Die Sieben Weltwunder 3896788159, 9783896788153

Schon die Antike hat das Prädikat Weltwunder sieben herausragenden Monumenten zuerkannt: den Pyramiden voni Gizeh, den H

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Die Sieben Weltwunder
 3896788159, 9783896788153

Table of contents :
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INHALT
VORWORT
DIE SIEBEN WELTWUNDER DER ANTIKE
DIE PYRAMIDEN VON GIZEH
Daten und Fakten
DIE HÄNGENDEN GÄRTEN DER SEMIRAMIS IN BABYLON
Daten und Fakten
DAS ARTEMISION VON EPHESOS
Daten und Fakten
DIE ZEUS - STATUE IN OLYMPIA
Daten und Fakten
DAS MAUSOLEUM VON HALIKARNASSOS
Daten und Fakten
DER KOLOSS VON RHODOS
Daten und Fakten
DER LEUCHTTURM VON ALEXANDRIA
Daten und Fakten
DIE KUNST DER REKONSTRUKTION: FRAGEN AN JENS JÄHNIG
ÜBERSICHTSKARTE
LITERATUR IN AUSWAHL

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D I E S I E B E N W E LT W U N D E R

Günther Binding, Bauen im Mittelalter, ISBN 978-3-89678-826-9 Sabine Buttinger, Alltag im mittelalterlichen Kloster, ISBN 978-3-89678-827-6 Daniel Furrer, Geschichte des stillen Örtchens, ISBN 978-3-89678-828-3 Joachim Heinzle, Die Nibelungen, ISBN 978-3-89678- 824-5 Jens Jähnig / Holger Sonnabend, Die Sieben Weltwunder, ISBN 978-3-89678-815-3 Peter Rothe, Geschichte der Erde, ISBN 978-3-89678-825-2

WISSEN

WISSEN

IM QUADRAT

IM QUADRAT

Jens Jähnig / Holger Sonnabend

DIE SIEBEN WELTWUNDER

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Das Werk ist in allen seinen Teilen urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung in und Verarbeitung durch elektronische Systeme.

© 2010 by Primus Verlag, Darmstadt Gedruckt auf säurefreiem und alterungsbeständigem Papier Einbandgestaltung: Jutta Schneider, Frankfurt Einbandabbildung: Zeus-Statue im Zeus-Tempel in Olympia; Rekonstruktionszeichnung von Jens Jähnig, Magdeburg Layout, Gestaltung und Satz: Anja Harms, Oberursel Karte auf S. 94/95: Christoph Duntze, Bonn Printed in Germany www.primusverlag.de ISBN: 978-3-89678-815-3

INHALT

VORWORT

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DIE SIEBEN WELTWUNDER DER ANTIKE

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DIE PYRAMIDEN VON GIZEH

Daten und Fakten DIE HÄNGENDEN GÄRTEN DER SEMIRAMIS IN BABYLON

Daten und Fakten DAS ARTEMISION VON EPHESOS

Daten und Fakten D I E Z E U S - S TAT U E I N O LY M P I A

Daten und Fakten DAS MAUSOLEUM VON HALIKARNASSOS

Daten und Fakten DER KOLOSS VON RHODOS

Daten und Fakten

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Daten und Fakten

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DIE KUNST DER REKONSTRUKTION:

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DER LEUCHTTURM VON ALEXANDRIA

FRAGEN AN JENS JÄHNIG ÜBERSICHTSKARTE

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VORWORT

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Unter dem Namen des Philon von Byzanz ist eine der ausführlichsten Beschreibungen der Sieben Weltwunder aus antiker Zeit überliefert. Vermutlich ist dieser Philon mit dem Autor von Schriften über Mechanik identisch, der zu Beginn des 2. Jahrhunderts v. Chr lebte und wirkte. Welche Absichten er mit der Darstellung der Weltwunder verband, hat er in einem Vorwort ausgeführt. Das heutige Interesse an den Sieben Weltwundern ist sicher nicht mehr ganz dasselbe wie vor 2500 Jahren. Aber es ist ausgesprochen reizvoll zu verfolgen, was die Weltwunder der Antike den antiken Menschen bedeuteten und wie sie diese mit ihren Bildungsidealen verbanden; das (Vor)Wort hat also Philon: „Von den Sieben Sehenswürdigkeiten ist jedes Einzelne vom Hörensagen her bekannt, den Wenigsten aber aus eigener Anschauung. Man muss ja auch nach Persien reisen, man muss den Euphrat überqueren, nach Ägypten fahren, sich bei Eleern in Griechenland aufhalten, Halikarnassos in Karien aufsuchen, Rhodos besuchen und in Ionien die Stadt Ephesos besichtigen. Und wer so in der Welt umhergeirrt und von den Strapazen des Reisens ermüdet ist, wird erst dann das Begehren stillen können, wenn auch seine Lebenszeit durch die Jahre vorüber gegangen ist. Aus diesem Grund ist die Bildung etwas Erstaunliches und ein großes Geschenk, denn sie befreit den Menschen von der Notwendigkeit, sich selbst auf den Weg zu machen. Sie zeigt ihm zu Hause alle schönen Dinge, indem sie seiner Seele Augen gibt. Und das Wunderbare dabei ist: Jemand ist zu diesen Stätten gekommen, hat sie ein-

mal gesehen, ist wieder abgereist und hat sie dann schon wieder vergessen. Die Einzelheiten der Bauwerke bleiben nämlich verborgen, und in Bezug auf die Details verblassen die Erinnerungen. Ein Anderer aber erforscht das, was staunenswert ist und die jeweilige Beschaffenheit der Ausführung durch meine Worte. Er betrachtet das ganze Kunstwerk wie in einem Spiegel und bewahrt auf diese Weise unauslöschlich die Merkmale dieser Bilder. Die Wunder hat er nämlich mit der Seele betrachtet. Das, was ich sage, wird überzeugend erscheinen, wenn meine Worte in aller Klarheit jede der sieben Sehenswürdigkeiten der Reihe nach vorstellen und dabei den Zuhörer zum Zustimmen veranlassen, dass sie ihm den Eindruck der eigenen Anschauung vermittelt haben. Denn nur das wird im Allgemeinen mit Lobpreisungen bedacht, was man zwar von gleich zu gleich sieht, aber ungleich bestaunt. Das Schöne lässt es nämlich ebenso wenig wie die Sonne zu, dass man sonst etwas betrachtet, wenn sie es selbst überstrahlt.“

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Das heute so modische Wort „Ranking“ kannten die antiken Griechen noch nicht. Doch die Sache an sich, das gelegentlich an Obsession grenzende Bestreben, in jedem nur denkbaren Bereich Bestenlisten aufzustellen, war ihnen alles andere als fremd. Die Idee des Wettbewerbs, geboren aus dem Geist aristokratischen Konkurrenzkampfes, stand bei ihnen auf der Skala der gesellschaftlichen Prioritäten ganz oben. Bei den Olympischen Spielen zählte nicht die Teilnahme, sondern nur der Sieg. Theaterstücke kamen nicht einzeln zur Aufführung, sondern eine Jury wählte aus mehreren Stücken den Sieger aus. Ebenso ging es bei griechischen Musikfestivals weniger um den Kunstgenuss als um die Frage, wer von den Komponisten oder Interpreten den ersten Preis gewinnen würde. Angesichts dessen ist es kein Wunder, dass auch in Bezug auf die schönsten und großartigsten Bauwerke und Monumente ein edler Wettstreit stattfand. Dabei trat zu dem Gedanken der Konkurrenz noch ein weiterer Aspekt hinzu. Seit dem frühen 3. Jahrhundert v. Chr., in jener Zeit, als sich den Griechen durch die Eroberungen Alexanders des Großen neue Horizonte erschlossen hatten, interessierten sich viele Menschen für Wundersames, Faszinierendes, Exotisches. Im beginnenden Zeitalter des Hellenismus, wie man die Phase der griechischen Geschichte von Alexander dem Großen bis zur Eingliederung des ägyptischen Ptolemäerreiches in das Imperium Romanum (30 v. Chr.) bezeichnet, wollten die Menschen staunen. Um diesem Bedürfnis nachzukommen und zugleich das ungebrochene Interesse an Bestenlisten zu befriedigen, machten sich findige Geister unter den griechischen Gelehrten daran, Listen mit den denkwürdigsten Bauwerken zu erstellen.

Magisch an der Zahl und global in der Auswahl

Dabei gab es zwei Vorgaben. Erstens sollten es sieben Weltwunder sein. Die Zahl Sieben hatte in der Antike eine magische Bedeutung. Es gab die sieben freien Künste, die sieben (angeblichen) Geburtsstädte Homers, die sieben Hügel Roms, die sieben Weisen. Warum gerade die Sieben eine solche Wirkung hatte, ist in der Forschung umstritten. Unter den vielen Theorien, die diskutiert werden, hat der Bezug auf die sieben das Leben der Menschen bestimmenden Planeten mutmaßlich die größte Wahrscheinlichkeit für sich. Die zweite Vorgabe lautete: Es sollten sieben Weltwunder sein. Die Griechen mussten daher der Versuchung widerstehen, die Liste mit Bauwerken und Kunstgegenständen zu versehen, die allein aus dem griechischen Raum stammten. Eigentlich waren die Griechen stolz auf die eigenen Errungenschaften und pflegten fremde Kulturleistungen gern als „barbarisch“ abzuqualifizieren. Auf der anderen Seite waren sie aber immer neugierig gewesen und hatten einen offenen Blick für fremde Zivilisationen. In dieser Hinsicht hat das weltoffene hellenistische Zeitalter für einen großen Schub gesorgt. Griechen lebten inzwischen auch im Orient und lernten dort Meisterwerke der Architektur und der Kunst kennen. Immerhin hatte es in Ägypten und in Mesopotamien schon lange, bevor sich die Griechen als künstlerischer Motor der europäischen Kulturentwicklung profilierten, außerordentlich bedeutende Zivilisationen mit entsprechenden architektonischen Aktivitäten gegeben. D i e Q u a l d e r Wa h l

So befinden sich unter den Sieben Weltwundern sowohl erstaunliche Bauwerke aus Griechenland als auch denkwürdige Monumente aus dem Bereich der alten Hoch-

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kulturen des Vorderen Orients. Aber die offenbar von Anfang an erwünschte Zahl von sieben Weltwundern warf Schwierigkeiten auf. Welche Bauwerke sollte man aufnehmen? Das Angebot war mehr als reichhaltig. Überall in Griechenland, in Kleinasien, in Ägypten, in Mesopotamien und auch in Persien gab es eine Vielzahl von geeigneten Kandidaten. Heute regeln derlei Dinge eigens eingesetzte Kommissionen. Bei der Festlegung der Sieben Weltwunder der Antike muss man sich jedoch von der Vorstellung verabschieden, dass hier eine Jury am Werk gewesen wäre, die dem gespannten Publikum auf der Grundlage ihrer geballten Autorität eine Liste mit kanonischer Bedeutung vorgelegt hätte. Vielmehr verhielt es sich einfach so, dass sich einzelne Gelehrte an die Arbeit machten und rein subjektiv ihre Favoriten auf die begehrten sieben Plätze setzten. Dann kam es ganz auf ihre Autorität und ihre Überzeugungskraft an, wenn sie die gelehrte Welt für ihre Vorschläge gewinnen wollten. H e r o d o t u n d A n t i p a t r o s – d i e „ Wu n d e r - V ä t e r “

Eine der frühesten Listen stammt aus der Feder des antiken Philologen Antipatros. Dieser Pionier der Sieben Weltwunder kam aus der Stadt Sidon in Phönizien. Gelebt und gewirkt hat er im 2. Jahrhundert v. Chr. In einem seiner Gedichte hat er in poetischer Form seine sieben Weltwunder zusammengestellt. Dabei nennt er im Einzelnen und in dieser Reihenfolge die Stadtmauern von Babylon, die Statue des Gottes Zeus im Zeus-Heiligtum von Olympia, die Hängenden Gärten der Semiramis in Babylon, den Koloss von Rhodos, die ägyptischen Pyramiden und das Grabmal des Mausollos in Halikarnassos. Die Krone gebührt seiner Meinung nach dem Wunder Nummer Sieben, dem Tempel der Artemis im kleinasiatischen Ephesos: „Aber der Tempel,/ der sich in Wolken verliert,

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heilig der Artemis, ließ/ alles andere verblassen. Ich sprach: ‚Vom Olymp abgesehen, hat Gott Helios solch Wunderwerk niemals erblickt!‘“ Mit seinen Sieben Weltwundern hatte Antipatros ohne Frage eine gute Auswahl getroffen. Dabei konnte er sich aber auch bereits an prominenten Vorgängern orientieren. Als der Urvater der antiken Weltwunderbewegung gilt neuerdings und nicht zu Unrecht der griechische Historiker Herodot (ca. 484–424 v. Chr.), den der Römer Cicero später als den „Vater der Geschichte“ adelte. Und in der Tat hat sich Herodot als kundiger Chronist und Kommentator der Kriege erwiesen, die zu Beginn des 5. Jahrhunderts v. Chr. Griechen und Perser gegeneinander führten. Um Material für seine Darstellung zu sammeln, begab sich Herodot auf weite Reisen und besuchte dabei auch Ägypten und Mesopotamien, die zur Zeit der Perserkriege Teil des persischen Weltreiches gewesen waren. Herodot war es deshalb auch gewesen, der schon lange vor Alexander dem Großen bei den Griechen eine erste Welle wahrer Leidenschaft für alles Orientalische entfacht hatte. Ägypten und Mesopotamien bekamen durch ihn im Abendland den Glanz des Exotischen und des Faszinierenden. Herodot bestaunte und beschrieb die Bauwerke der alten Ägypter und der Babylonier, und seine Zeitgenossen und spätere Generationen staunten gern mit. „Jetzt gehe ich dazu über“, so leitete der Autor aus Halikarnassos seinen Exkurs über die Sitten, Gebräuche und Denkwürdigkeiten Ägyptens ein, „ausführlicher über Ägypten zu berichten, weil es sehr viel Wunderliches und Werke aufweist, die man in ihrer Größe kaum schildern kann im Vergleich zu jedem anderen Land ...“ In Ägypten, führt Herodot weiter aus, war ohnehin alles anders. Den irritierten Zeitgenossen teilte er beispielsweise die schockierende Nachricht mit, dass in Ägypten die Frauen

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auf den Markt gehen und Handel treiben, während die Männer zu Hause sitzen und weben. Einem solchen Volk war natürlich alles zuzutrauen, inklusive dem Umstand, dass es in der Lage war, weltwunderverdächtige Bauwerke zu errichten. So war bereits mit Herodot das Genre der theamata, der „Sehenswürdigkeiten“, geboren, das in dem von noch mehr Neugier und Sensationslust geprägten Zeitalter des Hellenismus dann auch namentlich zu der populären Gattung der thaumata, der „Wunderwerke“, wurde. Das Verdienst, den Begriff „Weltwunder“ salonfähig gemacht zu haben, gebührt dem römischen Gelehrten Marcus Terentius Varro (116–27 v. Chr.). Er publizierte damals ein Buch mit dem Titel Septem opera in orbe terrae miranda, also: „Sieben Werke, die auf der Welt zu bewundern sind“. Die Suche nach dieser alten Schrift erübrigt sich allerdings, da sie nicht mehr erhalten ist und man nicht viel mehr als den Titel kennt.

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Die kanonischen Sieben

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Antipatros war also ein Jünger Herodots, der eine zusätzliche Inspiration durch das weltoffene Klima des hellenistischen Zeitalters erhalten hatte, als Ägypten und der Vordere Orient erneut in den Fokus der griechischen Welt rückten. Der Schriftsteller aus Sidon hat die Weltwunder an der besagten Stelle allerdings nicht in chronologischer Reihenfolge präsentiert, sondern offenbar nach seiner persönlichen Präferenz in ansteigender Wertschätzung und gipfelnd im Artemision von Ephesos. Das älteste Bauwerk, das die Ehre hatte, von den Griechen in den Rang eines Weltwunders gehoben zu werden, waren die Pyramiden von Gizeh. In ihrer Eigenschaft als monumentale Grabbauten der ägyptischen Pharaonen der 4. Dynastie waren sie damals wie heute viel

Das prächtige Ischtar-Tor schmückte den nördlichen Teil der Stadtmauern von Babylon. Gewidmet war es der Kriegsund Liebesgöttin Ischtar.

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besuchte Objekte der Bewunderung. Vor allem die größte von ihnen, die Cheops-Pyramide, galt als eines der außergewöhnlichsten Bauwerke der antiken Welt. Fast unversehrt ist sie bis heute erhalten, was man ansonsten von keinem anderen der kanonischen Sieben Weltwunder behaupten kann. Allerdings fehlt im Innern der Pyramide jede Spur von dem hier bestatteten Pharao, und auch von den einst üppigen Grabbeigaben ist nichts mehr zu sehen. Dieser Befund hat in der Gegenwart zu einigen abenteuerlichen Spekulationen Anlass gegeben. Gleich zwei der von Antipatros genannten Weltwunder befanden sich im heutigen Irak, in der fruchtbaren Landschaft zwischen Euphrat und Tigris, die schon früh und fast zeitgleich mit dem Land am Nil zur Wiege der altorientalischen Hochkulturen wurde. Und beide waren sie in der Weltstadt Babylon angesiedelt, die für die Griechen auch deswegen eine besondere Bedeutung hatte, weil hier 323 v. Chr. Alexander der Große gestorben war. Die Stadtmauern von Babylon waren ein Prestigeobjekt des neubabylonischen Königs Nebukadnezar II., der von 605 bis 562 v. Chr. in der berühmten Metropole am Euphrat das Regiment führte. Die Mauern, die der ehrgeizige Monarch um die Stadt herum anlegte, hatten nicht allein eine fortifikatorische Funktion. Vielmehr sollten sie in ihrer Monumentalität auch als Aushängeschild der Macht des Königs dienen. Prunkstück der Maueranlage war das Ischtar-Tor, das während der deutschen Ausgrabungen in Babylon (zwischen 1899 und 1917) von dem Archäologen Rudolf Koldewey freigelegt wurde. Heute gehört das nach der babylonischen Kriegsund Liebesgöttin Ischtar benannte Tor zu den Attraktionen auf der Berliner Museumsinsel. Das zweite Wunderwerk, das Antipatros in Babylon ansiedelt, sind die „Hängenden Gärten der Semiramis“.

Sie geben eine Menge Rätsel auf, und dies nicht zuletzt deswegen, weil es von ihnen heute keine Spuren mehr gibt. Auch die Identität der Semiramis ist eine heikle, letztlich aber wohl doch zuverlässig zu beantwortende Frage. Auf jeden Fall stehen die „Hängenden Gärten“ von Babylon beispielhaft für die raffinierte Garten- und Parkkunst, wie man sie im Alten Orient perfekt beherrschte. Wenn Antipatros von dem Artemis-Tempel im kleinasiatischen Ephesos so begeistert war, so mag dies auch den Grund gehabt haben, dass es sich hier um das älteste Weltwunder griechischer Herkunft handelte. Der heutige Besucher, der einem der berühmtesten Heiligtümer der antiken Welt seine Reverenz erweisen will, wird allerdings schwer enttäuscht. Nur eine einsame Säule zeugt noch von der Pracht einer Kultstätte, die die Pilger von weither in die heutige Westtürkei lockte. Zeus, Helios und Mausollos sind die Namen, die Antipatros mit den übrigen drei Weltwundern verbindet, die er in seine Liste aufgenommen hat. In der richtigen chronologischen Reihenfolge der Erbauung müssten Helios und Mausollos die Plätze tauschen. Zeus, der oberste Gott in der personell gut ausgestatteten Götterriege der Griechen, hatte in Griechenland viele Tempel. Doch zum Wunder reichte es nur bei dem Heiligtum in Olympia, wo Zeus seit 776 v. Chr. über die regelmäßig alle vier Jahre stattfindenden Olympischen Spiele wachte. Aber nicht der Tempel an sich erhielt das Prädikat „Weltwunder“, sondern die Götterstatue im Innersten des Tempels. Sie war ein Werk des berühmten griechischen Bildhauers Phidias, der sich auch als Gestalter der Akropolis von Athen mit ihren allseits bekannten Bauten wie Parthenon oder Erechtheion einen Namen gemacht hat. Diese beiden Bauwerke aber haben es seltsamerweise in keine der antiken Weltwunderlisten geschafft. Anders die

Phidias, der die Zeus-Statue von Olympia schuf, zeichnete auch für den Parthenon auf der Akropolis von Athen verantwortlich.

riesige Statue des Sonnengottes Helios von der griechischen Insel Rhodos: Sie beeindruckte die Menschen so sehr, dass man sie ohne Weiteres in den illustren Katalog der staunenswertesten Bauwerke einordnete. Wo genau der Koloss stand, ist nicht bekannt. Von der geläufigen Vorstellung einer mit gespreizten Beinen über der Hafeneinfahrt von Rhodos stehenden Riesenfigur aber darf man getrost Abschied nehmen. Der Koloss von Rhodos hält außerdem einen traurigen Rekord, auf den die alten Rhodier sicher gern verzichtet hätten. Kein Weltwunder existierte kürzer als das Wunder von Rhodos, das nur

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66 Jahre nach Bauende von einem Erdbeben zerstört wurde. Spannend wiederum ist, wie die Einwohner von Rhodos mit diesem Unglück umgingen und welches Schicksal die Reste des Kolosses Jahrhunderte später erwartete. 227 v. Chr. verschwand der Koloss von der Bildfläche. Zu diesem Zeitpunkt war Mausollos, der Inhaber des siebten von Antipatros angeführten Weltwunders, bereits fast 130 Jahre tot. Doch mit diesem Monument, dem nach ihm bis heute „Mausoleum“ genannten Bautyp, schließt sich der Kreis zu den ägyptischen Pyramiden. In beiden Fällen handelte es sich um monumentale Grab-

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mäler – bei den Ägyptern hatte man es mit den letzten Ruhestätten der Phararonen zu tun, das Mausoleum im antiken Halikarnassos (dem heutigen Bodrum) dokumentierte als repräsentative Grabstätte die Herrschaft eines kleinasiatischen Dynasten, der im Leben gern ebenso bedeutend gewesen wäre wie als „Insasse“ eines viel bewunderten Grabmals. N o c h m e h r a n t i k e Wu n d e r

So prominent und einflussreich war der Dichter Antipatros aus Sidon allerdings nicht, dass ihm nun alle Welt in seiner Einschätzung gefolgt wäre. Die Crux für die Freunde der Sieben Weltwunder der Antike besteht darin, dass damals eine Fülle von Listen kursierte, die zueinander in Konkurrenz standen. Sieben Weltwunder sollten es schon

sein, aber über die geeigneten Kandidaten bestand keine Einigkeit. Zwar waren die Sieben Weltwunder des Antipatros sämtlich herausragende Bauwerke und Kunstdenkmäler. Aber es gab eben in der weiten Welt der Antike noch weitaus mehr Gebäude und Schmuckstücke, die es verdienten, mit der Aufnahme in die prominente Gruppe der Sieben Weltwunder ausgezeichnet zu werden. Und was sollte mit jenen Bauwerken passieren, die errichtet wurden, als die Plätze auf der Liste alle bereits besetzt waren? Blieb ihnen der Zugang zum erlauchten Kreis nur deswegen versagt, weil sie zu spät gebaut worden waren? Das jüngste Monument im Kanon der frühen Listen war der Koloss von Rhodos gewesen. 293 v. Chr. hatte man die Helios-Statue feierlich eingeweiht. Zur selben Zeit arbeiteten im ägyptischen Alexandria Ingenieure an

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dem von dem ptolemäischen König persönlich ausgeschriebenen Projekt des größten Leuchtturmes der antiken Welt. 279 v. Chr. war das Wunderwerk fertig, die Liste der Sieben Weltwunder aber zu. Damit wollten sich die Alexandriner und alle Technikfreunde nicht abfinden. So verschwanden die Stadtmauern von Babylon aus dem Kanon und wurden durch den Leuchtturm von Alexandria ersetzt. Weil sich viele Gelehrte diesem Votum anschlossen, taucht seitdem der Pharos, wie der Leuchtturm nach seinem Aufstellungsort auf der kleinen, Alexandria vorgelagerten Insel genannt wird, in den meisten antiken Weltwunderlisten auf. Und da es sich gezeigt hatte, dass die Liste nicht exklusiv war, trat die Antike nun in einen edlen Wettstreit um die schönsten Bauwerke. Dabei spielten auch lokale

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Persepolis war die architektonische Visitenkarte der persischen Könige. Der Palast fand aber keinen Eingang in die antiken Weltwunderlisten.

Interessen eine Rolle. Denn wenn man innerhalb seiner Mauern ein veritables Weltwunder beherbergte, so garantierte dies allemal einen großen Zustrom von Besuchern. Aufgrund dieser Werbewirksamkeit entstanden nun munter weitere Kataloge mit Weltwundern, deren Akzeptanz sich mitunter nur auf jene interessierte Kreise beschränkte, die für ihre Nominierung verantwortlich gewesen waren. Nicht sieben, auch nicht acht, neun oder zehn, sondern weit über zwanzig Weltwunder kursierten daher in den Listen. Strengstens wurde aber darauf geachtet, in den einzelnen Listen die magische Zahl Sieben nicht zu überschreiten. Immer kam es also darauf an, wenn man

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ein neues Bauwerk platzieren wollte, ein anderes dafür aus der Liste zu streichen. Das sorgte bereits in der Antike für einige Konfusion, wussten die Menschen jetzt doch nicht mehr, welches denn nun die „richtigen“ Sieben Weltwunder waren. Die Irritation hält bis heute an, verschafft aber auch ein beruhigendes Alibi, wenn man bei dem Versuch scheitert, „die“ Sieben Weltwunder der Antike zu benennen. So geistern durch die antiken Kataloge neben den üblichen Kandidaten noch eine ganze Reihe anderer Monumente. Dazu zählt zum Beispiel der Hörneraltar im Apollon-Heiligtum auf der Kykladeninsel Delos mit seinem Schmuck aus Ziegenhörnern. Unter der Rubrik „technische Meisterleistungen“ rangiert eine steinerne Brücke über den Euphrat als antikes Weltwunder. Sie stand einst in Babylon und machte die mesopotamische Metropole damit, zusammen mit den Stadtmauern und den Hängenden Gärten, zu der Stadt mit den meisten Weltwundern. In Ägypten hielt man, neben den Pyramiden und dem Leuchtturm von Pharos, später auch Theben, die Hauptstadt des Neuen Reiches der Pharaonen, für preiswürdig. Die Perser sollten nicht außen vor bleiben und erhielten in einigen Listen das Privileg, den Palast des Kyros in Ekbatana zu den Sieben Weltwundern zählen zu dürfen. Subjektiv betrachtet, hätte wohl auch der Palast von Persepolis eine Chance haben müssen. Doch da war der Bauherr Dareios I. gewesen, mit dem die Griechen politisch keine guten Erfahrungen gemacht hatten. Die Römer dürfte bei einem Blick auf die kursierenden Weltwunderlisten das Fehlen von römischen Bauwerken gestört haben. Dabei waren doch beispielsweise ihre Aquädukte wahre Wunderwerke, und auch Bauten wie das Kolosseum in Rom oder das Theater in Orange konnten es im Hinblick auf die architektonische Qualität ohne

Weiteres mit den Weltwundern der Ägypter, Babylonier und Griechen aufnehmen. Aber es dauerte bis ins 6. Jahrhundert n. Chr., bis die Römer endlich zu ihrem Recht kamen. Der berühmte Schriftsteller und Mönch Cassiodor erklärte gleich die gesamte Stadt Rom zu einem Weltwunder. Das war allerdings weniger eine Hommage an das einstige Zentrum eines Weltreiches als vielmehr eine Verbeugung vor der Bedeutung der Stadt in der christlichen Heilsgeschichte. Dabei wich Cassiodor von der bis dahin geltenden Praxis ab, sich an die Zahl Sieben zu halten, indem er Rom zum „achten Weltwunder“ machte.

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Die Hagia Sophia in Konstantinopel gehörte zu den christlichen Weltwundern. Beeindruckt waren die Menschen vor allem von der mächtigen Kuppel.

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Die Christen waren überhaupt sehr aktiv, als es darum ging, auch biblische oder christliche Bauten und Denkmäler in den Reigen der Weltwunder zu integrieren. Die Arche Noah fand nun ebenso Berücksichtigung wie der berühmte Tempel der Juden, den Salomon einst auf dem Tempelberg in Jerusalem errichtet hatte und der im 6. Jahrhundert v. Chr. von den Persern zerstört worden war. Fehlen durfte auch nicht der prächtigste Kirchenbau der Christenheit. Die Hagia Sophia in Konstantinopel, die Kirche der „Heiligen Weisheit“, war in der Tat ein Meisterwerk. Kaiser Justinian hatte sie im 6. Jahrhundert n. Chr. auf den Fundamenten von einigen Vorgängerbauten errichten lassen. Zu den besonderen Attraktionen dieser an Attraktionen nicht armen Kirche zählte die imposante Kuppel mit einem Durchmesser von 33 Metern. Ein byzantinischer Lobredner vergaß nicht, auf die therapeutische Wirkung dieses späten Weltwunders hinzuweisen, indem er seinen Eindruck beim Betreten des Gotteshauses wiedergab: „Beim Anblick des Innenraumes löste sich die Besorgnis von allen Herzen, während die Sonne mit ihrem Licht die Herrlichkeit des Tempels erstrahlen ließ.“ Angesichts der Menschenmassen, die sich heute tagtäglich durch die Hagia Sophia wälzen, lässt sich diese Wirkung allerdings nicht mehr direkt nachvollziehen. We l t w u n d e r d e r M o d e r n e

Die Suche nach den Weltwundern hat auch in der Gegenwart Konjunktur. Welches sind wohl die bedeutendsten Bauwerke der Moderne? Naturgemäß besteht dabei, wie bereits in der Antike, keine Einigkeit. Nicht einmal das Votum seriöser Institutionen wie der American Society of Civil Engineers verfügt über so viel Autorität, zu einem verbindlich und allgemein akzeptierten Kanon zu gelan-

gen. 1995 erklärte die Gesellschaft die folgenden Bauwerke zu den modernen Sieben Weltwundern: den CN Tower in Toronto, die Deltawerke in den Niederlanden, das Empire State Building in New York, den Eurotunnel unter dem Ärmelkanal, die Golden Gate Bridge in San Francisco, den Itaipu-Damm in Brasilien und Paraguay und den Panama-Kanal. Danach wiederholte sich das bereits aus der Antike bekannte Spiel. Man fühlte sich herausgefordert und organisierte neue Abstimmungen, die selbstverständlich zu ganz anderen Ergebnissen führten. Konfusion ergab sich auch daraus, dass die Initiatoren solcher Rankings sich nicht über die Kriterien der Auswahl einig waren. In weiteren Listen stehen daher historische neben modernen Bauwerken. Die Oper in Sydney befindet sich in Gesellschaft der Christus-Statue in Rio de Janeiro, Schloss Neuschwanstein in Gesellschaft des Kreml in Moskau. Irgendwie schaffen es auch die Pyramiden von Gizeh, immer dabei zu sein. Aber das muss man nicht wirklich kritisieren, entspricht dieses Verfahren doch ganz der antiken Vorgehensweise. Immerhin standen auf der Liste des Antipatros von Sidon die ägyptischen Pyramiden in trauter Eintracht mit dem Koloss von Rhodos – Bauwerke, die gut 2300 Jahre auseinanderlagen. Und ebenfalls 2300 Jahre ist es, von heute zurückgerechnet, her, dass sich kluge Köpfe in Griechenland auf die Suche nach den bewundernswertesten Gebäuden und Monumenten der Antike machten – mit dem positiven und absolut zu begrüßenden Effekt, dass auch jene berühmten Bauwerke der Antike niemals in Vergessenheit geraten sind, von denen heute nur noch sehr wenig oder gar nichts mehr zu sehen ist.

DIE PYRAMIDEN VON GIZEH

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Lauter falsche Namen

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Zwischen 2551 und 2528 v. Chr. regierte in Ägypten der Pharao Chnum Chufu. Nur die wenigsten kennen ihn heute allerdings unter diesem Namen, obwohl es sein richtiger Name gewesen ist. Vertrauter ist die Bezeichnung Cheops, mit der allerdings der Pharao selbst sicher nichts hätte anfangen können. Schließlich sprachen die alten Ägypter Ägyptisch und nicht Griechisch. Aber die meisten alten Ägypter sind heute unter jenen Namen bekannt, die ihnen die alten Griechen gegeben haben, nachdem sie sich ab dem 6. Jahrhundert v. Chr. für das Zauber- und Wunderland am Nil zu interessieren begannen. Von großem Einfluss war in dieser Beziehung der griechische Schriftsteller Herodot. Der Historiker aus Halikarnassos (dem heutigen Bodrum im Südwesten der Türkei) ist derjenige gewesen, der im 5. Jahrhundert v. Chr. das alte Ägypten für Europa entdeckt hat. Er schrieb eigentlich über die Kriege der Griechen gegen die Perser zu Beginn des 5. Jahrhunderts v. Chr. Doch da Ägypten zu dieser Zeit Teil des riesigen persischen Reiches war, nutzte er im 2. Buch seiner Historien die Gelegenheit, alles über das alte Ägypten zu schreiben, was damals bekannt war oder was er auf eigenen Reisen durch das Land der ehemaligen Pharaonen in Erfahrung gebracht hatte. Und das war nicht wenig – denn Herodot nahm seine Aufgabe sehr ernst und deckte sich bei den Einheimischen, vor allem bei den historisch kenntnisreichen Priestern, mit Informationen ein. Könige aus der 4. Dynastie

So wusste Herodot natürlich auch viel über die Pyramide des Chnum Chufu, den er Cheops nannte. Und er kannte

sich auch bei den Königen aus, die in der Nachbarschaft zur Cheops-Pyramide ihre eigenen monumentalen Grabmäler errichtet hatten. Das waren zum einen Chaefre, dessen Namen die Griechen zu Chephren umformten, und zum anderen Menkawre, aus dem die Griechen Mykerinos machten. Alle drei Pharaonen stammten aus der Zeit des sogenannten Alten Reiches. Damals, in der Frühphase Ägyptens, war Memphis an der Südspitze des Nildeltas Hauptstadt des Reiches und Residenz der Könige. Die drei Pyramiden-Pharaonen stammten alle aus der 4. Königsdynastie. Chephrens Herrschaft begann bald nach dem Tod des Cheops, er regierte zwischen 2520 und 2494 v. Chr. Mykerinos, der Dritte im Bunde, stand von 2490 bis 2471 v. Chr. an der Spitze des ägyptischen Staates. Funktion der Pyramiden

Die Pyramiden waren die Gräber der Könige. Das war den Griechen und später auch den Römern bekannt, muss aber hier betont werden, weil diese so eigentümlichen Bauwerke in der Neuzeit (bis in die Gegenwart hinein) zu den abenteuerlichsten Spekulationen geführt haben. Diese kann man mit gutem Wissen in der an Kuriosa nicht eben armen historischen Requisitenkammer ablagern. Pyramiden als Grabstätten der Könige waren erst kurz vor den Herrschern der 4. Dynastie aufgekommen. Als Prototyp darf die Stufenpyramide gelten, die der grandiose Architekt Imhotep bei Sakkara (westlich von Memphis, südlich von Gizeh) für den König Djoser erbaute. Hier ist erstmals das pyramidale Bauprinzip zum Tragen gekommen. Aus dieser Stufenpyramide entwickelte sich dann bei den Königsgräbern von Gizeh die klassische Pyramide – errichtet auf einer quadratischen Grundfläche, an vier Seiten spitz nach oben zulaufend. Dafür, dass man in der Mitte des 3. Jahrtausends v. Chr.,

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vor gut 4500 Jahren, auf die Idee kam, den Königen eine solche opulente Grabstätte zu verschaffen, bieten sich zwei Erklärungen an. Zum einen war es ein Dokument der besonderen Stellung des Königs, die ihn deutlich aus der Reihe der Normalsterblichen heraushob. Zum anderen stand dahinter die Vorstellung von der religiösen Bedeutung des Königtums, wie sie im Alten Reich vorherrschte. Der König steigt zum Himmel, wo er sich mit dem Sonnengott Re vereinigt. Die Pyramide dient dabei, wie aus den in Sakkara entdeckten Pyramidentexten hervorgeht, als Leiter auf dem Weg in den Himmel. Die spitz nach oben hin zulaufende Gestalt der Pyramiden symbolisiert die Strahlen der Sonne.

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der Arbeit gewesen seien“, und dies „jeweils drei Monate lang“. Zehn Jahre soll es nach Herodots Angaben allein gedauert haben, bis „das geplagte Volk die Straße gebaut hatte, auf der man die Steine entlangzog“. Hier gilt es zu bedenken, dass man in der Antike gern die Zahl 100 000 verwendete, wenn man die Vorstellung von „sehr viel“ oder „sehr hoch“ vermitteln wollte. Wörtlich ist diese Metapher nicht zu nehmen. Realistischer scheint eine Zahl von ungefähr 5000 Bauarbeitern zu sein. Und Sklaven, Zwangsarbeiter und Kriegsgefangene dürften zwar auch zum Einsatz gekommen sein, das Gros der Arbeiter bestand aber wohl eher aus freien Bauern, die für diese Tätigkeit vom Pharao und seiner Administration rekru-

Schlechte Presse für Cheops

Nach den Angaben Herodots war Cheops, der Erbauer und „Insasse“ der größten Pyramide von Gizeh, ein äußerst unsympathischer Herrscher. Lange Zeit sei es den Ägyptern gut gegangen, „dann aber sei Cheops ihr König geworden und habe viel Unheil angerichtet“. Das Sündenregister des Königs ist lang, es beginnt mit der Schließung aller Tempel und endet mit der Anordnung, dass alle Ägypter seine Arbeitskräfte sein sollten. Von hierher rührt der Mythos von den Tausenden von Sklaven, die in mühevoller, beschwerlicher, unmenschlicher Fronarbeit gezwungen worden seien, das sepulkrale Denkmal des Königs Cheops zu bauen, bis es die schwindelerregende Höhe von 146,6 Metern erreichte (nur zehn Meter kleiner als der Kölner Dom). Dabei ist nicht davon auszugehen, dass die Cheops-Pyramide allein mit menschlicher Muskelkraft aus dem Boden gestampft und in ihre kunstvolle architektonische Form gebracht worden ist. Diese Annahme geht auf den Bericht Herodots zurück, der davon spricht, dass „immer an die 100 000 Menschen bei

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IE PYRAMIDEN VON GIZEH

Sie sind die ältesten und die am besten erhaltenen unter jenen Monumenten, denen schon die Antike das Prädikat „Weltwunder“ zuerkannt hat. An ihrer Berühmtheit haben die drei Pyramiden von Gizeh bis heute nichts eingebüßt. Wie kaum ein anderes Bauwerk repräsentieren sie die Architektur des alten pharaonischen Ägypten. Die Pyramide des Königs Cheops nimmt dabei eine Sonderstellung ein: Sie ist die größte von allen dreien und stellt damit die Grabdenkmäler der Pharaonen Chephren und Mykerinos zwar nur knapp, aber verdient in den Schatten.

tiert wurden. Die andere Version verdankt ihre Entstehung dem (falschen) Bild von einem angeblich tyrannischen Regime der alten Pharaonen, das auch genährt wurde von den alttestamentarischen Berichten über das Schicksal der Israeliten, die Moses später aus der „ägyptischen Knechtschaft“ befreit haben soll. In Wirklichkeit waren diese Israeliten eher, wie man es heute formulieren würde, Arbeitsmigranten, die von den guten Beschäftigungsmöglichkeiten im reichen Nachbarland angelockt wurden. Während der Zeit, in der der Nil, wie jedes Jahr, über die Ufer trat und die Bauern die Felder nicht bewirtschaften konnten, dürften sich noch mehr Menschen auf der Großbaustelle „Cheops-Pyramide“ getummelt haben, um in einer grandiosen Gemeinschaftsarbeit dem König ein Denkmal für die Ewigkeit zu setzen. Schließlich glaubten sie auch in eigener Sache tätig zu sein, denn sie waren der festen Überzeugung, dass der Pharao für sie dann im Himmel ein gutes Wort einlegen würde.

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Wie man eine Pyramide baut

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Nach modernen Berechnungen mussten beim Bau der Cheops-Pyramide nicht weniger als zwei Millionen Steine von jeweils zwei bis drei Tonnen Gewicht bewegt werden. Um diese Mammutaufgabe zu bewältigen, waren aber keine magischen Kräfte und war schon gar nicht außerirdische Assistenz notwendig. Man darf sich den technischen Standard im Ägypten des Alten Reiches eben nicht zu primitiv vorstellen. Vermutlich setzten die Ingenieure und Architekten beim Bau der großen Pyramiden Erdrampen und Aufschüttungen ein, mit denen die in benachbarten Werkstätten vorbereiteten Steinblöcke nach oben transportiert wurden. So entstand Schicht um Schicht, bis die vorgegebene Höhe erreicht war. Strittig ist allerdings die Frage, wie die Arbeiter die schweren

Steinblöcke auf den Rampen in Bewegung setzten. Möglicherweise kamen dabei fahrbare Untersätze, vergleichbar mit Schlitten, zum Einsatz. Das Innenleben einer Pyramide

Im Innern dieser Pyramide, die außen mit einer Verkleidung aus glattpoliertem, feinen Tura-Kalkstein versehen war, befand sich die Grabkammer des verstorbenen Königs. Vor allem kam es darauf an, den Pharao nicht in seiner Ruhe zu stören. Eine Gefahr dieser Ruhe waren zu allen Zeiten die Grabräuber, die es in beklagenswertem

Modernen Berechnungen zufolge mussten beim Bau der Cheops-Pyramide nicht weniger als zwei Millionen Steine von jeweils zwei bis drei Tonnen Gewicht bewegt werden.

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Der große Sphinx befindet sich (heute stark ver wittert und zerfallen) am Fuß des Plateaus, das die Plattform für die drei Pyramiden von Gizeh bildet. Die Gesamtlänge des Tierkörpers beträgt 72,55 Meter, die Höhe über 20 Meter, die Rückenhöhe 12,40 Meter. Man geht davon aus, dass der Sphinx zum Grabkomplex des Chephren gehörte und seine Gesichtszüge nach dem Ebenbild dieses Pharaos gestaltet wurden.

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Mangel an Ehrfurcht und Pietät darauf abgesehen hatten, die wertvollen Grabbeigaben an sich zu reißen. So musste aus der Pyramide ein Tresor werden, der den König vor jedwedem Besuch abschirmte. Ursprünglich war, wie die archäologischen Forschungen gezeigt haben, an eine unterirdische Grabkammer gedacht worden. Doch dann änderte man die Planungen und entschloss sich, die letzte Ruhestätte des Königs mitten in der großen Pyramide zu platzieren. Zur Grabkammer führte ein leicht ansteigender Korridor, an den sich eine 47 Meter lange Galerie anschloss. An deren Ende befand sich die Kammer, in der einst der Sarkophag mit der Mumie des Cheops stand. Von Grabbeigaben fanden die Archäologen später keine Spur, sodass man annehmen muss, dass der Erfindungsreichtum altägyptischer Grabräuber doch größer gewesen ist als die Raffinesse der Ingenieure, mit der sie die Anlage zu schützen versuchten. Doch hatten die Erbauer durch die Konstruktion von fünf übereinander liegenden leeren Räumen dafür Sorge getragen, dass der ungeheure Druck, der von dem massiven Bau ausging, die Grabkammer nicht etwa zum Einsturz brachte. Da man bei den alten Ägyptern aber nie sicher sein kann, dass hinter ihren baulichen Maßnahmen nicht doch vor allem religiös-kultische Absichten standen, darf man auch die Möglichkeit nicht außer Acht lassen, dass die von der Sargkammer abzweigenden Luftschächte dazu dienten, dem verstorbenen Herrscher den Weg zu den Korridoren des Himmels zu ebnen.

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Die Pyramide des Chephren

„König sei dieser Cheops 50 Jahre lang gewesen, sagen die Ägypter, und nach seinem Tod habe sein Bruder Chephren die Herrschaft übernommen.“ So beschreibt Herodot den Übergang des Königtums von Cheops auf Chephren. Weder war Chephren der Bruder des Cheops (sondern dessen zweiter Sohn) noch dessen direkter Nachfolger. Richtig ist hingegen die Angabe des griechischen Historikers, dass er eine Pyramide gebaut habe, „die freilich in den Ausmaßen derjenigen des Cheops nicht gleichkam“. Nach eigenen Angaben will Herodot das persönlich nachgemessen haben. Sollte er richtig gemessen haben, hätte er auf die wissenschaftlich nachgewiesene Höhe von 143 Metern kommen müssen. Heute ragt sie allerdings nur noch 136,5 Meter in den meist wolkenlosen, oft auch versmogten Himmel südlich der Millionen-Metropole Kairo. Auch die Cheops-Pyramide hat von ihrer ursprünglichen Höhe ein paar Meter eingebüßt. Neun Meter gingen verloren, als im 12. Jahrhundert der Sultan Saladin der Versuchung nicht widerstehen konnte, die Spitze der Pyramide als Steinbruch für den Bau der Zitadelle von Kairo zu verwenden. Die Chephren-Pyramide von Gizeh hingegen ist heute auf den ersten Blick zu erkennen, weil sich an der Spitze ein Teil der Verkleidung aus Kalkstein erhalten hat. Die Pyramide des Mykerinos

„Auch Mykerinos hinterließ eine Pyramide, eine viel kleinere als sein Vater.“ Diese Angabe Herodots ist zum Teil richtig, zum Teil falsch. Mykerinos war nicht der Sohn,

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sondern der Enkel Chephrens. Aber die dritte Pyramide von Gizeh ist tatsächlich die kleinste, und trotz ihrer auch noch imposanten einstigen 66,5, heute 62 Meter Höhe wirkt sie gegenüber den Nachbar-Pyramiden fast winzig. Über die Gründe für diesen Unterschied kann man nur rätseln. Bescheidenheit und Finanznot dürften ausscheiden. Ein Pharao war in dieser Zeit nicht bescheiden, und die Kassen waren auch noch gut gefüllt. Vielleicht spiegelt sich hier ein Wandel im Jenseitsglauben wider. Pyramidengräber kamen jedenfalls bald aus der Mode. Offenbar hängt dies auch mit der Schwächung des Königtums gegen Ende des Alten Reiches zusammen. Nach der 8. Dynastie war es mit der Einheit des Reiches zunächst einmal vorbei. Im Neuen Reich, das im 16. Jahrhundert v. Chr. mit der 18. Dynastie einsetzte, wurde das „Tal der Könige“ bei Theben, der neuen Residenzstadt der Pharaonen, zur Grablege verstorbener Herrscher. Jetzt wurden die Pharaonen, wie Ramses II. und der zu Lebzeiten allerdings mehr als unbedeutende Tutenchamun, der seinen Ruhm nur dem Zufall verdankt, dass die professionellen Grabräuber sein Grab übersehen haben, in Felsgräbern zur letzten Ruhe gebettet. Eine Pyramide in Rom

Gänzlich an Faszination hatte die Pyramide dennoch nicht verloren. Im Neuen Reich kopierten reiche Privatleute die alten Königsgräber, indem sie ihre Felsgräber mit kleinen Pyramiden schmückten. Eine Renaissance erlebten die Pyramiden in der frühen römischen Kaiserzeit, als Ägypten Teil des römischen Weltreiches geworden war. Ägypten kam damals bei den Angehörigen der Oberschichten groß in Mode. Eine Wirkung dieser Welle kann man heute noch in Rom bewundern. Dort steht, an dem alten, nach Ostia führen-

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FUNKTION:

Grabstätten der Pharaonen Cheops, Chephren und

Mykerinos aus der 4. Dynastie S TA N D O R T : BAUZEIT:

bei Gizeh in Ägypten

um die Mitte des 3. Jahrtausends v. Chr.

BEDEUTUNG:

Wunder an Größe im buchstäblichen Sinn –

die Cheops-Pyramide erreichte eine Höhe von 146,6 Metern E R H A L T U N G S Z U S TA N D :

einziges fast komplett erhaltenes

Weltwunder der Antike

Mamelukken gerichteten „Ägyptischen Expedition“ vor den Pyramiden. Vor der Schlacht gegen die Armee der Mamelukken sprach er zu seinen Soldaten die berühmten Worte: „Denkt daran, dass von diesen Monumenten 40 Jahrhunderte auf euch herabblicken!“ Napoleon stellte mit diesem Ausspruch nicht nur seinen Sinn für Geschichte unter Beweis. Dazu lag er mit seiner Zeitangabe auch noch fast richtig. Völlig korrekt wäre es gewesen, wenn er von 43 Jahrhunderten gesprochen hätten – denn so lange stand damals schon die Cheops-Pyramide. Moderne Forschungen

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den Stadttor, die Pyramide des Römers Cestius, der gegen Ende des 1. Jahrhunderts v. Chr. Gefallen daran fand, sich ein Miniatur-Grabmal à la Cheops, Chephren und Mykerinos errichten zu lassen. Allerdings gab es auch römische Kulturbanausen, die den Versuch unternahmen, die Bedeutung der Pyramiden bewusst abzuwerten. Plinius der Ältere warf den Pharaonen im 1. Jahrhundert n. Chr. Prahlsucht vor. Nicht viel später verstieg sich der Autor Frontinus zu der Behauptung, die Pyramiden seien im Vergleich zu römischen Wasserleitungen nutzlos. Aber als Direktor der stadtrömischen Wasserwerke musste er so etwas wohl sagen, und eigentlich war seine Aussage ein Kompliment für die Pyramiden.

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Franzose mit Geschichtssinn

Die drei Weltwunder von Gizeh, wuchtig und massiv, wie sie gebaut waren, überlebten die Zeiten und blieben stumme Zeugen einer großen Ära der ägyptischen Geschichte. Und ebenso stumm verfolgten sie die turbulenten Ereignisse, die sich in Ägypten abspielten. 1798 stand Napoleon, der kleine Franzose mit den großen Ansprüchen, im Rahmen seiner gegen die Engländer und die

Ein paar Jahrzehnte später begann dann die Geschichte der systematischen Erforschung der Pyramiden. Pionierarbeit leistete dabei der englische Oberst Richard William Howard Vyse. 1835 kam er nach Ägypten und widmete sich intensiv der großen Cheops-Pyramide. In die Liste der um das Studium der Pyramiden verdienten Forscher trug sich im 19. Jahrhundert auch der Berliner Professor Richard Lepsius ein. Mit der vehementen Unterstützung des preußischen Königs Friedrich Wilhelm IV. kümmerte er sich 1842, neben vielen anderen Aufgaben, auch um die Vermessung der Pyramiden. Von epochaler Bedeutung war die 1881 erfolgte Entdeckung der Pyramidentexte von Sakkara durch den französischen Forscher Gaston Maspéro. Sie trugen erheblich zum Verständnis des religiösen Gehalts der Pyramidenbauten bei. Und doch sind die Pyramiden von Gizeh bis heute Gegenstand heftigster Diskussionen. Wer etwas über die Pyramiden sagt, was bisher noch nicht gesagt wurde, oder wer etwas über die Pyramiden schöner sagt, als es bisher gesagt wurde, darf sich des öffentlichen Interesses sicher sein. Nach 45 Jahrhunderten ist dies nicht die geringste Anerkennung für die antiken Konstrukteure dieser Bauwerke.

DIE HÄNGENDEN GÄRTEN DER SEMIRAMIS IN BABYLON

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miramis war eine assyrische Königin. Allerdings hieß sie nicht wirklich Semiramis. So nannten sie die Griechen, die sich seit den Tagen der Perserkriege, also seit dem beginnenden 5. Jahrhundert v. Chr., intensiver mit der Welt des Orients zu beschäftigen begannen. Ihr richtiger Name lautete Schammuramat. Gelebt hat sie Ende des 9. bzw. Anfang des 8. Jahrhunderts v. Chr. Sie war die Frau des assyrischen Herrschers Schamschiadad V., der von 824 bis 811 v. Chr. regierte, und führte zeitweise für ihren minderjährigen Sohn Adadnirari III. die Regierungsgeschäfte, bis der Sohn selbst die Herrschaft übernahm, die er von 810 bis 782 v. Chr. ausübte. Angesichts dieser historischen Fakten stellt sich die Frage, wie die Assyrerin, deren Wohnsitze, wie es sich für eine Assyrerin gehörte, die assyrischen Residenzstädte Assur und Ninive gewesen waren, dazu gekommen sein soll, ausgerechnet in Babylon eine später weltberühmte Gartenanlage installiert zu haben. Rein theoretisch kann dies natürlich nicht ausgeschlossen werden, denn zur Zeit der Schammuramat stand die Euphrat-Metropole unter assyrischer Herrschaft. Jedoch erweist sich bei genauerem Hinsehen die Angelegenheit vor allem von der Quellenseite her als ziemlich problematisch. Fürsorglicher Ehemann

Kein einziger der erhaltenen antiken Autoren weist die „Hängenden Gärten“ ausdrücklich der Semiramis zu. Jedoch muss es eine solche Zuweisung in der Antike gegeben haben, denn der griechische Historiker Diodor sah sich im 1. Jahrhundert v. Chr. dazu veranlasst, die Urheberschaft der Semiramis in das Reich der Fabel zu ver-

weisen. Die „Hängenden Gärten“, so der gewöhnlich gut informierte Schriftsteller, „stammen nicht von Semiramis, sondern von einem der späteren Könige von Syrien, den dieser einer seiner Nebenfrauen zuliebe anlegte. Diese soll persischer Abstammung gewesen sein und voller Sehnsucht nach ihren heimatlichen Bergwiesen den König gebeten haben, mit Hilfe der Gartenbaukunst die Eigenart persischer Landschaft nachzuahmen.“ Mit der heimwehkranken Nebenfrau eines späteren syrischen Königs ist der Kreis potenzieller Kandidaten allerdings noch nicht erschöpft. Der jüdische Historiker Flavius Josephus schreibt im 1. Jahrhundert n. Chr., basierend wohl auf Angaben des aus Babylon stammenden, in das 3. Jahrhundert v. Chr. zu datierenden Schriftstellers Berossos, die Anlage der Gärten dem babylonischen König Nebukadnezar II. zu: „Als Nebukadnezar Babylon so befestigt und mit prächtigen Toren versehen hatte, erbaute er einen mit dem Palast seines Vaters zusammenhängenden zweiten Palast, dessen Höhe und glanzvolle Ausstattung zu beschreiben ich mir wohl ersparen kann. Doch darf nicht unerwähnt bleiben, dass er trotz seiner gewaltigen Ausdehnung schon in 15 Tagen vollendet war.“ Dann kommt der Autor konkret auf die Gärten zu sprechen: „Bei diesem Palast ließ er aus Steinen Anhöhen errichten, denen er die Gestalt von Bergen geben und die er mit allerlei Bäumen bepflanzen ließ. Ferner legte er einen sogenannten Hängenden Garten an, weil seine Gattin, die aus Medien stammte, danach verlangte, denn ein solcher Garten war bei ihr zu Hause üblich.“ Wieder kommt, wie bei Diodor, die nostalgische Sehnsucht einer medischen Perserin nach ihrer Heimat ins Spiel, sodass sich der Anfangsverdacht, dass jedenfalls dieser Teil der Erzählung historisch korrekt ist, sich allmählich zur Gewissheit verdichtet. Tatsächlich war Nebukadnezar mit

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Amiti, der Tochter des medischen Königs Astyages, verheiratet. Bei dieser Ehe dürfte ihn allerdings nicht allein große Zuneigung, sondern auch politisches Kalkül getrieben haben, denn die Meder waren für den Monarchen aus Babylon ein wichtiger Bündnispartner. Königlicher Städtebauer

Sich Nebukadnezar II. als wirklichen Initiator der „Hängenden Gärten der Semiramis“ vorzustellen, ist kein abwegiger Gedanke. Der König, der von 605 bis 562 v. Chr. regierte, brachte Babylon nach dem Ende der AssyrerHerrschaft machtpolitisch wieder auf Kurs. Ständig war der König mit seinen Armeen unterwegs, um den Ruhm und die Macht Babylons zu mehren. Zugleich war er von dem Bestreben geleitet, aus seiner Residenzstadt ein urbanes Schmuckstück zu machen. So gestaltete er die Stadtmauern von Babylon nicht allein zu einer unüberwindlichen Festung aus, sondern investierte auch viel Phantasie und Energie in ihre ästhetische Ausformung. Das Tor der Kriegs- und Liebesgöttin Ischtar (siehe S. 11) legt davon beredtes Zeugnis ab. Würdiger Rahmen

Viel Sorgfalt widmete er weiterhin der Anlage seines Palastes, von dem es heute allerdings kaum noch archäologische Spuren gibt. Genauer gesagt setzte Nebukadnezar hier die Arbeiten fort, die von seinen Vorgängern begonnen worden waren. So bestand der Komplex der königlichen Paläste am Ende aus vier Teilen mit einer klaren funktionalen Zuordnung. Der erste Hof war mit seinen Gebäuden wahrscheinlich für die königliche Garde reserviert. Im zweiten Hof waren die Bürokraten und Beamten des Königs tätig. Der dritte Hof führte zu dem riesigen Thronsaal, dessen Ausmaße von 52 mal 17 Metern mehr

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als geeignet waren, Besuchern einen gehörigen Respekt vor dem Monarchen einzuimpfen. Vom vierten Hof aus gelangte man schließlich in die privaten Wohnräume des Königs. Nach den übereinstimmenden Angaben der antiken Quellen befanden sich die „Hängenden Gärten“ in der Nähe des königlichen Palastes in Babylon bzw. waren vielleicht sogar ein Teil der Palastanlage. Von daher liegt die Vermutung nahe, dass es tatsächlich der emsige Palast- und Mauerbauer Nebukadnezar II. gewesen ist, dem die Ehre gebührt, als Architekt eines der Sieben Weltwunder zu gelten. Vorstellen darf man sich die Gärten, gemäß den teilweise sehr ausführlichen Beschreibungen bei den antiken

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AS RÄTSELHAFTE WELTWUNDER

In jedem Verzeichnis der antiken Weltwunder haben sie ihren festen Platz. Doch keiner weiß genau, wie die berühmten „Hängenden Gärten der Semiramis“ ausgesehen haben, wo sie standen, wer sie gebaut hat. Denn auch die Gestalt der Semiramis – ein Name wie aus 1001 Nacht – ist durch einen Nebel von Legenden und Fabeln verhüllt. Selbst die archäologische Forschung musste bislang bei der Suche nach dem rätselhaftesten aller Weltwunder die Fahnen strecken.

Autoren, als eine hohe, mehrfach abgestufte, quadratische, auf Gewölben ruhende Terrassenanlage. Das heißt: Die „Hängenden Gärten“ waren natürlich nicht wirkliche „hängende“ Gärten in dem Sinne, dass sie etwa in der Luft gehangen hätten. Dank der geschickten Terrassierung konnte bei den Betrachtern aber der Eindruck entstehen, dass es sich um eine Art frei schwebende Anlage handelte.

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Der Bericht eines Fachmanns

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Besonders detailliert sind die Angaben bei Diodor, der sogar mit genauen Maßangaben über die topographische Ausdehnung aufwarten kann: „Der Park ist an jeder Seite etwa vier Plethren lang (ein Plethron entspricht etwa 29,5 Metern) und zieht sich wie Bergterrassen über mehrere Stockwerke hinauf, sodass das Ganze wie ein Theater aussieht. Unterhalb von diesen ansteigenden Lagen befanden sich die Gänge, die die Last der Gartenanlagen zu tragen hatten, jeder entsprechend der Neigung des Anstiegs etwas höher als der vorhergehende. Der oberste von ihnen war 50 Ellen hoch und trug auf sich die obersten Teile des Parks, etwa in gleicher Höhe mit der Brustwehr der Mauer. Die Stützmauern, die man für hohe Beträge errichtet hatte, waren 22 Fuß, ihre Zwischenräume nur zehn Fuß breit. Die Decke bestand aus steinernen Quadern, die einschließlich des Spundes je 16 Fuß lang und vier Fuß breit waren. Das Dach über diesen Quadern hatte zuerst eine Schicht aus Schilfrohr mit viel Asphalt, darüber eine doppelte aus gebrannten Ziegeln, die durch Gips verbunden waren. Eine dritte Schicht bildeten Bleiplatten, um zu verhindern, dass Feuchtigkeit von der darauf geworfenen Erde in die Tiefe hinunter dringt. Obenauf lag eine Schicht Erde, tief genug auch für die Wurzeln größter Bäume. Der Boden selbst war geeb-

Dank der geschickten Terrassierung konnte bei den Betrachtern aber der Eindruck entstehen, dass es sich um eine frei schwebende Anlage handelte.

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Dank guter Bewässerung wuchsen die Pflanzen üppig.

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net und mit vielerlei Bäumen bepflanzt, die in ihrer Größe und sonstigen Schönheit die Betrachter in ihrer Seele erfreuen mussten. Die Gänge, die das Licht dadurch erhielten, dass sie voneinander abgesetzt waren, hatten zahlreiche verschiedenartige Räumlichkeiten für den Aufenthalt des Königs. Nur in einem dieser Räume, und zwar in der obersten Lage, befanden sich Öffnungen und Maschinen zum Heraufholen des Wassers. Mit ihrer Hilfe wurde Wasser aus dem Fluss nach oben gebracht, ohne dass die Leute draußen etwas bemerkten.“ Noch ein Fachmann

Diese Beschreibung macht zum einen deutlich, aus welchen Gründen die „Hängenden Gärten der Semiramis“, die eigentlich die „Hängenden Gärten des Nebukadnezar“ bzw. seiner Gattin Amiti heißen müssten, in die Prominentenriege der Sieben Weltwunder eingeordnet worden sind. Größe, Bauart, Ästhetik und modernster

technischer Standard bei der Bewässerung führten zu diesem architektonischen Ritterschlag. Zum anderen lässt die Darstellung Diodors erahnen, dass die Position des königlichen Chefgärtners zu jenen Tätigkeiten im Reich des Nebukadnezar zählte, die mit dem größten Risiko behaftet gewesen sind. Denn eine solche Parkanlage angemessen zu hegen und zu pflegen, dürfte trotz der fortschrittlichen Einrichtungen bei der Bewässerungstechnik eine Aufgabe mit Sisyphus-Charakter gewesen sein. Der aus Byzanz stammende Autor Philon, einer der wichtigsten antiken Informanten in Sachen Weltwunder, hielt, neben der botanischen Gestaltung, gerade die fortschrittliche Art der Bewässerung für ein besonderes Qualitätsmerkmal der Hängenden Gärten von Babylon. Und es lohnt sich, seine Ausführungen im Gesamtzusammenhang zu verfolgen: „Der sogenannte Hängende Garten hat seinen Bewuchs überirdisch und wird so in der Luft bebaut, wobei er mit den Wurzeln der Bäume wie ein Dach von oben den gewachsenen Erdboden überdeckt. Unten sind steinerne Säulen aufgestellt, sodass der ganze Ort durch die Pfeiler unterirdisch ist. Auf den Pfeilern liegen Palmen als Querbalken, jede für sich, und lassen jeweils nur einen ganz engen Zwischenraum. Dieses Holz fault als einziges von allen nicht. Befeuchtet und belastet wölbt es sich nach oben, und es nährt die Triebe der Wurzeln, indem es die Wurzelknoten von außerhalb zu sich in seine eigenen Lücken aufnimmt. Auf diese Querbalken ist viel tiefe Erde aufgeschüttet, und schließlich sind Bäume mit breiten Blättern und Gartenbäume gepflanzt, auch vielerlei Blumen aller Art – also alles, was anzuschauen am erfreulichsten und zum Genuss am angenehmsten ist.“ Und dann kommt Philon auf die Bewässerung zu sprechen: „Die Zufuhr von Wasser, das Quellen an höher gelegenen

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Orten schütten, erfolgt teilweise, indem es in geradem Lauf bergab fließt, teilweise, indem es, in Schnecken hinaufgedrückt, nach oben läuft. Dabei fließt es durch mechanische Kräfte um die Schraubengänge der Maschinen. Es wird in zahlreiche große Bassins geschüttet und bewässert den ganzen Garten, tränkt die Pflanzenwurzeln in der Tiefe und hält das Ackerland feucht. Aus diesem Grund sind die Wiesen immerblühend und die Baumblätter, die an zarten Zweigen wachsen, genährt vom Tau und umweht vom Wind. Indem nämlich die Wurzel unablässig durstlos gehalten wird, saugt sie ständig die vorüberlaufende Feuchte der Wasser auf. Und indem sie sich im unterirdischen Geflecht fest verklammert, bewahrt sie den hohen Wuchs der Bäume fest und sicher gegründet. Üppig und königlich“, schließt Philon seine Lobrede auf die Hängenden Gärten von Babylon ab, „ist das kunstvolle Werk, und besonders überwältigend ist, dass es die Arbeit des Landbauens sozusagen über die Köpfe der Betrachter aufhängt.“

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ecke, einen Komplex, den er für die „Hängenden Gärten“ hielt. Und tatsächlich gab es einige Indikatoren, die diese Auffassung zu stützen vermochten, wie unterirdische Gewölberäume, die möglicherweise zur antiken Bewässerungsanlage gehörten. Doch Klarheit besteht nicht, und andere Forscher haben sich für alternative Lokalisierungen ausgesprochen. Allerdings wird man nicht so weit gehen müssen, mit einem Teil der modernen Forschung anzunehmen, dass diese „Hängenden Gärten“ überhaupt nur eine Fiktion gewesen seien – weil man bis heute nichts von ihnen gefunden hat, weil die antiken Autoren erst sehr viel später (ab dem 4. Jahrhundert v. Chr.) die Gärten erwähnen und weil die Bewässerungstechnik, von der die Schriftsteller berichten, für die Zeit Nebukadnezars viel zu modern gewesen sei. Das sind wichtige Argumente, aber man darf einem Nebukadnezar, der immerhin auch eine Stadtmauer von nie gekanntem Ausmaß mit Schmuckstücken wie dem Ischtar-Tor baute, getrost zutrauen, dass er auch in Sachen Gartenkunst neue Maßstäbe setzte.

Archäologen in Erklärungsnot

Im Alten Orient gehörten prächtige Parkanlagen zur standesgemäßen Ausstattung eines königlichen Palastes. Die Gärten von Babylon aber haben allen anderen den Rang abgelaufen. Trotz der recht genauen Beschreibungen durch antike Autoren bleibt es eine schwierige Aufgabe, ihr Aussehen zu rekonstruieren. Denn archäologisch lässt sich von Nebukadnezars Park so gut wie nichts mehr nachweisen. Trotz aller Bemühungen fehlen eindeutige Befunde. Zwar glaubte Robert Koldewey, der verdiente Ausgräber von Babylon, zu dessen vielen Verdiensten auch die Wiederentdeckung des Ischtar-Tores gehört, den Gärten auf die Spur gekommen zu sein. So fand er in den Ruinen des Palastes, genauer: an dessen Nordost-

Terrassen prägten vermutlich die Hängenden Gärten.

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FUNKTION:

Gartenanlage

S TA N D O R T :

Babylon (im heutigen Irak)

BAUZEIT:

angelegt wahrscheinlich zu Beginn des 6. Jahrhunderts v. Chr.

BAUHERR:

vermutlich der babylonische König Nebukadnezar II.

BEDEUTUNG:

die terrassenförmige Parkanlage war Teil

des königlichen Palastes und verfügte über eine raffinierte Bewässerungstechnik AUSGRABUNG:

Robert Koldewey grub einen Komplex im

Nordostteil des Südpalastes aus, den er als Überrest der Hängenden Gärten interpretierte, was jedoch nicht erwiesen ist

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Das Märchen von Semiramis

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Semiramis allerdings hat in der Geschichte von den „Hängenden Gärten der Semiramis“ definitiv nichts zu suchen, und das Gleiche gilt für ihr historisches Pendant Schammuramat. Doch es hat einen guten Grund, dass die antiken Griechen den Namen Semiramis ins Spiel brachten. Denn mit diesem Namen verbanden die Griechen so viele Assoziationen, dass sie ihr auch zutrauten, die berühmten Gärten in Auftrag gegeben zu haben. Die Anregung dazu hatten die Griechen sicher aus dem Orient erhalten, wo ebenfalls viele – und immer phantasievoller werdende – Geschichten über Semiramis kursierten. Demnach war sie die Tochter der syrischen Göttin Derketo. Nach dem bekannten Muster der AussetzungsErzählungen wollte die Göttin ihr Kind loswerden, das aber mit Hilfe von Tauben und Hirten aufwuchs und zu voller Schönheit erblühte. Sie heiratet einen assyrischen

Militärführer, folgt ihm tapfer in den Krieg und wird Zeugin seiner kriegerischen Heldentaten. Damit ist aber mitnichten alles gut, denn nun lässt der assyrische König Ninos den Gatten der Semiramis töten und heiratet sie selbst. Als der königliche Ehemann stirbt, wird Semiramis seine Erbin. Zwar pflegt sie einen ausschweifenden Lebenswandel, ohne aber ihre herrscherlichen Pflichten zu vernachlässigen. Assyrische Armeen werden auf ihre Anordnung hin zum Erobern in ferne Regionen, bis hin nach Indien, geschickt. Dazu entwickelt Semiramis eine umfangreiche Bautätigkeit, auch in Babylonien (damit wurde in den Erzählungen die Verbindung zwischen Semiramis und den Gärten von Babylon hergestellt). Wieder einmal aber trifft sie ein Schicksalsschlag. Ihr eigener Sohn Ninyas zettelt eine Verschwörung an, die allerdings misslingt. Doch Semiramis hat nun keine Lust mehr zum Regieren. Als originäre Tochter einer Göttin wird sie zu den Göttern entrückt, während man sie auf Erden in der Gestalt einer Taube verehrt. In typischer Weise vereint die sagenhafte Geschichte der Semiramis orientalische Märchen- und Mythenstoffe mit griechischen Adaptionen und Ausschmückungen, zu denen auch die Urheberschaft der Königin für die Gärten in Babylon gehört. Diese sollte – jedenfalls bis auf Weiteres, denn das Thema „Hängende Gärten“ heizt nach wie vor den Ehrgeiz der Forscher an – für den babylonischen König Nebukadnezar II. reserviert bleiben.

DAS ARTEMISION VON EPHESOS

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Fatale Ruhmsucht

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der Artemis-Tempel von Ephesos im selben Jahr abbrannte, als in Makedonien der spätere Welteroberer Alexander geboren wurde, ist reiner Zufall. Davon darf man getrost ausgehen, auch wenn antike Fabrikanten von Legenden der Versuchung nicht widerstehen konnten, den Brand und die Geburt sogar in derselben Nacht stattfinden zu lassen. Was über das verhängnisvolle Feuer des Jahres 356 v. Chr. überliefert ist, hört sich abenteuerlich an, scheint aber authentisch zu sein. Offenbar handelte es sich um die ruchlose Tat eines Menschen, der an Größenwahnsinn und übersteigerter Ruhmsucht litt. Unter völligem Mangel an Respekt für ein Weltwunder zündete er den Tempel an, der daraufhin in Schutt und Asche lag. Unter der Folter gab er als Motiv an, er habe dieses wunderschöne Bauwerk zerstört, damit sich sein Name über den ganzen Erdkreis verbreite. Da aber wollten ihm die Bewohner von Ephesos einen Strich durch die Rechnung machen. Sie beschlossen für den Täter die Höchststrafe und bestimmten also, dass sein Name nie genannt werden dürfe. Alle hielten sich daran – mit einer Ausnahme. Der zeitgenössische Historiker Theopomp, ausgestattet mit einem Faible für Skandale, verriet der Öffentlichkeit, dass es sich bei dem Frevler um einen gewissen Herostratos gehandelt habe. So hat sein Name doch noch Eingang gefunden in die Geschichte des Artemisions von Ephesos. Steinreicher Stifter

Beendet war diese Geschichte damit allerdings noch lange nicht. Unverzüglich machten sich die Epheser an den Wiederaufbau. Und wie um den unseligen Herostratos nachträglich noch mehr zu ärgern, scheuten sie keine

Kosten und Mühen, um den Nachfolgebau prächtiger auszugestalten als dessen auch nicht eben bescheidenen Vorgänger. Der erste Tempel von Ephesos war etwa 200 Jahre zuvor, in der Mitte des 6. Jahrhunderts v. Chr., an der Stelle archaischer Vorgängerbauten aus dem 8. Jahrhundert v. Chr. entstanden. Die Anschubfinanzierung zu dem ehrgeizigen Projekt hatte kein Geringerer als der Lyderkönig Kroisos geleistet, in der latinisierten Form „Krösus“ bis heute Inbegriff eines steinreichen Menschen. Zur Ausführung wurden die berühmtesten Künstler und Architekten der Zeit verpflichtet. Federführend war zunächst der Ingenieur Chersiphron, der aus dem kretischen Knossos stammte. Er kam mit der Empfehlung einer kühnen technischen Errungenschaft an seinen neuen Arbeitsplatz an der Westküste Kleinasiens. Seinem Einfallsreichtum war die Lösung eines Problems zu verdanken, das bis dahin allen Baumeistern auf antiken Großbaustellen erhebliche Kopfschmerzen bereitet hatte. Seit den Zeiten der alten ägyptischen Pharaonen stand man vor der Schwierigkeit, wie man es bewerkstelligen sollte, schwere Bauteile von den Steinbrüchen zum Bestimmungsort zu transportieren. Chersiphron entdeckte zwar nicht den Stein der Weisen, präsentierte der staunenden Fachwelt aber eine Konstruktion aus Walzen, mittels derer es nun möglich war, die Bauteile bequem auch über größere Distanzen zu bewegen. Eine Göttin greift persönlich ein

Dennoch hätte Chersiphron in Ephesos beinahe Selbstmord begangen. Grund seiner Verzweiflung waren schier unüberwindliche Schwierigkeiten bei den Bauarbeiten am Artemis-Tempel. Der geniale Konstrukteur hatte mit Hilfe von Binsenkörben massive steinerne Querbalken auf die Säulen gehievt. Diese Körbe hatte er mit Sand ange-

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füllt und sie dann mit einer leichten Steigung über die Enden der Säulen hinaus aufgeschichtet, sodass für die jeweiligen Querbalken Rampen entstanden waren. Zum Schluss hatten die Arbeiter nur die unten liegenden Körbe vom Sand zu entleeren, und die Balken befanden sich an der richtigen Stelle. Dieses Verfahren klappte indes nicht bei dem schwersten Balken, der oberhalb des Tores angebracht werden sollte. Das war der Augenblick, in dem Chersiphron ernsthaft daran dachte, seinem Leben ein Ende zu setzen. Dass seine glänzende Karriere nicht auf diese Weise beendet wurde, verdankte er, wie es heißt, der Göttin Artemis höchstpersönlich. „Man berichtet“, so sagt der römische Schriftsteller Plinius der Ältere, „er sei beim Nachdenken müde geworden und habe nachts im Schlaf die Göttin gesehen, für die der Tempel gebaut wurde. Sie habe ihm befohlen, weiterzuleben, und sie habe selbst den Stein eingefügt.“ Am nächsten Morgen konnte sich der Architekt von der Wundertat der Göttin überzeugen: Der steinerne Balken befand sich genau dort, wohin ihn Menschenhand nicht hatte befördern können. We t t s t r e i t d e r K ü n s t l e r

Mit Mythen und Legenden muss man bei der Konstruktion großer Bauwerke der Antike immer rechnen. Korrekt scheint hingegen die von antiken Quellen bezeugte, extrem lange Bauzeit des Artemisions von Ephesos zu sein. Nicht weniger als 120 Jahre, also weit in das 5. Jahrhundert v. Chr. hinein, soll es gedauert haben, bis das komfortable Zuhause der Göttin endlich fertiggestellt war. Das lag zum einen an dem Aufwand, der bei den Arbeiten an dem Tempel betrieben wurde. Zum anderen gehörte Artemis im Allgemeinen und die Artemis von Ephesos im Besonderen zu den wichtigsten und prominentesten Gott-

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heiten in der gesamten antiken Welt. Von überall her strömten die Pilger, um der Göttin ihre Reverenz zu erweisen und sie mit Geschenken zu überhäufen. So war immer genug Geld da, um an dem Bauwerk unablässig Verbesserungen und Verschönerungen vorzunehmen. Die antiken Quellen wissen in diesem Zusammenhang von einem edlen Wettstreit berühmter Künstler um die schönste dekorative Ausstattung mit Amazonen. Figuren dieses kriegerischen Frauenvolkes waren in Ephesos nicht fehl am Platz. Denn nach einer antiken Überlieferung waren es Amazonen, die für die Grundsteinlegung des Tempels verantwortlich gewesen waren. Am Ende sollten die Künstler, unter denen sich angeblich auch der große Phidias

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EILIGTUM MIT BEWEGTER

VERGANGENHEIT Der Tempel der griechischen Fruchtbarkeitsgöttin Artemis im kleinasiatischen Ephesos war in der Antike eine viel besuchte Wallfahrtsstätte. Wegen seiner grandiosen Architektur zählte man ihn zu den Sieben Weltwundern. Auch sonst stand das Heiligtum immer wieder im Brennpunkt des Geschehens. Im 4. Jahrhundert v. Chr. machte sich ein zerstörerischer Brandstifter ans Werk. Und der Apostel Paulus geriet später ausgerechnet wegen der Artemis in arge Bedrängnis.

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Nicht weniger als 120 Jahre soll es gedauert haben, bis das komfortable Zuhause der Göttin Artemis in Ephesos endlich fertiggestellt war.

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befand, selbst darüber abstimmen, wem die beste Amazone gelungen war. Das Ergebnis beweist, dass die Beteiligten über ein hohes Maß an Selbstbewusstsein und ein geringes Maß an Bescheidenheit verfügten. Jeder hatte sein eigenes Werk auf den ersten Platz gesetzt. Den Sieg trug jene Amazone davon, der alle den zweiten Platz zugewiesen hatten. Attraktiv war das Artemision auch noch aus einem anderen Grund. Seit frühester Zeit wurden hier von den Priestern Bankgeschäfte abgewickelt. Nicht nur in Ephesos vertrauten die Menschen ihre Ersparnisse gern der Obhut der Götter an, aber besonders begehrt war die Artemis als Hüterin der Deposite finanzstarker Griechen. Darüber hinaus verfügte der Tempel über das Asylrecht. Wer unter Verfolgung zu leiden hatte, fand bei der Artemis und ihren Priestern einen sicheren Schutz. D o p p e l t e s We l t w u n d e r

Der erste Artemis-Tempel, von dessen Aussehen man sich nach dem gründlichen Zerstörungswerk des hybriden Herostratos nur noch aufgrund antiker Beschreibungen und archäologischer Forschungen eine Vorstellung machen kann, gehörte auch von seinen Ausmaßen her zu den größten Tempelanlagen der antiken Welt. Einen festen Platz hatte der Tempel daher in allen antiken Listen der Sieben Weltwunder. Plinius spricht von einer Länge von 425 Fuß, einer Breite von 225 Fuß und einer Säulenhöhe von 60 Fuß. Die modernen Forschungen ergaben die Maße 55 mal 115 Meter und eine Höhe von 25 Metern. Plinius überliefert auch eine Zahl von 127 Säulen, was aber vermutlich nicht mit der Realität übereinstimmt. 36 Säulen waren mit Reliefs geschmückt. Versehen war der Tempel mit einer prachtvollen Verkleidung aus Marmor. Hinter einer doppelten Säulenreihe erstreck-

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te sich der eigentliche Kernbau mit Vorhalle (Pronaos) und überdachtem Innenhof, in dem sich das Kultbild der Göttin Artemis befand. Es präsentierte die Göttin mit einem üppigen Dekor an Fruchtbarkeitssymbolen, entsprechend der Rolle, welche die von den Griechen auch als Jagdgöttin verehrte Artemis in der anatolischen Religionslandschaft traditionell spielte. Den zweiten Tempel bauten die Epheser nach 356 v. Chr. im Prinzip so wieder auf, wie er vor der Brandstiftung ausgesehen hatte. Auch der Ort am Rand der Stadt blieb der gleiche. Was hinzugefügt wurde, war allein ein hoher Sockel als Basis für den Tempel. Beim ersten Tempel aus dem 6. Jahrhundert v. Chr. hatte man nach den Worten des Plinius auf einen sumpfigen Grund geachtet. Dies soll eine Vorsorgemaßnahme gegen Erdbeben gewesen sein, die in Kleinasien tatsächlich bis heute eine höchst reale Gefahr darstellen. Die Arbeiten am zweiten Tempel zogen sich nicht, wie bei dessen Vorgänger, über 120 Jahre hin. Doch dauerte es immerhin auch über 20 Jahre, bis die Artemis wieder ein neues komfortables Heim hatte. Angeblich hatte Alexander der Große die Absicht, sich unter der Voraussetzung finanziell an dem Neubau zu beteiligen, dass die Epheser seinen Anteil am Gelingen durch eine Inschrift entsprechend würdigten. Weise lehnten diese aber den Versuch der Einflussnahme auf ihr Vorzeige-Heiligtum ab, indem sie argumentierten, es gezieme sich nicht, wenn ein Gott einer anderen Gottheit einen Tempel schenke. Auch als die Römer im 2. Jahrhundert v. Chr. die Herrschaft im östlichen Mittelmeerraum übernahmen und Ephesos in der Zeit des Kaisers Augustus zur Residenz des römischen Statthalters der Provinz Asia wurde, behielt das Heiligtum seine Funktion als Pilgerstätte von überregionaler Bedeutung bei. Die Römer identi-

fizierten Artemis mit ihrer eigenen Göttin Diana. Kaiser Augustus ist es auch gewesen, der das Recht auf Asyl ausdrücklich bestätigt hat. Ein Apostel in Bedrängnis

Etwa zur gleichen Zeit erwuchs dem Artemiskult jedoch eine starke Konkurrenz in dem aufkommenden Christentum. Wohl im Jahr 52 n. Chr. kam der Apostel Paulus auf einer seiner großen Missionsreisen in die Stadt, um dort für den neuen Glauben zu werben. Noch ahnte keiner, dass Ephesos sich einmal zu einer der wichtigsten christlichen Gemeinden im Osten des Römischen Reiches entwickeln würde. Im Gegenteil – Paulus stieß mit seinen Predigten in der Bevölkerung auf erbitterten Widerstand. Meinungsführer war, wie die Apostelgeschichte des Neuen Testaments erzählt, der einheimische Silberschmied Demetrius. Dieser hatte mit der Produktion von Nachbildungen des Artemis-Tempels einen enormen kommerziellen Erfolg. Bei den Pilgern waren dies begehrte Souvenirs. Durch das Auftreten des Paulus sah er seine Geschäfte in Gefahr, und er rief seine Berufskollegen zu einer Versammlung. Hier hielt er ihnen vor Augen, dass die Aktivitäten des Paulus für sie absolut geschäftsschädigend wären. „Ihr sehet und höret“, heißt es in der Übersetzung Martin Luthers, „dass nicht allein zu Ephesus, sondern auch fast in der ganzen Landschaft Asien dieser Paulus viel Volks abfällig macht, überredet und spricht: Was von Händen gemacht ist, das sind keine Götter.“ Nach Ansicht des Silberschmieds war das Wirken des Missionars auch ein Generalangriff auf die Artemis von Ephesos: „Aber es droht nicht nur unser Gewerbe dahin zu geraten, dass es nichts mehr gilt, sondern auch der Tempel der großen Göttin Diana wird für nichts geachtet werden, und sogar ihre göttliche Majestät wird unterge-

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hen, welcher doch die ganze Landschaft Asien und der Weltkreis Anbetung erzeigt.“ Tatsächlich wurde die Lage für Paulus und seine Gefährten nun brenzlig. Im Theater von Ephesos kam eine große Menge aufgebrachter Menschen zusammen. Die Apostelgeschichte beweist einen beachtlichen Sensus für massenpsychologische Abläufe, wenn sie den Tumult im Die Säulen waren mit figürlichem Schmuck versehen.

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Theater mit den Worten kommentiert: „Etliche schrien so, etliche anders, und die Versammlung war in Verwirrung, und die meisten wussten nicht, warum sie zusammengekommen waren.“ Nur mühsam gelang es den städtischen Verantwortlichen, die erhitzten Gemüter zu kühlen. Paulus und seinen christlichen Mitstreitern aber war eine lehrreiche Lektion erteilt worden, wie stark die Menschen an ihrer Artemis hingen – und sei es auch mehr aus wirtschaftlichen als aus religiösen Gründen. In den folgenden Jahrzehnten und Jahrhunderten setzte sich die Erfolgsgeschichte der Artemis von Ephesos fort. Nach wie vor strömten die Menschen von nah und fern in die Stadt an der kleinasiatischen Westküste, um einem Weltwunder ihre Reverenz zu erweisen. Der aus Byzanz stammende Autor Philon, dem die im Vorwort (S. 6) zitierte, viel gelesene Beschreibung der antiken Weltwunder zu verdanken ist, verstieg sich – vermutlich in der späteren römischen Kaiserzeit – zu einer geradezu hymnischen Darstellung: „Der Tempel der Artemis in Ephesos ist ein einzigartiges Haus der Götter. Wer ihn betrachtet, wird überzeugt sein, dass der Ort vertauscht ist und der himmlische Schmuck der Unsterblichkeit auf die Erde geleitet worden ist. Auch die Giganten oder die Aloaden, die den Himmel stürmen wollten, suchten Berge auftürmend doch nicht den Tempel, sondern nur den Olymp zu erreichen. Kühner als deren Plan ist somit diese Arbeit, kühner als die Arbeit aber ist die Kunst.“ Konkurrenz Christentum

Parallel dazu gewann aber auch die christliche Lehre immer mehr Anhänger, und Kleinasien war eine ihrer Hochburgen. Im 3. Jahrhundert n. Chr. sahen sich die

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FUNKTION:

Tempel / Wallfahrtsstätte

S TA N D O R T :

das antike Ephesos (in der heutigen Westtürkei) –

später Hauptstadt der römischen Provinz Asia BAUZEIT:

Mitte des 6. Jahrhunderts v. Chr. mit finanzieller Hilfe

des reichen Kroisos ARCHITEKT:

Chersiphron von Knossos (er wollte wegen

tentums verfiel er mehr und mehr, auch, weil man ihn als Steinbruch benutzte. Bald zeugte nichts mehr von der einstigen Größe der Artemis von Ephesos. Dafür entwickelte sich die Stadt zu einer Metropole der Christenheit mit zahlreichen christlichen Bauwerken. Als 431 hier das Dritte Ökumenische Konzil stattfand, hatte Paulus endgültig über die Artemis gesiegt.

Komplikationen bei der Fertigstellung Selbstmord begehen) ZERSTÖRUNG / WIEDERAUFBAU:

356 v. Chr. mutwillig in

Brand gesetzt von Herostratos, danach umgehender Wiederaufbau

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mit zweiter Glanzphase; in der Spätantike allmählicher Verfall

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Christen erstmals reichsweiten, systematischen Verfolgungen ausgesetzt. Die Zeiten wurden allgemein schlechter, sowohl politisch als auch wirtschaftlich. Gern suchten und fanden die regierenden Kaiser in den Christen geeignete Blitzableiter, die man für alle Übel verantwortlich machen konnte. Die große Wende für die Christen trat mit der Herrschaft Kaiser Konstantins (306 – 337 n. Chr.) ein. Nun war das Christentum eine offiziell geförderte Religion. Und am Ende des Jahrhunderts schließlich machte es Kaiser Theodosius zur allein gültigen Staatsreligion im Römischen Reich. Jetzt brachen für die Artemis und ihre Anbeter schwere Zeiten an, denn von Staats wegen war der Kult der Artemis nun verboten. Der Tempel war zuvor bereits, während der turbulenten Zeiten des 3. Jahrhunderts, durch die von Plünderungen begleiteten Wanderungen der Goten arg in Mitleidenschaft gezogen worden. Nach dem Sieg des Chris-

Im Fokus der Archäologen

In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts begann die Geschichte der wissenschaftlichen Erforschung. Federführend war dabei der Engländer John T. Woods, der sich im Auftrag des Britischen Museums auf die Suche nach dem verschwundenen Weltwunder machte. In den folgenden Jahrzehnten war das Areal des Artemisions immer Gegenstand von archäologischen Untersuchungen. Teile der Funde, die man machte, landeten in verschiedenen Museen. Einige Relikte finden sich im Britischen Museum in London, andere Teile sind im Museum von Selçuk aufbewahrt. Weitere Überreste wurden in die Hagia Sophia in Istanbul überführt, wo Artemis erst in einem christlichen und nach der türkischen Eroberung der Stadt am Bosporus in einem islamischen Gebäude residierte. Wer heute nach Ephesos fährt, um das Artemision zu sehen, wird nicht völlig enttäuscht, obwohl dem Besucher wahrscheinlich der römische Spruch Sic transit gloria Mundi („So vergeht der Ruhm der Welt“) in den Sinn kommen mag. Eine einzige Säule kündet noch tapfer von einem der bedeutendsten Heiligtümer der Antike.

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ben. Sie suchten religiösen Tiefgang in den persönliches Glück verheißenden Mysterienreligionen.

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Griechen der Antike hatten nicht viel gemeinsam. In der klassischen Zeit, also zwischen dem 6. und 4. Jahrhundert v. Chr., boten sie ein Bild der politischen Zersplitterung. Jede Stadt war ein Staat – eine Polis – für sich, mit eigenen Beamten, eigener Währung, eigenem Kalender, eigenem Recht. Nur zwei Dinge hielten die Griechen zusammen und schufen die Voraussetzungen für eine griechische Identität und eine damit verbundene Abgrenzung von den Nichtgriechen. Zum einen handelte es sich dabei um die Sprache. Wer nicht griechisch sprach, war in den Ohren der Griechen ein „Barbar“, also jemand, dessen Sprache unverständlich war. Zum anderen war es die Religion, die den Griechen das Empfinden von Zusammengehörigkeit gab. Zwar hatte jede Polis ihre speziellen Götter und Heiligtümer. Doch über allen schwebte ein Pantheon von Göttinnen und Göttern, die von allen Griechen gleichermaßen verehrt wurden. Das war die berühmte Götterfamilie auf dem Olymp mit dem Göttervater Zeus an der Spitze. Bei diesen Göttern ging es mitunter genau so zu wie bei den Menschen: Sie stritten sich, sie versöhnten sich, sie hassten sich, sie liebten sich. Insbesondere Hera hatte mit vielen Eskapaden des Göttergatten Zeus fertigzuwerden. Dass die Götter, die sich die Griechen auch in Menschengestalt dachten, sich wie Menschen verhielten, war kein Zufall. Diese Götterwelt war das imaginäre Produkt der archaischen Adelsgesellschaft, die ihren eigenen Lebensstil auf die Götterfamilie projizierte. Richtige Frömmigkeit konnte dabei nicht aufkommen, und die nichtadligen Bevölkerungsschichten fühlten sich deswegen in der vom Adel geschaffenen Religion auch nicht besonders gut aufgeho-

Wie Zeus nach Olympia kam

Doch derlei Entwicklungen konnten einen Zeus nicht vom Thron stoßen. Standhaft verteidigte der Gott des Adels seine Führungsrolle im offiziellen religiösen Leben. Prominent vertreten musste er natürlich auch an einem Ort sein, der sich seit dem 8. Jahrhundert v. Chr. zu einem Anziehungspunkt für alle Griechen entwickelt hatte. Solche Orte mit überregionaler Bedeutung gab es in dem politisch zersplitterten Griechenland nur wenige. Delphi mit seinem berühmten Orakel gehörte dazu, vor allem aber Olympia. Die Wohnung der Götter verorteten die antiken Griechen auf dem Olymp, jenem knapp 3000 Meter hohen Bergmassiv im Grenzgebiet zwischen Makedonien und Thessalien. Olympia hingegen liegt im Nordwesten der Peloponnes, in der Landschaft Elis. Zwischen Olymp und Olympia lag eine räumliche, nicht aber eine sachliche Distanz. Olympia wurde zu einer zentralen Verehrungsstätte für den obersten Gott Zeus. Verantwortlich dafür waren die Eleer, die aus der Gegend des Olymp in die Peloponnes eingewandert waren und ihre Götter mitgebracht hatten. So gelangte Zeus vom Olymp nach Olympia. Die Olympischen Spiele

Mit dem Namen „Olympia“ verbindet man heute gemeinhin weniger Religion als vielmehr Sport. Tatsächlich aber war das antike Olympia bis in die Spätantike hinein vor allem eine Kultstätte. Die Spiele waren erst sekundär hinzugekommen, als man die kultischen Zeremonien mit athletischen Wettbewerben garnierte. Die erste Siegerliste aus dem Hain von Olympia ist für das Jahr 776 v. Chr.

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belegt. Vermutlich hatten die Spiele aber bereits eine längere Tradition. Olympia verstand es jedenfalls, sich unter der Regie der ehemals eingewanderten, bald aber heimisch gewordenen Eleer als eine kultische und mehr und mehr auch sportliche Begegnungsstätte für alle Griechen zu profilieren. In einem Rhythmus von vier Jahren strömten Athleten und Schaulustige nach Olympia, um erst dem Zeus zu opfern und sich anschließend den Wettkämpfen zu widmen. In welchem Maße Olympia das Leben der Griechen organisierte, lässt sich daran erkennen, dass die Olympischen Spiele zur Grundlage eines einheitlichen griechischen Kalendersystems wurden. Eine Olympiade war – entgegen dem heutigen Sprachgebrauch – nicht die sportliche Veranstaltung, sondern ein Zeitraum von vier Jahren. Die Griechen rechneten, nachdem sich Olympia als ein Brennpunkt des Geschehens etabliert hatte, nach einer Olympischen Ära, die sie mit dem Jahr 776 v. Chr. beginnen ließen. Die Phase von 776 bis 773 v. Chr. war die erste Olympiade gewesen, die zweite reichte von 772 bis 769 v. Chr. Selbstverständlich sind diese Zahlen die Umrechnung griechischer Zeitsysteme in die christliche Zeitrechnung. D e r B a u d e s Te m p e l s

Viele sakrale und profane Bauten wurden in Olympia errichtet, je mehr die Stätte an zentraler Bedeutung gewann. Dabei war die Bautätigkeit, analog zu den Reichtümern, die durch Besucher, Wallfahrer und Stifter nach Olympia flossen, von einem mit zunehmender Dauer immer stärkeren Drang nach Monumentalität geprägt. Es sollte allerdings bis kurz nach 600 v. Chr. dauern, bis der Hauptperson Zeus ein erster ansehnlicher Tempel errichtet wurde. Und selbst da ist es nicht einmal sicher, ob es sich nicht vielmehr um einen Tempel für die Zeus-

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Gattin Hera gehandelt hat. Das jedenfalls behauptete im 2. Jahrhundert der kundige griechische Reiseschriftsteller Pausanias. Zweifelsfrei ein Tempel des Zeus war indes jenes grandiose Heiligtum, das im 5. Jahrhundert v. Chr., in der klassischen Periode der griechischen Geschichte, in Olympia entstand. Es war ein Tempel der Superlative, dem Göttervater und Chef der Olympier gerade angemessen. Die Daten und Fakten sind in der Tat beeindruckend. Der Zeus-Tempel von Olympia war der größte Tempel auf der ganzen Peloponnes. Seine Maße betrugen an den Schmalseiten 27,68 Meter, an den Längsseiten 64,12 Meter. Das Heiligtum verkörperte die kanonische

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EILIGTUM MIT WUNDERBAREM INHALT

Die Olympischen Spiele der Antike waren von der Idee her weniger sportliche Veranstaltungen als vielmehr eine religiöse Reverenz an den obersten griechischen Gott Zeus. Ein relativ unbekannter Architekt baute diesem Gott in Olympia einen großen Tempel. Ein außerordentlich berühmter Bildhauer schuf die kostbare Statue des Gottes, die im Innern des Tempels ihren Platz fand und gleich in die Riege der antiken Weltwunder aufgenommen wurde. Eine archäologische Sensation war die Entdeckung der Werkstatt, in der die Statue hergestellt worden war.

dorische Tempelarchitektur mit einer Säulenanordnung von 6 zu 13. Als Baumaterial wurde bei den Säulen Muschelkalk verwendet, während das Dach, die Cella und die plastische Dekoration aus Marmor gearbeitet waren. In den Tempel führte eine dreistufige breite Treppe. Wie die meisten antiken Bauten war der Tempel nicht einfarbig weiß oder grau, sondern wies auch farbige, das heißt blau-schwarze Elemente auf. Reichhaltig war der Giebelschmuck. Thema des Ostgiebels war der mythische Stoff der Wettfahrt zwischen Pelops und Oinomaos. Der König Oinomaos wollte nur demjenigen seine Tochter Hippodameia zur Frau geben, der ihn im Wagenrennen besiegen würde. Oinomaos kämpfte dann mit perfiden Methoden, doch Pelops, der Sohn des qualerfahrenen Tantalos, bekam von Poseidon ein Gespann mit geflügelten Rossen, mit dem er die Angebetete entführte. Im Ostgiebel des Zeus-Tempels war allerdings nicht das Wagenrennen selbst, sondern nur die Vorbereitung darauf dargestellt. Der Gott höchstpersönlich wacht als Schiedsrichter über den Ausgang der Konkurrenz.

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Im Westgiebel wurde kriegerisches Getümmel gezeigt. Der Künstler präsentierte hier den Kampf der Lapithen und Kentauren bei der Hochzeit des Peirithoos, der sich mit einer anderen Hippodameia (der Tochter des Butes) vermählt hatte. Dieser Peirithoos war König des Volkes der Lapithen und gleichzeitig der beste Freund des athenischen Helden Theseus. Zur Hochzeitsfeier hatte Peirithoos unglücklicherweise auch die Kentauren eingeladen, jene Fabelwesen mit menschlichem Oberkörper und dem Leib eines Pferdes. Die Kentauren frönen bei der Feier so intensiv dem Wein, dass einer von ihnen ausfallend wird und sich an der Braut vergreift. Die anderen Kentauren

Im Westgiebel des Zeus-Tempels war der Kampf der Lapithen und Kentauren bei der Hochzeit des Peirithoos zu sehen.

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Wenige Jahre, nachdem der Zeus-Tempel von Olympia seiner öffentlichen Bestimmung übergeben worden war, machte sich der Bildhauer Phidias daran, die monumentale Statue des Gottes zu schaffen.

nehmen sich dieses frevelhafte Verhalten zum Vorbild und unternehmen den Versuch, allen lapithischen Männern die Frauen zu rauben. Es kommt zum Kampf, bei dem nach langem Hin und Her die Guten, also die Lapithen, siegen. Der für die Giebeldarstellung verantwortliche Künstler hat zwischen den kämpfenden Parteien den Gott Apollon platziert. Geschmückt waren schließlich auch die Metopen, also die viereckigen Platten, die im Wechsel mit den Triglyphen (den dreiteiligen senkrechten Deckplatten) den Fries bildeten. Sie zeigten das beliebte Motiv der legendären Heldentaten des Herakles. Auf jeden Fall passten die Themen mit ihren Aktivität demonstrierenden Bildern bestens in das sportliche Umfeld von Olympia. Von all diesen Darstellungen ist heute allerdings fast nichts mehr erhalten. Nur einzelne Fragmente wie der Fuß des ZeusBildes aus der Pelops-Oinomaos-Szene des Ostgiebels sind bei archäologischen Untersuchungen wieder aufgetaucht. Dass man trotzdem so präzise Bescheid weiß, liegt an der genauen Beschreibung, die im 2. Jahrhundert n. Chr. der Augenzeuge Pausanias geliefert hat. Er konnte den Zeus-Tempel von Olympia noch in seiner ganzen Pracht und Schönheit bewundern und ist insofern eine außerordentlich wichtige Quelle zur Rekonstruktion nicht nur des Zeus-Tempels, sondern aller anderen Bauten des antiken Olympia. Im Schatten eines Großen

Angesichts der Bedeutung des olympischen Zeus-Tempels erscheint es etwas überraschend, dass der verantwortliche Architekt nicht zur Riege derjenigen gehört, die man zuerst nennen würde, wenn man die besten Baumeister

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der Antike namhaft zu machen hätte. Persönlich wird er auch nur bei Pausanias vorgestellt, der die lapidare Auskunft gibt: „Der Architekt war der Einheimische Libon.“ Das ist nicht eben viel an biographisch verwertbarem Material, außer dass man weiß, wie er hieß und dass er aus Elis stammte, man also mit der Konstruktion des Zeus-Tempels auch die einheimische Bauwirtschaft gefördert hat. Sonst ist von Libon nichts weiter bekannt, nicht einmal, wo und wann er außerdem als Baumeister in Erscheinung getreten ist. Es fällt aber nicht schwer, einen Grund für die relative Anonymität des Architekten des großen Zeus-Tempels in Olympia zu finden. Libon traf nämlich das harte Schicksal, von einem anderen Künstler komplett in den Schatten gestellt zu werden. Bald sprach keiner mehr von Libon, alle sprachen nur von Phidias und seiner einzigartigen Schöpfung. Libon hatte für die Fertigstellung des Tempels etwa 14 Jahre gebraucht. Baubeginn war um das Jahr 470 v. Chr. gewesen, der Abschluss erfolgte 457 oder 456 v. Chr. Ordnet man diese Daten in den Rahmen der allgemeinen griechischen Geschichte ein, so handelt es sich hier um eine absolute Glanzperiode. Wenige Jahre zuvor hatten die Griechen unter der Führung der Spartaner und der Athener die Invasion der Perser abgewehrt. Die Folge war ein großer wirtschaftlicher und kultureller Aufschwung. In eine solch glorreiche Epoche passten, wie auch die in etwa zeitgleichen Bauten auf der Akropolis in Athen beweisen, anspruchsvolle und aufwendige Bauprojekte. Es war ein allgemeiner Konjunkturboom, der zu großzügigen Investitionen veranlasste. Der Meister macht sich an die Arbeit

Wenige Jahre, nachdem der einheimische Architekt Libon den Zeus-Tempel von Olympia seiner öffentlichen Be-

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stimmung übergeben hatte, machte sich der Bildhauer Phidias daran, die Statue des Gottes zu schaffen, die im Innern des Tempels ihren Platz finden sollte. Es war kultische Praxis bei den Griechen wie auch später bei den Römern, in der Cella ein Bild des Gottes aufzustellen. Der Zugang zur Cella war in der Regel Normalsterblichen verboten, nur die Priester verfügten über das Privileg des ungehinderten Eintritts. Auch wenn die meisten Menschen die Kultstatuen selten zu Gesicht bekamen, gaben sich die Priester und die Künstler alle Mühe, bei der Herstellung der Figuren Qualität zu erzeugen. Aber es gab immer einmal eine Möglichkeit, einen Blick auf das Werk zu werfen, und sei es nur bei Prozessionen. Was der Bildhauer Phidias schließlich präsentierte, war so außergewöhnlich und großartig, dass der eigentliche, von Libon geschaffene Tempel als zweitrangig betrachtet wurde. Mit Phidias hatten die Verantwortlichen allerdings auch einen Bildhauer engagiert, der sich schon mit anderen Werken einen Namen gemacht hatte. Die Spezialität des Künstlers, der aus der Kulturmetropole Athen stammte, war von Anfang an die Darstellung von Göttern. Deshalb gaben ihm die Zeitgenossen auch den Namen „Götterbildner“. In Delphi hatte er seinen Ruhm begründet mit der Herstellung von bronzenen Götterund Heroenbildern, die als Weihgeschenke nach dem Sieg der Griechen über die Perser gestiftet wurden. Auch in seiner Heimatstadt Athen war Phidias überaus aktiv. Die Krönung seiner dortigen Arbeiten war die Neugestaltung der Akropolis, die ihm sein Freund, der einflussreiche Politiker Perikles, angetragen hatte. Als sich Phidias daran machte, die Zeus-Statue für den Zeus-Tempel von Olympia zu schaffen, war er also bereits ein berühmter Mann. Das Ergebnis seiner Arbeit

brachte die Menschen ins Schwärmen. 12 Meter hoch ragte die sitzende Figur des Göttervaters empor. Sie zeigte Zeus als thronenden Weltherrscher, mit einem adlerbekrönten Zepter in der linken und der geflügelten Siegesgöttin Nike in der rechten Hand. Das Haupt des Gottes war mit einem Kranz in der Form von Ölbaumzweigen versehen. Bei den Materialien war an nichts gespart worden, nur das Edelste war gut genug. Aus Gold und Elfenbein gestaltete der Künstler die auch ansonsten reich verzierte, gigantische Götterfigur. Wieder ist die Beschreibung des Reiseschriftstellers Pausanias hilfreich. Er hatte offenbar, wie viele andere Besucher, freien Zugang in das Innere des Tempels. Wahrscheinlich waren die Verantwortlichen zu stolz auf das Werk, das auch sofort Eingang in die Liste der Sieben Weltwunder fand, als dass man es in der Cella verborgen gehalten hätte. Ganz genau beschreibt Pausanias die Ausstattung der Statue, aber auch dem Thron hat er seine Aufmerksamkeit geschenkt: „Der Thron ist in abwechslungsreicher Arbeit aus Gold und Steinen und Ebenholz und Elfenbein, und an ihm sind Figuren gemalt und Bildwerke angebracht. Vier Niken in der Gestalt von Tanzenden befinden sich an jedem Bein des Throns und zwei weitere am Fuß jeden Thronbeines. Über jedem der beiden vorderen Beine liegen thebanische Knaben, die von Sphingen geraubt werden, und unter den Sphingen töten Apollon und Artemis die Kinder der Niobe.“ Wie man sieht, präsentierte das Werk des Phidias geradezu ein detailverliebtes Lesebuch der griechischen Mythologie. Etwaige Zweifel, dass es wirklich der große Phidias gewesen ist, der für die Herstellung der Statue verantwortlich zeichnete, zerstreut Pausanias mit der Beobachtung, dass sich an den Füßen des Zeus eine entsprechende Künstlersignatur befunden habe. Dort standen die

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schlichten Worte „Phidias, der Sohn des Charmides, Athener, machte mich.“ Pausanias kennt auch eine Wundergeschichte über das Weltwunder, die ihm vermutlich von den Priestern erzählt worden war: „Als die Statue fertig war, betete Phidias zum Gott, er möge ihm ein Zeichen geben, ob das Werk nach seinem Wunsch gelungen sei, und der Gott habe sofort einen Blitz auf die Stelle des Bodens geschleudert, wo heute als Aufsatz ein Bronzegefäß steht.“ Damit war klar, dass Göttervater Zeus mit seinem kostbaren Ebenbild einverstanden war. Objekt der Bewunderung

Über allem thronte eine goldene Statue der Nike.

Als Pausanias nach Olympia kam, waren Tempel und Statue schon gut 600 Jahre alt. Er ist einer von vielen späteren Zeugen, die beweisen, dass es sich hier um eine der großen Sehenswürdigkeiten der Antike handelte. Im Jahr 168 v. Chr. kam der römische Feldherr Aemilius Paullus, der im Hauptberuf damit beschäftigt war, Griechenland und Makedonien der römischen Herrschaft zu unterwerfen, nach Olympia und stattete selbstverständlich auch dem Zeus-Tempel einen Besuch ab. Mit dem Ausruf „Mir scheint, Phidias allein hat den Zeus Homers nachgebildet“ stellte er dabei seine gediegene klassische Bildung unter Beweis. Der Römer Cicero, einer der besten Kenner griechischer Kunst und Kultur, nannte im 1. Jahrhundert v. Chr. die Statue „das Vollkommenste, was man in dieser Art sieht“. Kaiser Caligula, der Exzentriker auf dem römischen Kaiserthron, trug sich im 1. Jahrhundert n. Chr. mit dem kühnen Gedanken, die Statue nach Rom transportieren zu lassen und dabei, in aller Unbescheidenheit, den Kopf des Zeus durch ein Modell seines eigenen kaiserlichen Hauptes zu ersetzen. Er war von der Idee so angetan, dass er bereits Anstalten traf, sie in die Tat

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Als Dachschmuck dienten bronzene Dreifüße.

umzusetzen. Doch bei diesem frevelhaften Tun spielte der Gott nicht mit. Es wird berichtet, dass Zeus die Gerüste ins Wanken brachte und die Arbeiter voller Furcht die Flucht ergriffen. In der römischen Kaiserzeit kam der Beruf des Lobredners groß in Mode. Dion von Prusa, einer der herausragenden Vertreter dieses Metiers, der einmal sogar eine allerdings nicht ganz ernst gemeinte Laudatio auf eine Mücke und einen Papagei verfasst hatte, ließ es sich natürlich nicht nehmen, dem Gott Zeus in Olympia seine verbale Reverenz zu erweisen. An den schon lange verstorbenen Künstler Phidias gewandt, führte er aus: „Tüchtigster und bester Künstler, dass du eine entzückend anzuschauende Kostbarkeit geschaffen hast, eine unvorstellbar ergötzliche Augenweide für alle Griechen und Barbaren, die hier schon bei vielen Gelegenheiten zahlreich zusammenkamen, wird niemand bestreiten. Denn wahrhaftig, auch nicht vernunftbegabte Lebewesen werden wohl starr vor Staunen sein, wenn sie nur einen Blick erhaschen können.“ Und er vergaß nicht, auf die therapeutische Wirkung des Anblicks der Statue hinzuweisen: „Wenn ein Mensch vor diesem Standbild steht, wird er, so denke ich, alles Furchtbare und Schwere, das einem im Menschenleben begegnet, vergessen.“ Aus heutiger Sicht müssen die Menschen schon lange darauf verzichten, durch einen Besuch des Zeus von Olympia von ihren Sorgen und Ängsten befreit zu werden. Das Weltwunder ist spurlos verschwunden. Über sein Schicksal ist nichts Genaues bekannt. Nur in den Bereich der Spekulation gehört es, dass die Statue am Ende des 4. Jahrhunderts n. Chr. nach Konstantinopel transportiert wurde, wo sie dann einem Brand zum Opfer fiel. Immerhin hat diese Variante der Geschichte den Vorteil, der seit Konstantin dem Großen gepflegten

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Praxis der oströmischen Kaiser zu entsprechen, aus allen Teilen der römischen Welt wertvolle Kunstgegenstände an den Bosporus zu holen, um sie dort, wie auf dem Hippodrom, stolz dem Publikum zu präsentieren. Den antiken Bewunderern der Statue bereitete nur eine Angelegenheit Sorgen. War der Gott nicht zu groß geraten? Der griechische Geograph und Historiker Strabon fasste diese Sorge zu Beginn der römischen Kaiserzeit in die Worte: „Phidias hat das Bild in solcher Riesengröße gebildet, dass der Künstler trotz der Größe des Tempels das Ebenmaß verfehlt zu haben schien. Zeus war sitzend dargestellt, und doch berührte er beinahe mit dem Scheitel die Decke, sodass er den Eindruck machte, als werde er, wenn er aufstehe, den Tempel abdecken.“ Dieses Szenario ist allerdings niemals eingetreten. Der Gott blieb standfest auf seinem Thron und das Dach des Tempels auch deswegen unversehrt, weil es mit 14,5 Metern immer noch über zwei Meter höher war als der sitzende Gott. Das Ende von Olympia

Aus dem Jahr 776 v. Chr. stammt die erste Siegerliste von den Olympischen Spielen. Die letzte Veranstaltung dieser Art fand fast 1200 Jahre später, im Jahr 393 n. Chr., statt. Danach wurde Olympia als Sportstätte geschlossen, kraft kaiserlicher Verfügung. Kaiser Theodosius I. hatte dadurch, dass er alle nichtchristlichen Kulte verbot, das Christentum zur einzig erlaubten Religion im Römischen Reich gemacht. Das bedeutete das Ende für die Olympischen Spiele, bei denen es sich offiziell immer noch um eine Veranstaltung zu Ehren des Gottes Zeus handelte. Zeus hatte ebenfalls ausgedient, jedenfalls offiziell. Von der Zerstörung heidnischer Tempel, wie sie die Christen an anderen Orten vornahmen, blieb der

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Zeus-Tempel samt Weltwunder in der Cella zunächst verschont. Als aber 426 n. Chr. Theodosius II. von Konstantinopel aus die Vernichtung sämtlicher nichtchristlicher Heiligtümer verfügte, war es wohl auch um den Tempel von Olympia jedenfalls in seiner baulichen Substanz geschehen. Vielleicht ist die Zeus-Statue bei dieser Gelegenheit nach Konstantinopel gebracht worden. Hinzu kamen weitere Schäden durch zwei Erdbeben, welche die Peloponnes 522 und 551 heimsuchten. In der Folgezeit wuchs über Olympia buchstäblich Gras, die Stätten der Wettkämpfe und die heiligen Orte wurden nach Überschwemmungen und Erdrutschen überwuchert von einer meterdicken Erdschicht. Auf der Suche nach dem alten Olympia

Die Erinnerung an Olympia verschwand jedoch nicht. Es dauerte aber bis zum 18. Jahrhundert, dass man Pläne schmiedete, die berühmte antike Stätte durch Ausgrabungen wieder ans Tageslicht zu bringen. Allerdings wusste niemand genau, wo man eigentlich suchen sollte. Der glühende Antikenverehrer Johann Joachim Winckelmann, Erfinder des Wortes von der „edlen Einfalt und stillen Größe“ der griechischen Kunst, bot dem türkischen Sultan für den Erwerb der Grabungslizenzen im Gegenzug den Übertritt zum Islam an. Indessen blieb es 1776 dem englischen Archäologen Richard Chandler vor-

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FUNKTION:

Tempel

S TA N D O R T :

Olympia in Griechenland

BAUZEIT:

zwischen 470 und 456 v. Chr.

BAUMEISTER:

Libon von Elis, einige Jahre später fertigt Phidias die

Statue des Zeus BEDEUTUNG:

der Tempel des Zeus war Mittelpunkt der

Olympischen Spiele in der Antike ZERSTÖRUNG:

der Tempel wurde durch zwei Erdbeben 522

und 551 n. Chr. zerstört, die Statue ist verschwunden, vermutlich wurde sie im 4. Jahrhundert nach Konstantinopel gebracht und fiel dort 475 n. Chr. einem Brand zum Opfer AUSGRABUNG:

Beginn ab 1776 durch den englischen Archäologen

Richard Chandler, ab 1875 deutsche Ausgrabungen durch Ernst Curtius

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und Wilhelm Dörpfeld

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behalten, das alte Olympia zu lokalisieren und mit Grabungsarbeiten zu beginnen. In diesem Rahmen fanden auch die ersten Sondierungen am alten Zeus-Tempel statt, der sich allerdings nach den Zerstörungen und Verschüttungen der zurückliegenden Jahrhunderte in einem recht desolaten Zustand präsentierte. 1875 begannen mit Unterstützung von Kaiser Wilhelm I. deutsche Ausgrabungen unter der Leitung von Ernst Curtius und Wilhelm Dörpfeld. Bei dieser Kampagne, die bis 1881 dauerte, kamen auch Teile vom Giebelschmuck des ZeusTempels zum Vorschein. Wilhelm Dörpfeld richtete 1885 in Olympia ein erstes Museum ein, in dem auch die Giebel und Metopen des Zeus-Tempels deponiert wurden.

D i e We r k s t a t t d e s P h i d i a s

1952 nahm das Deutsche Archäologische Institut die durch den Zweiten Weltkrieg unterbrochenen archäologischen Forschungen wieder auf. Für Aufsehen sorgte 1954 die Entdeckung einer antiken Bildhauer-Werkstatt gleich neben dem Areal des Zeus-Tempels. Offenbar handelte es sich dabei um das Atelier des Phidias, dessen Höhe ziemlich genau den Maßen der Zeus-Statue entsprach. So lag die Vermutung nahe, dass man hier dem Künstler eigens eine Werkstatt zur Verfügung gestellt hatte, um das spätere Weltwunder zu erschaffen. Dass diese Werkstatt in der Antike tatsächlich existierte, wird von Pausanias bestätigt, der bei seiner Besichtigung von Olympia in der Altis, dem heiligen Bezirk des Zeus, notierte: „Außerhalb der Altis befindet sich ein Gebäude, das Werkstatt des Phidias heißt. Hier arbeitete Phidias an jedem Stück des Kultbildes, und in dem Gebäude befindet sich weiterhin ein Altar für alle Götter gemeinsam.“ Aufschlussreich war in diesem Zusammenhang auch der Fund einer kleinen Tonkanne, in die der Name des Phidias eingeritzt war. Daneben fanden die Ausgräber zahlreiche Materialien, die bewiesen, dass Phidias nicht nur mit Elfenbein und Gold, sondern auch mit Blei und Gips arbeitete. Außerdem kamen Werkzeuge und Terrakotta-Schablonen zum Vorschein. So konnte aller Wahrscheinlichkeit nach, zumal auch die Datierung stimmt, der Ort ausgemacht werden, an dem Phidias die unsterbliche, klassische Zeus-Statue hergestellt hat. Bei keinem anderen Weltwunder konnte man die Stätte der Erschaffung so exakt lokalisieren wie bei diesem Atelier, das im 5. Jahrhundert n. Chr. in eine christliche Basilika umgewandelt wurde.

DAS MAUSOLEUM VON HALIKARNASSOS

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sehen ist von dem berühmten Bauwerk heute kaum noch etwas. Lediglich ein paar Fundamente und Säulenreste zeugen davon, dass sich hier, mitten in der modernen Touristenstadt Bodrum, eines der Sieben Weltwunder der Antike befand. Wie das Mausoleum des Mausollos von Halikarnassos genau ausgesehen hat, lässt sich nur ansatzweise rekonstruieren. Etwa 1600 Jahre lang hatte es allen Gefahren und äußeren Einflüssen getrotzt. Im 13. Jahrhundert jedoch richtete ein Erdbeben schwere Schäden an. Später kamen christliche Kreuzritter und verwendeten die Materialien des Mausoleums für den Bau der Johanniterburg von Bodrum. Vollends verlor das imposante Grab des Mausollos seinen einstigen Glanz, als englische Archäologen die noch verbliebenen Architekturteile bargen und ihnen im Britischen Museum in London einen neuen repräsentativen, allerdings auch nicht mehr authentischen Aufenthaltsort zuwiesen.

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Zum Glück liegen aus der Antike genügend Beschreibungen vor, die es erlauben, sich eine ungefähre Vorstellung von dem ursprünglichen Aussehen dieses Schmuckstücks antiker Sepulkralkunst zu machen. Ein Weltwunder erregte schließlich genug Aufmerksamkeit, um Eingang in die Literatur zu finden. Am ergiebigsten sind die Angaben bei dem römischen Schriftsteller Plinius dem Älteren (23–79 n. Chr.). Demnach handelte es sich bei der Grabstätte des Mausollos um ein etwa 50 Meter hohes Bauwerk. Über einem dreistufigen Sockel erhob sich der eigentliche Grabtempel, dessen Cella von 36 ionischen Säulen umgeben war. Gekrönt wurde das Monument von

Eine Quadriga krönte das Grabmal des Mausollos.

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einer aus 24 Stufen bestehenden Pyramide, an deren Spitze sich eine Quadriga mit Statuen befand. Nur das Beste ist gut genug

Der Auftraggeber Mausollos hatte sich seine letzte Ruhestätte einiges kosten lassen. Schon die beiden von ihm verpflichteten griechischen Architekten Satyros und Pytheos gehörten zu den absoluten Zierden ihres an Talenten nicht gerade armen Berufsstandes. Viel Wert legte er aber auch auf die dekorativen Elemente. Wiederum waren es die besten griechischen Künstler und Bildhauer, die sich im gegenseitigen Wettstreit um die optimale Gestaltung der Friese, der Plastiken und der Statuen kümmerten. Dabei verwendeten sie Motive aus der griechischen Mythologie wie die Kämpfe der streitbaren Amazonen und der wilden Kentauren. Unglücklicherweise starb Mausollos zu früh, um sein Mausoleum noch in fertigem Zustand bewundern zu können. So wurde er nach seinem Tod 353 v. Chr. in einem Provisorium bestattet. Die Arbeiten gingen inzwischen weiter, nun beaufsichtigt von Artemisia, die in Personalunion Schwester und Gattin des Verstorbenen war. Unter ihrer aufmerksamen Ägide entwickelte sich das Grab des Mausollos zu jenem Prachtbau, von dem er selbst geträumt hatte. Artemisia starb zwei Jahre später, und es ist nicht sicher, ob das Werk zu diesem Zeitpunkt bereits vollendet war. Vielleicht zogen sich die Arbeiten noch länger hin. Im Dienst der Perser

Das prunkvolle Mausoleum von Halikarnassos war nicht das Grab eines Pharaos, eines Kaisers oder eines Königs. Es war vielmehr die repräsentative Ruhestätte eines im Grunde unbedeutenden lokalen Herrschers, der es aller-

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IN GRABMAL FÜR DIE EWIGKEIT

Der Begriff „Mausoleum“ ist als Bezeichnung für ein besonders opulent ausgestattetes Grabmal in den allgemeinen Sprachgebrauch eingegangen. Namensgeber war ein Provinzfürst aus dem südwestlichen Kleinasien, der in der ersten Hälfte des 4. Jahrhunderts v. Chr. in der Stadt Halikarnassos, dem heutigen Bodrum, residierte. Mochte Mausollos auch nicht zur ersten Riege der politischen Prominenz seiner Zeit gehören – das Mausoleum von Halikarnassos, von ihm selbst noch zu Lebzeiten in Auftrag gegeben und von renommierten Architekten und Künstlern gestaltet, bescherte ihm ewigen Nachruhm.

dings verstanden hatte, sich in unruhigen Zeiten zu behaupten und sogar einigen politischen Einfluss zu gewinnen. Mausollos stammte aus einer vornehmen Familie, die traditionell über eine Vormachtstellung in Karien verfügte. So hieß in der Antike jene Landschaft im Südwesten der heutigen Türkei, deren geographisches Profil vom Wechsel zwischen Bergregionen und fruchtbaren Küstenstreifen geprägt ist. Doch war die Führungsrolle der Familie alles andere als souverän. Im Osten hatten die Karer in dem Reich der persischen Achämeniden einen mächtigen Nachbarn. Der starke Arm des Großkönigs

Auf den Reliefs waren kriegerische Szenen dargestellt.

reichte bis an die Küsten der Ägäis. Alte griechische Gründungen wie Milet oder Priene, einst die Streitobjekte in den großen Kriegen zwischen Persern und Griechen im 5. Jahrhundert v. Chr., standen ebenso in Abhängigkeit von den Persern wie die einheimische anatolische Bevölkerung von Karien. Den Vorfahren des Mausollos war es immerhin gelungen, sich den Persern als Helfer anzudienen und in deren Namen die Herrschaft auszuüben. Rechtliche Handhabe bot ihnen der Posten des Satrapen, wie in der persischen Verwaltungssprache die Statthalter der einzelnen Provinzen ihres Imperiums genannt wurden.

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Satrap mit Ambitionen

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Im Jahr 377 v. Chr. übernahm Mausollos in der Nachfolge seines Vaters das Amt des Satrapen von Karien. Nominell hatte er in dieser Funktion den Direktiven aus den fernen Residenzstädten Susa und Persepolis zu gehorchen. Doch war er in den 24 Jahren, in denen er die Geschicke seiner karischen Heimat lenkte, mehr als nur ein willfähriger Befehlsempfänger der Perser. Als 362 v. Chr. eine Reihe von Satrapen gegen den persischen Großkönig revoltierte, stand der Satrap von Karien auf ihrer Seite. Gleichwohl war er realistisch genug, wieder auf die Seite des Königs zu schwenken, als der Aufstand ohne Erfolg blieb. Die innere Schwäche des persischen Reiches nutzte der selbstbewusste Mausollos in den folgenden Jahren zu einer relativ eigenständigen Politik. In Karien herrschte er zeitweise wie ein unabhängiger Potentat. Mit seinem energischen Regierungsstil machte sich Mausollos nicht nur Freunde. In den Quellen ist wiederholt von allerdings stets erfolglosen Attentaten die Rede. Innenpolitisch trat er prägend in Erscheinung mit der Verlegung der Hauptstadt von Mylasa im karischen Kern-

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Das Grab des Mausollos in Halikarnassos wurde sozusagen zum namengebenden Prototyp für die Prachtgräber der Reichen und Mächtigen.

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FUNKTION:

Grabmal

S TA N D O R T :

Halikarnassos in Kleinasien,

das heutige Bodrum in der Türkei BAUZEIT:

vor der Mitte des 4. Jahrhunderts v. Chr

BAUHERREN:

der karische Dynast Mausollos und seine

Schwester/Frau Artemisia BAUMEISTER:

die griechischen Architekten Satyros und Pytheos

land nach dem direkt am Meer gelegenen Halikarnassos. Der Schritt an die Küste war kein Zufall. Der Blick des Satrapen war immer auch auf das Meer gerichtet. Intensiv mischte er sich in die Angelegenheiten der Griechen ein. Das bekamen die Städte an der kleinasiatischen Westküste, aber auch auf den Inseln der Ägäis zu spüren. Sogar bis nach Kreta erstreckte sich zeitweise der Einfluss des Potentaten aus Halikarnassos.

sowie berühmte Bildhauer und Künstler BEDEUTUNG:

gilt als eines der wichtigsten Werke

ionischer Baukunst der Spätklassik ZERSTÖRUNG:

im 13 Jahrhundert durch ein schweres Erdbeben;

später durch die Johanniter-Tempelritter, die mit dem Baumaterial das Kastell St. Petri errichteten; 1523 war es vollständig abgetragen AUSGRABUNG:

zahlreiche Versuche seit dem 19. Jahrhundert,

Freilegung des Fundaments durch Charles T. Newton, Fund von Skulpturen und Bauteilen, weitere Ausgrabungen in den 1960er-/ 1970er-Jahren durch den Dänen Jeppesen E R H A L T U N G S Z U S TA N D :

spärliche Reste im antiken Halikarnassos;

Fries und Statuen befinden sich heute im Britischen Museum in London

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Ein Mann mit Zukunft

Mausollos war kein Grieche. Aber er hatte ein Faible für griechische Kultur. Und er war seiner Zeit voraus. Zutreffend sieht man in ihm einen Vorläufer des Hellenismus. Mit Alexander dem Großen, der drei Jahre vor dem Tod des Mausollos geboren wurde, begann die Ära der Vermischung von griechischer und orientalischer Kultur. Am Schnittpunkt beider Kulturbereiche wirkte Mausollos schon vorher als Vermittler. Mit seinem Grabmal in Halikarnassos setzte er hinter diese Bestrebungen ein Ausrufezeichen. Ägyptische und lykische Elemente formten sich hier mit griechischen Architekturteilen zu einem neuen Ganzen. Und er schuf mit dem „Mausoleum“ einen Grabtypus für die Ewigkeit. Auch die Römer ließen sich inspirieren, wie im 2. Jahrhundert n. Chr. der griechische Reiseschriftsteller Pausanias zu vermelden wusste: „Das Grab in Halikarnassos ist für Mausollos ... gebaut. Es ist so groß und in seiner ganzen Ausstattung so wunderbar, dass es sogar die Römer gewaltig bewundern und die herausragenden Grabdenkmäler bei sich Mausoleen nennen.“ Die in Rom zu bestaunenden Prachtgräber der Kaiser Augustus (Mausoleum Augusti) und Hadrian (Mausoleum Hadriani, später Engelsburg) legen von der Vorbildlichkeit des Grabes von Halikarnassos eindrucksvolles Zeugnis ab.

DER KOLOSS VON RHODOS

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Ein Deal mit dem Gott

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eigenartige Geschichte des Kolosses von Rhodos beginnt mit dem Tod Alexanders des Großen. 323 v. Chr. starb der makedonische König in Babylon, nachdem er in etwas mehr als zehn Jahren ganz Asien bis zum Indus erobert hatte. Gleich nach seinem Tod brachen unter seinen Generälen erbitterte Auseinandersetzungen um das Erbe Alexanders aus. Auch die griechischen Städte und Inseln wurden in den Sog dieser Diadochenkämpfe gezogen. Mehr oder minder erfolgreich wehrten sie sich gegen die Angriffe der ehrgeizigen Militärs. Der Insel Rhodos gelang es jedoch, sich gegenüber den Generälen zu behaupten. 306 v. Chr. tauchte der Diadoche Demetrios mit einer Flotte vor den Toren der Hauptstadt Rhodos im Norden der Insel auf. Sein Respekt einflößender Beiname Poliorketes (Städtebelagerer) verhieß an sich nichts Gutes. Die Rhodier, berühmt für ihren Pragmatismus und ihre Geschäftstüchtigkeit, schlugen ihrem Schutzgott Helios einen Handel vor. Würde der Sonnengott ihnen bei der Abwehr des ungebetenen Gastes helfen, würden sie ihm ein wertvolles Weihgeschenk stiften. Offenbar ging Helios auf das Angebot ein. Trotz des massiven Einsatzes von Belagerungsmaschinen gelang es Demetrios nicht, die Stadt zu stürmen. So musste er Rhodos aus seinen strategischen Planungen streichen und den Rückzug antreten. Die dankbare Bevölkerung von Rhodos hielt sich an ihr Versprechen und gab den Bau eines riesigen Standbildes für den Gott Helios in Auftrag.

Das Problem mit dem Kostenvoranschlag

Leisten konnte man sich die immensen Kosten eigentlich ohne Schwierigkeiten. Rhodos hatte sich in den Jahrzehnten zuvor zu einer der führenden Handelsmetropolen im östlichen Mittelmeerraum entwickelt. Überall waren rhodische Schiffe unterwegs, um lukrative Geschäfte abzuwickeln. Günstig hatte sich auch die Konzentration der Kräfte in der 408 v. Chr. an der Nordspitze der Insel gegründeten neuen Hauptstadt, die den gleichen Namen wie die gesamte Insel trug, ausgewirkt. Dadurch verloren die bisher dominierenden Städte Kamiros, Ialysos und Lindos erheblich an Bedeutung. Das urbane Leben spielte sich nun ausschließlich in Rhodos-Stadt ab. Hier sollte nach dem Willen der verantwortlichen Politiker – Rhodos war zu diesem Zeitpunkt ein demokratisch organisiertes Gemeinwesen – auch die HeliosStatue ihren Standort finden. Mit der Durchführung der Arbeiten wurde der einheimische Bildhauer Chares aus Lindos beauftragt, ein Schüler des berühmten Lysippos aus Sikyon. Den Meister selbst zu engagieren, scheuten sich die reichen Rhodier wohl deswegen, weil Lysippos nicht nur an die Kunst, sondern auch an seine Finanzen zu denken pflegte. Chares aber kannte sich mit Kostenvoranschlägen nicht so gut aus. Eine vielleicht nicht über jeden Zweifel erhabene Geschichte aus späterer Zeit kolportiert in diesem Zusammenhang eine merkwürdige Begebenheit. Zuerst fragte die zuständige Finanzbehörde von Rhodos den Künstler, was der Bau der geplanten Helios-Statue kosten würde. Chares nannte einen Preis. Daraufhin erkundigten sich die Beamten, wie viel sie bezahlen müssten, um eine doppelt so große Statue zu errichten. Chares gab zur Antwort: „Die doppelte Summe.“ Auf dieser Grundlage wurde ein Vertrag geschlossen. Bald zeigte es sich, dass die bewilligten Mittel be-

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reits für die konzeptionellen Vorbereitungen und Fundamentierungen verbraucht wurden. Wie die Quelle berichtet, habe sich Chares daraufhin umgebracht. Ganz so drastisch wird die Reaktion des Künstlers nicht gewesen sein. Man darf getrost davon ausgehen, dass er die Arbeit zu einem erfolgreichen Ende geführt hat. Der griechische Schriftsteller Sextus Empiricus, der im 2. Jahrhundert n. Chr. diese Episode verbreitete, wollte an Chares vor allem die limitierten mathematischen Fähigkeiten eines bildenden Künstlers demonstrieren. Das Achtfache und nicht das Doppelte, so die Moral von der Geschichte, hätte Chares fordern müssen, um alle Kosten abzudecken. Historisch glaubwürdiger sind Angaben bei dem gewöhnlich gut informierten römischen Schriftsteller Plinius dem Älteren (23 bis 79 n. Chr.). Demnach verschlangen die Arbeiten an dem Koloss die astronomische Summe von 300 Talenten. Diesen Betrag aber hatten die Rhodier nicht aus der Staatskasse aufbringen müssen. Vielmehr bedienten sie sich der Belagerungsgeräte, die der erfolglose Angreifer Demetrios Poliorketes zurückgelassen hatte. Sie wurden zum Verkauf angeboten und in das Projekt „Koloss“ reinvestiert.

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einer Figur in die Kategorie „Koloss“. Dafür waren eine Mindesthöhe von 10 Fuß, also 2,90 Metern, und eine Maximalhöhe von 100 Fuß, also 29 Metern, erforderlich. So gesehen war der Koloss von Rhodos mit seinen 32 Metern noch höher, als von den Experten normativ vorgegeben. Schwierige Rekonstruktion

Der Koloss von Rhodos präsentierte sich als eine in mehreren Teilen gegossene, bronzene Statue des Sonnengottes Helios. Doch über das genaue Aussehen herrscht weitgehend Unklarheit. Es gibt keine zeitgenössischen Beschreibungen, und auch die Münzbilder, die häufig bei der Rekonstruktion antiker Bauwerke von großem Nutzen sind, helfen nur wenig weiter. Sie porträtieren nur

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URZES WUNDER VON IMPOSANTER

GRÖSSE Im illustren Kreis der Sieben Weltwunder der Antike kommt dem

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Elf Jahre lang, von 304 bis 293 v. Chr., dauerten die Arbeiten an der kolossalen Statue des Helios. Sie erreichte die beeindruckende Höhe von 32 Metern, wodurch die Bedeutung von „Koloss“ im griechischen Sprachgebrauch eine völlige neue Dimension gewann. Bis dahin bezeichnete der Begriff ganz allgemein eine Figur oder eine Statue. Von nun an verband man damit ganz konkret eine Statue von imponierender Größe. In der griechischen Fachwelt etablierten sich seit der Einweihung des rhodischen Helios sogar ganz exakte Daten für die Einordnung

Koloss von Rhodos die zweifelhafte Ehre zu, jenes Weltwunder gewesen zu sein, das die kürzeste Zeit existierte. Nur 66 Jahre hatten die Menschen Zeit, die riesige Statue des Sonnengottes Helios in voller Pracht und Schönheit zu bewundern. Dann machte ein Erdbeben dem Symbol des Reichtums der Handelsmetropole Rhodos ein Ende.

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Der Koloss von Rhodos präsentierte sich als eine in mehreren Teilen gegossene, bronzene Statue des Sonnengottes Helios. Doch über das genaue Aussehen herrscht weitgehend Unklarheit.

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den Kopf der Statue, Mittel- und Unterbau des riesigen Körpers sind nicht dargestellt. Anhaltspunkte liefern vergleichbare, wenn auch kleinere, auf jeden Fall besser dokumentierte Figuren aus der griechischen und der römischen Welt. Sicher war der Koloss von Rhodos eine stehende Statue, vielleicht platziert auf einem tempelähnlichen Podium. Der antike Weltwunder-Chronist Philon von Byzanz gibt vor, genauere Kenntnisse über die Einzelheiten der Bauarbeiten zu besitzen. Doch Details über das Aussehen des fertigen Kolosses liefert auch er nicht. Überwältigt ist Philon dagegen von der Masse der Materialien, die bei dem Bau Verwendung fanden. 500 Talente Bronze und 300 Talente Eisen sollen eingearbeitet worden sein. Bei einem durchschnittlichen Gewicht von einem Talent Metall von 20 bis 30 Kilogramm dürften in den elf Jahren der Konstruktion also ungeheure Massen an Material verbraucht worden sein. Das geläufige Bild vom Koloss von Rhodos haben vor allem Zeichnungen und Gemälde aus der frühen Neuzeit geprägt, wie der berühmte Kupferstich von Maarten van Heemskerck aus dem Jahr 1572. Sie zeigen die überdimensionale Helios-Statue mit gespreizten Beinen über der Hafeneinfahrt von Rhodos, in der Hand eine Fackel. Offenbar hielten die späteren Künstler den Koloss ganz funktional für eine Art von Leuchtturm. Anhaltspunkte dafür, dass diese Annahme richtig ist, gibt es jedoch nicht. Antike Berichte, die auf den Koloss Bezug nehmen, enthalten keinerlei Hinweise auf eine solche Verwendung, was doch zu erwarten gewesen wäre, hätte es sie tatsächlich gegeben. Auch aus statischen Gründen erscheint es unmöglich, dass Helios als kolossales Empfangskomitee für jene Schiffe fungierte, die in den Hafen von Rhodos einfuhren. Es ist überhaupt unwahrscheinlich, dass der Koloss sich in räumlicher Nähe zum Hafen befand. Hier handelte es

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sich schließlich um ein Weihgeschenk an einen Gott, und dafür gab es in der Stadt geeignetere sakrale Plätze. Kurze Freude

Es bleibt also nur die Feststellung, dass über den Standort des Kolosses von Rhodos keinerlei Klarheit herrscht. Heute gibt es keine Spur mehr von dem Giganten unter den antiken Kolossalstatuen, sodass auch die Archäologie hier keine Hilfestellung leisten kann. Nur 66 Jahre nach der feierlichen Einweihung wankte der Koloss nicht nur, er fiel auch komplett in sich zusammen. Auslöser war ein verheerendes Erdbeben, von dem die seismisch anfällige Insel Rhodos 227 v. Chr. getroffen wurde. Die Schäden, welche die Naturkatastrophe damals anrichtete, waren immens. Große Teile der Stadtmauern stürzten ein, in Mitleidenschaft gezogen wurden auch zahlreiche öffentliche und private Gebäude. Trotz seiner massiven Gestalt überstand der Koloss das Desaster nicht. Gleich nach seiner Fertigstellung zum Weltwunder erklärt, wurde die Helios-Statue zu jenem Weltwunder, das die kürzeste Zeit Bestand hatte. Der griechische Geograph und Historiker Strabon traf wahrscheinlich die Empfindungen der betroffenen Rhodier, als er später lapidar schrieb: „Jetzt liegt er da, durch ein Erdbeben umgeworfen und an den Knien abgebrochen.“ Wiederaufbau verboten

Für einen Moment dachten die Bewohner von Rhodos daran, den Koloss, der inzwischen zu einem Wahrzeichen ihrer Stadt geworden und nun nur noch ein trauriger Trümmerhaufen war, wieder aufzubauen. Doch interpretierte man Naturkatastrophen damals als ein Zeichen oder eine Strafe der Götter. So fragte man vorsichtshalber

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Das tempelartige Podium war mit Akroteren geschmückt.

Plinius hin, der in der Mitte des 1. Jahrhunderts, also 280 Jahre nach dem Einsturz, notierte: „Der Koloss wurde nach 66 Jahren durch ein Erdbeben umgestürzt. Doch auch im Liegen erregt er noch Staunen. Nur wenige können seinen Daumen umfassen, seine Finger sind größer als die meisten Standbilder. Weite Höhlungen klaffen in den zerbrochenen Gliedern. Innen sieht man große Steinmassen, durch deren Gewicht man die Statue beim Aufstellen stabilisiert hatte.“

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Professionelle Geldsammler

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bei einem Orakel an. Die Auskunft war anscheinend wenig ermutigend. Denn in der Folgezeit beschränkten sich die Rhodier darauf, Fragen nach einem Neuanfang konsequent abzuwehren. Selbst als man ihnen, wie ein hellenistischer König (einer der Nachfolger Alexanders des Großen), finanzielle Hilfe anbot, um die Einzelteile des Helios wieder zu einer imposanten Statue zu formen, waren sie nicht dazu zu bewegen, das gestürzte Weltwunder zu reaktivieren. „Was gut liegt, soll man nicht bewegen“, lautete die lakonische Auskunft. Dabei machte der Koloss sogar noch in seinem demolierten Zustand einen respektablen Eindruck. Offenbar war nun der Trümmerhaufen selbst zu einer Attraktion geworden. Darauf deutet zumindest eine Aussage bei

Die restriktive Haltung ist umso bemerkenswerter, als die Rhodier ansonsten ein großes Geschick an den Tag legten, um die übrigen Schäden, die das Erdbeben angerichtet hatte, mit fremder Hilfe zu beheben. Bei aller Trauer um den Verlust ihres Kolosses verloren sie nicht den Blick für das Geschäft. Hatten sie noch das königliche Angebot abgelehnt, den Koloss wieder aufzubauen, so zögerten sie nicht, selbst die Initiative zu ergreifen und per Boten in der gesamten Mittelmeerwelt auf das schreckliche Schicksal hinzuweisen, das ihnen das Erdbeben zugefügt habe. Zaghafte Fragen nach dem Koloss dürften sie dabei mit der inzwischen üblich gewordenen Beharrlichkeit zurückgewiesen haben. Es ging nicht um Helios, sondern um die Mauern, die Gebäude, die Hafenanlagen. Und während also der zerstörte Koloss vor sich hindämmerte, starteten die Rhodier eine einzigartige Werbeaktion für den Rest der Stadt. Dabei gingen sie mit einer genialen Strategie vor. Ihre Gesandten tauchten bei den Reichen und Mächtigen jener Zeit auf und malten ihr Unglück in den dunkelsten Farben aus. Dabei traten sie jedoch so würdevoll und respektabel auf, dass keiner der potenziellen Spender auf die Idee kam, es hier etwa mit Bittstellern zu tun zu haben. Die Aktion brachte das er-

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wünschte Ergebnis. Die Honoratioren in den Städten, vor allem aber die gekrönten Häupter überhäuften sie geradezu mit Spenden und Geschenken. Es gelang den findigen Rhodiern zudem noch, den Geldgebern das Gefühl zu vermitteln, dass sie den Besuchern aus Rhodos und nicht umgekehrt diese den Stiftern Dank schuldeten. Letztlich kalkulierten die klugen Rhodier bei ihrer Werbetour mit einem psychologischen Effekt. Sie waren sich darüber im Klaren, dass zwischen den hellenistischen Königen, aber auch zwischen den griechischen Städten ein Klima der Rivalität und des Wettstreits bestand. Die Avancen der Rhodier boten nicht allein die Chance, sich als Wohltäter zu gerieren. Darüber hinaus handelte es sich um eine gute Gelegenheit, seine eigenen finanziellen Möglichkeiten vor aller Welt offenzulegen und damit die Konkurrenten zu ärgern. Reich beschenkt traten daher die rhodischen Gesandten den Weg in die Heimat an. In ihrem Gepäck befanden sich allein 100 Talente Edelmetall als Spende der Tyrannen von Syrakus auf Sizilien. Ptolemaios, der in Alexandria residierende Herrscher von Ägypten, hatte ebenfalls tief in die gut gefüllte königliche Kasse gegriffen und den Rhodiern eine Spendenliste offeriert, von der er annahm, damit alle anderen Monarchen in den Schatten zu stellen. Doch die hatten sich, in Kenntnis dessen, was Ptolemaios in die Wagschale geworfen hatte, ebenfalls mächtig angestrengt, um den ungeliebten Kollegen in Alexandria auszustechen. So waren die Schiffe der Rhodier, als sie in den heimatlichen Hafen einfuhren, auch mit Geld, Edelmetallen und Sachgütern aus Makedonien und Syrien überladen. Auf diese Weise war Rhodos nach dem Erdbeben von 227 v. Chr. bald wieder saturiert. Es stand sogar entschieden besser da als vorher, sodass manche insgeheim

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FUNKTION:

Statue des Sonnengottes Helios

S TA N D O R T:

Rhodos-Stadt auf der Insel Rhodos (Griechenland)

BAUZEIT:

zwischen 304 und 293 v. Chr.

BAUHERR:

Chares aus Lindos

ZERSTÖRUNG:

227 v. Chr. durch ein Erdbeben. Da Naturkatastrophen

als Strafe der Götter galten und das zu einem Wiederaufbau befragte Orakel vermeintlich abschlägig antwortete, wurde der Koloss nicht wieder errichtet. Aber die geschäftstüchtigen Rhodier verkauften nach und nach die lukrativsten Teile der zerstörten Statue. Der Abtransport zog sich bis ins Jahr 654 n. Chr.

den Göttern dafür dankten, dass die das Erdbeben geschickt hatten. Und es dauerte nicht lange, da erstrahlte die Stadt im Norden der Insel in neuem Glanz. Die Mauern waren repariert, die Tempel restauriert. Und auch die privaten Gebäude, die das Erdbeben in Mitleidenschaft gezogen hatte, standen wieder auf festen Füßen.

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Der Koloss und die Kamele

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Rhodos war ein Schmuckstück geworden. Nur der zerstörte Koloss erinnerte noch an das Unglück. „Was gut liegt, soll man nicht bewegen“? Die Auskunft des Orakels, erteilt unmittelbar nach dem Erdbeben von 227 v. Chr., blieb nicht nur für diejenigen die oberste Maxime im Umgang mit dem Koloss, die direkte Zeugen des Einsturzes gewesen waren. Auch in den folgenden Jahren, Jahrzehnten und Jahrhunderten hielt man sich an diese Vorgabe: Ein Wiederaufbau des Kolosses war ein Tabu. Aber an Geschäftstüchtigkeit standen auch die späteren

Rhodier den Vorfahren nicht nach. Natürlich sollte der Koloss nicht mehr wie Phönix aus der Asche aus seinen Trümmern auferstehen. Doch wer konnte es verbieten, dass man die wertvollen Metallteile verkaufte? Nach und nach wurde der Koloss also seiner lukrativsten Teile beraubt. Es war eine Demontage auf Raten, die sich bis in das Jahr 654 n. Chr. hinzog. 871 Jahre nach Einsturz des Kolosses von Rhodos wurde der Vorhang für den letzten Akt geöffnet. Die Welt hatte sich inzwischen grundlegend verändert. Schon längst waren es nicht mehr hellenistische Könige, die in der ostmediterranen Welt das Sagen hatten. Bis zu diesem Jahr 654 n. Chr. stand Rhodos unter der Herrschaft des oströmischen Reiches von Byzanz, das nach dem Ende des weströmischen Reiches für die Kontinuität der Macht Roms verantwortlich war. Wenige Jahre zuvor war von der arabischen Halbinsel die große Expansion des Islam ausgegangen. In dieser historischen Umbruchzeit machten die Epigonen der alten Rhodier das letzte große Geschäft mit ihrem Koloss. In eben jenem Jahr 654 n. Chr. gelang es einer arabischen Flotte unter Führung des späteren Omaijaden-Kalifen Muawiya, sich nach einem Seesieg über die Schiffe der Byzantiner vorübergehend in den Besitz von Rhodos zu bringen. Der griechische Chronist Theophanes berichtet in diesem Zusammenhang davon, dass es ein jüdischer Kaufmann aus Edessa, dem heutigen Sanliurfa im südöstlichen Anatolien, gewesen sein soll, der während dieses arabischen Intermezzos die Relikte des Kolosses abtransportierte. Der Verkauf muss sich für die Rhodier gelohnt haben, denn immer noch waren von dem einstigen Weihgeschenk an den Gott Helios viele Teile vorhanden. Jedenfalls brauchte der jüdische Händler für den Abtransport nicht weniger als 900 Kamele. Doch danach verliert sich die Spur des Kolosses vollends im Dunkel der Geschichte.

DER LEUCHTTURM VON ALEXANDRIA

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m Jahr 331 v. Chr. gründete Alexander der Große an der ägyptischen Mittelmeerküste die Stadt Alexandria. Die weitere Entwicklung seiner Gründung abzuwarten, hatte er keine Zeit. In den folgenden Jahren unterwarf er das mächtige Perserreich und dehnte seine Herrschaft bis an den Indus aus. Überall trat er dabei als Gründer von Städten in Erscheinung, denen er, wenig einfallsreich, aber propagandistisch sehr effektvoll, ebenfalls den Namen Alexandria gab. Doch das in Ägypten gegründete Alexandria stellte alle anderen in den Schatten. Obwohl er über wenig Zeit verfügte, hatte es sich der König nicht nehmen lassen, die Arbeiten an der neuen Stadt persönlich zu beaufsichtigen. Er kümmerte sich um die Anlage der Straßen, um die ersten Bauten, um den Verlauf der Stadtmauer, um die Konstruktion des Hafens. Den ganzen Winter 331/330 v. Chr. über verbrachte Alexander in seiner neuen Stadt, bevor er sich auf den Weg weiter nach Osten machte. Mehr noch, als es der Eroberer aus Makedonien erwartet haben dürfte, entwickelte sich die Stadt rasch zu einer pulsierenden Metropole. Das war vor allem das Verdienst von König Ptolemaios I., dem es gelungen war, sich in den Kämpfen um die Nachfolge Alexanders, den berüchtigten Diadochenkämpfen, das reiche Ägypten und die benachbarte Kyrenaika zu sichern. Seite an Seite hatte er zuvor in Asien mit Alexander gekämpft und sich als dessen unentbehrlicher Helfer erwiesen. Alexandria erhob der überzeugend vom Militär zum umsichtigen Politiker gewandelte Monarch zu seiner Residenz und sorgte mit der Überführung der sterblichen Überreste Alexanders von Babylon in die neue ägyptische Hauptstadt

für eine Aufwertung der eigenen Herrschaft. Ptolemaios I., der den vielversprechenden Beinamen Soter (Retter) angenommen hatte, stattete die neue Metropole mit prächtigen Straßen und glanzvollen Bauten aus. Schon unter Alexander hatte Alexandria eine gute Figur gemacht. Doch nun begann eine Periode des Glanzes, der Pracht und des Wohlstands. Ein zeitgenössischer Bewunderer verstieg sich zu der zwar unbescheidenen, aber doch zutreffenden Behauptung, Alexandria sei schlicht „die Stadt der Welt“. Schon im 3. Jahrhundert v. Chr. lebten in Alexandria annähernd 100 000 Menschen. Bei den Bauten, mit denen sie die Stadt versahen, scheuten die Könige keine Kosten und Mühen. Besucher wussten nicht, wovon sie am meisten beeindruckt und worüber sie am meisten erstaunt sein sollten. Neben dem Königspalast setzte vor allem das berühmte Museion Maßstäbe, in dem der König die besten Wissenschaftler aus aller Welt versammelte. Daran angeschlossen war eine Bibliothek, die unter den Ptolemäern zur wichtigsten Einrichtung dieser Art avancierte. Schließlich waren es über 700 000 Bände, die in der Bibliothek von Alexandria auf Leser warteten. Der Eifer, mit dem sich der König Ptolemaios I. der Ausgestaltung seiner Residenzstadt widmete, hatte seine Ursache zu einem guten Teil auch darin, dass er im Konkurrenzkampf mit den anderen makedonischen Königen, die im Streit um Alexanders Erbe territoriale Herrschaften installiert hatten, Pluspunkte sammeln wollte. Zu seinen Dauergegnern zählten insbesondere die Seleukiden im benachbarten Syrien, die ihre Residenzstadt Antiochia ebenfalls zu einem urbanen Schmuckstück ausgestaltet hatten. Später waren es die Könige von Pergamon, die den Ptolemäern wenigstens kulturell den Rang abzulaufen versuchten. Antreiben ließ sich der König, der als

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Makedone für die einheimischen Ägypter ein Fremder war, auch von der ruhmreichen Vergangenheit des Nillandes und seinen großen Pharaonen. Hier galt es zu beweisen, dass man in der Lage war, an diese einstige Bedeutung Ägyptens nahtlos anzuknüpfen. Der Arbeitsauftrag an sich selbst lautete also: Ägypten musste unter seinem neuen König zu alter Macht zurückfinden. Florierende Wir tschaft

Doch es ging Ptolemaios bei seinen Unternehmungen nicht allein um Prestige und Tradition. Vielmehr war er auch darauf aus, aus Ägypten einen starken, und das hieß vor allem: einen finanzstarken Staat zu formen. Und so lag auch die Förderung von Wirtschaft und Handel dem umtriebigen Monarchen besonders am Herzen. Eine wichtige Funktion kam dabei dem Hafen von Alexandria zu. Immer mehr Schiffe steuerten die ägyptische Küste an, nicht nur aus dem Mittelmeergebiet, sondern auch aus Indien und Arabien, die dabei einen Kanal zwischen dem Roten Meer und dem Mittelmeer benutzten – einen antiken Vorläufer des modernen Suezkanals. Ägyptische Schiffe ihrerseits fuhren bis nach Indien, um dort im Westen begehrte Güter zu laden und nach Alexandria zu bringen. Genau in diesen Zusammenhang gehört der Bau des Leuchtturms von Alexandria. Aus der Tatsache, dass Alexandria zu einem bedeutenden Umschlagplatz von Waren aus aller Welt geworden war, leitete Ptolemaios die richtige Überlegung ab, dass man den Schiffen ein Höchstmaß an Sicherheit bei der Einfahrt in den Hafen bieten müsse. Tatsächlich steckte die Signaltechnik damals noch in den Kinderschuhen. Große Leuchtanlagen waren unbekannt, man behalf sich, wollte man die Kapitäne bei der Orientierung unterstützen, mit einfachen Säulen, auf denen ein offenes Feuer loderte.

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Ein Fachmann muss her

Mit solchen simplen Konstruktionen wollte sich Ptolemaios, der immer und überall in monumentalen Kategorien dachte, bei seinem Hafen nicht zufrieden geben. Ihm schwebte ein Bauwerk gigantischen Ausmaßes vor, mit einer bis dahin unbekannten Reich- und Sichtweite. Den richtigen Fachmann zur Durchführung dieses schwierigen Unternehmens fand er in Sostratos. Der griechische Ingenieur aus dem kleinasiatischen Knidos hatte bereits in seiner Heimatstadt und in der Orakelstätte von Delphi durch kühne Bauprojekte auf sich aufmerksam gemacht. 299 v. Chr. begann er mit den Arbeiten, die sich über 20 Jahre hinzogen. Über die Bauarbeiten selbst liegen keine Nachrichten vor. So ist auch nicht bekannt, wie viele Arbeiter bei dem Projekt eingesetzt

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Über Jahrhunderte hinweg leistete der Leuchtturm von Alexandria den Schiffen vor der Küste Ägyptens zuverlässige Dienste. Seine Entstehung verdankte dieses Wunderwerk der Baukunst und Technik der Initiative zweier Könige aus der Familie der Ptolemäer. Sie dachten bei dem ambitionierten Projekt zwar auch an ihr eigenes Prestige, vor allem aber an den Wirtschaftsstandort Alexandria. Erst ein Erdbeben bereitete dem Prototyp aller modernen Leuchttürme ein Ende.

wurden und welcher technischen Hilfsmittel man sich bediente. 279 v. Chr. konnte endlich die Einweihung gefeiert werden. Ptolemaios I. war zu diesem Zeitpunkt schon nicht mehr am Leben. So war es seinem Sohn und Nachfolger Ptolemaios II. vorbehalten, sich bei der feierlichen Einweihung im Glanz dieses Monumentes sonnen zu dürfen. Gestorben war der Vater drei Jahre zuvor, und der zweite Ptolemaios mit dem Beinamen Philadelphos hatte sich sogleich energisch in die Regierungsgeschäfte gestürzt. Den Beinamen Philadelphos, der so viel wie „der Geschwisterfreund“ bedeutet, hatte er übrigens angenommen, um seine Verbundenheit zu seiner Schwester Arsinoe, die gleichzeitig seine Ehefrau war, zum Ausdruck zu bringen. Ptolemaios II. setzte die expansive Wirtschafts- und Handelspolitik des Vaters fort. Daher dürfte er dankbar gewesen sein, dass die Arbeiten am Leuchtturm von Pharos nicht lange nach seinem Herrschaftsantritt endlich abgeschlossen werden konnten.

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Viele Zeitgenossen verlangten umgehend die Aufnahme des Leuchtturms von Alexandria in die Ehrenreihe der Sieben Weltwunder. Weil dafür aber aus den bereits existierenden Weltwunderlisten ein anderes Wunderwerk hätte gestrichen werden müssen, was bei den Betroffenen verständlicherweise auf wenig Zustimmung gestoßen wäre, tauchte der Leuchtturm von Alexandria zunächst nicht in allen antiken Wunderverzeichnissen auf. Doch im 2. Jahrhundert v. Chr. gelang es dem Pharos, die Stadtmauern von Babylon, die zu diesem Zeitpunkt ihre beste Zeit hinter sich hatten, aus den meisten der Listen zu verdrängen und er konnte sich nun das begehrte Attribut „Weltwunder“ anheften.

Dankbarer Auftraggeber

Ptolemaios II. war jedenfalls begeistert, und so konnte er auch die exorbitante Summe von 800 Talenten verschmerzen, die der Bau insgesamt verschlungen hatte. Die königlichen Kassen waren gut gefüllt, und großzügig gestattete es der Monarch dem Ingenieur Sostratos sogar, sich mit einer Inschrift an dem Bau zu verewigen. Das war ein besonderes Privileg, denn normalerweise waren derlei rühmende Gravuren ausschließlich für die Monarchen reserviert. Überhaupt war die Dankbarkeit des Königs fast grenzenlos. Er belohnte Sostratos mit dem Zugang zum elitären Kreis der „Freunde des Königs“ und betraute ihn darüber hinaus mit wichtigen diplomatischen Missionen außerhalb Ägyptens. Ein Name macht Schule

Der Standort des Leuchtturms von Alexandria war die der Küste vorgelagerte Insel Pharos, die bereits der Stadtgründer Alexander der Große durch einen Damm mit dem Festland verbunden hatte. Dadurch waren gleich zwei Häfen entstanden: der Große Hafen im Osten und der Kleine Hafen im Westen. Es spricht für den Vorbildcharakter dieser Anlage, dass der Name „Pharos“ bei den Griechen zum Synonym für „Leuchtturm“ wurde. Die Römer übernahmen die Bezeichnung in der latinisierten Form „Pharus“. Und in der Gegenwart nennen Italiener und Spanier einen Leuchtturm „faro“. A n t i k e r Wo l k e n k r a t z e r

Vom Aussehen des Turmes von Alexandria kann man sich heute nur noch eine ungefähre Vorstellung machen. Ein großes Erd- und Seebeben, das Alexandria und große Teile der östlichen Mittelmeerwelt 365 n. Chr. erschütterte, scheint einige Schäden angerichtet zu haben, ohne

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Vom Aussehen des Turmes von Alexandria kann man sich heute nur noch eine ungefähre Vorstellung machen

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Die Laterna, der Rundbau mit dem Leuchtfeuer, war auf acht Säulen gestützt.

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allerdings den Betrieb des Pharos nachhaltig zu gefährden. Im 13. Jahrhundert war der Leuchtturm jedoch nicht mehr in Gebrauch, und 1326 wurde er durch ein Erdbeben endgültig zerstört. Unterwasserarchäologen konnten einzelne Architekturteile im Meer vor Alexandria bergen. Jedoch reichen diese Befunde für eine zuverlässige Rekonstruktion der ursprünglichen Gestalt nicht aus. Doch zum Glück existieren aus der Antike eine Reihe von recht ausführlichen Beschreibungen, die einen Eindruck von jenem Bauwerk vermitteln, das über eineinhalb Jahrtausende hinweg unzähligen Schiffen den Weg zum sicheren Hafen wies. Zu nennen sind hier insbesondere der griechische Geograph Strabon (ca. 63 v. Chr. bis 19 n. Chr.) und der römische Fachautor Plinius der Ältere (23 bis 79 n. Chr.). Beide schrieben ihre Werke zu einem Zeitpunkt, als der Leuchtturm von Alexandria nun den Römern, die 30 v. Chr. die Herrschaft in Ägypten übernommen hatten, gute Dienste leistete. Die besten Berichte stammen allerdings aus der Feder von arabischen Gelehrten, die nach der im 7. Jahrhundert erfolgten Eroberung von Ägypten durch arabisch-muslimische Armeen ein noch größeres Interesse an dem Leuchtturm zeigten als ihre antiken Kollegen. Allerdings sind ihre zum Teil äußerst präzisen Angaben zu den Maßen nicht ganz unproblematisch, weil sie sich nicht nur in Detailfragen gelegentlich widersprechen. Eine Vorstellung von der Gestalt des Leuchtturms geben darüber hinaus Abbildungen auf Münzen aus der römischen Kaiserzeit. Sie beweisen zugleich, dass die Römer den Stolz der Ptolemäer auf dieses Bauwerk uneingeschränkt teilten. Fakt ist, dass der Turm eine Höhe von weit über 100 Metern aufwies. Manche – allerdings wohl übertriebene – Schätzungen gehen sogar von 140 bis 160 Metern aus. Auf jeden Fall aber gehörte der Leuchtturm von Alexan-

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dria zu den höchsten Gebäuden, die es in der Antike überhaupt gegeben hat. Die unterste Ebene des Bauwerks bildete eine steinerne Plattform, flankiert von Obelisken und versehen mit figuralen Elementen wie den Statuen von Göttern und der ersten beiden Ptolemäerkönige. Darüber erhob sich der eigentliche, nach oben hin immer schmaler werdende Bau auf drei Stockwerken. Über einem quaderförmigen Unterbau befand sich das zweite, als Oktogon gestaltete Stockwerk. Dann folgte die Laterna, ein Rundbau mit der Feuerungsanlage, gestützt auf acht Säulen. Gekrönt wurde das Bauwerk von einer Statue, die vermutlich den Meeresgott Poseidon, vielleicht auch den obersten griechischen Gott Zeus darstellte. Alexandria leuchtet

Das Leuchtsystem ist wahrscheinlich erst von den Römern, die ab 30 v. Chr. die Herrschaft in Ägypten übernahmen, in seinen definitiven Zustand gebracht geworden. Es war der spätere Kaiser Augustus, der unter dem Namen Octavian Ägypten in das Imperium Romanum einverleibte. Er löste damit die berühmte Königin Kleopatra VII. ab, der es zuvor noch gelungen war, den Diktator Iulius Caesar so weit zu umgarnen, dass er dem Land am Nil die Unabhängigkeit belassen hatte. Sicher gehörte der Leuchtturm zu jenen Sehenswürdigkeiten ihres Königreiches, die Kleopatra dem Besucher aus Rom stolz präsentiert hatte. Augustus war pragmatischer veranlagt. Er machte das wohlhabende Ägypten zum kaiserlichen Privatbesitz und profitierte auf diese Weise ganz persönlich von den Segnungen, die das alte Land der Pharaonen zu bieten hatte. Auch der Leuchtturm war unter diesen Voraussetzungen ein höchst interessantes Objekt. Der Hafen von Alexandria war in der Römerzeit weiterhin von außerordentlicher wirtschaftlicher Bedeutung.

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Ob es bereits Augustus oder erst einer seiner Nachfolger war, der fähige Ingenieure mit der Aufgabe betraute, die Feuerungsanlage auf den neuesten Stand der Technik zu bringen, ist nicht bekannt. Als Brennstoff diente jetzt jedenfalls harziges Holz, das in einem Ofen verbrannt wurde. Verstärkt wurde die Signalwirkung des Feuers durch ein raffiniertes System von großen Hohlspiegeln, die den Schein des Feuers verstärkten. In einer Entfernung von über 50 Kilometern konnten die Kapitäne der Schiffe das Feuer von Alexandria sehen. Nur ein kleiner Schönheitsfehler trübte den ansonsten perfekten Gesamteindruck: Bei manchen Schiffsbesatzungen sorgte das helle Feuer des Leuchtturms für Verwirrung, weil sie es für das Funkeln von Sternen hielten. „Die Flammen“, so erklärt Plinius die Konfusion, „haben aus der Ferne ein ähnliches Aussehen.“ Aus einem Leuchtturm wird eine Festung

Wer sich heute auf die Spurensuche nach dem Pharos von Alexandria begibt und nicht, wie französische Archäologen, im Meer tauchen will, sollte die Festung Kait Bay besuchen. Die Anlage des Mamelukken-Sultans aus dem 15. Jahrhundert befindet sich genau dort, wo einst der berühmte Leuchtturm stand. Die türkischstämmigen Mamelukken hatten zunächst für die Dynastie der Aijubiden Kriegsdienst geleistet, bevor sie selbst die Herrschaft in Ägypten übernahmen. Beendet wurde ihre führende Rolle durch die türkischen Osmanen, die Ägypten 1517 eroberten. Kait Bay war bis 1496, also bis kurz vor Ankunft der Osmanen, Mamelukken-Sultan in Ägypten gewesen. Um dem nach innen geschwächten und von außen bedrohten Reich der Mamelukken mehr Sicherheit zu verleihen, beschloss Kait Bay den Bau einer Festung an jener Stelle, die fast 1800 Jahre zuvor Sostratos von

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Leuchtturm

S TA N D O R T :

Pharos-Insel bei Alexandria in Ägypten

BAUZEIT:

zwischen 299 und 279 v. Chr.

AUFTRAGGEBER:

die Könige Ptolemaios I. und Ptolemaios II.

BAUMEISTER:

Sostratos aus Knidos

BEDEUTUNG:

der erste und der höchste jemals gebaute Leuchtturm;

nachdem die Stadtmauern von Babylon zerfallen waren, wurden sie in der Liste der Sieben Weltwunder durch den „Pharos“ von Alexandria ersetzt ZERSTÖRUNG:

1326 durch ein Erdbeben, die nicht im Meer versunkenen

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Reste sind verbaut in die Festung Kait Bay

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Knidos als Standort für den Leuchtturm von Pharos ausgewählt hatte. Bei dem Neubau kamen auch jene steinernen Reste des Pharos wieder zu Ehren, die bei dem Erdbeben von 1326 nicht im Meer versunken waren. Sie wurden in das Fort eingebaut und zeugen bis heute als zweckentfremdete Architekturteile von einem antiken Wunderwerk der Technik. Wer dagegen einen Leuchtturm aus der Antike sucht, der bis in die Gegenwart hinein noch seine Funktion ausübt, muss nach Spanien reisen. Im galizischen La Coruña leistet ein Leuchtturm aus römischer Zeit bis heute seine treuen Dienste. Nur unwesentlich wird die Freude der Besucher durch den Umstand getrübt, dass lediglich der Unterbau noch original antik ist. Besteigt man diesen Turm, dann kann man oben auf der Plattform noch am ehesten nachempfinden, wie grandios sich einst der Leuchtturm von Alexandria präsentierte und wie er in seiner langen Geschichte Tausenden von Schiffen den rechten Weg gewiesen hat.

Obelisken flankierten den Eingang zum Leuchtturm.

DIE KUNST DER REKONSTRUKTION: FRAGEN AN JENS JÄHNIG

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Wie entsteht eine Rekonstruktionszeichnung?

nächst braucht man Maße und Proportionen eines Bauwerks. Aus der Literatur lassen sich – leider nicht immer – diese Daten entnehmen, die dann hochgerechnet werden müssen. Die Größe des Bau- oder Kunstwerks bestimmt dabei meist die Größe der Zeichnung. Einfachere Motive werden weniger stark vergrößert als sehr detailreiche und komplexe. Zuerst fertige ich eine rein lineare technische Zeichnung mit einem sehr feinen Bleistift an. Diese Vorzeichnung wird auf hochwertigen Karton kopiert, sodass aus den grauen Bleistiftlinien starke, schwarze Konturen werden, die beim Kolorieren durch Aquarellfarben nicht verschmieren. Außerdem ist die Grundzeichnung so immer wieder verwendbar. Im nächsten Schritt wird die Zeichnung entweder schwarz-weiß schraffiert oder – sehr viel häufiger – koloriert. Zuerst wird mit Aquarellstiften die Farbe aufgetragen, dann wird Wasser hinzugefügt, sodass die Pigmente aufbrechen und ein gleichmäßiger Farbverlauf erzielt werden kann. Zum Schluss gehe ich mit den Buntstiften nochmals über die eingefärbten Flächen hinweg.

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Rekonstruktionen aus dem 19. und frühen 20. Jahrhundert sind meine Hauptquellen. Damals wusste man bereits, dass die Bauwerke farbig waren und hat sie dementsprechend farbig gezeichnet. Der Streit um die Farbigkeit dauert allerdings bis heute an und reicht von Plädoyers für absolute Farblosigkeit antiker Kunst (klassisch: Johann Joachim Winckelmann) über Farbigkeit nur in den Details bis hin zur vollständigen „Buntheit“.

Farbpigmentreste auf antikem Marmor und auch antike Schriftquellen von Euripides bis zu Plinius dem Älteren sprechen für letztere These: Die Antike war nicht erhaben weiß, sondern tatsächlich sehr bunt. Im Jahr 1814 brachte der französische Archäologe und Architekt Quatremère de Quincy mit seiner Schrift Le Jupiter olympien über die Zeus-Statue aus dem Heiligtum von Olympia die Polychromie-Debatte ins Rollen; sie schien die gängigen Lehrmeinungen zu revolutionieren, ehe sie im 20. Jahrhundert zugunsten einer auf Klarheit ausgerichteten Ästhetik (Stichwort Bauhaus) wieder in den Hintergrund geriet. In jüngster Zeit hat insbesondere die Ausstellung „Bunte Götter“ des Archäologen Vinzenz

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Brinkmann die These von der bunten Antike in konkreten Rekonstruktionen sehr stark gemacht. Im Einzelnen bleibt freilich vieles weiterhin Spekulation und Streitfrage der Wissenschaften. Wie „bunt“ waren die Bauwerke tatsächlich?

Tempel und Götterstatuen wurden dazu errichtet, einfachen Menschen den Glauben nahezubringen. Die Statuen sollten die Götter „real“ abbilden. So hat man sich die Götter wie Menschen vorgestellt und sie wie die Reichen und Mächtigen gekleidet. Da erscheint etwa die Zeus-Statue in zarten Pastelltönen oder gar farblos äußerst unwahrscheinlich. Außerdem hat man bei Ausgrabungen antiker Bauwerke immer wieder farbige Überreste am Stein gefunden. Manche Farben haben der Witterung länger standgehalten als andere, Ocker z. B. erhielt sich weniger lang als Blau oder Rot. Anhand von Ausgrabungen, die an einigen Stellen noch blaue oder rote Pigmente zeigen, kann man so durchaus rekonstruieren, welche – bereits verblassten – Farben für Reliefs o. Ä. verwendet wurden. Vor allem in der griechischen Antike wiederholen sich bestimmte Farben für bestimmte Gebäudeteile. So war bei Tempeln etwa der Hintergrund von Giebelfiguren und Reliefs meist blau, seltener rot. Das starke Blau symbolisiert nicht nur den Himmel, sondern bringt auch die Figuren davor plastisch sehr gut zur Geltung. Und die Architektur?

Einige Bauwerke waren bzw. sind vergleichsweise gut erhalten. Dementsprechend viele Anhaltspunkte gibt es für die Rekonstruktion. Andere lassen sich aufgrund archäologischer Befunde rekonstruieren; bei Ausgrabungen fand man Überreste in verschiedenen Verfallsstadien und kann

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auf dieser Grundlage Teile, die nicht mehr vorhanden sind, erschließen und die bauliche Gliederung nachvollziehen. Eine Quelle für die Ansicht der Bauwerke stellen schließlich wieder antike Schriften dar. Auch damals gab es schon „Tourismus“, und manche Reisenden haben – teilweise sehr detailliert wie der griechische Schriftsteller Pausanias im 2. Jahrhundert n. Chr. – beschrieben, was sie gesehen haben. Schließlich hat man in vielen verschiedenen Ausgrabungsstätten gleichartige Teile und Details gefunden. Daraus lässt sich schließen, dass bestimmte Bauprinzipien, ob griechische oder römische, immer gleich waren. So kann man die Rekonstruktion eines Gebäudes in bestimmten Teilen auch aus analogen Bauteilen vergleichbarer Bauwerke erschließen, indem man beispielsweise einen bestimmten Typ der Dachbekrönung aus einer Ausgrabung für ein anderes Bauwerk übernimmt. Dennoch bleibt am Ende vieles Spekulation. Obgleich eines der Weltwunder der Antike, weiß man über Anlage und genaue Gestaltung der Hängenden Gärten der Semiramis in Babylon herzlich wenig. Hinweise gibt es lediglich auf die Ausmaße: Die Gärten umfassten angeblich ein Quadrat von ca. 100 Metern Seitenlänge und 30 Metern Höhe. Hier wie auch beim Koloss von Rhodos kennt man noch nicht einmal den genauen Standort. Für den Koloss von Rhodos geht man allerdings inzwischen davon aus, dass er nie (wie auch vermutet wurde) mit gespreizten Beinen über der Hafeneinfahrt gestanden haben kann, weil das statisch unmöglich wäre. Aus statischen Gründen ist außerdem anzunehmen, dass der Koloss ein drittes „Standbein“ gehabt haben dürfte – in meiner Rekonstruktion liefert der Stoffüberwurf dieses dritte „Standbein“. Insofern sind die Zeichnungen zunächst als Rekonstruktionsvorschläge zu verstehen.

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L I T E R AT U R I N A U S WA H L Debora Barbagli, Die Sieben Weltwunder der Antike, Berlin 2007 Kai Brodersen, Reiseführer zu den Sieben Weltwundern. Philon von Byzanz und andere antike Texte, Frankfurt a. M./ Leipzig 1992 Kai Brodersen, Die Sieben Weltwunder. Legendäre Kunst- und Bauwerke der Antike, 7. Auflage München 2006 Peter A. Clayton/Martin J. Price (Hg.), Die Sieben Weltwunder, Stuttgart 2009 Theodor Dombart, Die Sieben Weltwunder des Altertums, 2. Auflage München 1970 Werner Ekschmitt, Die Sieben Weltwunder. Ihre Erbauung, Zerstörung und Wiederentdeckung, 9. Auflage Mainz 1993 Gottfried Gruben, Die Tempel der Griechen, 4. Auflage Darmstadt 1986 Fritz Krischen, Weltwunder der Baukunst in Babylonien und Jonien, Tübingen 1956 Wolfgang Müller-Wiener, Griechisches Bauwesen in der Antike, München 1988 Gisela von Radowitz, Die Sieben Weltwunder. Menschen, Bauten, Sensationen, Würzburg 1985 Carolin Wiedemeyer, Die 7 neuen Weltwunder, Königswinter 2008 Angela Wilkes, Die Sieben Weltwunder. Von der Antike bis zur Gegenwart, 3. Auflage Leipzig 1988

ZU DEN AUTOREN J E N S J Ä H N I G , Jg. 1970, ist Theaterplastiker am Opernhaus

Magdeburg. Seit 15 Jahren beschäftigt er sich mit der zeichnerischen Rekonstruktion antiker Bauwerke, für verschiedene Museen – u. a. das Pergamonmuseum – hat er Plakate und Postkarten gezeichnet. Bei Primus ist von ihm (zus. mit Holger Sonnabend) bereits erschienen: Große Bauwerke der Antike (2009). H O L G E R S O N N A B E N D , Jg. 1956, ist Professor für Alte

Geschichte am Historischen Institut der Universität Stuttgart. Bei Primus ist von ihm bereits erschienen: Die Grenzen der Welt (2007), Unter dem Vesuv (2007), Große Bauwerke der Antike (2009; zus. mit Jens Jähnig).