BBC-Reihe The Wednesday Play produziert, die sich brisanten aktuellen Themen wie der Obdachlosigkeit in England oder der Apartheid in Südafrika widmete. Im Gegensatz zu den Informationsfilmen der Regierung, in denen der Atomkrieg stets als von außen einbrechende Katastrophe behandelt wird, entwirft Watkins ein konkretes politisches Szenario: Nachdem die Ereignisse in Vietnam durch eine Intervention Chinas eskaliert sind, autorisiert die amerikanische Regierung den Einsatz von nuklearen Waffen. Die Sowjetunion protestiert, woraufhin auch der Konflikt um Berlin neu aufflammt. Auf einen taktischen, auf militärische Ziele begrenzten Nuklearschlag des Westens folgt ein ebenso taktischer Gegenangriff der

27 Cavell 2001, S. 151. 28 Zum Nicht-Ereignis vgl. Baudrillard 2007, S. 8ff. 29 Vgl. Thiele 2006, S. 134.

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Sowjets, der auch Militärflughäfen in England unter Beschuss nimmt. Die Bevölkerung Londons wird evakuiert, unter anderem nach Rochester in Kent. Ausgerechnet Rochester wird jedoch von einer verirrten Atombombe getroffen, die eigentlich den Flughafen Gatwick zerstören sollte. Die unmittelbaren Folgen der Explosion – der Blitz, durch den Leute erblinden, der Feuersturm, die Schockwelle und schließlich die radioaktive Verseuchung – werden detailliert vorgeführt, wobei anders als in den Zivilschutz-Filmen nun das massenhafte Sterben der Menschen und die Auswirkungen der Zerstörung auf die Psyche der Überlebenden gezeigt werden. Um das Chaos, das der Zerstörung der Stadt folgt, unter Kontrolle zu bekommen, wird England allmählich zu einem Polizeistaat transformiert, in dem zuletzt Erschießungen an der Tagesordnung sind. Gemeinschaft und demokratischer Konsens, die das Fernsehen durch die Beschwörung der alle gleichermaßen betreffenden Kriegsgefahr gerade herstellen sollte, fallen bei Watkins somit dem Atomkrieg zum Opfer. Das exemplarische Szenario ist denjenigen der Zivilschutz-Filme auffallend ähnlich. Viele der Situationen, die Watkins zeigt, sind geradezu genretypisch: So beginnt der Film nach einer allgemeinen Einführung mit einer Radiosendung, welche die sich zuspitzende politische Lage erklärt und mitteilt, dass die Evakuierung von Teilen der Bevölkerung beschlossen wurde. Wieder ist es also ein Medium, das die Abfolge der militärischen Maßnahmen in Gang setzt. Parallel zu der Tonspur ist auf der Bildebene ein Motorrad-Kurier zu sehen, der vom auf dem Rücksitz mitfahrenden Kameramann gefilmt wird. Durch die eigenwillige Perspektive wird bereits deutlich, dass hier die hypothetische Realität aus nächster Nähe beobachtet, die strategische Distanz zu den Ereignissen und Personen somit aufgehoben werden soll. Der Kurier überbringt den Zivilschutz-Leitern Kents die Nachricht, dass sie eine große Zahl an Evakuierten unterbringen müssen. Die Unlösbarkeit der Aufgabe wird im Folgenden ebenso deutlich ausgestellt wie die Gewalttätigkeit der Maßnahmen, die der Zivilschutz zu treffen hat. So werden etwa nur Frauen und Kinder, aber keine Männer evakuiert, wodurch das Familienideal des Kalten Krieges ad absurdum geführt

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wird. Wer sich weigert, Evakuierte bei sich aufzunehmen, wird verhaftet. Die Zivilschutz-Mitarbeiter agieren nicht länger mit väterlicher Autorität und Vernunft, sondern hektisch und unwirsch. Zudem stehen sie zum häuslichen und privaten Raum, den sie nun stören und zerstören, in einem direkten Widerspruch. Bereits in den ersten Einstellungen des Films nimmt Watkins somit die Ideologie der Zivilschutz-Filme auf, um sie unmittelbar mit einer ‚realistischeren‘ Version ihrer eigenen Szenarien zu konfrontieren. Die Folgen der Explosion der ersten Bombe zeigt Watkins am Beispiel einer sechs Meilen vom Einschlagsort entfernt lebenden Familie, die gerade Besuch vom Hausarzt bekommen hat. Zeit, Ort und die Namen der Personen werden hier im Gegensatz zu den ZivilschutzFilmen genau benannt; zudem zeigt Watkins detailliert Hektik, Verwundungen und Zerstörung und führt auf diese Weise vor Augen, welche Aspekte der Realität eines Krieges in den offiziellen Publikationen ausgeblendet bleiben. Bemerkenswert ist, dass die Explosion der Bombe nicht gezeigt, die Reproduktion des in den 1960er Jahren bereits ikonischen Atompilzes verweigert wird. Stattdessen wird vorgeführt, dass jeder, der den Blitz der Explosion zu Gesicht bekommt, unmittelbar erblindet. Auch der Film selbst wird für einen Moment blind, als das Bild durch die Überbelichtung der Explosion alle Konturen verliert (Abb. 3). Die imaginäre Domestizierung der Bombe, ihre mediale und ästhetische Fassung in wiedererkennbaren Bildern und ihre Unterwerfung durch die symbolische Ordnung des Militärs und der Politik werden auf diese Weise verweigert: Wir können uns eben kein Bild der Bombe machen, können ihr Erscheinungsbild ebenso wie ihre Wirkungen gerade nicht ‚framen‘, da ihre Zerstörungskraft auch unsere Sehfähigkeit unmittelbar auslöschen würde. Ebenso verhält es sich mit der performativen Dimension der Zivilschutz-Filme, die Watkins konterkariert, indem er seine Darsteller nicht länger bei der Durchführung exemplarischer Handlungsabfolgen zeigt, sondern ihre Rat- und Hilflosigkeit von ihnen selbst in gestellten

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Abb. 3: In The War Game blendet der Blitz den Film.

Interviews artikulieren lässt. Die präventiven Maßnahmen der Regierung werden zudem als nutzlos ausgestellt: So werden die Informationsbroschüren zu spät verteilt, sind die meisten darin vorgeschlagenen Vorbereitungen für die Bürger, an die hier offensichtlich die militärischen Kosten delegiert werden, ohnehin nicht zu bezahlen. Ein Anwohner befolgt die Anweisungen dennoch genau, hat sein Haus mit Sandsäcken verbarrikadiert und im Garten einen Bunker angelegt, den er jedoch mit Waffengewalt gegen die Nachbarn zu verteidigen plant. Nicht die Gemeinschaft, sondern der Krieg der Bürger gegeneinander wird so durch den Zivilschutz provoziert. Als die Bombe schließlich fällt, zerschlagen die Bewohner ihre Einrichtung, um aus Türen und Schränken Schutzvorrichtungen herzustellen. Die Normalität des Häuslichen wird so zum ersten Opfer des Krieges. Die zerstörerische Kraft der Druckwelle führt der Film vor, indem er Großaufnahmen der zu Bruch gehenden Tassen in einer Küche zeigt – eine nachgerade parodistische Anspielung auf den Wert, der in offiziellen Publikationen auf Fragen des Haushalts gelegt wird.

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Immer wieder lässt Watkins die Statements der Regierung und anderer Autoritäten auch ganz direkt mit der inszenierten Realität des Atomkriegs kollidieren. So wird das hypothetische Szenario auch in The War Game durch Experten moderiert, die in ihren Ausführungen jedoch immer wieder in einen direkten Widerspruch zu den Bildern geraten. In die Darstellung von an giftigen Gasen verendenden Menschen schneidet Watkins etwa ein gestelltes Interview mit einem amerikanischen Strategen, das auf Aussagen Herman Kahns anspielt. Der Experte referiert lapidar, dass auch nach einem Atomkrieg noch ausreichend Menschen auf beiden Seiten am Leben geblieben sein müssten, um die Weltkriege vier bis acht vorzubereiten. Bilder von verendenden Menschen in einem durch die Atombombe ausgelösten Feuersturm werden mit Aussagen eines anglikanischen Bischofs verknüpft, der an den gerechten Krieg glaubt. Der offizielle Diskurs über den Atomkrieg und seine individuelle wie mediale Imagination fallen auf diese Weise auseinander, was auch am Einsatz der Schrift in The War Game deutlich wird. Dominierte und semantisierte diese in den Zivilschutzfilmen die Bilder, indem sie direkt in ihnen erschien, stehen die Zitate bei Watkins nun auf schwarzen Tafeln, die zwischen die Sequenzen geschnitten werden, während die entfesselten Bilder den imaginären Krieg als Alptraum vorführen. Das Symbolische ist so nicht mehr in der Lage, das Imaginäre zu bändigen. In die filmischen Visionen des Atomkriegs mischen sich zudem nicht zufällig Verweise auf die Bombardierungen Hiroshimas und Dresdens, wodurch die mögliche Zukunft als Extrapolation einer Geschichte bewusst wird, deren traumatische Wucht den Diskurs über den Atomkrieg grundiert. Lassen die Kalkulationen und Planspiele der Nuklearstrategen das Leid, das ein Atomkrieg verursachen würde, als kalkulierbar und rationalisierbar erscheinen, stellt Watkins eine imaginäre Nähe zu den wahrscheinlichen Folgen eines solchen Krieges her, die jede Beherrschbarkeit der Bombe leugnet. Trotz der Abwesenheit eines Protagonisten zielt der Film somit nicht auf präventiv einzuübende Hand-

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lungsfolgen, sondern auf emotionale Teilhabe.30 Den Eindruck von Nähe erreicht Watkins, indem er die Ereignisse mit Schulterkamera an ‚Originalschauplätzen‘ und unter Einsatz von Laiendarstellern filmt. Auf diese Weise lässt er den beobachtenden „you-are-there-style“ 31 von Nachrichtensendungen entstehen, der den Anschein erzeugt, ein Kamerateam wäre während der realen Bombardierung Kents vor Ort.32 Während in den Zivilschutz-Filmen die Übersicht schaffende Kamera als Instanz einer über den Ereignissen stehenden und von diesen daher nicht betroffenen Rationalität erscheint, wird sie bei Watkins etwa von der Druckwelle der Explosion oder vom Feuersturm erschüttert, als befände sie sich mitten in der Situation. Gegen die Virtualität des Atomkrieges führt Watkins so das Fernsehen als Aktualisierungsmedium ins Feld. Spielen die Zivilschutz-Filme gewissermaßen im ‚present simple tense‘ einer allgemeinen Beschreibung der englischen Bevölkerung und der zu treffenden Schutzmaßnahmen, implementiert Watkins in die gleichen Szenen nun den ‚present continuous tense‘ der unmittelbar erlebten Gegenwart, der die Ereignishaftigkeit des Atomkrieges ausstellt und zugleich seine Darstellbarkeit in Zweifel zieht. Der medialen ‚Routinisierung des Schocks‘ wird in The War Game so das Schockhafte des Ereignisses entgegengestellt, das nicht mehr auktorial moderiert wird. The War Game argumentiert dabei weiterhin exemplarisch, doch wird durch die dokumentarische Ästhetik der Nähe nun gerade die Unkontrollierbarkeit des Szenarios ‚Atomkrieg‘ in Szene gesetzt. Die Figuren, die Watkins zeigt, stehen nicht mehr beispielhaft für eine britische Normal-Bevölkerung, sondern illustrieren eine kollektive

30 Zur Erzählsituation vgl. Paget 1999, S. 60: „The point of identification is generalized and constantly shifting. […] People in general, and the audience by association, are involved in the deadly ‚game‘ of the film’s title. The key player in The War Game is the viewing, not the ‚acting‘, subject.“  31 So beschreibt Peter Watkins selbst die Ästhetik des Films auf seiner Internetseite: http://pwatkins.mnsi.net/PW_Game.htm [Zugriff am 25.3.2013]. 32 Tatsächlich hatte Watkins ursprünglich geplant, ein solches Kamerateam zum ‚Protagonisten‘ seines Films zu machen. Vgl. Chapman 2006, S. 79.

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Erfahrung von Ohnmacht, in der Kategorien wie Normalität und Abweichung schlicht irrelevant werden. Zu dieser Strategie gehört auch, dass die Darstellung des Kriegs stets ausschnitthaft bleibt, wobei die scheinbare Zufälligkeit und Unvollständigkeit des Gezeigten dem illustrierenden Bildmodus des Planspiels widerspricht. Von den tausenden von Leichen, welche die Soldaten nach dem Angriff verbrennen müssen, ist in The War Game allein der Rauch zu sehen, und die Identifikation und Zählung der Toten geschieht anhand der Eheringe, die in einem Eimer gesammelt werden, während die verkohlten Gliedmaßen unsichtbar bleiben. Der „you-arethere-style“ macht auf diese Weise nicht allein den Schrecken des Krieges, sondern auch dessen ästhetische wie diskursive Unfassbarkeit sichtbar. Das wird auch an den beiden Off-Stimmen deutlich, von denen eine dem populären BBC-News-Sprecher Michael Aspel gehört. Als „Acousmêtres“33 besitzen die beiden entkörperlichten Stimmen die Eigenschaften der Omnipräsenz und der panoptischen Kontrolle; sie steuern den Blick der Zuschauer und stiften aufgrund ihrer Bekanntheit Vertrauen. Gleichzeitig vermitteln sie jedoch, dass es kein sicheres Wissen, keine Planbarkeit und keinen Schutz vor dem Atomkrieg geben kann, und wenden somit die vom Fernsehen etablierten Strategien der Autoritätserzeugung gegen die staatlichen Vorhaben. Folgt im Zivilschutz-Film zudem stets das Bild der Stimme, so liefern bei Watkins die Bilder das Material für die Deutungen aus dem Off. Unter Benennung konkreter Namen, Orts- und Zeitangaben wird durch einen der beiden Sprecher zumeist in eine als chaotisch und unkontrollierbar dargestellte Situation eingeführt, die dann zum Standbild erstarrt, woraufhin der andere Sprecher den exemplarischen Charakter des Beobachteten aus dem Off deduziert.34 Der Zivilschutz-Film hingegen verfährt tendenziell induktiv, wird hier die Situation doch zunächst als allgemeingültig gesetzt und dann anhand austauschbarer Akteure und Handlungsorte illustriert. Während die Zivilschutz-Filme zu-

33 Vgl. Chion 1999, S. 23. 34 Vgl. Welsh 1983, S. 31.

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dem die Handlungsmacht des Individuums hervorheben, wird in The War Game der Zwangscharakter der militärischen Entwürfe deutlich. Bereits die Entwicklungen vor dem Angriff präsentiert der Sprecher zwar als mögliches Resultat des Kalten Krieges („it is possible that“), verbindet diese Möglichkeit aber beständig mit Notwendigkeit und Zwang: „It is possible that the American President would have no choice but […].“ Das Planspiel entwirft keinen Möglichkeitsraum, sondern einen Raum rationaler und somit notwendiger Entscheidungen, die im Ernstfall alternativlos werden. Die Gewalt, die dem Symbolischen innewohnt, wird in The War Game somit auf performative Weise freigelegt. Die dem Kalten Krieg inhärente Zukunftslosigkeit wird in einer der eindringlichsten Szenen des Films noch einmal besonders nachdrücklich illustriert, in welcher einige Kinder nach dem Atomkrieg nach ihren Berufswünschen befragt werden und alle die gleiche Antwort geben: „I don't want to be nothing.“ Das Oszillieren zwischen Ereignis- und Planspiel-Rhetorik in Watkins Film macht jede Darstellung des Krieges als artifiziell bewusst. Besonders deutlich wird das an den Interviews, die Watkins zwischen die Sequenzen montiert. Auch diese besitzen wiederum eine paradoxe Zeitlichkeit, handelt es sich doch zunächst um authentische und somit gegenwärtige Gespräche mit Bürgern Kents, die vorführen, wie wenig die Menschen über Kernwaffen wissen, während später offenkundig fiktive Interviews mit den Überlebenden des Atomschlags gezeigt werden, die freilich auch von Laiendarstellern aus Kent verkörpert werden. Viele dieser gestellten Interviews scheinen von dem fiktiven Kamerateam, das sich durch Kent bewegt, spontan gedreht worden zu sein. Die Künstlichkeit auch dieser televisuellen Form wird besonders in solchen Situationen offenbar, in denen die befragten Personen Rede und Antwort stehen, während sie unmittelbar mit den Folgen des Krieges konfrontiert sind. So interviewt das Kamerateam etwa eine Frau, die gerade zum Opfer eines Feuersturms wird und trotz des Getöses, der Hitze und der unmittelbaren Gefahr ihre Situation zu schildern bereit ist (Abb. 4). Auch ein Soldat, der mit dem Abschuss von Atomraketen beschäftigt ist, gibt während des Einsatzes bereitwillig Auskunft.

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Betont Watkins durch die Gegenwarts-Rhetorik seines Films zunächst die Ereignishaftigkeit des Atomkriegs, so stellt er durch die Artifizialität dieser Szenen dessen Undarstellbarkeit aus: Das Kamerateam, das die Aufnahmen schießt, dürfte viele der Situationen selbst nicht überleben, weshalb diese ihrem Ereignis-Charakter zum Trotz als gestellt und hypothetisch bewusst bleiben.35 Die fernsehtypische Form des Interviews weist dabei auch ganz generell auf die prinzipielle Unzugänglichkeit des Ereignisses hin. Während die Darsteller der Zivilschutz-Filme wie Schauspieler agieren, indem sie etwa den direkten Blick in die Kamera vermeiden und somit die Herstellung einer diegetischen Filmwelt ermöglichen, werden die Bewohner Kents bei Watkins als Zeugen präsentiert, deren Gestammel zum Ersatz für ein Leid wird, das medial nicht zugänglich gemacht werden kann. Gerade deshalb wirkt es jedoch besonders affizierend: Die teils fratzenhaft verzerrten, teils ausdruckslosen Gesichter der Opfer repräsentieren keine seelischen Zustände, sondern eine vollständige psychische Überforderung und Destruktion, eine „IchAuslöschung im Affektsturm“, die gerade deshalb den Schrecken, der weder abzubilden noch zu diskursivieren ist, beglaubigt und „objektiviert.“36 Der Realismus, den Watkins gegen den Schematismus des Zivilschutz-Films einsetzt, wird auf diese Weise selbst als begrenzt kenntlich, da der Atomkrieg letztlich nur über den Umweg eines „kompensatorischen Diskurs[es] von Augenzeugenberichten“ zugänglich ist. 37

35 Diese Strategie der ‚unmöglichen‘ Interviews entwickelte Watkins bereits in seiner ersten BBC-Produktion Culloden (UK 1964), in der eine Fernsehcrew über die Schlacht von Culloden berichtet, welche im Jahr 1746 stattfand. Auch hier werden die Ereignisse als ‚News‘ präsentiert und ausgewählte Personen interviewt, die dann – mit barocken Perücken und alten Flinten ausgerüstet – ins moderne Mikrophon sprechen. 36 Vgl. Löffler 2003, S. 196. 37 Doane 2006, S. 111.

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Abb. 4: The War Game. Interview im Atomkrieg.

Im gleichen Zug wird deutlich, dass Ereignishaftigkeit selbst zur „Norm einer Fernsehpraxis“ gehört, „die ihrem Zuschauer“ stets „die Verlockung der Referentialität vor Augen hält“, diese aber „auf ewig unerfüllt“ lässt.38 Interviews und Schulterkamera fangen theatralisch inszenierte und somit hochgradig artifizielle Situationen ein, die trotz ihrer scheinbaren Unmittelbarkeit nur stellvertretend für das Ereignis Atomkrieg stehen, und werden so als Elemente einer medialen Strategie lesbar. Der exemplifizierende und der ereignishafte Modus des Zivilschutz-Films, die Herstellung strategischer Distanz sowie die Evokation von Nähe und gegenwärtigem Erleben, treten dabei in einen Widerspruch: Beide Dimensionen werden als Elemente einer Konstruktion von Wirklichkeit bewusst, die dem ‚realen‘ Atomkrieg niemals gerecht werden kann. Der Atomkrieg zeigt sich in seiner Realität als so undarstellbar wie undenkbar; er existiert allein in divergierenden medialen Entwürfen, wobei seine Beurteilung von den Möglichkeiten

38 Doane 2006, S. 120.

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und Gegebenheiten der Medien, die seine Realität konstruieren, abhängt.

D AS E NDE

DES

F ERNSEHENS

Mit dem reflexiven Einsatz widersprüchlicher medialer Strategien unterläuft Watkins den scheinbaren Realismus des Fernsehens, das er auch in seinen Texten immer wieder als semi-militärisches Medium kritisiert. Nach Watkins kennzeichnet sich das Fernsehen durch eine bereits im frühen Hollywood-Kino entwickelte „Monoform“, die der Filmemacher als schnell geschnittene Folge von Bildern und Tönen beschreibt, welche zwar als vielfältig und fragmentiert erscheint, tatsächlich aber „rigide und kontrolliert“ ist. In der Monoform erkennt Watkins somit eben jenen autoritären, pädagogischen und entmündigenden Charakter des Fernsehens, der die Zuschauer auf automatisierte Verhaltensweisen abrichtet.39 The War Game lässt zugleich jedoch bewusst werden, dass die eigentliche Gewalt des Fernsehens nicht in seinen Inhalten, sondern in seiner Allgegenwart besteht. Das Fernsehen unterwirft das weltumspannende Großereignis genauso wie den privaten Raum unterschiedslos einem einzigen, ubiquitären Regime der Sichtbarkeit, das kraft seiner Funktionslogik die stetige Ereigniserwartung selbst erst hervorbringt. An „der Schwelle des Dramatischen und Referentiellen“40 angesiedelt, behauptet dieses Ereignis dabei stets einen Weltbezug, den es niemals vollständig einlösen kann, sondern immer wieder aufschieben muss. Die Unerfüllbarkeit des Versprechens dient der Stabilisierung der Gegenwart, die in einem permanenten Alarmzustand des immer nur möglichen Endes der Dinge harrt: „Das Fernsehen kann hervorragend statt von eigentlichen Ereignissen von deren bloßer Ankündigung leben.“41 Aus diesem Grund liegt die

39 Vgl. http://pwatkins.mnsi.net/hollywood.htm [Zugriff am 25.3.2013]. 40 Doane 2006, S. 110. 41 Engell 2006, S. 143.

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„Vermutung einer weitgehenden Isomorphie zwischen den kognitiven Prozessen der Fernsehkommunikation und denjenigen der globalstrategischen Kommunikation“ des Kalten Kriegs nahe, die nicht nur historisch in etwa zeitgleich entstehen, sondern beide auf die Perpetuierung einer nur scheinbar auf die Zukunft ausgerichteten Gegenwart zielen.42 Auch in den Zivilschutz-Filmen wird das Fernsehen auf Inhaltsebene als allgegenwärtig dargestellt, während es als medientechnische Voraussetzung der nuklearen Imagination selbst ein blinder Fleck bleibt. Die Gewalt der Bombe kann das Fernsehen, das diese zeigt, hier niemals auslöschen, die Zeichenwelt des Films bleibt von der zerstörerischen Macht der Explosion unberührt. Das Fernsehen zeigt also das Ende, ohne jemals selbst zu enden: „Die Möglichkeit des Nicht-mehrsein-Könnens und die Folge eines Imports dieser Beobachtung ins System kommt nicht vor.“43 The War Game legt dieses Paradox frei, indem er gewissermaßen ‚live‘ aus einer Welt berichtet, in der mit den gesellschaftlichen auch die medialen Strukturen, die Grundlage dieses Berichtes sind, verfallen sein müssten. Wenn in der NachkriegsGesellschaft – in Anspielung auf eine Szene aus Germania anno zero (I 1948, Roberto Rossellini) – etwa die Plattenspieler von Hand betrieben werden, weil es keinen Strom mehr gibt, tritt die fortdauernde Anwesenheit eines Kamerateams als widersprüchlich hervor. Wenn zudem der Off-Kommentar auch die plündernden, hungernden Menschen, welche die Kamera zeigt, noch namentlich benennt, so wird deutlich, dass seine allwissende Stimme einer symbolischen Ordnung angehört, deren Zerfall sie selbst gerade beschreibt.44 Eben dadurch aber, dass in The War Game die nachgerade ostentativ innerdiegetischen Instanzen und Medien der Darstellung nicht selbst verschwinden, sondern fortbestehen, wird die tatsächliche Verdrängung des Endes, werden die temporalen Paradoxien und das politische Kalkül frei-

42 Engell 1989, S. 82. 43 Engell 2006, S. 143. 44 In diesem Sinne schrieb Derrida von der „Apokalypse des Namens“. Derrida 2009, S. 109.

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gelegt, die den Kalten Krieg strukturieren. Der reale Krieg, den Watkins zeigt, ist das dauerhaft aufgeschobene und somit nur scheinbare Ziel einer Vorbereitung, deren eigentlicher Zweck in der Herstellung und Zementierung der Konsensgesellschaft besteht: Sich selbst und damit den gegenwärtig andauernden Zustand setzt Globalstrategie endgültig, obschon sie – in Szenarien und Übungen beispielsweise – sehr wohl nach der Überwindung des ephemeren spannungsreichen Gegenwartszustands zu streben scheint […]. Es steht immer etwas aus, das nie erreicht wird und werden soll. […] Die Selbstreproduktion der Globalstrategie erfordert ihre De-Instrumentalisierung. Deshalb ist es ihr Zweck, ihren Zweck zu verfehlen. Deshalb ist sie zugleich eine Fortschreibung der klassischen Strategie – bezüglich der Zweckorientierung – und ihre Umkehrung – bezüglich der Verfehlung des Zwecks.45

Wenn das Fernsehen jedoch gerade dann an dieser diskursiven Selbstreproduktion teilnimmt, wenn es das Ende zu denken versucht, so ginge es letztlich darum, die ständige Produktion von Szenarien selbst zu unterbinden und ein tatsächliches Ende des Fernsehens herbeizuführen. Die in der letzten Sequenz des Films deutlich artikulierte Kritik an dem „Schweigen“, das in Presse und Fernsehen hinsichtlich der Gefahren eines nuklearen Krieges angeblich herrsche, lässt allerdings darauf schließen, dass Watkins an die Möglichkeit eines alternativen, aufklärerischen Einsatzes des Mediums glaubt. Dass er seinen Film mit der Wiederholung einer Einstellung enden lässt, die bereits vorher im Film zu sehen war, weist dennoch darauf hin, dass ihm die prinzipielle Endlosigkeit der televisuellen Beschwörungen des Endes durchaus bewusst ist. Die Ästhetik des Films ist somit häufig widersprüchlicher als sein Kommentar, findet sich hier doch eine Auseinandersetzung mit den Funktionsweisen des Fernsehens, welche die Kritik an der Atompolitik Großbritanniens beständig auf ihre medialen Strategien und Grundlagen verweist.

45 Engell 1989, S. 29f.

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Indem The War Game an der selbsterhaltenden Strategie des Fernsehens wie des Kalten Kriegs auf performative Weise Kritik übt, entwickelt er eine medienreflexive Dimension, welche ihn auch von seinen angeblichen Nachfolgern unterscheidet. So entwirft die BBCProduktion Threads (UK 1984, Mick Jackson), mit der The War Game immer wieder verglichen wurde,46 zwar schauerliche Bilder des Leids und der Zerstörung in einer postatomaren Welt und erzählt eindringlich von dem Fatalismus der Überlebenden, die hier erneut die Toten beneiden. Eine Reflexion der eigenen Ästhetik bleibt jedoch aus: Wie in den amerikanischen Produktionen The Day after (USA 1983, Nicholas Meyer) oder Testament (USA 1983, Lynne Littman) inszeniert sich das Fernsehen hier als journalistisches Medium, das auf didaktische Weise die atomaren Gefahren vorführt. Auf diese Weise reproduziert es jedoch gerade die Logik der Kalkulation des Unkalkulierbaren, die Motor des Kalten Krieges war. Der populäre Zeichentrickfilm When the Wind blows (UK 1986, Jimmy T. Murakami), der ein rührend naives altes Ehepaar vorführt, das sich nach dem Atomschlag akribisch an die Vorschriften hält und dennoch zugrunde geht, richtet sich wie Watkins Film deutlich gegen die Zivilschutz-Propaganda, indem er dieser eine andere filmische Ästhetik gegenüberstellt. Eine The War Game vergleichbare autoreflexive Dimension entwickelt sich daraus allerdings auch hier nicht. Am nächsten kommt der Medienreflexivität von The War Game womöglich der von HBO produzierte Fernsehfilm Countdown to Looking Glas (USA 1984, Fred Barzyk), der ausdrücklich auf einem von Militärexperten entwickelten ‚war game‘ basiert. Über weite Strecken funktioniert der Film als fiktive Nachrichtensendung, die von einer eskalierenden politischen Krise berichtet. Der Ernst der Situation wird durch den Kollaps der Rituale und Protokolle des News-Formates eindringlich zum Ausdruck gebracht: Als klar wird, dass der nukleare Schlagabtausch unmittelbar bevorsteht, sind der Anchorman und sein Team sprachlos, bricht auch unter den Mitarbeitern des Fernsehens Pa-

46 Vgl. Seed 2006.

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nik aus. Am Ende des Films wird die vertrauensvolle Stimme des Nachrichtensprechers und mit ihm die symbolische Ordnung des Fernsehens durch den Notfall-Sender „Looking Glas“ ersetzt. Auf der Bildebene erscheint das Flugzeug des Präsidenten, das den dem Untergang geweihten amerikanischen Boden verlässt. Die Signallampen der Maschine gehen in ein Wechselspiel von Licht und Dunkelheit über, in ein letztes, auf seine rudimentären Bestandteile reduziertes Filmbild. Dann friert auch dieses Bild ein, und aus den Lautsprechern ertönt ein technisches Signal, das keinen semantischen Gehalt mehr besitzt. Der reale Atomkrieg führt so zuletzt das Ende seiner televisuellen Imagination herbei.

L ITERATUR Jean Baudrillard, Das Ereignis, Weimar 2007. Mick Broderick, Nuclear movies. A critical analysis and filmography of international feature length films dealing with experimentation, aliens, terrorism, holocaust, and other disaster scenarios, 19141989, Jefferson 1991. Stanley Cavell, „Die Tatsache des Fernsehens“, in: Ralf Adelmann u.a. (Hgg.), Grundlagentexte zur Fernsehwissenschaft, Konstanz 2001, S. 125-165. Carl von Clausewitz, Vom Kriege, München 2003. James Chapman, „The BBC and the Censorship of The War Game (1965)“, in: Journal of Contemporary History 41/1, 2006, S. 75-94. Michel Chion, The Voice in Cinema, New York 1999. Tracy C. Davis, Stages of Emergency. Cold War Nuclear Civil Defense, Durkham 2007. Jacques Derrida, Apokalypse, Wien 2009. Mary Ann Doane, „Information, Krise, Katastrophe“, in: Oliver Fahle und Lorenz Engell (Hgg.), Philosophie des Fernsehens, München 2006, S. 102-120.

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ABBILDUNGEN Abb. 1-2: Civil Defence Information Bulletin (GB 1960, R: Nicholas Alwyn). Abb. 3-4: The War Game (GB 1965, R: Peter Watkins).

Ausfallsicher Sidney Lumets Fail-Safe (1964) T OBIAS N ANZ

Fail-Safe beginnt unter veränderten Vorzeichen. Dort, wo man vielleicht einen Blick in ein atomares Waffenlager oder in einen Kontrollraum erwartet, zeigen die ersten Szenen des Films einen archaisch anmutenden Stierkampf, der in New York um 5.30 Uhr morgens stattfinden soll. Das blutige Ritual startet mit dem Einlauf des Tiers in eine Arena, welche mit jubilierenden Zuschauern besetzt ist. In den Rängen sitzt General Warren Black, der sich im Gegensatz zum restlichen Publikum zunächst apathisch bewegt und wie ein Gefangener erscheint, der mit unsichtbaren Seilen gefesselt ist und so nur gebannt das Schauspiel betrachten kann. Vor dem Höhepunkt des Kampfes, aus dem der Matador schließlich als Sieger hervorgehen wird, blicken sich der Stier und der Offizier an und scheinen eine imaginäre Beziehung aufzubauen. Denn der sich anschließende Todeskampf des Tieres, jeder Stich der Lanzen, lässt Black in starke Windungen ausbrechen, bis der Stier in der Arena und der General auf der Zuschauertribüne gleichzeitig sterben werden. Nach dem Blickkontakt zwischen Black und dem Stier heben sich beide eigentümlich vom Rest der Filmbilder ab. Der Offizier wird überbelichtet und erscheint weiß, während der Stier seine Konturen

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Abb. 1: General Black im Todeskampf.

verliert und zum Schatten seiner selbst wird. An ihren Rändern sind beide von Unschärfen umgeben, die die Körperbegrenzungen in ihr jeweiliges Umfeld ausstrahlen lassen.1 Sie erinnern an die Ästhetik von Röntgenbildern, deren Belichtung von der Dichte der bestrahlten Körper abhängt und so in Relation zur absorbierten Strahlung bei Knochen, Gelenken oder Weichteilen unterschiedliche Helligkeitsverläufe zeigt. Der General und der Stier werden so zu Röntgenfotographien innerhalb des Filmbilds, die die Grenzen zwischen den Körpern und ihrer kadrierten Umgebung verwischen. Die sich auflösenden Körpergrenzen vermitteln den Anschein von Strahlungsspuren, die den atomaren Lichtblitz am Ende des Films ankündigen. Das, was nicht gesehen werden kann – die radioaktive Strahlung –, entwickelt sich auf dem Film und verweist auf die atomare Katastrophe, deren Entwicklung Thema des Films Fail-Safe ist. Der Soundtrack spannt ebenso den Bogen zum Schluss. Der Jubel der Zuschauer vermischt sich mit Geräuschen von Flugzeugturbinen, bis ein schriller Klang zu hören ist, der

1

Vgl. Lippit 2005, S. 84.

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am Ende des Films die Zerstörung Moskaus belegt und hier die Vernichtung New Yorks vorwegnimmt. Nach dem Kampf rückt Black erneut ins Licht. Er erwacht im ehelichen Schlafzimmer, womit sich die Ereignisse in der Arena als ein Alptraum und damit als eine Projektion auf seine Traumleinwand2 erweisen. Während der General seine Augen öffnet, wird der Filmtitel Fail-Safe im schwarz-weißen Wechsel eingeblendet und mit dieser symbolischen Überformung des Filmbildes der Beginn der Erzählung verdeutlicht. In diesem kurzen Vorspann sind einige zentrale Themen von Sidney Lumets Regiearbeit aus dem Jahr 1964 angelegt, die diesen Aufsatz anleiten. Während der Traum mit den begeisterten Rufen des Publikums und mit dem Ritual des Stierkampfes zunächst eine funktionierende symbolische Ordnung bestätigt, irritiert die imaginäre sowie phantasmatische Übertragung zwischen Black und dem Tier. Die Radiographien und überhaupt der Umstand, dass der Kampf im Traum des Offiziers stattfindet, verweist auf die Katastrophe schlechtin: Die Zündung der Atombombe und die Vernichtung New Yorks markiert eine – um es mit der Psychoanalyse zu beschreiben – Begegnung mit dem Realen, die, sofern diese Begegnung überhaupt möglich ist, nur im Traum statthat. In Fail-Safe werden, so die Überlegung dieses Aufsatzes, sicher geglaubte Ordnungssystematiken in Frage gestellt und mit der medientechischen Abhängikeit der Staatsführung verbunden. Unter den Vorzeichen des Kalten Krieges wird die symbolische Ordnung mit dem Imaginären des Menschen abgeglichen. So werden im ersten Teil dieses Textes die staatliche Ordnung und die Hierarchie der militärischen Befehlskette mit den Plänen und Vorstellungen der Befehlshaber gegeneinander gehalten. Danach rückt die Rolle der technischen Medien ins Zentrum der Ausführungen, bis schließlich in einer Analyse der Schlusssequenzen Fail-Safes die Überlegungen zur symbolischen Ordnung und zu den technischen Medien zusammengeführt werden.

2

Vgl. Baudry 1994, S. 1064f.

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Denn in Fail-Safe macht sich eine Erschütterung der symbolischen Ordnung bemerkbar, die sich – wie noch zu zeigen sein wird – in bruchhaften Befehlsketten und in der mangelnden Autorität des USamerikanischen Präsidenten wie auch seiner Offiziere ausdrückt und dadurch zur atomaren Katastrophe führt. Diese Erschütterung ist aber nur eine vordergründige, da sie in ihrer Radikalität vielmehr auf den wahren Herren über die symbolische Ordnung verweist und das Imaginäre und Phantasmatische der menschlichen Befehlshaber angreift: Sie betont eine Verkennung in der imaginären Ordnung des Menschen und verweist darauf, dass die nichtmenschlichen Agenten wie Computer oder andere technische Medien die Operationen steuern. Die Menschen werden auf die Erkenntnis zurückgeworfen, dass ihre Hoheit über das militärische Gerät nur begrenzt ist. Dies verdeutlicht sich bereits in einer Szene, in der zwei Offiziere Congressman Raskop durch das Strategic Air Command in Omaha führen und ihm die Computertechnologie vorführen, mit der die militärischen Luftoperationen gesteuert werden. Begleitet werden sie von Gordon Knapp, der als Vertreter der Computerindustrie Erläuterungen zu den Rechnern seiner Firma beisteuert. Raskop äußert am Ende der Führung einige Zweifel. Die Technik, so fasst er seine Eindrücke zusammen, mache ihm Angst. Wer könne garantieren, dass diese sich nicht verselbständige? Wer trage die Verantwortung? Während General Bogan die Verantwortung noch bei seinem Oberbefehlshaber, dem US-amerikanischen Präsidenten sieht, ist sich der Computerfachmann der demokratisch gewählten Befehlskette nicht sicher. Die Verselbständigung müsse man riskieren, so Knapp, auch wenn bei einem so komplexen System letztlich niemand die Verantwortung trage. Die Frage der Verantwortung ist ein zentraler sowie wiederkehrender Baustein des Films und spitzt sich zu, als die Handlung durch einen Defekt am Hauptkontrollelement der computerisierten Verteidigungsanlage an Dramatik gewinnt. Denn das Eindringen eines unbekannten Flugobjektes in den amerikanischen Luftraum befiehlt alle Flugzeuge der US Air Force an ihre jeweiligen Fail Safe Points, deren Koordinaten vorab festgelegt wurden und die den Ausgangspunkt für einen

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Rückzug oder einen Angriff markieren. Nachdem das Ufo als eine vom Kurs abgekommene Passagiermaschine identifiziert wurde, kann die Einsatzzentrale in Omaha Entwarnung geben. Allein eine Staffel erhält den Angriffsbefehl auf Moskau, der durch den Ausfall und Austausch des Hauptkontrollelements, also durch eine medientechnische Störung in die betreffenden Cockpits übermittelt wird. Was sich hier zunächst als ein Ringen zwischen Mensch und Maschine entpuppt, spitzt sich in der Folge weiter zu und offenbart sich als eine Störung in der symbolischen Ordnung. Jene Ordnung, so wurde in der Psychoanalyse festgehalten, ist insofern konstitutiv für das Subjekt und das menschliche Miteinander,3 da Buchstaben, Grammatiken oder Sprachen das Denken und Reden des Menschen determinieren, Gesetze in einem Staat die Handlungen oder Verbote bestimmen oder die Gebote eines Gottes das Leben der Gläubigen anleiten. Die symbolische Ordnung sichert auch die Autorität und die militärische Befehlsgewalt des Präsidenten, die in Fail-Safe aus den Fugen gerät. Denn nachdem verschiedene Versuche gescheitert sind, die angreifenden Bomber zu stoppen, versucht der Präsident die Piloten zum Abbruch der Mission zu bewegen. „Colonel Grady,“ so adressiert der Oberbefehlshaber der amerikanischen Streitkräfte seinen untergebenen Staffelleiter, this is the President of the United States. The mission you were flying has been triggered by a mechanical failure. It is a mistake. I order you and the other planes to return to your base at once. You hear? At once! Colonel Grady, I repeat, this is the President!

Sein Befehl wird vom Bomberpiloten ignoriert. „Damn it, Grady, this is the President!“ Auch der Fluch verhallt ins Leere, obgleich sich der Präsident in seiner kurzen Ansprache symbolisch korrekt verortet und die Befehlskette in Erinnerung ruft. Ebenso wenig vermag es die zur Hilfe gerufene Mrs. Grady, die befriedende Funktion ihres Mannes im

3

Vgl. Lacan 1996a, S. 9.

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familiären wie auch weltpolitischen Sinne aufzurufen. Ihr verzweifelter Schrei über die Funkstation des Lagezentrums in Omaha lässt den Adressaten nicht einlenken: „Jack, there’s no war. We’re fine. You must turn back.“ Das mit Nuklearwaffen beladene Flugzeug hält seinen Kurs auf Moskau, da entlang der Logik der Operationsketten der Air Force kein Pilot nach dem Passieren des Fail Safe Points noch Funksprüche beachten darf. Hier lässt sich ein Missklang, ein Aus-den-Fugen-Geraten der symbolischen Ordnung diagnostizieren. Zum einen verlaufen die militärischen Operationsketten nach Plan, die für den Kriegsfall erstellt wurden und Störungen durch menschliche Befehlshaber ausschließen sollen. Zum anderen wird aber die Autorität des Präsidenten missachtet, Wert- und Urteilssysteme laufen ins Leere oder werden – worauf noch zurückzukommen sein wird – von einem archaischen und alttestamentarischen Recht abgelöst. Zur Deeskalation der Lage kontaktiert der amerikanische Präsident seinen sowjetischen Kollegen mit dem Roten Telefon, um den Ausbruch eines Dritten Weltkrieges zu verhindern. Außerdem lässt er der sowjetischen Abwehr alle relevanten Daten übermitteln, um die Flugzeuge der Air Force zu einem leichteren Ziel zu machen. Dabei führt der Film den Missklang innerhalb der symbolischen Ordnung ein weiteres Mal vor. Obgleich der Präsident seinen Soldaten im Lagezentrum in Omaha die bedingungslose Kooperation mit den sowjetischen Verantwortlichen befohlen hat, wird seine Weisung von zwei hochrangigen Soldaten verweigert, da sie ein Schlüsselgeheimnis ihrer Streitkräfte preisgeben sollen. Der gleiche Colonel Cascio, der am Anfang des Filmes das fehlerhafte Hauptkontrollelement bemerkte und dessen Ausfall mit den Worten „something blew in the fault indicator“ dem vorgesetzten General meldete, verschlägt es buchstäblich die Sprache, und er bricht in verkrampften Windungen aus. „I’m sorry General,“ wird er später seinen Ausfall rechtfertigen, „I don’t know what happened ... I just couldn’t do it. It was like a ... I don’t know, a fit or something.“ Der andere befehlsverweigernde Offizier nimmt Haltung an und schweigt. Allein ein untergeordneter Soldat beantwortet mit

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einigem Widerstand und mit großer Unlust die Fragen der Sowjets, deren Besprechung sich der Präsident „without reservation and at once“ wünschte. Colonel Cascio und die Hauptkontrolleinheit bauen eine Beziehung auf, die durch den „fit“, den psychischen Ausfall des Soldaten, und den technischen Ausfall der Maschine geknüpft wird. So wird das, was sich zunächst als ein Ringen zwischen Mensch und Maschine diagnostizieren ließe, zur Problematisierung der Frage, wer denn der große Andere sei, der die symbolische Ordnung durchdringt. Eine Maschine denkt nicht, so hielt Jacques Lacan in einem Beitrag zur Psychoanalyse und Kybernetik fest, „[w]ir sind’s, die sie gebaut haben, und sie denkt, was man ihr gesagt hat, daß sie denken soll. Aber wenn eine Maschine nicht denkt, dann ist es klar, daß wir selbst auch nicht denken in dem Moment, wenn wir eine Operation ausführen. Wir folgen exakt denselben Mechanismen wie die Maschine.“4 Denn wenn man festhält, dass die natürliche Syntax der menschlichen Sprache ein Beispiel für eine symbolische Ordnung ist, die die Subjekte ausrichtet und die von diesen größtenteils automatisiert angewendet wird, da das Regelwissen der Grammatik nicht permanent aufgerufen werden muss, kann man auch auf die Syntax der Maschinen verweisen, die einen formalen Charakter hat und basal auf eine Reihung von 0 und 1 zurückführbar ist.5 Die Sprache der Kybernetik ist gänzlich automatisiert und produziert eine symbolische Ordnung, die das Subjekt ebenso zurichten kann. Der große Andere wird dann aber nicht mehr durch den Präsidenten markiert, sondern durch die Rechner des War Rooms in Omaha. So scheint die Dramaturgie Fail-Safes darin zu bestehen, das Aufkommen einer anderen symbolischen Ordnung vorzuführen, nämlich jene der symbolverarbeitenden Maschine, und im Gegenzug die Souveränitatsfunktion als Fiktion zu enttarnen. Was im Film verhandelt wird, ist nicht in erster Linie eine Konstellation des Kalten Krieges oder ein Kräftemessen der beiden Blöcke, sondern eine Verkennung in der ima-

4

Lacan 1991, S. 385.

5

Vgl. ebd.

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ginären Ordnung. Der Präsident, der sich vielleicht einmal als Oberbefehlshaber sah, ist nicht mehr Herr der Lage, sondern kann allenfalls ohnmächtig das Geschehen beobachten. Während er im Film gegenüber seinem Dolmetscher Buck als Vaterfigur und gegenüber den Politikern und leitenden Offizieren im Pentagon und in Omaha als Oberbefehlshaber inszeniert wird, betritt der Computer durch einen Hintereingang die Bühne des filmischen Kammerspiels. Als Folge ist die Institution Präsident angeschlagen: Der Oberbefehlshaber der Streitkräfte kann weder seine Befehls- und Ordnungsgewalt ausüben noch den Anschein erwecken, dass er diese regulierende Macht habe.6 Die Strategie des Pentagonberaters Professor Groeteschele besteht nun darin, diesen fiktionalen Teil der präsidialen Macht aufrechtzuerhalten, indem er die Hilflosigkeit des Präsidenten in eine vermeintliche Stärke umwandeln möchte. Nachdem Groeteschele zu Beginn des Filmes als ein kalt kalkulierender Wissenschaftler eingeführt wurde, der selbst in den frühen Morgenstunden die Gäste einer Party mit seinen Überlegungen zum Atomkrieg unterhält, belehrt er wenige Stunden später den Stab des Verteidigunsministers im Pentagon über die Vorzüge eines Erstschlags: Mr. Secretary, I am convinced that the moment the Russians know bombs will fall on Moscow, they will surrender. […] Don’t you see, sir, this is our chance. We never would have made the first move deliberately, but Group 6 has made it for us, by accident. […] We must advise the President not to recall those planes.

Der durch einen technischen Defekt ausgelöste Angriff könne doch, so sein Argument, in einen kraftvollen Erstschlag umgewandelt werden, für den die menschlichen Entscheidungsträger nie den Mut aufgebracht hätten. Mit dieser Strategie wäre zumindest bei Kriegsbefürwortern die Außenwirkung des Oberbefehlshabers wiederhergestellt worden, der

6

Vgl. Legendre 2012, S. 35.

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einen Computerfehler als seinen souveränen Befehl hätte ausweisen können. Nun ließe sich einwenden, dass sowohl der amerikanische Präsident wie auch der sowjetische Premierminister ihre Souveränität beweisen. Insbesondere in den Szenen, in denen die Staatsführer miteinander über das Rote Telefon verbunden sind, zeigen sich zwei geschickte Verhandler, die trotz der durch die fehlerhafte Technologie ausgelöste Katastrophe einen Atomkrieg abwenden können. Auch die Entscheidung des amerikanischen Präsidenten, New York nach dem alttestamentarischen Prinzip ‚Auge um Auge, Zahn um Zahn‘ zu opfern, mag ein Beleg dafür sein, dass die menschlichen Akteure wieder Souveränität gewinnen. Funktion und Fiktion des Souveräns scheinen in Fail-Safe gleichermaßen behandelt zu werden. Diese Dopplung stellt jedoch keinen Widerspruch dar. Sowohl die Prozesse der Hegung der politischen Ordnung wie auch die Vorführung der phantasmatischen Seite der Souveränitat und der reibungslos funktionierenden Befehlskette verweisen auf eine Souveränität, die ein Effekt von Medientechnik ist. Anders formuliert zeigt Fail-Safe einen Präsidenten, der als menschlicher Agent in seinen Handlungen in hohem Maße von technischen Agenten abhängig ist. Dies liegt schon allein in der räumlichen Anordnung begründet. Nahezu alle Szenen des Films spielen in abgeschlossenen Räumen wie dem Bunker des Präsidenten unterhalb des Weißen Hauses, der Operationszentrale im Pentagon oder jener in Omaha sowie in zwei Cockpits. Die Kommunikation zwischen diesen Räumen wird via Telefon oder Funk gestellt und die wesentlichen Informationen über die Lage werden mittels technischer Medien in die Operationszentralen vermittelt (Abb. 2). In Omaha werden etwa die Koordinaten und Richtungen der Flugzeuge in Echtzeit in Form von Flugzeugsymbolen auf einem riesigen Display angezeigt, die konsequent dann aufblinken und vom Display verschwinden, wenn die echten Maschinen abgeschossen worden oder aufgrund leerer Treibstofftanks in den atlantischen Ozean gestürzt sind (Abb. 3). Die menschlichen Agenten in den Operationszentren

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Abb. 2: Der Präsident als Mediennutzer. Zu seiner Rechten steht das Rote Telefon.

Abb. 3: Das raumfüllende Display im Lagezentrum.

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benötigen solche Symbolisierungen zur Lagebeurteilung, während der Oberbefehlshaber im Bunker des Weißen Hauses in erster Linie von Kommunikationsmedien abhängig ist. Er hält sich in einem schlichten Raum auf, an dessen Wänden keine Karten oder Displays hängen, der aber über ein Vorzimmer mit Sekretärin und über eine Telefonanlage sowie über eine telefonische Diretktverbindung in die Sowjetunion verfügt. Der Präsident wird so als Knotenpunkt eines Entscheidungsnetzwerkes inszeniert, der die Visualisierungen der militärischen Hauptquartiere nicht benötigt, sondern allein und mit Hilfe der Sprechverbindungen sowie seinem Dolmetscher Buck vernunftbasierte Entscheidungen zu treffen vermag. In Analogie zur bipolaren Weltordnung sind die beiden Staatsführer der Kalten Kriegsmächte die zentralen Instanzen in ihren Ländern, die einen Kriegsausbruch nur durch persönliche Verhandlungen verhindern können. Diese Logik des Roten Telefons, die die beiden Staatschefs als vernünftige, charakterstarke und krisenfeste Persönlichkeiten denkt,7 führt aber umso deutlicher die Bedeutung von medientechnischen Agenten in der Entscheidungskette vor. Die Abhängigkeit von technischen Medien wird insbesondere bei der letzten Telefonkonferenz zwischen den beiden Staatsmännern deutlich, der auch die Lagezentren sowie der amerikanische Botschafter Jay in Moskau und der sowjetische UNO-Botschafter Lentov in New York fernmündlich beiwohnen. Der amerikanische Präsident hat sich bereits entschlossen, entlang des alttestamentarischen Prinzips ‚Auge um Auge, Zahn um Zahn‘ seinem sowjetischen Kollegen New York als Opfer anzubieten, sofern die Bomber der Air Force Moskau vernichten. Er habe, so sagt der Präsident, eine Entscheidung getroffen. Wenn in der sowjetischen Hauptstadt die Bomben explodieren würden, höre man über die Telefonleitung „a high, shrill sound“. Dieses Störsignal käme vom Telefon des amerikanischen Botschafters in Moskau, welches im Feuerball der Atombombe schmelze. Der Präsident würde diesen technischen Aufschrei als Beweis für die Zerstörung dieser europä-

7

Vgl. Nanz 2010, S. 73f.

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ischen Hauptstadt nehmen und seinem alten Schulfreund Blackie – jener träumende General Black vom Beginn des Films – den Befehl geben, zwei Atombomben auf New York zu werfen. „When we hear the shriek of Mr Lentov’s phone melting,“ so hält der Präsident in der Telefonkonferenz fest, „we will know that he is gone and with him, New York.“ Das schmelzende Telefon des sowjetischen UNO-Botschafters stünde als Beleg für die Zerstörung New Yorks und würde an die beiden Roten Telefone übertragen werden. Einen Atomkrieg vor Augen, trifft der Präsident eine Entscheidung, die seine Souveränität gegenüber den technischen Operationsketten wiederherstellen soll. Sein Befehl zur Bombardierung New Yorks hängt ganz allein von einem Störsignal ab, welches der Sender – das Telefon des amerikanischen Botschafters – bei seiner Zerstörung aussendet. Damit ist ein informationstheoretisches Modell aufgerufen, das der Mathematiker Claude Shannon 1949 für das amerikanische Militär entwickelt hat und das die Übertragung von Nachrichten beschreibt.8 Eine Station sendet Signale aus, die kodiert und durch einen Kommunikationskanal an eine empfangende Station mit vorgeschalteter Dekodierung übertragen wird. Der Kanal kann dabei mit Störgeräuschen angefüllt sein, die etwa durch die Technik hervorgerufen werden und die Signale verfälschen können. Die Quellen jener Störgeräusche werden in Shannons Modell als ein Sender gedacht, der den Kanal mit einem Rauschen anfüllt. Sind die Signale der Nachrichtenquelle stark genug, um sich gegenüber dem Rauschen des Kanals durchzusetzen, also die Störung zu entstören, so kann die Botschaft von einem Empfängermedium dekodiert werden. In dem Modell können aber auch die Nachrichten- und die Störquelle die Plätze tauschen, indem die Störquelle als eigentliche Signalquelle interpretiert wird. Die Störung wird dann für Kommunikation operabel gemacht, wenn beispielsweise bestimmte Rauschmuster erinnert und damit als Informationen gewertet werden. Was für einen Beobachter als Störung gilt, ist für einen Emp-

8

Vgl. Shannon/Weaver 1976, S. 11-17.

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fänger wie den Präsidenten eine bereits empfangene Nachricht,9 welche im Fall Fail-Safes die Vernichtung Moskaus signalisiert. Der amerikanische Präsident, der innerhalb kürzester Zeit eine Entscheidung treffen muss, macht diese von einer medientechnischen Störung abhängig. In einem Klima, das von allseitigem Misstrauen geprägt ist – man denke erneut an die Sorge über russische Stimmenimitatoren, die den Piloten des Bombers daran hindert, auf den Funkspruch des Präsidenten zu reagieren –, ist die gelingende Kommunikation ein schwieriger Fall.10 Der unzweifelhafte Beweis, der Auskunft über die Zerstörung Moskaus geben kann, wird nicht vom amerikanischen Botschafter in Moskau oder vom sowjetischen Premierminister gegeben, sondern vom Telefon, das die Funktion von Nachrichtenquelle und Sender übernimmt und im Verglühen ein Störsignal aussendet. Nicht die menschliche Sprache, die man verstehen und auslegen kann, dient als Impuls für die Zerstörung Moskaus, sondern die rauschende Medientechnik. Eine letzte Beobachtung zu Fail-Safe sucht den Schluss des Filmes zu deuten und thematisiert die Szenen, die in New York spielen und für kurze Zeit die geschlossenen Räume verlassen. Nachdem der Präsident General Black den Befehl zum Abwurf der Atombomben gegeben hat, sieht man zunächst die Umrisse New Yorks auf dem Radarschirm des Flugzeugs. Es folgen ein Panoramablick auf Manhatten und zehn kurze Szenen aus dem New Yorker Straßenleben, die ein Paar im Central Park, Kinder vor dem Zoo, streitende Taxifahrer, eine tanzende Frau und weitere Begebenheiten einfangen. Danach wird der Zuschauer Zeuge von Blacks Selbstmord. Schließlich sucht die Kamera die gleichen Schauplätze in New York auf, lässt die Szenen in der Wiederkehr allerdings aus dem Rahmen fallen, präziser formuliert: haltlos in den Rahmen hineinfallen. Die Kamera unternimmt neun schnelle Zooms, also schlagartige Vergrößerungen, die nach einer halben Sekunde mit einem freeze frame enden. Die Standbilder erscheinen unscharf und

9

Vgl. Schüttpelz 2003, S. 16f. 

10 Vgl. Luhmann 1981.

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markieren zum Teil kontextlose Details, so dass das Auge keine Orientierung mehr findet und von den Szenen zu Fassadendetails oder Himmelsausschnitten gelenkt wird (Abb. 4). Der letzte Zoom zeigt eine Nahaufnahme eines Jungen, der an den Zuschauern des Film vorbeiblickt.

Abb. 4: Kurz vor dem Atomschlag.

Die Zooms und die unscharfen Standbilder markieren eine Gegenposition zu den Anzeigetafeln in den Operationszentren. Die elektronischen Kartenbilder vermessen mit der Hilfe technischer Medien präzise die Welt und bestimmen in Echtzeit die Koordinaten der Flugzeuge und Schiffe; die Satellitenbilder geben einen Überblick über militärische Anlagen oder anderes Gelände. Die unbestimmten Zooms im New Yorker Stadtgebiet sowie die Unschärfen am Ende jeder Sequenz betreiben im Gegensatz dazu die Auflösung des haltgebenden Sehraumes. Der Signal-Rauschabstand reduziert sich und droht, ein Chaos von Bilddaten zurückzulassen. Die Unschärfe, so wurde in der Kunsttheorie argumentiert, ist „ein Medium der Unmittelbarkeit“, das aufgrund ihrer Verschleierung des Bildes eine Nähe zum (katastrophalen) Ereignis markiert und das Medium als authentischen Beobachter ausweisen

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möchte.11 Das Ereignis wird in das Bild integriert, kündigt so die Aktualisierung der Atomexplosion an und vollzieht sich schließlich in demjenigen weißen Bild, mit dem Fail-Safe endet. Der Schluss des Filmes sondiert die Grenzen des Darstellbaren und verzichtet darauf, Bilder des berühmten Atompilzes zu zeigen – im Gegensatz etwa zu der inhaltlich verwandten und im gleichen Jahr erschienenen Satire Dr. Strangelove von Stanley Kubrick, dessen Schlusssequenzen die Zündung der Bombe nachgerade feiern. Jegliche Anstrengungen zur Symbolisierung laufen ins Leere, und ebenso wird die sinnliche Wahrnehmung gestört. Die Zooms und der weiße Bildschirm stehen für den Zusammenbruch der bekannten Ordnung und kündigen den Atomschlag an. Die Schlusssequenzen verweisen – so könnte man erneut mit der Psychoanalyse schreiben – auf den Einbruch des Realen als das absolut Böse und das Vernichtende, das die Welt zu zerstören droht. Der Atomschlag tritt verschleiert auf und kündigt sich in den Träumen General Blacks an,12 die ihn bis zu seinem Selbstmord jede Nacht verfolgten. Er ist das, was sich gleichermaßen wie das (katastrophale) Ereignis der Aneignung durch die Medien widersetzt, was sich aufgrund der Unschärfen und des weißen Bildschirms einer Symbolisierung entzieht und im Kern unsagbar bleibt.13 Dies ließe sich auch anders formulieren und mit einer weiteren Wendung versehen. Die Szenen in den Straßen New Yorks belassen den Zuschauer in einer „Ereigniserwartung“,14 die sich zunächst durch ein Zögern, ein Innehalten und ein Vorführen von Möglichkeiten auszeichnet: Die Frau könnte ihren Tanz einstellen und mit ihren Freunden etwas anderes unternehmen; zu den beiden Kindern könnten sich andere gesellen; der Park könnte sich weiter bevölkern, eine Mutter könnte die spielenden Kinder zur Ordnung rufen, und so fort. Damit wären mögliche Ereignisse innerhalb einer kompossiblen Welt be-

11 Ullrich 2009, S. 126. 12 Vgl. Lacan 1996b, S. 64. Siehe auch Žižek 2008, S. 79f. 13 Vgl. Derrida 2003, S. 58f. 14 Deleuze 2000, S. 30. Siehe auch Vogl 2007, S. 74.

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schrieben, die in der Schwebe bleiben, bis sich schließlich die Katastrophe aktualisiert. Die Ereigniserwartung, die mit dem Blick des Jungen enden mag, entfaltet sich entlang eines Versagens in der symbolischen Ordnung und einer Verunsicherung des Sehraums. Jeder Sturz ins Bild markiert den unausweichlichen Sog in die schlimmstmögliche aller Welten: Eine Störung der technischen Medien löst in Fail-Safe einen Angriff aus, der den Präsidenten seiner Macht beraubt und der von den Leitstellen mit all den Anzeigetafeln präzise nachvollziehbar ist, sich aber als unsteuerbar erweist. Was bleibt, ist eine Orientierungslosigkeit im Bild, die mit einem weißen Bildschirm endet, der auf den ungeheuren Lichtblitz der Atomexplosion verweisen mag. Bei Fail-Safe, so ließen sich diese Überlegungen zusammenfassen, zielen die technischen Medien und ihre Operationsketten auf die atomare Katastrophe. Sie lösen durch einen technischen Defekt die Krise aus, stellen den Kommunikationskanal zwischen der Staatsführung, den Soldaten und den Bürgern, um dabei allerdings deutlich vorzuführen, dass die meisten Sprechakte zum Scheitern verurteilt sind. Denn die symbolische Ordnung scheint vom Computer durchdrungen, womit das Imaginäre des Menschen auf radikale Art und Weise enttarnt wird: Nicht der Oberbefehlshaber ist der Herr der Lage, sondern die symbolverarbeitenden Maschinen in den Rechenzentren der Operationszentralen. Die beiden Staatsführer mögen an zentralen Stellen des Filmes zwar ihre Souveränität zurückgewinnen, sind dabei aber auf Kommunikationskanäle angewiesen, die durch technische Medien gestellt werden: Fail-Safe spielt überwiegend in geschlossenen Räumen wie Bunkern, Cockpits oder Lagezentren, die eine mediale Infrastruktur benötigen. Die Zooms am Ende des Filmes kündigen die atomare Katastrophe unausweichlich an und ziehen die Zuschauer ins Filmbild hinein. Das Licht des weißen Standbildes am Schluss des Films ist vielleicht jene „reine Information“15 und damit dasjenige Medium, das – wie Marshall McLuhan einmal geschrieben hat – vom Inhalt befreit ist und so Auskunft über die Wesensart des Mediums geben kann. Der Zu-

15 McLuhan 1995, S. 22.

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sammenfall zweier elektromagnetischer Wellen, nämlich der radioaktiven Strahlung und des Lichts, machen das Medium zur Botschaft, welches ohne weitere Vermittlungsschritte die Atomkatastrophe zeigt und von der Auflösung von Ordnungssystemen berichtet.

L ITERATUR Jean-Louis Baudry, „Das Dispositiv: Metapsychologische Betrachtungen des Realitätseindrucks“, in: Psyche. Zeitschrift für Psychoanalyse und ihre Anwendungen 48, 1994, S. 1047-1074. Gilles Deleuze, Die Falte. Leibniz und der Barock, Frankfurt/M. 2000. Jacques Derrida, Eine gewisse unmögliche Möglichkeit, vom Ereignis zu sprechen, Berlin 2003. Jacques Lacan, „Psychoanalyse und Kybernetik oder von der Natur der Sprache“, in: ders., Das Seminar. Buch II. Das Ich in der Theorie Freuds und in der Technik der Psychoanalyse, Weinheim/Berlin 2 1991, S. 373-390. Jacques Lacan, „Das Seminar über E.A. Poes ‚Der entwendete Brief‘“, in: ders., Schriften I, Weinheim/Berlin 41996a, S. 7-41. Jacques Lacan, „Tyche und Automaton“, in: ders., Das Seminar. Buch XI. Die vier Grundbegriffe der Psychoanalyse, Weinheim/Berlin 4 1996b, S. 59-84. Pierre Legendre, Über die Gesellschaft als Text. Grundzüge einer dogmatischen Anthropologie, Wien 2012. Akira Mizuta Lippit, Atomic Light (Shadow Optics), Minneapolis/London 2005. Niklas Luhmann, „Die Unwahrscheinlichkeit der Kommunikation“, in: ders., Soziologische Aufklärung 3. Soziales System, Gesellschaft, Organisation, Opladen 1981, S. 25-34. Marshall McLuhan, Die magischen Kanäle. Understanding Media, Dresden/Basel 21995.

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Tobias Nanz, „Communication in Crisis. The ‚Red Phone‘ and the ‚Hotline‘“, in: Behemoth. A Journal on Civilisation 3/2, 2010, S. 71-83. Erhard Schüttpelz, „Frage nach der Frage, auf die das Medium eine Antwort ist“, in: Albert Kümmel und ders. (Hgg.), Signale der Störung, München 2003, S. 15-29. Claude E. Shannon und Warren Weaver, Mathematische Grundlagen der Informationstheorie, München/Wien 1976. Wolfgang Ullrich, Die Geschichte der Unschärfe, Berlin 2009. Joseph Vogl, „Was ist ein Ereignis?“, in: Peter Gente und Peter Weibel (Hgg.), Deleuze und die Künste, Frankfurt/M. 2007, S. 67-83. Slavoj Žižek, Lacan. Eine Einführung, Frankfurt/M. 2008.

ABBILDUNGEN Abb. 1-4: Fail-Safe (USA 1964, R: Sidney Lumet).

Zeiten des Endes Konstantin Lopušanskijs Briefe eines Toten (1986) B ARBARA W URM

0. Z EITRECHNUNG IN

DER

(P OST -)APOKALYPSE

Mein geliebter Sohn! Stell Dir vor, ich habe wieder angefangen zu arbeiten. Und was das Erstaunlichste daran ist: zum Nutzen für die Gesellschaft, wie ich mir jedenfalls einbilde. Ich habe nämlich einen neuen Kalendertag errechnet, einen Tag, der nach den alten Zeiteinheiten aus 7200 Minuten besteht. Das ist übrigens gar nicht so sinnlos, wie es auf den ersten Blick erscheinen mag, denn dieses ununterbrochene Dämmerlicht, in dem wir jetzt leben, ist von einer solchen Monotonie, dass einem jedes Gefühl für den Ablauf der Zeit verloren geht. Sogar Gott brauchte bei der Erschaffung der Welt eine Zeiteinteilung. Also schuf er das Licht. Und er schied es von der Finsternis. Und es war Tag und Nacht. Und er schuf Lichter an der Feste des Himmels, die da scheiden Tag und Nacht. Und die da geben Zeichen, Zeiten, Tage und Jahre. Aber da der Himmel sich verfinstert hat und man den Tag nicht mehr von der Nacht unterscheiden kann und die alte Ordnung der Schöpfung erst in Jahrzehnten wieder hergestellt sein wird, habe ich wie gesagt eine neue Zeiteinheit erarbeitet, eine Dämmereinheit, wenn Du so willst.

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Deine Mutter und ich befinden uns in den Schutzräumen des Museums, zusammen mit einigen ihrer Mitarbeiter. Hier werden wir auf dich warten. Und erst wenn Du wieder da bist, gehen wir dann gemeinsam in den Zentralbunker.1

Am 23. April 1987, ziemlich genau ein Jahr nach der Katastrophe von ýernobyl‘, kamen die Briefe eines Toten (Pis’ma mertvogo þeloveka) in die westdeutschen Kinos, ein Film über das Bunkerdasein nach dem Atomkrieg. Es war zudem das Langfilmdebüt eines bis dahin mehr oder weniger unbekannten sowjetrussischen Regisseurs, Konstantin Lopušanskij, das vom Tobis/Constantin Filmverleih deutsch synchronisiert und vertrieben wurde. Selbst wenn man den Kinostart von Andrej Tarkovskijs letztem Film Opfer (Offret) im Januar desselben Jahres in Betracht zieht, mit dem Lopušanskij augenscheinlich eine Wahlverwandtschaft verbindet, war der außergewöhnliche Erfolg eines solchen Films keine alltägliche Sache. Seine Ansiedlung im Grenzbereich zwischen Messianismus und Science Fiction, die monochrome Sepia-Tönung der Bilder, die überlangen, langsamen Einstellungen, aber auch Lopušanskijs genuine Verbindung mit dem Thema der Zone – seit Stalker (1979) der Topos eines ‚anderen‘ russischen Kinos – machten den Stalker-Assistenten schlagartig zu einem legitimen Nachfolger Tarkovskijs und seinen Film gemeinsam mit Offret2 zum (international begeistert aufgenommenen) Beleg für die Existenz eines reli-

1

Alle Zitate aus dem Film folgen der am 23.11.1992 auf 3SAT ausgestrahlten deutschen Synchronisationsfassung Briefe eines Toten. Der Film setzt mit dem hier zitierten Monolog ein.

2

Auch Tarkovskijs Offret thematisiert das Szenario eines nahen Atomkriegs: Alexander, der Protagonist und Vater eines Jungen (mit dem er einen ‚Baum der Hoffnung‘ pflanzt), bringt Gott angesichts des drohenden Untergangs der Welt ein Opfer dar, trennt sich von seiner Familie, geht eine mystische Vermählung mit seiner Magd ein (einer Art guter Hexe), vernichtet sein Haus und verstummt. Im Gegensatz zu den Briefen eines Toten sind Tarkovskijs/Alexanders apokalyptische Visionen allerdings wenig realistisch inszeniert, das ‚Unheil‘ bleibt eher abstrakt.

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giös-dissidentischen Diskurses im Perestrojka-Russland. Dies bestätigte auch die Jury der evangelischen Filmarbeit, die die Briefe eines Toten als „Film des Monats“ nachhaltig empfahl, nicht ohne darauf hinzuweisen, dass gerade der christliche Glaube selbst durch den Film in Frage gestellt werde:3 Die Briefe eines Toten seien ein „beklemmendes Dokument atomarer Bedrohung“, eine zur Umkehr mahnende „Endzeitphantasie“ und ein „Appell an die Menschheit, sich vom fatalen Glauben an eine Überlebenschance nach einem atomaren Schlagabtausch endlich abzukehren und ‚ein neues ethisches Bewußtsein im Sinne eines planetarischen Bewußtseines zu entwickeln‘ (K. Lopušanskij)“.4

1. B RIEFE

APRIORI EX POST – B ESCHREIBUNGEN DER ATOMPOLITISCHEN D ÄMMERUNG

Da es im Folgenden um die paradoxen Zeitfiguren gehen wird, die der Film – wie schon im Eingangszitat angedeutet – (nicht nur) in Form einer neuen Zeitrechnung für eine ungewisse Zukunft in Szene setzt, sei zunächst eine kurze Chronologie der Ereignisse rund um seine Entstehung skizziert. Denn gerade der historische und politische Kontext trägt maßgeblich dazu bei, jene Zeitkonzeption des in Briefe eines Toten thematisierten (atom)politischen Dämmerungszustands zu legiti-

3

„Wenn der Schluß des Films melodramatische Züge mit religiösmystischen Vorstellungen verknüpft, die in der Frömmigkeit des russischen Volkes verwurzelt sind und die Nähe Tarkovskijs erahnen lassen, so erweist sich am Ende die auch im christlichen Glauben gegründete Hoffnung ‚Solange sich der Mensch im Aufbruch befindet, gibt es immer eine Hoffnung‘ als hilflose Wunschvorstellung.“ Vgl. das Plakat der Jury der evangelischen

Filmarbeit:

[Zugriff am 25.1.2013]. 4

Vgl. ebd.

http://www.gep.de/filmdesmonats/files/06_1987.

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mieren, die in zweifacher Hinsicht als aporetisch bezeichnet werden kann: Einerseits als mediale Prä-Figuration einer post-apokalyptischen Szenerie (wodurch vorweggenommen wird, was möglicherweise übrig geblieben sein wird),5 andererseits als (meta-)narrative ‚Widerspiegelung‘ der Zeit des Endes, die es – wie nicht nur Giorgio Agamben in seiner Römerbrief-Lektüre, sondern bereits Günter Anders in seinen Überlegungen zum atomaren Zeitalter ausgeführt haben –6 einzig und allein deshalb geben kann, weil das Ende der Zeit in Frage gestellt wird (hier: vom toten Verfasser der Briefe). Als Lopušanskij 1983 mit den Filmarbeiten beginnt, warnt ihn sein Co-Drehbuchautor Boris Strugackij (bekanntlich einer der erfahrensten Autoren von Zukunftsszenarien – nicht zuletzt Verfasser der Vorlage von Stalker), einen Film über den Atomkrieg zu machen, in dem es weder böse Amerikaner noch gute Russen gebe. Während die sowjetischen Geheimdienste als Reaktion auf die von der NATO forcierten Waffensysteme der späten 70er und frühen 80er Jahre – „Eurorakete“, „Pershing 2“ und „Neutronenbombe“ – ihre „Operation RJaN“ (Operation Atomraketenangriff) lancieren und zwischen 1983 und 1986 erhöhte Kriegsbereitschaft herrscht, zieht sich ein russischer Regisseur in den musealen Underground des Lenfil’m-Studios zurück, um seine Warnsignale der Introspektion über die Leinwände diesseits und jenseits des Eisernen Vorhangs auszusenden. Er steht mit seiner Suspension eingeübter Kalter-Kriegs-Verhaltenslogiken allerdings nicht ganz allein da, denn auch über den Äther erfolgte Ähnliches, als am 1.11.1983 eine avancierte Allianz von Medien und Politik für das bis dahin undenkbare Ereignis Kommunikation sorgte. Moscow Link, jene durch die Einwilligung von Gosteleradio (dem sowjetischen Staatsrundfunk) ermöglichte Fernseh-Satellitenschaltung, stellte für eineinhalb Stunden Kontakt zwischen der im

5

„Es geht darum, sich auf einen Standpunkt in der Zukunft zu stellen, um auf die Gegenwart als Vergangenheit eines kommenden Zustands, einer antizipierten Zukunft, zurückblicken zu können.“ Vgl. Horn 2010, S. 3.

6

Vgl. Agamben 2006 und Anders 1972.

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Washingtoner Sheraton-Hotel stattfindenden „Konferenz über die langfristigen und weltweiten biologischen Folgen des Atomkriegs“ mit mehr als 500 teilnehmenden Wissenschaftlern (darunter Carl Sagan 7 und Paul R. Ehrlich) und einer Moskauer Gruppe her, die die hochrangigsten Akademiemitglieder aus dem Gebiet der Klimaforschung und -modellierung, der Biochemie, der Genetik, der atmosphärischen Physik u.a. umfasste.8 Die über Funk diskutierte Idee von der ‚nuklearen Nacht‘ und vom ‚nuklearen Winter‘ war konstitutiv für die „Unterwanderung der politischen Souveränität […], wie sie den politischen und militärischen Planspielen des Kalten Krieges zugrunde lag. […] Der militärstrategische Möglichkeitsraum, der sich durch klare Grenzen und diskrete Merkmale auszeichnete, schrumpfte auf einen ‚pale blue dot‘: durch die Funktion als Lebensraum konstituierte sich die Erde als Totalität.“9 Die neunzig Minuten on air galten der (übrigens nur in der einen Hemisphäre öffentlich gemachten) Rückversicherung, dass die Ergebnisse der Modellrechnungen der „TTAPS Gruppe“ (Turco, Toon, Ackerman, Pollack, Sagan) zu den Long-Term Atmospheric and Climatic Consequences of a Nuclear Exchange (1983) im Wesentlichen der von Vladimir Valentinoviþ Aleksandrov geleiteten Studie des Rechenzentrums für Klimamodellierung der sowjetischen Akademie der Wissenschaft entsprachen und damit „über alle ideologischen Barrieren hinweg in völliger Übereinstimmung zwischen Wissenschaftlern aus Ost […] und West […]“ erarbeitet wurden.10 Diese Einigkeit gab es auch hinsichtlich der ökologischen Folgen eines Atomkriegs, denen sich auf kommunistischer Seite das „Komitee sowjetischer Wissenschaftler für Frieden und gegen die nukleare Gefahr“ widmete – jene im Geist der Perestrojka formierte Forscher-Vereinigung, der

7

Sagan war maßgeblich an der Popularisierung der Idee des nuklearen Winter beteiligt. Vgl. dazu Brandstetter 2005, S. 149.

8

Vgl. Ehrlich u.a. 1985.

9

Brandstetter 2005, S. 152.

10 Bach 1985.

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Lopušanskij im Abspann des Films für die Unterstützung seines Projekts ausdrücklich dankt. Die Zeit schrieb anlässlich der Aktion Moscow Link: „Die Annahme, daß der wissenschaftliche Austausch zwischen den USA und der UdSSR so gut wie lahmgelegt sei, hat sich jedenfalls als falsch erwiesen. Amerikanische und sowjetische Wissenschaftler stimmen in der Vorstellung des ‚Unvorstellbaren‘ erstaunlich weit überein.“11 Auch wenn man es Lopušanskijs hermetischem und im Vergleich zum Hollywood-Katastrophenkino der 80er Jahre durchwegs effektfreiem Versuch, das Undenkbare zu filmen, nicht auf den ersten Blick zusprechen wird: Der ‚heiße Raketenherbst‘, die weltweite Friedensbewegung und die Signaturen des nuklearen Winters markieren seinen politischen Entstehungs- und Rezeptionshorizont. Zudem finden sich die beiden zentralen imaginären Topoi, die die Modellierungen und Berechnungen der klimatischen wie ökologischen Konsequenzen hervorgebracht haben, im Film wieder: Ein monotones Dämmerlicht (Lichtmangel als Folge der Ruß- und Staubwolken) sowie frostige Schneestürme (radikaler Temperatursturz bzw. Klimawandel) bilden in den Briefen eines Toten das visuelle Szenarium der Welt außerhalb der Schutzräume. Da schließlich das geographische und politische Setting maximal neutral gehalten ist und sich die Grundfrage des Überlebens auf einen global/planetarisch/kosmisch gefassten Lebensraum bezieht, deutet vieles darauf hin, dass Lopušanskij über die wesentlichen Vorstellungen des nuklearen Winters – vermutlich über die Zusammenarbeit mit dem „Komitee sowjetischer Wissenschaftler für Frieden und gegen die nukleare Gefahr“ – informiert war und ganz bewusst das ‚Unvorstellbare‘ vom Denken in Kategorien des Souveränen ablöst. Hierin manifestiert sich auch ein grundsätzliches Abweichen von der (üblicherweise betonten) ‚Tarkovskij‘-Linie: Wo die Traumbilder und Visionen vom Ende der Welt in Offret entweder mythologischen Ursprungs sind oder aber idiosynkratische Introspektionen darstellen, die auf den Gesamtkorpus des Tarkovskij’schen Œuvres verweisen, ist

11 Schiller 1983.

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Lopušanskijs imaginäres Katastrophenszenario in einem epochenspezifischen, epistemischen Kontext situiert, der deutlich die Signaturen der kybernetisch inspirierten Simulations- und Rechenspiele des Atomzeitalters trägt. Die Dreharbeiten sind Ende 1985 abgeschlossen; draußen – folgen wir etwa der im selben Jahr im Staatsverlag der Deutschen Demokratischen Republik erschienenen deutschen Übersetzung eines Textes mit dem Titel Der Dritte Weltkrieg – findet ein Re-Entry der Souveränitätslogik, ein letztes ideologisches Aufbäumen im Zeichen des Kalten Krieges statt; der Verfasser Vadim Kortunov geht in seinem Buch der Frage der „realen und scheinbaren Gefahren“ eines Dritten Weltkriegs nach und zieht bei ihrer Beantwortung sämtliche rhetorischen Register: Dort das permanente atomare Aufrüsten („Der Tanz des Militarismus in den USA wird immer schwungvoller“) mit dem Ziel der Vernichtung des Weltsozialismus („Der ‚Kreuzzug‘ Washingtons“) und der gesamten Menschheit („Doktrin des globalen Selbstmordes“), hier das sorgfältige und verantwortungsvolle Abwägen aller Gefahren mit dem Ziel der politischen und militärischen Entspannung und der Sicherung des Weltfriedens („So kompliziert und explosiv die gegenwärtige Situation auch sein mag, wir in der Sowjetunion glauben, dass sich eine Katastrophe vermeiden lässt. […] [Diese Feststellung] bestätigt ein übriges Mal den Willen des Sowjetstaates, alles zu tun, um dem nuklearen Wahnsinn entgegenzuwirken, um den Frieden für die jetzigen und kommenden Menschengenerationen zu erhalten und zu festigen“).12 Auf den Bühnen der Politik zerfällt die Welt immer noch in zwei Lager – bei Lopušanskij bleibt die Nennung der Atomkrieg-Gegner ebenso wie Schuldzuweisungen an die großen politischen Systeme aus. Die zur Disposition stehende Identität seiner ‚Helden‘: Spezies Mensch. Der in Frage stehende Raum: Planet Erde. 1986 folgt ein Schlag auf den anderen – die Perestrojka nimmt ihren Lauf, mit einem Mal wird die Korrespondenz von Außen- und Filmpolitik öffentlich wahrgenommen. Im April explodiert der Atom-

12 Kortunow 1985, S. 3, 102, 142 und 209f.

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reaktor in ýernobyl‘ (Lopušanskij zufolge am selben Tag, an dem die Filmkopie gezogen wird),13 im Mai hat der Film seine nationale russische Premiere, im November gewinnt er den Hauptpreis beim (damals bedeutenden) Internationalen Filmfestival in Mannheim-Heidelberg, im Dezember stirbt Maître Tarkovskij im Pariser Exil. Die Briefe eines Toten kommen nicht rechtzeitig, gerade deshalb jedoch absolut zeitgerecht. Ein Vermächtnis an eine Welt, deren Existenz bereits auf dem Spiel steht. Briefe, von Beginn an ex post – und versuchsweise quer zum Grenzverlauf des Eisernen Vorhangs.

2. B RIEFE

EINES T OTEN WIDER DAS E NDE

– N ARRATIVE

VOM

E NDE

Wer schreibt diese Briefe? An wen? Mit welcher Absicht?14 Wir befinden uns in einer namenlosen Stadt, in einem Staat ohne konkrete nationale Identität (die Menschen tragen – wenn überhaupt – skandinavische Namen, ein Pater, der Waisenkinder betreut, ist evangelischer Konfession),15 kurz nach dem Ende des Atomkriegs, der, wie der Zuseher erst im Verlauf des Films erfährt, durch einen Computerfehler16 ausgelöst wurde: Da der diensthabende Offizier sich beim Kaf-

13 Vgl. Lopušanskij in einem Gespräch mit Elena Demidova. In: Lopušanskij 2010, S. 153. 14 Vgl. eine frühe Rezension mit dem Titel „Woher stammen diese Briefe ins Nirgendwo?“ von Evtušenko 1986. 15 Auch hier die Parallele zu Tarkovskijs Offret, der in Schweden gedreht wurde und dessen Handlung dort angesiedelt ist. Bei Lopušanskij steht die ohnehin nur vorsichtig angedeutete geographische Lokalisierung („Skandinavien“) am ehesten für politische Neutralität. 16 Die Parallele zu Sidney Lumets genrekonstitutivem Atomkriegsfilm FailSafe (1964) ist unübersehbar – auch hier ist es ein Computerdefekt bzw. Systemfehler, der zum Atomkrieg führt: die „symbolverarbeitende Maschi-

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feetrinken verschluckt, erfolgt der Widerruf des automatischen Abschussbefehls für die Atomrakete zu spät – um sieben Sekunden zu spät („genau um sieben Sekunden zu spät; wahrscheinlich ist die Zahl Sieben tatsächlich eine besondere Zahl, auch wenn dies jetzt ganz unwichtig ist.“). Der Kybernetiker und Nobelpreisträger Larsen sucht vergeblich nach seinem Sohn und nimmt Zuflucht in den unterirdischen Katakomben des Historischen Museums, in dem vor dem Krieg seine Ehefrau gearbeitet hat. Sie selbst wird kontaminiert und im improvisierten ‚Bunker‘ von Larsen gepflegt. Während ihr Gatte auf dem Schwarzmarkt für sie Medikamente besorgt, stirbt sie. Im Schutzraum leben auch weitere ehemalige Museumsmitarbeiter, die nach dem Tod der Familienmitglieder des Professors eine (berufsbedingt intellektuelle) Ersatzfamilie bilden.17 Gemeinsam hält man den pedalbetriebenen Stromgenerator in Gang und isst gelegentlich miteinander. Alle scheinen darauf zu warten, endlich in den Zentralbunker evakuiert zu werden und setzen sich daher intensiv mit der Vorstellung eines jahrzehntelangen Lebens unterhalb des Erdbodens auseinander: Ein zynischer und wissenschaftsfeindlicher Philosoph diktiert Traktate über die zivilisationsgeschichtliche Begründung der Katastrophe (die Naturwissenschaften hätten erst das „Auslöschen der ganzen Welt“ ermöglicht, der technologische Fortschritt für die „progressive Zerstörung der Umwelt“ gesorgt, was bliebe, wäre nur noch „Kunst der Menschenverachtung“, „Verrohung des Menschen“ und „Befriedigung der niederen Instinkte“, während die politischen Beziehungen sich auf „Machtstreben“ und „Verfolgungswahn“ beschränkten; die „Geschichte der Menschheit“ sei nichts anderes als die „Geschichte eines langsamen

ne“ löst automatisch den Abschussbefehl aus, der nicht mehr rückgängig gemacht werden kann. Vgl. den Beitrag von Tobias Nanz in diesem Band. 17 Die Signatur der ‚Intelligencija‘ ist so stark, dass es nicht überrascht, wenn in Analysen des Films von der Repräsentation einer „antiutopisch überhöhten sowjetischen Gesellschaft“ (kursiv, B.W.) ausgegangen wird, auch wenn es keine expliziten Hinweise gibt, dass es sich beim Ort des Geschehens um die Sowjetunion oder Russland handelt. – Vgl. Lange o.J., o.S.

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Selbstmords“); seine Frau läuft entblößt durch die Katakomben, um ihre Haut im Sinne einer von ihr rezipierten evolutionären Anpassungslehre möglichst oft den neuen klimatischen Bedingungen auszusetzen; ein wütender, junger Mann bezeichnet seinen Vater und Larsen als die beiden „letzten Humanisten“ und „Fossilien“, während er selbst für eine Revision aller bisherigen Wertvorstellungen plädiert, für eine neue Kultur des Lebens unter der Erde und für eine neue Moral des „Maulwurfmenschen“, nämlich: „Hasse Deinen Nächsten und Dich selbst.“ Sein Vater wiederum, offensichtlich das intellektuelle und moralische Gewissen der Mikrogesellschaft, verfasst zunächst ein Sendschreiben an eine zukünftige Zivilisation („Mutanten vielleicht“), spricht dann zur Tafelrunde „wie ein Toter zu denen, die dem Tod geweiht sind“ und nimmt sich das Leben („In der Stunde des Weltuntergangs hat der Tod seinen Schrecken verloren.“). Der zentrale Aktant des Films ist der Verfasser der Briefe, Dr. Larsen, von allen „Professor“ genannt. Obwohl grundsätzlich eher schweigsam, erweist er sich von Beginn an als privilegierte Figur, die sowohl in der Zeit als auch im Raum eine mobile Vermittlungsinstanz für die provisorische Bunkergemeinschaft des Historischen Museums darstellt.18 Im Heute der nuklearen Nacht kommuniziert er zwischen dem ‚Drinnen‘ verschiedener Schutzräume und dem ‚Draußen‘ der verwüsteten Welt. Ausgerüstet mit Gasmaske und Schutzanzug zieht er durch die zerstörten Gebiete (Abb. 1), er besucht den Pater und die Kinder in den Ruinen der Kirche, handelt auf dem im illegalen Untergrund etablierten Schwarzmarkt, erhält von einem früheren Instituts-

18 Zur von der Norm abweichenden Mobilität ausgewählter Helden im Katastrophenfilm, die die Systemstellen in einem ‚Außen‘ erreichen, vgl. Krah 2004, S. 304ff. Krah bezeichnet die mobilen Helden mit Lévi-Strauss als „Tricksterfiguren, […] Wesenheiten, die bezüglich der Ordnung der Welt ‚weder noch‘ und ‚sowohl als auch‘ zugleich sind und in dieser Rolle zwischen den Welten vermitteln, Ordnung rekonstruieren wie die Ordnung selbst transzendieren.“ (306) – Den Hinweis auf Krahs Studie verdanke ich Bettina Lange.

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bzw. Labor-Kollegen aktuelle Informationen über den state of affairs („totale Evakuierung der ganzen Bevölkerung unter die Erde“) und sammelt in den überfluteten Resten einer Bibliothek stapelweise wertvolle Folianten und Papiere. Erst durch diese Streifzüge erhalten wir Einblick in das Katastrophenszenarium (zerstörte Verkehrswege, Mensch und Tier in Gasmasken, verstreute Leichen, Schutt und Asche, unendliche Brände, später Schneestürme und vereiste Landschaften) und in das Regime des Ausnahmezustands (Noteinsätze von U-Booten und Helikoptern, Schussbefehl bei Missachtung der Sperrstunde, Tunnelnetzwerk, Polizeieinsätze, Sondergenehmigungen, etc.). Die Querwege des Kybernetikers und Logistikers Larsen decken nicht zufällig das gesamte soziale Netzwerk der Zivilisation ab (Religion, Ökonomie, Wissenschaft, Kultur, Politik, Militär, Polizei, etc.).

Abb. 1: Die Streifzüge Dr. Larsens machen in Briefe eines Toten das Ausmaß der Zerstörungen sichtbar.

Aber auch auf der zeitlichen Achse ist Larsen die mobilste Figur – ein Zeitreisender jedoch, der den üblichen Science-Fiction-Vorgaben nicht

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entspricht. Es sind zwei anachronistische mediale Formen (jenseits der gesprochenen Sprache), durch die die post-apokalyptische Gegenwart mit den vergangenen Ereignissen und der offenen Zukunft konfrontiert wird: in den Briefen (das heißt in der Schrift) und in Rückblenden aus der Perspektive Larsens (das heißt in einer klassischen filmischen Erzählform). Als non-lineare, fragmentarische Rekonstruktion der Katastrophen-Ereignisse führen die Rückblenden – obwohl unterstützt von einer an die Stummfilmzeit erinnernde Farbgebung für einzelne Sequenzen, das heißt unterschiedliche temporale und modale Ebenen19 – dazu, dass die Episoden einen ambigen Bildstatus annehmen: Ob es sich jeweils um einen (Alp-)Traum, eine Vision, eine Erinnerung oder um eine konkrete Rückblende handelt, lässt sich schwer entscheiden. Die Amalgamierung von möglichen, wahrscheinlichen und realen Welten entspricht dem (verwirrten) Geistes- und Wahrnehmungszustand des Professors. Und sie befördert die zeitlichen Aporien, die sich rund um Larsen und seine Befragung der menschlichen Existenz einzustellen scheinen. Es ist – wie eingangs zitiert – der Verlust des Zeitgefühls im Dämmerlicht der atomaren Katastrophe, der Larsen zufolge das Leben nach dem Inferno verunmöglicht. Seine ‚neue Zeitrechnung‘ steht ganz im Zeichen der Sorge um die Menschheit und um das Überleben einer Spezies, deren existentielle Begründung wiederum genau in der humanistischen Sorge (um sich selbst) besteht. Es ist ein christlich motiviertes zivilisatorisches Programm, dem Lopušanskijs – im Übrigen in all seinen Filmen wiederkehrendes – Hauptnarrativ folgt. Zutiefst der abendländischen Kultur verschrieben und hier insbesondere dem Projekt des russischen „Kosmismus, dem Streben danach, in einem Werk das Bild des Universums, eine Metapher der Geschichte [im russischen Original hervorgehoben, Anm. B.W.] zu schaffen“20, ist es auch kein

19 Für die Kolorierung von Stummfilm existierten bestimmte Kodifizierungen (z.B. Blau für Nacht). 20 „[K]osmizm, stremlenie v odnom proizvedenii dat‘ obraz Vselennoj, metafory Istorii“ – vgl. Trofimenko 1997.

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Zufall, dass die Verschränkung von ‚Sein und Zeit‘ (in Bezug auf Vergangenheit und Zukunft) in Briefe eines Toten an zwei ausgewählten Orten manifest wird: im Historischen Museum (wo Larsens Ehefrau stirbt und er sie „neben ägyptischen Scherben“ begraben wissen will) sowie in der Bibliothek (wo er offenbar jene wissenschaftliche Arbeit findet, die ihm zur Lösung der entscheidenden, bis dahin unerforschten Gleichung verhilft,21 mit der er den Beweis antritt, dass „dies nicht das Ende sein kann“). Denn beide Räume, das Museum und die Bibliothek, stellen nach Michel Foucault prominente „Heterotopien der sich endlos akkumulierenden Zeit“ dar, „in denen die Zeit nicht aufhört, sich auf den Gipfel ihrer selber zu stapeln und zu drängen“.22 Bei Lopušanskij zeigt sich an ihrer Defunktionalisierung und Zerstörung das ganze Ausmaß der Katastrophe: Wo die Kulturträger zerbröseln, da erodiert auch die Zeit. Die endlose Akkumulation von Zeit kommt an ihr (eigenes) Ende. Die zentrale Dimension der aporetischen Zeitstruktur spiegelt sich jedoch in der (titelgebenden) Tatsache wider, dass es sich beim Verfasser der Briefe um einen bereits „toten Mann“ (mertvyj þelovek) handelt. Das ist die dem Film eignende Paradoxie: Ein toter Vater schreibt Briefe an seinen aller Wahrscheinlichkeit nach toten Sohn Erik (nur der

21 Innerhalb einer Stunde, so Larsen in einem Brief an seinen Sohn, habe er die seit dreißig Jahren erfolglos errechnete „Dan-Cooper-Gleichung“ gelöst. Lopušanskij bezieht sich hier wohl auf den damals am MIT lehrenden Nuklearphysiker Dan Cooper, Autor von Enrico Fermi and the Revolutions of Modern Physics (Oxford 1999) und Herausgeber einschlägiger Zeitschriften wie Nucleonics oder International Science & Technology. 22 Foucault 1992, S. 43. „Doch die Idee, alles zu akkumulieren, die Idee, eine Art Generalarchiv zusammenzutragen, der Wille, an einem Ort alle Zeiten, alle Epochen, alle Formen, alle Geschmäcker einzuschließen, die Idee, einen Ort aller Zeiten zu installieren, der selber außer der Zeit und sicher vor ihrem Zahn sein soll, das Projekt, solchermaßen eine fortwährende und unbegrenzte Anhäufung der Zeit an einem unerschütterlichen Ort zu organisieren – all das gehört unserer Modernität an.“

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Vater glaubt nicht an seinen Tod) und berichtet dabei auch nach dem Tod der Mutter von ihr als lebendiger Person. Larsen will um jeden Preis an der Vorstellung einer intakten Familie festhalten, aber nur die Briefe und die von ihnen in Gang gesetzte (vage) Zukunft geben ihm dabei Rückhalt: „Und erst wenn Du wieder da bist, gehen wir dann gemeinsam in den Zentralbunker.“ Doch es wäre zu einfach, würde man seinen ‚Wahnsinn‘ als Folge der Traumatisierung verstehen.23 Vielmehr reiht sich dieses Schreiben als Todgeweihter an einen (vermeintlich) Toten über eine (tatsächlich) Tote (bei gleichzeitiger Todesleugnung) ein in jenen „paradoxen Diskurs“, der mit Hans Krah als Konstante der „Narrationen vom ‚Ende‘“ gelten kann: Wenn stimmt, was sie präsentieren, eine globale Katastrophe, dann dürfte es den Text nicht geben. Gerade das Konstrukt des Beobachterstandpunkts von außen ist es, in dem sich dieser latente Widerspruch manifestiert. In der rekurrenten Formulierung ‚der Letzte‘ äußert sich diese Paradoxie, die den Status des textuell Dargestellten notwendig relativiert. Sie impliziert einen Beobachterposten, eine Metaebene, von der aus diese Aussage getroffen werden kann. Wenn sich das Letzte wirklich auf alles bezieht, stellt sich die Frage, wo dann dieses Außen situiert ist.24

Da es sich bei den Briefen eines Toten nicht um einen literarischen Text, sondern um einen Film handelt (der freilich die immanent zeitphilosophische Textsorte Brief und seine Rezeptionsmodi in Szene setzt), verschieben sich sämtliche genannten narrativen Techniken, vom Beobachterstandpunkt über die Reflexionsebene bis hin zur Situ-

23 Dass es sich bei Larsen um ein Mitglied der Genre-Spezies ‚verrückter Professor‘ handelt, steht außer Frage, allerdings wird ihm sein ‚Wahnsinn‘ erst dann konstatiert (von seiner Gattin übrigens), als er das ‚Ende der Welt‘ zu bestreiten beginnt. Seine Experimentierwut ist zudem nicht progressiv ausgerichtet (und damit potentiell destruktiv), sondern analytisch, retrospektiv und dient ausschließlich der Konsolidierung. 24 Krah 2004, S. 345.

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ierung in einem Außen. Dennoch lässt sich behaupten, dass Lopušanskij diese Verschiebung wahr- und ernstnimmt (eben indem er die filmische und die literarische „Narration vom Ende“ im Akt des medialisierten Briefeschreibens miteinander verschränkt), und darüber hinaus den angesprochenen „latenten Widerspruch“ sogar zu seinem Thema macht, genauer: zu jenem Problem, dem der Professor eigentlich auf der Spur ist. Während sich nämlich alle anderen Überlebenden darüber Gedanken machen, ob und wie sie sich angesichts des drohenden Endes verhalten sollen, beschäftigt Larsen die viel fundamentalere Frage, ob es sich bei dem Ende, von dem alle sprechen und alles zeugt, überhaupt um ein Ende, um das absolute Ende handelt. Dem ‚nackten Leben‘ setzt er also nicht nur einen humanistischen Auftrag entgegen (indem er nach dem Tod eines Paters die Pflege jener Waisenkindern übernimmt, die nicht für den Zentralbunker ‚selektiert‘ werden), sondern auch einen epistemologisch-existenzialistischen: Er stellt Berechnungen an, ob nach den Gesetzen der mathematischen bzw. physikalischen Theorie die Möglichkeit einer unverseuchten Zone besteht,25 und erbringt so einen wissenschaftlichen (allerdings bei seinen Kollegen nicht unumstrittenen) Beweis, dass es auf der Erde Leben und eine zukünftige Zeit geben wird. Die Briefe eines Toten machen aus dem „ultimate warrior“, dem männlichen Prototypen des 1980er Jahre Katastrophenfilms,26 einen pastoralen Seelsorger, Beruf Kybernetiker.27

25 Es ist das Sehen und die Sorge, die der metaphysische Kybernetiker Larsen stellvertretend für sein ‚Volk‘ übernimmt. Damit wird er aber auch zum Stellvertreter jener souveränen Macht, die es in der Welt der Briefe des Toten nicht mehr gibt, einer souveränen Macht nämlich, für die in der Aufgabe der „providentia (sei es die Gottes oder des Imperators) Vorausschau und Steuerung“ untrennbar war und die vom Imperativ der Intervention angeleitet war. – Vgl. Horn 2010, S. 91. 26 Vgl. Krah 2004, S. 307. – Gemeint sind etwa Le dernier combat (1983, R. Luc Besson), die Mad-Max-Trilogie (1979, 1981, 1985, R. George Miller) oder auch Radioactive Dreams (1986, R. Albert Pyun).

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Das Undenkbare zu denken und zu filmen, bezieht sich in Lopušanskijs Abgesang (auch) auf das actionreiche Science Fiction-Genre nicht auf das Ende; es bezieht sich auf das Nicht-Ende. Das ist nicht das Ende der Welt: Diese negative Negativität zeichnet den Film neben seiner bildästhetischen Eigenwilligkeit innerhalb des Kanons an Atomkriegsfilmen in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts aus. Sie stellt ihn aber auch in die unmittelbare Nähe zweier Philosophen, die die Existenz einer „Zeit des Endes“ radikal gedacht haben – als Gegenfigur des „Endes der Zeit“ nämlich. Beide, Günther Anders und Giorgio Agamben, entwickeln eine Zeitphilosophie, die gegenüber der Eschatologie und der Apokalypse (und damit der Offenbarung des Johannes) die Konturen des Messianismus und der Anti-Apokalypse betonen.

3. ZEIT DES ENDES Lopušanskijs Figur des Dr. Larsen gehört dem messianistischen Register an und ist ein Typus, der in allen seinen nachfolgenden Postkatastrophen-Zonen-Filmen in Variation wiederkehrt, von Der Museumsbesucher (Posetitel‘ muzeja, 1989) über Die russische Symphonie (Russkaja simfonija, 1994) bis hin zu Das Ende des Jahrhunderts (Konec veka, 2001). Es besteht kein Zweifel – Karsten Visarius hat das überzeugend ausgeführt – dass der spätsowjetische filmhistorische Kontext die stärkste Prägung dieses Typus im Œuvre Lopušanskijs darstellt, in dem, bei gleichzeitiger ‚Zerfressung‘ der filmischen Bilder „die materielle Welt zu Ruinen zerfällt“: Wo im US-amerikanischen Endzeitgenre „eine intakte Zivilisation von einer universellen Katastrophe bedroht und, in der Regel, durch das Heldentum einzelner gerettet wird […], inszenieren die russischen Regisseure Endzeitzustände

27 1991-96 ist Lopušanskij Vorsitzender der „Christlichen Kinovereinigung Sankt Petersburg“, seine späteren Filme orientieren sich noch stärker an der christologischen Axiomatik.

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und Endzeitstimmungen, die sich in einer breiten Skala unterschiedlicher Geschichten und Milieus entfalten.“28 Dennoch lassen sich die specifica sovietica dieser Situiertheit – ebenso wie das in Bezug auf das Paradigma des nuklearen Winters möglich ist – auch hinsichtlich der zeitphilosophischen Konzeption ‚universalisieren‘, was in diesem Zusammenhang gerade nicht als historische Entspezifizierung gedacht ist; vielmehr bedeutet es, die diskursiven Konturen einer bestimmten historischen Situation (nämlich des atomaren Zeitalters) als wissenspoetologisches ‚Allgemeingut‘ jenseits der Souveränitätslogik des Kalten Kriegs zu verstehen. Lopušanskij deterritorialisiert das Nicht-Ende, eben weil es den gesamten Globus betrifft. Was in den Briefen eines Toten zur Vorstellung gebracht wird, ist nicht das „Ende der Zeit“, sondern vielmehr die „Zeit des Endes“. Der aporetische Status des Verfassers der Briefe, ja der Briefe selbst, setzt sich auf der Ebene des Sujets fort: Larsen ist tot und lebendig zugleich – als Toter schreibt er Briefe an und über seine nicht mehr existierende Familie, als Lebender sorgt er sich um die Waisenkinder und weiht sie, kurz bevor er ‚tatsächlich‘ stirbt, in die Mysterien des Weihnachtsfests („Heute ist nach meiner Zeitrechnung die fünfte Morgendämmerung des ersten Schneemonats, das heißt heute ist Weihnachten.“) und in die Werte des menschlichen Gemeinschaftssinns ein.29 Dort, wo keine bio-

28 Vgl. Visarius 2001. Visarius nennt neben Tarkovskij auch noch die Regisseure Aleksandr Sokurov, Viktor Aristov, Semen Aronoviþ sowie Artur Aristakisjan, die „jenseits der [US-amerikanischen] popkulturellen Verarbeitung“ der Endzeitkatastrophe eine „eigene Tradition apokalyptischer Filmszenarien“ geschaffen haben, in der Lopušanskijs Werk steht und mit der er eine „düstere Bilanz der sowjetischen Geschichte [zieht] und eine pessimistische Diagnose der postsowjetischen Gesellschaft“ erstellt. 29 Die Kinder brechen auf, in eine physische aber nicht (mehr) metaphysische Obdachlosigkeit. Der Abspann zitiert das „Russel-Einstein-Manifest“ aus dem Jahr 1955: „There lies before us, if we choose, continual progress in

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logische Reproduktion mehr möglich ist und wo der Hilferuf nicht mehr – wie im christologischen Schema – vom Sohn an den Vater, sondern vom Vater an den Sohn ergeht („Mein lieber Erik, unter Aufbietung all meiner Kräfte ist es mir gelungen nicht aufzugeben. Ich habe wieder eine Aufgabe im Leben gefunden. Und noch eins: [Close-Up auf Gasmaske, Anm. B.W.]: Erik, lass mich nicht allein auf dieser Welt, mein Sohn!“), findet ein metaphysisches Vermächtnis statt. Nach Larsens Tod bietet der Film eine zweite Off-Stimme auf – eines der geretteten Kinder variiert das Weihnachtsevangelium: „Und es begab sich am sechsten Tag, nachdem der Weltuntergang begonnen hatte. An diesem Tag brachte uns die Schwester Theresa hier her, wie es der Vater vor seinem Tod ihr aufgetragen hatte, dann ging sie fort und dieser Mann nahm uns auf. Wir wissen nicht wie er heißt. Er war sehr gut zu uns. Der älteste Junge hat alles aufgeschrieben.“ Der Professor, so die Stimme des Kindes, hätte ausdrücklich erklärt, dass dies „nicht der Untergang der Welt“ sei. „Geht fort von hier“, sagte er, „denn so lange der Mensch sich im Aufbruch befindet, gab es bisher immer eine Hoffnung.“ Die Kinder hätten Larsen zunächst nicht geglaubt, doch als er ankündigte, bald zu sterben, wussten sie, dass er nicht lügen würde: „Denn wir wissen, dass die Erwachsenen lügen, so lange sie leben. Aber kurz bevor sie sterben, sagen sie die Wahrheit.“ Es ist Giorgio Agambens Verdienst, auf den Unterschied zwischen messianischer Zeit einerseits und eschatologischer, apokalyptischer, prophetischer Zeit andererseits aufmerksam gemacht zu haben: Nicht die Prophezeiung, die sich auf die Zukunft richtet, sondern die Apokalypse, die das Ende der Zeit betrachtet, ist das gefährlichste Missverständnis der messianischen Verkündigung. Das Apokalyptische sieht die Vollendung des Endes und beschreibt, was es sieht. Die Zeit hingegen, die der Apostel erlebt, ist nicht das éschaton, ist nicht das Ende der Zeit. Wenn man die Differenz zwischen Messianismus und Apokalypse, zwischen Apostel und Visionär in

happiness, knowledge, and wisdom. Shall we, instead, choose death, because we cannot forget our quarrels?“

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einer Formel ausdrücken müsste, so glaube ich, dass man in Anlehnung an einen Vorschlag von Gianni Carchia sagen könnte, dass das Messianische nicht das Ende der Zeit, sondern die Zeit des Endes ist […]. Den Apostel interessiert nicht der letzte Tag, nicht der Augenblick, in dem die Zeit aufhört, sondern die Zeit, die zusammengedrängt ist und zu enden beginnt (1 Kor 7,29: ho kairós synestalménos estín) – oder, wenn man will, die Zeit, die zwischen der Zeit und ihrem Ende bleibt.30

Larsen, wie wir wissen, ist der Schöpfer einer neuen Zeitrechnung, die für die Zeit der Dämmerung Gültigkeit beansprucht („die alte Ordnung der Schöpfung [wird] erst in Jahrzehnten wieder hergestellt sein“). Diese Dämmerlicht-Zeit hat ähnlich wie die bei Agamben konzeptualisierte messianische Zeit operativen Status; sie unterscheidet sich fundamental sowohl von der chronologischen Zeit (Larsen kann keine Chronologie der Ereignisse mehr herstellen) als auch vom apokalyptischen éschaton (dem Übergang der Zeit in die Ewigkeit); Paulus – dessen Römerbrief Agamben liest – konfiguriert einen „Rest, nämlich die Zeit, die zwischen diesen beiden Zeiten übrig bleibt, wenn man mit einer messianischen Zäsur oder mit einem Schnitt des Apelles die Teilung der Zeit selbst teilt“; er spricht von einer „zusammengedrängte[n] Zeit“, einer „‚Jetztzeit‘, [die] bis zur parousía, bis zur vollständigen Anwesenheit des Messias, die mit dem Tag des Zorns und dem Ende der Zeit (das unbestimmt bleibt, obwohl es kurz bevorsteht) zusammenfällt“; operativ ist diese Zeit vor allem deshalb, weil sie eine Zeit ist, die „Zeit braucht, um zu enden“.31 An anderer Stelle habe ich versucht zu zeigen, dass Tarkovskijs Zeit-Bilder – insbesondere jene in seinem letzten Film Offret – im Licht des von Agamben skizzierten paulinischen Messianismus gedeutet werden können.32 Für Lopušanskij gilt es m.E. jedoch, die theologische Perspektive zu erweitern und die konkrete Epistemologie des nuk-

30 Agamben 2006, S. 75. 31 Ebd., S. 76-82. 32 Vgl. Wurm 2006.

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learen Zeitalters zu berücksichtigen, wie sie am deutlichsten in den Schriften des Heidegger-Schülers und -Kritikers Günther Anders zum Ausdruck kommen. ‚[U]nsere Zeit‘ im Sinne von ‚unser Zeitalter‘ [gibt es heute nicht]. Es sei denn, wir bestimmten dieses Zeitalter als diejenige ‚Zeit‘, die pausenlos in der Gefahr schwebt, ein Ende zu nehmen und dabei auch die Zeit mit sich zu reißen. Theologisch gesprochen also als Endzeit. Aber ein ‚Zeitalter‘ im üblichen Sinne ist solche Endzeit deshalb nicht, weil sie (was von keinem Zeitalter sonst gilt) solange es Zeit ‚gibt‘, niemals enden kann, sondern nur mit dem Ende der Zeit selbst. Obwohl sie einen äußerlich unbestreitbaren Startpunkt hat (ihr Jahr Null liegt im Jahre 45), und obwohl sie so fragil, nämlich immer ‚am Ende‘, ist; oder gerade weil sie immer am Ende ist, ist sie auch endlos im Sinne von ‚endgültig‘. Und durch diese ihre merkwürdige Verbindung von Endnähe und Endlosigkeit unterscheidet sie sich von allen anderen Zeitaltern.33

Auch Anders stellte dem apokalyptischen Ende der Zeit demnach eine Zeit des Endes gegenüber, deren operativer Charakter der „Frist“ sehr starke Ähnlichkeit mit der paulinischen „Zeit, die bleibt“ aufweist: 34 Endzeit contra Zeitende. Unser Dasein definiert sich mithin als ‚Frist‘; wir leben als Gerade-noch-nicht-nichtseiende. – Durch diese Tatsache hat sich die moralische Grundfrage verändert: Der Frage ‚Wie sollen wir leben?‘ hat sich die Frage ‚Werden wir leben?‘ untergeschoben. Auf die ‚Wie-Frage‘ gibt es für uns, die wir in unserer Frist gerade noch leben, nur die eine Antwort: ‚Wir haben dafür zu sorgen, dass die Endzeit, obwohl sie jederzeit in Zeitenende umschlagen könnte, endlos werde; also, dass der Umschlag niemals eintrete.‘ – Da wir an die Möglichkeit des ‚Zeitenendes‘ glauben, sind wir Apokalyptiker; aber

33 Anders 1972, S. 204f. 34 Vgl. v.a. von Anders „Die Frist“ [1960] in: Anders 1972, S. 170-221 sowie „Thesen zum Atomzeitalter“ [1959], in: ebd., S. 93-105.

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da wir die von uns selbst gemachte Apokalypse bekämpfen, sind wir – diesen Typ hat es zuvor nicht gegeben – Apokalypse-Feinde.35

Es ist Larsens Ambition, das Ende der Zeit, die Apokalypse zu widerlegen. In gewisser Weise ist er tatsächlich jener Auserwählte, der nicht nach dem „Wie leben“ fragt, sondern danach, ob es überhaupt ein Leben geben werde, und der zu diesem Zweck eine ÜbergangsZeitrechnung etabliert, die es erlaubt, die Endzeit endlos zu machen („dass der Umschlag niemals eintrete“). Doch erst die nukleare Bedrohung führt für Anders dazu – und Lopušanskijs zerstörte Heterotopien des Museums und der Bibliothek lassen keinen Zweifel daran, dass er ähnlich denkt –, dass dieses Intermezzo, diese Zwischenzeit nun „die Geschichte selbst“ bezeichnet: „Da es nun die Geschichte selbst ist, die in der Gefahr schwebt, sich (so, als wäre sie ein Teil ihrer selbst) zu einem endlichen und einmaligen, also individuellen Ereignis abzurunden, bezeichnet der Ausdruck ‚Intermezzo‘ nun die Geschichte selbst.“36 Ähnlich wie Larsen, der seine der Intuition entsprungenen Berechnungen ‚wider alle Vernunft‘ und gegen Familie, Kollegen und Freunde durchsetzt, ist der Apokalypse-Feind, den Anders beschreibt, bereit sein Gesicht zu verlieren. Anders definiert den „prophylaktischen Apokalyptiker“ des Atomzeitalters im Unterschied zu den klassischen jüdisch-christlichen Apokalyptikern als denjenigen, der nicht nur das „Ende (das sie erhofft hatten) fürchte[t]“, sondern auch ausschließlich deshalb zum Apokalyptiker wird, „um Unrecht zu bekommen“: Ausschließlich, um an jedem Tage neu die Chance zu genießen, als die Blamierten dazustehen. Diese Zielsetzung hat es in der Geschichte der Eschatologien noch niemals gegeben, vor dem Hintergrunde der aus der Religionsgeschichte bekannten apokalyptischen Attitüden wirkt sie vermutlich absurd.37

35 Ebd., 93f. 36 Ebd., 173. 37 Ebd., S. 179.

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Larsens Pertinenz, sein absurdes Forschungs- wie Heils-Projekt der Widerlegung der allumfassenden Katastrophe zu realisieren, lässt sich vor diesem Hintergrund als Versuch verstehen, die Einzigartigkeit des nuklearen Infernos zu verdeutlichen (und es von den „apokalyptischen Attitüden“ seiner Mitmenschen durchaus abzugrenzen, indem er das Zerstörungspotential verdeutlicht). Und genau so lassen sich auch seine Briefe, die bekanntlich angeblich Briefe eines Toten sind, lesen: als Ausdruck einer aporetischen ‚Apokalypse-Prophylaxe nach der Katastrophe‘. Lopušanskij überträgt das von Anders skizzierte Szenario der allumfassenden potentiellen Gefahr des Zeitenendes in ein Drehbuch, das den „Gefahrenaugenblick möglicher Apokalypse, da dieser uns die Chance der Begegnung mit dem Nichtsein bietet“,38 bereits hinter sich gelassen hat, nur um ihn dabei gleichzeitig in seiner End-Gültigkeit zu hinterfragen. Die Briefe an den Sohn, dessen Existenz noch mehr in Zweifel steht als jene des Vaters/Verfassers, zeugen davon, dass Larsen – einem Apostel des nuklearen Zeitalters gleich – sowohl von der Unmöglichkeit posthumer Testamente (für die Menschheit) weiß als auch von deren existentieller Notwendigkeit.39 Die Garantie auf eine Zeit, die einfach immer weiter geht, ist abgelaufen. Um die Warnung glaubwürdig zu formulieren, gilt es – genau das war auch die paulinische Situation –, den Nachweis zu erbringen, dass die eschatologische Zeit bereits eingetroffen ist. Lopušanskijs Bilder der Zerstörung und Verwüstung, der Gasmasken-Gemeinschaft und der frostigen Winterlandschaft, halten fest, was (danach noch) gewesen sein wird (Abb. 2).

38 Ebd., S. 175. 39 Vgl. ebd., S. 175: „Wer aus irgendeinem Grunde Wert darauf legt, dass das Gewesene doch erinnert werde und wer noch zur Zeit zu kommen wünscht, nämlich in einer Zeit, in der es noch Zeit gibt, der sollte sich daher beeilen, sein Geschäft des Erinnerns praenumerando zu erledigen, also die Aufgabe unserer Enkel und Urenkel, unser zu gedenken, jetzt schon vorwegnehmen. Posthum lassen sich Testamente nicht aufsetzen.“

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Abb. 2: Bilder aus einer Zeit des Endes: Briefe eines Toten.

Die Katastrophe war da, aber sie ist noch nicht da. Nicht nur das Warten auf den Messias, aber besonders diese christliche Frist, diese Heilsgeschichte, brachte – folgt man Anders‘ anti-theologischem Gestus – eine Kette von Heilsenttäuschungen mit sich.40 Lopušanskij (und daraus erklärt sich vielleicht auch der Preis der ökumenischen Jury) lässt keinen Zweifel daran, dass er wider alle Umstände am Narrativ eben dieser Heilsgeschichte festhält. Gleichzeitig aber – und das unterscheidet ihn wohl vom selbstermächtigungsstrategischen Martyrologium eines Andrej Tarkovskij – fixieren seine filmischen Bilder, die weder der Idiosynkrasie noch dem Mythos entspringen, sondern das Imaginäre des Szenarios des nuklearen Winters präzise nach- (und damit vor-)zeichnen, die Katastrophe mehr als deutlich. Eine Katastrophe, die nicht mehr bevorsteht, sondern bereits stattgefunden hat – und das nur, um jene, die dem „clair-obscure“ der christlichen Eschatologie, wie Günther Anders sie nennt, die „Unverblümtheit eines Ungläubigen“

40 Vgl. ebd., S. 210ff.

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gegenüberzustellen, der davon überzeugt ist, „dass sich die Zwielichtigkeit, wenn sie heute einträte, noch verhängnisvoller auswirken würde als die Zwielichtigkeit damals.“41 Lopušanskijs Briefe eines Toten sind sich ihrer theologischen Genealogie ebenso bewusst wie sie als Teil einer epistemologischen Archäologie der Atomkatastrophe verstanden werden können. Die Glaubwürdigkeit, mit der hier der ultimative Gewaltakt der vollständigen Zerstörung des Planeten gezeichnet wird, verdankt sich nicht zuletzt der Kenntnis zahlreicher wissenspoetologisch relevanter Details des Diskurses vom nuklearen Winter sowie der komplexen (und aporetischen) Narration in (posthumer) Briefform. Darüber hinaus jedoch ist es auch jene Spannweite, die sich in den Briefen eines Toten und im Handlungsimperativ des Dr. Larsen zwischen Anachronie und Anarchie auftut, die Lopušanskij zu einem zentralen Baustein im kanonischen Konstrukt „Atomkrieg im Kino“ macht.

L ITERATUR Giorgio Agamben, Die Zeit, die bleibt. Ein Kommentar zum Römerbrief, Frankfurt/M. 2006. Günther Anders, Endzeit und Zeitenende. Gedanken über die atomare Situation, München 1972. Wilfrid Bach, „Von der Nuklearnacht zum Nuklearwinter. Über die klimatischen und ökologischen Auswirkungen eines Atomkriegs“, in: Wissenschaft & Frieden 2, 1985. Online: http:// www.wissenschaft-und-frieden.de/seite.php?artikelID=0617 [Zugriff am 25.1.2013]. Thomas Brandstetter, „Der Staub und das Leben. Szenarien des nuklearen Winters“, in: Lorenz Engell, Bernhard Siegert und Joseph Vogl (Hgg.), Wolken (=Archiv für Mediengeschichte, Bd. 5), Weimar 2005, S. 149-156.

41 Ebd., S. 212.

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ABBILDUNGEN Abb. 1-2: ɉɢɫɶɦɚ ɦɺɪɬɜɨɝɨ ɱɟɥɨɜɟɤɚ (Briefe eines Toten, UdSSR 1986, R: Konstantin Lopušanskij).

Umkreisung, Stillstand, Tod Chris Markers La Jetée (1962) L ARS N OWAK für Katja

Obwohl Chris Markers Film La Jetée (1962) gerade einmal 28 Minuten dauert, hat er seit seinem Erscheinen zu Beginn der 1960er Jahre eine Berühmtheit erlangt, die ihm auch ein immenses akademisches Interesse bescherte. Die meisten der zahllosen Untersuchungen dieses Filmes konzentrieren sich indes entweder auf dessen formale Nähe zur Photographie oder auf das inhaltliche Motiv der Zeitreise und die damit zusammenhängende Verhandlung des Zusammenhangs von Erinnerung und Bildlichkeit. Nur en passant wird in ihnen dagegen auf den Umstand hingewiesen, dass die narrative Voraussetzung des Filmes durch einen atomaren Weltkrieg gebildet wird. So beschreibt zwar etwa Bruce Kawin La Jetée als „an essay on the nature of the romantic temperament in a world that seems always to be on the verge of war“;1 doch wie dieser Krieg hier eigentlich repräsentiert wird, erfährt man aus Kawins Text nicht. Zugleich wird Markers Film beispielsweise in Jack Shaheens Nuclear War Films oder Jerome Shapiros Atomic Bomb Cinema mit keiner Silbe erwähnt, obgleich diese Bücher filmische

1

Kawin 1982, S. 20.

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Imaginationen des Atomkrieges zu ihrem Gegenstand haben.2 Die Rolle des Nuklearkrieges in La Jetée soll jedoch im Zentrum der folgenden Überlegungen stehen, die hierauf auch jene Aspekte des Filmes beziehen werden, welche fast die gesamte Aufmerksamkeit der bisherigen Analysen absorbiert haben. Möglicherweise ist die bisherige Vernachlässigung des Atomkriegsmotivs darin begründet, dass dieser Krieg in La Jetée als eigentlich undarstellbar erscheint und deshalb nur indirekt thematisiert wird.3 Denn während in den – von einer voice-over vorgelesenen – Zwischentiteln zu Beginn des Filmes von einem Dritten Weltkrieg die Rede ist, dessen atomarer Charakter sich der etwas später folgenden Erwähnung radioaktiver Verseuchungen entnehmen lässt, präsentieren die Bilder nicht diesen militärischen Konflikt selbst, sondern dessen Folgen: Ähnlich wie viele andere Filme über dasselbe Thema, etwa das in Barbara Wurms Beitrag zu diesem Sammelband behandelte Werk Briefe eines Toten (1986) von Konstantin Lopušanskij, siedelt auch Markers Film seine Handlung in einer postnuklearen Welt an. Diese wird zunächst durch eine Einstellungsfolge vom zerstörten und menschenleeren Paris evoziert, welche ironischerweise in einem Bild vom schwer beschädigten Arc de Triomphe gipfelt, der sich durch seine Zerstörung von einem Zeichen des Sieges in ein solches der Niederlage verkehrt hat (Abb. 1). Über der Stadt haben sich dunkle Wolken zusammengezogen, die zwar nichts mit jenem Atompilz gemein haben, der schon zur Entstehungszeit von La Jetée das visuelle Klischee der Nukleardetonation bildete, aber bereits auf jenen nuklearen Winter vorzugreifen scheinen, dessen Theorie erst in den 1980er Jahren entwickelt wurde.4 Die zerstörten Gebäude über der Erde werden

2

Vgl. Shaheen 1978; Shapiro 2002.

3

Vgl. Bensmaïa 1990, S. 149ff.; Wetzel 1998, S. 33.

4

Zu den epistemisch-medialen Implikationen dieser von Richard Turco und Carl Sagan aufgestellten Theorie, nämlich zu den von ihr benötigten Computersimulationen und dem von ihr herbeigeführten Bruch mit der strategi-

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um zerbrochene Statuen unter ihr ergänzt, die in das Blickfeld der Kamera rücken, als diese sich in die Kelleranlagen des Palais de Chaillot begibt. Dorthin haben sich die wenigen Überlebenden zurückgezogen, denen es aufgrund der Radioaktivität nicht länger möglich ist, an der Erdoberfläche zu leben – was nicht nur für die Verlierer des Krieges, sondern auch für dessen vermeintliche Sieger gilt. Haben sich diese selbst mit eigenartig anmutenden Sehhilfen ausgerüstet, die eine Blendung durch den Atomblitz zu kompensieren scheinen, so führen sie mit den Verlierern wissenschaftliche Experimente durch, in deren Verlauf sie ihnen mit Masken die Augen bedecken, als wollten sie diese Blendung an ihnen noch einmal wiederholen.5 Die Experimente sind Ausdruck einer Unterwerfung, deren totalitärer, faschistoider Charakter auch die Sozialbeziehungen in vielen anderen postatomaren Filmszenarien kennzeichnet.

Abb. 1: La Jetée. Zerstörtes Paris.

schen Fokussierung auf nationale Bevölkerungen und deren Reduzierung auf das ‚nackte Leben‘, vgl. Brandstetter 2005. 5

Vgl. Wetzel 1998, S. 28.

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Wie Janet Harbord deutlich gemacht hat, verweisen die beschädigten Bauwerke und Plastiken nicht nur auf den fragmentarischen Charakter aller Überlieferung und Erinnerung,6 sondern auch auf die Zerstörungen, welche die Atombombe als ein besonders avanciertes Produkt der Technik und damit eines Teils der Kultur in einem anderen Bereich derselben, nämlich in der Kunst, angerichtet hat. 7 Und da sich unter den destruierten Objekten auch Heiligenstatuen und eine Kirche befinden, scheint noch ein weiteres Element der Kultur, der Glaube an einen guten und zugleich allmächtigen Gott, in die Vernichtung einbezogen zu sein. Eine solche Deutung von La Jetée als nukleare Reformulierung der Theodizee wird durch zwei weitere Verweise auf das Christentum gestützt: Abgesehen davon, dass an mehreren Stellen des Filmes russisch-orthodoxe Chormusik zu hören ist, nämlich Piotr Gontcharovs und Alexandr Kastalskys Tropaire en l’honneur de la Sainte Croix, wird der sterbende Protagonist durch das Ausbreiten seiner Arme mit dem gekreuzigten Christus identifiziert.8 Entgegen vielen Prophezeiungen über die Folgen eines globalen Atomkrieges lässt sich hieraus jedoch keine generelle Auslöschung aller menschlichen Kultur überhaupt und damit kein Rückfall in den bloßen Naturzustand ableiten. Denn erstaunlicherweise ist in La Jetée der technischen Entwicklung selbst durch die nukleare Katastrophe keineswegs ein Ende bereitet worden. Darauf deuten neben den aufwändigen Sehprothesen auch die in dem unterirdischen Kriegsgefangenenlager durchgeführten Menschenversuche hin. Diese bringen eine technische Apparatur zum Einsatz, die, wie gegen Carolina Ferrer und Harbord einzuwenden ist, nur auf den ersten Blick als primitiv erscheint,9 tatsächlich aber nichts Geringeres als Zeitreisen – ein bis heu-

6

Vgl. Harbord 2009, S. 16.

7

Vgl. ebd. 2009, S. 93.

8

Vgl. ebd. 2009, S. 79f.

9

Vgl. Ferrer 2003, S. 57; Harbord 2009, S. 40.

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te eigentlich unmögliches Unterfangen – ermöglicht.10 Wenn also viele andere Filme Markers den Zuschauer in fremde Länder entführen,11 so können solche Reisen durch den Raum zwar in der radioaktiv verseuchten Welt von La Jetée nicht mehr unternommen werden; doch sind sie dort durch Reisen in der Zeit ersetzt worden.12 Und wenn alle

10 Ein Rückfall von der Kultur in die Natur, und zwar in deren belebten Teil, scheint eher durch ein remake von La Jetée, nämlich durch Terry Gilliams Twelve Monkeys (1995), in Szene gesetzt zu werden. Das ist in der unterschiedlichen Rolle begründet, die in den beiden Filmen Tiere spielen. Sind diese nämlich in La Jetée in ein Naturkundemuseum eingesperrt, so werden sie in Twelve Monkeys aus dem Zoologischen Garten freigelassen; vgl. Ferrer 2003, S. 61. Und während die ausgestopften Tiere von Markers Museum schon vor der atomaren Katastrophe so tot sind wie die Menschen danach, schicken sich Gilliams Tiere an, die Herrschaft über den Planeten zu übernehmen, weil sie gegen den Virus, der hier für die fast vollständige Ausrottung der Menschheit verantwortlich zeichnet, immun sind. Diese Differenz hat zweifellos darin ihren Grund, dass der Virus, der in Twelve Monkeys die Katastrophe herbeiführt, in jenem Moment, in dem er das Labor verlässt, selbst in die belebte Natur eingeht. Allerdings wird die drohende Regression auf den Naturzustand letztlich auch in Gilliams Film abgewendet. Denn erstens sind die verbliebenen Menschen auch hier imstande, Zeitreisen zu unternehmen. Und zweitens gibt ihnen der Umstand, dass sich der Virus nur allmählich verändert, sogar die Möglichkeit, die völlige Auslöschung der Menschheit doch noch zu verhindern. Vgl. Ferrer 2003, S. 73ff. 11 Dabei richtete sich Markers Interesse vor allem auf sozialistische Staaten wie die Sowjetunion, Kuba oder China. Doch handeln der Film Sans Soleil von 1982 und mehr noch der parallel hierzu entstandene Photobildband Le Dépays aus demselben Jahr auch von Japan, jenem Land, auf das bisher als einzigem der Welt tatsächlich Atombomben abgeworfen wurden. Der Porträtierung verschiedener Länder widmete sich auch die von Marker herausgegebene Photobuchreihe Petite Planète. 12 Vgl. Hilliker 2000, S. 6.

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Filme über den Atomkrieg deshalb in das Genre der Science Fiction fallen, weil sie den Zuschauer in eine mögliche Zukunft versetzen, so trifft diese Klassifikation auf Markers Werk auch deshalb zu, weil hier bereits die Figuren selbst durch die Zeit reisen (und zwar mit allen Paradoxien, die für das Motiv der Zeitreise typisch sind). So wie in La Jetée aber die Beweglichkeit der Menschheit im Raum durch die Technologie der Atombombe vernichtet wurde, verdankt sich die kompensatorische Bewegung in der Zeit schlicht einer anderen Technologie. Obwohl das weitere Überleben der Menschheit zunächst als fraglich erscheint, wird es durch eine Nutzung der Zeitmaschine für eine Reise in die Zukunft gesichert, von wo der namenlose Protagonist des Filmes – wie von den Versuchsleitern erhofft – Rettung für die Gegenwart holt. Auch diese Rettung ist technischer Natur, besteht sie doch in einer Energiequelle, die im Gegensatz zur Atombombe die Menschheit nicht an den Rand ihrer totalen Vernichtung führt, sondern ihr die Wiederaufnahme der industriellen Produktion und den Wiederaufbau von Paris erlaubt. Dennoch geht der auch durch den Atomkrieg nicht aufgehaltene technische Fortschritt mit keinem moralischen Fortschritt einher. Denn zum einen stellen die Zeitreisen nichts anderes als eine Replik dieses Krieges dar, wenn sie den Versuchspersonen Schmerzen zufügen und mit ihrem Sturz in den Wahnsinn oder ihrem Tod enden. Und zum anderen scheint das zukünftige Zusammenleben der Menschen zwar friedlichere Züge angenommen zu haben, übt aber auf den Protagonisten so wenig Anziehungskraft aus, dass dieser ihm eine Flucht in die präatomare Vergangenheit vorzieht, obwohl er weiß, dass diese unweigerlich auf den Nuklearkrieg zuläuft. Allerdings wird dieser Fluchtversuch vereitelt: Nachdem der Protagonist mit seiner erfolgreichen Reise in die Zukunft seine Aufgabe erfüllt hat und für die Experimentatoren entbehrlich geworden ist, wird er von diesen auf seiner letzten Reise in die Vergangenheit erschossen. Wie für so viele andere Versuchspersonen geht das Zeitreise-Experiment somit auch für

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die Hauptfigur tödlich aus, der folglich auch ihre zeitliche Bewegungsfreiheit wieder genommen wird.13 Mit den Reisen in die Vergangenheit – mit deren Hilfe die Wissenschaftler ursprünglich bloß die generelle Eignung ihres Probanden zum Zeitreisenden in Erfahrung bringen wollten – nimmt Markers Film bei der Darstellung des Atomkrieges noch einen zweiten zeitlichen Umweg: Neben das Nachher des militärischen Schlagabtauschs tritt das Vorher und damit neben seine Ausklammerung eine Umkreisung. Die zeitliche Einkreisung des Nuklearkrieges wird aber ihrerseits um eine Artikulation seiner eigenen temporalen Struktur ergänzt. Umgekehrt formuliert, vernichtet der atomare Krieg zwar die Bewegungsfreiheit im Raum, besitzt aber zu derjenigen in der Zeit gewisse Affinitäten. So sind zwar, wie der Off-Kommentar des Filmes feststellt, die Begegnungen des Protagonisten mit jener Frau, deren Bild ihn an die Vergangenheit fesselt, auf Punkte reiner Gegenwart reduziert. Doch bringen die Reisen des Helden zugleich immense Zeiträume ins Spiel, da sie ihn außer in eine ferne Zukunft auch zum Querschnitt eines Mammutbaumes und zum Skelett eines Dinosauriers, damit aber zu Objekten führen, die in eine nicht weniger ferne Vergangenheit zurückreichen. Und weil die graphischen Muster, mit denen die erste der beiden Zukunftsreisen eingeleitet wird, eine auffällige Ähnlichkeit mit den Jahresringen des Baumes aufweisen, sind die beiden Zeitmodi auch miteinander verknüpft.14 Auch ein Nuklearkrieg aber würde sich vermutlich von allen früheren Kriegen darin unterscheiden, dass seine Austragung zwar wesentlich weniger Zeit beanspruchte, seine destruktiven Folgen aber – man denke insbesondere an die Freisetzung radioaktiver Substanzen mit Halbwertszeiten von Tausenden von Jahren – bedeutend länger anhielten. Wenn wiederum in La Jetée nach der spatialen schließlich auch die temporale Mobilität aufgehoben wird, so hat diese doppelte Negation von Raum und Zeit ihre Entsprechung in jenem kriegsähnlichen Zu-

13 Vgl. Horak 1997, S. 78. 14 Vgl. Harbord 2009, S. 19.

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stand, in dem die Drohung eines atomaren Krieges bereits vor ihrer Einlösung mehrere Jahrzehnte lang ihren politischen Ausdruck fand, nämlich im Kalten Krieg. Dessen Strategie hat man häufig dadurch zu charakterisieren versucht, dass die bisherige Ausrichtung des militärischen Denkens auf den Raum durch eine Orientierung an der Zeit ersetzt worden sei. Beispielsweise sah Lorenz Engell eine solche Umstellung in dem seinerzeitigen Umstand begründet, dass die vollständige Aufteilung der Erde zwischen den beiden Supermächten alle räumlichen Bewegungsmöglichkeiten beseitigt habe.15 Und Paul Virilio behauptete, dass die extremen Geschwindigkeiten der atomaren Trägerraketen, die auch heute noch zum Erreichen ihrer Ziele nicht mehr als einige Minuten benötigen, den Raum so stark hätten schrumpfen lassen, dass die einstige Geo- durch eine Chronopolitik ersetzt worden sei.16 Doch hat die immense Beschleunigung der technischen Vehikel – darunter auch der Atomraketen – eben nur deshalb zu einer virtuellen Kontraktion des Raumes geführt, weil sie reell die Zeiten zu seiner Durchquerung verkürzte, weshalb Virilio neben einer Implosion des Raumes auch eine solche der Zeit konstatiert hat.17 Die zeitlichen Rückgriffe innerhalb der von La Jetée erzählten story haben freilich ein Korrelat in der hier referierten history, da der Film bei der Darstellung des für die Zukunft vorstellbaren Atomkrieges zugleich auf einen vergangenen Krieg zurückgreift. Zwar war La Jetée zunächst ähnlich wie Markers zeitgleich entstandener Film Le Joli mai (1963) durchaus auf Ereignisse der damaligen Gegenwart bezogen.18 So erinnert nicht nur das hiesige Kriegsgefangenenlager an die französischen Folterpraktiken während der kurz zuvor in Indochina und Algerien geführten Kolonialkriege.19 Mehr noch scheint La Jetée nicht allein die allgemeine Struktur des Kalten Krieges widerzuspiegeln,

15 Vgl. Engell 1990, S. 27. 16 Vgl. Virilio/Lotringer 1984, S. 11, 73f. 17 Vgl. Virilio 1989, S. 184, 187. 18 Vgl. Lupton 2005, S. 87f. 19 Vgl. Hilliker 2000, S. 7; Lupton 2005, S. 88.

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sondern auch von einzelnen seiner Entwicklungen beeinflusst worden zu sein.20 Zu ihnen gehört wiederum nicht bloß die von vielen Interpreten erwähnte Kuba-Krise, die in das Entstehungsjahr des Filmes fiel.21 Im Hintergrund desselben stand vielmehr auch, dass die UdSSR am 30. Oktober 1961, also kurz vor der Verlegung aller amerikanischen, sowjetischen und britischen Atomtests unter die Erdoberfläche, mit der Zündung der so genannten Zar-Bombe (die eine Sprengkraft von nicht weniger als 50 Megatonnen TNT-Äquivalent besaß) den größten oberirdischen Nukleartest aller Zeiten durchgeführt hatte und dass am 13. Februar 1960 Markers Heimatland Frankreich mit der Durchführung eines Kernwaffentests in der algerischen Wüste als vierter Staat der Erde zur Gruppe der Atommächte gestoßen war.22 Und indem Markers Film den Nuklearkrieg anhand der Zerstörung von Paris darstellte, das hiervon aufgrund seiner vergleichsweise geringen Ausdehnung in besonders hohem Maße bedroht war, rief der Film auch entsprechende Szenarien auf, die seinerzeit in französischen Militärkreisen zirkulierten. So hatte etwa der Lieutenant-Colonel Paul Genaud bereits 1950, also ein Jahr nach der Zündung der ersten sowjetischen Nuklearbombe, in seinem Buch L’Arme atomique beschrieben, welche Zerstörungen eine auf das Zentrum der Stadt abgeworfene Atombombe in vier verschiedenen Bereichen hervorrufen würde, die sich in wachsenden Abständen um den Explosionsort legten.23 Genauds Ausführungen wurden auch durch einen Stadtplan illustriert, in dem diese Bereiche durch konzentrische Kreise markiert waren (Abb. 2).24

20 Vgl. Hilliker 2000, S. 7; Alter 2006, S. 93. 21 Vgl. Puiseux 1987, S. 66; Lupton 2005, S. 88; Cooper 2008, S. 51; Harbord 2009, S. 8. 22 Vgl. Badash 1995, S. 91. Frankreich nahm am begrenzten Atomteststopp nicht teil, sondern hielt bis 1996 über 200 weitere Nukleartests in der Atmosphäre ab. Heute ist es die drittgrößte Atommacht der Welt. 23 Vgl. Genaud 1950, S. 183ff. 24 Zur Rolle solcher Karten in den Lehr- und Propagandafilmen über die amerikanischen Atomtests vgl. Nowak 2012, S. 431ff. – Die Beeinflussung

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Dominant sind in La Jetée jedoch nicht diese aktuellen Bezugnahmen, sondern solche auf den Zweiten Weltkrieg. Wenn sich nämlich Harbord durch die Bilder vom zerstörten Paris an Photographien von im Zweiten Weltkrieg bombardierten Städten, darunter auch von Hiroshima und Nagasaki, erinnert fühlt,25 so wird dieser Eindruck durch die tatsächliche Herkunft der Aufnahmen sowohl über- als auch unterboten. Denn einerseits handelt es sich wirklich um Bilder von den urbanen Trümmerlandschaften dieses Krieges.26 Andererseits beschränkt sich der Film dabei auf die mit konventionellen Waffen attackierten Städte Europas (unter denen sich Paris selbst natürlich nicht befindet, da es seinerzeit weitgehend verschont blieb),27 während die beiden

durch den politischen Kontext lässt sich auch an zwei späteren Aktualisierungen von La Jetée beobachten, nämlich an dem bereits erwähnten Film Twelve Monkeys und an James Camerons The Terminator (1984). Denn dass in dem von 1984 stammenden Film Camerons der Atomkrieg durch die sich zur Weltherrschaft anschickenden Maschinen ausgelöst wird, artikuliert offensichtlich Ängste, die durch Ronald Reagans damaliges SDIProgramm geweckt wurden. Und wenn in Twelve Monkeys aus dem Jahre 1995 der nukleare Krieg durch die Freisetzung tödlicher Laborviren ersetzt ist, so ist gegen Ferrer einzuwenden, dass dies nicht nur im damaligen Ende des Kalten Krieges begründet ist; vgl. Ferrer 2003, S. 54f., 58, 75. Ebenso wenig reduziert sich die Neuerung von Gilliams Film darauf, das kollektive Phänomen der Ost-West-Konfrontation durch einen allein agierenden mad scientist ersetzt zu haben; vgl. Ferrer 2003, S. 53, 58, 73. Vielmehr verbirgt sich hinter den vagen wissenschaftlichen Entdeckungen und technischen Entwicklungen, durch die Ferrer die Entstehungszeitpunkte von La Jetée und Twelve Monkeys voneinander getrennt sieht, die Ablösung der Physik als naturwissenschaftlicher Leitdisziplin durch jene Biowissenschaften, welche die heutige Lage bestimmen. Vgl. Ferrer 2003, S. 75. 25 Vgl. Harbord 2009, S. 7, 12. 26 Vgl. Puiseux 1987, S. 66; Wetzel 1998, S. 28. 27 Vgl. Ferrer 2003, S. 57.

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Abb. 2: Paul Genaud, L’Arme atomique, 1950. Karte von den Wirkungsradien eines hypothetischen Atombombenabwurfs auf Paris.

japanischen Städte, die durch amerikanische Atombomben vernichtet wurden, ausgeklammert bleiben. Dass Markers Film damit keine der zum Zeitpunkt seiner Entstehung bereits öffentlich verfügbaren Photographien von Hiroshima und Nagasaki verwendet, überrascht zunächst, da diese Bilder dem darzustellenden Atomkrieg sicherlich wesentlich näher gekommen wären. Eine mögliche Erklärung könnte aber darin liegen, dass die beiden ostasiatischen Städte nicht nur einer europäischen Metropole wie Paris zu unähnlich gewesen wären, sondern auch aufgrund ihrer fast vollständigen Einebnung zu wenig unserer allgemeinen Idee des Krieges entsprochen hätten, die wohl solange von konventionellen militärischen Konflikten geprägt bleiben

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wird, wie ein nuklearer Krieg nicht real stattgefunden hat. Immerhin handelt es sich bei den gezeigten Metropolen vor allem um deutsche Städte und damit um Orte, die im Zweiten Weltkrieg ebenfalls auf der anderen Seite der Front lagen. Folglich greift Marker bei der Darstellung des durch Atombomben ausgelöschten Paris trotz des Verharrens in Europa auf Material zurück, das neben der historischen auch eine geographische Differenz aufweist. Auf die Zeit des Zweiten Weltkrieges verweist auch das Kriegsgefangenenlager unter dem zerstörten Paris. Denn abgesehen davon, dass dieselben Keller damals von französischen Widerstandskämpfern genutzt wurden,28 knüpft der dort herrschende Terror insofern an den der Nationalsozialisten an, als die Experimentatoren Deutsch sprechen und ihre Zeitreise-Experimente an jene Menschenversuche erinnern, die mit einer ähnlichen Gefühlskälte in den Konzentrationslagern durchgeführt wurden.29 Dass es sich damit bei den Siegern des Atomkrieges um deutsche Wissenschaftler handelt, spielt zum einen darauf an, dass das amerikanische Manhattan Project, das der Menschheit die Atombombe bescherte, ursprünglich durch die Furcht vor einem nationalsozialistischen Kernwaffenprogramm motiviert wurde (das tatsächlich existierte, aber keine nennenswerten Ergebnisse produzierte). Zum anderen wird die atomare Vernichtung auf diese Weise in eine Beziehung zum Holocaust gesetzt. In der Tat muss – ohne dass hierdurch der singuläre historische Status der nazistischen Vernichtung der europäischen Juden und anderer Minoritäten relativiert werden soll – darauf hingewiesen werden, dass auch ein Atomkrieg, der Massenvernichtungswaffen gegen die Zivilbevölkerung der Städte zum Einsatz brächte, genozidale Züge hätte.

28 Vgl. Cooper 2008, S. 50. 29 Vgl. Puiseux 1987, S. 67; Ferrer 2003, S. 57; Lupton 2005, S. 88; Harbord 2009, S. 7, 12. Zwei Jahre vor der Produktion von La Jetée hatte Marker als Regieassistent an Alain Resnais’ Dokumentarfilm Nuit et brouillard (1955) mitgewirkt, der von den Konzentrationslagern unmittelbar handelt.

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Daneben verbinden sich mit dem unterirdischen Lager von La Jetée noch zwei andere, weiter ausgreifende Referenzen: Zum einen legt die assoziative Verknüpfung der Atomkriegsthematik mit den amerikanischen Nuklearattacken auf Japan den Gedanken an jene medizinischen Versuche nahe, die in den 1930er und 40er Jahren vom faschistischen Japan im okkupierten China durchgeführt wurden und die deutschen Experimente in ihren Ausmaßen noch einmal weit überboten. Und zum anderen hat sich Harbord durch den Kellergang mit den seitlichen Einbauten, in den Markers Film wiederholt zurückkehrt, auch an einen Schützengraben des Ersten Weltkrieges erinnert gefühlt.30 Die zeitliche Umkreisung des Atomkrieges, die auch im zirkulären Erzählverlauf von La Jetée widerhallt,31 wird insofern um eine thematische Einkreisung ergänzt, als die pränukleare Welt des Filmes keineswegs nur das Andere der postnuklearen Wüste, sondern zugleich deren Spiegelbild darstellt. Zwar versucht die Hauptfigur nicht nur deshalb in die Zeit vor dem Krieg zu entkommen, weil diese ihm ein persönliches – infantiles und amouröses – Glück verspricht, das ihm die Zukunft nicht bieten kann, sondern auch deshalb, weil es sich um eine mit idyllischen Naturbildern illustrierte Friedenszeit handelt. Doch letztlich führen den Protagonisten auch seine Reisen in die Vergangenheit immer wieder zum Tod: So wie er selbst bei den Experimenten eine liegende Haltung einnimmt, trifft er auch die Frau wiederholt schlafend an. Dass bereits diese körperlichen Zustände auf den Tod verweisen, wird deutlich, wenn dem Protagonisten beim Anblick der in der Sonne ruhenden Frau der Gedanke kommt, dass sie wie die meisten Menschen, denen er in der Vergangenheit begegnet, eigentlich bereits tot sein dürfte. Bei ihren gemeinsamen Spaziergängen durch Paris wiederum suchen der Mann und die Frau, wie oben angedeutet, einen toten

30 Vgl. Harbord 2009, S. 31. 31 Der Film beginnt und endet mit der Erschießung des Helden. Vgl. Paech 1999, S. 69.

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Mammutbaum im Botanischen Garten32 und die Tierpräparate des Naturkundemuseums auf, wobei der dort ausgestellte Dinosaurier einst mit seiner gesamten Art einer Naturkatastrophe zum Opfer fiel, wie sich nun die Menschheit durch die selbst gemachte Katastrophe des Atomkrieges an den Rand der Auslöschung gebracht hat (Abb. 3). Darüber hinaus tauchen in den Erinnerungen des Mannes neben friedlichen Bildern auch solche auf, welche erneut Ruinen und fragmentierte Skulpturen enthalten, die sich folglich durch den gesamten Film ziehen (Abb. 4).33 Verkörpern aber bereits intakte Statuen wegen ihrer Statik „a life in death“,34 so erinnern die beschädigten Skulpturen von La Jetée sogar an verstümmelte Leichen. 35 Auch ein vom Protagonisten erinnerter Friedhof verweist nicht nur aufgrund seiner ruhigen Ausstrahlung auf jene kulturelle Einbindung des Todes, die in der Friedenszeit gepflegt wurde, sondern stellt zugleich wie die beschädigten Plastiken und Bauwerke ein „sign[s] of desolation“ dar.36 Und schließlich findet der Protagonist auf seiner letzten Reise in die Ver-

32 Diese Stelle des Filmes zitiert wie viele andere Einzelheiten von La Jetée Alfred Hitchcocks vier Jahre zuvor entstandenen Film Vertigo (1958), in dem ebenfalls ein Mann von der Erinnerung an eine tote Frau heimgesucht wird. Vgl. Lupton 2005, S. 95; Alter 2006, S. 95; Cooper 2008, S. 51; Harbord 2009, S. 103. 33 Vgl. Harbord 2009, S. 16, 93. 34 Ebd. 2009, S. 93. An einer anderen Stelle führt Harbord aus: „Statues remind us of the sanctity of the body but also realise its petrification, the vulnerability of the body to suffering and the ravages of time, forces that come to waste us all. Bodies can only be out of time when they are cast in stone, or they are embalmed.“ Ebd. 2009, S. 80. 35 Bereits der Film Les Statues meurent aussi (1953), den Marker wie Nuit et brouillard gemeinsam mit Resnais realisierte, hatte das Schicksal afrikanischer Plastiken thematisiert, die durch ihre Verbringung in französische Museen ihrem lebendigen Funktionszusammenhang entrissen werden und hierdurch ‚sterben‘. Vgl. ebd. 2009, S. 86. 36 Ebd. 2009, S. 93.

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gangenheit, wie gesagt, den eigenen Tod. Das Zusammenspiel zwischen der Unmöglichkeit einer direkten Repräsentation des Atomkrieges und dessen permanenter indirekter Darstellung weist diesem Krieg aber jenen traumatischen Status zu, den er zweifellos besäße. Macht bereits der Umstand, dass der Tod in La Jetée mit Pflanze, Tier und Mensch alle Formen des Lebens betrifft, auf die totale Destruktivität des nuklearen Krieges aufmerksam, so steht für den kollektiven menschlichen Tod, den er bedeutet, vor allem der individuelle Tod des Protagonisten ein.37 Denn mit diesem ist jener Tod bereits dadurch verknüpft, dass der Mann hier noch immer jene Uniform trägt, in der man ihn offenbar am Ende des Atomkrieges gefangen genommen hat, und dass der Schuss auf ihn durch einen der Wissenschaftler abgegeben wird, die schon diesen Krieg führten. Obwohl in dieser Szene zunächst die Sonne scheint, hat sich überdies an ihrem Ende der Himmel in ähnlicher Weise verdunkelt wie über dem durch den Nuklearangriff in Schutt und Asche gelegten Paris. Auch teilt die Erschießung insofern den traumatischen Charakter des Atomkrieges, als die Erinnerung des Protagonisten zwanghaft zu ihr zurückkehrt und die Bedeutung dieses Ereignisses, zu dessen Zeuge der Mann schon als Kind wurde, sich ihm erst nachträglich, aus der Perspektive des Erwachsenen, erschließt. Schließlich werden diese filmimmanenten Zusammenhänge um eine externe Anspielung ergänzt, weil Marker die Ermordung der Hauptfigur in einer Weise in Szene setzt, die nicht nur die Kreuzigung, sondern auch einen der berühmtesten Tode eines anderen früheren Krieges zitiert, nämlich den Tod jenes Soldaten des Spanischen Bürgerkriegs, dem Robert Capa durch die Photographie Tod eines Milizionärs (1936) Unsterblichkeit verliehen hat (Abb. 5 und 6).38

37 Vgl. Wetzel 1998, S. 28. 38 Vgl. Blümlinger 1997, S. 68f.; Dubois 2002, S. 32; Cooper 2008, S. 51.

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Abb. 3: La Jetée. Tierpräparate im Naturkundemuseum.

Abb. 4: La Jetée. Zerbrochene Statue.

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Abb. 5: La Jetée. Erschießung des Protagonisten.

Abb. 6: Robert Capa, Tod eines Milizionärs, 1936.

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Michael Wetzel hat den Tod der Hauptfigur einer ödipalen Deutung unterzogen, der zufolge es sich bei dem Getöteten eigentlich um den Vater des Mannes handle, mit dem dieser sich lediglich projektiv identifiziere.39 Doch auch wenn die in La Jetée erzählte Geschichte einige ödipale Elemente enthalten mag,40 beginnt und endet sie tatsächlich mit dem Tod des Helden: Es handelt sich nicht um einen ödipalen Vatermord, sondern um das Phantasma des eigenen Todes. Und da der Sterbende diesen von außen beobachtet, invertiert dieses Phantasma die Urszene, jene Urphantasie, in der das Subjekt seiner eigenen Zeugung beiwohnt.41 Zwar stimmt die Todesphantasie von Markers Film darin mit dem Zeugungsphantasma überein, dass auch sie sich aufgrund des Zeitreise-Motivs auf die Vergangenheit bezieht und die Anwesenheit der Eltern einschließt, welche hier die kindliche Version der Hauptfigur zu dem Ort des Geschehens, dem Flughafen, begleitet haben. Darüber hinaus zeichnen sich beide Phantasien generell durch eine doppelte Paradoxie aus: Erstens soll das Subjekt in beiden Fällen Sinnesreize empfangen können, obwohl es noch nicht oder nicht mehr existiert.42 Und zweitens ist es dabei in zwei Versionen gespalten, von denen die eine die andere von außen betrachtet. Doch im Unterschied zur Urszene erkennt die Todesphantasie von La Jetée die zweite Widersinnigkeit durch den Versuch ihrer Aufhebung an, lässt sich die hiesige Ermordung des erwachsenen Subjektes doch auch damit begründen, dass dieses nicht zur gleichen Zeit wie das kindliche Subjekt bestehen

39 Vgl. Wetzel 1998, S. 35. 40 So erinnert die oben erwähnte funktionale Blendung der Hauptfigur durch die bei den Zeitreisen gebrauchte Gesichtsmaske an die substantielle Blendung des schuldig gewordenen Ödipus. Und da die Frau, die von der erwachsenen Version des Protagonisten aufgesucht wird, schon dessen kindliche Version faszinierte, sind in ihr Geliebte und Mutter verdichtet. Vgl. Paech 1999, S. 67. 41 Vgl. Laplanche/Pontalis 1968, S. 11. 42 Im Fall der Urszene ist diese Paradoxie bereits von Slavoj Žižek betont worden. Vgl. Žižek 1992, S. 16.

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kann.43 Wichtiger noch ist freilich, dass die von Markers Film inszenierte Ursprungsphantasie nicht mehr die Existenz des Subjektes, sondern dessen Inexistenz zu erklären versucht, dass sich die Phantasietätigkeit angesichts der atomaren Bedrohung also nicht mehr auf den Anfang, sondern auf das Ende des Lebens richtet. Diese Verkehrung wird besonders deutlich, wenn man La Jetée noch einmal mit James Camerons The Terminator (1984) vergleicht. Zwar handelt auch dieser Film davon, dass ein Mann aus einer durch einen Atomkrieg zerstörten Welt in die pränukleare Vergangenheit zurückkehrt, um dort eine Liebesbeziehung mit einer Frau einzugehen, vor deren Augen er schließlich getötet wird.44 Doch bleibt Camerons Film dabei viel stärker der ursprünglichen Struktur der Urszene verhaftet. Denn hier geht der Tötung des in die Vergangenheit entsandten Kyle voraus, dass dieser eben jenen John zeugt, der ihn zuvor auf die Zeitreise geschickt und damit seine Zeugung selbst veranlasst hat.45 Verglichen hiermit ist Markers Film, in dem jeder kompensatorische, das Leben weitergebende Zeugungsakt fehlt, weitaus pessimistischer.46 Mit seiner nur indirekten Darstellung des Atomkrieges steht La Jetée in einer inhaltlichen Komplementärbeziehung zu Bruce Conners Film Crossroads (1976), den Eva Kernbauer für diesen Band analysiert hat. Während nämlich Markers Film jegliche Atomexplosionen ausspart, zeigt Crossroads in einer endlosen Folge von Variationen nichts anderes als die zweite der beiden Detonationen der gleichnamigen amerikanischen Atomtestserie von 1946. Zugleich aber stehen sich die

43 Vgl. Penley 1986, S. 80f. Übrigens stellt diese Spaltung des Subjektes eine weitere Verbindung zwischen dem Tod des Helden und dem Atomkrieg her. Denn auch dieser wird zwar auf das Intensivste von außen imaginiert, ist aber aufgrund seines bisherigen Ausbleibens noch nie von Innen erlebt worden. 44 Vgl. Penley 1986, S. 80; Puiseux 1987, S. 70. 45 Mit dieser Verursachung der eigenen Zeugung wird zugleich die Paradoxalität der Urszene gesteigert. Vgl. hierzu auch Žižek 1993, S. 133. 46 Vgl. Penley 1986, S. 73; Puiseux 1987, S. 70.

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beiden Filme aufgrund ihrer experimentellen Form nahe. Denn wenn bereits Conners Werk durch mehr oder weniger starke Zeitlupen alle Bewegungen verlangsamt, werden diese in La Jetée vollständig angehalten, da dieser Film nahezu ausschließlich aus Stehkadern besteht. Diese Technik, die Marker auch in seinen späteren Filmen Si j’avais quatre dromadaires (1966), Photo Browse (1999) und Le Souvenir d’un avenir (2001) angewendet hat, gleicht aber das Medium des Filmes an dasjenige der Photographie an. Dabei machen die zuletzt genannten Filme insofern noch einen relativ konventionellen Eindruck, als sie als Essayfilme einer Gattung entstammen, für die es nicht unüblich ist, historische Photographien zu zeigen, die aus dem Off erläutert werden. Ziemlich ungebräuchlich ist eine solche Vorgehensweise jedoch im Spielfilm, jener Gattung, der als einziger von Markers Filmen La Jetée angehört. Diese Narrativität bezieht die mimetische Anschmiegung des Filmes an die Photographie auf das Genre des PhotoRomans, dem er sich in seinen Vorspanntiteln sogar unmittelbar zuordnet. Umgekehrt hat Marker, der zwar vor allem als Filmemacher bekannt geworden ist, sich aber auch immer wieder anderer Medien bedient,47 photographische Arbeiten geschaffen, die – etwa durch die Darstellung zeitlicher Abfolgen48 – formale Anleihen beim Film suchen. Und auch diese intermediale Anlehnung wurde von Marker hervorgehoben, der etwa die Photoserie Clair de Chine, die 1956 als Beilage der Zeitschrift Esprit erschien, als ‚film‘ und den 1959 veröffentlichten Photobildband Coréennes als ‚ciné-essai‘ und ‚court-métrage‘ ausgewiesen hat.49 Auch zu La Jetée hat Marker zwei gleichnamige, mit Texten versehene Photoserien publiziert: Die erste erschien bereits zeitgleich mit dem Film in der Zeitschrift Avant-Scène Cinéma, die

47 Vgl. Gauthier 2003. 48 Vgl. Dubois 2002, S. 31. 49 Vgl. Braun 1997, S. 98; Alter 2006, S. 9.

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zweite rund 30 Jahre später in einem Buch, das den Untertitel ‚cinéroman‘ trug.50 Andererseits sind die freeze frames von La Jetée nicht einfach mit Photographien gleichzusetzen, sondern bleiben von diesen aus mehreren Gründen unterschieden: Zunächst sind sie von eng begrenzter Dauer, die zudem von Einstellung zu Einstellung „nach filmischen Gesichtspunkten“ variiert51 und bereits eine – wenn auch unsichtbare – Bewegung voraussetzt, die den Filmstreifen durch Kamera und Projektor führt.52 Hinzu kommen die sichtbaren Bewegungen der Montage, die meist nicht in harten Schnitten, sondern in sanften Abblenden, Aufblenden und Überblendungen bestehen53 und teilweise sogar filmtypische Räume konstruieren. Denn während die Erinnerungen des Protagonisten meist durch typisch photographisch komponierte Bilder repräsentiert werden, kommt bei den in der Gegenwart vollzogenen Handlungen vornehmlich das Schuss-Gegenschuss-Verfahren zum Einsatz.54 Diese Bewegungen zwischen den Einstellungen werden ihrerseits durch solche innerhalb derselben ergänzt, zu denen neben den Zooms und Schwenks der Kamera auch eine – obgleich nur affektivmikrologische – Bewegung eines vorfilmischen Objektes gehört: Eine Sequenz von immer schneller überblendeten Großaufnahmen der schlafenden Frau kulminiert in einer Einstellung, in der diese ihre Augen aufschlägt.55 Schließlich tritt zu den Bildern des Filmes eine Tonspur hinzu, die mit Stimmen, Musik und Geräuschen sämtliche akustischen Quellen enthält, die gemeinhin im Tonfilm unterschieden werden. Die intermediale Form von Markers Film kann gleich mehrfach auf dessen Inhalte zurückbezogen werden. So entspricht die Statik der

50 Vgl. Marker 1964; Marker 1996. 51 Horak 1997, S. 79. 52 Vgl. Paech 1999, S. 64. 53 Vgl. Horak 1997, S. 79; Paech 1999, S. 64f. 54 Vgl. Horak 1997, S. 79; Lupton 2005, S. 91; Harbord 2009, S. 26ff. 55 Vgl. Kawin 1982, S. 18f.; Paech 1999, S. 68.

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Stehkader zunächst der räumlichen Immobilität, die der hiesige Atomkrieg den Überlebenden auferlegt hat.56 Gleichzeitig wird der temporalen Mobilität, welche die spatiale Fixierung in La Jetée kompensiert, durch die beweglichen Elemente dieses Filmes Rechnung getragen. Denn wenn es zutrifft, dass Filme, wie sowohl Roland Barthes als auch Christian Metz behauptet haben, aufgrund ihrer Beweglichkeit einen Eindruck von Gegenwart, Photographien dagegen wegen ihrer Unbeweglichkeit einen Eindruck von Vergangenheit erzeugen, 57 so schaffen die Stehkader von La Jetée, die neben ihrer photographischen Immobilität auch Aspekte filmischer Mobilität aufweisen, zugleich einen adäquaten Ausdruck für jene Zeitreisen, welche die Hauptfigur von der Gegenwart in die Vergangenheit unternimmt.58 Metz und mit ihm viele andere haben die Opposition zwischen der Dynamik des Filmes und der Statik der Photographie überdies noch mit einem weiteren Gegensatz analogisiert, nämlich mit demjenigen zwischen Leben und Tod.59 Diese Analogie wird in der durch La Jetée zitierten Photographie vom tödlich getroffenen Milizionär insofern durch eine zeitliche Koinzidenz zum Ausdruck gebracht, als Capas Bild genau in jenem Moment aufgenommen wurde, in dem der abgebildete Soldat durch die feindliche Kugel getroffen wurde. Auch diese Semantik des statischen Bildes lässt sich auf die Stehkader von Markers Film applizieren. Denn dessen Protagonist vermittelt nicht nur durch seine Zeitreise die Gegenwart mit der Vergangenheit, sondern wird zugleich in jener Szene, in der er seine eigene Ermordung von außen beobachtet, auf der Grenze zwischen Leben und Tod angesiedelt. Vor allem aber steht die Immobilität der freeze frames nicht nur im Einklang mit der Bewegungslosigkeit jener toten Objekte, denen

56 Im Gegensatz hierzu verweist die Verwendung beweglicher Einstellungen in Twelve Monkeys auf die räumliche Ausbreitung und evolutionäre Dynamik des dortigen Virus. Vgl. Ferrer 2003, S. 60f. 57 Vgl. Barthes 1990, S. 39f.; Metz 1972, S. 27; Metz 1989, S. 6f. 58 Vgl. Paech 1999, S. 65; Dubois 2002, S. 17. 59 Vgl. Metz 1989, S. 6f.

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der Held auf seiner Reise in die Vergangenheit begegnet.60 Sie friert vielmehr auch die Bewegungen aller anderen Objekte ein und weitet damit die Omnipräsenz des Todes noch weiter aus: So wie der Atomkrieg beinahe alles Leben ausgelöscht und die Überlebenden ihrer räumlichen Bewegungsfreiheit beraubt hat, hat der Tod in La Jetée nicht nur sämtliche Formen des Lebens, sondern auch sämtliche Bilder des Filmes selbst ergriffen. Dabei erscheinen insbesondere die in den Stehkadern erstarrten Menschen als genauso tot wie die Statuen und die präparierten Tiere.61 Und wenn der Protagonist beim ersten Anblick der schlafenden Frau an deren Tod denken muss, gleicht das spätere Öffnen ihrer Augen auch deshalb dem „coming to life“ einer Toten,62 weil es sich um die einzige Objektbewegung von Markers Film handelt.63

60 Vgl. Horak 1997, S. 82; Paech 1999, S. 68. Diese Entsprechung von Form und Inhalt kommt auch zum Ausdruck, wenn Kawin bei der Beschreibung der „overwhelming imagery of stasis“, die La Jetée kennzeichnet, unterschiedslos „statues“, „stuffed animals“ und „stills“ nebeneinander stellt. Kawin 1982, S. 17. Dabei wirken insbesondere die ausgestopften Tiere so, als seien sie eigens dafür hergerichtet worden, dass man sie photographiert. Vgl. Harbord 2009, S. 80. 61 Vgl. Cooper 2008, S. 53f. 62 Hilliker 2000, S. 9. 63 Dagegen wird der Tod der Hauptfigur, dem ähnlich wie dem Aufschlagen der Augen eine schnelle Schnittfolge vorausgeht, dadurch unterstrichen, dass eine Mobilisierung des Objektes innerhalb der Einstellung ausbleibt: So wie der Fluchtversuch der Figur scheitert hier offenbar auch das erneute Unterfangen, die Stehkader des Filmes durch eine Beschleunigung der Montage in ein bewegtes Bild zu überführen; vgl. Hilliker 2000, S. 9, 11. Dabei sind die beiden Passagen des Filmes durch das Motiv des Vogels miteinander verbunden. Ist nämlich beim Öffnen der Augen auf der Tonspur Vogelgezwitscher zu hören, das die Mobilisierung des Bildes durch eine Anspielung auf den Flug als eine besonders emphatische Form der Bewegung akzentuiert, so erinnert der über die Besucherterrasse des Flug-

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Allerdings beziehen sich die anderen in La Jetée versammelten Bewegungstypen keineswegs nur auf lebendige, sondern auch auf leblose Objekte – so etwa, wenn die Stehkaderästhetik des Filmes nicht auf Anhieb zu erkennen ist, weil die erste Einstellung in einem Schwenk der Kamera über die in einer Totalen erfasste Besucherterrasse des Flughafens Orly besteht,64 oder wenn später die fragmentierten Statuen in einer schnellen Schnittfolge aneinander gereiht werden.65 An diesen Stellen verkehrt Markers Film die Immobilisierung des Lebendigen in eine Mobilisierung des Leblosen; und diese Vertauschung trägt dem Umstand Rechnung, dass die Atombombe gerade dadurch, dass sie alles Leben auf diesem Planeten auszulöschen vermag, eine Wirkmächtigkeit erlangt, welche ihr eine eigene Lebendigkeit verleiht. Auch die hieraus resultierende Unheimlichkeit wird durch die freeze frames unterstützt, generieren sie doch Leerstellen, die sich dem Zugriff des Zuschauers entziehen und damit eine Atmosphäre der Unbehaglichkeit verbreiten, die La Jetée wie kaum ein zweiter Film ausstrahlt.66 Und zugleich entsprechen diese narrativen Lücken, um abschließend noch einmal auf den Ausgangspunkt meiner Argumentation zurückzukommen, jener epistemischen Leerstelle, in der hier der Atomkrieg selbst verortet wird. Denn durch die Weigerung, diesen Krieg unmittelbar darzustellen, legt La Jetée offen, dass er als zwar mögliches, aber bislang nicht verwirklichtes Ereignis allenfalls zum Gegenstand eines spekulativen Wissens werden kann. Und wenn damit jede narrative Thematisierung des nuklearen Krieges ein hypothetisches Ausgreifen in die Zukunft erforderlich macht, so wird dieser

hafens laufende und nach dem Schuss mit ausgebreiteten Armen zu Boden stürzende Protagonist schließlich auch an einen zunächst zum Abheben ansetzenden, dann aber vorzeitig abstürzenden Vogel, dem nach seinem Tod das gleiche Schicksal wie den ausgestopften Vögeln des Naturkundemuseums droht. Vgl. Lupton 2005, S. 93. 64 Vgl. Dubois 2002, S. 13f. 65 Vgl. Paech 1999, S. 68. 66 Vgl. Bensmaïa 1990, S. 142f.

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Zeitsprung in Markers Film, so ließen sich meine obigen Ausführungen resümieren, durch eine ganze Kaskade weiterer zeitlicher Verschiebungen akzentuiert: Durch die Imagination einer postnuklearen Welt in eine Zukunft führend, die noch jenseits des Atomkrieges selbst liegt, begibt sich der Film in einer gegenläufigen Bewegung in die biographische wie historische Vergangenheit, um schließlich in einer neuerlichen Richtungsumkehr die Ursprungsphantasie der Geburt durch eine solche des Todes zu ersetzen. Das Wissen, das auf diesem verschlungenen Pfad produziert wird, ist aber eines der Analogiebildung – und zwar einer Analogiebildung, die entweder einen Bezug zu früheren geschichtlichen Ereignissen herstellt oder aber die Leerstelle des Atomkrieges schlicht durch eine andere Leerstelle, diejenige des individuellen Todes, ersetzt.

L ITERATUR Nora M. Alter, Chris Marker, Chicago u.a. 2006. Lawrence Badash, Scientists and the Development of Nuclear Weapons. From Fission to the Limited Test Ban Treaty, 1939-1963, Atlantic Highlands 1995. Roland Barthes, „Rhetorik des Bildes“, in: ders., Der entgegenkommende und der stumpfe Sinn. Kritische Essays III, Frankfurt/M. 1999, S. 28-46. Réda Bensmaïa, „From the Photogram to the Pictogramm. On Chris Marker’s La Jetée“, in: Camera Obscura 24, 1990, S. 138-161. Christa Blümlinger, „‚La Jetée‘. Nachhall eines Symptom-Films“, in: Birgit Kämper und Thomas Tode (Hgg.), Chris Marker. Filmessayist, München 1997, S. 64-72. Thomas Brandstetter, „Der Staub und das Leben. Szenarien des nuklearen Winters“, in: Lorenz Engell, Bernhard Siegert und Joseph Vogl (Hgg.), Wolken (=Archiv für Mediengeschichte, Bd. 5), Weimar 2005, S. 149-156.

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ABBILDUNGEN Abb. 1, 3-5: Harbord 2009, S. 52, 66, 94 und 78. Abb. 2: Genaud 1950, S. 184. Abb. 6: Manchester 1989, S. 89.

Krieg spielen Bruce Conners Crossroads (1976) E VA K ERNBAUER

Die Beschwörung der Gefahr eines nuklearen Vernichtungskriegs war eine allgegenwärtige Dystopie des Kalten Krieges, die paranoider Enge und politischer Weitsicht, Science Fiction und wissenschaftlicher Forschung gemeinsam war. Dementsprechend intensiv war die Auseinandersetzung mit der nuklearen Bedrohung in Spiel- und Dokumentarfilmen. Doch im Unterschied zu den zahlreichen Beispielen solcher Endzeitszenarien, von denen einige in diesem Band besprochen werden, handelt Bruce Conners 1975 entstandener Kurzfilm Crossroads nicht von der bedrohlichen Zukunft eines Atomkriegs oder einer nuklearen Apokalypse. Crossroads stellt keinen Ausblick dar, sondern einen Rückblick – einen Rückblick allerdings, der weniger dem Atomzeitalter selbst als der Atombombe als Kultur- und Medienphänomen und ihrer phantasmatischen Wirkung auf die Bild- und Filmproduktion der Nachkriegszeit gewidmet ist. Wenn eine Analyse von Conners Kurzfilm dennoch innerhalb eines Bands publiziert wird, der den Atomkriegsfilm behandelt, dann deshalb, weil die Ästhetik des Kriegsfilms, wie die folgenden Ausführungen zeigen, für ihn zentral ist, und zwar nicht nur durch eine künstlerische Anlehnung an populärkulturell verbreitete Inszenierungsformen militärischer Gewalt, sondern durch die Offenlegung der Codierung seines zwar populärkulturell verbreite-

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ten, aber dennoch wissenschaftlich-dokumentarischen Ausgangsmaterials als Kriegsfilm. Der Titel Crossroads (zu Deutsch „Kreuzung“ oder „Scheideweg“) verweist auf ein politisches und mediales Schlüsselereignis der USamerikanischen Nachkriegszeit. Im Film selbst wird das Jahr 1975 als Produktionsdatum angegeben, doch wurde er zur Zweihundertjahrfeier der Vereinigten Staaten im Juli 1976 fertiggestellt, an der sich auch die Kernwaffentestserie Operation Crossroads im Bikini-Atoll zum dreißigsten Mal jährte. Crossroads beginnt mit dem Motiv zweier sich kreuzförmig schneidender Linien, die das Bildfeld vierteln – ähnlich einem Fadenkreuz, das auf filmische und militärische Operationen gleichermaßen zu beziehen ist. Der Hinweis auf Operation Crossroads folgt nach einer Einblendung der Filmdaten und einer Wiederholung des Kreuzmotivs: „Bikini Atoll, July 25, 1946.“ Die erste Aufnahme zeigt eine Meereslandschaft, an deren Horizont mehrere Schiffe zu sehen sind. Zugleich mit dem Bild setzt der Ton ein, eine Geräuschkulisse aus kreischenden Vögeln und dröhnenden Flugzeugmotoren, über die nach kurzer Zeit ein Countdown gelegt ist, der die letzten 20 Sekunden vor der Zündung einer Bombe zurückzählt. Der Countdown verstummt, und sogleich schießen riesige Wassermassen als Folge der Explosion in die Höhe. Während die Druckwellen, der Dampf und der Atompilz rasch das gesamte Bildfeld einnehmen, erreichen die Explosionsgeräusche erst nach knapp einer halben Minute die Tonspur und überdröhnen alle anderen Geräusche (Abb. 1). Es folgen verschiedene Einstellungen derselben Zündung aus unterschiedlichen Positionen, die mehr von der umgebenden Landschaft sichtbar werden lassen, doch im Zentrum bleibt das visuelle und akustische Spektakel der Detonation einer Atombombe unter Wasser. Nach 13 Minuten (etwa einem Drittel des Films) wird die erste Bildserie mit einer weiteren Einblendung des Kreuzmotivs abgeschlossen. Der zweite und längere Teil des Films zeigt Aufnahmen derselben Zündung aus anderen Blickwinkeln, die zum Ende hin in der Zeitlupe verlangsamt werden, begleitet von einer Komposition Terry Rileys.

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Die Aufnahmen wurden als Filmdokumentation einer Kernwaffentestserie des US-amerikanischen Militärs im Bikini-Atoll veröffentlicht, der ersten Serie von mehr als tausend solcher Tests in den Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg. Operation Crossroads war eine der größten Operationen des US-Militärs in Friedenszeiten und wurde von einer Sondereinheit von Navy und Army gemeinsam durchgeführt, der Joint Task Force One. Die Serie hatte am 1. Juli 1946 mit dem Abwurf von „Able“ begonnen, auch bekannt als „Gilda“, derjenigen Bombe, die mit Bildern Rita Hayworths geschmückt gewesen sein soll, bevor sie über dem Meer detonierte. „Baker“ wurde drei Wochen später in 27 Metern Meerestiefe gezündet. Die beiden Bomben waren „Nummer 4 und 5 der Atombombenfamilie“ des US-Militärs, wie es in einem Bericht zu Operation Crossroads heißt.1 Bei den von Conner montierten Bildern handelte es sich um bekanntes, ja populäres Filmmaterial der Nachkriegszeit, da die Zündung von „Baker“ in Anwesenheit von mehr als 200 internationalen Reportern, Beobachtern und Wissenschaftlern erfolgt war. Mehr als 500 Fotografen und Kameraleute, Zeichner und Maler waren vom US-Militär mit der Dokumentation beauftragt.2 Zusätzlich wurden die Tests live im Radio übertragen.3 Etwa die Hälfte des Weltvorrats an fotografischem Film wurde zum Bikini-Atoll gebracht, wodurch kurzfristig eine Knappheit von Rohfilm am Weltmarkt entstand.4 Das entstandene Filmmaterial gehört zu den bekanntesten Aufnahmen einer Atombombenexplosion und wurde vielfach weiterverwendet, etwa in der Schlusssequenz von Stanley Kubricks Dr. Strangelove (1964).

1

Shurcliff 1947, S. 2.

2

Eine Auswahl von Arbeiten dreier Künstler aus der US Navy Art Collection zeigt die Website http://www.history.navy.mil/ac/bikini/bikini1.htm [Zugriff am 24.1.2012].

3

Vgl. Moritz/O’Neill 1978, S. 37.

4

Vgl. Weisgall 1994, S. 121.

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Abb. 1: Die Zündung von „Baker“ in Bruce Conners Crossroads.

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Operation Crossroads war ein aufwändig inszeniertes Medienereignis von weltweiter Reichweite, das sich aber dennoch, trotz des hohen Legitimationsaufwands, als zwiespältig für die Öffentlichkeitsarbeit des Militärs erwies. Zwar waren die meisten Beobachter der internationalen Presse von dem ihnen gebotenen Spektakel zuerst bis zur Kritikunfähigkeit gebannt, doch blieb die Versuchsserie umstritten, und ein geplanter dritter Unterwassertest wurde abgesagt. Als nach der Beendigung der Operation ein Foto des befehlsverantwortlichen Admirals William H.P. Blandy auftauchte, der zur Feier des gelungenen Unternehmens eine Torte in Form eines Atompilzes anschnitt, überwogen die empörten Reaktionen. Im Sommer 1947 veröffentlichte Life Magazine eine mehrseitige Fotoreportage über die Auswirkungen auf die Lagune und die Versuchstiere, unterlegt mit entsprechendem Bildmaterial. Ein weiteres Jahr später erschien ein in Form eines Logbuchs verfasster Bericht eines Mitarbeiters des radiologischen Überwachungsteams, David Bradley, das unter dem Titel No Place To Hide (dt. Atombombenversuche im Pazifik, 1951) im Stil eines Kriegsromans publiziert worden war und sich rasch zu einem internationalen Bestseller entwickelte (Abb. 2). Bradley stellte weniger die unmittelbaren Effekte der Detonation wie Druck- und Hitzewellen ins Zentrum als die Wirkung der Strahlenbelastung und machte seine Leserschaft so mit dem Problem radioaktiven Niederschlags vertraut, der als ‚Fallout‘ zu einem der wirkmächtigsten Angsttopoi der Nachkriegsjahre werden sollte.5 Die ökologischen Auswirkungen der Testzündungen auf das Bikini-Atoll wurden dennoch vorerst wenig beachtet. Wichtiger waren zunächst die hohen Kosten der Testserie, das Ausmaß der unmittelbar angerichteten Zerstörung, die Verwendung von Versuchstieren und der rücksichtslose Umgang des Militärs mit den Armeeangehörigen und der mehrfach evakuierten und zwangsumgesiedelten Bevölkerung des Bikini-Atolls.

5

Vgl. Winkler 1993, S. 84-108.

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Abb. 2: Cover einer Taschenbuchausgabe von David Bradleys No Place to Hide von 1949.

Die für die Öffentlichkeit umfassendste und am einfachsten zugängliche Informationsquelle zu Operation Crossroads war ein von der Joint Task Force One in Auftrag gegebener Bericht mit dem Titel Bombs at Bikini, der 1947 in Buchform publiziert wurde. Verfasst von dem Atomphysiker William H. Shurcliff, enthielt er auch kritisches Zahlenund Bildmaterial. Unter den Illustrationen war etwa die radiographische Aufnahme eines strahlenverseuchten Chirurgenfischs, entstanden wenige Wochen nach den Explosionen (Abb. 3). Dagegen war das anderswo von der Joint Task Force One publizierte Bildmaterial geradezu bestürzend manipulativ. Unter den zahlreichen filmischen und fotografischen Aufnahmen, die ihre Aktivitäten dokumentieren sollten, sind Bilder von Reinigungsarbeiten der beschädigten Kriegsschiffe durch

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Armeeangehörige kurz nach der zweiten Detonation (Abb. 4). Die verstrahlten Schiffe, so erklärt der im Auftrag der Joint Task Force One produzierte Film über Operation Crossroads, wurden von Sicherheitspatrouillen mit „Wasser und speziellen Chemikalien“ gewaschen, bevor sie für die Inspektion durch Wissenschaftler zugänglich gemacht wurden.6 Vom Planungsstadium der Testserie an hatten Wissenschaftler Skepsis an deren Sinnhaftigkeit geäußert und dahinter eine rein militärische Machtdemonstration der Navy vermutet.7 Dies mag durchaus richtig sein, erfasst aber die Wirkkraft des Medienereignisses Operation Crossroads nicht. Beim Lesen von Shurcliffs Bericht gewinnt man wiederholt den Eindruck, als wäre es bei der obsessiv dokumentierten Testserie am Bikini-Atoll eigentlich darum gegangen, der Weltöffentlichkeit die Detonation der beiden Atombomben vorzuführen und den ‚Experimenten‘ der ersten beiden Bombenabwürfe auf Hiroshima und Nagasaki im August 1946 noch weitere, diesmal unter genauerer wissenschaftlichen Beobachtung, folgen zu lassen. Shurcliff deutet dies selbst an, wenn er schreibt, dass die Angriffe auf Japan zu schnell und unter den Augen von zu wenigen Beobachtern verlaufen seien, um ausreichend Dokumentationsmaterial zu liefern.8 Aus US-amerikanischer Sicht waren diese verheerenden Angriffe zwar militärisch erfolgreich gewesen, ihr politisches und wissenschaftliches Potential war jedoch bei weitem nicht ausgeschöpft. Mit Operation Crossroads konnte die

6

„Despite the presence of radioactivity, safety patrols immediately enter the lagoon for a preliminary appraisal of the damage. In an effort to reduce dangerous contamination, ships were sprayed with water and special chemicals, so that inspection parties could board them.“ U.S. Navy, Commander Joint Task Force One, Operation Crossroads, http://www.archive.org/details/Operatio1946_2, 11’34’’ bis 11’ 50’’ [Zugriff am 24.1.2012].

7

Vgl. Weisgall 1994, S. 82-88.

8

Vgl. Shurcliff 1947, S. 6-7.

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mediale Inszenierung der Überlegenheit der Nuklearmacht USA unter größtmöglicher internationaler Aufmerksamkeit nachgeholt werden.

Abb. 3: Radiographische Aufnahme eines verstrahlten Chirurgenfisches aus W. A. Shurcliffs Bombs at Bikini (1947).

Abb. 4: Angehörige der Navy bei der Reinigung der Prinz Eugen.

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Innerhalb der Symbolpolitik des Kalten Krieges bestand die Wirkung der Testserie nicht nur in ihrer Durchführung, sondern auch in deren medialer Verbreitung. Operation Crossroads stand am Anfang einer Reihe von Medienereignissen, in deren weiterem Verlauf noch der Start von Sputnik 1, die erste bemannte Raumfahrt durch Juri Gagarin und die US-amerikanische Mondlandung folgten. Hauptsächlicher Adressat der weltweit reichenden Berichterstattung war jedoch weniger die Sowjetunion als die US-amerikanische Bevölkerung. Die umfassende mediale Inszenierung von Operation Crossroads war Teil einer Veröffentlichungspolitik, die die journalistische Berichterstattung durch eigene Informationsmaterialen steuern sollte.9 Bereits zum Manhattan Project hatte das US-Militär im September 1945 einen (binnen kürzester Zeit ausverkauften) Bericht erstellen lassen. Und ebenso wie dieser stellten Shurcliffs Publikation und der von der Joint Task Force One herausgegebene Film zu Operation Crossroads weniger militärische als wissenschaftliche und sicherheitspolitische Überlegungen in den Vordergrund. Die Testserie wurde in erster Linie als wissenschaftliches Experiment dargestellt, so dass die offizielle Berichterstattung ihre Aufgaben in der Popularisierung wissenschaftlichen Fortschritts und der Aufklärung für den Katastrophenfall sehen konnte. Die Aufzeichnungen der Kernwaffentestserien am Bikini-Atoll durch insgesamt mehr als 700 Kameras dienten nach dieser Logik der Dokumentation eines wissenschaftlichen Experiments: Sie sollten die Detonationen und ihre Wirkung auf 250 im Atoll zurückgelassenen Kriegsschiffe und das darauf stationierte militärische Gerät festhalten, ebenso wie auf die dort ausgesetzten Versuchstiere (204 Ziegen, 200 Schweine, 200 Mäuse, 5000 Ratten und 60 Meerschweine).10 Die Kameras waren notwendig, um die Tests überhaupt beobachtbar zu machen, so dass die verwendeten Teleobjektive und Hochgeschwindigkeitskameras ebenso

9

Zur Öffentlichkeit der US-amerikanischen Atombombentests: Nowak 2011, S. 289.

10 Vgl. Weisgall 1994, S. 120.

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wie die zu tausenden im Atoll angebrachten Strahlungsmessgeräte im eigentlichen Sinne zum wissenschaftlichen Apparat gezählt wurden. Das für Crossroads verwendete Filmmaterial befindet sich in den National Archives in Washington, und Bruce Conner hatte es bereits 17 Jahre zuvor in seinem Film A Movie (1958) verwendet. Darin waren die Aufnahmen der Atombombenzündung Teil einer kaleidoskopischen Anordnung des populären Bildvokabulars der Nachkriegszeit: Ausschnitte aus Wochenschauen, Westernszenen, Pin-ups, Tieraufnahmen, Autorennen, Verfolgungsjagden, Kriegsszenen und Unfälle, montiert kreuz und quer und durchsetzt von Einschüben der Credits, dem Filmtitel „A MOVIE“, sogleich gefolgt von „THE END“. A Movie feierte das Katastrophale als engen Verwandten des Slapsticks, und nicht umsonst gab Conner den Marx-Brothers-Film Duck Soup als Inspirationsquelle an. Diese frei assoziierende Montage aus vorgefundenen Aufnahmen war die erste filmische Arbeit des zu diesem Zeitpunkt durch Materialassemblagen und Collagen bekannten Künstlers, mit denen er drei Jahre später als einziger Vertreter der Kunstszene der Westküste an der Ausstellung The Art of Assemblage am New Yorker Museum of Modern Art beteiligt war. So wie A Movie ist auch Crossroads ein Non-Camera-Film, bestehend ausschließlich aus found footage.11 Wie Conner später sagte: „Only the splices belonged to me“.12 A Movie zeigte bunt vermischte Aufnahmen, die gemeinsam repräsentativ für die massenmediale Bilderwelt der 1950er Jahre stehen. Doch wenngleich die Montagetechnik suggeriert, dass diese nicht unbedingt isoliert Aufmerksamkeit beanspruchen, macht die Qualität der gewählten Bilder die Grenzen filmischer Abstraktion deutlich. Zwar nivelliert die willkürliche Reihung der Aufnahmen in A Movie deren Bedeutung, bis sie zu austauschbaren Bestandteilen eines tausendfach gezeigten Bilderreigens zu werden

11 Zur Ästhetik von Found-Footage-Filmen und ihrer Bedeutung für die filmische Avantgarde vgl. Blümlinger 2009. 12 Bruce Conner in einem Brief an Bruce Jenkins, 1. Dezember 1998, in: Halbreich 1999, S. 220.

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scheinen. Doch, wie Brian O’Doherty in einer frühen Kritik über A Movie schrieb, übertrifft „die Macht der […] dargestellten Realität die Selbstreflexion der filmischen Montage.“13 Nicht nur sind die einzelnen Bilder selbst spektakulär, sondern sie finden in ihrer stroboskopischen Anordnung eine neue Bestimmung. In den kurz aufflackernden Momentaufnahmen entsteht ein ABC massenmedialer Schaulust, das in der mehrfachen Wiederholung wie ein Experiment zur Gehirnwäsche immer einprägsamer wird. Es ergibt sich ein kaleidoskopischer, aber dennoch repräsentativer Eindruck von der Bilderwelt des frühen Kalten Krieges, der die Atombombe nicht nur in ihrer militärischen und politischen, sondern auch in ihrer phantasmatischen Wirkkraft, in ihrer über Jahrzehnte ungebrochenen Faszination auf die westliche Populärkultur zeigt.14 Die Instrumentalisierung dieser Bilder wurde von der Joint Task Force One selbst in Gang gesetzt: Gleichzeitig zur bekannten Serie des Life Magazine und noch vor Shurcliffs wissenschaftlichem Bericht erschien ein umfangreicher „Official Pictorial Record“ zu Operation Crossroads mit einer Auswahl aus dem entstandenen Bildmaterial.15 Bei Crossroads ist der kritisch-distanzierte Gestus filmischer Dekonstruktion noch offenkundiger als in Conners früheren Filmen einer Inszenierung untergeordnet, welche die visuelle Wirkmächtigkeit der gewählten Aufnahmen betont. Crossroads stellt keine dekonstruierende Analyse des erhaltenen Materials dar, sondern eine Steigerung der Inszenierung einer immensen, weltweit publizierten Machtdemonstration zu Beginn des Kalten Krieges, die die zugleich eindimensionalschauerliche wie ungemein wirksame Ästhetik militärischer Gewalt vorführt. Das Genre, das sich diesem Topos verschrieben hat, ist der Kriegsfilm, und tatsächlich ist Conners Experimentalfilm mit den be-

13 Brian O’Doherty, „Bruce Conner and His Films”, in: Gregory Battcock (Hg.), The New American Cinema, New York 1967, zit. nach Siegel 2009, S. 150. 14 Vgl. Titus 2004. 15 United States, Joint Task Force One (Hg.) 1946.

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kanntesten zeitgenössischen Beispielen eng verwandt. Am direktesten ist diese Beziehung bei dem verwendeten Soundtrack: Nicht nur die psychedelische Untermalung des zweiten Teils des Films durch die Musik von Terry Riley, sondern auch die Geräusche im ersten Drittel des Films wurden speziell für die Aufnahmen komponiert. Die vermeintlich vor Ort aufgenommenen Originaltöne – das Kreischen der Seevögel, das Surren der Motoren, die Explosionsgeräusche – sind künstliche Soundeffekte, hergestellt vom Synthesizer-Spezialisten Patrick Gleeson. Conner ging es offensichtlich um eine möglichst effektive Inszenierung der nuklearen Explosion, die der Konventionalisierungspolitik16 des offiziellen Materials entgegenlief und die martialische Ästhetik der Aufnahmen offenlegte. Gleeson war auch für größere Filmprojekte tätig, darunter Apocalypse Now (1979), ein Film, dessen Soundtrack grundlegend für die filmische Erzählung ist und der nur wenige Jahre nach Crossroads gedreht wurde. Eine bekannte Szene aus Coppolas Film zeigt den eindrücklichen Aufmarsch einer Hubschrauberstaffel unter den Klängen von Richard Wagners Walkürenritt, deren sublime Ästhetik mit Conners Film vergleichbar ist und Ambivalenzen in die vietnamkritische Haltung des Films bringt. Mit Apocalypse Now teilt Crossroads die visuelle wie akustische Inszenierung militärischer Gewalt, auch wenn Crossroads eher wie ein Schwanengesang als ein Kriegsmarsch wirkt. Die Anlehnung an zeitgenössische Kriegsfilme trägt dazu bei, das Potential des Apokalyptischen und der Massenvernichtung aus einem populär gewordenen und damit konventionalisierten Material herauszulösen und die Wahrnehmung der Detonationen und ihre Aufzeichnung als Kriegshandlung wahrnehmbar zu machen. Crossroads präsentiert die Detonation der Atombombe als Medienereignis, dessen Wirkung sich primär in der Aufzeichnung und permanenten Wiederholung erschließt. Wunderwaffe und existentielle Bedrohung zugleich, wird die Bombe vor den Augen der Betrachter anhand aneinandergereihter Verlangsamungen und Wiederholungen zu

16 Vgl. Signori 2010, S. 72.

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einem visuellen Spektakel, bis der Anblick der Katastrophe zu einer sanften Welle von Bildern gebändigt ist. Conners Umgang mit dem vorgefundenen Material ist dabei mit deren ursprünglicher Bestimmung durchaus kongruent. Die Faszination für den Anblick einer nuklearen Explosion teilte er mit den Verantwortlichen der USamerikanischen Streitkräfte, und auch die wissenschaftlichen Beobachter konnten sich ihr nicht ganz entziehen: William Shurcliff schrieb in seinem Bericht zu Operation Crossroads, der Atompilz sei viel spektakulärer gewesen, als es eine Photographie vermitteln könne. Seine Höhe und statuenhafte Schönheit seien beeindruckend gewesen, und noch viel beeindruckender die Geschwindigkeit der aufsteigenden Druckwelle.17 Hinter dieser Beschreibung allerdings verbarg sich keine bedingungslose Zustimmung zu den Tests. In Folge seiner Zeugenschaft zum Kritiker an der nuklearen Aufrüstung geworden, engagierte sich Shurcliff, der bereits als Physiker beim Manhattan Project beschäftigt gewesen war, später in verschiedenen Organisationen, die sich der Eindämmung der Verbreitung von Atomwaffen widmeten. Doch nicht nur in Hinblick auf die ästhetische Inszenierung der Wunderwaffe blieb Conner seinem Material, ironisch gesprochen, treu. Noch weitere der in Crossroads angewandten Stilmittel folgen der Darstellung der Detonationen durch das US-Militär. Dem Duktus der Aufnahmen folgend ist die Bombenzündung als Naturschauspiel inmitten paradiesisch wogender Palmen inszeniert. In der minutenlangen Schlusssequenz löst sich die Wolke – bestehend aus tödlichem, radioaktivem Wasserdampf – als Nebel über dem Meer langsam in die Atmosphäre auf. Diese letzte Aufnahme wird immer weiter in der Zeitlupe verlangsamt und gefriert schließlich zum reinen Bild. Das entspricht dem Zweck des Ausgangsmaterials: Da die Geschwindigkeit der Explosion die Zuseher überforderte, waren die Filmaufnahmen von Beginn an für eine verlangsamte Wiedergabe gedacht.18 Die leibliche

17 Vgl. Shurcliff 1947, S. 118. 18 Ebd., S. 151: „Things happened so fast in the next five seconds that few eyewitnesses could afterwards recall the full scope and sequence of the

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Anwesenheit bei den Detonationen half bei der genauen Beobachtung nicht und konnte lebensgefährdend sein, weshalb die eigentliche Zeugenschaft den Kameras überlassen wurde. In der Aufbereitung in der Zeitlupe konnte die Weltöffentlichkeit die Wirkung der Atombombe in sicherer räumlicher und zeitlicher Distanz wie ein Naturschauspiel betrachten. Der Diskurs der Naturalisierung begleitete die Bombe – die, wie es heißt, aus „Wolke“ und „Dampf“, „Blitz“ und „Pilz“ besteht – von Beginn des Kalten Krieges an. Besonders deutlich wird dies in der populären Berichterstattung und in dem vom US-Militär herausgegeben Material. In dem erwähnten, von der Joint Task Force One herausgegebenen Film über Operation Crossroads wird die Atombombe als Naturereignis dargestellt, ihre Zündung als wissenschaftliches Experiment, bis die eigentlichen Verantwortlichkeiten völlig umgekehrt sind: „We must protect ourselves against this new and elemental force, or be destroyed by it. This is Crossroads!“ Es ist nur folgerichtig, dass die offiziellen Verteidigungsstrategien des US-Militärs gegen einen Atomkrieg an denen des Katastrophenschutzes orientiert waren.19 Diese Naturalisierung der Atombombe als Elementarkraft wird in Crossroads mit den Mitteln des Spielfilms transparent gemacht. Damit verweist der Film auf einen Aspekt, dem zum Zeitpunkt der Entstehung des Ausgangsmaterials kaum Aufmerksamkeit geschenkt wurde: den ökologischen Auswirkungen der Kernwaffenzündungen. Betrachtet man die verwendeten Archivbilder als Naturaufnahmen, so wirkt Conners Film wie eine frühe Vorwegnahme des 1982 entstandenen Koyaanisqatsi (1982), Godfrey Reggios Zusammenschnitt von Aufnahmen einer „Welt, die aus den Fugen gerät“20. Mit diesem Film teilt

phenomena. By studying slow-motion films and analyzing the records caught by the thousands of instruments, the scientists eventually pieced together the fulll story.“ 19 Vgl. Signori 2010, S. 71. 20 So die deutsche Übersetzung des aus der Sprache der Hopi stammenden Filmtitels.

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Crossroads nicht nur die Struktur aus dialogfreien Bildsequenzen, sondern auch die durchdringende musikalische Untermalung (der Soundtrack von Koyaanisqatsi stammt von Philip Glass). Trotz dieser strukturellen Ähnlichkeiten jedoch wirken die beiden Filme völlig anders: Crossroads erscheint weniger als ein zivilisationskritischer Appell angesichts der Zerstörung der Natur denn als eine filmische Beschwörung des Wunders der Kernwaffe, dessen tranceartige Wirkung stark in der Ästhetik der 1960er Jahre verhaftet bleibt und dem stroboskopischen Flackern der Bilder in A Movie eine halluzinatorische Sublimierung der Katastrophe entgegensetzt. Als Aufbereitung des Sublimen zu einem psychedelisch-kinematographischen Erlebnis leistet Crossroads zugleich einen Kommentar zu dem Konsumverhalten, dem die tausendfach gezeigten Bilder der Detonation eines Massenvernichtungsmittels unterworfen waren. Die kulturelle Verwertung der Atombombe im Film und in der Popmusik, in Bildreportagen und Wochenschauen begann gleich mit der ersten Testserie, und spätestens zur Mitte der 1970er Jahre war der „Pilz“ mehr ein Teil der Populärkultur als der Militärgeschichte, und es war ihm jeder historische Kontext entzogen. Ein Mythos im Bartheschen Sinne, konnten ihm kritisch-analytische Herangehensweisen alleine nicht gerecht werden, vor allem dann nicht, wenn sie auf eine Dekonstruktion seines Informationsgehalts abzielten: „Weder Zeit noch Wissen fügen [dem Mythos] etwas hinzu oder nehmen ihm etwas weg.“21 Die Faszination mit der visuellen Kraft der Explosion bei gleichzeitiger Offenlegung ihrer konsumgleichen Rezeption in der Populärkultur nähert Crossroads an ein weiteres Beispiel zeitgenössischer Filmgeschichte an. Es handelt sich um die „misslungene“22 Regiearbeit Michelangelo Antonionis, Zabriskie Point (1970), die mit einem wahren Explosionsreigen endet, mit der die zeitgenössische Konsumkultur der

21 Denn, wie Barthes unterstreicht, handelt es sich beim Mythos nicht um „Faktensystem“, sondern um ein „semiologisches System“. Barthes 1964, S. 110-115. Zum Atompilz als Mythos vgl. auch Nowak 2011, S. 299. 22 Brunette 1998, S. 23.

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Zerstörung zugeführt wird: Mehrfach wird die Explosion einer Villa in der Wüste von Arizona vor den Augen der weiblichen Hauptfigur wiederholt. In unregelmäßiger Bildfolge wechseln Aufnahmen des unversehrten Gebäudes mit seiner Explosion, mit und ohne Ton, als Gesamtaufnahme und im Detail. Es folgen Aufnahmen des zersprengten Mobiliars und explodierender Geräte zur Musik von Pink Floyd, von einem Sonnenschirm über Garderoben, Bücher, Papiere bis hin zu einem Kühlschrank, bis Kleidung und Lebensmittel mit den anderen Gegenständen in einem „ironische[n] Werbekarussel“23 vor dem blauen Himmel tanzen. Die Szene bricht abrupt ab und entpuppt sich als eine Vision der Hauptfigur, die zugleich mit deren Aufmerksamkeit endet. Crossroads zeigt eine nur scheinbar unfassbare, tatsächlich aber völlig reale Szenerie der Zerstörung, komfortabel zu einem ästhetischen Spektakel aufbereitet. Die Wiederholung der immer gleichen Explosion, gefilmt von Dutzenden Blickwinkeln aus („from every possible angle“),24 entspricht der beabsichtigten Montage- und Präsentationsform des Militärs. Ebenso wie das ‚offizielle‘ Material spielt Crossroads mit der Erwartungshaltung des Zusehers. Der Film ermöglicht, das Ereignis nach dem ersten, visuell und akustisch überwältigenden Eindruck immer wieder zu betrachten und der Faszination des Materials streng nach Choreographie immer von neuem zu erliegen. Conner nutzt das im vorgefundenen Material enthaltene mythische Potential, das sich auch nach Dutzenden Wiederholungen nicht erschöpft, und so gilt Brian O’Dohertys Bemerkung über A Movie auch für Crossroads: Die Rekontextualisierung der Aufnahmen der Atomwaffentests scheint auf einer kritische Haltung zu gründen – doch tatsächlich verstärkt diese Rekontextualisierung in der Ästhetik des Kriegsfilms wohl die irreal anmutende Qualität der Bilder, zugleich aber auch ihre Wirkung. Das Festhalten und permanente Vorführen der alltäglich gewordenen Aufnahmen der Apokalypse gleicht der Konservierung des Blicks

23 Antonioni 1985, S. 84. 24 http://www.archive.org/details/Operatio1946_1, 6’15’’ bis 6’ 17’’ [Zugriff am 24.1.2012].

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des Kaninchens vor der Schlange – eines Kaninchens allerdings, das die Schlange selbst gebaut hat. So machen die visuellen und akustischen Überarbeitungen des Materials (die künstliche Geräuschkulisse, die musikalische Untermalung, Zeitlupen und Wiederholungen) zwar diejenigen Instrumente deutlich, die zur Entpolitisierung und Naturalisierung der nuklearen Bedrohung in den offiziellen Verlautbarungen und Bildmaterialien des US-Militärs und in der Aufnahme der Kernwaffentests in die Populärkultur beigetragen haben. Angesichts der visuellen Wirkmächtigkeit der nuklearen Vernichtung bleibt jedoch kein Platz für logische Argumentation. Die ästhetische Gewalt der Atombombe kann sich in Crossroads ungehindert entfalten, sodass der hypnotisierte Blick auf die unter wissenschaftlicher und politischer Aufsicht produzierte Katastrophe als Symptom des Kalten Krieges sichtbar wird.

L ITERATUR Michelangelo Antonioni, Zabriskie Point, Frankfurt/M. 1985. Roland Barthes, Mythen des Alltags, Frankfurt/M. 1964. Christa Blümlinger, Kino aus zweiter Hand. Zur Ästhetik materieller Aneignung im Film und in der Medienkunst, Berlin 2009. David Bradley, No Place to Hide, New York 1949. Peter Brunette, The Films of Michelangelo Antonioni, Cambridge 1998. Kathy Halbreich (Hg.), 2000 BC. The Bruce Conner Story Part II, Kat. Walker Art Center, Minneapolis/Modern Art Museum of Fort Worth/Mr. H. de Young Memorial Museum, San Francisco/Museum of Contemporary Art, Los Angeles/Minneapolis 1999. William Moritz und Beverly O’Neill, „Fallout: Some Notes on the Films of Bruce Conner“, in: Film Quarterly 31/4, 1978, S. 36-42. Lars Nowak, „Strahlende Landschaften. Zur materiellen und photographischen Öffentlichkeit der amerikanischen Atombombentests“, in: Florian Hoof, Eva-Maria Jung und Ulrich Salaschek (Hgg.), Jen-

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seits des Labors. Transformationen des Wissens zwischen Entstehungs- und Anwendungskontext, Bielefeld 2011, S. 279-318. W. A. Shurcliff, Bombs at Bikini. The Official Report of Operation Crossroads, New York 1947. Marc Siegel, „Etwas mehr als die Wirklichkeit. Andy Warhol und Bruce Conner“, in: Peter Pakesch (Hg.), Painting Real/Screening Real, Kat. Kunsthaus Graz, Köln 2009, S. 144-153. Giorgio Signori, „Loving the Bomb. Cold War Audiovisual Propaganda in the United States“, in: Kathleen Starck (Hg.), Between Fear and Freedom. Cultural Representations of the Cold War, Cambridge 2010, S. 69-81. A. Costandina Titus, „The Mushroom Cloud as Kitsch”, in: Scott C. Zeman (Hg.), Atomic culture. How we learned to stop worrying and love the bomb, Boulder 2004, S. 101-124. United States, Joint Task Force One (Hg.), Operation Crossroads. The Official Pictorial Record, New York 1946. Jonathan M. Weisgall, Operation Crossroads. The Atomic Tests at Bikini Atoll, Annapolis 1994. Allan M. Winkler, Life Under a Cloud. American Anxiety About the Atom, New York/Oxford 1993.

ABBILDUNGEN Abb. 1: Crossroads (USA 1976, R: Bruce Conner), 26’ 01’’ bis 27’ 31’’. Abb. 2: Cover der Taschenbuchausgabe Bradley 1949. Abb. 3: Shurcliff 1947, pl. 31. Abb. 4: Weisgall 1994, n.p.

Autorinnen und Autoren

Eva Kernbauer ist Professorin für Kunstgeschichte an der Universität für angewandte Kunst Wien. Sie wurde 2007 an der Universität Trier mit der Arbeit Der Platz des Publikums: Modelle für Kunstöffentlichkeit im 18. Jahrhundert (erschienen in Köln, 2011) promoviert. Sie forscht zur Geschichtlichkeit der Gegenwartskunst, zu Skulptur und Installation seit den 1960er Jahren und zur Materialität von Film- und Videoinstallationen. Tobias Nanz ist wissenschaftlicher Mitarbeiter des ERC-Projekts „The Principle of Disruption“ an der Universität Siegen. Er wurde mit der Arbeit Grenzverkehr. Eine Mediengeschichte der Diplomatie (erschienen in Zürich/Berlin, 2010) an der Fakultät Medien der BauhausUniversität Weimar promoviert und befasst sich derzeit mit einer Geschichte des Roten Telefons. Lars Nowak ist Juniorprofessor für Medienwissenschaft an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg. Er promovierte mit der Arbeit Deformation und Transdifferenz: Freak Show, frühes Kino, Tod Browning (erschienen in Berlin, 2011) an der Fakultät Medien der Bauhaus-Universität Weimar. Seine Arbeitsschwerpunkte liegen bei der amerikanischen Filmgeschichte, dem Autoren- und Experimentalfilm, der Intermedialität von Photographie und Film, der wissenschaftlichen Photo- und Kinematographie sowie der Kartographie.

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Johannes Pause ist Stipendiat des Historisch-Kulturwissenschaftlichen Forschungszentrums Trier (HKFZ) und promovierte an der Freien Universität Berlin mit der Arbeit Texturen der Zeit. Zum Wandel ästhetischer Zeitkonzepte in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur (erschienen in Köln, 2012). Sein aktueller Forschungsschwerpunkt ist das politische Kino der 1960er bis 2000er Jahre. Sascha Simons verfolgt als Stipendiat des Graduiertenkollegs Transnationale Medienereignisse der Justus-Liebig-Universität Gießen ein Promotionsvorhaben zu medialer Authentizität und sozialer Zeugenschaft von Web Videos. Er interessiert sich vor allem für die Theorie, Ästhetik und Morphologie sozialer Medien und veröffentlichte in diesem Kontext zuletzt den Aufsatz „Ich bin Neda. Zur Authentizität ästhetischer Brüche und ihrer sozialen Resonanz im Web 2.0“, in: Antonius Weixler (Hg.), Authentisches Erzählen. Produktion, Narration, Rezeption, Berlin/Boston 2012. Barbara Wurm ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Slawistik der Humboldt-Universität zu Berlin. Derzeit verfasst sie eine Dissertation zum Sowjetischen Kulturfilm der 1920er Jahre. Zu ihren Forschungsschwerpunkten zählen die literarische, visuelle und politische Kultur der sowjetischen Avantgarde ebenso wie Medientheorie, (russische) Filmgeschichte und Dokumentarfilm. Publikation u.a.: Digital Formalism. Die kalkulierten Bilder des Dziga Vertov (= Maske und Kothurn 3/2009), hg. von Klemens Gruber/Barbara Wurm/Vera Kropf.

Film Bettina Dennerlein, Elke Frietsch (Hg.) Identitäten in Bewegung Migration im Film 2011, 324 Seiten, kart., zahlr. Abb., 32,80 €, ISBN 978-3-8376-1472-5

Tobias Ebbrecht Geschichtsbilder im medialen Gedächtnis Filmische Narrationen des Holocaust 2011, 356 Seiten, kart., zahlr. Abb., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1671-2

Kay Kirchmann, Jens Ruchatz (Hg.) Medienreflexion im Film Ein Handbuch November 2013, ca. 404 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 33,80 €, ISBN 978-3-8376-1091-8

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2011, 258 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1797-9

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Juli 2013, 282 Seiten, kart., zahlr. Abb., 32,80 €, ISBN 978-3-8376-2061-0

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Zeitschrif t für Kultur wissenschaf ten Birgit Wagner, Christina Lutter, Helmut Lethen (Hg.)

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