Knaurs Buch der sieben Meere

DIE SIEBEN MEERE - was das bedeutet, das habe ich wirklich erst in Grönland gelernt, obwohl ich in einem kleinen dänisch

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German Pages 507 Se [507] Year 1958

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Knaurs Buch der sieben Meere

  • Commentary
  • Aus dem Englischen übertragen und bearbeitet von Fritz Bolle
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Alttertiär: Oligozän, Eozän, Paläozän Obere Kreide Untere Kreide Malm (weißer Jura) Dogger (brauner Jura) Lias (schwarzer Jura) Keuper

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Karbon

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Rotliegendes Oberkarbon

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Devon

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Silur

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Kam­ brium Präkam­ brium

Unterkarbon Ober-, Mittel-, Unterdevon Gotlandium Ordovizium

Reiche Entfaltung der Saurier: Ichthyo- und Dinosaurier. Erste Säugetiere

Alpen: Meer Dachsteinkalk Alpen: Meer Wettersteinkalk Wüstenbildungen

Erste Nadelhölzer Letzte Trilobiten

Nord- und MittelDeutschland überflutet

210

320

Sumpfwälder mit Farnen, Schachtel­ halmen, Siegel-u. Schuppenbäumen. Erste Reptilien Trilobiten. Erste Panzerlurche und Fische

440

Erste Landpfl. und -tiere. Panzerfische

55

26s 55

120

Ober-, Mittel-, Unterkambrium

80

Algonkium

180

Archaikum

ca. 300

520

N

Alle Stämme wirbelloser Tiere Blaualgen, Weich­ tiere, Schwämme

700

:3

ca. 1000 Erdurzeit (Sternzeitalter)

Alpen- und Karpaten-Auffaltg., Vulkanismus in Su. Mitteldtschld. Bruchfaltg. der Mitteldeutschen Schollengebirge. Rheintalgraben. Größte Meeres­ ausdehnung. Beginn d. Alpenauffaltg. Meeresbedeckung in N - u. SDtschlci., Hebung in Mitteldtschld.

185 25

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Ende d. Groß­ saurier und Ammoniten. Laubhölzer Urvogel, Riesen­ saurier, Flug­ saurier, Ammoni­ ten, erste Knochenfische

Geol. Vorgänge, insbes. in Mitteleuropa Dünen, Marschen, Moore Vereisung NDtschlds. u. d. Alpen, Urstrom­ täler, 4 Warmzeiten

165 20

Muschelkalk

Buntsandstein Zechstein

Pflanzen u. Tiere der Gegenwart Arkt, Flora u. Fauna. Mammut. Höhlenbär. Auftr. d. Menschen Herrschaft der Blütenpflanz.; schnelle u. reiche Entfaltung der Säugetiere

60 70

N

Perm (Dyas)

Lebensentwiddung

ca. 1500

ca. 2 500

Kein Leben nachweisbar

Wüstenhaftes Klima Variszische Gebirgsbildung (jetzige Mittelgebirge) Meeresbedeckung

Meeresbedeckung Kaledon. Gebirgsbildung Meeresbedeckung Algonkische Revolution, assynt. Gebirgs­ bildung Laurentische Gebirgsbildung

Nutzbare Gesteine Torf, Kies, Sand, Lehm, Ton Mergel, Kies, Sand, Torf

Braunkohlen, Stein- und Kalisalze, Bernstein, Kaolin, Erdöl a. Rhein, Basalt Quadersandstein, Schreibkreide, Plattenkalk, Deisterkohle Solnhofener Schiefer Eisenerze (Minette), Erdöl (NW-Dtschld.), Schiefertone Salz, Gipsmergel Kalkstein, Salz, Gips Feinkörniger roter Sandstein Kupferschiefer, Kalisalze, Salz Sandstein, Porphyr Steinkohle Erze im Harz u. Erzgebirge Rhein. Dachschiefer, Eisenerze Thüring. Dachschiefer Alaunschiefer Granit, Erze, Schiefer

I Granit, Syenit, | Erze

Entstehung der Erde, Bildung der festen Erdkruste

N a m e n e r k l ä r u n g A l g o n k i u m , nach d. indian. Stämmen d. Algonkin, Kanada; A l l u v i u m (lat.)» Ansdiwemmland; A r c h a i k u m (griedi.), »alt“, d. h. ältestes Zeitalter; D e v o n , von der engl. Gfsdhft. Devonshire; D i l u v i u m (lat.), von anderem Ort hergeschwemmtes Land; D y a s (griech.), Zweiheit; J u r a , nadi dem Jura-Gebirge; K a m b r i u m , nach Cambria, keltisch für Wales; K a r b o n (lat.), Steinkohle; P e r m nach der russischen Stadt Perm; S i l u r , nach dem Volksstamm der Silurer in Wales; T r i a s (lat.), »Dreiheit*, weil drei Hauptgesteine.

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WECHSEL IM BILD DER MEERE Kaum war der Ozean entstanden, so begann auch schon, genau wie beim Land, der große Wechsel. Die Küstenlinien schoben sich vor und zogen sich wieder zurück, riesige Überflutungen wechselten ab mit Landhebungen: ständig veränderte sich das Antlitz der Meere und der Kontinente, und so ist es bis heute geblieben. Durch die ganze Ge­ schichte unserer Erde sind die Kräfte am Werk, die die Erdkruste hier bersten und einbredien lassen, dort hochheben und auffalten, hier ungeheure Eisfelder entstehen lassen, dort abschmelzen. Land erhob sich über das Meer und aus dem Meer. Die heute höchsten Gebirge, die Anden, der Himalaja, die Alpen, sind gehobener Meeresboden. Aber jeder Hebung stand eine Senkung gegenüber - das Wasser konnte sich in die Becken ergießen, in die tiefen Brüche und Klüfte, die bei jeder Hebung entstanden. Was wir von den Veränderungen der Meeresflächen aus den ersten vier Fünfteln der Erdgeschichte, das heißt von den ersten zwei Milliarden Jahren, wissen, ist mehr als bruchstückhaft. Gewaltige geologische Umwälzungen, die Abtragung, der Gebirgsdruck - das alles hat in den folgenden Epochen die Zeugnisse aus der Urzeit so unkennt­ lich gemacht, daß sie kaum zu entziffern sind. Man kennt einiges, was sich als Meeres­ ablagerung deuten läßt, aber das Bild bleibt verzerrt. Immerhin nehmen die Forscher an, daß sich in diesen zwei Milliarden Jahren vier (wenn nicht neun) große Perioden der Landhebung und Gebirgsbildung unterscheiden lassen, die natürlich jeweils Größe und Ausdehnung der Meere von Grund auf ver­ änderten. Jede ließ wohl Gebirgsketten sich auftürmen, so hoch, wie die höchsten Gebirge heute. Der Baltische Schild, das Laurentische Massiv im Umkreis der Hudsonbay, auch Kanadischer Schild genannt, der Sibirische Schild - sie sind Zeugen dieser uralten Gebirgsbildungen, und im Schwarzwald, im Fichtel- und Erzgebirge stoßen wir auf umgewandelte Meeresablagerungen jener Urzeit. Denn jede dieser gewaltigen Landhebungen hatte ihr Widerspiel im Ozean, und es mögen damals Einsenkungen entstanden sein, die mehrfach tiefer waren als die Berge hoch. Dcxh alle Gebirge, die sich zum Himmel reckten, wurden (und werden auch heute noch) von den abtragenden Kräften des fließenden Wassers und des Eises angegriffen und allmählich eingeebnet. Was das Wasser aus den Flanken der Berge auswäscht, was die Sturzbäche zu Tal tragen, das gelangt schließlich ins Meer. Alles Lösliche, ein­ schließlich Gold, Silber und anderer Metalle, vermehrt so den Mineralgehalt des Was­ sers. Da die mineralischen Bestandteile des Meerwassers zu 85,5 Prozent aus Natrium und Chlor - den Elementen des Kochsalzes - bestehen, schmeckt es salzig, und wir sprechen von ,Salzwasser‘. Die Flüsse führen dem Meerwasser zwar mehr Kalzium als Chlor zu, doch steht das Kalzium erst an fünfter Stelle unter den Elementen der im Meerwasser gelösten Mineralien. Das erklärt sich daraus, daß die Tiere Kalzium in großem Umfang aufnehmen, um daraus ihre Schalen und Skelette aufzubauen, und zwar in solchem Ausmaß, daß sie fast alles, was hinzukommt, sofort verbrauchen. All das, was an Unlöslichem ins Meer geschwemmt oder hier durch chemische Prozesse

ausgefällt wird, sinkt zu Boden. Diese Ablagerungen, die im Laufe der Jahrmillionen zu gewaltigen Schichtgesteinen werden, liefern uns die widitigsten Urkunden für die Geschidite des Meeres, der Erde und des Lebens überhaupt. Nodi heute läßt sich fest­ stellen, wo und wann sich seit dem Beginn des Kambriums vor mehr als einer halben Million Jahren das Meer erstreckt hat, und in vielen Fällen lassen sich auch sdion ungefähre Küstenlinien ziehen. Betrachtet man daraufhin die Erdgeschichte, so kann man sagen, daß wohl wirklich jeder Teil der Erde irgendwann einmal überflutet gewesen ist. Je näher wir der geologischen Gegenwart kommen, desto klarer wird selbstverständlich das Bild. In der jüngsten Vergangenheit, der Großen Eiszeit (ihr sind seit der Frühzeit der Erde zahlreiche andere vorangegangen), wurden gewaltige Wassermengen im Eis der Glet­ scher gebunden, so daß der Meeresspiegel sank und weite Strecken trodcenfielen. Der große Wandel im Bild der Meere und Festländer hat also seine Ursache in Hebungen und Senkungen der Erdkruste und in den Vergletsdierungen. Zunächst kleinere, aber auf die Dauer nicht minder augenfällige Veränderungen sind die Folgen anderer Einwirkungen. Die Arbeit des Meeres selbst, ausbrechende Vulkane, die Erosion, ja selbst die Tätigkeit von Lebewesen - all das führt schließlich zu beträchtlichem Gestaltwandel des Meeres, seiner Inseln und Küsten. Ohne Unterlaß wirft das Meer seine Wellen gegen alle Küsten, und nie ist es ganz ruhig. In diesen Wellen steckt mehr an Kraft, als der Mensch mit aller Technik zu erzeugen vermag, ausgenommen vielleicht die Atomenergie, und sollte es je gelingen, die in der Brandung und in den Gezeiten wirkenden Energien zu bändigen, so werden sie wahr­ lich weit segensreicher wirken als die A- oder H-Bombe! Mit der nimmermüden Arbeit seiner Wellen hat das Meer ganze Landstriche für sich erobert und weggerissen oder überflutet, hat an anderen Stellen junges Land angeschwemmt. Härtestes Gestein zernagt es im Lauf der Jahrtausende, Klippen, Turme, Bögen, Felsnadeln frißt es aus felsigen Küsten heraus, stetig, doch unerbittlich und unaufhaltsam wandelt es das Ge­ sicht seiner Grenzen. Vielleicht die anziehendsten Erscheinungen unter allem, was die abtragenden Kräfte des Meeres geschaffen haben, sind die Höhlen. Es ist eine wahre Wunderwelt, die sich da dem staunenden Betrachter erschließt, mit Säulen und Ge­ wölben, merkwürdigsten Formen und phantastischen Farben. Die meisten Höhlen - und es gibt nicht wenige auf der Welt - sind allerdings von unterirdischen Gewässern des Landes aus dem Gestein herausgearbeitet worden, als das Wasser sich seinen Weg dem Meere zu bahnte und dabei weicheres, leichter lösliches Material aus dem härteren Fels herauswusch. Viele Höhlen sind aber auch ein Werk der Meereswellen, herausmodelliert in Tausenden von Jahren aus steiler Felsküste. Sand und Geröll haben dabei schleifend und nagend die wühlende Tätigkeit des Wassers unter­ stützt. Gesteinsschichten oder -bänder, die weniger widerstandsfähig waren, wurden zerfressen, ihr Material fortgeschwemmt, bis schließlich immer größere Höhlen ent­ standen, die oft weit, weit hineinführen ins Innere des Felsens. Nicht selten haben dann Hebungen oder Senkungen der Küstenlinie den Zugang zur Höhle entweder weit über den einstigen Meeresspiegel aufsteigen oder ihn in den Fluten verschwinden lassen. Solche Höhlen sind eindrucksvolle und wunderbare Beweise für die Arbeit des Meeres. Eine der größten, mir besonders lieb (noch ist sie nicht die große Attraktion i6

Der Verfasser des Baches, der «Wandernde Wiking» Peter Freuchen

für den Fremdenverkehr), befindet sich an der Nordküste der Insel Santa Cruz. Diese Insel ist die größte unter den südlichen kalifornisdien Kanal-Inseln, ein Felsen­ eiland, einige 30 Kilometer lang, 8 bis 10 Kilometer breit. Überall an der zerklüfteten Küste haben die Wellen Höhlen ausgefressen; mandie sind nicht mehr als Spalten im Gestein, einige haben Zugänge unter dem Meeresspiegel. Die größte dieser Höhlen ist schon seit den Tagen der Entdeckungsreisen bekannt; die Spanier nannten sie Cueva Pintada - die Bunte Höhle. Santa Cruz wird einen Teil des Jahres von zahlreidien Seelöwen als Paarungsplatz bewohnt; sie strömen deshalb hierher von ihren Wanderungen im Meer zusammen. Die Seelöwenkolonie ist geschützt, und das ist der Grund dafür, daß die Cueva Pintada bei weitem nicht so gut bekannt ist, wie sie es eigentlich verdient. Entdeckt wurde sie bereits im Jahre 1542 durch einen kühnen spanischen Seemann, Juan Rodriguez Cabillo. Der Zugang zur Höhle ist 20 bis 25 Meter hoch und hat die Form eines gotischen Spitzbogens, flankiert von zwei mächtigen Strebepfeilern. Durch diese herrliche Pforte gleitet das Boot in ein weites, etwa 30 Meter hohes Gewölbe, und nun erkennt man, warum die Spanier den Namen ,Bunte Höhle* gewählt haben: Die '^nde aus Kalk zeigen die phantastischsten Farbmuster in Grün, Gelb und Rot, entstanden dadurch, daß sich bei verschieden hohem Wasserstand Salz auf dem weißen Untergrund abgesetzt hat. Hat sidi das Auge erst einmal an das Dämmerlicht in der Höhle gewöhnt, so sieht es Farbkompositionen von einer Schönheit, die einfach nicht zu beschreiben ist. Ein großer schwarzer Fleck an der Hinterwand, didit über dem Wasserspiegel und größer oder kleiner erscheinend mit dem Auf und Ab der Wellen, erweist sich als Öffnung zu einer weiteren Höhle. Jeder Wellenberg schließt dieses Tor ins Innere fast völlig, doch schon das Wellental gibt den Weg frei, so daß das Boot einfahren kann, ehe die nächste Welle ihn wieder verlegt. Jetzt ist man in einer noch größeren, völlig dunklen Halle, mit einem Dadi, so hoch, daß der Fackelschein nicht ausreicht, auch nur den schwächsten Widerschein aufschimmern zu lassen. An der Flinterseite senkt sich ein großes Felsband ins Wasser herab; hier lagern in der Fortpflanzungszeit Hunderte und Hunderte von Seelöwen für mehrere Monate. Wendet sich das Boot zurück aus der inneren Höhle in die Cueva Pintada, so erscheint einem jetzt, da man aus völliger Finsternis kommt, das Farbwunder der im Dämmer­ licht einer Kathedrale sich darbietenden äußeren Höhle noch großartiger. Das Antlitz des Meeres wird jedoch auch vom Land her gestaltet: Flüsse und Ströme tragen das, was sie an Schlamm, Sand und Geröll mit sich schleppen, hinaus ins Meer, und jede Mündung, jedes Delta verändert die Küstenlinie. Sandbänke entstehen, Haffe bilden sich, und in den warmen Meeren bauen Millionen von Korallentierchen kleine und große Riffe. Am Wechsel der Gestalten haben auch die vulkanischen Kräfte ihren nicht geringen Anteil. Manche unterseeische Vulkane erscheinen uns als Inseln: Der Pico alto auf den Azoren ist ein Vulkan, der noch in geschichtlicher Zeit tätig war. 2300 Meter hoch ragt «Die Wasserwogen im Meer sind groß und brausen mächtig.» (Psalm 93) Auflaufende Wellen in der Nordsee

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er über den Meeresspiegel, seine wahre Höhe aber vom Meeresboden bis zum Gipfel beträgt 6000 Meter. Und der höchste Berg der Erde überhaupt ist der Vulkan Mauna Kea auf Hawaii, denn er steigt vom Grunde des Pazifik auf bis zu 9455 Metern Höhe, von denen allerdings 5255 Meter unter dem Meeresspiegel liegen. Viele dieser Vulkane freilich liegen mit ihren Spitzen weit unter dem Meer, und die meisten vulkanischen Ausbrüche am Meeresgrund machen sich nur mit wildem Wellengang an der Oberfläche bemerkbar. Immer wieder aber taucht da oder dort ein vulkanisches Eiland auf, ver­ schwindet wohl auch manchmal bald wieder. Man weiß von gewaltigen Lavaergüssen tief unten, jedem Auge unsichtbar. Vieles jedoch weiß man ncxh nicht, und man kann es auch noch gar nicht wissen, denn nur ein sehr bescheidener Teil dieser untermeerischen Welt ist bisher erforscht. Das ist nicht weiter verwunderlich, denn die Erforschung der Meerestiefe ist nicht viel älter als rund 100 Jahre. Wohl der erste Mensch, der versucht hat, draußen auf hoher See zu ermitteln, wie tief das Meer ist, war Magellan auf seiner Weltumsegelung. 350 Meter war seine Lotleine lang, aber sie fand keinen Grund. Die erste erfolgreiche Lotung in der Hochsee gelang dem großen britischen Seemann Sir James Clark Ross 1839 in der Antarktis. Er hatte sich für diesen Zweck ein besonderes Lot konstruiert, und mit diesem fand er eine größte Tiefe von 4437 Metern. Schon er stellte fest, daß sich der Meeresboden hier fast so tief hinabsenkt, wie sich der höchste Berg Europas, der Mont Blanc, über den Meeresspiegel erhebt (4810 Meter). In der darauffolgenden Zeit sind unzählige Lotungen in allen Meeren vorgenommen worden, und es stellte sich heraus, daß der Meeresboden durchaus nicht so eintönig flach und eben ausgebildet ist, wie man sich das bis dahin vorgestellt hatte. Im Gegen­ teil: Er ist viel stärker gegliedert als das Festland. Es gibt gewaltige untermeerische Gebirgszüge, hochragende Gipfel, es gibt tief eingeschnittene Taler und Gräben, es gibt riesige unterseeische Canons. Die Kenntnis der Vielgestalt des Meeresgrundes ist außer­ ordentlich stark gestiegen, seit 1916 der Deutsche Alexander Behm das Echolot er­ funden hat. Die Zeit, die ein am Schiff ausgelöstes Schall- (oder Ultraschall-)Signal braucht, um bis zum Meeresboden hinabzueilen und von dort als Echo zum Schiff zurückzukehren, gibt sehr genau die Tiefe an, über der sich das Schiff gerade befindet. Moderne Geräte zeichnen alle anderthalb Sekunden ein solches Echo automatisch auf, und so erhält man ein geschlossenes Bild von den Höhen und Tiefen, Bergen und Talern dort drunten. Drei Abschnitte lassen sich im allgemeinen unterscheiden. Da ist zunächst der Schelf, der noch zum Festlandsblock gehört - ein breiter Streifen Flachsee, deren Grund sich über 15 bis 300 Kilometer von der Küste allmählich auf 60 bis 180 Meter Tiefe senkt. Der Boden des Kontinentalschelfs ist weithin bedeckt mit Sand, Schlamm und Geröll, all dem, was die Flüsse und Gletscher hinabgetragen haben zum Meer. In der Arktis beträgt die Ausdehnung des Schelfs stellenweise bis zu 1100 Kilometer. An den äußeren Rand des Schelfs schließen sich dann die Hänge des KontinentalAbfalls an, die sich als gewaltige Böschungen von oft mehr als 100 Kilometern Länge zu Tiefen von 3500 bis 5500 Metern hinabsenken. Es gibt aber auch Stellen, wo der Kontinental-Abfall in einem einzigen, wahrhaft ungeheuren Absturz von 10 000 Metern senkrecht in einen sogenannten Tiefseegraben führt. Die größte heute bekannte unter-

seeisdie Ebene ohne nennenswerte Erhebungen oder Einschnitte erstredet sidi mehrere hundert Kilometer weit über den Boden des Indischen Ozeans, südöstlich von Ceylon. Die tiefsten Stellen der Meere in den schon genannten Tiefseegräben liegen auf­ fallenderweise nicht inmitten der Ozeane, sondern oft nahe am Kontinental-Abfall oder dicht am Rande von Inselbögen und Vulkanketten. Erst im vergangenen Jahr (1957) wurde eine andere, sehr merkwürdige Tatsache bekannt. Dr. Maurice Ewing vom Lamont Geological Observatory der Columbia-Universität veröffentlichte eine Arbeit über ein wirklich weltumspannendes System untermeerischer Grabenbrüche. Was sich da wie ein ungeheurer Riß durch den Boden des Weltmeeres zieht, etwa 3000 Meter

Das von Ewing entdeckte weltweite System untermeerischer Grabenhrüche

tief, 30 Kilometer breit, über 65 000 Kilometer lang, das beginnt hoch oben in der Arktis, läuft dann etwa durch die Mitte des Atlantischen Ozeans, schwingt in weitem Bogen um Afrika und Australien herum (im Indischen Ozean zweigt ein Seitengraben nordwärts ab, der offensichtlich im Zusammenhang steht mit dem ,Großen Graben* vom Sambesi bis zum Roten Meer) und läuft dann im Pazifik nordwärts bis hinauf nach Alaska. Dr. Ewing hat eine Theorie aufgestellt, nach der dieses eigenartige,Craquel&‘, das sich vom tiefen Meeresgrund fortsetzt bis hinein in die Kontinente, die Folge ungeheurer Spannungen ist, wie sie durch Verschiebungen der Kontinentalschollen entstehen. Ent­ lang den Bruchlinien finden sich allenthalben Gebiete verstärkter Erdbebentätigkeit ein Zeichen dafür, daß diese Vorgänge noch heute anhalten. Beiderseits dieses unter-

meerischen Grabensystems erheben sich hohe Gebirge, die noch keines Mensdien Auge gesehen hat, oft mehr als 100 Kilometer breit und mit Gipfeln von 1800 bis 3500 Metern Höhe über dem Meeresboden, die dem Meeresspiegel jedoch nirgends näher kommen als bis auf etwa 1000 Meter. Für Ewings Iheorie spricht die Existenz des am längsten bekannten und am besten erforschten untermeerischen Gebirgszuges, des Mittelatlantischen Rückens. Schon frühe Lotungen vor etwa einem Jahrhundert gaben die ersten Hinweise. Das Profil wurde dann durch die ausgedehnten Echolotungen des deutschen Forschungsschiffes ,Meteor‘ in den zwanziger und dreißiger Jahren bekannt. Mit einer Breite von 450 bis 900 Kilometern erstreckt es sich etwa 15 000 Kilometer längs jenes Risses, den Ewing beschreibt, nahe Island beginnend und von dort durch den ganzen Atlantik, etwa parallel den Küsten von Afrika und Amerika folgend, bis südlich von Afrika der Bogen zum Indischen Ozean hin verläuft. Die Höhe dieses riesigen Unterseegebirges liegt zwischen 1500 und 3000 Metern, an einigen Stellen jedoch erheben sich seine Berge so hoch, daß sie als Inseln über dem Meeresspiegel erscheinen. Es sind dies die Azoren, die Penedos Sao Pedro e Sao Paulo, ferner Ascension, Tristan da Cunha, Gough und - nun schon in der Antarktis - Bouvet. Die höchste dieser Erhebungen ist der schon genannte Pico alto auf den Azoren. G rösste M eerestiefen Ozean

Nordatlantik Südatlantik Nordpazifik Südpazifik Indischer Ozean Nördliches Eismeer Südliches Eismeer

Tiefe in Metern

9219m 8 250 m 10 863 m 10633 m 7 455 m 5 440 m 5 872 m

Lage

nördl. Puerto Rico Süd-Sandwich-Graben Marianengraben Tongagraben Sundagraben nördl. Point Barrow

Jahr

1939 1926 1951 1952 1927

Drei andere Tiefseelotungen im Nordpazifik ergaben 10 497 Meter (PhilippinenGraben), 10 389 Meter (Kurilen-Kamtsdiatka-Graben) und 10374 Meter (Japan­ graben). Im Jahre 1957 meldete das sowjetrussische Forschungsschiff jWitjas*, es habe bei den Philippinen eine Tiefe von 10960 Metern gemessen.

Ganz wie die Gebirge des Festlandes hat auch dieses Untermeergebirge seine Pässe. Am tiefsten von ihnen schneidet der Romanche-Graben ein, der sich in unmittelbarer Nähe des Äquators in etwa westöstlicher Richtung erstreckt. (Es gibt da noch weitere Landschaften der Tiefe, die an Oberflächengestaltungen des Festlandes erinnern, so den Wyville-Thomson-Rücken zwischen Island und Schottland, der das Nördliche Eismeer vom Atlantik scheidet, das Telegraphenplateau südlich von Island, das die Verlegung des ersten transatlantischen Kabels ermöglichte, dann der berühmte Challenger-Rücken und der Dolphin-Rücken, von dem so gern behauptet wird, er sei das versunkene Atlantis.) In einem allerdings unterscheiden sich diese Hochebenen und Gebirge des Meeres ganz und gar von denen des festen Landes: An ihnen wird keinerlei Erosion durch Regen, Wind und Frost tätig - unverändert stehen sie und bleiben sie, solange das Meer sie vor den zerstörerischen Kräften der Atmosphäre schützt.

Dodi andere Kräfte sind auch hier am Werk, und je besser der Meeresboden kartiert wird, desto deutlicher erkennt man, wie der Vulkanismus mit Ausbrüchen und Seebeben, wie unterseeische Quellen, Rutschungen, Schlammströme und Dichteströme (sie ent­ stehen dadurch, daß das Wasser große Mengen feinsten Ablagerungsmaterials auf­ nimmt), wie riffbildende Korallen und die Ablagerung der Sedimente unentwegt daran arbeiten, das Bild des Meeres zu verändern, so, wie es die Kräfte der Gebirgsbildung und der Abtragung auch auf dem Festland tun.

SIEBEN MEERE Die Sieben Meere - fast jeder kennt diesen Begriff, aber kaum einer vermag zu sagen, was denn nun diese Sieben Meere eigentlich sind oder wo sie beginnen und wo sie enden. Das ist freilich nicht sonderlich überraschend, wenn man daran denkt, daß der Begriff der Sieben Meere in der Tat künstlich geschaffen ist. Ebensogut könnte man von fünf reden oder von dem einen Weltmeer. Denn in Wirklichkeit ist ja der Ozean ein einziges riesenhaftes Wasser mit den Kontinenten als Inseln darin. Die Sieben Meere: Das ist ein sehr altes und zugleich ein ganz junges Wort. In der Zwischenzeit hat sich kaum jemand darangemacht, die Zahl der Meere festzustellen. Die Alten der Welt um das Mittelmeer kannten sieben große Wasserflächen, und sie dachten, daß dies wirklich alles sei. Man war damals davon überzeugt, daß die Erden­ welt vorwiegend aus Festland bestehe - sechs Siebentel Land, ein Siebentel Meer, wie die Bibel schreibt. Für lange Zeiten mußte das genügen. Doch dann begann das große Zeitalter der Entdedcungsfahrten, und es zeigte sich, daß die Alten sich doch recht geirrt hatten. Es gab sehr viel mehr Wasser auf unserem Planeten, als die Alten ange­ nommen hatten; immer neue Meere kamen ins Gesichtsfeld des Menschen und erhielten neue Namen. Und damit ging auch der alte Begriff von den ,Sieben Meeren* verloren. Erst im Jahre 1896 taucht er wieder auf. Rudyard Kipling, der englische Dichter, suchte nach einem Titel für einen neuen Band Gedichte. Und er wählte ,Die Sieben Meere*. Kipling war ein großer Mann, er war ein berühmter Mann, und so kam es, daß sich der von ihm wieder aufgenommene Begriff durchsetzte. Auch die Geographen übernahmen ihn und überlegten, wie man denn das eine Welt­ meer in sieben Teile gliedern könne. Was dabei herauskam, ist nicht gerade sehr gut, aber man hat sich schließlich geeinigt. Trotzdem werden nur wenige von uns auf Anhieb sagen können, welches denn nun diese Sieben Meere sind. Die ganze Sache ist eben doch die Folge eines Sieges der Poesie über die Wirklichkeit. Blickt man in einen Atlas, so wimmelt es auf den Karten von ,Meeren* und Meeres­ teilen, die den Namen ,See* tragen; da gibt es das Mittelländische Meer und das Rote Meer, das Antillenmeer und das Roßmeer, das Ägäische Meer und die Karibische See, 2

3

die Ostsee und die Nordsee. Eine Karte des Mittelmeeres, das selbst nicht groß genug ist, um unter die Sieben Meere von heute zählen zu können, zeigt nicht weniger als sechs verschiedene ,Meere‘: das Ligurische, Tyrrhenische, Adriatische, Ionische, Ägäische und das Marmara-Meer. Zum ncxh kleineren Schwarzen Meer gehört das gegen die wirklichen Meere geradezu winzige Asowsche Meer. Die Sieben Meere aber, von denen wir hier sprechen, sind in Wirklichkeit Ozeane. Und nun wollen wir die Sieben Meere der Alten denen von heute gegenüberstellen: D ie Altertum

Mittelmeer Rotes Meer Chinesisches Meer Westafrikanisches Meer Ostafrikanisches Meer Indischer Ozean Persischer Golf

sieben

M eere Heute

Nördliches Eismeer Südliches Eismeer Nordatlantischer Ozean Südatlantischer Ozean Nordpazifischer Ozean Südpazifischer Ozean Indischer Ozean

Bis zur Wiederbelebung des alten Wortes durch Kiplings Titel genügte vielen Leuten die Zweiteilung in den Atlantik und den Pazifik. Es ist jedoch durchaus keine Spielerei mit Worten, wenn man jeden dieser beiden Ozeane in eine nördliche und eine südliche Hälfte unterteilt. Die Natur selbst hat es getan: Sie scheidet die Hälften beider Ozeane durch die in der Äquatorzone gelegenen Kalmen oder Doldrums voneinander, einen breiten, in seinen Grenzen nicht ganz beständigen Gürtel schwacher, veränderlicher Winde und häufiger Windstillen, der sich zwischen die Gebiete vorwiegend regelmäßiger Wind- und Strömungssysteme auf der Nord- und der Südhalbkugel schiebt. Nördlich der äquatorialen Kalmen läuft diese Bewegung betont im Uhrzeigersinne ,rechtsherum*, südlich drehen sich Winde und Meeresströmungen im entgegengesetzten Sinne, also ,linksherum*. Aus diesem Grunde hatte man übrigens auch schon vor Kipling vom Süd­ pazifik oder vom Nordpazifik gesprochen, ohne allerdings damit ausdrücken zu wollen, daß es sich um selbständige Meere handele. Jedes der Sieben Meere hat seine Sonderheiten, und sie beruhen nicht nur auf Unter­ schieden von Größe und Gestalt. Der Nordatlantik beispielsweise ist der salzigste Ozean, mit einem Durchschnitts-Salzgehalt von 37,9 Promille. (Die salzigsten Meeres­ teile überhaupt sind das Rote Meer und der Persische Golf mit 40 Promille infolge der starken Verdunstung in diesen sehr heißen Gebieten.) Der Atlantik ist zugleich, wenn man einmal so sagen darf, der ,nasseste‘ Ozean, und zwar deshalb, weil Nord- und Südatlantik zusammen mehr als die Hälfte allen Regens, der auf der Erde fällt, be­ kommen, weniger direkt als auf dem Weg über die großen Ströme, deren meiste ihr Wasser dem Atlantik zuführen. Der Pazifik bekommt im Verhältnis zu seiner Aus­ dehnung des wenigste Regenwasser mit. Die beiden großen Meere der Arktis und Antarktis, das Nördliche und das Südliche Eismeer, sind die am wenigsten salzhaltigen unter den Sieben Meeren. Das hat seinen Grund in zwei Tatsachen: Einmal werden beide ständig durch das Schmelzwasser der 24

großen Gletscherfelder ausgesüßt, und zum zweiten münden dort keine großen Flüsse, die in ihren Fluten salzhaltige Mineralien mitführen. Sonst aber haben Nördliches und Südliches Eismeer nicht viel mehr gemein als ihren geringen Salzgehalt, die Kälte ihres Wassers und die starke Vereisung im Winter. Ein guter Teil der Unterschiede zwischen beiden beruht darauf, daß das Nördliche Eismeer eine große Wasserfläche ist, die fast vollständig von Landmassen umgeben wird, wäh­ rend das Südliche Eismeer nach allen Seiten offen sich um den in seiner Mitte gelegenen antarktischen Kontinent erstreckt. Die Folge davon war, daß die Küsten des Nördlichen Eismeeres von Völkern bewohnt wurden, die Jahrhunderte und Jahrtausende hindurch keinerlei Verbindung mit der übrigen Welt hatten, während das Südliche Eismeer auch heute noch von niemand befahren wird als von Forschungsschiffen, Walfängern und Robbenschlägern. Kennzeidien des Nördlichen Eismeers sind die riesigen Eisschollen, gewöhnlich zwei bis vier Meter dick, die im Winter weiteste Flächen bedecken. Das Eis findet keinen Grund, an dem es festlaufen könnte, und so driften diese schwimmenden Schollen in Richtung der dort vorherrschenden Winde und Strömungen, im allgemeinen etwa von der Nordküste Sibiriens zur Nordostecke Grönlands und von hier über den Nordpol hinweg. Nirgend anderswo auf der Erde gibt es etwas Ähnliches. Das Nördliche Eis­ meer ist zugleich auch das isolierteste aller Sieben Meere. Eigentlich nur der breite Raum zwischen Island und Nordeuropa verbindet dieses Binnenmeer mit dem Nordatlantik; die Dänemark-Straße zwischen Island und Grönland und die Davis-Straße zwischen Grönland und Nordamerika sind im Verhältnis dazu relativ schmal, und die BeringStraße zwischen Alaska und Sibirien, der einzige Weg vom Nördlichen Eismeer zum Pazifik, ist sogar ganz schmal - sie hat eine Breite von nur wenig mehr als 50 Kilo­ metern. Kein anderer Ozean ist so landumgürtet wie das Nördliche Eismeer. Ganz anders das Südliche Eismeer: Es wird durch keinerlei Festlandsbarrieren von seinen Nachbarn getrennt, vom Südatlantik, vom Südpazifik und vom Indik. Über dem Südpol und dem sich um ihn ausdehnenden Kontinent liegt Inlandeis in großer Dicke und sehr viel gleichförmiger als in der Arktis. Die Eisberge, die dort von den Gletschern beim ,Kalben‘ der Eisströme abbrechen und ins Meer stürzen, sind von oft enormer Größe: 45 bis 60 Meter hoch ragen sie aus dem Wasser, 350 bis 450 Meter tief liegen sie unter dem Meeresspiegel, und manchmal sind diese Kolosse 45 Kilometer lang! Wie ein großer Ring von Wasser umschließt das Südliche Eismeer den antarktischen Kontinent. Nur wenn der Wind von Land her bläst, aus Süden, ist klares Wetter. Die übrige Zeit steigen dort große Schwaden dichten Nebels auf. Die vorherrschenden Winde wehen von West rund um das südliche Ende der Welt, ungehindert, weil keine Inseln da sind, die ihre Kraft brechen könnten, und fast immer ist schlechtes Wetter. Diese ständig wehenden Winde bedingen auch, daß den Seeleuten dort die rauheste See (wenn auch nicht die höchsten Wellen) und die wütendsten Stürme begegnen, mehr als in jedem anderen Ozean. Diese Wind- und Wetterverhältnisse sind zugleich der Grund dafür, daß der Wasser- und Luftaustausch mit anderen Meeren nur verhältnismäßig gering ist und daß Eis und Schnee im Südlichen Eismeer viel gleichmäßiger verteilt Vorkommen als im Nördlichen. 25

Der Atlantische Ozean, der seinen Namen nach der angeblich untergegangenen Sageninsel Atlantis trägt, ist in den letzten 400 Jahren der wichtigste Handelsweg der Welt geworden. Am Beginn dieser Entwicklung stehen Männer, in denen sich roman­ tische Abenteuerlust, Raubgier und Geschäftssinn sonderbar mischten. Da waren die spanischen Abenteurer, die als erste nach Amerika fuhren auf der Sudie nach Gold und Silber. Immer wieder mußten sie bei ihren Fahrten erleben, daß ihre Schiffe in langanhaltenden Flauten stillagen. Und als sie ihre Beobachtungen austausditen, merkten sie, daß ihnen das meist dann passierte, wenn sie sich am Rand des Gebiets der stetig wehenden Passate befanden, bei etwa 30 Grad nördlicher oder südlicher Breite. Sie waren in den Gürtel der subtropischen Kalmen gekommen - einen Bereich häufiger Windstillen, ähnlich den äquatorialen Kalmen. Nun - Kalmen sind für die Passagiere von Dampfern oder Motorschiffen ein reines Vergnügen. Für die Männer auf den Seglern aber waren sie eine tödliche Gefahr, schlimmer als Stürme und Un­ tiefen. Denn diese bedeuteten vielleicht den Seemannstod; in den Kalmen aber konnte man buchstäblich bei lebendigem Leibe verfaulen. Die alten Segler konnten nur eine beschränkte Menge Trinkwasser mitführen; lagen sie unter der heißen Sonne für Tage, ja manchmal für Wochen ohne auch nur die schwächste Brise, so steigerten sich die Qualen des Durstes bis zum Wahnsinn. Die ersten Opfer an Bord der spanischen Karavellen waren dann die Pferde. Wenn sie starben, manchmal auch schon bevor sie vor Durst tobsüchtig wurden, warf man sie über Bord. Die Caballeros aber schätzten ihre Pferde sehr hoch ein, und sie waren überzeugt, daß auch ein Pferd eine Seele hat. Wenn sie also die armen Tiere in die See stürzen mußten, so mögen schwere Gewissensbisse sie geplagt haben, und sie glaubten wohl manchmal, den Geist ihres stolzen Schlachtrosses dahinjagen zu sehen. Bis in ihre Träume fühlten sie sich verfolgt von den ruhelosen Geistern ihrer Rösser, und wenn sie den Seeleuten davon erzählten, so nahmen diese den Traum für die Wirklichkeit. Immer, wenn die Matrosen in dieses Gebiet kamen, meinten sie, im Gischt, im Nebel oder in den Wolken die Abbilder wilder Seepferde zu sehen, auf die sie zusteuerten. Und von diesem Aber­ glauben erhielten die beiden subtropischen Kalmen-Gürtel den Namen der ,horse latitudes‘, der ,Roßbreiten‘, den sie bis heute führen. Der Nordatlantik ist berüchtigt für seine Stürme und seine Wildheit. Trotzdem ist in den Legenden, die sich um dieses Meer ranken, öfter die Rede von Gebieten der Stille. Den Hauptgrund dafür liefert die berühmte Sargasso-See. Es gibt so etwas in der Tat nur im Nordatlantik, sonst nirgends. Die Sargasso-See ist, grob geschätzt, 1500 Kilometer breit und doppelt so lang. Ihr Westrand erstreckt sich etwa von den Virgin Islands, den Jungferninseln in den Kleinen Antillen, bis etwas nördlich der Ber­ mudas und ostwärts bis in die Mitte des Ozeans. Kolumbus war der erste Mensch, der die Sargasso-See gesehen hat. Er trug in sein Logbuch ein, daß das Wasser bedeckt war von großen Büscheln Seetang. Und nach diesem Beerentang, der lateinisch sargassum heißt, hat die Sargasso-See auch ihren Namen bekommen. Die Anhäufung des Tangs in der Sargasso-See rührt daher, daß hier inmitten der großen Wind- und Strömungssysteme des Nordatlantik ein Still­ wassergebiet liegt. Es ist, ins Gigantische übertragen, das gleiche, wie man es an jedem Bach oder Fluß beobachten kann; auch hier gibt es Stellen genug, an denen rechts und 26

Die schwimmenden Tangwiesen der Sargasso-See (nach einer alten Darstellung)

links das Wasser schnell dahineilt, während dazwischen das Wasser ruhig kreist und ein hineingeworfener Ast, ein verwehtes Blatt oft für Stunden oder Tage im immer gleichen Rundlauf mitgeführt wird. Die Winde meiden die Sargasso-See. Es gibt dort nicht viele Wolken, Regen fällt 2

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wenig. Die Sonne brennt hernieder und erwärmt das träge Wasser auf 20 bis 25° im Jahresdurchschnitt. Der Tang scheint sich kaum von der Stelle zu bewegen. Ein Teil des Beerentangs, der so wegen seiner luftgefüllten Schwimmblasen heißt, wächst hier, und jedes Jahr kommen neue Mengen hinzu. Denn all der Tang, den Wellenschlag und Stürme von den Klippen in Florida und Westindien losreißen, wird vom Golfstrom mitgeführt, erst nord-, dann ostwärts, und dort, wo sich der Golfstrom Europa zuwen­ det, treibt ein großer Teil des Tangs ab und kommt in der Sargasso-See zur Ruhe. Manche Schauermär haben die Fahrensleute aus diesem stillen Meeresgebiet mit­ gebracht. Da heißt es, die Sargasso-See sei der Friedhof der Wracks, und Meeresgeister oder -dämonen brächten sie zur ewigen Ruhe hierher, wo immer das Schiff auch ver­ lorengegangen sei. Schlimmer sind schon die Geschichten von Schiffen, die sich in den Tangwiesen festgefahren haben sollen und nun verurteilt seien, in weiten Kreisbögen langsam dahinzutreiben, bemannt von den Geistern ihrer toten Besatzungen. Natürlich steckt auch in dieser Sage ein Körnchen Wahrheit, denn der Seemann bekam ja wirklich hin und wieder Wracks in Sicht, deren ganze Crew von einer Seuche dahingerafft oder verdurstet war. Aber mit dem Weitererzählen wurde die Geschichte immer mehr aus­ gesponnen, und durch die Jahrhunderte entstanden so die Fabeln von den in der Sar­ gasso-See im Tang festgehaltenen, vom Tang überwucherten Gespensterschiffen. Selbst Dampfer, in deren Schrauben sich der Tang verwickelt hatte, sollten dort bis ans Ende ihrer Tage dahintreiben, und der Roman wie der Film wußten Abenteuerliches von der ,Insel der verlorenen Schiffe* zu berichten. Wahr ist davon nichts - nirgends sind die Tangwiesen dort so dicht, daß sie auch nur das kleinste Schiff behindern könnten. Die Sargasso-See grenzt nirgends an Land. Sie ist eine See inmitten des Meeres. Zum Nordatlantik gehören aber zugleich auch die meisten von Land umschlossenen Binnen­ meere - das Mittelmeer, das Karibische Meer, das Schwarze Meer, die Ostsee - und zahlreiche Inseln. Der Südatlantik hingegen hat fast gar keine Inseln, lediglich ein paar verlassene Felseneilande, und keine Nebenmeere. Dadurch, daß er sich in breiter Front gegen das Südliche Eismeer öffnet, ist er weit rauher und kälter als der Nordatlantik. Der Indische Ozean hat den Ruf, ein ruhiges Meer zu sein, aber es ist dies nur die Ruhe weniger wilder Gewalt. Berühmt ist der Indik durch seine regelmäßigen Monsun­ winde, die im Winter von Indien nach Afrika hinüberwehen, im Sommer in umge­ kehrter Richtung. Magellan, der erste Europäer, der über den Pazifik gesegelt ist, gab diesem Meer seinen Namen: das Friedfertige. Nach all den wilden Stürmen, die der Weltumsegler bei seiner Reise vom Südatlantik durch die engen Durchfahrten am äußersten Ende von Südamerika zu bestehen hatte, erschienen ihm die ruhigen, sonnenüberfluteten Weiten des größten der Ozeane als wahrhaft friedliche Gefilde. Magellan brauchte nicht zu erleben, wieviel Schlechtwetter es hier geben kann. So groß ist die Macht eines Namens, daß selbst noch heute der Südpazifik gerühmt wird für seine Schönheit, für weite, vergnügliche Reisen zu paradiesischen Inseln, daß man aber kaum von den furchtbaren Stürmen dort spricht. Der Nordpazifik liegt nicht im freundlichen Schimmer von Südseegeschichten. Für viele Menschen bedeutet er ganz etwas anderes. Denn das Gebiet des Nordpazifik ist zugleich das der meisten Erdbeben; das Zentrum dieser unheimlich unterirdischen und 28

unterseeischen Kräfte liegt, soweit man weiß, nahe der Bucht von Tokio. Hier zählt man am Tage durchschnittlich vier Erdstöße; wirklich gefährliche Erdbeben kommen allerdings nur alle sechs bis sieben Jahre vor. Solche Erdbeben richten nicht nur an Land schlimmste Schäden an, sondern führen auch im Meer zu mancherlei schwerwiegenden Veränderungen. Ein Erdbeben, das die Menschen besonders getroffen hat, war das von 1923; es verwüstete den größten Teil von Tokio, und nahezu 150 000 Menschen fanden den Tod. Es ruinierte aber auch die Küstenfischerei. Die Fischgründe verlagerten sich nämlich infolge dieses Erdbebens um mehr als 1000 Seemeilen nordwärts zur KorffBay vor Kamtschatka. Bereits 1938 hatten hier die Russen elf Fischereistationen - vor dem Erdbeben von 1923 hatte es in dieser Bay keine einzige gegeben. Die längsten Netze, die ich je gesehen habe, fand ich hier. Drei der Stationen waren an die Japaner verpachtet. Der Südpazifik hat das nächstgrößere Erdbebenzentrum; es liegt beim AtacamaGraben vor der Küste von Chile und Peru. Hier befindet sich übrigens die Stelle der Erde mit dem größten natürlichen Höhenunterschied, denn fast unmittelbar aus der Tiefe des 7600 Meter messenden Atacama-Grabens erheben sich die ihm genau parallel laufenden Anden zu Höhen von über 6000 und bis zu 7000 Metern! Zum mindesten für diesen Teil der Erde also trifft die noch im alten Griechenland entstandene Lehre des Kleomedes zu, um der Harmonie des Kosmos willen müßten die größten Tiefen des Meeres und die größten Höhen der Berge einander entsprechen. Die absolut größte bisher bekannte Tiefe hingegen weist der Nordpazifik mit dem Challenger-Tief im Marianengraben auf - rund 10 800 Meter sind hier gelotet, über 1900 Meter, über eine Seemeile mehr, als der höchste Berg mißt, der Mount Everest im Himalaja. Das alles sind natürlich nur einige Glanzlichter aus der Fülle der Eigenschaften und Sonderheiten, die jedes einzelne der Sieben Meere charakterisieren. Alle aber sind sie dem Wechsel unterworfen, und vielleicht werden sie auch ihren Charakter im Laufe der Zeiten wandeln. D ie

Nordatlantik Südatlantik Nordpazifik Südpazifik Indik Nördl. Eismeer Südl. Eismeer

1 j [ J

sieben

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in der

S tatistik

Fläche qkm

Durchschnittl. Tiefe

106 463079

3938

179679131

4285

74917055 140 991023

3965 1105



m

__ Sf-

Größte Inseln Fläche in qkm Großbritannien Feuerland Honschu Neuguinea Madagaskar Grönland Antarktika

208 041 38 692 230533 820670 592 192 2175 600 13 000000

Angaben sind in denen für Atlantik, Pazifik und Indik enthalten, da die Grenzen zu diesen Meeren nicht eindeutig festgelegt sind. Borneo (751131 qkm) und Sumatra (434136 qkm) sind zwar größer, liegen aber sowohl im Nord- wie im Südpazifik, da der Äquator mitten durch beide Inseln hindurchgeht. 29

BLICK I N DI E Z U K U N F T Von Zeit zu Zeit liest man in der Zeitung, dort sinke ein Küstenstrich ins Meer ab oder da hebe sich Land aus der See. Immer handelt es sich dabei jedoch nur um winzige Beträge, die außerdem schwer meßbar sind, und so schenken wir solchen Meldungen keine weitere Aufmerksamkeit. Und wir tun recht daran, uns über Nachriditen dieser Art nicht aufzuregen - die Verschiebungen, die da zwischen Land und Meer eintreten, sind so gering, daß wir uns darum keine grauen Haare wachsen zu lassen brauchen. Doch das Meer hat noch ganz andere Möglichkeiten. Wir brauchen zwar nicht für morgen und übermorgen zu erwarten, daß sie in die Wirklichkeit umgesetzt werden, es steckt aber trotzdem einige Realität dahinter, so phantastisch sich diese Aussichten auch zunächst ausnehmen mögen. Jede große Landhebung und Gebirgsbildung freilich von dem Umfang, wie sie das Auffalten der Alpen oder des Himalaja bedeutet, braucht Jahrmillionen. Die letzte ging, geologisch gesehen, gestern vor sich, und das bedeutet immerhin, daß der An­ fang rund 100 Millionen Jahre zurückliegt. Unsere alte Erde ruht sich, so will es scheinen, stets Tausende von Jahrhunderten aus, ehe sie zum nächsten großen Umbau

So sähe die Erdkarte auSy wenn sich der Meeresspiegel um 200 Meter senken würde .. . 30

ansetzt, und man darf deshalb annehmen, daß in unserem Zeitalter nichts Sonderliches mehr passiert (die Hebung der Alpen und des Himalaja hält übrigens auch heute noch, freilich in bescheidensten Grenzen, an). Von solchen Wandlungen im Antlitz der Meere und Länder haben wir Menschen also kaum etwas zu befürchten. Und doch - gerade vom Meer her scheint sich etwas anzubahnen, das auch für den Menschen bedenklich werden könnte ... Eine dieser Möglichkeiten sei hier einmal durchdacht. Es gibt Wissenschaftler, die der Meinung sind, wir lebten am Ausgang der letzten Vereisung, und die von der Großen Eiszeit herstammenden Gletscher in den Hochgebirgen, vor allem aber die Eiskappen von Nord- und Südpol gingen ständig zurück. Beobachtungen der letzten Jahrzehnte zeigen in der Tat, daß überall auf der Erde die Gletscher abschmelzen. Die Menge Wasser, die in ihnen als Eis gebunden festliegt, ist gewaltig groß. Schon wenn nur ein Teil wieder zu Wasser würde, müßte das bedeuten, daß sich der Meeres­ spiegel um etwa 30 Meter hebt. Sollte aber alles, was heute noch Eis ist, zu Wasser schmelzen, dann würden das schätzungsweise 150, wenn nicht gar 200 Meter werden. Schon im ersten Fall hieße das: alle atlantischen Seehäfen der Vereinigten Staaten, all die großen Städte würden in den Fluten verschwinden. Die Küstenlinie wäre dann am Fuß der Appalachen. Davor würden einige Inseln liegen. Der Golf von Mexiko reichte dann nordwärts bis etwa dorthin, wo heute St. Louis liegt. An der pazifischen Küste würde alles bis zu den Küstengebirgen unter Wasser stehen. Ähnliche Über-

flutungen würden die volkreichen Gebiete und Städte Westeuropas, Asiens, Afrikas und Südamerikas heimsuchen. Hamburg, Bremen, Lübeck wären versunkene Städte wie Vineta. Tausende von Inseln würden verschwinden, viele andere zusammenschrumpfen. Sollte sich aber der Meeresspiegel wirklich um 200 Meter heben, so würde das Welt­ meer nahezu seine größte Ausdehnung erreichen - vielleicht hat es in Urzeiten schon einmal so viel Land überflutet. Heute nimmt es 71 Prozent der Erdoberfläche ein; dann wären es 85 oder 90 Prozent. Von den östlichen Vereinigten Staaten bliebe dann fast nichts übrig als eine Inselkette dort, wo sich heute die Appalachen erheben. Die Großen Seen und der Golf von Mexiko würden im Mississippital zusammenfließen, und vom Westen Nordamerikas wären nur noch die Hochflächen und Gebirge da. Die Hudsonbay würde als Meer fast ganz Nordkanada bedecken. Von Europas Kultur bliebe jämmerlich wenig übrig. Ein paar Felseninseln, das wäre alles, was noch an die Britischen Inseln, Westfrankreich, Belgien, Holland und Skandinavien erinnerte. Von Köln bis Berlin würde Norddeutschland Meeresboden, und mit einigem Glück könnte Leipzig dann vielleicht die Seestadt werden, von der das Studentenlied singt. Pyrenäen und Appenin wären Inseln in einem Meer, das auch die Sahara weithin bedecken würde. Weiteste Gebiete Rußlands und Westsibiriens ständen unter Wasser, und ähnlich wäre es allenthalben auf der Welt. Immerhin steht vor alledem noch das eine kleine Wörtchen ,Wenn‘, und das läßt uns diese Zukunftsaussichten nicht ganz so alarmierend klingen, wie es im ersten Augen­ blick scheinen mag. Das Abschmelzen der Gletscher würde viele Tausende von Jahren brauchen. Dann aber ist noch etwas: Es gibt da zwei Faktoren, die nicht unberücksichtigt bleiben dürfen. Beide aber würden verhindern, daß die Überflutungen solche Ausmaße annehmen, wie wir sie hier gezeichnet haben. Dort, wo das Festland seine Eislast los­ wird, würde es sich heben, genau wie ein Schiff, das entladen wird, immer höher und höher im Wasser liegt. Und umgekehrt müßte sich der Meeresboden unter dem Gewicht der neu hinzukommenden Wassermassen senken. Doch auch der umgekehrte Fall ist denkbar, und es gibt Stimmen, die da sagen, wir lebten gar nicht im Ausgang der Großen Eiszeit, sondern in einer vierten ,Zwischeneiszeit*, in einer jener Warmzeiten, wie sie schon dreimal zuvor die 600000 Jahre der Großen Eiszeit unterbrochen haben. Gehen wir wirklich einer neuen Eiszeit entgegen, so wird abermals so viel Meerwasser in den wachsenden Gletschern festgelegt, daß die heutigen Häfen zu Städten im Binnenland werden, 100, 150 und mehr Kilometer von der See entfernt. Der Kontinentalschelf mit all seinen Sanden, Inseln, Klippen, Riffen und unterseeischen Canons würde trockenfallen. Jeder Fluß müßte sich ein neues Bett zu dem weit zurückgegangenen Meer graben. England wäre dann wieder, wie früher schon einmal, ein Teil von Europa. Sibirien und Alaska würden zusammenwachsen, und manche Inselketten wären nun ein einziges Festland. Für die Menschheit wäre wohl der Klimawechsel, der sich mit solch weltweiten Ver­ änderungen hinsichtlich der Höhe des Meeresspiegels einstellen würde, einschneidender als die Transgression - die Überflutung - oder die Regression, das Zurückweichen der Meere. Wenn der Ozean seine Warmwassermassen näher an die Pole heranführen kann, wenn der Kühleffekt der großen Massen von Inlandeis entfällt, würde sich auf der ganzen Erde ein gleichmäßiges, subtropisches oder tropisches Klima einstellen. Wo sich 32

heute Tundren und Wüsten erstrecken, müßten dann Früchte aller Art gedeihen. Um die extremen Temperaturunterschiede entstehen zu lassen, die das ausmachen, was wir das Klima der gemäßigten Zone nennen, bedarf es großer Landmassen. Diese werden einfach nicht mehr existieren und mit ihnen auch nicht die Wetterbedingungen, unter denen wir heute leben. Andererseits müßte eine neue Eiszeit einen Gletschervorstoß bedeuten, der weite, heute dicht bevölkerte Gebiete unter den Eismassen begraben würde. Die überlebende Menschheit hätte bei den Eskimos in die Lehre zu gehen, um die Kälte zu bestehen. Rentiere, Moschusochsen und Eisbären würden an den Küsten des Mittelmeeres auf­ tauchen, wo sich dann vielleicht einer der dort unter härtesten Bedingungen ihr Leben fristenden Menschen erinnerte, gelesen zu haben, daß es Rentiere hier schon einmal in einer früheren Eiszeit gegeben hat, wie man von den Gemälden an den Wänden steinzeitlicher Höhlen ablesen kann. Es ist beileibe nicht nur Phantasie, was wir da ausgemalt haben. Wir sagten schon, daß es innerhalb der letzten 600000 Jahre vier Eiszeiten und drei Warmzeiten ge­ geben hat, in denen die Welt wirklich so oder ähnlich ausgesehen hat, wie wir es geschildert haben. Ob die Mehrzahl der Gelehrten im Recht bleibt, wenn sie versichert, daß die Periode des Gletscherrückzugs lange Zeit anhalten wird, ehe eine neue Eiszeit beginnt, das ist noch nicht ausgemacht. Vielleicht machen wir nur eine kleine Klima­ schwankung durch, und nach Jahrzehnten oder Jahrhunderten ist es wieder so wie zu Zeiten unserer Urgroßeltern. Wir wissen es nicht. Was wir aber sicher wissen, ist das: Jahrtausende werden vergehen, ehe wirklich großräumige Veränderungen spürbar werden. Andere Wandlungen im Haushalt der Meere könnten auf den Menschen und seine Lebensweise ebenfalls weitgehende Auswirkungen haben. Wir meinen plötzliche Ver­ änderungen im Lauf einer der großen Meeresströmungen, wie sie sich etwa als Folge unterseeischer Beben einstellen könnten. Die Strömung, die besondere Bedeutung für Europa, aber auch für Nordamerika hat, ist der Golfstrom; ihm verdanken West- und Nordeuropa und der Osten Nordamerikas ihr spezifisches Klima, vor allem den Regen. Würde sich der Golfstrom durch irgendein geologisches Ereignis verlagern, so hätte das für Hunderte von Millionen Menschen tiefgreifende Folgen, denn das Klima und damit ihre Umwelt müßte sich völlig wandeln. Ähnlich wäre es bei manch anderer der großen Meeresströmungen. Änderungen ihres Laufs würden fruchtbare Inseln in Wüsten ver­ wandeln und Wüsten in Gartenlandschaften, die Winter würden länger oder kürzer, die Niederschläge ergiebiger oder aber spärlicher. Wir kennen manche dieser Wirkungen recht gut, und zwar deshalb, weil der Humboldt­ strom, eine mächtige Strömung kalten Wassers von der Antarktis her längs der West­ küste Südamerikas, in historischer Zeit zweimal seinen Lauf unterbrochen hat. Nor­ malerweise wehen dort die Winde landwärts auf die Anden zu. Die mit Feuchtigkeit geschwängerten Luftmassen steigen auf, kühlen sich in der Höhe schneller ab, als daß sie durch das Land erwärmt werden könnten, und so macht sich die Feuchtigkeit nur als Nebel bemerkbar. Regen ist deshalb zwischen dem Pazifik und den Hängen der Gebirgskette so selten wie Schnee in Sizilien. Dann aber blieb der Humboldtstrom auf einmal aus, und eine warme Meeresströmung von Norden her, El Nino, lief nun die 33

Küste entlang. Jetzt wurden die Winde ausgesprochen tropisch, warm und von Feuchtig­ keit gesättigt. Sie überschütteten das Land mit mächtigen Regengüssen, verwandelten den Staub in Schlamm, schwemmten die Lehmhütten, die kaum einem sanften Regen­ schauer standzuhalten vermochten, einfach fort und verursachten verheerende Über­ flutungen. Doch nicht minder katastrophal ging es im Meer zu. Das Plankton, die Krebstierdien, die Untenfische, dem kalten Wasser des Humboldtstroms angepaßt, starben mit steigender Temperatur des Wassers zu Myriaden dahin, und mit ihnen die Fische, die sich von ihnen nährten. Die Robben, die Wale, die Riesenschwärme von Seevögeln, die auf den von ihnen geformten Guano-Inseln hausten, verhungerten oder wanderten ab. Das alles kehrte sich wieder ins Normale mit dem Augenblick, da der Humboldtstrom erneut einsetzte. Aber die revolutionäre Umstellung der Lebensbedin­ gungen (die sich mit einem Ausbleiben des Benguelastroms genau so an der Westküste Afrikas ereignen könnte) gibt uns doch einen Vorgeschmack dessen, was passieren würde, wenn eine der großen Meeresströmungen ihren Lauf unterbräche oder ver­ änderte; denn die Küsten aller Kontinente stehen in enger Abhängigkeit von ihnen. Vielleicht wird aber die nädiste große Umwandlung im Haushalt des Weltmeeres nicht von der Natur verursacht werden, sondern von Menschenhand. In der Sowjet­ union diskutiert man seit einiger Zeit halb offiziell ein Projekt, das die Kältewüsten Nordasiens in ein gemäßigtes und unvorstellbar reiches Land verwandeln soll. Alles, was dazu benötigt wird, ist eine Maschinerie, die das Wasser des Nördlichen Eismeers längs der Nordküste von Sibirien erwärmt. Die Nutzung der Atomenergie bietet nun tatsächlich die Möglichkeiten für eine solche Maschinerie. Die russische Theorie, wie man sie mir auseinandersetzte, als ich vor einigen Jahren in der Sowjetunion war, ist folgende: Die Bering-Straße soll durch einen Damm geschlossen werden - ein Unternehmen, das die Ingenieure heute vor keine unlösbaren Aufgaben stellt. Und dann sollen von Atomenergie getriebene Pump­ werke das warme Wasser des Pazifik auf die nördliche Seite des Dammes drücken so viel, daß es ausreidit, die Wassertemperatur in diesem Gebiet des Nördlichen Eis­ meers entscheidend zu erhöhen. Die Folgen, die sich daraus für Sibirien ergeben würden, sind nur vergleichbar mit den Auswirkungen des Golfstroms auf die nordamerikanische Westküste. Die weithin mit Schnee und Eis bedeckte, menschenarme Tundra würde sich in ein üppig fruchtbares Land verwandeln, das eine große Bevölkerung mehr als reich­ lich zu ernähren vermöchte. Und das gleiche könnte möglicherweise in Alaska und Nordkanada vor sich gehen. So weit hört sich das alles wunderbar an. Aber die Auswirkungen eines solchen Eingriffs in die Natur ließen sich nicht auf Sibirien und Kanada beschränken. Das Kalt­ wasser des Nördlichen Eismeeres, vermehrt durch das Schmelzwasser der schwindenden Schnee- und Eismassen, muß ja irgendwohin abfließen, wenn über den Bering-Damm dauernd Warmwasser zugepumpt wird. Die einzige Richtung, in der sich die neue Strömung bewegen könnte, wäre zum Atlantik hin, denn der Ausgang zum Pazifik ist ja durch den Damm verlegt. Sie würde sich zur Barents-See wenden und von dort zur Küste Skandinaviens. Die neue Strömung müßte dann auf den Golfstrom stoßen, dort, wo er an die Küsten Europas kommt, ihn ablenken, wenn nicht gar zunichte machen. Über die ganze weite Strecke von Norwegen bis Spanien hin würden dann 3 4

Die Sieben Meere auf einer Weltkarte von Cornelis Danckerts {Amsterdam, um 1680). Man erkennt deutlich, welche Küsten noch unbekannt sind: Australien und Neuseeland sind nur angedeutet, der ganze Nordwesten von Nordamerika fehlt, falsch dargestellt ist Nordostasien

nicht sehr viel bessere Bedingungen herrschen als in einer Wüste. Das kalte Wasser würde die Luft so trocken werden lassen, daß Nebel in London und Hamburg eine Unmöglich­ keit, Regen eine Seltenheit bedeutete. Das Ende der europäischen Landwirtschaft wäre gekommen. In Dänemark und in der Norddeutschen Tiefebene herrschte ein Klima wie jetzt am nördlidisten Zipfel von Labrador. Gewiß - dieser Plan kann eine Utopie bleiben wie das phantastische Projekt ,Atlantropa‘ des Ingenieurs Sörgel, der das Mittelmeer absenken wollte, um Riesenkraftwerke entstehen zu lassen und die Sahara zu begrünen, oder wie der vor 50 oder 60 Jahren diskutierte Vorschlag, einen Kanal vom Meer her bis zu tief gelegenen Gebieten der Sahara vorzutreiben. Man wollte über das so entstehende riesige Wasserbecken bequem Zugang zu den Schätzen Innerafrikas gewinnen, die zu jener Zeit für den Welthandel praktisch noch unerreichbar waren. Den lebhaftesten Widerspruch fand dieser Plan schon damals von Seiten der Geologen; sie meinten, der Druck der Wassermassen werde schwerwiegende Gleichgewichtsveränderungen in der Erdkruste verursachen, die an anderen Stellen zu Vulkanausbrüchen und Verlagerungen führen müßten. Bisher haben wir uns Zukunftsbilder ausgemalt, bei denen das Meer auf das Land verändernd einwirken könnte. Es gibt aber auch das Umgekehrte: Vom Land her kann das Antlitz des Meeres verwandelt werden. Die Flüsse und Ströme schleppen Schlamm, Sand und Geröll von den Bergen zum Meer hin, und all das setzt sich im Flachwasser des Kontinentalschelfs ab. Mit der Zeit können diese Ablagerungen so dick und schwer werden, daß sich der Meeresboden senkt, ja daß es unter dem immer steigenden Gewicht der Sedimente schließlich zu einem Einbrechen der Erdkruste kommen kann, was einen gewaltigen, wenn auch örtlich begrenzten Ausbruch von Magma und eine dadurch bewirkte Aufwölbung zur Folge hätte. Doch diese Absenkung des Meeresbodens durch Sedimentation wird auf der anderen Seite durdi Vorgänge der Gebirgsbildung und Landhebung kompensiert. Nach der Theorie der Kontinentalverschiebung, die der 1930 im Polareis gestorbene Forscher Alfred Wegener aufgestellt hat, driften die Kontinentalmassen auf dem plastischen Untergrund wie Eisschollen auf dem Wasser, so gut wie unmerklich, aber doch stetig nach Westen. Mit dieser Theorie stimmt sehr schön die Tatsache überein, daß die Anden ständig wachsen, an manchen Orten bis zu 10 Metern im Jahr und mehr; wenn man sich ein Bild machen will, wie das vor sich geht, so denke man daran, wie ein Bulldozer (das wäre in unserem Fall die westwärts driftende Kontinentalscholle) das Erdreich (die Massen des plastischen Untergrunds) vor sich her- und dabei hochschiebt. Aber nicht nur in den Anden spürt man die Hebung. Ich kenne einen Ort in Grönland, wo sie sich nicht minder bemerkbar macht. Dort errichten die Eskimos an der Küste Gerüste für ihre Kajaks, um die Schlittenhunde von den Booten fernzuhalten. Im Laufe meines Lebens nun mußten die Eskimos zweimal neue Gerüste weiter ans Meer heran bauen, ganz einfach deshalb, weil sich das Land gehoben hatte. Der Grund dafür mag sein, daß auch hier sich das westwärts driftende Land ,aufstaut‘; vielleicht aber ,taucht‘ Grönland deshalb ,auP, weil die Eislast durch das Abschmelzen der Gletscher geringer geworden ist. Auch an anderen Stellen in Grönland sind Gebiete, die früher unter dem Wasserspiegel gelegen haben, jetzt trockengefallen. All dieser Wandel heute und in der Zukunft genau so wie in den vergangenen Zeiten 37

der Erdgeschichte wird jedoch die Hauptbecken des Weltmeeres kaum beeinflussen; sie werden im wesentlichen so bleiben, wie sie waren und wie sie sind, weitgehend immun gegen die Beeinflussung durch schmelzende oder wachsende Gletscher und durch sich wandelnde Strömungen. Gewiß - diese Meeresbecken haben ihre eigenen vulkani­ schen Erscheinungen und Beben, die mächtige Brüche aufreißen oder große Hebungen aufwölben. Aber alle diese Vorgänge haben für die Meeresoberfläche mehr die Bedeutung von Nebenerscheinungen, ja es mag Vorkommen, daß der Mensch kaum davon Kennt­ nis erhält, es sei denn mit Hilfe sehr subtiler Instrumente. Die großen Meeresbecken sind und bleiben die am wenigsten wandelbaren physischen Fakten unserer Erdenwelt und können wohl von Grund auf nur verändert werden durch eine der großen und sehr seltenen kataklysmatischen Umwälzungen in der Erdkruste.

Das Leben in den Sieben Meeren

GENESIS Der Mensch, eingebildet wie er ist, steckt voller Vorurteile. Das merkt man, wenn man sich mit jemandem über das Leben im Meer unterhält. Da die Menschheit vom Leben auf dem Festland wenigstens etwas schon zu einer Zeit wußte, als vom Meeresleben lediglich ein paar abergläubische Fabeln erzählt wurden, so kommt es, daß man auch heute noch oft hört, die Lebensentfaltung auf dem Festland sei doch wohl viel reicher als in der See. Genau das Gegenteil ist richtig. Von allen Klassen des Tierreichs haben 94 Prozent Vertreter im Meer, jedoch nur 44 Prozent auf dem Land. Die größten Tiere, die es gibt, leben im Ozean, und genau so ist es mit den langlebigsten. Vor allem aber hat das Leben auf dieser Erde im Meer seinen Anfang genommen, und hier hat es sich Jahrmillionen hindurch zu beachtlicher Flöhe entfaltet, lange bevor sich auch nur eine einzige Pflanze oder ein einziges Tier auf den Äonen lang kahlen und öden Felsen und Ebenen des Festlandes ansiedelte. Das Urgeheimnis ist nach wie vor ungelöst: Wie ist das Leben entstanden? Das einzige, was wir wirklich darüber wissen, ist, daß sich erstes Leben im Meer geregt haben muß. Irgendwo und irgendwann, in unvorstellbar lang zurückliegender Zeit, muß jedenfalls im Schutz des Salzwassers das erste Lebewesen dagewesen sein, aller Wahrscheinlichkeit nach mikroskopisch klein und nur aus einer einzigen Zelle bestehend, aber schon mit der Fähigkeit begabt, die seitdem alles Lebende kennzeichnet: seines­ gleichen aus sich hervorgehen zu lassen. Die Wissenschaft schließt aus den versteinerten Urkunden längst dahingegangener Tier- und Pflanzengeschlechter und aus mancherlei anderen Tatsachen, daß das Leben auf unserer Erde mindestens zwei Milliarden Jahre alt ist. 700 Jahrmillionen jedenfalls läßt sich die Geschichte der Lebewesen zurückverfolgen; die ältesten, die wir kennen, waren zweifellos Meeresbewohner, und vor 500 Millionen Jahren wimmelte die See bereits von vielfältigem Tierleben. All die Hauptgruppen der wirbellosen Tiere, die es heute noch gibt, und andere, inzwischen ausgestorbene, lassen sich in Versteinerun­ gen, die eine halbe Milliarde Jahre alt sind, nachweisen. Von irgendwelchem Leben auf dem festen Land aber konnte damals noch keine Rede sein. Alles tierische Leben hängt vom pflanzlichen ab. Die Pflanze, die mit Hilfe des Sonnenlichts organische Substanz aus Anorganischem aufzubauen vermag, liefert die Urnahrung. Und die allerältesten Lebenszeugen der Urzeit sind in der Tat einzellige Pflanzen, Blaualgen. Algen und Tange, bald auch schon vielzellige Gewächse von der Größe der heutigen, finden sich bereits zu Beginn des Erdaltertums in großer Vielfalt neben den zahlreichen Schaltieren, Würmern, Schwämmen, Hohltieren, Stachelhäutern. Im Meer sind auch die ersten Wirbeltiere entstanden, kurz bevor nun endlich die ersten 39

Pflanzen und Tiere von der Strandregion her das Festland eroberten. Dieser entschei­ dende Schritt muß gegen die Mitte des Erdaltertums, vor etwa 300 oder 400 Jahr­ millionen, getan worden sein. Das Leben der Landgeschöpfe unterscheidet sich von dem der Meerestiere grund­ legend in einem: Auf dem Festland spielt es sich in zwei Dimensionen ab, im Wasser jedoch in drei - nur die Vögel, die Insekten, die Fledermäuse benutzen auch über dem Festen die dritte Dimension des Luft,meeres‘ für ihre Fortbewegung, halten sich dabei jedoch fast ausschließlich an die untersten Schichten. Drei Dimensionen anstatt deren zwei, das heißt in erster Linie sehr viel mehr Raum (nicht umsonst sprechen wir ja vom ,freien‘ und ,ungebundenen‘, von der ,Erdenschwere‘ gelösten Vogel!), weil ja zum ,Vor‘ und ,Zurück‘ sowie zum ,Links‘ und ,Rechts‘ nun auch noch das ,Auf‘ und ,Ab‘ kommt. Eine Bewegungsmöglichkeit in drei Dimensionen läßt also den Raum, den die Lebewesen zu besiedeln haben, sehr viel größer werden - die Zahl der Lebens­ räume wird größer: Von der Felsküste bis zu den lichtlosen Abgründen der Tiefsee, vom Korallenriff bis zum Sandstrand, von der landfernen Hochsee bis zum Brack­ wasser vor der Mündung eines Flusses stehen den Lebewesen des Meeres die unterschied­ lichsten Lebensräume zur Verfügung, und dies stets in drei Dimensionen. Kein Wunder also, daß das Meeresleben über einen so großen Gestaltenreichtum verfügt. Die dritte Dimension ist jedoch zugleich die, die das Leben vor besonders schwierige Probleme stellt: Mit jedem Meter Wassertiefe wächst der Druck um eine Zehntel Atmosphäre, und das bedeutet bei 100 Metern bereits einen Druck von 10 Kilogramm auf jeden Quadratzentimeter Körperoberfläche; bei 1000 Metern sind es bereits 100 Kilogramm in der freien Luft ist es aber nur ein Kilo! Dennoch vermögen selbst Robben und Wale, die ja luftatmende Säugetiere sind, in wenigen Minuten auf Hunderte von Metern zu tauchen; daß auch Fische das gleiche können, erscheint uns weniger erstaunlich, ist aber angesichts der zu bewältigenden Druckunterschiede doch eine große Leistung. Freilich - der mit der Tiefe wachsende Druck zieht auch vielen Tieren des Meeres Gren­ zen, die sie nicht zu überschreiten vermögen, und man kann sehr wohl unterscheiden zwischen den Lebewesen der sonnendurchfluteten Regionen der oberflächennahen Schich­ ten, in denen die uns am besten bekannten Tiere hausen, dann denen der mittleren Tiefen, wo es schon weniger Formen in meist wohl auch geringeren Individuenzahlen gibt, und schließlich denen der ewigen Nacht in der Tiefsee. Lange hat man geglaubt, die Meerestiefen seien überhaupt lebensleer. Zwar holte der britische Seefahrer Sir John Ross 1818 in der Baffin-Bay aus einer Tiefe von 1800 Metern einen lebenden Schlangenstern herauf, der sich in die Lotleine verwickelt hatte. Dort unten gab es also Leben, dort unten war nicht alles mit ewigem Eis über­ zogen, wie die Naturforscher damals glaubten. Noch aber zeigte sich die Theorie stärker als die Tatsache: Man diskutierte den Fund weg, denn die Lehre vom Eisboden der Ozeane, wie sie Peron aufgestellt hatte, und die sogenannte Abyssus-Theorie des Eng­ länders Edward Forbes vom Jahre 1843, nach der unterhalb einer Tiefe von 550 Metern - als ,Null-Linie‘ bezeichnet - überhaupt kein Leben mehr existiere, ließen sich mit dem Fund aus der Baffin-Bay nicht in Einklang bringen. Inzwischen hatte der englische Konteradmiral Sir James Clark Ross, der Neffe von John Ross, auf seiner Südpolar-Expedition 1839-1843 die ersten exakten Tiefen­ 40

messungen vorgenommen, die noch heute Bestand haben. Er fand im südlichen Atlantik Tiefen von mehr als 4000 Metern und brachte auch Tiere mit, die das Schleppnetz aus mehr als 700 Metern Tiefe heraufgeholt hatte. Und die Verlegung der Transatlantik­ kabel seit der Mitte des vorigen Jahrhunderts brachte dann eine Fülle von Beweisen, daß auch jenseits von Forbes’ ,Null-Linie‘ Leben existierte. Bei den Vorbereitungen zur Verlegung der Kabel mußte man natürlich die Tiefen loten, in denen das Seekabel liegen sollte. Man kam auf 1500, 1800 und mehr Meter, und stets holte die Leine Lebensspuren mit herauf, Seesterne, die sich am Ende der Leine festgesaugt hatten, oder Röhrenwürmer, die sie erfaßt hatte. Und als dann die ersten verlegten Kabel schon sehr bald rissen und deshalb wieder herausgefisdit werden mußten, zeigte sich, daß bereits wenige Jahre genügt hatten, selbst in 3000 Metern Tiefe alle möglichen Arten von festsitzenden Tieren sich auf den Kabeln ansiedeln zu lassen. Seit der zweiten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts schickten dann schließlich alle Kulturnationen ihre Forschungsschiffe hinaus, um die Geheimnisse der Sieben Meere zu enträtseln; nun konnte sehr bald nicht mehr bezweifelt werden, daß vom Meeresspiegel bis hinab zu Tiefen von mehreren tausend Metern die See überall belebt ist, auch dort, wo kein Sonnenstrahl mehr hinkommt und wo ein Druck von vielen hundert Atmosphären herrscht. Man weiß, daß Wale bis 1000 Meter tief zu tauchen vermögen - eine Leistung, die auch der Wissenschaft von heute noch schwer zu sdiaffen macht (s. S. 62). Die Wale stehen damit jedoch nicht etwa einzig da. So gibt es kleine Schwimmkrebse, die sich nachts in den oberflächennahen Meeresschichten aufhalten, tagsüber aber in sehr viel tieferen Bereichen - vielleidit, um der Verfolgung droben zu entgehen. Bei ihrem Auf und Ab im Rhythmus von Tag und Nacht überwinden die zarten Tierchen Druck­ unterschiede von 20 und mehr Atmosphären. Kein Tier des Landes würde ein Experi­ ment, das man unter gleichen Bedingungen ansetzen würde, lebend überstehen, ganz einfach deshalb, weil eben an Land der Druck immer nur um eine Atmosphäre herum schwankt. Wie aber ist das vor sich gegangen - dieses Hinüberwechseln von Lebewesen des Meeres aufs Feste? Im späten Obersilur, vor etwa 330 Millionen Jahren, kam es durdi die Tätigkeit der inneren Erdkräfte zu neuer Gebirgsbildung und Landhebung. Die Küste fiel über weite Strecken trocken - und das war der Moment, in dem die ersten Pflanzen ihre grünen Fühler in die Gezeitenzone vorstreckten und sich von dort aus schnell über das zuvor trostlos lebensleere Festland ausbreiteten. Innerhalb von 50 Jahr­ millionen entwickeln sich - das ist das wahrhaft Erstaunliche an dieser Zeit - aus nodi recht einfachen Tangpflanzen große, zapfentragende Bäume, und vom Ufer her schiebt sich die grüne Flut über das ganze weite Land, über Sümpfe, Ebenen, Berghänge. Damit aber war ein unendlich weiter neuer Nahrungsraum erschlossen - der Pflanze folgend geht nun auch das Tier vom Meer aufs Trockene, ebenfalls auf dem Weg über die Gezeitenzone. Die ersten Landtiere waren Angehörige des stets verwandlungs­ freudigen Gliederfüßlergeschlechts, Skorpione, Tausendfüßler und Spinnen, letzte Nadifahren jener vielfüßigen Trilobiten, die seit dem Kambrium in außerordentlidier Formenvielfalt die Urzeitmeere erfüllt hatten. Dann folgten gegen Ende des Devon, vor etwa 270 Millionen Jahren, die Fische, aus deren Sippe schließlich alles vierfüßige 41

Getier hervorgehen sollte, von den Lurchen mit Salamander und Frosdi bis hinauf zu den Vögeln und Säugetieren. Freilich hörte die Entwicklung des Meereslebens nicht etwa mit dem Augenblick auf, da sich die jungen Stämme der Pflanzen- und Tiergeschlechter von den Fluten lösten. Auch dort, wo die Wiege des Lebens gestanden hatte, ging der nie endende Vorgang des Arten- und Formenwandels weiter, und im Laufe der Zeit fand sogar eine Um­ kehrung statt: Landtiere kehrten zurück ins Meer. So sind die Wale trotz ihrer äußeren Fischgestalt Abkömmlinge vierfüßiger Landraubtiere. Die Ahnen der Wale mögen sich vor etwa 100 Millionen Jahren immer mehr von der Küste her der See zugewandt haben, bis sie sich schließlich durch die Jahrhunderttausende der schwimmenden Lebens­ weise weiter und weiter anpaßten: Die Hintergliedmaßen verschwanden bis auf tief im Körper versteckte Reste völlig, die Vorderbeine wurden zu Steuerflossen, und dort, wo einst ein Schwanz gesessen hatte, entstand das waagerechte Antriebsorgan der ,Fluke‘, wie der Walfänger die Schwanzflosse nennt. Die Wale sind nicht die ein­ zigen großen Tiere, die sich vom Festen her erneut die Weite der Ozeane erobert haben. Schon im Erdmittelalter ging eine ganze Reihe von Kriechtierformen zum Meeresleben über - die Ichthyosaurier, die Mosasaurier, die Plesiosaurier, die Meeres­ schildkröten -, und wie die Wale, so sind auch die Robben Abkömmlinge von Land­ raubtieren, während die Seekühe oder Sirenen Nachfahren einstiger Huftiere sind. Für den nachdenklichen Naturfreund ist es immer wieder reizvoll, zu beobachten, wie die Erfordernisse des Lebens im nassen Element trotz aller grundsätzlichen Verschieden­ heiten doch oft geradezu verblüffende Ähnlichkeit in der äußeren Gestalt erzwingen; ein einziger Blick auf den Hai (der zu den Fischen gehört), den Delphin (der ein Wal und damit ein Säugetier ist) und auf den zum Kriechtierstamm zählenden Ichthyosaurier zeigt, daß ähnliche Lebensweise auch ähnliche Gestalten prägt. Wir sagten vorhin, daß vor etwa 300 Jahrmillionen aus dem Geschlecht der Ge­ schuppten die ersten vierfüßigen Landtiere entstanden seien. Man weiß heute recht gut, wie das im einzelnen vor sich gegangen ist. Versteinerungen zeigen ganz deutlich, daß die Urahnen aller Lurche, Kriechtiere, Vögel und Säugetiere Angehörige einer Fischgruppe gewesen sind, die man wegen der charakteristischen Ausbildung ihrer Schwimmwerkzeuge Quastenflosser nennt. Diese Quastenflosser sind offenbar vom Meer her in das Süßwasser vorgedrungen, und hier haben sie sich zu Sumpf- und schließ­ lich zu Landbewohnern umgewandelt. Man kennt aus dem Oberdevon von Grönland großartige Funde, die ein wirkliches ,Zwischending‘ zwischen Lurch und Quastenflossen­ fisch darstellen, die Ichthyostegalier, Urlurche mit fünfzehigen Füßen, die es dem Tier erlaubten, auf dem Trocknen dahinzukriechen, aber noch mit einem regelrecht be­ schuppten Fischschwanz. Die Quastenflosser sind deshalb für die Tierforscher und vor allem für diejenigen Wissenschaftler, die sich mit den Fragen der Entwicklungs- und Abstammungslehre befassen, von allergrößtem Interesse. Man wird sich also vor­ stellen können, was für eine Sensation es bedeutete (und zwar weit über den engen Kreis der Zoologen hinaus bis in die Spalten der Tagespresse), als vor zwanzig Jahren das Meer einen heute noch lebenden Quastenflosser freigab. Bis dahin kannte man sie nur aus Versteinerungen; mit dem Ausgang des Erd­ mittelalters, seit rund 60 Jahrmillionen, mußten die Quastenflosser ausgestorben sein. 4^

denn nirgendwo auf der Welt gab es jüngere Gesteinsschichten, die irgendeinen Quasten­ flosser oder auch nur die Spur eines solchen enthielten. Und auf einmal tauchte ein solcher Urweltfisch auf, frisch gefangen! Es war im Dezember 1938, als dieses zoologische Wunder geschah. Die Leiterin eines kleinen südafrikanischen Provinzmuseums, Miss Latimer, sah auf dem Fischmarkt einen sonderbaren, blauen Fisch von über anderthalb Metern Länge, der ihr so un­ gewöhnlich erschien, daß sie beschloß, ihn für das Museum zu erwerben und gleich­ zeitig einen anerkannten Fachmann, Professor J. L. B. Smith, um Rat zu fragen, was das wohl für ein Fisch sei. Es war Weihnachten, der Brief erreichte den Professor zu spät, es war außerdem warm, und der Fisch faulte zusehends. Um zu retten, was zu retten war, ließ Miss Latimer ihn vom Präparator ausstopfen - das Innere, das von besonderem Interesse gewesen wäre, war ohnehin bereits ,vergammelt‘. Nun aber wurde es aufregend, denn Professor Smith konnte den Fisch einwandfrei als einen Quastenflosser bestimmen - einen Fisch, der eigentlich seit mindestens 60 Millionen Jahren ausgestorben zu sein hatte, einen Fisch aus jener stammesgeschichtlichen Gegend, in der die Vierfüßler entstanden waren! Und so etwas konnte doch nicht nur in einem einzigen Exemplar Vorkommen! Es mußte noch mehr solche Fische geben!

Professor Smith suchte unermüdlich nach diesem Quastenflosser, dem er zu Ehren seiner Entdeckerin den wissenschaftlichen Namen Latimeria gegeben hatte. Er suchte unverdrossen, ließ Flugblätter drucken, und endlich, 1952, wiederum kurz vor Weih­ nachten, wurde der zweite gefangen, in der Nähe der Comoren, einer kleinen Insel­ gruppe bei Madagaskar, 3200 Kilometer von dem Ort entfernt, an dem sich Professor Smith gerade befand, und zu einer Zeit größter Hitze. Aber der Professor machte es brandeilig: Der Ministerpräsident der Südafrikanischen Union stellte ihm ein Flug­ zeug zur Verfügung, es gab einen Flug durch Sturzregen und wilde Wolken - der zweite Quastenflosser konnte für die Wissenschaft gerettet werden. Inzwischen sind weitere Quastenflosser aus der Coelacanthiden-Sippe (so nennt der Zoologe die nähere Ver­ wandtschaft) - insgesamt über 20 - gefangen und wissenschaftlich untersucht worden. Jetzt kann die Wissenschaft vieles, was bisher nur aus Versteinerungen geschlossen wurde, am lebendfrischen oder gar lebenden Urweltfisch klären; Einer der Quastenflosser konnte in der Tat bereits ein Vierteljahr in Gefangenschaft gehalten werden. Noch ein anderes Urweltwesen hat die Forschung in unseren Tagen aus den Tiefen des Meeres heraufholen können; Das dänische Forschungsschiff ,Galathea‘ hatte nicht 43

nur das Glück, 1951 auch in den allertiefsten Tiefen des Weltmeeres Leben nachweisen zu können: eine bleiche Aktinie (eine Verwandte also der schönen, zum Hohltierstamm gehörenden Seerosen und Seeanemonen), Muscheln und Seegurken bei 10 400 Metern Tiefe im Philippinengraben; die ,Galathea‘ brachte aus 3590 Metern Tiefe im Pazifik vor der mittelamerikanischen Küste auch eine ganz altertümliche Schneckenform zu­ tage. Diese Veopi/iw^-Urschnecke ist ein heute nodi lebender Nachfahre eines Ge­ schlechts, das man bis zur Entdeckung der ,Galathea‘ für ausgestorben gehalten hat und zwar für ausgestorben seit 400 Millionen Jahren! Heißt das, daß die Tiefen der Meere letzte Zufluchtsorte ausgestorbener Tier­ geschlechter sind, daß uns dort unten noch die eine oder andere Antwort auf die vielen Rätsel um die Lebensentwicklung erwartet? Die Frage kann nicht eindeutig beantwortet werden. Sicher ist die ewig stille, ewig dunkle Tiefsee für manche biologisch veraltete Form zu einem Refugium geworden. Auch der Quastenflosser hat sich wahrscheinlich dadurch über die Jahrmillionen gerettet, daß er sich dem Leben in einer besonderen ,Nische‘ angepaßt hat; in seinem Fall war es das Stillwasser unmittelbar in Nähe felsiger Küsten bei 150 bis 275 Metern Tiefe. Aber die meisten Lebewesen, die in den Abgründen des Meeres hausen, sind doch durchaus moderne Geschöpfe. Sie sind zwar den ganz besonderen Bedingungen dieser Regionen hohen Drucks und immerwähren­ der Finsternis angepaßt, sonst aber durchaus nicht urtümlich; sie können nicht ihre Verwandtschaft mit Formen verleugnen, die in höheren, vom Sonnenlicht noch er­ hellten Schichten leben. In der Tiefsee gibt es zwar sehr absonderlich gestaltete Wesen, bizarre, groteske, ja uns geradezu scheußlich erscheinende Gestalten. Aber fast alle sind sie mit solchen verwandt, die wir als normal ansehen. Besonders kennzeichnend für das Leben der Tiefsee ist die mannigfach abgewandelte Fähigkeit, das nie endende Dunkel durch Lichtsignale wenigstens so weit zu erhellen, daß die beiden Urtriebe alles Lebendigen gestillt werden können, der Hunger und die Liebe. Es gibt leuchtende Fische, leuchtende Tintenfische, leuchtende Krebse und noch manch anderes Tier, das selbst leuchtet oder mit Hilfe von Organen, in denen sich licht­ erzeugende Bakterien angesiedelt haben; alle diese Leuchtorgane dienen entweder dazu, daß die Artgenossen und die Geschlechter einander finden, oder zum Zweck des Beute­ fangs: Manche Tiefseefische legen sogar leuchtende Köder aus! Und einige Tiefseekrebse schließlich stoßen in Gefahr eine leuchtende Masse aus, um den Feind zu schrecken und zu verwirren. Das alles und noch manch anderes weiß man, seitdem die Tiefen der Sieben Meere systematisch erforscht werden. Aber was bedeuten die rund hundert Jahre Tefseeforschung gegen die ungeheure Ausdehnung des Meeres nicht nur in der Weite, horinzontal, sondern auch vertikal hinab bis zu zehn Kilometern Tiefe. Es kann kein Zweifel sein: Die Erforschung der Abgründe des Ozeans wird noch viele Rätsel lösen, zugleich aber auch viele neue Rätsel aufwerfen. Gerade in allerletzter Zeit hat die Entschleierung der Tefsee entscheidende Fort­ schritte gemacht. Nicht, wie man vielleicht annehmen möchte, durch die sogenannten Die Zauberhaß zarte Schönheit der Qualle darf nicht darüber hinwegtäuschen, daß in den langen Fangfäden viele Tausende von Nesselzellen sitzen 44

Vielgestaltiges Meereslehen: oben: ein Octopus-Tintenfisch, unten: von links ein von der «Galathea» aus 9000 Meter Tiefe heraufgeholter Wurm; eine Staatsqualle (Siphonophore); ein Seepferdchen

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,liefseetaucher‘, die sich frei schwimmend als ,Fischmenschen* mit Flossen an den Füßen, mit Atemgerät und Kamera in Tiefen bis zu 50 Metern und ein wenig darüber tummeln, aus Sport oder um der Sensation willen, um der Fischereibiologie zu helfen oder um nach versunkenen Schiffen zu suchen. Es sei ohne weiteres zugegeben, daß diese neue Art menschlicher Bewältigung des Wassers ihre Reize hat, daß durch sie ein neues Raumgefühl heraufgeführt worden ist, daß sie eine Menge neuer Erkenntnisse über das Leben der Meerestiere, ja in der Tat eine neue ,schweigende Welt* voller Wunder erschlossen hat. Mit der Tiefsee aber hat das alles nichts zu tun. Sie beginnt für die Wissenschaft unterhalb der 200-Meter-Linie. In diese Tiefe vermag jedoch schwimmend niemand vorzudringen, und selbst die besten Tauchergeräte haben jenseits der 200Meter-Grenze ihr Recht verloren. Nur mit Tauchkugeln vermag der Mensch in die Tief­ see vorzustoßen (s. S. 282). Aber er hat sidi außer den altbekannten Loten und Netzen neue Werkzeuge geschaffen, um den Abgründen ihre Geheimnisse zu entreißen: Tief­ seekameras, Tiefsee-Fernsehgeräte, raffinierte Stoßlote, die sich tief hineinsenken in die Ablagerungen auf dem Meeresgrund und dort über 20 Meter lange Bodenpfropfen herausstechen. Die so gewonnenen Kerne erzählen dem, der in ihnen zu lesen versteht, die Geschichte von Jahrzehntausenden, ja sogar von Jahrmillionen. Und das alles ist erst ein Anfang. 71 Prozent der Erdoberfläche sind vom Wasser der Sieben Meere bedeckt; das, was oberhalb der 200-Meter-Grenze liegt, macht ganze 7,6 Prozent der Meeresoberfläche aus, während sich unter 92,4 Prozent der gesamten Meeresfläche das dunkle, immer noch weithin geheimnisvolle Reich der Tiefsee erstreckt, das damit nicht weniger als 65 Pro­ zent der gesamten Erdoberfläche beherrscht. Und unter 55 Prozent der gesamten Meeresflädie liegen Tiefen zwischen 4000 und 6000 Metern, Tiefen jenseits von 6000 Metern immerhin noch unter 1,2 Prozent - diese 1,2 Prozent Meeresfläche bedecken rund 4,5 Millionen Quadratkilometer! Man wird sich an Hand dieser Zahlen vorstellen können, wieviel bisher wirklich gründlich erforscht ist: so gut wie nichts! Aber ist es nicht wunderbar, daß hier noch Aufgaben in Hülle und Fülle bereitliegen, daß wir in der Erforschung dieser an Wundern, Rätseln und Geheimnissen überreichen Welt der Meerestiefe erst ganz am Anfang stehen?

TiefSeefische (Reihenfolge von links nach rechts): a) Pelikan-Aal (Eupharynx) 30 cm, 1000 m, h) Larve des Maulstachlers (Idiacanthus) 25 mm, 1000 m, c) Kreuzzahnbarsch (Chiasmodon) mit Beute im Magensack 5 cm, 1000-3000 m, d) Maulstachler (Idiacanthus) ausgewachsen 27 cm, 1000 m, e) Maulstachler (Malacosteus) 10 cm, 1000-3000 m, f) Weibchen des Ttefsee-Anglers (Linophryne argyresca) mit zwei angewachsenen Zwergmännchen 8 cm, 2600 m, g) TiefseeAngler (Linophryne arborifer) 10 cm, 400 m ,h) am Tiefseeboden lebender Tintenfisch (Opisthoteuthis) 30 cm, i) Korbkiefer-Anglerfisch (Lasiognathus) 9 cm, 4000 m 49

BEVÖLKERUNGSPROBLEME Wer da glaubt, Länder wie Indien oder China seien zu dicht bevölkert, wer da meint, eine New Yorker Untergrundbahn oder eine Münchner Tram zur Zeit des Berufs­ verkehrs seien überfüllt, der würde Mund und Nase vor Staunen aufsperren, wenn er auch nur einmal sehen würde, welche Überfülle von Leben sich wimmelnd zusammen­ drängt, wo der flüchtige Blick nichts zu sehen meint als ruhige, völlig leere Meeresfläche. Natürlich kann man dort keine Volkszählungen vornehmen und Bevölkerungsstati­ stiken aufstellen, aber mit Sicherheit läßt sich wohl sagen, daß die Bewohner der Sieben Meere ein gut Teil zahlreicher sind als sogar der sprichwörtliche ,Sand am Meer‘. Ähnlich wie auf dem Land, so gibt es selbstverständlich auch im Meer da und dort unwirtliche Gegenden, in denen wenige Lebewesen nur spärliche Nahrung finden. Dort aber, wo günstige Lebensbedingungen herrschen - und das sind Gebiete, unvergleichlich größer als auf dem Festen -, ist der Bevölkerungsdruck geradezu erschreckend hoch. Hier zeigt uns die Natur ein Schauspiel, in dem sie ihren unerschöpflichen Reichtum ebenso offenbart wie ihre unerbittliche Härte gegen alles, was sie geschaffen hat, eine Härte, die dcxh nur wieder den einen Zweck hat, neues Leben aus dem nie versiegenden Quell des Lebens hervorströmen zu lassen. Ein ebenso erhabenes wie schauerliches Drama: Hier scheint die eine Art von Lebewesen in Überzahl nur dazu geschaffen zu sein, um von einer anderen Art in Riesenmengen gefressen zu werden - doch auch dies offensichtlich wieder nur für den einen Zweck, daß jetzt eine dritte Art erscheint, um die zweite massenhaft zu verschlingen, wiederum mit dem Erfolg, daß sich eine vierte über die dritte hermacht, und so geht es fort in infinitum. Wie die ganze Entwicklung des Lebens mit winzigen einzelligen Lebewesen pflanz­ licher Natur begonnen hat, so stehen solche Urpflänzchen auch am Anfang dieser endlosen Kette, in der das Kleinere vom Größeren gefressen wird. Es kann auch gar nicht anders sein, denn nur die Pflanze vermag ja aus Wasser und Mineralien unter Mithilfe der Energie des Sonnenlichts organische Substanz aufzubauen - sie nährt sich nicht, wie alles Herische auf Erden und in den Fluten, von anderer organischer Sub­ stanz, sondern allein von anorganischer. Den Löwenanteil an den Erzeugern der ,Urnahrung* im Meer stellen die Diatomeen oder Kieselalgen, so genannt, weil ihr mikro­ skopisch kleiner Körper sich eine harte, sehr fein strukturierte Schale aus Kieselsäure baut. In weiten Gebieten der Sieben Meere wimmeln diese Diatomeen in einer Menge herum, daß ein Wassertropfen dort bei mäßiger Vergrößerung das gleiche Bild bietet wie das Aufundabtanzen der Sonnenstäubchen in einem Lichtstrahl, der in einen besonders stauberfüllten Raum fällt. Die Unmassen von Diatomeen bilden nun die Nahrung für nicht minder zahllose Kleinlebewesen, die oft nicht viel größer sind als die Kieselalgen selbst. Eine Fülle anderer einzelliger Wesen - gehörnte Geißeltierchen, Radiolarien, Foraminiferen -, dann aber auch winzigste Würmchen und Krebstierchen, Fischbrut, Larven von allerlei Meerestieren, das alles nährt sich von den Diatomeen oder von anderem Kleinzeug, das 5 0

sich seinerseits mit Algen gemästet hat, und so dicht bei dicht sind die fetten Diato­ meen-,Weiden* des Meeres bevölkert, daß ich das Meer oft kilometerweit mit den durchaus sicht- und greifbaren Schichten dieser ,Plankter‘ bedeckt gesehen habe. ,Plankter‘ - das Wort kommt vom griediischen Plankton, das Umhergetriebene, und so nennt man die Gesamtheit dieser winzigen, zu Millionen und Abermillionen durch­ einanderwimmelnden Wesen, weil sie, selbst weitestgehend zur Eigenbewegung unfähig, mehr oder weniger schwebend von Wellen, Wind und Gezeiten dahingetrieben werden. Merkwürdigerweise hat das Plankton seine größte Ausdehnung und Dichte nicht, wie man vielleicht zunächst annehmen möchte, in den warmen Meeren der Tropen, sondern im kühleren und kalten Wasser der gemäßigten und polaren Zonen, und zwar deshalb, weil der Mineralgehalt kälteren Wassers höher ist als der von wärmerem Wasser, ins­ besondere der Gehalt an Stickstoff und Phosphor, den die Pflanzen zum Aufbau ihrer Körpersubstanz benötigen. Der Planktonreichtum der relativ flachen Meeresteile in den gemäßigten und kalten Zonen ist nun wieder der Grund dafür, daß hier im allgemeinen die dichteste Be­ völkerung auch mit höheren Lebewesen zu finden ist. Es ist also anders als auf dem Festland, wo die warmfeuchten Gebiete der Tropen von Leben geradezu überquellen. Auch die warmen Meere sind natürlich reich besiedelt, im Durchschnitt jedoch nicht so dicht wie die kälteren. Das warme Wasser fördert natürlich die Vermehrung und bringt eine große Formenvielfalt hervor, niemals aber solche Riesenmassen. Und der Grund dafür ist einfach der, daß es einmal in den kälteren Meeren mehr Plankton gibt als in den wärmeren, und daß zum zweiten das Plankton direkt oder indirekt die Nahrung für alles liefert, was in den Sieben Meeren lebt. Auch der Mensch kann sich übrigens eine durchaus nahrhafte Mahlzeit aus Plankton bereiten. In der Arktis hat man es versucht, ich habe es selbst erlebt: Kocht man Plank­ ton, so wird daraus eine krebsrote Masse mit der Konsistenz etwa von Haferbrei, und man kann das Zeug getrost löffeln - auf Seite 363 werden wir auf diesen Planktonbrei nochmals zu sprechen kommen. Weil das Plankton sein dichtestes Vorkommen in den gemäßigten und kalten Meeres­ teilen erreicht, findet man dort natürlich auch die ertragreichsten Fischgründe. Dorsch und Hering beispielsweise sind Bewohner hauptsächlich des Nordatlantik und des Nördlichen Eismeers, und auch der Lachs lebt im Nordatlantik und -pazifik. Als der große englische Naturforscher Charles Darwin seine berühmte Weltreise mit der ,Beagle* machte, gehörte der Augenblick zu seinen eindrucksvollsten Erlebnissen, da das Schiff vor der Küste von Südamerika aus einem Gebiet warmen Wassers in eine kalte Meeresströmung gelangte und sich nun das Meeresleben geradezu schlagartig vervielfachte; in den Tropen sind besonders dicht bevölkert jene Meeresteile, in denen eine kalte Meeresströmung - etwa der Humboldtstrom vor Südamerika oder der Benguela-Strom vor Südafrika - für Planktonreichtum sorgt. Hier liegen ja auch die berühmten Guano-Inseln mit dem begehrten Dünger: Auch diese bis zu 80 Meter dicken phosphor- und stickstoffreichen Lager von Ausscheidungen fischfressender Meeresvögel haben ihre letzte Ursache in dem Planktongewimmel der kalten Strömungen. Das Leben im Meer hält sich selbst in einem Gleichgewicht von Geburt und Tod, von Fressen und Gefressenwerden, und bisher hat der Mensch dieses Gleichgewicht mit 5 1

seinen Eingriffen noch nicht ernstlich stören können, im Gegensatz zum festen Lanci, wo er den Haushalt der Natur bereits böse durcheinandergebracht und viele Tiere ausgerottet hat. Millionen von Tonnen Fisch werden alljährlich allein für die menschliche Ernährung gefangen, aber noch ist kein Meer wirklich ausgefischt oder gar eine der in Riesenmengen gefangenen Fischarten in ihrer Existenz bedroht. Immerhin hat es sich jedoch als notwendig erwiesen, für den Schutz mancher Meerestiere zu sorgen, denen man besonders nachstellt und die vor allem nicht die hohen Fortpflanzungsraten haben wie die Fische, bei denen jedes Weibchen Millionen von Eiern produziert; es sind dies die Robben, deren Kolonien man heute durch strenge Bestimmungen vor der Ausrottung schützt, und die großen, ausschließlich von Plankton lebenden Bartenwale, von denen alljährlich nur eine genau festgesetzte Zahl innerhalb einer begrenzten Fangsaison gejagt werden darf. Die Fische des Meeres jedoch haben bisher allen menschlichen Nachstellungen erfolg­ reich standgehalten. Einen ungefähren Begriff vom Artenreichtum gerade der Fische bekommt man, wenn man hört, daß es im Meer über hundert verschiedene Arten allein von der einen Familie der Heringsfische gibt. Wir sagten schon, daß am dichtesten besiedelt die relativ flachen Meeresteile und die oberflächennahen Schichten sind. Auch das hat natürlich seinen Grund wieder darin, daß dort das Pflanzenleben gedeiht, weil die Pflanzen für den ihnen eigenen, geheimnisvollen Vorgang der Umwandlung von Anorganischem in Organisches nun einmal Sonnenlicht brauchen. Das Licht dringt jedoch nur recht wenig tief ins Meerwasser ein, und so kommt es, daß das meiste pflanzliche Leben (wobei man in erster Linie stets an mikroskopisch kleine Algen denken muß!) sich innerhalb der obersten 60 Meter findet; unterhalb von 100 Faden (der Faden mißt 1,85 Meter) ist es bereits im klarsten und durchsichtigsten Wasser so dunkel, daß dort keinerlei Pflanze mehr zu gedeihen vermag. Lediglich Bakterien (die man aber heute nicht mehr zu den Pflanzen rechnet, sondern als eigenes Reich des Lebens betrachtet) gehen bis in die untersten Abgründe; man hat sie noch aus 10 000 Metern Tiefe heraufgeholt, wo sie sicherlich die gleiche Arbeit verrichten wie allenthalben auf der Welt: alles Tote zu zersetzen, alles Organische zurückzuführen ins Anorganische. Dort, wo keine Pflanze mehr existieren kann, ist jedoch das Meer nicht etwa tot. Auch hier, im letzten Dämmer, gibt es Fische, Krebse, Tintenfische, Schwimmschnecken und mancherlei anderes Getier, das den Bedingungen dieses Lebensraumes angepaßt ist und ihn nie verläßt. Freilich leben hier auch Tiere, die hinaufsteigen in höhergelegene Schichten, um dort auf Nahrungssuche zu gehen, wie umgekehrt eine ganze Reihe von Tieren der oberflächennahen Regionen hinabtaucht bis in diese Tiefe und noch weiter bis in die lichtlosen Bereiche, um zu jagen. Jene Zone, die zwischen dem Vorkommen der letzten Pflanzen und dem Beginn der ewigen Finsternis liegt, ist überhaupt recht gut besiedelt - es gibt hier viele freischwimmende, aber auch eine Menge festsitzender Arten mit oft recht hohen Individuenzahlen, denn ncxh macht die Ernährung ja kaum Schwierigkeiten. Diejenigen, die nach oben aufzusteigen vermögen in die noch dichter bevölkerten Schichten, haben dort an Nahrung keinen Mangel, und für die Formen, die festsitzend sind oder nicht die Fähigkeit haben, die oberen Regionen zu erreichen, deckt das Meer den Tisch mit dem, was an abgestorbenem Pflanzlichem und Tierischem von der Oberfläche absinkt. 52

Geht man nun abermals tiefer hinab in die Zone völliger Dunkelheit und ewiger Kälte (unterhalb 3000 Metern mißt man überall im Meer zwischen -f 2,5 und - 1,5°), so stellt man fest, daß jetzt die Besiedlungsdichte ruckartig absinkt. In den wirklichen Tiefen leben nun keine Tiere mehr, die zur Nahrungssuche in höhere Lagen hinauf- und von dort wieder in ihr eigentliches Gebiet hinabsteigen können. Hier unten gibt es nur Jäger und Gejagte, man frißt sich gegenseitig auf, soweit man nicht nach absinkendem Totem schnappt, das den hungrigen Mäulern an der Oberfläche oder in den mittleren Schichten entgangen ist. Dennoch hat das Leben auch hier eine wahrhaft erstaunliche Menge unterschiedlichster Formen entwickelt, und selbst sie lassen immer noch so viel übrig, daß schließlich auch die Bewohner des alleruntersten Meeresbodens satt werden jene Seewalzen, Muscheln und Bakterien bei 10 000 Metern Tiefe. Gerade in den unermeßlich weiten, lichtlosen Abgründen der Tiefsee hat das Leben wahrhaft verblüffende Einrichtungen geschaffen, um seinen Geschöpfen das Über­ leben zu ermöglichen. Ganz eigenartig ist die Entwiddung der Sehorgane. Neben halbblinden oder gar völlig augenlosen Geschöpfen, die wohl durchweg am Tiefseeboden hausen, gibt es andere, die höchst sonderbare, ja geradezu lächerlich wirkende Ver­ änderungen der Augen aufweisen: Fischlarven zum Beispiel, deren Augen auf seitlichen Stielen sitzen, die gut halb so lang sind wie der ganze Fisch; diese ,schwimmenden Scherenfernrohre* entwickeln sich dann später zu Raubfischen mit ganz normalen Seh­ organen. Sehr häufig findet man ,Teleskop-Augen‘, die eigenartig röhrenförmig ge­ bildet sind, meist nach vorn, hin und wieder aber auch nach oben gerichtet. Ein schärferes Sehen, ein Sehen auf größere Weite, wie es das Teleskop gestattet, nach dem diese Augen genannt sind, ermöglichen sie freilich nicht - im Gegenteil, die verlängerte Augenröhre macht das Auge kurzsichtig. Wohl aber darf man annehmen, daß durch die gleichsinnige Richtung der Augenachsen ein stereoskopisches Sehen und damit ein genaueres Abschätzen der Entfernung zum Beutetier möglich wird. Andere Tiefsee­ geschöpfe wiederum sind mit langen Fühl- und Tastorganen ausgerüstet, und was man bei den Fischen dort unten an wahrhaft diabolisch konstruierten Fangapparaten findet riesige, von Zähnen starrende Mäuler; weit vorklappbare Kiefer, die die Beute in den Schlund werfen; Flossenstrahlen, die zu regelrechten Angelruten umgebildet sind läßt sich mit Worten kaum schildern. Vom Leuchten der Tiefseetiere sprachen wir schon (s. S. 44); es gibt Tintenfische, die geradezu zauberhaft bunt illuminiert sind, es gibt Fische, deren Leuchtorgane in Reihen angeordnet sind wie die Lichter eines Schiffes, es gibt Leuchtorgane, deren Licht durch metallisch glänzende, reflektierende Schichten wie durch einen Scheinwerfer in eine bestimmte Richtung gespiegelt, durch Linsen gesam­ melt, durch Muskelblenden abgeschirmt, durch dünne Schichten farbigen Gewebes ge­ färbt wird, so daß tatsächlich ein wahres Feuerwerk die Tiefseenacht durchzuckt. Man erkennt: Vom Meeresspiegel bis hinab in die tiefsten Abgründe ist das Meer von Leben erfüllt, und sicherlich bietet es Raum genug für eine weitere Ausdehnung seiner jetzt schon so reichen Bevölkerung. Wenn der Mineralgehalt des Meerwassers weiter so zunimmt, wie er in der langen erdgeschichtlichen Vergangenheit allmählich gestiegen ist, wird er noch mehr Nährstoffe für die Pflanzen und damit auch mehr Nahrung für die Tiere bieten können. Zur Zeit jedenfalls bietet das Meer dreihundertmal soviel Lebensraum wie das feste Land. 53

FRESSEN U N D GEFRESSENWERDEN Auf dem festen Land ist der Mensch ohne Zweifel der Herr über alles Lebendige er kann es vernichten, wenn er will, oder kann es vermehren, wenn er darin einen Nutzen sieht. In den Weiten der Sieben Meere jedoch findet er seine Meister. Nicht umsonst hat der Kampf ums Dasein im Ozean vier- oder fünfmal so lange gedauert wie auf dem Festland; das, was sich hier an Erfindungsreichtum entwickelt hat mit dem Ziel, anderes Leben zu töten, um selbst satt werden zu können oder um den Nachstellungen zu entgehen und zu überleben, übertrifft alles menschliche Einfalls­ vermögen. Das ist aber auch notwendig gewesen, denn selbst dort, wo der Meeres­ spiegel in tiefem Frieden dazuliegen scheint, spielt sich unter seiner Oberfläche ein wütender, nie endender Kampf ums Dasein, ein Kampf aller gegen alle ab, ein ewiges Fressen und Gefressenwerden. Dabei ist es nun nicht etwa immer so, daß die ganz Kleinen von den Kleinen, die Kleinen von den Größeren und diese wiederum von den ganz Großen gefressen werden. Die Abmessungen eines Meerestieres haben manchmal gar nichts zu tun mit der Größen­ ordnung seiner Hauptnahrung. Das gewaltigste Her, das heute auf unserer Erde lebt, und zugleich das größte, das je gelebt hat (auch die Riesensaurier des Erdmittelalters sind nicht so groß geworden), ist der Blauwal mit seinen maximal 30 Metern Körper­ länge und einem Gewicht von 100 Tonnen und mehr. Ausgerechnet dieser Gigant nährt sich ausschließlich von Plankton, insbesondere von den ,KrilL-Krebschen, die ausge­ wachsen höchstens fünf Zentimeter messen. Ganz anders ist es schon bei einem weiteren Meeresriesen, beim Pottwal, der immerhin auch bis 23 Meter lang wird. Er jagt große und kleine Tintenfische, mit besonderer Vorliebe offenbar die Riesenkraken, die selbst fast die Länge eines Pottwals errei­ chen - Körper und Fangarme messen zusammen 15, 18 und mehr Meter. Auf der Jagd nach diesen Riesenkopffüßlern taucht der Pottwal bis hinab in die Finsternis der Tiefsee, 500 Meter, 1000 Meter tief. An der Oberfläche des Meeres oder dicht darunter, dort, wo ein reiches Plankton­ leben sich entfaltet, ist Nahrung für alle in Hülle und Fülle da. Unabsehbare Schwärme von Fischen nähren sich von den Planktern oder von anderen Planktonfressern ganz so wie das Vieh auf der Weide. Für viele ist selbst dieses Bild noch unzureichend - sie leben buchstäblich im Schlaraffenland und brauchen nur das Maul aufzusperren, damit ihnen zwar nicht die gebratenen Tauben hineinfliegen, wohl aber das von Plankton wimmelnde Wasser hineinströmt. Raffinierte Filter - etwa die Kiemenreusen des Herings oder die langen hornigen Barten des Blauwals und seiner Verwandten - seihen das Wasser durch und halten alles Genießbare zurück. Die letzte Ernte aber bringt hier, in den planktonreichen Gewässern, die zugleich die großen Fischgründe sind, der Mensch ein, auch er schließlich ein Nutznießer der mikroskopisch kleinen Schwebe­ wesen des Planktons. Dort aber, wo das Wasser zu tief ist, als daß dort Algen leben könnten, hat auch das Schlaraffenland des Meeres seine Grenzen; hier ist der Hunger 54

zu Hause, abgelöst von kurzen Perioden der Sättigung, wenn es dem Raubfisch ge­ lungen ist, eine Beute zu erjagen. Wie wichtig das Fressen in diesen nahrungsarmen Gebieten des Meeres ist, mag man daraus ersehen, daß es dort Wesen gibt, die aussehen, als seien sie überhaupt nur fürs Fressen da: Gastrosoma etwa, ein Fisch, der seinem wissenschaftlichen Namen ,Magenmaul‘ alle Ehre macht, denn er scheint überhaupt nur aus Maul zu bestehen - ein riesenhafter ,Freßsack‘ und ein winziger schlangenhafter Körper. Der schwedische Meeresforscher Pettersson hat mit bissiger Ironie gemeint, es sei höchst bedauerlich, daß dieses schöne Wesen nicht schon im goldenen Zeitalter der Heraldik entdeckt worden sei, denn dann wäre es gewiß ins Reichswappen irgendeiner Großmacht aufgenommen worden und dort zu tiefer symbolischer Bedeutung gelangt. Aber auch der Kreuzzahnbarsch, der in seinem ungemein dehnbaren Magen Beutefische unterzubringen vermag, die weit größer sind als er selbst, kann Erstaunliches leisten, wobei er freilich manchmal des Guten zuviel tut, die Herrschaft über seinen voll­ geschlagenen Bauch und damit über sich selbst verliert und dann hilflos von aufwärts gerichteten Strömungen an die Meeresoberfläche getragen wird. Der Tisch wird also vom Meer nicht überall gleichermaßen reich gedeckt. Es gibt geradezu Wüsten, in denen kaum irgendein Leben existieren kann, in Warmwasser­ gebieten ebenso wie in solchen kalten Wassers. Die Grundbedingung alles Meereslebens ist eben die, daß pflanzliches Plankton gedeiht. Vor allem die Hochsee inmitten der weiten Ozeanbecken ist recht arm an Plankton, ausgenommen dort, wo es Meeres­ strömungen gibt. Zu den Ausnahmen gehört auch die berühmte Sargasso-See mit ihrem ruhigen, warmen, sonnendurchfluteten Wasser, das angefüllt ist von Unmengen des SargassumTangs. Er kann sich hier ungehemmt vermehren, und sein Bestand wird zudem all­ jährlich noch vermehrt dadurch, daß der Golfstrom weiteren Tang von den Küsten der Neuen Welt heranführt. Die Tangwiesen der Sargasso-See sind von reichem Leben erfüllt, das sich dem Dasein auf und zwischen den Pflanzenbüscheln wundervoll an­ gepaßt hat. Es gibt hier Fische, die wahre Meister der Tarnung sind: Nur wenn man sehr genau hinsieht, erkennt man, daß das, was wie eine treibende Tangpflanze aussieht, in Wirklichkeit ein Fisch ist. (Das Tollste auf diesem Gebiet leisten sich allerdings die

Ein Wunder der Tarnung: Der Fetzenfisdj ist von einem treibenden Tanghüschel kaum zu unterscheiden

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Fetzenfische Australiens, die in einem ganz ähnlichen Lebensraum zu Hause sind, die aber selbst ein Kundiger von einem Seetangbüschel kaum zu unterscheiden vermag.) Die Sargasso-See ist auch Kinderwiege und Friedhof des einzigen Tiefseefisches, den unsere Heimat birgt. Das mag unglaublich klingen, stimmt aber doch: Der Aal ist ein echter Tiefseefisch! Seine früheste Jugend verlebt er im Meer - wo, war lange Zeit ein Rätsel. Man wußte nur, daß die ,Glasaale‘ von den Flußmündungen heraufsteigen, in den Binnengewässern heranwachsen, bis die erwachsenen Aale schließlich wieder meerwärts ziehen. Die ,Dana‘-Expedition unter Johannes Schmidt 1928/29 konnte endlich das Aalrätsel lösen. Unsere Aale wandern bis in die Sargasso-See mitten im Atlantik, und dort steigen sie in die Tiefe von 500 bis 1000 Metern hinab - nun echte Tiefseefische, wie ihre jetzt stark vergrößerten Augen beweisen. Dort unten laichen sie auch, und aus der Tiefsee her kommen die zuerst völlig durchsichtigen, wie ein Weidenblatt geformten Larven, aus denen die Glasaale werden, die wiederum in unsere Flüsse einwandern, um dort so lange zu bleiben, bis der Wandertrieb sie in ihre Tiefseeheimat zurückführt. In dem nie endenden Zyklus von Fressen und Gefressenwerden spielen naturgemäß die Waffen für Angriff und Abwehr die erste Rolle. Wir erwähnten schon einiges - die verblüffenden Tarnungskünste mancher Tiere, die Wolken von Licht, hinter denen sich manche Tiefseegarnelen dem Zugriff des Feindes ebenso entziehen, wie dies der Tinten­ fisch hinter der ,Nebelwand‘ aus seiner Tintendrüse macht. Nun aber erst die Angriffs­ waffen. Man wird es kaum glauben - selbst die Elektrizität haben einige Fische in ihren Dienst gestellt: Der Zitterrochen (aber auch eine ganze Reihe von Süßwasser­ fischen) betäubt seine Beute durch elektrische Schläge seiner ,Batterien‘, die aus um­ gewandelten Muskelschichten bestehen, und obwohl der ebenfalls elektrische Zitteraal ein Tier der Binnengewässer ist, sei er doch auch genannt, und zwar deshalb, weil er sogar die menschliche Erfindung des Radars vorweggenommen hat: Er vermag durch Aussenden elektrischer Impulse Beute bis auf etwa sechs Meter Entfernung zu ,orten‘! Mit raffinierten ,Giftspritzen‘ wiederum arbeiten die Quallen und andere Hohltiere, die Polypen, Seerosen, Seenelken und Seeanemonen. Vor allem an den Fangarmen sitzen die sogenannten Nesselzellen, verblüffende Beispiele raffiniertester biotechnischer Konstruktion. An der Oberfläche ragt eine Borste heraus. Wird diese bei der geringsten Berührung durch einen Angreifer oder durch ein Beutetier gereizt, so springt im gleichen Augenblick ein Deckel auf, der die Nesselkapsel bisher verschlossen gehalten hat. Aus der Kapsel schnellt ein hohler Faden, der bis dahin umgestülpt wie ein Handschuhfinger und spiralig aufgerollt in der Kapsel geruht hat. An seiner Basis oder aber auch über seine ganze Länge hinweg ist er mit spitzen Dornen besetzt, die die Haut des Lebe­ wesens, gegen das sich der Nesselangriff richtet, verletzen. Aber damit nicht genug: In die Wunde ergießt sich aus der Nesselkapsel eine glasklare giftige Flüssigkeit. Die Qualle und der Polyp verfügen über erstaunliche Mengen solcher Nesselkapseln - eine Rote Seerose beispielsweise hat wenigstens 500 Millionen! Wegen dieser Bewaffnung Bezeich­ ner man die Hohltiere auch als Nesseltiere. Bei vielen sind die Zellen mit den vergifteten Fäden zu regelrechten Batterien zusammengefaßt, die den Angreifer oder das Beutetier schlagartig zu lähmen und zu töten vermögen. Neben den eigentlichen, wie ein Geschoß wirkenden Kapseln mit ihrem stilettartigen Inhalt gibt es noch mancherlei nicht minder 56

Vollmond über dem Nördlichen Eismeer

raffinierte Abwandlungen, zum Beispiel Klebkapseln, die das Beutetier festkleben, oder sehr lange Fäden, die sich um die Gliedmaßen des Angegriffenen wickeln. Die schönsten aller Hohltiere sind die Staatsquallen oder Siphonophoren. Es sind wahre Wundertiere, denn solch ein Wesen, das, einer großen Qualle ähnlich, jedoch mit einer vielfarbig schillernden Schwimmblase versehen, durch die warmen Meere dahintreibt, ist in Wahrheit ein ,Übertier‘, ein Tierstaat, in dem Tausende von Polypentieren zu einer höheren Einheit zusammengefaßt sind, der sie, Organen ähnlich, mit ganz bestimmten Funktionen dienen: als Gasflasche und Schwimmblase, als vorwärtstreibende Schwimmglcxken, als Freß- und Nährpolypen, als quallenähnliche Fortpflanzungstiere und als Fangfäden, die bis 30 Meter lang werden können. Einer solchen Staatsqualle zu begegnen, wenn sie dahintreibt, die Schwimmglocke glänzend wie getriebenes Silber, der Kamm darüber leuchtend karminrot, die zierlichen Anhänge wie Schleier schwebend und schimmernd in allen Schattierungen von Hellblau bis Violett und Purpur, kann auch für den schwimmenden Menschen lebensgefährlich werden. Und nun das Erstaunlichste: Manche dieser Hohltiere, die durchweg im wahr­ sten Sinne des Wortes hochexplosibel sind, haben ganz bestimmte Lieblinge, denen sie absolut nichts tun. Die Seerose, die der Einsiedlerkrebs auf das von ihm bewohnte leere Schneckengehäuse pflanzt, die er sogar ,umsetzt‘, wenn er ein neues Haus beziehen muß, weil das alte für seinen ungeschützten Hinterleib zu klein geworden ist, verhält sich dabei ganz still und friedlich; die Riesen-Seeanemonen der Korallenriffe dulden es, ohne ihre Nesselbatterien abzuschießen, daß sich kleine, sehr bunte Fische zwischen ihren sonst so gefährlichen Fangarmen tummeln, ja sogar im Innern des Hohltieres Schutz suchen, und auch die als ,Portugiesische Galeere* bezeichnete Staatsqualle hat ihre Schützlinge, ebenfalls kleine Fische - wissenschaftlich Nomens gronovii genannt - die ungefährdet zwischen den Fang- und Nesselfäden herumschwimmen. Man könnte ein ganzes Buch füllen mit den oft geradezu genialen Schutz- und Trutzwaffen der Meeres­ tiere und würde dcxh kein Ende finden. So können wir nur noch ein paar Beispiele aufzählen. Da sind die Fangarme der Tintenfische, die mit Saugnäpfen besetzt sind und die Beute unerbittlich festhalten, um sie zum Mund zu führen, dessen zwei Hornkiefer an einen Papageienschnabel erinnern - sie sind kräftig genug, selbst eine harte Muschel­ schale aufzuknacken. Da sind die Scheren der Hummer, die vergifteten Flossenstrahlen mancher Fische, die von Zähnen starrenden Mäuler der Haie. .. Da ist der Grouper, ein Zackenbarsch, der fünf- bis sechsmal so schwer werden kann wie ein Mensch. Er kann sein mächtiges Maul weiter aufsperren, als sein Körperumfang beträgt - mit einem einzigen Zuschnappen schlingt er einen ganzen Schwarm von Fischen in sich hinein, wenn er an Korallenriffen etwa, an Felsklippen oder einem Wrack auf Beute lauert. James Dugan, ein Mitglied der ,Calypso‘-Expedition, erzählt als verbürgte Tatsache, daß solch ein Grouper auf diese Weise einen Menschen verschluckt hat, der sich aller­ dings dadurch befreien konnte, daß er durch die Kiemen des Fisches wieder hinauskrcxh!

S C H Ö N H E I T E N U N D SCHEUSALE Wer in einem der großen Sdiauaquarien vor den Becken mit den Meerestieren steht, wird voll Staunen sehen, wieviel Schönheit der Ozean birgt. Da gibt es Fische von unver­ gleichlicher Farbenpracht, da entfalten die Seenelken, Seeanemonen und Seerosen gleich Blüten ihre Kelche - diese blumenhaften Wesen sind jedcxh keine Pflanzen, sondern fleischfressende Tiere -, da flimmert bunt der zarte Kiemenkranz der Röhrenwürmer. Nur einen schwachen Schimmer freilich von der tausendfältigen Schönheit des Meeres­ lebens können solche Aquarien vermitteln, und auch von den Geschöpfen der See, deren bizarres Aussehen uns unheimlich vorkommt, können sie uns nur das eine oder andere Beispiel vor Augen führen - gerade die schönsten und die scheußlichsten Gestal­ ten der Sieben Meere lassen sich in der Gefangenschaft des Aquariumbeckens gar nicht oder nur für kurze Zeit halten. Und außerdem gibt es eine Menge Wesen, die selbst so klein sind, daß man sie überhaupt nicht sehen kann, die aber doch die zauberhaftesten Erscheinungen verursachen. Es ist nicht zu verwundern, daß der Mensch Tiere abschreckend häßlich findet, die ihn mit großen Augen anstarren, in deren Kiefern wahre Dolchzähne sitzen oder die mit gefährlichen Stacheln drohen. Aber man kann beruhigt sein; gerade die am gräßlichsten oder bösartigsten aussehenden Kreaturen sind für den Menschen meistens ganz harmlos, selbst dann, wenn sie wilde Räuber sind, die ihresgleichen jagen und fressen. Und für jedes Scheusal hält die See Dutzende von wahren Schönheiten für uns bereit. Wieviel Schönheit zeigen die Korallenfische, all diese Wimpel-, Papagei-, Kaiserund Drückerfische - es ist ein wahrer Farbenrausch, der sich da entfaltet. Und mit welch magischer Pracht glimmt das Meeresleuchten im Kielwasser eines Schiffes oder auf den Kämmen der Wellen! Wer von den Reisenden, die das nächtliche Feuerwerk des Meeres bewundern, weiß schon, daß dies das Werk mikroskopisch kleiner, in kaltem Licht leuchtender einzelliger Wesen ist, wer weiß, daß die Feuerfunken inmitten der schim­ mernden Flut von Schwärmen kleiner Krebse oder gallertiger Salpen stammen, die ebenfalls zu leuchten vermögen? Wie flüssiges Silber und Gold sprüht es auf, wenn hier ein Fisch sich aus dem Wasser schnellt, wenn dort eine Schule fliegender Fische sich aus den Wellen erhebt, um nach kurzem Gleitflug wie in einem Funkenregen zu versinken. Und dann die unterseeischen Zaubergärten der Korallenriffe - ein schimmerndes Reich blumenhafter Tiere, riesiger Muscheln, buntester Fische, schillernd in allen Tonun­ gen von Rubin und Smaragd, Samtschwarz und Goldgelb zwischen den Zweigen und Büschen, Grotten und Höhlen der Korallen! Das Wasser filtert die Sonnenstrahlen und läßt Farbeffekte entstehen, wie sie in der Luft einfach unmöglich sind. Erst in letzter Zeit hat der Mensch sich mit Schwimmflossen, Schnorchel und Atemgerät auch diese Welt phantastischer Farben und Formen erschlossen. Gewiß - dort, wo die Korallen, nahe Verwandte der Seerosen und Seeanemonen, ihre Wundergärten blühen lassen und ihre gigantischen Riffe erbauen, dort gibt es auch Haie. Und von diesen erzählt man sich nun wirklich die schrecklichsten Geschichten. So 6o

sdilank und elegant ihr Körper ist, geschaffen, um das Wasser einem Torpedo gleich zu durcheilen, so abschreckend ist der Kopf mit den böse blickenden Augen, der vorsprin­ genden Nase, dem unten weit zurückgesetzten, von Zähnen starrenden Maul. Rund 200 verschiedene Arten Haie gibt es; die meisten sind gefräßige Räuber, nur wenige begnügen sidi mit allerlei Kleingetier. Aber gefährlich für den Menschen sind durchaus nicht alle Haie; im Gegenteil, die wenigsten braucht man zu fürchten. Immerhin - dem verhältnismäßig kleinen grauen Australischen Hai fallen alljährlich immer wieder Badende an der Küste Australiens zum Opfer, allen Netzsicherungen, ausgestellten Posten und Warnungen zum Trotz. Viele der landläufigen Vorstellungen über die Haie jedoch stammen aus Geschichten, die an einem Schreibtisch tief drinnen im Binnenland entstanden sind. In solchen Schauermären liest man dann, daß die « schwarze Rücken­ flosse des furchtbaren Haifisches hoch über den Meeresspiegel ragt und sich mit Windes­ eile nähert» - welches Zeichen dann den Helden der Geschichte warnt oder, je nachdem, was der Autor gerade vorhat, ihm einen panischen Schrecken einjagt. Die Wahrheit aber ist, daß der Hai fast nie seine Rückenflosse aus dem Wasser sehen läßt. Eine andere irrige Vorstellung ist die, daß der Hai sich auf den Rücken herumwirft, wenn er sein Opfer packen will. Auch das stimmt nicht. Zwar sitzt das Maul an der Unterseite des Kopfes ziemlich weit hinten, aber der Hai weiß es auch zu gebrauchen, ohne sozusagen kieloben schwimmen zu müssen. Genau gesehen sind die Haie eher die Straßenkehrer und die Gesundheitspolizei des Meeres (also so etwas wie die Geier auf dem Festland) als der Schrecken der Ozeane. Man bedenke doch einmal, wie wenig wirklich verbürgte Fälle es gibt, in denen ein Hai Menschen angegriffen, verletzt oder getötet hat, und vergleiche damit die riesen­ große Zahl von Haien, die allenthalben im Meer leben. In dem berühmten Badeort Miami in Florida zählt man während der Saison täglich rund 300000 Badende, von denen viele weit hinausschwimmen; dennoch hat man in den letzten 30 Jahren nur ganz, ganz wenig von Angriffen durch Haie gehört, und wenn wirklich einmal ein Fisch einen Menschen attackiert hat, dann war es fast stets ein Barracuda - ein bis drei Meter langer Raubfisch von der Gestalt eines Hechts, der wütend alles angreift, was sich be­ wegt, und sich auch nicht, wie der Hai, durch Lärm verscheuchen läßt, sondern dadurch eher noch angelockt wird. Die meisten Haie sind, wie wir schon sagten, dem Menschen nicht gefährlich, ja sogar recht friedliche Gesellen. Der sogenannte Menschenhai ist ausgesprcxhen feig; er greift eigentlich nur an, wenn er bereits Blut wittert. Und der Hammerhai, vor dessen ,greulicher Ungestalt* sich Schillers Taucher so entsetzt hat, ist äußerst scheu und kämpft nicht einmal, wenn er harpuniert wird. Durchaus nicht alle Haie sind Tiere der Hochsee; eine ganze Reihe lebt am Meeres­ grund, so auch die kleinen Dorn- und Katzenhaie der Nordsee und der Eishai, der ein geradezu sanftes, träges Tier ist. Die Eskimos fangen ihn im Winter, indem sie ein Loch ins Eis schlagen und einen Köder auswerfen, der an einem großen Haken befestigt ist. Hinter dem Haken folgt ein Stück Kette. Sie soll verhindern, daß der Hai die eigent­ liche Angelleine - die nichts anderes ist als eine doppelte Schnur - immer weiter schluckt. Einen Versuch, sich von der Angel loszureißen, macht der Eishai nie, und oft ist er (so seltsam das klingt) bereits ertrunken, wenn er hochgezogen wird. Das hat seinen guten 6i

Grund: Haie haben ja keine Kiemendeckel, sondern nur offene Kiemenspalten, und durch diese muß ständig Wasser strömen, damit die Kiemen mit dem im Wasser gelösten Sauerstoff versorgt werden. Zum Atmen muß also (so wird jedenfalls erzählt) der Hai ununterbrochen mit offenem Maul dahinschwimmen. Kann er das nicht, so fehlt ihm der Sauerstoff, und er stirbt schnell, buchstäblich durch Ertrinken. Der Eishai verfügt, wie alle Haie, über einen hochentwickelten Geruchssinn. Man kann auch sagen Geschmackssinn - beides deckt sich ja auch beim Menschen weitest­ gehend. In Grönland fängt man den Eishai deshalb oft, indem man eine mit Blut gefüllte Blase am Haken anbringt. Durch kleine Löcher sickert das Blut heraus, und man kann todsicher damit rechnen, daß im Nu ein Hai an der Angel sitzt, denn er wittert diesen Köder auf weite Entfernungen und schwimmt ihn sofort an. Gefährlich ist der Eishai wirklich nicht zu nennen. Und harmlos sind auch die beiden größten Haie, die zugleich die größten Fische überhaupt sind: der bis 10 Meter lange Riesenhai, der nur von Plankton lebt, das sich in seinen Kiemenreusen verfängt, und der bis 20 Meter messende Walhai, der sich ebenfalls von Kleingetier nährt und ähnliche Kiemenreusen hat wie der Riesenhai. Der Walhai erreicht ein Gewicht von etwa 70 Ton­ nen; über zwei Tonnen wiegt dann allein die Leber. Haifischlebern sind wegen ihres hohen Gehalts an Lebertran, also an Vitamin A und D, sehr geschätzt. Wie harmlos der Walhai ist, mag man daran sehen, daß er es sich seelenruhig gefallen läßt, wenn sich ein Mensch auf seinen Rücken schwingt. Der erste, der dies vor etwa dreißig Jahren im Roten Meer tat, war ein in Aden stationierter britischer Offizier. Die meisten Geschichten, die man von Kämpfen mit Haien liest, sind reine Phantasie. Wirklich einwandfrei belegte und durch Zeugenaussagen erhärtete Berichte, daß ein schwimmender Mensch von Haien gepackt und unter Wasser gezogen worden ist, sind außerordentlich selten. Und an den warmen Küsten sterben weit über tausendmal soviel Menschen, weil sie beim Baden zu weit hinausschwimmen und ihnen die Kräfte ausgehen, als dadurch, daß sie einem Hai zürn Opfer fallen. Wenn von Haien erzählt wird, kommt bald auch die Rede auf Wale und Robben. Es sind dies ja in der Tat sehr interessante Tiere, man braucht sich vor ihnen im all­ gemeinen auch nicht zu fürchten, und zudem geben sie der Wissenschaft auch heute noch manches Rätsel auf. Denn obwohl sie luftatmende, warmblütige Säugetiere sind, ver­ fügen sie über ein erstaunliches Tauchvermögen. Die Tiefen, zu denen manche von ihnen in Minutenfrist bei der Jagd auf Beute hinabsteigen, kann der Mensch selbst mit dem besten Taucheranzug nicht erreichen, sondern nur mit Tauchkugeln, wie sie Beebe gebaut hat, oder mit einem Tiefsee-Tauchapparat, Konstruktion Piccard. Und es will uns scheinen, als würden zwei Naturgesetze, die für alle luftatmenden, warmblütigen Tiere gelten, von den Walen und Robben außer Kraft gesetzt, wenn sie ihre Tauch­ künste vollführen. Erstens nämlich sammelt sich, genau wie bei uns, so auch im Blut dieser Tiere die giftige Kohlensäure an, die über die Lungen ausgeatmet wird. Kann das nicht innerhalb kurzer Zeit geschehen, so ist der Tod unvermeidlich - die längste Zeit, die ein Mensch seinen Atem anhalten kann, beträgt sechs Minuten, aber selbst weniger kann schon böse Folgen haben. Wale hingegen können eine halbe Stunde, ja eine Stunde und noch länger - bis zu 80 Minuten! - unter Wasser bleiben, ohne aus- oder einatmen zu müssen. Taucht 62

der Wal danach auf, so atmet er mit einer riesigen Dunstfontäne aus - das ist der Moment, in dem der Mann am Ausguck des Walfängers sein ,Blaaaas!‘ aussingt. Auch Robben können lange unter Wasser bleiben - der Seehund bis 12 Minuten, die Klapp­ mütze bis 20 Minuten, der See-Elefant eine halbe Stunde. Naturgemäß ist es nicht möglich, den Kohlensäuregehalt im Blut einer Robbe oder eines Wales kurz vor dem Auftauchen zu messen, und so weiß man heute immer noch nicht recht, wie diese Tiere eigentlich mit dem giftigen Gas in ihrem Blut fertig werden. Sicherlich spielen bei den Walen ihre im ganzen Körper verteilten arteriellen ,Wundernetze' - feinstverzweigte Blutadergeflechte - eine Rolle, denn in diesen Wundernetzen kann viel sauerstoffreiches Blut gespeichert werden; auch die Zahl der roten Blutkörperchen, die ja die Sauerstoff­ träger sind, ist bei Walen und Robben besonders hodi. Aber das genügt für eine Erklä­ rung der langen Tauchzeiten ebensowenig wie die Tatsache, daß die Wale ihre Lungen­ säckchen durch Ringmuskeln gleichsam abriegeln können. Hier haben wir noch manches zu erforschen. Nicht anders ist es im zweiten Fall, bei dem ebenfalls ein für alle Warmblüter und Lungenatmer geltendes Gesetz außer Kraft gesetzt zu sein sdieint: gemeint ist die Fähigkeit der Wale und Robben, dem außerordentlich hohen Druck in größerer Tiefe standzuhalten. Es gibt einzelne Menschen, die bis 60 Meter tief tauchen ohne den Schutz eines Taucheranzugs, aber sie sind so rar wie einer, der 1500 Meter in 4 Minuten läuft. Die großen Wale jedoch gehen bis 1000 und 1500 Meter hinab, manche Robben, zum Beispiel Seelöwe und See-Elefant, immerhin bis 100 Meter, die Klappmütze sogar bis 600 Meter. Nun muß man aber einmal an den Druck denken, der dort unten herrscht! Er beträgt bei 100 Meter Tiefe 10 Kilogramm auf jeden Quadratzentimeter, bei 1000 Metern aber drücken 100 Kilogramm auf jeden Quadratzentimeter des Brustkorbes! Viel weniger sollte eigentlich genügen, um auch einem Wal von 20 Metern Länge die Rippen zu brechen. Sicherlich fängt das dicke Fettpolster, das die Wale und Robben haben, einen guten Teil des Tauchdrucks ab, denn es läßt sich ja stark zusammendrücken. Und wenn die Rippen des Wals nicht gebrochen werden, mag das auch daran liegen, daß sein Brustkorb äußerst elastisch ist, dank der sehr losen Verbindung der Rippen mit dem Rückgrat und dem Brustbein. Den Robben fehlt dieser zusammendrückbare Brustkorb. Dafür haben sie eine andere Anpassung, die ihnen offenbar das Tieftauchen erleichtert: Wenn sie hinabgehen, verlangsamt sich ihr Herzschlag außerordentlich, von 180 Schlä­ gen in der Minute an der Oberfläche auf einen Puls von 20 unten! Vielleicht ist das eine Vorbeugung gegen eine beim Tauchen eintretende, besonders gefährliche Erscheinung: Wie man von menschlichen Tauchern weiß, werden beim Hinabsteigen feine Gasbläschen von Stickstoff im Blut und in den Geweben frei, und das Herz ist dann nicht in der Lage, diese Bläschen durch die feinsten Blutgefäße, die Kapillaren oder Haargefäße, zu pumpen. Die Folge ist die gefürchtete Taucherlähmung, die sich vor allem dann ein­ stellt, wenn der Taucher zu schnell heraufgeholt wird: böse Schmerzen in Muskulatur und Gelenken, Lähmungen, ja ein plötzlicher Tod können die Folge sein. Wichtigste Regel für das Heraufholen von Tauchern ist es deshalb, daß dies allmählich und mit längeren Pausen geschieht, damit die Druckunterschiede ausgeglichen werden und die Stickstoffgasbläschen wieder verschwinden. Möglicherweise hat also die Pulsvermin­ derung tauchender Robben mit dieser Bläschenbildung etwas zu tun. Von den Walen 63

nimmt man sogar an, daß in ihrem Körper Bakterien leben, die Stickstoff binden und auf diese Weise die Gefahr der Taucherlähmung ausschalten. Ein Wal kann aber auch in der Tat jäh aus der Tiefe zur Oberfläche hinaufschießen. Es ist dies ein faszinierender Anblick: Der mächtige Körper saust hoch aus dem Wasser heraus, steht einen Augen­ blick höher als ein zweistöckiges Haus über den Wellen und klatscht dann krachend in das hoch aufspritzende Wasser zurück. Von den Riesen der See zu den Kleinsten: Unter ihnen gibt es wahre Wunderwerke an Schönheit - der große Zoologe Ernst Haeckel hat immer wieder begeistert die «Kunstwerke der Natur» geschildert, die sich dem Betrachter beim Blick durch das Mikroskop darbieten: vor allem die Radiolarien, die einzelligen Strahltierchen, sind geradezu Wunderwesen. Ein Schleimklümpchen nur der Körper, aber welch ein Reich­ tum vollendeter Formenschönheit in den Gestalten der Kieselpanzer: Strahlenkreuze und Gitterkugeln, vielzackige Sterne, Diademe und Kronen - und das alles in Bruch­ teilen von Millimetern! Die Einzeller als die allerkleinsten unter den Lebewesen können sogar in solchen Unmengen auftreten, daß sie das Bild ganzer Meeresteile zu ändern vermögen. Das Rote Meer, das normalerweise blaugrünes bis grünes Wasser hat, führt seinen Namen deshalb, weil es zeitweise von Myriaden winzigster rötlichbrauner ,Blutalgen‘, die sich ins Ungemessene vermehren, rot gefärbt wird. Andere Algen können dem Wasser grüne, gelbliche, bräunliche Farbtöne geben - normalerweise ist das Meer­ wasser infolge der Reflexion des Himmelslichtes blaugrau, blau bis blaugrün. Dieser Farbe passen sich die Bewohner der Fluten an; viele scheinen in ihrer Umwelt geradezu aufzugehen, sie sind durchsichtig wie die Quallen, mancherlei Würmer oder Larven. Die Fische der Hochsee sind häufig oben blau, unten silbern. Dort, wo die Lichtstrahlen nicht mehr recht hinreichen, in der Zone grauen Dämmerlichts zwischen 200 und 450 Metern Tiefe, finden wir viele silbriggraue Fische, und in den Bereichen völliger Dunkelheit schließlich Braun, Schwarz, wohl auch farbloses Bleich oder - überraschenderweise ein sattes Scharlachrot, was einen nicht verwundern darf. Denn Rot ist die erste Farbe des Tageslicht-Spektrums, die vom Wasser bereits nach einigen zehn Metern fast völlig absorbiert wird; eine hier oben leuchtend rot aussehende Tiefseegarnele wirkt dort unten - solange sie kein künstliches Licht trifft - immer schwarz. Das Bild vom Leben des Meeres wäre nicht vollständig, wenn man neben den Fischen, Walen und Robben, Tintenfischen, Krebsen und all dem Kleingetier nicht auch der Vögel gedächte. Da sind die Möwen und die Sturmvögel, da sind die herrlichen Alba­ trosse, wahre Meister des Segelfluges. Auf den Klippen und Felsinseln der nördlichen Meere brüten zu Tausenden und aber Tausenden die schwarzweißen Alken; der größte von ihnen, der flugunfähige Riesenalk, ist im vorigen Jahrhundert ausgerottet worden. Und in den Meeren rund um die Antarktis leben die ebenfalls flugunfähigen Pinguine, bei denen die Flügel zu Flossen umgewandelt sind - Vogel, die jeden, der sie im Zoo sieht, entzücken wegen ihrer drollig menschenähnlichen Gestalt. Diese «Zwerge im Frack» sind äußerst geschickte Schwimmer und Fischer des Südlichen Eismeeres; dort, wo kalte Strömungen ihnen genug Nahrung bieten, gehen sie mit diesen nordwärts bis zum Äquator. Der größte Pinguin, der schöne Kaiserpinguin, bringt das Wunder fertig, im tiefsten Südpolwinter, in einer lebensfeindlichen Landschaft von Eis und Schnee, bei Temperaturen von -40 Grad und darunter sein Junges auszubrüten und aufzuziehen. 64

Die kieseligen Skelette der Radiolarien erweisen sich unter dem Mikroskop als wahre Kunstwerke der Natur

Was könnte man alles erzählen von der Überfülle des Lebens im Meer! Da ist das Walroß, die größte Robbe des Nordmeers, mit seinen gewaltigen Hauern, seinem son­ derbaren Bierphilisterbart und seinem tiefbekümmerten Gesichtsausdruck - ein Kerl, der immerhin seine viereinhalb Meter lang wird. Da ist sein Vetter im tiefsten Süden, der See-Elefant, der über sechs Meter messen kann. Das Männchen hat die merkwürdige Fähigkeit, seinen kurzen Rüssel gewaltig aufblasen zu können. Da ist der Riesen­ rochen, die Manta, ein wahrhaft gigantischer Fisch: Sein plattgedrückter Körper kann bis sechs Meter Breite und fünf Tonnen Gewicht erreichen, und dennoch ist dieser ,Teufelsrcxhen* ein ganz harmloser Geselle, im Gegensatz zum Sägefisch, einem Rochen­ verwandten, dessen Schnauze zu einer gefährlichen Waffe ausgezogen ist, zu einem langen, flachen, mit Dutzenden starker und spitzer Zähne besetzten Schwert. Da ist. .. man möchte kein Ende finden. Das Leben im Meer ist so vielgestaltig, daß es sogar Fabelwesen zu Wirklichkeiten werden lassen kann. So haben die alten Griechen in ihren Sagen erzählt, daß es Meer­ pferde gibt, Wesen mit einem Pferdekopf und einem Fischleib. Nun - so ein Wesen gibt es wirklich, wenn auch nicht gerade von Pferdegröße, sondern nur von der Länge eines Fingers, manchmal auch größer, nämlich spannenlang. Es ist dies das niedliche See­ pferdchen, ein Bewohner der Tangwälder. Sein Kopf erinnert tatsächlich an den eines Pferdes; es schwimmt nicht waagerecht, wie ein normaler Fisch es tut, sondern senkrecht, und der lange Schwanz ist in ein Greiforgan umgewandelt, mit dem es sich an Seegras anklammern kann. Der Körper wird durch flimmernden Wellenschlag der Rückenflosse vorangetrieben. Rührend ist die Kinderpflege: Das Weibchen legt die Eier an den Bauch des Männchens; hier bildet sich eine Tasche, in der die kleinen Seepferdchen bis zum Schlüpfen geborgen sind. Und so könnten wir immer weiter und weiter erzählen, von Tausenden und aber Tausenden Meerestieren und Meereswundern. Ein unübersehbares Gebiet eröffnet sich hier dem Natur- und Tierfreund - jeder mag sich selbst seine Lieblinge auswählen und ^5

sich in ihre Lebensgeheimnisse vertiefen: Stachlige Seeigel oder fünfstrahlige Seesterne, in knalligen Farben prunkende Korallenfische oder mikroskopisch kleine, aber dafür um so schönere Radiolarien. Selbst ein so unheimlich aussehendes Geschöpf wie der Oktopus-Tintenfisch mit seinen acht langen Fangarmen, auf denen Doppelreihen von Saugnäpfen sitzen, hat seine Freunde, die sidi energisch dagegen wehren, wenn man sagt, er greife Taucher an und wolle ihnen etwas antun. Sein Sinn steht nicht nach Menschenfleisch - ihm genügen Muscheln und Krabben, und damit deckt ihm das Meer den Tisch reichlich genug, wie es überhaupt für alle die Schönheiten und Scheusale, die es birgt, Sorge trägt: Selbst dort, wo der Kampf ums Dasein aufs grimmigste zu wüten scheint, gibt es niemals eine totale Ausrottung. Von den Millionen Eiern, die eine Auster produziert, mögen noch so viele von Feinden gefressen werden - ein Ei bleibt bestimmt übrig, damit die Art erhalten bleibt und die Kette der Geschlechter nicht abreißt.

LI EBESWERBEN U N D K I N D E R S O R G E N Von verwirrender Vielfalt sind die Mittel und Wege, deren sich die Lebewesen der Sieben Meere bedienen, um dafür zu sorgen, daß ihr Geschlecht nicht ausstirbt - manch­ mal hat man den Eindruck, sie machten es sich so schwer als nur irgend möglich. Drei Grundtypen der Fortpflanzung kann man unterscheiden. Am leichtesten haben es die kleinsten, die Einzeller. Wie Rumpelstilzchen im Märchen, so reißen sie sich bei der ,ungeschlechtlichen Fortpflanzung* sozusagen selbst in zwei Stücke, deren jedes vom Moment der Teilung an als selbständiges Wesen weiterexistiert. Doch gibt es im Reich der einzelligen Tiere und Pflanzen auch bereits das, was dann der Haupttyp der ,geschlechtliehen Fortpflanzung* wird: daß sich zwei Zellen miteinander verschmelzen und aus diesem Vorgang ein neues Wesen entsteht. Bei allen höheren Pflanzen und Tieren kennen wir diesen Vorgang als die Befruchtung der großen weiblichen Eizelle durch die kleine männliche Samenzelle. Diese Befruchtung kann außerhalb des Körpers der Elterntiere vor sich gehen; in diesem Fall kann man wieder zwei Formen unterscheiden: Entweder produziert das Weibchen Eier zu Hunderttausenden oder Millionen. Man kann dann stets erwarten, daß die Eltern sich um diese Unsummen von Nachkommen in keiner Weise kümmern, sondern sie den Zufälligkeiten des Kampfes ums Dasein überlassen. Dann gehen aus Millionen befruchteter Eier gerade wieder soviel er­ wachsene Tiere hervor, daß das Fortbestehen der Art gesichert ist und zugleich keine Übervölkerung eintritt, nämlich genau ein Pärchen. Oder aber es werden sehr viel weniger Eier ausgestoßen und befruchtet, die daraus schlüpfenden Kinder aber von den Eltern betreut. Und schließlich gibt es dann noch die vollkommenste Art der Fortpflanzung: Die Eier - manchmal ist es nur noch ein einziges - werden im Mutter­ leib befruchtet, die Jungen vom Muttertier ausgetragen, und die Eltern (gelegentlich 66

auch nur die Mutter oder nur der Vater) sorgen sich um den Nachwuchs in oft rühren­ der Hingabe. Die meisten Hohltiere, Würmer, Weichtiere und Fische der Sieben Meere bevorzugen die Methode, die uns Menschen so sinnlos verschwenderisch erscheinen will: Das Weibchen stößt Millionen Eier ins Wasser oder über den Sand des Meeresgrundes aus, das Männchen Myriaden von Samenzellen - oft genug ebenfalls aufs Geratewohl ins Wasser, oft aber auch über die vom Weibchen abgelegten Eier. Ist das geschehen, so schwimmt man einfach davon; die festsitzenden Tiere, wie es zum Beispiel die Muscheln sind, vertrauen Ei- und Samenzellen einfach dem ungewissen Spiel des flutenden Wassers an. Doch bereits bei den Weichtieren und mehr noch bei den Fischen gibt es echte elter­ liche Fürsorge, wie man in diesen Tiergruppen auch schon ein geradezu zeremonielles Werben um den Partner beobachten kann. Viele Fischmännchen prunken zur Fort­ pflanzungszeit in leuchtenden Farben, um dem anderen Geschlecht zu imponieren, und das Männchen des niedlichen Seepferdchens hütet seine Jungen in einer Bauch­ tasche. Das Weibchen des Oktopus-Tintenfisches bewacht nach dem wilden Liebeskampf mit dem Männchen das Gelege. Bei den Tintenfischen geht es übrigens sehr sonderbar zu: Der Samen wird von einer Kapsel eingehüllt, dem sogenannten Spermatophor, der sogar zur Eigenbewegung fähig ist; bei den meisten Tintenfisch-Männchen ergreift einer der Fangarme, der zu diesem Zweck umgestaltet wird, dieses Samenpaket und führt es bei der Begattung in den Körper des Weibchens ein. Noch verwunderlicher aber machen es einige Tintenfische, zum Beispiel Argonauta - eine Art, die auch durch den Besitz einer zarten äußeren Schale gekennzeichnet ist und deshalb Papierboot heißt: Der Begattungsarm löst sich vom Körper des Männchens los und dringt, als wäre er ein eigenes Wesen, beim Weibchen ein. Kein Wunder, daß man früher diesen merkwürdig selbständig gewordenen Arm für einen Eingeweidewurm gehalten hat. Manche Fische unternehmen Wanderungen über riesige Strecken, damit die Kette der Generationen nicht abreißt. Von dem Lebensweg des Aals, der diesen Fisch aus dem Sargasso-Meer in unsere Seen und Teiche und wieder zurück führt, sprachen wir schon (s. S. 56). Nicht minder erstaunlich sind die Wanderungen der Lachse. Wenn sie reif zur Fortpflanzung sind, verlassen sie das Meer und steigen, von einem geradezu wunderbar anmutenden Instinkt getrieben und einem unfaßbar präzise arbeitenden chemischen Sinn geleitet, durch die Ströme, Flüsse und Flüßchen aufwärts bis zu den kristallklaren Quellbächen, in denen sie selbst einst aus dem Ei geschlüpft sind und ihre erste Jugend verbracht haben, wobei das Großartige darin liegt, daß sie haar­ genau ihren ureigensten Quellbach wiederfinden. Erst in neuester Zeit hat man her­ ausbekommen, wie die Lachse diese Wunderleistung vollbringen: Sie orientieren sich sozusagen nach dem Geschmack des Wassers! Die Muscheln und Schnecken und ihre zahlreichen Verwandten nutzen vielfach den Gezeitenstrom sowohl für ihre Ernährung wie für ihre Fortpflanzung aus. Flut und Ebbe bringen ihnen die Schwebstoffe und Kleinstlebewesen heran, von denen sie sich nähren, und wenn das Wasser am höchsten gestiegen ist, wird gelaicht; so ist wenig­ stens die Gewähr dafür gegeben, daß die ablaufende Flut die befruchteten Eier mit­ nimmt und mit den Nachkommen, soweit sie überleben, die Ausbreitung der Art gesichert ist. 67

Höchst eigentümlich treibt es der Grunion, ein kleiner Fisch, der an der Küste Kali­ forniens lebt, liebt und laicht. Er vertraut nicht, wie es die meisten Fische tun, seinen Nachwuchs den Wellen an, sondern dem Sand des Strandes, und er nutzt zu diesem Zweck das Auf und Ab von Ebbe und Flut mit einer solchen Regelmäßigkeit, daß man an Hand einer Gezeitentafel das Erscheinen der Laichschwärme des Grunions im voraus berechnen kann. Wenn die nächtliche Flut eben ihren Höhepunkt überschritten hat, glitzert und blinkt es auf der Grenze von Wellen und Strand. Tausende von Fischen schwimmen gegen das ablaufende Wasser an, erreichen den feuchten Sand, die Männ­ chen drängen sich dicht um die Weibchen, und diese graben die dabei befruchteten Eier einige Zentimeter unter die Oberfläche des Sandes. Hier, fern den Gefahren des Meeres, sollen die Eier sich zunächst entwickeln, bis die Jungen in schon fortgeschrit­ tenem Zustand schlüpfen. Besonders raffiniert ist es aber nun, wie die Grunions zu diesem ihrem sonderbaren Laichgeschäft sich den Rhythmus von Mond und Gezeiten zunutze machen. Der Tidenhub wechselt entsprechend den Mondphasen, und am höchsten steigt die Flut, wenn Voll- oder Neumond ist. Wie bei uns, so wechseln audi an der Küste Kaliforniens die zwei Fluten jedes Tages ihrer Höhe nach; während der Frühlings- und Sommermonate, der Zeit, da der Grunion laicht, hat die Nacht den höheren Tidenhub, und so erscheint der Grunion zu nächtlicher Stunde am Strand, um zu laichen und mit ablaufender Flut wieder ins Meer zurückzugehen. Selbst die Tatsache, daß auflaufende Flut ja Sand vom Strand fortträgt und damit auch die Eier abschwemmen würde, ist vom geheimnisvollen Instinkt dieser Fische berücksichtigt: Das Laichen wird erst mit ablaufender Flut beendet, und außerdem kommen die Grunions meist mit der fallenden Gezeitenserie, dann also, wenn die nachfolgenden Tiden niedriger sind als in der Nacht der Eiablage. Am günstigsten sind die Nächte bald nach dem höchsten, jeweils den Mondphasen entsprechenden Stand der Flut; denn jetzt haben die Eier Zeit, sich im Sand zu entwickeln, den die niedrigen Fluten der nächsten Tage nicht mehr erreichen, bis nach etwa zehn Tagen die Flut im Wechsel des Mondes wieder soweit steigt, daß nun die Wellen die Eier aus dem Sand spülen. Im gleichen Augenblick, da das Ei mit dem Wasser in Berührung kommt, schlüpft der Jungfisch; ihn trägt nun die ablaufende Welle in sein eigentliches Lebenselement, vor dessen zahllosen Fährnissen er wenigstens in den frühesten Stadien seiner Entwicklung im Sand behütet gewesen ist. Diese eigenartige Abhängigkeit der Fortpflanzung von Mond und Gezeiten steht nicht einzig da; am berühmtesten ist die Mondperiodizität des Palolowurms im Pazifik. Es ist dies ein etwa 40 Zentimeter langer Ringelwurm, der den Boden der Korallenriffe bewohnt. Wenn er fortpflanzungsreif geworden ist, löst sich das Hinter­ ende, das je nach Geschlecht prall mit Eiern oder Samenzellen gefüllt ist, macht sich selbständig und schwimmt ohne Kopf davon. Es geschieht das stets im Oktober oder November, wenn also in der Südsee Frühling ist, und zwar mit erstaunlicher Genauig­ keit vor Sonnenaufgang am Tag vor dem letzten Mondviertel und an diesem Tage selbst. Im Wasser der Riffe wimmelt es dann von ungeheuren Mengen Palolos, die von den Samoa- und Tonga-Insulanern aus dem Wasser geschöpft und in fröhlichen Festgelagen verspeist werden. Auch an unseren Küsten gibt es ein Beispiel für die Mondabhängigkeit von Hochzeit und Fortpflanzung: Eng verknüpft mit dem Wechsel 68

von Mond und Gezeiten ist das Schlüpfen, Schwärmen und Begatten kleiner Zuck­ mücken in den bei Ebbe trockenfallenden Watten der Nordsee. Die sicherste Art, den Nachwuchs über alle Gefahren der ersten Jugend zu bringen, bietet natürlich das Lebendgebären, wie wir es von den Säugetieren kennen. Doch gibt es auch Fische, deren Eier sich im schützenden Mutterleib entwickeln, bis die schon weit herangewachsenen Jungen geboren werden. Viele Haie beispielsweise legen Eier, denen eine Hornkapsel einen gewissen Schutz bietet; manche jedoch, wie etwa der Dornhai, sind lebendgebärend. Und lebendgebärend waren auch die Fischsaurier des Erdmittelalters, die Ichthyosaurier, wie man aus wunderbar erhaltenen Versteinerungen weiß, die den dramatischen Augenblick festgehalten haben, da ein eben seine Jungen zur Welt bringendes Ichthyosaurierweibchen in den tödlichen Faulschlamm einer urzeitlichen Lagune geriet. Lebendgebärend sind selbstverständlich auch alle Säugetiere des Meeres, die Wale, Robben und Sirenen. Besonders eindrucksvoll sind die ,Rookeries‘ der Seelöwen und Pelzrobben, die Paarungsplätze, an denen sich die Here zu vielen Tausenden zusammenfinden. Im Gegensatz zu den Seehunden, denen die Ohrmuschel völlig fehlt, haben Seelöwen und Pelzrobben als ,Ohrenrobben‘ noch kleine äußere Ohren, und ihre Füße sind zwar bereits Flossen, doch noch zu watschelndem Gehen auf dem Festen geeignet, was die Seehunde nicht mehr können. Die Seelöwen werden auch als Haarrobben bezeichnet, im Gegensatz zu den Pelz­ robben oder Seebären, die unter ihren Grannenhaaren eine ungemein zarte und weiche Wolle besitzen. Seelöwen und Seebären sind ausgesprochen gesellige Tiere, die sich wenigstens zum Teil ständig an den Paarungsplätzen aufhalten. Sehr bekannt ist die viel photographierte Rookery auf den Klippen am Goldenen Tor vor San Franzisko, und auch in der völlig dunklen Innenkammer der Painted Cave in Kalifornien wimmelt es zur Fortpflanzungszeit von Seelöwen (s. S. 19). Auf den Paarungsplätzen erscheinen zuerst die Männchen, gewichtige Herren, die um den besten Platz und um die Weib­ chen bellend, röhrend und brüllend grimmige Kämpfe austragen; eifersüchtig be­ wachen die Paschas den Harem, den sie zusammenbringen, und verteidigen ihre Frauen­ schar gegen jeden Nebenbuhler. Oft zeugen mächtige Narben von der Wut und Schwere der Duelle. Die Paarungszeit ist der Sommer; kurz vor der Paarung bringen die Weib­ chen noch ihre Jungen zur Welt, die mit ihren großen, erstaunt in die Welt schauenden Kinderaugen entzückende Wesen sind. Bei den Seelöwen verlassen zuerst die Weibchen mit ihren Jungen die Rookery, um wieder hinauszugehen ins Meer, während die abgekämpften Bullen auf den Klippen oder in der Höhle Zurückbleiben, um ihre Wunden auszuheilen und sich von den An­ strengungen des Kampfes und der Liebe zu erholen. Anders ist es bei den Pelzrobben des Hohen Nordens und der Antarktis: Hier gehen zuerst die abgekämpften und vor lauter Eifersucht halb verhungerten Männchen fort, in die offene See, um sich bis zum nächsten Frühling wieder vollzufressen, während die Mütter mit ihren Kindern und die Junggesellen erst im Herbst die Felseninsel verlassen, die dann den Winter über öde und verlassen daliegt, bis der Beginn der neuen Paarungszeit sie erneut mit dem wilden Leben der vielen Tausenden von Robben erfüllt. Nicht alle Robben leben in Vielweiberei; eine ganze Reihe von Arten findet sich 69

zu Paaren zusammen, die den von ihnen und dem Jungen besetzten Raum gegen alle Nachbarn verteidigen. Das mäditige Walroß des Nordmeeres, das mit seinem struppigen ,Seehundsbart‘ und den bekümmert dreinschauenden Augen aussieht wie ein phleg­ matisch philosophierender Spießbürger, läßt sich auch in der Liebe Zeit: Nur alle drei Jahre wird Hochzeit gefeiert, und volle zwei Jahre säugt das Weibchen sein Junges.

I N S T I N K T U N D INTELLEKT Fische, so hört man immer wieder, sind nicht nur stumm, sondern auch dumm. Beides stimmt jedoch nur bedingt. Forschungen der letzten Jahre haben gezeigt, daß viele Fische über Lautäußerungen verfügen (man muß nur die rechten Apparaturen haben, um den ,Gesang unter den Wellen* hörbar machen zu können), und wenn die Fische auch ein kleines, relativ unentwickeltes Gehirn haben und so wohl wirklich nicht sonderlich intelligent sind, so zeigen sie doch bewundernswerte Leistungen jenes ge­ heimnisvollen ,leiblichen Verstandes*, den wir Instinkt nennen. Wir brauchen nur an die Aale, die Lachse, die Grunions zu erinnern . . . Doch Fische lernen auch. Das beweisen nicht nur die berühmten Karpfen, die auf ein Glockensignal die Schnauzen aus dem Wasser heben, um sich füttern zu lassen, oder die Fische, die sich von den deutschen Professoren Karl von Frisch und Konrad Herter auf bestimmte Tone oder Zeichnungsmuster dressieren ließen. Nicht minder über­ zeugend ist auch folgendes Experiment: Wenn man einem Hecht (man kann aber auch einen anderen Raubfisch nehmen) ein Beutefischchen in sein Aquarium setzt, wird er dieses sofort attackieren und verschlingen. Schiebt man nun eine Glasscheibe in die Mitte des Aquariums und gibt dahinter wieder ein Köderfischchen in das Becken, so wird der Hecht zwei-, dreimal mit der Nase gegen die Scheibe rennen und es dann aufgeben, selbst wenn jetzt die Scheibe wieder herausgezogen wird: Er hat gelernt, daß dieser Beutefisch für ihn unerreichbar ist. Doch nun setzt man einen zweiten ein, der für unsere Augen genauso aussieht wie der erste. Blitzschnell wird der Hecht sich auf diesen zweiten stürzen, den ersten aber läßt er ungeschoren, dank der Erfahrung, an die ihn seine schmerzende Nase erinnert. Geschichten, in denen von Leistungen wirklicher Intelligenz die Rede ist, erzählt man sich aber vor allem von den Säugetieren des Meeres. Wahre Künstler an Gelehrigkeit sind die Seelöwen. Warum gerade sie gleichsam geborene Artisten für die schwierigsten Balance-Akte im Zirkus sind, weiß man nicht recht; immerhin hat man Seelöwen in Freiheit beobachtet, wie sie, im Wasser aufrecht schwimmend, einen gefangenen Fisch oder andere schwimmende Gegenstände spielerisch hochwarfen. Auch im Robben­ becken des Zoos kann man ähnliches sehen. Weit übertroffen werden die Fertigkeiten der Seelöwen jedoch durch die Schwimm­ 7 0

künste und die Intelligenz der Delphine, die zu den Zahnwalen gehören. Der deutsdie Zoologe Pechuel-Loesdie hat eine meisterliche Schilderung vom Treiben einer Delphin,schule* gegeben: «In einem langen und verhältnismäßig schmalen Zug geordnet, eilen die Delphine als lustige Reisende durch die leidit bewegte See dahin, mit hurtigen Sprüngen und einer Schnelligkeit, als gelte es ein Wettrennen » - geschwinder, als jedes Schiff, das der Mensch je gebaut hat. « Mehrere Meter weit schnellen sich die glänzenden Leiber im Bogen durch die Luft, fallen kopfüber in das Wasser und schießen von neuem heraus. Die Übermütigsten in der Schar überschlagen sich in der Luft, indem sie dabei in urkomischer Weise mit dem Schwanz wippen, andere lassen sich flach auf die Seite oder auf den Rücken fallen, springen kerzengerade empor und tanzen, indem sie sich drei-, viermal mit Hilfe des Schwanzes vorwärtsschnellen, aufrecht stehend oder bogig gekrümmt über die Oberfläche dahin. Kaum sehen sie ein Schiff, so schwenken sie ein und eilen hinzu, und nun beginnt erst die wahre Lust. In weitem Bogen umkreisen sie das Schiff, hüpfen vor ihm her und an den Seiten entlang, kehren zurück und geben ihre schönsten Kunststücke zum besten», und das allein aus Freude am Dasein und ohne Dank und Lohn, denn sie fressen nichts von dem, was die entzückten Reisenden ihnen über Bord zuwerfen. Die alten Seeleute haben manches ganz unglaublich klingende Garn von der Ge­ scheitheit solcher Delphine gesponnen, die sogar Schiffe durch gefährliche, mit Klippen gespickte und von Untiefen bedrohte Fahrrinnen sicher geleitet hätten; einige dieser Geschichten haben sich bei der Nachprüfung tatsächlich als wahr herausgestellt. James Dugan erzählt von einem Delphin, der in Bondi Beach bei Sydney, einem sehr beliebten und von zahllosen Menschen besuchten Badestrand Australiens, zum Liebling und Spielgefährten der Badenden wurde und sich auch fast wie ein freiwilliger Lebens­ retter bewährte. In jüngster Zeit sind die Delphine der großen Ozeanarien in Florida und Kalifornien durch Foto und Wochenschau bekanntgeworden; hier kann man den etwa zwei Meter messenden Tieren mit Vergnügen zuschauen und sich auch von der Tatsache überzeugen, wie zahm die gelehrigen Delphine werden. Nicht umsonst er­ zählen schon uralte Geschichten vom ,Menschenverstand* des Delphins, den einst der französische Kronprinz als ,Dauphin* im Wappen geführt hat: Alle Wale haben ein kräftig gefurchtes Gehirn, und besonders die Zahnwale sind wirklich intelligent - nicht weniger, als es die Menschenaffen und die Hunde sind! Großartige Leistungen vollbringen die Fische, Vogel und Säugetiere der Sieben Meere auf ihren Wanderungen - es ist, als hätten sie einen Kompaß und besäßen beste navigatorische Kenntnisse. Die Wale queren die Ozeane von einem der ,Gründe*, in dem sie die Riesenmassen ihrer Nahrung finden, zum anderen. Die Seelöwen kommen mit unbeirrbarer Sicherheit zu ihren Rookeries zurück, auf einem Weg, der sie vielleicht über Tausende von Seemeilen führt, und manche Zugvögel, die hoch im Norden in­ mitten der Kontinente gebrütet haben, fliegen Tage und Nächte hindurch zielsicher die kleinen Inseln weit drunten im Süden an, auf denen sie überwintern - von Sibirien bis nach Hawaii! Gerade von diesen Zugvögeln weiß man, wie sie ihren Weg finden wenngleich dieses Wissen das wahre Geheimnis doch nur mit Worten verbirgt: Die Zugvögel besitzen tatsächlidi einen ,inneren* Kompaß, sie richten sich nach dem Sonnenstand (oder, falls sie Nachtwanderer sind, nach den Gestirnen), und wie auf 71

dem Schiff zum Kompaß nodi das Chronometer gehört, um die Position bestimmen zu können, so haben auch die Vögel eine ,innere‘ Uhr. Eine recht überzeugend klingende Iheorie will das hohe navigatorische Können der Vögel in Verbindung bringen mit den großen Wanderungen der frühen Menschheit über die Sieben Meere. Die biblische Überlieferung von Noah, der eine Taube aus­ sandte, um zu erkunden, ob die Sintflut schon gefallen sei und er das Feste erreichen könne, hat durchaus ihre geschichtlichen Gegenstücke. So erzählt die Saga, Floki Vilgerdarson, der Wikinger, der Island entdeckt hat, habe sich von Raben leiten lassen, die er zu diesem Zweck an Bord seines Drachenschiffes hielt. Drei waren es: Der erste Rabe, den Floki aufließ, flog den Weg, den das Sdiiff genommen hatte, zurück, weil er wußte, daß dort das nächste Land sei. Der zweite umkreiste das Drachenboot und kehrte zum Schiff zurück, weil er ringsum nichts sehen konnte als Wasser. Der dritte endlich flog schnurstracks voraus; Floki folgte dem Raben und kam so nach Island. Ähnlich, so nimmt man an, haben die Polynesier den Weg von einer Insel zur näch­ sten, von einer Inselgruppe zur anderen gefunden, als sie die unendlichen Weiten der Südsee besiedelten: Sie beobachteten die Wege der Zugvögel und folgten ihnen. Eine Regenpfeifer-Art soll nach dieser Version die Auslegerboote von Tahiti nach Hawaii geleitet, ein Kuckuck den Weg von den Salomonen nach Neuseeland gewiesen haben. Beide Entfernungen betragen mehr als tausend Seemeilen - der Mensch bewältigte die Strecke kraft seines bewußten Verstandes, während der Vogel von seinem nicht minder geheimnisvollen, unbewußt wirkenden Instinkt geführt wird. Mit den Wundern des Instinkts könnte man ganze Bücher füllen - gerade die Sieben Meere bieten Beispiele die Hülle und Fülle von staunenswerten Verhaltensweisen in Ernährung und Fortpflanzung, Angriff und Verteidigung. Was es da an Listen und Tricks oder an Meisterleistungen der Baukunst gibt, hat nichts mit Intelligenz zu tun; die Here können es einfach, angeborenermaßen und ohne jede Erfahrung. Ob es sich um die Zaubergrotten und -gärten der Korallenriffe handelt oder um den Farbwechsel des Oktopus-Kraken, der je nach Umgebung oder aber auch je nach Stimmung seine Farbe wechselt von Braun über Grün und Rot bis zu einem dunklen Purpur und im Zorn wahre Färbwellen über seinen Körper gleiten läßt; ob man an die Bruttasche des Seepferdchen-Männchens denkt oder an die Scholle, deren Körper genau die Farbe des Untergrundes annimmt, auf dem sie liegt; ob man den Köder des Anglerfisches nachdenklich betrachtet, der auf diese raffinierte Weise seine Beute anlockt, oder den Einsiedlerkrebs, der seinen ungeschützten Hinterleib im leeren Schneckenhaus birgt und sich außerdem durch die Nesselbatterien einer See-Anemone schützen läßt; ob man an die Orangebinden-Korallenfische denkt, die es genauso mit den riesigen See-Anemonen des Riffs machen, oder an den Farbbeutel, mit dessen Inhalt sich die Tintenfische tarnen; ob man die merkwürdigen Signale beobachtet, die sich die Winkerkrabben mit ihrer Schere geben, oder die erstaunlichen Tarnkünste der Maskenkrabbe, die sich Algen und allerlei Kleinzeug auf ihren Rücken pflanzt; ob man verwundert zusieht, wie sich ein Hummer nach der Häutung selbst ein Sandkörnchen ins ,Ohr‘ praktiziert, damit sein Gleichgewichtsorgan wieder funktioniert: man fällt von einer Überraschung in die andere. Und das alles gehört in das Reich des Instinkts, der angeborenen, nicht erlernten oder anderswie erworbenen Verhaltensweisen. 7 2

Die hödiststehenden Lebewesen des Meeres wie des Landes sind die Wirbeltiere (von den Fischen bis hinauf zu den Säugetieren), gekennzeichnet durch ihr in Gehirn und Rückenmark wohlorganisiertes Nervensystem - das biologische Substrat der ,Intelli­ genz* - und durch die Wirbelsäule, das Rüdegrat. Wer nun freilich meint, Intelligenz und Rückgrat seien die besten Mittel, sich im Daseinskampf durchzusetzen, der sei auf eine Gruppe Meerestiere verwiesen, die einen besinnlich stimmen kann. Es sind dies die Seescheiden oder Aszidien. Sie gehören zu den Manteltieren oder Tunikaten, die entwicklungsgeschichtlich deshalb interessant sind, weil sie den Urformen der Wirbel­ tiere nahestehen; Sie haben ein Rückenmark und eine Chorda, eine Rückensaite, als Vorstufe der Wirbelsäule. Die Seescheiden besitzen als freischwimmende Larven noch Rückenmark und Rückensaite. Dann aber setzen sie sich fest; erwachsen sieht ihr Körper aus wie ein kleiner Sack mit zwei Öffnungen oben, und in dieser Gestalt führen sie uns nun vor, wie man auch ohne Intelligenz und Rückgrat höchst behaglich durchs Leben kommt: Im Innern des sackförmigen Körpers befindet sich ein großer Kiemen­ korb, der wie ein Filter wirkt. Zur einen Öffnung oben wird das Wasser hinein-, zur anderen hinausgepumpt. Alles, was das Wasser an nahrhaften Schwebstoffen ent­ hält, wird vom Kiemenkorb zurückgehalten und wandert in den Darm, wo es ver­ daut wird. So führen die Seescheiden ein stumpfsinniges, aber nahrhaftes Leben, und dabei sorgen sie noch dort, wo sie häufig sind, mit ihrer Filtriertätigkeit dafür, daß das sonst trübe Wasser in Bodennähe klar ist. Zu den Manteltieren gehören außerdem die Salpen, die am Meeresleuchten beteiligt sind, und die Appendicularien. Die Salpen sind offenbar ehemalige Seescheiden, die sekundär von der festsitzenden Lebensweise wieder zur freischwimmenden übergegangen sind; in die Geschichte der Zoologie und der Ozeanographie sind sie dadurch eingegangen, daß der Natur­ forscher und Dichter Adalbert von Chamisso auf seiner Weltumsegelung mit der ,Rurik‘ bei ihnen den Generationswechsel entdeckt hat, worunter man das perio­ disch wechselnde Nacheinander einer geschlechtlich für Nachkommen sorgenden Gene­ ration und einer ungeschlechtlich, durch pflanzenhafte Knospung, sich vermehrenden versteht. Auch die Appendicularien sind Musterbeispiele eines nicht allzuhäufigen biologischen Kuriosums: Man stellt sich vor, daß sie Nachfahren von Seescheiden­ larven sind, die bereits im Larvenstadium die Geschlechtsreife erworben haben und deshalb auch noch das Rückenmark und die Rückensaite besitzen. Doch zurück aus der Wunder- und Rätselwelt der Instinkte und der zoologischen Kuriositäten noch einmal zu den Wanderungen! Es gibt Meerestiere, die bei ihren Wanderungen extrem ,wetterfühlig‘ sind. Hierfür ein Beispiel: Die Brunftplätze der Sattelrobben liegen auf dem Treibeis des Hohen Nordens, wo auch die Jungen zur Welt gebracht werden. Wenn die Tiere merken, daß das Eis mit kommendem Winter zu dick wird und sie deshalb die Löcher, durch die sie ins Wasser unter das Eis schlüpfen können, nicht mehr offenzuhalten vermögen, wandern sie in südlicher Richtung ab, nicht plötzlich, sondern allmählich; von der Höchstgeschwindigkeit, die sie beim Schwimmen erreichen (sie liegt bei mehr als 20 Kilometern in der Stunde), machen sie keinen Gebrauch, sondern sie lassen sich Zeit. Mit bemerkenswertem Spürsinn wis­ sen die Sattelrobben bei der Wanderung gen Süden, welche Treibeisfelder sie untersdiwimmen können, weil sie immer noch Gelegenheit bieten, zum Atemholen aufzu­ 75

tauchen, und welche sie umgehen müssen. Ende Dezember, Anfang Januar erreichen die Schwärme der Sattelrobben des westlidien Nordmeers schließlich Südlabrador, die Neufundlandbänke und den St.-Lorenz-Golf, und in den nahrungsreichen Gewässern dort verbringen sie den Winter. Doch noch ehe die ersten Anzeichen des Frühlings sich bemerkbar machen, wenden die Sattelrobben sidi wieder nordwärts, und sie kommen nach einer Wanderung von insgesamt wohl 7000 Kilometern Ende Februar, Anfang März wieder auf den Treibeisfeldern der Arktis an, genau zur rechten Zeit für die Gattenwahl, die Geburt der Jungen und die Hochzeit.

Nie zeigt das Meer das gleiche Gesicht. Wo sich heute hoch auf schäumende Wellen brechen, kann sich morgen eine sanfte Dünung wiegen

Die nie ruhende See

GEZEI TEN Niemand, auch der kundigste Gelehrte nicht, wird behaupten wollen und können, daß der Mensch seine Erde wirklich ganz kennt. Und wenn das für das feste Land gilt - um wieviel mehr gilt es für die Sieben Meere! Was ist da alles noch zu erforschen! Die Meereskunde, die Ozeanographie, ist zu einer eigenständigen, umfassenden Wissenschaft geworden, und heute beginnen wir recht eigentlich erst, Einblick zu gewinnen in die ebenso augenfälligen wie geheimnisvollen Kräfte, die das Wasser des Ozeans bewegen. Winde erregen die Oberfläche der See. Strömungen fließen im Meer dahin, hier viel­ leicht nur in den obersten Schichten, an anderen Orten aber auch tief drunten in den finsteren Abgründen oder durch die submarinen Canons. Unterseeische Erdbeben er­ schüttern die Wassermassen bis hin zum letzten Wassertropfen am äußersten Ende der Sieben Meere. Und es mag Stellen geben, wo das schmelzflüssige Erdinnere soviel Wärme durch den Meeresboden abgibt, daß das Wasser in den eiskalten liefen sich aufheizt und erwärmt aufsteigt. Alle diese Kräfte arbeiten manchmal Hand in Hand, manchmal aber auch gegeneinander. Und es entsteht ein so kompliziertes Zusammen­ spiel, daß man nicht einmal eine scheinbar so einfache Frage beantworten kann wie diese: Welche Zeit braucht ein Tropfen Meerwasser für seinen großen Kreislauf, der, sagen wir, am Meeresboden beginnt, ihn zur Oberfläche hinaufführt und schließlich wieder dorthin, wo dieser Tropfen einst gewesen ist? Diese Zeit läßt sich nicht einmal an­ nähernd schätzen. Man hat gemeint, es dauere 500 Jahre, aber es wird doch wohl noch vieler Beobachtungen und mancher Forschungsarbeit bedürfen, ehe wir wirklich wissen, in welchem Ausmaß beispielsweise die Wärme des Erdinnern daran mitwirkt, die Was­ sermassen der Sieben Meere umzuwälzen. Eines jedenfalls ist sicher: Die größte Kraft, die auf das Wasser des Ozeans einwirkt, ist die, die sich in den Gezeiten (oder, wie der Seemann sagt: Tiden) weltweit äußert. Noch das kleinste Tröpfchen in allen Sieben Meeren, selbst in den tiefsten Gründen der Tiefsee, bekommt die Anziehungskraft zu spüren, die von Sonne und Mond ausgeht. Und selbstverständlich ist es auf den Kontinenten nicht anders. Aber das Feste kann sich nidit in dem Ausmaß auf die Anziehung hin bewegen, wie das flüssige Element es vermag. Über Mond und Sonne hinaus unterliegt unsere Erde und alles auf ihr auch noch den Schwerkraft-Einflüssen benachbarter und fernerer Gestirne, aber diese sind so außerordentlich schwach, daß sie praktisch keinerlei Auswirkungen haben, und so können wir sie vernachlässigen. Blick über das Deck einer Viermastbark der ^Flying P-Linie»; was jeder Landratte als ein wirres Durcheinander erscheint, ist für den befahrenen Seemann sinnvolle Ordnung 77

Das sichtbare Ergebnis dessen, was wir die Anziehungskraft von Sonne und Mond nennen, ist jedenfalls das Fallen und Steigen der Gezeiten in Ebbe und Flut. Dabei übt der Mond den Haupteinfluß aus; zwar ist die anziehende Kraft von der Masse des an­ ziehenden Körpers abhängig, doch nimmt, was in diesem Fall wichtiger ist, diese Kraft mit dem Quadrat der Entfernung ab. Obwohl man also 27 Millionen Monde nehmen müßte, wollte man der Sonne gleichkommen, wirkt diese sich doch sehr viel schwächer in Ebbe und Flut aus, weil der Mond der Erde ja unvergleichlich näher steht: Von unserem Heimatplaneten bis zum Mond sind es (im Mittel) 385 000 Kilometer, bis zur Sonne aber 150 Millionen! Und so kommt es, daß die Anziehungskraft unseres nächtlichen Freundes den Hauptfaktor bei der Entstehung der Gezeiten ausmacht. Jeder, der einmal am Meer gewesen ist, wird bemerkt haben, daß das Eintreten von Hochwasser sich von Tag zu Tag um etwa 50 Minuten verschiebt - eine Zeitdauer, die in Verbindung steht mit dem Wachsen und Abnehmen des Mondes. Aber auch das Auf­ laufen des Hochwassers wandelt sich im Zyklus des Mondes: Zweimal monatlich steigt es zu höchster Höhe an, zur sogenannten Springtide, und zwar bei Vollmond und bei Neumond. Dann nämlich liegen Sonne, Mond und Erde in einer Linie, so daß die An­ ziehungskraft von Sonne und Mond gemeinsam auf das Wasser des Meeres wirken. Steht der Mond im ersten und dritten Viertel, so bilden er, die Sonne und die Erde die drei Ecken eines Dreiecks. Jetzt arbeitet die Anziehungskraft der Sonne der des Mondes entgegen, die Flut läuft nicht so hoch auf, und wir sprechen von Nipptide. Das ist freilich nur eine allereinfachste Erklärung des Phänomens von Ebbe und Flut, \on Spring- und Nipptide. Die örtlichen geographischen Gegebenheiten lassen es zu sehr großen Unterschieden kommen nicht nur zwischen Hoch- und Niedrigwasser, im sogenannten Tidenhub, sondern auch hinsichtlich der Zeit des Eintritts von Ebbe und Flut. Und da diese Bedingungen niemals und nirgends ganz die gleichen sind, so sind auch die Gezeiten an keiner Küste die gleichen. Diese Unterschiede sind manchmal höchst überraschend. Am Nordpol gibt es natür­ lich überhaupt keinen Tidenhub, und bei Kap Columbia, wo Admiral Peary zu seinem Marsch auf den Pol hin startete, beträgt er nur zehn Zentimeter. Aber in der FundyBay, zwischen Neuschottland und Neubraunschweig in Kanada, beträgt der Unterschied zwischen Niedrig- und Hochwasser mehr als 12 Meter - es ist dies der größte Tidenhub auf der Erde überhaupt. Ungefähr 100 Milliarden Tonnen Wasser werden zweimal täglich in die Bay hinein- und wieder aus ihr herausgeführt! Einer der Gründe, warum die Verhältnisse von Ebbe und Flut so kompliziert sind, ist der, daß das Wasser der Sieben Meere in eine große Zahl von Becken unterteilt ist, wie sie von den Festlandsgrenzen über und unter dem Meeresspiegel, manchmal von unterseeischen Höhenrücken und dem unebenen Meeresboden gebildet werden. In jedem dieser Becken ist der Einfluß der Schwerkraft von Sonne und Mond anders, und in jedem wirkt er sich je nach Größe, Gestalt und Tiefe des Beckens anders aus. So war lange Zeit der Wechsel von Ebbe und Flut auf Tahiti für die Seeleute ebenso wie für die Wissenschaftler ein Rätsel. Hier ist es nämlich so, daß man am Pegel, der den jeweiligen Wasserstand anzeigt, auch die Uhrzeit ablesen kann: Flut ist um Mittag und Mitternacht, Ebbe um 6 und 18 Uhr. Man könnte meinen, auf Tahiti folgten die Gezeiten dem Mond überhaupt nicht, sondern allein der Sonne. 7 8

Scheinbarer jährlicher Sennen-

Stellung von Sonne, Mond und Erde zueinander

umlauf in der Ekliptik

bei Spring- und Nippflut

Scheinbarer täglicher Sonnenum lauf

21 . 12 .'

Dieses Diagramm zeigty wie Sonney Mond und Jahreszeiten den Lauf der Gezeiten bestimmen. In der Mitte oben sieht many daß sich bei Neumond und bei Vollmond die drei Weltkörper Mond-Erde-Sonne in einer Linie befindeny so daß sich die Gravitationskräfte von Mond und Sonne ergänzen: Es kommt zur Springflut. Im ersten und dritten Viertel des zu- oder ab­ nehmenden Mondes hingegen stehen Sonney Mond und Erde im rechten Winkel zueinandery die Anziehungskräfte heben sich gegenseitig teilweise auf - es kommt zu der sehr viel schwächeren Nippflut. Der scheinbare jährliche und tägliche Sonnenumlauf (oben links und rechts) und der Umlauf der Erde um die Sonne (Mitte und unten rechts) zeigen die jahreszeitlichen Schwan­ kungeny die auf den Tidenhub einwirken. Die stark vereinfachte Darstellung links unten läßt erkenneny wie das Wasser (schraffiert) dem ,2«g* der Schwerkraft eines Himmelskörpers folgt.

Erklärt wird diese Erscheinung damit, daß Tahiti im Zentralpunkt eines solcher Becken liegt, von denen oben die Rede war. In all diesen Becken wird das Wasser durch den ,Zug‘ von Sonne und Mond in ,Schwingung‘ versetzt, und dieses Schwingen läßt das Wasser steigen oder fallen. Wenn man nun ein einfaches Experiment macht und das Wasser in einer Schüssel durch vorsichtiges Bewegen ins Schwingen bringt, so wird man merken, daß die Mitte des Wasserspiegels stets annähernd die gleiche Höhe be­ 79

hält, während am Rand das Auf und Ab sehr viel größer ist, genau wie bei einer Schaukel, deren Adise audi an der gleichen Stelle bleibt, während die Sitze hoch- und niedergehen. Tahiti sitzt gleichsam auf so einer Schaukelachse. Und so kommt es, daß hier tatsächlich nur die Sonne auf das Wasser einwirkt und sich der Eintritt von Hochund Niedrigwasser nicht wie anderswo um jene 50 Minuten verschiebt, die vom Mond­ rhythmus abhängen. Ist das schon sonderbar, so wird es noch merkwürdiger, wenn manche Plätze nicht zwei Tiden am Tag haben, sondern nur deren eine. So ist es im Norton-Sund südlich der Seward-Halbinsel in Alaska und in Teilen des Golfs von Mexiko. Wie das kommt, wollen wir hier nicht auseinandersetzen - wer solche Fragen beantwortet wissen will, mag zu einem der Lehrbücher der Ozeanographie greifen, etwa zu der jüngst erschie­ nenen vorzüglichen ,Allgemeinen Meereskunde* von Günter Dietrich und Kurt Kalle, die freilich nicht amüsant zu lesen ist, sondern ernsthaft durchgearbeitet sein will. Die Gezeiten sind natürlich von größtem Einfluß auf die Schiffahrt. Solange wir uns auf hoher See befinden, merken wir selbstverständlich nichts vom Tidenhub. Doch das wird anders, sobald wir uns mit unserem Schiff der Küste und dem Hafen nähern. Die ungeheuren Wassermassen, die von Mond und Sonne in Bewegung gesetzt werden, sind durch nichts aufzuhalten, was von Menschenhand stammt. Wir haben uns ihrer Gewalt zu unterwerfen, und dort, wo das Auf und Ab von Ebbe und Flut größere Ausmaße annimmt, muß selbst das größte Schiff auf die günstigste Zeit zum Ein- oder Auslaufen warten. Manche schmalen Meeresstraßen oder Einfahrten haben einen so starken Tidenstrom, daß jede Schiffahrt dort nur bei Stillwasser zwischen Ablaufen und Auflaufen der Tide möglich ist. So gibt es in Grönland einen Platz, Soendre Stroemfjord, einst am Ende der Welt gelegen, heute vielen Tausenden von Fluggästen bekannt, weil sich hier ein Zwi­ schenlandeplatz für die Luftverbindung von den USA und Kanada nach Europa be­ findet. Der oberflächliche Betrachter mag nichts sehen als einen glatten und freundlich daliegenden Fjord. Außerhalb der engen Einfahrt zu diesem Fjord aber liegt eine kleine Insel, Simiutak - das ist ein Wort der Eskimo-Sprache und bedeutet soviel wie Ver­ schluß. Der Fjord ist in der Tat eine Riesenflasche, die sich im Wechsel der Gezeiten ständig selbst füllt und entleert, und die Insel bildet den Korken, der die Öffnung nicht ganz schließt. Stets, wenn ich auf dieser Insel stand, habe ich mit eigenen Augen sehen können, wie das Wasser gleich dem eines reißenden Stromes zweimal täglich hin­ ein- oder herausschoß. Früher konnten die Eskimos mit ihren fellüberzogenen Kajaks das Wasser nur zweimal am Tag für je eine halbe Stunde kreuzen. Und selbst heute, wo es dort schwere Motorboote gibt, muß man vorsichtig sein, auch dann, wenn das Boot mit acht oder zehn Knoten gegen die Srömung läuft. Ähnliches gibt es auch anderswo, und durchaus nicht immer nur in Fjorden. Wo gar Tide und Wind Zusammenwirken, kann manche Ein- oder Durchfahrt sehr schwie­ rig werden. Zu den bestbekannten Stellen dieser Art in den häufigst befahrenen Ge­ wässern gehört der Pentland Firth zwischen Schottland und den Orkney-Inseln. Hier ist der Tidenstrom von der Nordsee her und und in umgekehrter Richtung so gefährlich, daß selbst heute noch mancher Kapitän lieber einen weiten Umweg nach Norden macht, als sein Schiff den Bedingungen aussetzt, die entstehen können, wenn ein Nord8o

Westwind von einiger Stärke und die Ebbe Zusammenkommen. Den schweren Brechern des jSwiskie', wie ihn die Schotten nennen, sollte man auch wirklich aus dem Wege gehen. Viele Seeleute haben hier ihr Leben lassen müssen, und seit den Tagen der Wikinger ist der Pentland Firth gefürchtet. Früher meinten die Fahrensleute, daß heulende Geister Jagd auf die Schiffe und die Männer machten, die sich in dunkler Winternacht hierher wagten. Und selbst heute, an Bord eines modernen Schiffes, das mit seinen kräftigen und regelmäßig laufenden Maschinen durch die mit Leitfeuern und Richtfeuern wie eine Großstadtstraße beleuchtete Durdifahrt steuert, atmet jeder auf, wenn man Pentland Firth hinter sich gelassen hat. Die Seehandbücher mit den Segelanweisungen, jene unentbehrlichen Hilfsmittel mit ihren Angaben über Seezeichen, Ansteuerungen, Ankerplätze, Häfen, Strom-, Windund Eisverhältnisse sind voll von Warnungen vor Gezeitenströmungen und anderen Tidengefahren; die Erfahrungen, die unzählige Seeleute im Laufe der Jahrhunderte gesammelt haben, sind hier nutzbar gemacht. So kann zum Beispiel jeder Kapitän im »Alaska Pilot' nachlesen, daß es die Gezeiten sind, die in der Inselkette der Aleuten die größte Gefahr bedeuten. In Alaska, aber auch andernorts, kann man einem besonderen Gezeitenphänomen begegnen, das den Namen ,Bore‘ trägt. Das Wort kommt aus dem Indischen und be­ deutet eigentlich Flut. Was eine Bore in Wirklichkeit ist, erlebt man etwa am Amazo­ nas, wenn dort eine zehn Meter hohe Flutwelle flußaufwärts läuft. In Alaska sieht man eine ähnliche Erscheinung in einem Gewässer, das Turnagain-Arm heißt und im Be­ reich des Cook-Inlets liegt. Hier gibt es ebenfalls extrem hohe Flutwellen, oft neun Meter über Niedrigwasser. Seinen Namen hat der Cook-Sund, wie diese Bucht auch genannt wird, nach dem großen britischen Kapitän und Entdeckungsreisenden, der bei Hochwasser in den Turnagain-Arm einfuhr, um erleben zu müssen, daß bei Ebbe sein Shiff zwar nicht hoch und trocken, aber dafür in Schlamm eingebettet festsaß und erst nach sechs Stunden wieder freikam. Jede Bore (dieser Art jedenfalls) entsteht durch besonders ungewöhnliche Umstände. Die auflaufende Flut kommt nicht wie sonst langsam, allmählich und ohne eigentlich sichtbare Bewegung, sondern, wie wir schon sagten, mit einer hohen Welle, die eine Geschwindigkeit von 12 oder 13 Knoten haben kann. Zur Bedingung für das Auf­ treten der Bore gehört eine flache Flußmündung, ein Fjord oder eine Bucht mit Hinder­ nissen am Eingang, die einem normalen, stetigen Steigen des Wassers zunächst ent­ gegenstehen. Im Zusammenwirken mit einem aus der richtigen Ecke wehenden Wind staut sich dann die steigende Flut so lange, bis sie genügend hoch ist, das Hindernis zu überrollen und nun als steile, hohe Welle landeinwärts zu laufen. Am Turnagain-Arm, der einzigen Stelle, wo ich selbst eine solche Bore im Auflaufen erlebt habe, hört man die kommende Flutwelle schon einige zwanzig Minuten vorher; es klingt wie das Rauschen der Brandung. Für den, der Bescheid weiß, bedeutet ihr Nähern keine sonderliche Drohung, doch kann sie einem kleinen Boot etwa, das man ahnungslos auf den Strand gezogen hat, ernstliche Gefahr bringen. Die riesigen Kräfte, die in den von der Tide bewegten Wassermassen stecken, haben den Menschen schon seit langem zu der Frage angeregt, ob es nicht möglich sei, sie zu bändigen und zu nutzen. Man hat das an einzelnen Stellen in der Tat versucht. Es 8i

gibt Gezeitenkraftwerke - idi selbst habe sie in England in Betrieb gesehen doch reicht die in ihnen gewonnene Energie noch nicht aus, eine Stadt zu beleuchten oder eine große Fabrik mit Strom zu versorgen. Eine Methode benutzt Schwimmer, die an einem Träger auf und ab gleiten können; die auflaufende Flut drückt sie hoch, mit der ablaufenden sinken sie wieder hinab, und in beiden Richtungen kann diese Bewegung in Leistung umgesetzt werden. Bei einem anderen Verfahren läßt man das Meerwasser bei Flut in große Becken einströmen, aus denen es bei Ebbe ins Meer zurückfließt; der Höhenunterschied zwischen dem Wasserspiegel im Becken und dem des Meeres wird beim Ein- wie beim Auslaufen zum Antrieb von Turbinen benutzt. Vor vielen Jahren schon haben Ingenieure das Problem eines Gezeitenkraftwerkes in der Passamaquoddy-Bay in Maine (USA) zu lösen versucht, weil dort der Tidenhub besonders hoch ist. Die amerikanische Regierung hat auch in der Tat einige Millionen Dollars für die vorbereitenden Arbeiten zur Verfügung gestellt, dann jedoch das Pro­ jekt verworfen, und nicht anders ist es geblieben, als sich private Gesellschaften an die Lösung der gleichen Aufgabe machten. Ingenieure, die ich befragt habe, haben mir gesagt, es sei gewiß nicht allzu schwierig, Energie aus dem Auf und Ab von Ebbe und Flut zu gewinnen; das könne man fürs erste ganz sicher und ohne allzu riesige Kosten. Das, was die Sache verteuere, sei vielmehr die Tatsache, daß man Leitungen und Tur­ binen brauche, die dem chemischen Angriff des Salzwassers widerständen; außerdem aber liege Passamaquoddy so weit entfernt von jedem Großabnehmer elektrischer Ener­ gie, daß schon die Kosten der Übertragung das Projekt unwirtschaftlich machen. Das soll freilich nicht heißen, daß der Mensch nicht doch eines Tages Ebbe und Flut in seinen Dienst zwingt. Dann werden die Gezeiten nicht mehr nur ein Problem sein für die Schiffahrt, sondern auch ihren Beitrag zum Wohlstand der Menschheit leisten. Vielleicht will der eine oder andere Leser noch wissen, wie hoch der Tidenhub an der Nordseeküste ist. Er beträgt noch in Hamburg 2,20 Meter, in Cuxhaven schon 3,00 Meter, in Wilhelmshaven 3,80 Meter; bei Helgoland beträgt der Unterschied zwischen Niedrig- und Hochwasser 2,40 Meter.

WI N D E When wind comes before rain, Sun comes soon again. When rain comes before wind, get your small sails in.

Kommt der Wind vor*m Regnen, wird dir die Sonne bald wieder begegnen. Sollt’ Regen vor dem Wind eintreffen, mußt du die kleinen Segel reffen.

Dies waren einige der ersten Lektionen, die einst der ,Moses', der Schiffsjunge, von seinem Lehrmeister erhielt, der selbst nicht allzuviel oder gar keine Ahnung von jener Wissenschaft hatte, die heute als Meteorologie die Erscheinungen von Wetter, Witte­ rung und Klima erforscht und aus ihren Beobachtungen und Aufzeichnungen dem Seemann viel Nützliches, ja Unentbehrliches mit auf den Weg gibt. Immerhin - auch die alten Fahrensleute wußten schon allerlei von W^nd, Wolken und Wetter, aus eigenster Erfahrung und aus oft uralter Überlieferung. Und weil der Wind ja wohl - neben dem Wasser - das wichtigste für jeden Seemann ist, der auf den Planken eines Seglers steht, und nidit minder für jeden Fischer, der hinausfährt ums täglidie Brot, so ist es verständlich, daß Seeleute und Fisdier auch die ersten waren, die ver­ sucht haben, W^nd und Wetter vorherzusagen und damit die Bedingungen, unter denen sie zu arbeiten hatten. Die alten Verse freilich, die dort oben stehen, habe ich nicht immer als absolut sichere Regeln bestätigt gefunden. Die Landratte, vor allem wenn sie Stadtbewohner ist, muß nach dem Rauch der Schornsteine oder nach den Blättern am Baum schauen, um zu erkennen, ob sidi ein Lüftchen regt. Und oft genug kann man in der Stadt nicht sagen, woher der Wind weht, weil sich ihm vielerlei Hindernisse in Gestalt von Gebäuden entgegenstellen. Auf See gibt es nidits, was dem Wind im Wege ist, und das Wasser folgt seinem Wehen -- selbst die leiseste Bewegung kann man sofort erkennen. Mit dem Wort ,Wind' bezeichnet man eine Luftströmung. Verursadit werden die großen Windsysteme unserer Erde durch zwei gewaltige Kräfte, durch die V^rme der Sonneneinstrahlung und durch die Drehung der Erde um ihre Achse, während die lokalen Winde durch Temperaturuntersdiiede etwa zwischen Wald und Feld, zwischen Land und Meer oder zwischen Berg und Tal entstehen, wie man es an der See oder im Gebirge eindrucksvoll erlebt. Die drei hauptsächlichsten Störungen, die unregelmäßige Bewegungen in der Atmo­ sphäre entstehen lassen, sind die Zyklone, die Trombe (in Nordamerika Tornado ge­ nannt) und der Orkan, der im Angelsächsischen Hurrikan heißt. Sie unterscheiden sich grundsätzlich von den stetigen Winden, wie es die Passate oder Monsune sind. Eine Zyklone ist ein Gebiet tiefen Luftdrucks (eines barometrischen Minimums, einer Depression oder eines Sturmtiefs), das von Winden umkreist wird. Nach einer von dem niederländischen Meteorologen Buys Ballot aufgestellten Regel strömt dabei die Luft von Orten höheren Drucks nach solchen niederen Drucks, und zwar wird die Zyklone auf der Nordhalbkugel von den Winden entgegengesetzt der Uhrzeigerrich8 3

Seeräuber und Forsdier zugleich war William Dampier, der diese erstaunlich gute Karte

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tung umkreist, auf der Südhalbkugel im Sinne des Uhrzeigers. Wenn also ein Beobachter auf der nördlichen Hemisphäre seinen Rücken dem Wind zukehrt, so liegt das Tief­ druckgebiet links von ihm - auf der südlichen hingegen zu seiner Rechten. Spiralförmig wehen die Winde auf das Zentrum der Zyklone zu, und das ganze System kann mit einer Geschwindigkeit von etwa 30 Kilometern in der Stunde oder mehr dahinziehen. In Äquatornähe wandern die Zyklonen meist von Ost nach West, in höheren Breiten von West nach Ost. Die Zyklonen entstehen nach einer Theorie von Bjerknes an der - großen Schwan­ kungen unterworfenen - Grenzlinie zwischen den Luftmassen der Polargebiete und denen der Subtropen beziehungsweise der gemäßigten Breiten. Diese Grenzlinie, Polarfront genannt, ist die Brutstätte wandernder Tiefdruckgebiete, an deren Vorder­ seite wärmere Luft weit nach Norden strömt, während auf ihrer Rückseite Polar­ luftmassen äquatorwärts bis zu den gemäßigten Breiten Vordringen. An der Polarfront treten intensive Wettererscheinungen auf, wie man immer wieder im Wetterbericht hören kann. Sind mit dieser Erkenntnis die Zyklonen eingeordnet in ein Gebiet weltweiter Luft­ bewegungen, so ist die Trombe - der Tornado Nordamerikas - ein sehr heftiger lokaler Wirbel sturm, dessen innerer Durchmesser glücklicherweise selten mehr als 30 Meter, ausnahmsweise bis 400 Meter mißt. Wir sagten glücklicherweise; das hat seinen Grund, denn die Wirbelgesdiwindigkeit kann 60 bis 80 Meter in der Sekunde erheblich über­ schreiten. Was im kleinen die meist harmlosen Staub- oder Sandwirbel sind, die an heißen Tagen, oft vor dem Gewitter, über die Straße oder das flache Land tanzen, das sind im großen die Tornados. Auch sie bilden sich bei Gewitterlagen aus, wobei von der Unterseite der Wolke ein trichterförmiger Schlauch bis in Bodennähe herab­ reicht - die berühmte Wind- oder Wasserhose. Auf der Nordhalbkugel ist die Trombe meist wie die Zyklone gegen den Uhrzeigersinn gerichtet. Durch das sehr starke Druckgefälle im Innern des Wirbels können selbst Tiere und Menschen, Dächer und Häuser hochgerissen und kilometerweit davongeführt werden. Auf See saugt die Trombe manchmal gewaltige Wassermassen hoch und kann sie schließlich aus großer Höhe herniederstürzen lassen, so daß sie ein Schiff, das sich gerade dort befindet, buch­ stäblich überschwemmen. Solche Wirbelstürme sind auch verantwortlich für den so­ genannten ,Blutregen‘, wie er etwa im Osten von Australien vorkommt - dort ist die Ursache für die Färbung des Niederschlags mitgerissener rötlicher Staub -, und für das ,Regnen von Fischen und Fröschen*. So etwas, früher als unheilvolles Vorzeichen gedeutet, kommt äußerst selten vor, ist aber durch zuverlässige Augenzeugen gesichert. Als Orkan bezeichnet man im allgemeinen einen Sturm höchster Geschwindigkeit. Der Hurrikan ist ein vor allem in Westindien häufiges Sturmtief, das einen besonders großen Durchmesser hat, manchmal 450 Kilometer oder mehr. Das Tiefdruckgebiet wandert mit einer Geschwindigkeit von 15 bis 23 Stundenkilometern dahin, und die um das barometrische Minimum kreisenden Winde erreichen Geschwindigkeiten von 120 bis 150 Kilometern in der Stunde, gelegentlich 200, ja 300 Stundenkilometer. Bei den echten tropischen Orkanen, wie es die Hurrikane und die Taifune des west­ lichen Pazifik sind, kreist der \^rbelsturm um die Gegend des tiefsten Luftdrucks und springt in die entgegengesetzte Richtung um, wenn das ,Auge des Orkans*, das 86

wölken- und sturmfreie Zentrum, vorüberzieht. Die in Wcstindien entstehenden Hurri­ kane bewegen sich, solange sie in niederen Breiten bleiben, gewöhnlich west- oder südwestwärts; erst wenn sie höhere Breiten erreichen, ändern sie ihre Richtung nach Nord und Nordost. Das ist ein für den nordamerikanischen Kontinent höchst glück­ licher Umstand, denn auf diese Weise bleibt er von vielen Hurrikanen verschont, die im Karibischen Meer entstehen. Heute werden die Hurrikane von zahlreichen Wetter­ stationen sehr genau beobachtet und ihr Lauf verfolgt - die Meteorologen geben ihnen weibliche Namen, wenn sie mit Funk ihre Warnungen über Geschwindigkeit, Richtung und Ausdehnung des Hurrikans an Schiffahrt und Flugzeuge ausgeben. Dank dieses Warndienstes, der neuerdings auch mit Radarbeobachtungen der wandernden Hurrikane arbeitet, kann man an der Küste Vorkehrungen treffen, und die Schiffe auf See sind in der Lage, rechtzeitig ihren Kurs zu ändern. Rund um den Äquator, eher etwas nach Norden verschoben, erstreckt sich ein verhältnismäßig schmaler Gürtel tiefen Luftdrudts, der am reinsten über den Meeren ausgebildet ist. Diese ,äquatoriale Tiefdruckrinne* ist das Gebiet der Doldrums oder Mallungen, der äquatorialen Kalmen mit schwachen, veränderlichen Winden und häu­ figen Windstillen. Nördlich und südlich des äquatorialen Kalmengürtels steigt der Luftdruck, mannigfachen Schwankungen unterworfen, und wir kommen in Gebiete vorherrschend östlicher Luftströmungen, der Passate. Nahe der Erdoberfläche wird die Luftströmung durch die Erdumdrehung und die Bodenreibung so abgelenkt, daß sie sich unter etwa 20 bis 30 Grad zum Tiefdruckgebiet hin bewegt, und so kommt es, daß der Passat auf der Nordhalbkugel aus Nordost weht, auf der Südhalbkugel aus Südost. Die Passate zeichnen sich durch mittlere Windgeschwindigkeit (vier bis acht Meter in der Sekunde), große Beständigkeit und heiteres bis wolkiges, meist trockenes Wetter aus - sie heißen im Englischen mit gutem Grund ,trade winds - Handelswinde*, weil sie den Seglern so förderlich waren. Polare Windstille vürnerrscnend westliche, polwärts wehende Winde Subtropischer Kalmengürtel — Nordostpassat Äquatorialer Kalmengürtel Südostpassat Subtropischer Kalmengürtel

Polare Windstille —

>

Schematische Darstellung der großen Windsysteme 87

Der äquatoriale Kalmengürtel der Doldrums schwankt mit der Jahreszeit. Im Winter der Nordhalbkugel liegt seine Mitte nur wenig nördlich des Äquators, im Nordsommer jedoch verschiebt sich das Gebiet weit nach Norden hinauf - über der Sahara bis auf 18°, über Nordindien sogar bis auf 30° Breite. Es ist dies eine Folge der sommerlichen starken Erhitzung der großen Kontinentalmassen - es darf daran er­ innert werden, daß das Meer 60,7 Prozent der nördlichen Hemisphäre bedeckt, auf der südlichen aber 80,9 Prozent. Deshalb kann auf der Südhalbkugel auch ein Hochdruckgürtel sehr viel besser be­ obachtet werden, der bei etwa 30° Breite liegt. Man nennt dieses Gebiet das der sub­ tropischen Antizyklonen, von denen gleich die Rede sein wird. Es ist eine Binsenwahrheit, daß der Wind nichts Stetiges ist, daß die Winde man­ cherlei Wechseln unterworfen sind. Im Nordatlantik zum Beispiel sind die vorherr­ schenden Winde Westwinde. Damals, als man für die Schiffahrt nodi ganz auf den Wind angewiesen war, warteten die Kauffahrer, die für Island, Grönland oder Neufundland bestimmt waren, im Frühling auf den sogenannten ,Oster-Ostwind‘, einen steifen Wind, der sie quer über den Atlantik hinauf zur Davisstraße viel schnel­ ler und sicherer brachte, als wenn sie gegen den West- und Südwestwind hätten kreu­ zen müssen. Einen sehr auffallenden, weil sehr regelmäßigen und für den Menschen höchst wichtigen Wechsel der Windrichtung gibt es im Indischen Ozean. Die subtropischen Antizyklone oder der subtropische Hochdruckgürtel, wie er auch genannt wird, be­ herrscht die Wind- und Wetterverhältnisse im Indischen Ozean. In Nordindien erhitzt die Sonne den Sommer über das Land und damit die darüber liegenden Luftmassen sehr stark; die erwärmten Luftmassen werden leichter und steigen auf. Infolgedessen weht über den ganzen Indischen Ozean eine sehr breite Luftströmung, verursacht durch das ständige Ansteigen des Luftdrucks, von der subtropischen Antizyklone der Südhemisphäre her und erreicht Indien als Südwestwind - es ist dies der Südwestoder Sommermonsun. Während seines Dahinstreichens über viele tausend Meilen des warmen Indik-Wassers hat sich dieser Wind mit Wasserdampf beladen, und so kommt er nach Indien als warme und sehr feuchte Luftströmung. An den Küstengebirgen muß diese aufsteigen, kühlt sich dabei ab und verursacht den berühmten, ungemein reichen Monsunregen. So bleibt es bis zum späten September oder bis Anfang Oktober. Im Winter hingegen wird die Richtung gewechselt, der Nordost- oder Wintermonsun bläst genau aus der entgegengesetzten Ecke. Während des Monats April wird er schwächer, es folgt eine kurze Periode veränderlicher, meist leichter Winde; dann bildet sich Anfang Juni wieder die Depression, und der Jahreslauf des Monsuns kann wieder beginnen. Die Monsune sind seit mindestens 2000 Jahren von höchster Wichtigkeit für die Schiffahrt des Indischen Ozeans. Der uralte, regelmäßige Handelsverkehr zwischen Indien hier, Arabien und der afrikanischen Ostküste dort beruht ganz und gar auf dem halbjährlichen Richtungswechsel der Monsune. In den hohen Breiten der Südhalbkugel, wo kein Festland sich den Luftströmungen hindernd in den Weg stellt, können sich die dort vorherrschenden westlichen Winde zu voller Kraft entfalten. Die alten Fahrensleute haben ihnen Namen gegeben, die deutlich 88

genug erkennen lassen, was es mit ihnen auf sich hat. Hier, bei 40, 50 und 60 Grad süd­ licher Breite, ist das Reich der ,brüllenden Vierziger', der ,wütenden Fünfziger' und der ,gellenden Sediziger'. Die Polarfronttheorie des Norwegers Vilhelm Bjerksen führt das Entstehen der Zyklonen, wie wir schon sagten, auf die Begegnung zwischen den von den Polen abströ­ menden kalten Luftmassen mit denen der niedrigeren Breiten zurück. So wird es ver­ ständlich, daß die Wind- und Wetterverhältnisse an den Polen nicht nur für die Wis­ senschaft interessant sind, sondern auch für die Schiffahrt, den Luftverkehr und darüber hinaus eigentlich für alle Lebensbereiche - von der Landwirtschaft bis zur Urlaubs­ planung. Uns auf der Nordhalbkugel geht naturgemäß in erster Linie der Nordpol und seine Umgebung an. Grönland mit seinem ungeheuren Inlandeis ist in der Tat sehr weitgehend die ,Wetterküche' für Europa, Kanada und die USA. Und nun begreift man, warum die deutsche Wehrmachtführung während des zweiten Weltkrieges sich mit allen Mitteln darum bemüht hat, die Wetterverhältnisse auf Grönland zu kennen. Nicht weniger als 14 verschiedene Unternehmen wurden angesetzt, einige haben auch eine Zeitlang die wertvollen Informationen in die Heimat funken können, doch schließ­ lich sind sie alle durch die Verbündeten zum Scheitern gebracht worden. Die Windverhältnisse auf Grönland sind, stark verallgemeinert und vereinfacht, etwa diese: Wenn die zuströmende Luft über die riesige Eiskappe gelangt, so kühlt sie sich ab und wird schwerer als die sie umgebenden Luftmassen: Kalt fließt sie von dem Riesengletscher nach beiden Richtungen ab, nach Osten wie nach Westen. Jeder Forschungsreisende, der Grönland durchquert hat, hat dies erlebt; von welcher Seite er auch die Eiskappe angeht - stets hat er den Wind gegen sich, und der Marsch geht über harschen Schnee. In Mittelgrönland aber findet man dann gewöhnlich Windstille oder sehr leichte, veränderliche Winde, und meist liegt hier der Schnee weich und locker. Selbstverständlich können aber die Windverhältnisse zufällig auch einmal ganz anders sein und die schönsten Iheorien und Voraussagen zunichte machen. Die polare Kaltluft fließt schließlich immer weiter in das Gebiet niedrigerer Breiten ab, über den Nordatlantik hinweg nach Skandinavien, Großbritannien, Mitteleuropa in der einen Richtung, nach Kanada und den USA in der anderen. Dreimal täglich senden heute die Wetterstationen auf Grönland ihre Meldungen, die von den Meteo­ rologen aller Länder für die Wetterkarten und Sturmwarnungen ausgewertet werden. Nicht zuletzt dank diesen regelmäßigen Wetterberichten ist die Sicherheit der Schiffe, ihrer Fahrgäste, ihrer Mannschaften und Ladungen heute weit mehr gewährleistet denn je zuvor. Doch verstehen wir uns recht: Diese Sicherheit beruht darauf, daß die Menschheit gelernt hat, Vorsorge zu treffen. Das bedeutet etwa, daß ein Schiff, das rechtzeitig gewarnt wird, einem schweren Sturm ausweichen kann. Das heißt aber nicht, daß wir ,Wetter machen' könnten. Wie seit Urzeiten wehen die Winde - als schwerer Sturm oder als leichte Brise -, und gerade sie schaffen eine Verbindung zwi­ schen Land und Meer, so eng, wie sie keine andere Naturkraft herzustellen vermag.

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S tä rk e v o n W in d u n d S ee

Von einem wackeren, narbenbedeckten Veteranen der Royal Navy, Francis Beaufort, stammt die Idee, an die Stelle der unpräzisen, oft weitschweifigen Logbucheintragungen über die Wind­ verhältnisse auf See exaktere und knappere Begriffe zu setzen. Beaufort veröffentlichte die heute noch nach ihm benannte Skala 1805. Damals war er 31 Jahre alt, hatte aber schon einiges im Dienst der britischen Flotte mitgemacht; in einem Gefecht war er durch drei Säbelhiebe und sechzehn Musketenkugeln verwundet worden. Später - geadelt, Admiral und als Hydrograph bei der Navy tätig - durfte er es noch erleben, daß seine Skala allgemein anerkannt wurde. In neuerer Zeit sind zu den 12 Stufen der Beaufort-Skala 5 weitere hinzugekommen - Wind­ stärke 17 zum Beispiel bezeichnet eine Windgeschwindigkeit von mehr als 56 Metern in der Sekunde. In unserer Tabelle benutzen wir folgende Abkürzungen: m/sec = Meter je Sekunde; sm/h = Seemeilen je Stunde (1 sm/h ist zugleich 1 Knoten). 1 Seemeile = 1,853 km.

Stärke 0 1

Windbezeichnung Windstille leiser Zug

Geschwiiidigkeit sm^h m/sec

See

0,0-0,2

0-2

Kalme, spiegelglatte See

0,3-1,5

2,3

sehr ruhige See, leichte Kräuselwellen ruhige See leicht bewegte See mäßig bewegte See

2

flaue Brise

1,6-3,3

4,9

3

3,4-5,4

4

leichte Brise mäßige Brise

5,5-7,9

9,8 14,0

5

frische Brise

8,0-10,7

18,5

6

steife Brise

10,8-13,8

23,4

7

harter Wind

13,9-17,1

30

8

stürmischer Wind

17,2-20,7

34

9 10

Sturm starker Sturm

20,8-24,4 24,5-28,4

41 48

See rollt, Gischt verweht sehr hohe Wellenberge, See durch Schaum weiß

11

schwerer Sturm

28,5-32,6

56

außergewöhnlich hohe Wellenberge

12

Orkan

32,7-36,9

64

gewaltig schwere See, Luft mit Schaum und Gischt ge­ füllt, keine Fernsicht mehr

ziemlich grobe See, Schaumkämme grobe, unruhige See, größere Schaumflächen hohe See, Schaum­ streifen in Windrichtung hohe Wellenberge (über 7 m), Kämme beginnen zu verwehen

S T R Ö MU N G E N Immer und ewig ist der Ozean in Bewegung, und da alle Sieben Meere untereinander in Verbindung stehen, kann man damit rechnen, daß ein Wasserteilchen, das sich jetzt an einem bestimmten Ort befindet, eines Tages dorthin zurückkehren wird. Doch wann dies geschehen wird, vermag kein Mensch zu sagen - ob tausend Jahre darüber ver­ gehen, hundert Jahre oder weniger: wir wissen es nicht. Eine Reihe von Kräften, die Zusammenwirken oder sich entgegenarbeiten, formt die Strömungen, die es überall in der See gibt. Da gibt es mächtige und starke Ströme, deren Auswirkungen leicht erkennbar sind, und kleine, örtlich begrenzte Strömungen manche am Rande der größeren Hauptströmungen und gelegentlich mit ihnen ver­ schmolzen, viele aber auch fern von den ,Flüssen im Meer*. Wie entstehen solche Strömungen? Es gibt vielerlei Ursachen; hier begnügen wir uns damit, die wichtigsten aufzuführen. Wenn man auf einen Globus oder auf eine Weltkarte schaut, wird man sehen, daß nahezu alles feste Land nach Süden zu spitz ausläuft - Afrika und Amerika in ihrer Gesamtheit als Kontinent, Europa und Asien mit den Halbinseln Spanien, Italien, Griechenland, Arabien, Indien, Malaya und Korea. Auch für Kalifornien, Florida und Grönland trifft dies zu. Ganz unten im Süden, rund um den antarktischen Kontinent, ist nichts als Meer. Hier entsteht als Folge der Erddrehung und der vorherrschenden Winde eine mächtige Strömung; ungehindert, durch nichts gehemmt, kann diese Strömung sich sozusagen selbst in den Schwanz beißen. Es schneit, es regnet, im Sommer schmelzen die Eisberge und das Gletschereis selbst ab. All dieses hinzukommende Wasser braucht einen Ab­ fluß, denn über den Südpol hinweg kann es ja nicht. So wird die große antarktische Strömung, die Westwind-Drift, immer breiter und breiter, bis sie schließlich an ihrem Nordrand die Südspitzen der beiden Kontinente Amerika und Afrika erreicht. Sie lenken sozusagen das kalte antarktische Wasser äquatorwärts ab. Entlang der Westküste Südamerikas fließt es nun als Humboldtstrom gelegentlich nennt man ihn auch Perustrom. Er bringt sein kaltes Wasser, beladen mit Mineralien und Plankton, von Süden her bis zu den Galapagos. Die Luft über der Strömung wird abgekühlt, und zwar soweit, daß sie die Feuchtigkeit, mit der sie be­ laden ist, nicht einmal verliert, wenn sie an den Westhängen der Anden aufsteigt. Infolgedessen ist das Küstenland längs des Humboldtstroms trocken - im Gegensatz zu anderen tropischen Gebieten gleicher Breitengrade, die ihre alljährliche Regenzeit haben. Bei den Galapagos, deren südliche Inseln er noch umspült, wendet sich der Hum­ boldtstrom westwärts - er hat nunmehr fast genau den Äquator erreicht. Die Wendung nach Westen, mitbedingt durch die Erdrotation (genau wie es bei den Windsystemen der Fall ist), bedeutet zugleich die Begegnung mit einer von Norden her kommenden Strömung, die El Nino heißt und hier natürlich ebenfalls nach Westen abbiegt. Beide 91

Strömungen laufen nun parallel nebeneinander her. Wie stark die Auswirkungen solcher Strömungen sind, kann man hier sehr schön erkennen: Der südliche Teil der Galapagos hat extrem andere Temperaturen als der nördlidie, und auch das Meeresleben zeigt große Unterschiede. Ganz genau das gleiche wie an der Westküste Südamerikas geht an der westlichen Küste von Afrika vor sich. Auch hier wird kaltes Antarktiswasser nordwärts abgelenkt. Und die Auswirkungen dieses Benguela-Stromes sind denen des Humboldtstroms ganz ähnlich: Durch das kalte Wasser kühlt sich die Luft ab, Nebel bildet sich entlang der Küste, aber es fällt kaum Regen. Es gibt in Westafrika Gebiete, in denen im Jahr weniger als anderthalb Zentimeter Niederschläge gemessen werden. Und nicht viel anders ist es in Australien, wo der von der großen antarktischen Westwind-Drift ab­ gezweigte Westaustralien-Strom dafür sorgt, daß an der Küste nur Steppen und Wü­ stenlandschaften liegen. Die berühmteste aller Meeresströmungen aber ist der Golfstrom. Sein warmes Wasser ist von entscheidendem Einfluß auf das dichtbevölkerte West- und Nordwesteuropa bis zur Westküste Skandinaviens hinauf. Er ist die ,Warmwasserheizung Europas*. Es war verhältnismäßig wenig über diese Strömung bekannt, bis 1769 der große Ameri­ kaner Benjamin Franklin als Generalpostmeister eine erste Karte des Golfstroms ver­ öffentlichte, die nun zeigte, wie gleichsam ein Fluß quer durch den Atlantik lief. Angeregt zu dieser Karte war Franklin dadurch worden, daß er immer wieder Klagen hörte, warum es länger dauere, von Europa nach Amerika zu segeln als umgekehrt. Franklin ging diesem Problem nach und erfuhr, daß den Kapitänen der Walfang­ schiffe Neuenglands eine ostwärts gerichtete Strömung mit einer Geschwindigkeit bis zu fünf Kilometern in der Stunde wohlbekannt war. Nun - diese Walfänger, ebenso wie die Robbenschläger und die Fischer, wissen eine Menge von der Natur, in der sie leben und ihr hartes Brot finden, aber sie reden nicht viel davon. Sie sind schließlich keine Wissenschaftler und Naturforscher, und etwa gar darüber zu schreiben, wo und wie er seine besten Fang- und Fischgründe gefunden habe, konnte man damals von keinem Kapitän verlangen. Die Konkurrenz sollte schließlich selbst danach suchen. Die Walfänger also wußten sehr wohl, daß eine kräftige Strömung bei Kap Hatteras etwa sich nach Osten zu wenden beginnt und dann unter Einfluß westlicher Winde auf der Breite der Großen Bank genau ostwärts den Atlantik durchquert. Es ist leicht, diesen Strom zu verfolgen und seinen Lauf in eine Karte einzutragen, denn man kann ihn mit bloßem Auge sehen: Das Golfströmwasser ist tiefblau und klar, während das Wasser des Atlantik südlich und nördlich des Stroms grün und grau und meist auch trüb ist, voller mineralischer Schwebstoffe und erfüllt von tierischem Leben. Natürlich merkten sich die alten Walfänger die Farbe des Stromes nicht um der Farbe willen, sondern aus einem sehr einfachen, für sie viel wichtigeren Grund: Im Golfstrom selbst gab es keine Wale, während sie nördlich und südlich der blauen Strö­ mung anzutreffen waren. So kam es, daß die Walfangschiffe viele Male den klaren Fluß im Meer in beiden Richtungen queren mußten, und aus ihren Logbucheintragungen Ein überraschend ungewohnter Anblick, festgehalten von dem Meisterphotographen Feininger: Fischerboote vor den Wolkenkratzern New Yorks 92

Beginn und Ende kühner Meer­ fahrt unter Segel. Oben: ein Drachenschiff der Wikinger in originalgetreuer Nachbildung; unten: die ..Pamir \ die am 21. September 1957 als Segel­ schulschiff verlorenging

konnte man ersehen, wo dies jeweils geschehen war. Und aus diesen Angaben entstand die erste Karte des Golfstroms. Der Golfstrom hat die segensreiche Eigenschaft, daß er sich verzweigt und mit seinen Ausläufern '^rme und günstige Lebensbedingungen für die Pflanzenwelt in weite Gebiete bringt. Einer dieser Arme zieht an der Westküste von Grönland entlang - daß sidi diese in Flora, Fauna und menschlicher Besiedlung so ganz und gar von der kalten Eiswüste Ostgrönlands untersdieidet, ist dem Golfstrom zu verdanken. Auch die Südund Westküste von Island wird von einem Ausläufer des Golfstromes erreidit, und auf dieser auch sonst bemerkenswerten Insel wird es einem so redit deutlich, woher der Golfstrom eigentlich seinen Namen hat. Man findet nämlich an den Häusern armer Fischer längs der Südküste von Island immer wieder dicke Balken und Bretter aus Mahagoniholz, eine auf dieser baumlosen Insel schon sehr auffallende Tatsache. Dieses Mahagoniholz aber stammt dorther, wo auch der Strom herkommt: aus dem Golf von Mexiko. Die tropischen Edelholzstämme mögen - vielleicht sdion vor einigen hun­ dert Jahren - an der Küste von Kuba oder sonstwo in der Karibischen See ins Wä.sser gefallen sein, und dann hat sie der Strom mitgeschleppt bis zu dieser Insel im Nord­ meer. Heute allerdings werden hier keine Mahagonistämme mehr angeschwemmt; das klassische Kuba-Mahagoni ist so gut wie ausgerottet, und dort, wo verwandte Arten dieses Edelholzes noch wachsen, geht man sehr sorgfältig mit den Stämmen um und läßt sie sich nidit vom Golfstrom davontragen.

IVorm e S tröm e

Schematische Darstellung der großen Meeresströmungen 95

Auf dem weiten Weg über den Atlantik wird die Geschwindigkeit der Strömung herabgesetzt. Nun, vor Europa, fächert sich der Golfstrom auf. Unter seinem Einfluß wird das Klima Nordwesteuropas und der Westküste Skandinaviens ozeanisch mild. An Norwegen zieht der Golfstrom entlang und folgt hinter dem Nordkap schließlich der Küste der Kola-Halbinsel; bis Murmansk hält er die Häfen eisfrei. Die merk­ würdigsten Dinge bringt er selbst noch bis hierher. Im Museum von Alexandrowsk auf der Kola-Halbinsel - trotz seiner Lage so hoch im Norden hat auch der Hafen dieser Stadt das ganze Jahr über offenes Wasser - sieht man, was da vom Golfstrom heran­ getragen wird: Zweige und Äste aller möglichen tropischen Bäume, tote Insekten und anderes Getier warmer Länder, Geräte von Menschen, die jenseits des Atlantik unter heißer Sonne leben, und natürlich auch Dinge, denen man es ansieht, daß sie von Schilfen stammen, die den Golfstrom gekreuzt haben oder ihm gefolgt sind. Wir haben von verschiedenen Meeresströmungen gesprochen, aber wir dürfen dar­ über nicht vergessen, daß das Wasser, das irgendwohin fließt, auch irgendwoher kom­ men muß, und deshalb müssen wir abermals ans Ende der Welt gehen, genau wie am Anfang mit der antarktischen Westwind-Drift. Wie schon erzählt, liegt der Südpol im Innern eines von mächtigen Gletschern bedeckten Kontinents, der Nordpol jedoch inmitten des ringsum von Festland umgürteten Eismeers, das zu den südlicheren Ge­ wässern nur drei Ausgänge hat. Und wie im Fall der Antarktis, so braucht auch hier oben im Norden das sommerliche Schmelzwasser der Gletscher und Eisberge einen Auslauf. Hinzu kommt noch, daß in das Eismeer nicht wenige große Ströme münden, vor allem in Sibirien, aber auch in Kanada. All dieses ins Meer gelangende Wasser fließt nun durch die drei Ausgänge nach Süden. Durch die Beringstraße kommt als Kaltwasserströmung der Ujaschio, zieht an der Küste von Kamtschatka und den Kurilen entlang und dann dicht vor der Ostküste der japanischen Inseln - gleichsam eingepreßt zwischen der Küste und einer nordwärts gerichteten Strömung, dem Kuroschio. An der Ostseite Nordamerikas verläuft der kalte Labradorstrom, ebenfalls zwischen Neufundland und dem warmen Golfstrom. Daß die Küste von Maine kühl und das Wasser ziemlich kalt ist fürs Baden, hat seine Ursache natürlich in diesem Labradorstrom, der sich weiter südlich mit dem Golfstrom vereinigt - oder unter ihm hinwegführt. Die dritte große Strömung kalten Arktis­ wassers zieht an Ostgrönland entlang. So haben alle drei westliche Richtung und halten sich dicht an der Küste der Länder, die sie passieren. Mit der Strömung fährt man also in die Arktis, wenn man das Land an Steuerbord hat. Der Ostgrönlandstrom ist der mächtigste Ausfluß des kalten Arktiswassers. Mit sich bringt er Massen von Eis, ,storis‘, die er um den südlichsten Punkt von Grönland, Kap Farewell, herumführt. Hier begegnet der Ostgrönlandstrom einem Arm des Golf­ stroms. Vereint wenden sich beide nordwärts und nehmen Eis und Treibholz mit vor die Westküste von Grönland, manchmal fast bis zum Polarkreis hinauf. Wenn das Eis hier taut, so kommt das Treibholz frei und wird ans Ufer gespült. Der Labradorstrom bringt sein Eis aus dem Kane-Becken (zwischen der EllesmereInsel und Nordgrönland) und dem Lancastersund nördlich Baffinland und führt es als ,vestis‘ an der Küste dieser Insel entlang. Manchmal, in bösen Eisjahren, vereinigen sich ,vestis‘ und ,storis', und schließlich liegt das Eis im Norden von Neufundland und 96

der Belle-Isle-Straße, wo im Frühjahr Millionen von Robben auf dem Eis ihre Jungen zur Welt bringen. Der Hauptteil des Ostgrönlandstroms fließt durch die Dänemark-Straße zwischen Island und Grönland und trifft dann auf den Golfstrom, dessen Lauf er schneidet. Da das kalte Wasser schwerer ist als das warme, sinkt es ab - der Ostgrönlandstrom wird zu einer unterseeischen Strömung, die erst in äquatornahen Breiten wieder an der Oberfläche erscheint. Der Ostgrönlandstrom wurde erstmals von dem großen norwegischen Forschungs-

Ben]amin Franklins Karte des Golfstroms von 1769. Ein Walfänger aus Nantucket, Timothy Folgery berichtete dem damaligen Generalpostmeistery diese Strömung ermögliche es ihm und seinen Kameradeny aus den Häfen Neuenglands schneller nach Osten zu segelny während sie den Strom bei westlichem Kurs vermieden. Die Engländer abery so meinte Folger, seien ja *zu klugy um sich von simplen amerikanischen Fischern etwas raten zu lassen»y und deshalb dauere für sie eine Reise von Liverpool nach Boston zwei Wochen längery als notwendig sei 97

reisenden Fridtjof Nansen eingehend studiert. Treibholz, das aus Sibirien stammte, und ebenfalls an der westgrönländischen Küste geborgene Ausrüstungsgegenstände so­ wie ein Boot der vor Sibirien gescheiterten ,Jeanette‘-Expedition brachten dann Nansen auf den Gedanken, sich mit der Eisdrift zum Pol tragen zu lassen. Was der Strömung mit den Bäumen Sibiriens, was ihr mit den Zeugnissen vom Untergang der ,JeanettesExpedition möglich war - sie von Sibirien über den Pol hinweg oder wenigstens nahe an ihm vorbei, dann an der ganzen ostgrönländisdien Küste entlang und um Kap Farewell herum schließlich noch mehr als hundert Meilen die Westküste aufwärts zu driften -, das mußte sie auch mit einem Schiff können. Und so beschloß Nansen seine kühne Fahrt mit der ,Fram‘, von der auf Seite 264 ausführlich die Rede sein wird. Im Jahre 1937 ließ sich ein sowjetrussischer Forscher, Papanin, mit dem Flugzeug zum Pol bringen, schlug auf dem Treibeis sein Lager auf und ließ sich von der Strömung bis zum Februar des nächsten Jahres an der Ostküste Grönlands weit nach Süden tragen. Bei dieser Driftfahrt machte Papanin auch eingehende Beobachtungen über die Wassertemperaturen in verschiedenen Tiefen und fand dabei, daß unter dem kalten Strom, mit dem seine Scholle trieb, eine warme Strömung in entgegengesetzter Rich­ tung lief. Weiter entdeckte er, daß sich am Boden des Nördlichen Eismeeres, das eine Durchschnittstiefe von etwa 1200 Metern hat, ein unterseeischer Gebirgsrücken ent­ langzieht - von den Neusibirischen Inseln über den Pol hinweg bis nach Grönland. Dieser Papanin-Rücken erhebt sich jedoch an keiner Stelle über den Meeresspiegel. Die polnahen Gewässer sind freilich nicht die einzigen ,Quellen‘ der großen Meeres­ strömungen. Das gilt vor allem für den Golfstrom. Manchmal hört man, mehr oder weniger im Scherz, von Befürchtungen, die Amerikaner könnten sich daranmachen, den Lauf des Golfstroms abzulenken - was natürlich die schwersten Folgen für Europa haben würde. Allen Ernstes ist dieses Problem erörtert worden in der Zeit, als der Panamakanal geplant wurde. Ursprünglich nämlich hatten die Vereinigten Staaten die Absicht, die Landenge in Meereshöhe zu durchstechen - nicht, wie es jetzt ist, die Höhenunterschiede durch Schleusen zu bewältigen. Damals also meinte man, nun werde das Wasser des Golfs von Mexiko in den Pazifik auslaufen. Die einzig ver­ nünftige Antwort darauf war, daß kein von Menschenhand erbauter Kanal ausreichen würde, die Wassermassen des Golfstroms aufzunehmen. Denn an der Floridastraße hat dieser eine Breite von über 150 Kilometern und ist etwas mehr als anderthalb Kilo­ meter tief. Und da der Golfstrom eine Geschwindigkeit von drei Knoten hat, kann, wer Lust hat, nachrechnen, daß man einen Kanal von dem mehr als SOOfachen Fas­ sungsvermögen des Mississippi bauen müßte, um das Wasser des Golfstroms in den Stillen Ozean abzuleiten. Und schließlich hat man ja dann auch den Panamakanal mit Schleusen gebaut. Hier muß angemerkt werden, daß die Geschwindigkeit des Golfstroms südlich von Florida ihre Ursache in einer Erscheinung hat, die sich zunächst anhört wie Seemanns­ garn: Der Golfstrom fließt hier ,bergab‘. Der stetig wehende Nordostpassat staut nämlich das Wasser im Golf von Mexiko so auf, daß der Meeresspiegel am Südwest­ ende von Florida tatsächlich etwa 20 Zentimeter höher liegt als weiter draußen im Atlantik. Und an der Küste von Kuba sind es gar 45 Zentimeter! Man sieht, der alte Glaube, der Meeresspiegel liege überall in gleicher Höhe, ist ein Irrtum. 98

Die hauptsächlichen Strömungen an der Meeresoberfläche hängen zu einem guten Teil von den vorherrschenden Winden ab, aber es wirken noch andere Faktoren mit. Unter diesen spielt die Verdunstung keine kleine Rolle. Das läßt sich, wenn auch in kleinerem Maßstab, leicht im Mittelmeer erkennen. Gleich nördlich von Algerien liegt ein Gebiet, wo es nur wenig regnet und zudem gewöhnlich windstill ist. Hier brennt also die Sonne hernieder, mit dem Erfolg, daß viel Wasser verdunstet. Das zurück­ bleibende Wasser hat naturgemäß einen höheren Salzgehalt und wird damit schwerer. Dieses schwerere Wasser sinkt ab, und da ja schließlich im Meer kein Vakuum entstehen kann, fließt anderes Wasser nach, und zwar, wie naheliegt, durch die Straße von Gi­ braltar. Daher hat hier die Strömung eine west-östliche Richtung. Geht man aber tiefer, so kommt man auf eine weitere, aus dem Mittelmeer hinausführende Strömung. Deutsche U-Boote haben sich während des zweiten Weltkriegs diese beiden Strö­ mungen zunutze gemacht: Mit abgestellten Motoren, so daß die Horchgeräte von Gibraltar sie nicht ausmachen konnten, ließen sich die U-Boote von den beiden Strö­ mungen ins Mittelmeer hinein- oder heraustreiben. Ähnliche Strömungen wie vor der Küste Algeriens gibt es auch im Atlantik und im Pazifik. Diese verdanken ihr Dasein weitgehend den Unterschieden in der Dichte des Wassers, die wiederum in unterschiedlichem Maß von seiner Abkühlung oder Er­ wärmung und von der Verdunstung abhängt. In jedem der beiden großen Ozeane gibt es zwei Gebiete höchsten Salzgehalts im Oberflächenwasser, eines im nördlichen, das andere im südlichen Tropengürtel, beide voneinander getrennt durch eine Zone ge­ ringsten Salzgehalts ziemlich genau am Äquator: Diese entsteht hier einmal durch viel fallenden Regen, dessen Wasser im östlichen Atlantik vor allem auch durch die großen Ströme Kongo und Niger dem Meer zugeführt wird, und zum zweiten dadurch, daß hier untermeerische Strömungen arktischen und antarktischen Ursprungs an die Ober­ fläche kommen. Wir hatten ja schon beim Ostgrönlandstrom berichtet, daß er unter dem Golfstrom verschwindet und erst wieder in Äquatornähe erscheint. Auch von wei­ teren unterseeischen Strömungen weiß man, daß sie kaltes Polarwasser äquatorwärts führen; hier steigt das Wasser auf, wird erwärmt und fließt nun an der Oberfläche wieder zurück zu höheren Breiten. Dem Golfstrom im Atlantik entspricht im Pazifik der Japanstrom oder Kuroschio. Er kommt von den Philippinen her und zieht an der Ostküste der südlichen japanischen Inseln entlang. Dann trifft er auf den kalten Ujaschio, wie der Golfstrom auf den Labradorstrom trifft, wendet sich nun nach Osten und überquert den Nordpazifik, um schließlich - wiederum dem Golfstrom ähnlich, der bis zur Barents-See hinaufläuft den Golf von Alaska zu erreichen. Dort gibt es ein paar kleine Inseln, auf denen man allerlei Treibgut findet, das von den Philippinen oder Japan stammt oder von Schiffen aus diesen Gebieten. Der Kuroschio folgt dann der Westküste von Nordamerika, bis er sich vor Kali­ fornien und Mexiko mit dem Nordäquatorialstrom vereinigt, der nun in westlicher Richtung bis zu den Philippinen zieht als die längste Strömung der Erde: rund 9000 Meilen von Panama bis zu den Philippinen. Hier beginnt der große Kreislauf von neuem. Bei der Entstehung der Meeresströmungen spielen eine Hauptrolle die Winde, und 99

so kommt es, daß die Passate im Atlantik wie im Pazifik eine nach Westen verlaufende Strömung beiderseits des Äquators erzeugen; die Passate wehen aus Nordost und Südwest gegen den Äquator hin - dementsprechend verläuft nördlich des Äquators der Nordäquatorialstrom, südlich der Südäquatorialstrom und zwischen beiden innerhalb des äquatorialen Kalmengürtels der nach Osten gerichtete Äquatorialgegenstrom. Der Nordäquatorialstrom im Atlantik ist sozusagen die Fortsetzung des relativ kühlen Kanarenstroms, der seinerseits ein Abkömmling des Golfstroms ist. Man er­ kennt, daß sich so der Kreislauf im Uhrzeigersinne schließt: Der Nordäquatorialstrom treibt das Wässer ins Karibische Meer und staut es im Golf von Mexiko auf, so daß es von dort aus erwärmt und mit hoher Geschwindigkeit als Golfstrom den Weg ostwärts antreten kann, um dann seine Rolle als ,Wasserheizung‘ Europas zu spielen. Auf der südlichen Halbkugel herrschen ganz ähnliche Verhältnisse, nur daß das Wasser im entgegengesetzten Sinne strömt: Der kalte Benguela-Strom läuft, von Süden kommend, an der westafrikanischen Küste entlang und geht dann sozusagen in den Südäquatoriälstrom über, der sich schließlich vor dem ,Buckel‘ Ostbrasiliens in zwei Strömungen aufteilt. Etwa die Hälfte fließt in vorwiegend nördlicher Richtung an der südamerikanischen Küste entlang und vereinigt sich mit dem Nordäquatorialstrom, um so an der Entstehung des GolfStromes teilzuhaben; der übrige Teil zieht südwärts an der brasilianischen Küste entlang - diese Strömung heißt deswegen auch Brasilienstrom um sich etwa von der Höhe der La-Plata-Mündung aus ostwärts zu wenden und sich mit der antarktischen Westwind-Drift zu vereinigen, womit abermals der Kreislauf geschlossen ist. Nicht viel anders ist es im Pazifik. Auch hier fließen der Nord- und der Südäqua­ torialstrom in westlicher Richtung, und auch hier verläuft zwischen ihnen in entgegengesetzer Richtung der Äquatorialgegenstrom. Allerdings darf nicht übersehen werden, daß der Gegenstrom etwa 15 Breitengrade nördlich des Äquators seinen Weg nimmt. Im Stillen Ozean sind die Verhältnisse auch insoweit etwas unterschiedlich gegenüber denen im Atlantik, als der Nordäquatorialstrom Abzweigungen des Südäquatorial­ stroms nicht annähernd in dem gleichen Ausmaß aufnimmt. Und selbstverständlich wirkt sich auch die Tatsache aus, daß hier die Barriere fehlt, die im Atlantischen Ozean von Mittelamerika gebildet wird. Die Torres-Straße, die Sunda-Straße und weitere ,offene Türen* vom Pazifik zum Indik geben den Strömungen die Möglichkeit, nach Westen Ausläufer auszuschicken; in Richtung Nord und Süd jedoch sind die Verhält­ nisse denen im Atlantik sehr ähnlich. Der Südäquatorialstrom vereinigt sich schließlich - entgegen dem Uhrzeigersinne laufend - mit der Westwind-Drift im Südlichen Eis­ meer. Abermals ist der Kreislauf geschlossen, der sich an der südamerikanischen West­ küste mit dem Humboldtstrom fortsetzt. Der Indische Ozean hat im Gegensatz zu Atlantik und Pazifik seine Sonderheiten; er folgt den Regeln der beiden größeren - sagen wir: disziplinierteren - Ozeane nicht. Der Grund dafür ist leicht einzusehen; dem Indik fehlen nämlich die stetig wehenden Passate. An ihre Stelle tritt hier der Monsum mit seinem jahreszeitlichen Wechsel. So klein der Indische Ozean gegenüber den beiden anderen Weltmeeren ist, zeigt er doch hinsichtlich der Strömungen eine deutlich erkennbare Gliederung in zwei Teile. Im Süden zweigt von der antarktischen Westwind-Drift der Westaustralienstrom ab.

selbstverständlich auch er im entgegengesetzten Uhrzeigersinne verlaufend; von Australien weg wendet er sich als Südäquatorialstrom, der vom Pazifik her ,Zuflüsse* erhält, ostwärts bis nach Madagaskar hin, wo ein Teil in südlicher Richtung abfließt, um zum Schluß wieder in die Westwind-Drift einzugehen, während der andere Teil entweder als äquatorialer Gegenstrom den Kreislauf im südlichen Indik schließt oder in den nördlichen Übertritt, wo die Monsune die Strömungsverhältnisse je nach Jahres­ zeit beherrschen. Eines jedenfalls erkennen wir: Zwischen allen Meeren, sie seien groß oder klein, bestehen Verbindungen. Überall ist das eine Weltmeer, überall sind seine Sieben Meere in Bewegung - nicht nur in der Horizontalen mit den großen Strömungen an der Ober­ fläche, sondern auch in vertikaler Richtung mit den ,Dichteströmen‘, wie sie durch Unterschiede im Salzgehalt entstehen. Die Ostsee ist ein schönes Beispiel dafür, wie Meeresteile aussüßen können. Die Nordsee hat einen durchschnittlichen Salzgehalt von 3,0 bis 3,5 Prozent; mit ihr ist die Ostsee nur über das Kattegatt und das Skagerrak verbunden, und die Schwelle hier ist so schmal, daß nur wenig Salzwasser der Nordsee in die sonst ganz von Land umschlossene Ostsee einzudringen vermag, die ihrerseits nun wieder durch zahlreiche Flüsse Süßwasser erhält. Der Erfolg ist der, daß am Skagerrak der Salzgehalt noch 3,1 Prozent beträgt, an der Kieler Bucht jedoch 1,5 und östlich von Rügen nur noch 0,8 Prozent, während der äußerste Norden und Osten mit dem Bottnischen und Fin­ nischen Meerbusen fast Süßwasser haben.

WELLEN Jeder, der einmal erlebt hat, wie über eine eben noch spiegelglatte Wasserfläche plötzlich ein Wind streicht, wird auch bemerkt haben, daß sich im gleichen Augenblick das Wasser nach einem kurzen ,Zittern* zu kleinen Rippelwellen kräuselt, den ,Katzenpfötchen*, die nun in der Windrichtung dahinwandern. Die meisten Wellen, von der leisesten Bewegung des Wassers in der ,Erstlingswelle* bis zur gröbsten See, ent­ stehen auf diese Weise: durch die Tätigkeit des Windes. Es gibt auch noch andere, nicht vom Wind erzeugte Wellen, die sogenannten Flutwellen, die freilich mit Flut und Ebbe nichts zu tun haben, sondern die Folgen untermeerischer Vulkaneruptionen oder plötz­ licher Einbrüche am Meeresboden sind. Außerdem gibt es Wellen, die dadurch ent­ stehen, daß gewaltige Eisberge ins Meer stürzen, wenn in der Arktis oder in der Ant­ arktis die Gletscher ,kalben*. Man wird sich vorstellen können, was für Wogen aufbranden, wenn etwa von einem der mit über 100 Meter hohen Eismauern ins Meer abfallenden westgrönländischen Gletscher ein halber Kubikkilometer oder mehr Eis abbricht - 30 Meter hohe Wellen rasen dann über das Wasser des Fjords, und noch in 55 oder mehr Seemeilen Entfernung beträgt die Wellenhöhe zwei Meter.

Für den Beobachter an der Küste bieten die windgezeugten Wellen ein ganz unter­ schiedliches Bild, je nachdem, wie der Wind weht. Bläst er landeinwärts, so zeigen die Wellen ihre ganze Majestät: sie rollen in langen Zügen heran, schaumgekrönt, und türmen sich auf, bis sie sidi in der Brandung donnernd überschlagen. Ganz anders ist es, wenn der Wind von Land her weht. Dann erlebt der Beobachter ihr Werden. Bei ihren Untersuchungen über Werden, Wesen und Wirken der Wellen bedienen sich die Ozeanographen einer ganzen Reihe von Fachausdrücken; Unter der ,Fiöhe‘ einer Welle verstehen sie den Abstand von der tiefsten Stelle des Wellentals bis zu ihrem Kamm, unter ihrer ,Länge‘ die Entfernung von einem Wellenkamm bis zu dem der nächsten, unter ihrer ,Periode‘ die Zeit, die ein Wellenkamm benötigt, um von seinem augenblicklichen Standort den Platz des vorangegangenen Wellenkammes zu erreichen. Und als ,Wirklänge" (die angelsächsischen Meeresforscher benutzen hier den Ausdruck ,fetch‘) wird die Strecke bezeichnet, auf der ein Wind auf das Wasser wellenbildend einwirkt. Höhe, Länge und Periode der Wellen stehen in bestimmter Beziehung zur Wirklänge, zum Druck, den der Wind auf das Wasser ausübt, und damit zur Wind­ geschwindigkeit, zur Wassertiefe, zur Größe und zur Gestalt des Meeresraums und zu noch manch anderen Faktoren. Bis zu einem gewissen Punkt wädist die Höhe der Welle im Seegang an im Verhältnis zur Geschwindigkeit des Windes, der die Welle erzeugt. Wird die Welle jedoch etwa ein Siebentel so hock (gemessen, wie gesagt, vom Tal bis zum Kamm), wie die Entfernung von einem zum anderen Wellenkamm beträgt, so kippt sie oben über und bekommt eine Schaumkrone. Von etwa Stärke 7 der Beaufort-Skala an aufwärts fängt der Wind an, den Schaum von den Köpfen der See (denn der Fahrensmann nennt die großen Wellen ,Seen‘) wegzublasen, und es entsteht der Gischt. Das sind einige von den Bedingungen, die dafür sorgen, daß die Wellen sich dort, wo der Sturm ungehemmt über jede beliebige Entfernung und in gleichbleibender Rich­ tung dahintobt - wie im Südlichen Eismeer - nicht zu riesigen Wasserbergen auftürmen; einwandfrei gemessen hat man als höchste Wellenhöhe fast 20 Meter. Unter normalen Umständen erzeugt ein Wind von der Stärke 5 etwa fünf Meter hohe Wellen mit einer Länge von 50 bis 60 Metern (gemessen von Wellenkamm zu Wellenkamm) und einer Periode von etwa 6 Sekunden. Sehr übel können die Sturzseen einem Schiff mitspielen; eine solche Sturzsee ist ein Brecher, eine See also, deren Kamm sich überschlägt und nun Tonnengewichte stürzenden Wassers auf das Deck herniederdonnern läßt. Noch gefürchteter sind die Kreuzseen, die entstehen, wenn hohe Wellen aus verschiedener Richtung Zusammen­ treffen und sich übersckneiden. Es entsteht dann ein wildes, unübersehbares und un­ berechenbares Durcheinander von Wellenbergen und Wellentälern, die selbst für ein großes Schiff höchst gefährlich werden können, besonders wenn sie es von der Seite her packen. Läuft die See über ein Flach - eine Untiefe also -, so wird die Geschwindigkeit der Welle ebenso verringert wie ihre Länge, die Höhe aber bleibt, mit dem Erfolg, daß die Welle steiler wird; es entsteht die Grundsee. Man darf nun nicht etwa denken, daß die Wassertiefe dazu nur einige wenige Meter betragen darf. Grundseen bilden sich bei Sturm selbst noch bei 20, 30 und mehr Metern Wassertiefe - wie man es auf der Dogger-

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Die Fundy-Bay zwischen Neuschottumd und Neubraunschweig in Kanada^ die den größten Gezeitenhub auf der Erde hat, links bei Flut, rechts bei Ebbe

bank oder bei Borkumriff erleben kann. Besonders bös sind soldie Grundseen, wenn sich nach einem Sturm der Wind legt, und zwar ganz besonders für Segelschiffe. Ihnen kann eine Grundsee gefährlicher werden als ein Sturm, vor allem dann, wenn sie noch viel Segel führen. Das Schiff vermag ohne Wind ja nicht Kurs zu halten, und wenn es nun schwer in der Grundsee rollt, kann es ohne weiteres geschehen, daß ihm die Masten weggesdilingert werden. Wir haben bisher von den Wellen so gesprochen, als wandere mit ihnen das Wasser selbst über das Meer dahin. Glücklicherweise ist das jedoch nicht so - kein Schiff ver­ möchte der Wucht so bewegter Wassermassen zu widerstehen, und nur ganz wenige Küsten würden ihnen standhalten können. Nicht das Wasser bewegt sich vorwärts, sondern eigentlich nur die Wellengestalt. Man denke einmal an die Wellen, die der Wind über ein Kornfeld laufen läßt, um zu verstehen, was gemeint ist. Die Ähren bleiben ja an ihrem Platz; sie heben und senken sich lediglich unter dem Druck des Windes rhythmisch, und so entsteht das Bild der fortlaufenden Welle. Ganz ähnlich ist es bei der Wasserwelle: jedes Wasserteilchen schwingt sich in einer Kreisbahn herum, deren Durchmesser gleich der Wellenhöhe ist. Gleichzeitig schreitet jedes einzelne Wasserteilchen auch ein wenig vorwärts, jedoch nur mit ein oder zwei vom Hundert der Geschwindigkeit, mit der die Welle selbst davoneilt - es ist, als habe das Wasser­ teilchen seinen Platz auf einem umlaufenden Rad, das in der gleichen Richtung rollt, in der die Welle voranschreitet. Mathematisch gesehen handelt es sich also nicht um eine Kreisbewegung, sondern das Wasserteilchen bewegt sich in einer ,Rollkurve‘, und unter dem Druck des Windes verändert sich außerdem die Kreisbahn zur Ellipse. Das eben Gesagte gilt für Wasserteilchen an der Oberfläche; weiter unten befindliche haben entsprechend kleinere Kreisbahnen, und mit zunehmender Wassertiefe wird die Wellenrätigkeit immer geringer. Jenseits von etwa 180 bis 200 Metern ist das Meer absolut still, auch wenn oben noch so schwere Stürme toben und noch so grobe Seen brechen. Wellen können außerordentlich weite Strecken - fast um die halbe Welt - zurück­ legen: Manche Brecher, die sich an der südwestlichen Ecke Englands donnernd über­ schlagen, sind quer über den Atlantik aus der Gegend von Kap Hoorn gekommen über eine Strecke von mehr als 6000 Seemeilen! Die meisten der hohen Wellen allerdings, die wir an den Küsten Europas oder Nordamerikas sehen, stammen aus dem Sturmgebiet im Nordatlantik östlich von Neufundland und südlich von Grönland und Island. Auch moderne Schiffe haben durchaus mit der Wirkung der Wellen zu rechnen. Die meisten Frachter heute haben einen flachen Boden und rollen infolgedessen viel leichter als Segelschiffe mit tiefliegendem, scharfem Kiel. Höhe und Art der Bewegung eines Schiffes im Wellengang wird vor allem aber bedingt durch seine Länge. Ein kleines Fahrzeug, das ,mit der halben Welle* geht, hält sich in grober See sehr oft erheblich besser als andere, die anderthalb Wellenlängen oder mehr messen, denn ein kleines Schiff behält seine Stabilität und reitet die Wellen ab wie eine Möwe, die sich vom Auf und Ab der Wellenberge und -täler tragen läßt. Ich selbst habe den Atlantik vielmals in kleinen Fahrzeugen dieser Art gekreuzt, und zwar bei allen Arten von Wetter; oft Vollschiff in grober See hei Kap Hoorn 107

genug spritzte nicht ein einziger Tropfen Wasser an Dedc, und man konnte dort, wenn man Lust hatte, selbst seine Pantoffeln anbehalten sogar bei ziemlich grober See. Den großen Passagierschiffen von heute mit Abmessungen von zwei, drei und mehr Wellenlängen macht der Seegang kaum etwas aus, soweit sie die Wellen senkrecht schneiden. Anders wird die Sache schon, wenn dies unter kleinerem Winkel geschieht der seitliche Seegang bringt das Schiff ins Schlingern, das heißt, es dreht sich um die waagredite Längsachse. Man hat eine ganze Reihe von Einrichtungen zur Verfügung, um dieses für den nicht mit dem Meer vertrauten Fahrgast sehr ärgerliche Pendeln des Schiffes zu dämpfen; es gibt Schlingerkiele und Schlingerkreisel, vor allem aber die Schlingertanks, die so gesteuert werden können, daß ihr Wasserinhalt den rollenden Bewegungen des Schiffes entgegenwirkt. Schiffen, die nicht kurz genug sind, die ,halbe Welle* abzureiten, aber auch nicht lang genug, daß sie über zwei oder mehr Wellenlängen hinwegreichen, kann es unter Um­ ständen sehr übel ergehen. So geschah es einmal bei einem Manöver von Zerstörern, die mit hoher Geschwindigkeit durch grobe See fuhren, daß eines der Kriegsschiffe plötzlich mittendurch brach und in wenigen Sekunden unterging. Es gab damals Leute, die vermuteten, der Zerstörer sei im Augenblick der Katastrophe nur mittschiffs von einer Welle getragen worden, während Vor- und Achterschiff frei in die Luft ragten; das Schiff, in erster Linie auf hohe Geschwindigkeit gebaut, vermochte dieser unvorher­ gesehenen Belastung nicht standzuhalten. Andere meinten, das Unglück sei dadurch ent­ standen, daß Bug und Heck vom Wasser getragen wurden, der Zerstörer aber mittschiffs sozusagen in der Luft hing. Wie es auch gewesen sein mag - auf jeden Fall hatte das Schiff nicht die richtige Länge. Die größte Wellenhöhe, die je exakt gemessen worden ist, betrug fast 20 Meter; beobachtet wurde dies anläßlich einer Vermessungsfahrt der ,San Francisco* im winter­ lichen Nordatlantik. Auch bei Orkanen kommen solche Wellenhöhen vor. Kein Segel­ schiff kann bei solch einem Naturereignis seinen Kurs halten. Bei schwerem Sturm liilft nur eins: es muß beidrehen, daß heißt die Stagsegel müssen backgesetzt werden, so daß sie den Wind sozusagen von der falschen Seite einbekommen. Das Schiff ,liegt* dann ,bei* und treibt. Ist die nächste Küste weit genug entfernt, so ist eigentlich das Schlimmste überstanden, die Gefahr nämlich, auf Strand geworfen zu werden. Das Steuerrad wird festgelegt, und nur ein Mann geht Wache, während sonst zwei Mann hart zu tun haben, solange das Schiff mit dem Wind kämpft. Jetzt rollen die schweren Seen heran, laufen unter dem Schiff durch, verschwinden achtern, und die Bewegung ist verhältnismäßig sanft. In einem richtigen Orkan werden überhaupt keine Segel mehr gefahren - der Seemann nennt diesen Zustand ,Topp und Takel*. Auch die größten modernen Schiffe müssen der schweren See ihren Tribut zollen und mindestens für einige Zeit beidrehen. Das Heck wird gegen den Wind und die Wellen gestellt, und gleichzeitig läßt man die Schraube langsam rückwärts laufen, so daß das Schiff die Wellen schneiden kann. Auf hoher See können die Wellen bei Windgeschwindigkeiten von 60 und mehr Seemeilen stündlich - das heißt bei Orkan - eine überraschend regelmäßige Gestalt und Höhen von 13 bis 20 Metern erreichen. Die nachstehende Tabelle gibt für die Wind­ stärken der Beaufort-Skala die jeweiligen Höhen und Längen der Wellen an. io8

W in dstä rk e , W el len h ö h e u n d - länge

Windstärke nach Beaufort

Wellen Höhe in m

Länge in m

0

0

0

1

unter 1

5-10

2

1

11

3

2,2

30

4 5

3.2 4.2

45 55

6

5.3

95

6,5-7,7

130-160

9,3-10,8

210-255

13-20

325-550

7 8 9 10 11 12

Die Gesdiwindigkeit der Wellen hängt von einer großen Anzahl verschiedener Faktoren ab - böige Winde zum Beispiel stören den regelmäßigen Wellenlauf -, doch kann man nach den Messungen etwa sagen, daß folgende Beziehungen bestehen:

Windstärke nach Beaufort

Windgeschwindigkeit Seemeilen/Stunde

Wellengeschwindigkeit Seemeilen/Stunde

0

0-2

0

1

2,3

4-6

2 3 4

4,9 9,8 14,0

7,4 13,7 17,5

5

18,5

6

23,4

21 24,3

7

30

8

34

9

41

10

48

11 12

56 64

27,3-30,8 35,0-39 44-58

109

Wenn die Wellen das Sturmgebiet, in dem sie entstanden sind, verlassen, so laufen sie selbstverständlich weiter, auch bei völliger Windstille und über viele tausend See­ meilen. Diese Art des Seegangs bezeichnet man als Dünung. Je weiter die Dünung fortsdireitet, desto mehr verringert sich die Wellenhöhe, während die Wellenlänge zu­ nimmt. Auch die Geschwindigkeit wächst, so daß die Dünung schneller wird als der Wind, dem sie ihre Entstehung verdankt. Im Durchschnitt hat eine solche Dünung eine Geschwindigkeit von etwa 15 Meilen in der Stunde. Für den Seemann bedeutet eine Dünung, auf die er trifft, entweder den Vorboten eines Sturmes oder aber ein Zeichen, daß Sturm gewesen ist, der nun abklingt oder sich bereits gelegt hat. Recht oft laufen Dünung und neu entstehende Wellen durcheinander, so daß ein verwirrendes Bild des Wellenganges entsteht. Aber schon ein wenig Erfahrung läßt den Seemann unterscheiden, in welcher Richtung die Dünung verläuft und in welcher die neu vom Wind erregten Wellen. Neuere Beobachtungen lassen auch Aussagen zu, woher die Wellen kommen. Das Südliche Eismeer beispielsweise sendet seine Wellen oder Dünungen weit hinauf zum Atlantik, Pazifik und Indik - im Pazifik kann man sie manchmal bis nördlich von Kalifornien, ja bis nach Alaska verfolgen. In alten Reiseberichten und Abenteuergeschiditen ist oft die Rede von ,bergehohen' Wellen mit 30 und mehr Metern Höhe. Der Wind vermag im allgemeinen solche Wellenberge nidit zu erzeugen - je stärker der Wind wird, desto mehr werden ja auch die hohen Wellenkämme weggeblasen. Immerhin gibt es mindestens «eine Meldung von einer Riesenwelle, die auf Grund der angewandten Messungsmethode als zu­ verlässig akzeptiert zu sein scheint». Rachel Carson berichtet über dieses Phänomen in ihrem Buch ,Geheimnisse des Meeres': «Im Februar 1933 geriet die U. S. S. ,Ramapo‘ auf ihrer Fahrt von Manila nach San Diego in einen siebentägigen Sturm. Der Sturm war ein Teil einer Tiefdruckstörung, die sich über die ganze Entfernung von Kam­ tschatka bis nach New York erstreckte und den Winden eine ununterbrochene Wirklängc von mehreren tausend Meilen erlaubte. Auf der Höhe des Sturmes schlug die ,Ramapo‘ einen Kurs ein, der mit dem Wind und mit der See zusammenging. Am 6. Februar erreichte der Sturm seine größte Heftigkeit. Winde von 68 Knoten kamen in Stößen und Böen heran. Während einer der Offiziere der ,Ramapo‘ in den frühen Morgenstunden des Tages die Wache hatte, sah er im Mondlidit von achtern eine hohe See aufsteigen, deren Niveau höher war als ein bestimmtes Eisenband am Krähennest des Topmastes. Die ,Ramapo' lag eben, und ihr Heck befand sich im Wellental der See. Diese Umstände ermöglichten eine gerade Sichtlinie von der Brücke bis zur Kimm der Woge, und einfache mathematische Berechnungen, die auf den Dimensionen des Schiffes beruhten, ergaben die Höhe der Welle. Sie betrug 34 Meter.» Ein gutes Schiff mit befahrenen Seeleuten fürchtet auf hoher See weder schweren Sturm noch hohen Wellengang. Anders aber wird das unter der Küste. Die gleichen Wellen, denen man draußen mit Gelassenheit begegnet, können jetzt das Schiff auf den Strand werfen und in Stücke schlagen. Die zerstörerische Kraft des Wassers, das sich nun als Brandungswelle krachend bricht, ist von unvorstellbarer Gewalt. 30, ja 90 Meter hoch hat die Brandung schon Steine durch Leuchtturmfenster geschleudert, und mächtige Betonbauten sind unter ihrer Wucht zerbrochen wie Spielzeug.

Der Vater des Dichters Robert Louis Stevenson, dem wir die herrliche Erzählung ,Die Schatzinsel*, die ,Südseegeschichten‘ und ,Das Flaschenteufelchen* verdanken, war vielleicht der erste, der versucht hat, die Energie zu messen, die in einer Brandungs­ welle steckt. Mit einem selbst verfertigten Instrument stellte er seine Beobachtungen an und kam zu dem Schluß, daß eine Brandungswelle mit einer Kraft von vier Tonnen auf den Quadratzentimeter herniederbrechen kann. Spätere Untersuchungen haben ergeben, daß diese Schätzung noch zu tief liegt. An vielen Küsten haben die Brandungs­ wellen gezeigt, daß sie auch vor den stärksten menschlichen Bauwerken nicht halt­ machen: In 'Wiek an der nordöstlichen Ecke von Schottland hat die Brandung einen neuen Pier, der 2600 Tonnen Gewicht hatte, fortgerissen. Auch auf hoher See können schwere Brecher böse Verwüstungen auf dem Schiff anrichten, auf das sie herniederkrachen: Man hat erlebt, daß sie massive Eisenstangen einer Reling wie Zwirnsfäden verdreht haben. Doch ist das immer noch nichts gegen die Gewalt der sich an der Küste überschlagenden Brandungswelle. Als bei dem alten Leuchtturm von Eddystone, der 1840 gebaut worden ist, die schwere eiserne Tür zum Turm trotz Bolzen und Riegeln herausgebrochen war, wollte man an übernatürliche Kräfte glauben, denn nur solchen traute man diese Gewaltleistung zu - und doch war es ,nur* die 'Wirkung der Brandung. Das ununterbrochene Anlaufen der Brandung gegen die Küste verändert deren Gesicht langsam, aber sicher. Meile um Meile festen Landes wird abgetragen, das Fort­ gerissene an weit entfernter Stelle angeschwemmt, selbst härtestes Gestein wird an­ genagt, unterwühlt, ausgewaschen, zum Einsturz gebracht und fortgespült. Es gibt zwar kleine, unbedeutende Sandbänke, die Jahrhunderte hindurch der Brandung standhalten, aber auffallender ist und bleibt die zerstörende Arbeit der Brandung. Das berühmte Kap Cod in Massachusetts zum Beispiel verliert Jahr für Jahr mehr und mehr von seiner Strandlinie, und man schätzt, daß in etwa 8000 Jahren das Kap völlig verschwunden sein wird, falls nicht irgendein Naturereignis das doch wieder aufbaut, was jetzt zerstört wird. 'Wer an der Küste wohnt, wo die 'Wellen ununterbrochen rauschen und die Brandung ihr brausendes Lied singt, hört nicht mehr auf diese vertrauten Geräusche. Er stutzt erst, wenn sie plötzlich verstummen. So war es am 1. April 1946 auf Hawaii - jäh brachen sie ab. Was war geschehen? Bis 150 Meter hatte sich das Meer vom Strand zurück­ gezogen - und dies war der Beginn einer schweren Flutkatastrophe, die ihren Ursprung viele tausend Kilometer entfernt hatte. Vor der Aleuten-Insel Unimak hatte sich ein Seebeben ereignet, und nun rasten die dabei entstandenen ,Flutwellen* - die man nach dem Fachausdruck ,Seismik* für Erdbebenkunde besser seismische 'Wellen nennt heran, die erste fünf Meter hoch; die dritte, eine halbe Stunde später, ließ das Wasser 15 Meter ansteigen, neun Meter über die Springflutmarke, und drängte es 800 Meter landein. Häuser wurden ins Meer gerissen, ja selbst Felsen und mächtige Betonblöcke, und 150 Menschen kamen um. Das überraschendste an dieser aus 3600 Kilometern Entfernung über Hawaii herein­ brechenden ,Flut* war, daß man auf hoher See diese seismischen 'Wellen kaum bemerkt hatte. Die durch das Erdbeben vor den Aleuten erzeugten Wellen waren auf dem 4?ffenen Meer nämlich nicht höher als 60 Zentimeter, aber zwischen ihren Kämmen

lagen 185 Kilometer - eine Wellenlänge, die von windgezeugten Wellen niemals erreidit wird. Geradezu ungeheuer war die Geschwindigkeit: Die Wellen brauchten weniger als fünf Stunden, um die Strecke zwischen den Aleuten und Hawaii zu durchrasen mit einer durchschnittlichen Geschwindigkeit von 770 Kilometern stündlich! Man be­ denke, daß eine normale Dünung, die mit vielleicht 24 Kilometern in der Stunde dahin­ eilt, noch nicht einmal ein Dreißigstel dieser Geschwindigkeit leistet. Bis Valparaiso in Chile, das vom Bebenherd fast 13 000 Kilometer entfernt ist, brauchte die fürchterliche Welle nur 18 Stunden und sechs Minuten, und auf dem Dutch-Kap in Alaska, das natür­ lich sehr nahe lag, wurde ein Leuchtturm, der 30 Meter über dem Strand stand, einfach weggeschwemmt. Japan wird von solchen seismischen Wellen am häufigsten heimgesucht: «durch­ schnittlich treten dort einmal in 15 Jahren Tsunamis» - so nennt man in Japan diese Flutwellen - «von über 7,5 Meter Höhe auf. Seit 684 n. Chr. ereigneten sich vier Tsu­ namis mit über 30 Metern Höhe» (Dietrich). Die seismischen Wellen, die durch den Krakatau-Ausbruch im Jahre 1883 entstanden, erreichten vor den Sunda-Inseln bis über 35 Meter Höhe und kosteten 36 830 Menschen das Leben. Nur eines gibt es in der Natur, was die Wellen des Meeres zu bezwingen vermag das Eis. Oft ist es in der Arktis und in der Antarktis zur Zuflucht für die Schiffe ge­ worden. Nahe am Packeis freilich kann der Wellengang äußerst ärgerlich sein, aber sobald der Rand des Treibeises erreicht ist, legen sich die Wellenkämme, und je weiter das Schiff ins Packeis hineingerät, um so ruhiger wird die See. Schon nach einigen wenigen Meilen liegt das Wasser so glatt wie auf der Oberfläche eines kleinen Binnen­ sees, obwohl der Wind noch durch das Takelwerk pfeift.

Die Schiffe der Sieben Meere

D IE A N FÄ N G E Mit was für Fahrzeugen sich die Menschen erstmals aufs Meer hinausgewagt haben, ob sie mit ihren Booten die Flüsse abwärts gekommen sind und dann schließlich die See für sich erobert haben, oder ob die ersten Seefahrer Fischer waren, die bereits ihre Erfahrungen an geschützten Küsten, in Lagunen und Flaffen gesammelt hatten - über diese Fragen ist viel diskutiert worden. Die Auslegerboote der Südseeinsulaner, die fellbespannten Kajaks und Umiaks der Eskimos, die Flöße der vorkolumbischen India­ ner Südamerikas - sie sind Beispiele dafür, wie die ersten seegehenden Fahrzeuge der Urzeit ausgesehen haben mögen.

U lli

Nur Felszeichnungen künden uns heute noch von den Anfängen der Schiffahrt. Oben drei Reihen von späteiszeitlichen und bronzezeitlichen Floß- und Schiffsdarstellungen aus Bohuslän in Südschwedeny links unten ein Schiff von einer gesprungenen Elfenbeinplatte aus dem früh­ dynastischen Ägypten, darüber eine Felsgravierung von Gran Canaria. Rechts vier jungstein­ zeitliche Schiffszeichnungen von Megalithbauten der Bretagne. Verblüffend ist die große Ähn­ lichkeit all dieser Darstellungen, ln der Mitte unten ein vom Weißen Meer stammendes Felsbild, das eine Waljagd zeigt 1

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Es darf wohl als sicher angenommen werden, daß der Mensch schon lange und weite Reisen über See unternommen hat, bevor er auf dem Festen nur einige wenige Meilen wanderte. Das Meer bot sich vielerorts als eine wesentlich bequemere Verkehrsstraße an als das Land, auf dem sich unwegsame Gebirge, Urwälder und Moore rund um die ersten Ansiedlungen einer frühen Menschheit erstreckten. Und in der Tat finden wir weltweit verbreitet Felszeichnungen, die mehrere Jahrtausende alt sind und eine oft überraschende Ähnlichkeit der dargestellten Boote, Flöße oder Schiffe zeigen, so daß immer wieder die Theorie vertreten wird, bereits lange vor dem Anbruch der geschicht­ lichen Zeit hätten Seevölker viele Tausende von Meilen befahren und ihre Kultur bis an ferne Küsten getragen. Die Welt hat inzwischen vielerlei Boots- und Schiffstypen unterschiedlichster Art kennengelernt; schnell ist dabei das Ältere überholt und oft völlig vergessen worden. So war es beispielsweise mit dem Balsafloß, das erst in unseren Tagen durch den nor­ wegischen Völkerkundler und Forschungsreisenden Thor Fieyerdahl wiederentdeckt worden ist. Als Fleyerdahl in den Flochwüsten von Peru Grabstätten der versunkenen Indianerkulturen studierte, kam er auf die Lösung eines alten Rätsels. In diesen Grä­ bern nämlidi, und zwar gerade in den sehr alten, waren lange, schmale Holzplatten ge­ funden worden, die an einem Ende eine Einkerbung als Griff besaßen. Sie waren mit großer Sorgfalt aus einem eisenharten Holz hergestellt, oft aus dem schweren Algarrobaholz, das in frühen Kulturen Südamerikas, die weder Eisen noch ein anderes har­ tes Metall kannten, vielfach zu Werkzeugen verarbeitet wurde. Diese Holzbretter jedenfalls, nachdem sie erst einmal in verschiedene Museen gekommen waren, gaben Anlaß zu mancherlei Theorien. So kann man wohl auf dem Etikett lesen, es handele sich um «Rang- oder Standessymbole, die vielleicht in Prozessionen mitgeführt wurden». Auffallend war nur, daß diese mysteriösen Gegenstände stets zusammen mit Geräten gefunden wurden, die in irgendeiner Beziehung zur See standen, beispielsweise mit langen Riemen (zum Rudern), und zudem mit offensichtlich aufs Meer bezüglichen Symbolen geschmückt waren. Dr. Heyerdahl stellte fest, daß es sich bei diesen Brettern, die er nicht nur aus Grabfunden, sondern auch in alten Büchern, alten Zeichnungen und schließlich durch eigenste Erfahrung kennenlernte, weder um Rang- und Standes­ symbole noch um Riemen oder Steuerruder handelte, sondern um versenkbare Kiel­ bretter, dazu bestimmt, die großen, hochseetüchtigen Flöße der Indianer manövrier­ fähig zu machen. Daraus konnte dann aber weiter mit Sicherheit geschlossen werden, daß diese Flöße auch Segel gehabt haben müssen, denn naturgemäß ist ein Kielschwert für ein Fahrzeug ohne Segel nutzlos. Und so kam Heyerdahl zu einer weiteren Folge­ rung; Segelfahrzeuge muß es an der Küste von Peru bereits lange vor den Inkas ge­ geben haben, denn die alten Grabstätten stammten aus einer Zeit vor der Inka-Kultur, deren Beginn bei etwa 1200 n. Chr. liegt. Als die Weißen nach Südamerika kamen, waren solche Flöße immer noch im Ge­ brauch. Im Jahre 1526 sichteten spanische Konquistadoren vor der Küste von Ekuador ein peruanisches Balsafloß und nahmen es - zu einer Zeit, als noch kein einziger Spa­ nier das Land Peru gesehen oder etwas von den Inkas erfahren hatte. Der spanische Dschunken im Mondschein 114

Sonderbares Schicksal eines braven Schiffes: Sein Lebenslauf begann vor 80 Jahren in Cardiff - als Kohlenleichter. Dann gehörte es einem Seemanns-Club, später war es als schwimmendes Aquarium in Scarborough zu besichtigen, bis sich der Film seiner annahm und es in mannigfacher Verwandlung zeigte, in «Moby Dick» als Walfänger, in «Die Schatzinsel» als Schoner «Hispaniola», mit dem Jim Hawkins und John Silver nach Kapitän Flints Schatz suchen, und neuerdings als die Fregatte «Neptune» aus dem 18. Jahrhundert

Kapitän sdireibt in einem Bericht an seinen König, daß « dieses Floß Masten hatte und Takelwerk von bestem Holz und guter Verarbeitung, mit baumwollenen Segeln von der gleichen Form und Art wie die unseier eigenen Schiffe». Auf dem Floß befand sich eine Besatzung von 20 Indianern und eine Ladung von mehr als 30 Tonnen. Bei anderen spanischen Schriftstellern dieser Zeit kann man lesen, daß die india­ nischen Segelflöße hinsichtlich ihrer Manövrierfähigkeit nicht hinter den Karavellen zurückstanden; benutzt wurden sie zur Beförderung von Kriegern, zu Erkundungs­ fahrten für die Fischerei und zum Transport von Handelsgütern. Oft befanden sich bei den langen Reisen der Küste entlang Frauen an Bord. Auffallenderweise zeigten die Zeichnungen, die sich in alten spanischen Handschriften und Büchern fanden, kein Steuerruder; es läßt sich aber erkennen, daß offenbar einige Indianer auf dem Floß eine Stellung einnehmen, als bedienten sie die hölzernen Kielschwerter oder ,Guaras‘, wie diese auch genannt wurden. Heyerdahl hat dann auch herausgefunden, wie mit Hilfe dieser Senkkiele das Floß so bedient werden kann, daß es Kurs hält oder gegen den Wind wenden kann. Die Guaras, knapp einen bis eineinviertel Meter lang und nicht ganz einen halben Meter breit, wurden senkrecht zwischen die Stämme des aus Balsaholz hergestellten Floßes nach unten gesteckt, und zwar vorn ebenso wie achtern. Je nachdem, welche Senkkiele ge­ hoben, welche ins Wasser hinabgesenkt wurden, konnte das Floß vor dem Wind segeln, anluven (den Kurs so ändern, daß das Fahrzeug spitzer zum Wind segelt), kreuzen - also mit Zickzackkurs gegen den Wind segeln - und abfallen, so daß der Wind wieder voller von achtern ins Segel fällt, kurz, die Mannschaft konnte mit dem Floß die gleichen Manöver ausführen wie ein regelrechtes Schiff mit Kiel und Steuer­ ruder. Diese Erfindung der Senkkiele und der Navigation mit ihrer Hilfe war den europäischen Völkern so gut wie unbekannt - die Indianer jedoch hatten es verstanden, sie meisterlich zu handhaben. Als Heyerdahl 1947 seine berühmt gewordene Fahrt mit der ,Kon-liki‘ vorbereitete, von der auf Seite 189 noch ausführlich die Rede sein wird, baute er ein solches altes indianisches Floß genau nach, um den Beweis für seine These zu erbringen, daß auf diesen Fahrzeugen Menschen von Peru nach Polynesien gelangt seien. Und ganz kon­ sequent brachte er auf dem Floß auch die Guaras vorn und achtern an, obwohl kein Mensch, weder ein Wissenschaftler noch ein Seemann, mit diesen Senkkielen Bescheid wußte oder ihnen einen Wert zutraute. Zunächst nahmen Heyerdahl und seine Männer an, die Guaras hätten einzig und allein den Zweck, das Abweichen vom Kurs etwas zu vermindern und die Fahrt voraus zu fördern. Sie senkten also die Kielbretter so tief als möglich ins Wasser und machten sie gut und sicher fest. In dieser Stellung wirkten die Guaras in Zusammenwirken mit dem Steuerruder tatsächlich wie ein Kiel, so daß sie fast unter 90 Grad ,am Winde* segeln konnten; dieses ,Am Winde Segeln* bedeutet, daß der Wind mehr oder minder spitz von vorn einfällt. Mehr zu erreichen war nicht möglich, weil dann der Wind das Segel von vorn füllte und das Floß rückwärts trieb. Die Guaras bewährten sich auch im Halten des Kurses, wenn das Floß ,vorm Winde* lief, wenn es also den Wind genau von achtern bekam. Schließlich aber geriet das Floß - wie noch erzählt werden wird - in einen schweren Sturm. Dabei lockerten sich die Guaras, und nun entdeckten II7

die Männer der ,Kon-Tiki‘, daß sie für ihr Floß überhaupt kein Steuerruder benötig­ ten. Allein mit Hilfe der Guaras konnte man es steuern und auch den Kurs ändern. Später, als Heyerdahl alte peruanische und ekuadorianische Dokumente eingehender studierte, fand er verschiedene Berichte, aus denen hervorging, daß man Balsaflöße auch gesehen hatte, wie sie auf See gegen den Wind segelten. Daraus schloß Heyerdahl, daß er die alte Segeltechnik wohl noch nicht richtig verstünde. Er beriet sich mit Sach­ verständigen und baute ein neues Balsafloß, genau von der gleichen Art wie die ,KonTiki‘, aber kleiner. Mit diesem segelte er wieder hinaus auf See, und jetzt wurde ihm die alte indianische Methode klar. Das Geheimnis war folgendes: Mit seinen Balsafloßen hatte jenes rätselvolle Volk aus der Vor-Inka-Zeit gewissermaßen ein im Gleichgewicht befindliches System ge­ schaffen, in dem der Mast und das Segel den Drehpunkt bildeten, der Vorderteil des Floßes vor dem Mast den einen Hebelarm, das Achterfloß hinter dem Mast den an­ deren. Auf dieses System nun wirkte der Winddruck ein und gleichzeitig die vorn oder achtern herabgelassenen Guaras. War die Wirkung der Senkkiele vor dem Mast stärker, so folgte der Bug dem Wind, während umgekehrt der Vorderteil des Floßes sich in den Wind drehte, wenn die Guaras achtern herabgelassen wurden. Die Kielschwerter in der Nähe des Mastes mittschiffs hatten weniger Wirkung - wie man sofort versteht, wenn man sich das Verhältnis von ,Hebelsystem‘ und Winddruck vorstellt. Auf ihrer kühnen Segelfahrt mit diesem Floß lernten Heyerdahl und seine Männer bald, wie tief sie die Guaras herablassen, wie weit sie diese herausziehen mußten, um die gewünschten Wirkungen zu erzielen. Sie konnten ihr Floß genauso manövrieren wie ein handiges Segelboot. Und bei dieser Gelegenheit stellte es sich auch heraus, daß die Kenntnisse der alten Balsafloßbauer selbst für unser hochtechnisiertes 20. Jahr­ hundert noch ihre Bedeutung haben können. Wenn man nämlich solche Senkkiele oder etwas ähnliches auf den üblichen Rettungsflößen anbringen würde, wie sie heute von jedem Schiff mitgeführt werden, ließe sich die Manövrierfähigkeit dieser Flöße ganz entscheidend verbessern, und die Schiffbrüchigen an Bord des Rettungsfloßes wären nicht völlig abhängig davon, daß sie nur dank einem glücklichen Zufall von den zur Hilfeleistung herbeigeeilten Schiffen aufgefunden werden. Thor Heyerdahl ist ein begeisterter Verkünder der Vorzüge des Floßes geworden nicht nur wegen seines eigenen großartigen Erfolges mit der ,Kon-Tiki‘. Als gewissen­ hafter Forscher gibt er jedoch zu, daß die Indianer der Vor-Inka-Kultur auch regel­ rechte Boote gehabt haben. Aber sie gingen von der Benutzung dieser Fahrzeuge ab, weil die Flöße vor allem einen Vorteil hatten: Man brauchte sie nicht auszuschöpfen. Eine einzige Welle schon konnte ein Boot vollaufen lassen oder die Ladung über Bord schwemmen. Alles Wasser aber, das über ein Floß hinweggeht, fließt von allein wieder ab, und man braucht die Fracht nur wasserdicht zu verpacken, um sie vor jedem Schaden zu bewahren. Und seitdem man so ein Floß genauso zu segeln gelernt hatte wie ein Boot, war das Floß eindeutig überlegen. Vielleicht hat die Einsicht, wie man ein Fahrzeug unsinkbar machen kann, ihren Ursprung bei den Binsenbooten, die noch heute in Südamerika (insbesondere am Titi­ cacasee) und in Polynesien benutzt werden. Sicherlich ist man in manchen Gegenden, in denen von Natur aus das richtige Holz für den Bootsbau fehlt, darauf gekommen. ii8

Wasserfahrzeuge aus hohlen, luftführenden Halmen, die verflochten werden, herzu­ stellen. An vielen Stellen des Pazifik sind solche Binsenboote, oft recht groß und ganz wie richtige Boote geformt, üblich; ihr Vorzug ist, daß jedes überkommende Wasser sofort wieder von allein ausläuft, ihr Nachteil natürlich der, daß sie nicht eine so große Ladung und so viele Menschen aufzunehmen vermögen wie ein Floß. Wenn man diese wundervollen südamerikanischen Flöße betrachtet, begreift man, wieviel ihre Erbauer dem Balsaholz verdankten, jenem Holz, das extrem leicht und doch außerordentlich widerstandsfähig ist wie kein anderes. Ohne das Balsaholz wäre es überhaupt unmöglich gewesen, so große Flöße zu bauen und mit ihnen so lange Hochseereisen zu unternehmen. Es wird einem dies um so mehr klar, wenn man das Balsafloß vergleicht mit jenen großen, unbeholfenen Flößen, die aus schweren Baum­ stämmen zusammengefügt werden, wie ich sie beispielsweise auf der Lena in Sibirien gesehen habe. Die Lena ist der viertgrößte Strom der Welt, und dort werden die Flöße während des Winters auf dem Eis gebaut. Die Bewohner der Taiga, des ungeheuren, schwer zugäng­ lichen Nadelwaldgebietes in Sibirien, schlagen die Fichten und Lärchen im Winter und bringen die Stämme aufs Eis des Stromes. Hier werden die Stämme sehr kunstvoll zu mächtigen Flößen zusammengebaut, auf denen auch Hütten mit gemauerten Herden stehen. Die Flößer verbinden oft auch zwei der bis 100 Meter langen Flöße miteinander. Wenn im Frühling das Eis schmilzt, werden die Flöße flott, und es beginnt die Fahrt stromab dorthin, wo sich der Holzhandelsplatz befindet. Die langen ungefügen Flöße zu steuern ist ein schwieriges Unternehmen und nicht selten geradezu unmöglich. Heftige Winde, wie sie über die Niederungen Sibiriens dahinblasen, können das Floß auflaufen lassen, denn überall liegen im Strombett Sand- und Schlammbänke, und es ist meist ein Zufall, ob man sie meiden kann oder darauf festläuft. Gesteuert werden die Flöße auf der Lena mit zwei Rudern, an jedem vier Mann. Oft, wenn plötzlich ein unvorher­ gesehenes Hindernis sich in den Weg stellt, arbeitet die gesamte Besatzung an diesen Steuerrudern, und häufig müssen alle in die kleinen mitgeführten Boote gehen und das ungefüge Floß in Schlepp nehmen, um seinen Kurs zu ändern. Es dauert drei bis vier Monate, bis das Floß schließlich auf seiner Fahrt stromab seinen Bestimmungsort erreicht. Wenn man diese Tatsachen berücksichtigt, wird man den eleganten Balsaflößen

Auslegerboote des Stillen Ozeans 119

der alten Indianer von Peru vorbehaltlos den Preis für Schönheit und Manövrierfähig­ keit zuerkennen. Auf der anderen Seite des Pazifik, Peru gegenüber, haben die Südseeinsulaner und Malaiien ein anderes, sehr zuverlässiges Fahrzeug entwickelt, mit dem sich ebenfalls weite Seereisen recht gefahrlos bewältigen lassen: das Auslegerboot. Man versteht darunter ein schmales, langgestrecktes Boot, das durch einen parallel zum Boot mit Stangen befestigten Schwimmbalken stabil gemacht wird; oft befinden sich diese ,Aus­ leger* auch auf beiden Seiten, oder aus dem einen Schwimmbalken ist ein zweites Boot geworden - in diesem Fall spricht man von Doppelbooten. Diese Auslegerboote, die bis zu 40 oder 50 Mann und eine entsprechende Menge Fracht aufnehmen, können praktisch weder kentern noch sinken. Für den Verkehr zwischen den ungezählten Inseln des Pazifik und Indonesiens sind die Auslegerboote ideale Fahrzeuge, man weiß aber auch, daß mit ihnen geradezu ge­ waltige Strecken zurückgelegt worden sind: Die vor der Ostküste Afrikas liegende riesige Insel Madagaskar hat in vorgeschichtlicher Zeit mehrere malaiische Einwan­ derungswellen erlebt, und diese frühen Besiedler kamen mit Auslegerbooten von Hin­ terindien! Ebenfalls mit Auslegerbooten haben die Polynesier die ganze Südsee bis zu den entferntesten Inseln und Atollen zu ihrem Lebensraum gemacht. Aus Bambus­ stäben fertigten sie sich großartige Seekarten, die dem, der sie zu lesen verstand, genau angaben, mit welchen Strömungen, mit welchen Winden er zu einer bestimmten Insel kam, die wie verloren in der riesigen Wasserwüste des Pazifik lag. Das eigentliche Boot ist ein ausgehöhlter Baumstamm; oft ist der Bug hochgezogen und mit Schnitzwerk geschmückt. Auf den Stangen, die das Boot mit dem Schwimm­ balken verbinden, werden nicht selten Plattformen angebracht. Auf Kurs gehalten wird das Auslegerboot mit einem Steuerruder, und neben dem Segel bedient die Be­ satzung kurze Paddel. Man muß selbst einmal versucht haben, so ein Auslegerboot mit Paddeln vorwärts­ zubringen, um zu begreifen, wieviel Geschicklichkeit dazu gehört, daß das Boot nicht nur im Kreis herum fährt. Es sieht sich vom Schiff aus so kinderleicht an, wenn von einer Südseeinsel her ein Auslegerboot schnell und elegant angeschossen kommt; aber das schnelle Drehen bei jedem Ruderschlag mit dem Paddel ist schwer zu lernen. Geht die Besatzung an Land, so wird das Boot aufs Ufer gezogen - genau so, wie es die Phöni­ zier und die alten Griechen mit ihren Ruderschiffen taten. Die Südseeinsulaner haben dabei eine besondere Technik: Der Steuermann wartet solange, bis eine besonders hohe Welle naht; ist sie heran, so wird wie besessen gepaddelt, damit das Boot auf dieser Welle reitend hoch hinauf auf den Strand getragen wird.

KULTUR U N D SC H IFFA H R T Es kann kein Zufall sein, daß sich viele der frühen Kulturen, deren Leistungen wir heute bewundern, in Hafenstädten und in der Umgebung von solchen entwickelt haben. Auf Seereisen, meist zum Zweck des Güteraustauschs, lernten damals die Men­ schen die übrige bewohnte Welt kennen, und vieles Wissen, viele neue Ideen, die Kennt­ nis neuer Werkzeuge und neuer Verfahren kamen über See. Die Phönizier und die Griechen wurden zu Kulturbringern dank ihrer Schiffe. Und umgekehrt holten die Wikinger, die auf dem Meer groß wurden und zu segeln ver­ standen wie kein anderes Volk vor ihnen, sich die Kulturgüter höher zivilisierter Völ­ ker und Länder an ihre kargen Küsten. Erst als diese Seefahrer die Wurzeln ihres eigentlichen Wesens vergaßen, verloren sie auch ihre Macht und ihren Einfluß, und nur solange sie sich ihre hohen Fähigkeiten als Schiffsbauer und Seeleute erhielten und ihre Nachfahren die große Tradition wahrten, ging es vorwärts mit ihnen. Denn dies ist eine Binsenwahrheit: Die Männer auf den Schiffen, die einen so ent­ scheidenden Beitrag für den Fortschritt nahezu aller anderen Völker geleistet haben, konnten durchaus nicht immer den Löwenanteil am Gewinn des von ihnen allein ge­ tragenen Güteraustauschs davontragen. Das Leben auf See war hart, und es war trotz all der schönen Worte, wie sie die Schriftsteller an Land von den Seeleuten als den so kühnen Männern und von den so vielfältigen Abenteuern allenthalben fanden, ein meist höchst eintöniges Leben. Es war doch seit den Zeiten, da der Mensch sich die hohe See eroberte, so: Wenn damals ein Schiff auf Reise ging, dann war es viele Tage, ja Wochen und Monate unter­ wegs ohne jede Landberührung, und die Lebensbedingungen für die Mannschaft an Bord waren geradezu miserabel. Dabei muß allerdings bemerkt werden, daß die See­ leute zu Hause auch kein sehr viel vergnüglicheres Dasein hatten! Es gab kaum einen Unterschied zwischen den kleinen, dunklen und kümmerlichen Hütten, in denen da­ mals die einfachen Matrosen meistenteils hausten, wenn sie an Land waren, und den dumpfen, engen Vorderkastellen, die ihr ,Heim‘ an Bord bedeuteten. Und auch das Essen, das es an Land gab, mag selten sehr viel besser gewesen sein als die Schiffsver­ pflegung: meist Pökelfleisch von Rind oder Schwein, wenn es überhaupt Fleisch gab, und multriges Mehl, in dem es oft von Ungeziefer wimmelte - und das einen großen Teil des Jahres hindurch. In den kleinen Hafenstädten war auch das Trinkwasser meist gar nicht gut (selbst in Hamburg konnte es noch bis 1892 Vorkommen, daß plötzlich ein Glasaal aus der Wasserleitung schlüpfte, denn erst nach der furchtbaren CholeraEpidemie nahm die Hansestadt ihr Trinkwasser nicht mehr aus der Elbe). Und von den hygienischen Verhältnissen in der ,guten alten Zeit' sei lieber völlig geschwiegen. So aber war es allenthalben noch vor einem Jahrhundert! Vom Leben auf den Segelschiffen haben viele bedeutende Schriftsteller, hat mancher zur Weltliteratur gehörende große Dichter erzählt. Von ihnen wissen wir, was es hieß, auf einem guten, sauberen, glücklichen Schiff sein zu dürfen oder aber auf einem ver-

dreckten und schlampig geführten. Sie haben uns berichtet, wie es zuging, wenn der Kapitän, der die Rolle des unumschränktesten aller Diktatoren spielen konnte, wenn er nur wollte, ein böser und gewissenloser Kerl war, ein gewalttätiger oder gewinn­ gieriger Mensch, oder aber ein wackerer, rücksichtsvoller, kluger Mann. Und so brau­ chen wir hier von diesen Dingen nicht zu reden - wir werden ohnehin noch Geschichten genug zu erzählen haben. Aber diese Schiffe, die über die Sieben Meere segelten, hatten auch ihre eigene Kultur, auf ihnen herrschte ein Lebensstil, dem Offiziere wie Männer gleichermaßen unter­ worfen waren - ein Lebensstil, der sich von Grund auf von dem an Land üblichen unterschied. Jeder war gleichermaßen in die ,Routine‘ eingespannt, in den Dienstplan an Bord, jeder kannte seinen Platz und seine Arbeit, jeder wußte, wer ihm zu befehlen hatte, und so wußte jeder audi zugleich, wie wichtig gerade er für diese kleine Welt war, deren Grenze die Reling war. Denn jeder Mann an Bord war wichtig. Und so sehr sich auch Aussehen und Antriebsart der Schiffe seit jenen Tagen geändert haben - dies ist sich gleichgeblieben. Auch als die flinken Burschen, die auf den alten Windjammern bei jedem Wind und jedem Wetter hinaufentern mußten in die Wanten, durch die schwitzend vor den Feuerlöchern sich abmühenden Heizer abgelöst wurden, blieben die Regeln des Lebens an Bord die gleichen. Und selbst heute, wo es genügt, einen Schalter oder einen Hebel umzulegen, damit die Turbinen oder Motoren das Schiff bewegen, ist es kaum anders: In der ,Kulturgeschichte‘ des Lebens an Bord hat sich wenig gewandelt; unvergleichlich besser freilich sind die zivilisatorischen Verhält­ nisse geworden. In der Kulturgeschichte der Schiffe gibt es jedoch ein Kapitel, das mindestens ebenso wichtig ist wie das von der allmählichen Vervollkommnung des Schiffbaues. Es ist dies das Kapitel von der Verbesserung der nautischen Verfahren und Instrumente. Ihre geschichtliche Entwicklung ist reich an denkwürdigen Entdeckungen und Erfindungen mindestens so reich wie die jedes anderen Zweiges der Technik. Heute zwar ist die Navigation - die Bestimmung des Standorts und des Kurses eines Schiffes - Angelegen­ heit der exakten Wissenschaften, doch unendlich lange Zeit war sie alles andere als das, und nicht umsonst nennen deshalb auch jetzt noch die Lexika die Navigation weniger eine Technik oder eine angewandte Wissenschaft, sondern vielmehr eine ,Kunst‘. Die Alten steuerten ihren Kurs nach den Sternen, sobald die letzten bekannten Landmarken hinter dem Horizont untergetaucht waren. Die einzige Ausnahme, von der wir wissen, bot der Indische Ozean; hier konnten die Seefahrer den Kurs nach den jahreszeitlich regelmäßig wehenden Winden, den Monsunen, bestimmen. Man weiß wirklich nicht, worüber man sich mehr wundern soll, ob über den ungewöhnlichen Mut jener Männer, die nichts hatten als die Kenntnis der Gestirne und einiger Land­ marken und sich doch aufmachten, um weit entfernte Küsten und Häfen anzusteuern, oder über ihre außerordentliche Geschicklichkeit, das Ziel tatsächlich zu erreichen. Und nicht verwundert darf man darüber sein, daß es damals nur wenige Kapitäne gab, die Lust hatten, sich mit ihrem Schiffe weit außer Sicht der Küste zu entfernen. Das erste, grundlegend wichtige Instrument, das den Seeleuten half, ihren Weg über die Sieben Meere leichter zu finden, war der Kompaß. Man nimmt an, daß er im Reich der Mitte erfunden worden ist und arabische Kauffahrer ihn kurz vor dem 13. Jahr-

hundert von den Chinesen entlehnt haben. Die Europäer lernten ihn dann während der Kreuzzüge kennen: Der Kompaß eines ,modernen* Kapitäns jener Zeit bestand aus einer Nadel, die auf einem Strohhalm in einem Wassergefäß schwamm und durch das Bestreichen mit einem Magneten die den damaligen Menschen wahrhaft wunder­ bar erscheinende Fähigkeit bekam, immer nadi Norden zu zeigen.

Ein Schiff des 16. Jahrhun­ derts. Auf dem Achterkastell sitzt der Kapitän vor einem Tischy auf dem der Kompaß steht - damals nichts als eine magnetisierte Nadel, die auf einem Strohhalm oder Hölz­ chen in einem Wissergefäß schwamm

Auch das Astrolab, ein Instrument, mit dem man die Sonnenhöhe bestimmen konnte, ist wohl auf ähnliche Weise aus dem Osten gekommen, wenn auch früher; schon der große Geograph und Astronom Ptolemäus (87-165 n. Chr.) hat es beschrieben. Auf den Schiffen kam es jedoch erst sehr viel später in Gebrauch, etwa in der Zeit nach der Entdeckung Amerikas. Etwas früher, von der Mitte des 15. Jahrhunderts ab, benutzten die Seefahrer den Jakobsstab oder Gradstock, ein Instrument zum Messen von Winkeln und Gestirnshöhen, woraus man Zeit und Breite bestimmen konnte, was wiederum die Position des Schiffes einigermaßen festzustellen ermöglichte. Und um 1530 kam ein genialer Forscher, Frisius aus Löwen, auf die Idee, die Ortsbestimmung auf See da­ durch zu verbessern, daß er zu den damals üblichen Beobachtungsmitteln auch noch die Uhr und einen Quadranten einführte, einen Kreisbogen zum Messen von Winkeln. Das waren die Instrumente, wie sie von den meisten Kapitänen bis in die zweite Hälfte des 18. Jahrhunderts hinein benutzt wurden. Man konnte mit ihrer Hilfe die geographische Breite recht genau bestimmen, die geographische Länge jedoch bei wei­ tem nicht so gut. Für die Längenbestimmung hatte man seine Angaben lediglich aus Geschwindigkeit und Kurs des Schiffes; die Schiffsgeschwindigkeit aber ließ sich nicht exakt messen, und der Kurs eines Seglers war nur sehr selten eine gerade Linie. So waren auch die besten Kapitäne jener Zeit auf mehr als grobe Schätzungen des Längen­ grades angewiesen, wenn sie erst einmal eine Weile unterwegs waren. Doch seit dem frühen 17. Jahrhundert setzten sich in der Navigation Winkelbestimmungen mit Hilfe der trigonometrischen Dreiecksrechnung immer mehr durch, dann kamen die Logarith­ men dazu, und schließlich wurde jeder Kapitän so etwas wie ein Mathematiker. Etwa hundert Jahre später gelangen dann zwei entscheidende Erfindungen, die es dem Nau­ tiker möglich machten, seine Position auf See genau zu bestimmen. 1^3

Die erste war der Sextant, ein Winkelmeßgerät zur Feststellung der Höhe von Sonne, Mond oder Fixsternen; er wurde 1731 erfunden. Nur vier Jahre später wurde von dem Engländer John Harrison das Chronometer geschaffen. Der Sextant, mit dem man bei der Bestimmung der Sonnenhöhe ,die Sonne schoß', wie es an Bord heißt, ermöglichte eine bessere Ermittlung des Breitengrades, unter dem sich das Schiff gerade befand. Das Chronometer, eine Weiterentwicklung von Frisius’ Uhr, wurde an Bord so aufgehängt, daß es sich immer in horizontaler Lage befand, ganz unabhängig von den jeweiligen Bewegungen des Schiffes. Mit Hilfe des genau gehenden Chronometers nun war es endlich möglich, die geographische Länge - das heißt die Entfernung östlich oder west­ lich von einer bestimmten Mittagslinie (seit 1634 die der Kanareninsel Ferro, später die der englischen Sternwarte Greenwich) - so hinreichend genau zu bestimmen, daß ein erfahrener Seemann auf ein paar Meilen genau anzugeben vermochte, wo er sich be­ fand; je mehr Messungen vorgenommen und ihre Ergebnisse miteinander verglichen wurden, um so exakter war auch die Längenbestimmung. John Harrison hatte sein erstes Chronometer auf Anregung des großen Naturforschers Isaac Newton 1735 ge­ baut; als nach mehr als vierzig Jahren angestrengtesten Mühens sein ,Chronometer Nr. 4' den von der britischen Regierung ausgesetzten Preis von 20 000 Pfund Sterling erhielt, hatte dieser genaue Zeitmesser einen großartigen Beweis für seine Zuverlässig­ keit abgelegt: Auf einer Segelfahrt von London nach Westindien zeigte er die Zeit bis auf weniger als fünf Sekunden genau an! Natürlich dauerte es einige Zeit, bis sich beide Erfindungen durchsetzten - die See­ leute sind da nicht anders als die meisten anderen Menschen: es geht langsam, bis etwas Neues anerkannt und übernommen wird. Immerhin hatte etwa um 1775 jedes Schiff, das einen europäischen oder amerikanischen Hafen verließ, sein Chronometer an Bord, das die Zeit von Ferro oder Greenwich anzeigte. Zu den Beobachtungsinstrumenten traten dann um die gleiche Zeit auch die nautischen Handbücher und Tafeln, Tabellen logarithmischer, trigonometrischer und astronomischer Art, und wer mit Instrument und Tafel richtig umzugehen verstand, konnte die Schiffsposition verhältnismäßig leicht und schnell bestimmen. Mit der Verbesserung der nautischen Instrumente ging die der Karten und der Segel­ anweisungen Hand in Hand. Die für lange Zeit besten Karten waren die auf der Welt­ karte des deutschen Geographen Gerardus Mercator - er hieß eigentlich Gerhard Kremer - beruhenden. Die nach ihm benannte winkelgetreue Mercator-Projektion über­ trägt die Kugelgestalt der Erde so auf die Kartenebene, daß der Kapitän den Kompaß­ kurs seines Schiffes als geraden Strich ,absetzen', das heißt einzeichnen kann. Die außer­ ordentlich starken Verzerrungen, die eine nach der Mercator-Projektion gezeichnete Weltkarte aufweist, je näher man den Polen kommt (weil diese Punkte auf der MercatorKarte zu einem langen Strich ausgezogen sind!), waren für die Seeleute der guten alten Zeit uninteressant, denn in jene hohen Breiten ging man damals ohnehin nicht. Es genügt jedoch nicht, daß der Seemann weiß, wo er sich nach geographischer Länge und Breite befindet; nicht minder wichtig ist es, die Wassertiefe zu kennen, vor allem aber die Hindernisse, die gefährlich werden können, Riffe und Kliffe, Bänke und Un­ tiefen. Je mehr sich die Seefahrt vervollkommnete, desto mehr wuchs auch die Kenntnis von all diesen Dingen, desto besser wurden die Einzeichnungen auf den Karten - lang­ 124

sam, aber sicher verschwanden die Seeungeheuer, die Fabelwesen, die mächtigen Stru­ del, die nie existiert haben, aber auf den alten Karten Gefahrenpunkte verzeichneten, und machten exakten Angaben über Wassertiefe, Landmarken, magnetische Verhält­ nisse, Seezeichen (schwimmende ,Bojen‘ oder feststehende ,Baken‘), Feuer (Leuchttürme, Feuerschiffe, Leuchtbojen) und noch manchem anderen Platz, so daß heute der Nautiker eine Seekarte mit derselben Sicherheit benutzen kann wie eine Logarithmentafel - vor­ ausgesetzt, daß die Karte entsprechend den ständigen Veränderungen laufend berich­ tigt worden ist. Selbstverständlich müssen bei der Navigation auch die Winde und die Strömungen berücksichtigt werden, denn sie führen zu Abdrift und KursVersetzung. Jahrhunderte hindurch hatten die Seeleute dabei ,über den Daumen gepeilt*; in ein exakt wissenschaft­ liches System wurden die Beobachtungen und Kenntnisse erst vor rund hundert Jahren durch den amerikanischen Marineoffizier Mathew Fontaine Maury gebracht. Als 18jähriger trat Maury 1824 in die nordamerikanische Marine ein, mußte aber aus dem aktiven Dienst ausscheiden, weil er 1839 durch einen Sturz gelähmt wurde. Drei Jahre später war er bereits Direktor des Archivs der Seekarten, 1844 des Nautischen Natio­ nalobservatoriums in Washington. In dieser Eigenschaft wurde er zum eigentlichen Begründer der modernen Meereskunde. Er entwarf als erster Karten und Schemata, die den Schiffen mitgegeben und auf ihren Reisen durch Einträgen von Beobachtungen vervollständigt wurden; nach ihnen hat er 1848 seine berühmt gewordenen ,Windund Strömungskarten der Ozeane* veröffentlicht, und sein Werk ,Physikalische Geo­ graphie des Meeres* von 1856 ist das erste neuzeitliche Handbuch der Ozeanographie. Die Segelanweisungen, die auf Grund der Wind- und Strömungskarte von Maury herausgegeben wurden, sollten, wie er voraussagte, ein so viel besseres Navigieren er­ möglichen, daß sich etwa die Reisezeit von New York nach Rio de Janeiro um zehn bis fünfzehn Tage verkürzen ließe. 1851 wurde der Beweis erbracht, daß Maurys Voraussage zu Recht bestand. Maurys weiterer Lebensweg ist so interessant, daß er mit ein paar Worten wenig­ stens erzählt sei: 1853 trat auf seine Veranlassung in Brüssel der erste Kongreß der seefahrenden Nationen zusammen mit dem Ziel eines einheitlichen, weltweiten Systems der Beobachtungen auf See. Als 1861 der Sezessionskrieg ausbrach, schloß sich Maury den Südstaaten an und leitete die Unterseebootswaffe, die damals ihren ersten wirk­ lichen Erfolg buchen konnte (s. S. 180). Nachdem die Südstaaten den Bürgerkrieg ver­ loren hatten, begleitete er den unglücklichen Kaiser Maximilian nach Mexiko und betrieb dort den Anbau von Chinarindenbäumen. Später errichtete Maury in London eine Torpedoschule, und schließlich kehrte er 1868 nach Amerika zurück, wo er bis zu seinem Tode im Jahre 1873 eine Professur am College von Lexington in Virginia innehatte. Mit der Positionsbestimmung und der Seekarte allein ist es aber immer noch nicht getan - da gibt es ja schließlich noch andere Schiffe, die unterwegs sind, und besonders auf den vielbefahrenen Schiffahrtsstraßen droht natürlich die Gefahr eines Zusammen­ stoßes. Genau wie auf den Verkehrswegen des festen Landes gibt es also eine Straßen­ ordnung des Meeres; diese ,Seestraßenordnung* wurde 1889 auf einer internationalen Konferenz in Washington festgelegt. Ihre Vorschriften umfassen die Lichterführung (die Kennzeichnung der Wasserfahrzeuge durch Positionslaternen), die Nebelsignale, 125

die Fahr-, Überhol- und Ausweidiregeln, die Notsignale und noch mandi andere Be­ stimmungen, die für Sicherheit auf See garantieren sollen. Spätere Konferenzen haben die Vorschriften erweitert und ergänzt; in den einzelnen Ländern treten zu dieser inter­ nationalen Seestraßenordnung weitere Verordnungen, in Deutschland beispielsweise die Seestraßenordnung von 1954 und die SeeschifiEahrtsstraßen-Ordnung, die für die Verkehrssicherheit auf den von Seeschiffen befahrenen Wasserstraßen innerhalb der deutschen Flüsse, Buchten und Kanäle sorgt. Es kann nicht der geringste Zweifel dar­ über bestehen, daß diese international angenommenen Regeln und von den einzelnen Staaten gesetzlich festgelegten Vorsdiriften die Zahl der Schiffszusammenstöße mit ihren hohen Mensdienverlusten, die früher zu den gefürchtetsten Gefahren der Seefahrt gehörten, auf ein Mindestmaß zurückgeführt haben. In unserer Zeit sind weitere großartige Hilfsmittel der Navigation eingeführt wor­ den: Da ist der Funk, der jedes Schiff mit jedem anderen Schiff und der Küste verbindet, der Zeitsignale sendet und auf den Notruf ,SOS‘ (------------- , ,Save our souls: Rettet unsere Seelen*) jedes Schiff zur Hilfeleistung herbeieilen läßt. Da ist das ans Wunderbare grenzende Radar, das mit elektromagnetischen Wellen Entfernungen zu messen gestattet und bei unsichtigem Wetter, bei Nacht und Nebel, ein kartenähnliches Bild der Umgebung auf den Leuchtschirm zaubert. Da gibt es Funkfeuer, Funksender, die automatisch ihr Kennzeichen ausstrahlen und so ein Anpeilen zulassen, und ganze Funknavigationssysteme mit Senderketten, deren Signale eine genaue Standortbestim­ mung ermöglichen. Am bekanntesten ist das Decca-Verfahren, das mit Langwellen arbeitet; sein deutscher Hauptsender steht in Madfeld bei Brilon. Mit all diesen neuzeitlichen Instrumenten ähnelt die Brücke eines Schiffes - die ,Kommandobrücke‘, sagt die Landratte - von heute eher einem physikalisch-techni­ schen Laboratorium und hat kaum noch etwas zu tun mit dem einfachen, hölzernen Ruderhaus von einst mit Steuerrad und Kompaß. Aber trotz all der vorzüglichen und bequemen Instrumente, über die der Kapitän eines modernen Schiffes verfügt, ist noch nicht gesagt, daß er den Weg von einem Hafen zum anderen mit größerer Genauigkeit findet als seine Vorgänger in jenen Tagen, da der Wind die einzige Antriebskraft, und die Beherrschung der Kunst des Navigierens durch den Kapitän die einzige Sicherung war, daß das Schiff auf dem rechten Kurs lag.

MEN SC HE NK RA FT Wenn der Europäer an ein von menschlicher Muskelkraft durch das Wasser der See getriebenes Schiff denkt, sieht er wohl im Geist zu allererst die Ruderschiffe des Alter­ tums, die Fünfzigruderer und die Trieren der Griechen, und die Galeeren des Mittel­ alters vor sich. Aber es gab und gibt daneben noch andere Formen des Antriebs durch 126

Altgriechisdoer Fünfzigruderer (nach einem Vasenbild)

Rudern - der Seemann sagt dafür ,Pullen' - mit,Riemen' (das sind keine Lederbänder, sondern das, was die Landratte Ruder nennt, während für den Seemann ein Ruder das Gerät zum Steuern seines Bootes oder Schiffes bedeutet). Bis vor etwa 400 Jahren setzten auch die hödistzivilisierten Völker insbesondere im Krieg Rudersdiiffe ein; nur in den nördlichen Meeren, in Nord- und Ostsee herrschte schon damals auch als Kriegsfahrzeug das Segelschiff vor, seit die Wikinger mit ihren Drachenschiffen gezeigt hatten, wie man die Hochsee unter Segel befahren kann. Zur gleichen Zeit, da im Mittelmeer die von Menschenkraft getriebene Galeere das bevor­ zugte Kriegsschiff war, hatten die stolzen Hansestädte bereits mächtige Segelschiffe, deren größte ,Jesus von Lübeck' (1540) und ,Großer Adler von Lübeck' (1565) waren, wahre Riesenschiffe, über 60 Meter lang und fast 15 Meter breit. Als klassische Ruderschiffe gelten seit eh und je die altgriechischen Fünfzigruderer, mit je 25 Riemen an Steuer- und Backbord, sowie vor allem die Dieren und die Trieren - die ,Zwei-' und ,Dreiruderer' - die zwei beziehungsweise drei Reihen von Ruderbänken übereinander führten; als Biremen und Triremen wurden sie von den Römern übernommen. In den alten Texten findet man auch Angaben über Vier-, Fünfoder Sechsruderer, doch sind damit nicht etwa Schiffe mit vier, fünf oder sechs Ruder­ decks gemeint, sondern zweifelsohne sollen die Zahlen angeben, wieviel Mann gemein­ sam an einem Riemen pullten. Schon in frühester Zeit führten diese Ruderschiffe auch Segel, doch wurden diese nur bei günstigem Wind zusätzlich gesetzt. Die Tradition der griechischen und römischen Ruderschiffe führten dann die Galeeren des Mittelalters fort, auf deren Kampfkraft die Macht von Venedig und Genua ebenso wie die der türkischen Kriegsflotte beruhte. An den Riemen arbeiteten Sklaven: Die Araber und Türken ketteten vorwiegend Christen, die in ihre Hände gefallen waren, an die Ruder­ bänke, auf den christlichen Galeeren saßen an den Riemen gefangene ,Mohren', öfter aber Sträflinge. Und in Frankreich hat man Galeeren noch als schwimmende Zucht­ häuser benutzt, als es schon lange keine vernünftige Verwendungsmöglichkeit für diese Ruderschiffe mehr gab. Zu welchen Leistungen jedoch die menschliche Muskelkraft befähigt ist, zeigt sich dort, wo sie allein und ausschließlich die Bezwingung des Meeres ermöglichte, weil noch keine anderen Hilfsmittel bekannt waren: bei den Auslegerbooten der Südsee­ insulaner, den großen Ruderschiffen mancher Fürstlichkeiten des Ostens, den Kanus der nordamerikanischen Indianer - wobei freilich zu beachten ist, daß die Kanus vorwiegend Süßwasserfahrzeuge waren. Doch hatten vor allem die Küstenindianer des Nordwestens auch seetüchtige Kanus. Von allen solchen geruderten oder mit Paddeln vorwärtsbewegten Booten erreichten aber den höchsten Grad der Leistungsfähigkeit die ungemein sinnreich erdachten, mit Fellen überzogenen Fahrzeuge der Eskimos. 1^7

Niemand weiß genau, woher die Eskimos gekommen sind oder wann die ersten an die Küsten der Arktis gelangt sind. Sie müssen jedoch zu irgendeiner Zeit weiter südlich gelebt haben. Das geht aus ihrer Überlieferung hervor; die Eskimos sind näm­ lich ein Volk, das groß ist im Festhalten der Traditionen, und die Geschichten, die sie zu erzählen wissen, werden unverändert von Generation zu Generation weitergegeben. Aus ihnen aber läßt sich manches lernen, das sonst rätselhaft wäre. So haben die Eskimos Überlieferungen, in denen von Schlangen und Fröschen und anderen Tieren die Rede ist, Tieren, die mit Sicherheit dort nicht zu existieren vermögen, wo die Eskimos heute leben. Man nimmt deshalb an, daß sie vor langer Zeit nach Norden verdrängt worden sind, möglicherweise von den Vorfahren der heutigen Indianer, denn noch bis in die historische Zeit hinein haben sich Indianer und Eskimos schwerste Kämpfe geliefert. Kein Indianer aber vermochte den Eskimos auf die Dauer in die Einöden nördlich der Baumgrenze zu folgen. Der Indianer braucht Holz, um sich seine Hütte zu bauen, braucht Holz oder Baumrinde für sein Kanu, braucht Holz für seinen Schlitten. Der Eskimo hingegen lernte es, sich seine Hütten aus Schnee zu bauen und seine Boote mit der Haut von Tieren zu überziehen. Und er versteht es, Felle zusammenzurollen und sie so zu Schlittenkufen gefrieren zu lassen und gefrorene Lachse oder Fleischstücke als Querstreben dieses eigenartigen, aber höchst brauchbaren Schlittens zu verwenden. Auf solche Weise hat sich der Eskimo völlig unabhängig vom Wald und seinem Holz zu machen verstanden; das Meer und die Flüsse brachten ihm immer noch soviel Holz an die von ihm bewohnten Küsten, daß es für die Schäfte der Harpunen und für die Ver­ steifung der Boote reichte. Der Kajak der Eskimos ist berühmt, nicht minder das Umiak, das große fellbespannte Boot, mit dem dieses Volk große Lasten befördert und selbst schweren Wellengang meistert. Diese Umiäks, auch Frauenboote genannt, gibt es überall, wo Küsteneskimos leben. Heutzutage sind an ihre Stelle vielerorts - in Grönland beispielsweise -- hölzerne Boote und Motorboote getreten, vor allem deswegen, weil die zum Bespannen benötig­ ten Robbenfelle nicht mehr so leicht zu bekommen sind wie einst. In Alaska aber, wo die Umiaks in mancher Hinsicht ohnehin weiterentwickelt sind als im übrigen Lebens­ raum der Eskimos, werden sie heute noch benutzt; bespannt werden sie dort mit Wal­ roßhäuten, die von geschickten Frauen gespalten werden. So ein Walroßfell ist einfach nicht kleinzukriegen, und man kann in Alaska erleben, wie die Eskimos mit ihren von Außenbordmotoren getriebenen Umiaks stolz hinausfahren aufs Meer zum Fischfang oder zur Robbenjagd und schwerbeladen mit Beute zur Siedlung zurückkehren. Besonders wichtig für diese Fellboote sind natürlich die Nähte, denn sie stellen die verwundbarsten Stellen der Außenhaut dar. Die Felle werden von den verschiedenen Stämmen in Ost und West unterschiedlich vernäht. Manche begnügen sich mit einfachen Nähten, während andere die beiden Kanten der Felle überlappt vernähen, so wie es die Segelmacher unserer zivilisierten Welt auch machen. Genau das gleiche gilt für die Haut des Kajaks. In Grönland und früher schon in Baffinland - wie überhaupt bei allen Eskimos des Ostens - wurde für den Bau der Kajaks und Umiaks sehr viel mehr das Fell der Bartrobbe als das des Walrosses be­ nutzt. Das erforderte aber Erneuerung der Außenhaut mindestens alle zwei Jahre; 128

wenn ein Kajak täglich im Wasser war, mußte er sogar jedes Frühjahr neu bezogen werden. Viele Robbenjäger haben ihr Leben verloren, weil sie zu sparsam waren und hofften, daß die alte Haut ihres Kajaks noch ein bißchen länger halten würde. Das Gerippe eines Umiaks besteht, wie bei jedem normalen Boot, aus hölzernen Spanten. Es können dies sehr verschieden lange Hölzer sein; nur der Kiel muß aus einem einzigen Stück bestehen, denn in ihm werden ja die Spanten befestigt. Nicht ein einziger Nagel wird für den Bau eines Umiaks verwendet; ursprünglich hatten die Eskimos keinerlei Nägel, und als sie diese dann kennenlernten und für den Bootsbau zu verwenden suchten, mußten sie feststellen, daß die Nägel verrosteten und die Felle an den Nagelstellen verfaulten. So gaben sie das Nageln schleunigst wieder auf, und deshalb ist auch noch heute jedes Stückchen sorgfältig mit Riemen aus Robbenfell oder Sehnen gebändselt - wirklich sehr sorgfältig festgebunden, denn wenn nur eine einzige Bindung zu lose ist oder auch zu straff und infolgedessen ein Spant sich krümmt, kann das schon dazu führen, daß das Boot manövrierunfähig wird. Die oberen Enden der Spanten sind in einem umlaufenden Holz befestigt, das dem Dollbaum unserer hölzer­ nen Boote entspricht; an ihm wird die aus Robbenfell bestehende Außenhaut, die mit Sehnen zusammengenäht ist, mit dicken, kräftigen Riemen, ebenfalls aus Robbenfell, befestigt. Auf dem Bootsboden sind kreuzweise Bretter ausgelegt, damit niemand auf die Fell­ bespannung tritt und sie mit dem Fuß durchstößt. Die Rudernden sitzen auf Duchten (so nennt der Seemann die Ruderbänke), die sehr oft nur schmale Bretter sind, manch­ mal, wenn nichts besseres da war, sogar nur dicke Treibholz-Äste. Mit jedem ,Schlag‘ erheben sich die Rudernden von ihren Sitzen und lassen sich nach dem Durchholen des Riemens wieder nieder, genau so, wie es die Galeerensträflinge taten. Die Riemen sind gewöhnlich sehr kurz mit sehr breiten Ruderblättern; das Steuern erfolgt durch ein achtern an Steuerbord befestigtes besonderes Steuerruder. Steht die Sonne hinter einem übers Wasser dahinziehenden Umiak, so bietet sich dem Betrachter ein schöner Anblick, weil er die Gestalten der Rudernden durch die durchscheinende Fellbespannung sieht. ,Frauenboote‘ heißen die Umiaks in Grönland, weil dort jeder Mann, der auch nur ein bißchen auf sich hält, es für unter seiner Würde ansieht, je einen Riemen in einem Umiak anzurühren. Der Besitzer des Umiaks sitzt achtern und steuert, die Ruderarbeit leisten die Frauen, und nur als Mitfahrer wird ein Mann sonst ein Umiak betreten. Früher, als alle Fahrten längs der Küsten mit Umiaks besorgt wurden, begleiteten stets ein paar Kajaks das Frauenboot. Diese Fahrten waren nicht nur die einzige Mög­ lichkeit für die Männer, größere Strecken zurückzulegen und tagsüber mit ihren Speeren und Harpunen auf Robben- und Vogeljagd zu gehen; die Begleitung der Umiaks durch Kajaks war auch notwendig, wenn das Frauenboot etwa ein Vorgebirge passierte und in rauhe See kam. Dann legten sich die Kajaks auf die Luvseite des Umiaks, dorthin also, woher der Wind wehte, und hielten so die Wellenspritzer ab, die sonst das Umiak mit Wasser gefüllt hätten. Die Wellen selbst taten dem Fellboot nichts an; es ritt sie ab wie ein auf dem Wasser schwimmender Vogel. Das waren wirklich schöne Zeiten. Und wenn man heute dort oben noch so schnell fahren kann, mit Motorbooten oder Flugzeugen - diese wundervollen Tage, da die Fellboote die Küste auf und ab fuhren, werden nie wiederkommen. Die Mädchen und 129

Frauen in den Umiaks sangen, wenn das Boot ausfuhr oder einen Halteplatz anlief, und auch während des übrigen Tages klang ihr Lachen und Singen über die See, wäh­ rend sie ihre kurzen Stechruder mit schnellen Schlägen durch das Wasser holten. Jede Frau hatte Nadeln - sie waren aus feinen Knochen oder Fischgräten - in ihrem Haarknoten, und stets war eine Sehne zur Hand, um sofort jeden kleinsten Schlitz in der Außenhaut des Bootes zu flicken. Selbstverständlich wurde auch stets ein Stück Blubber -- Robbenspeck - mitgeführt, um die ausgebesserte Stelle einschmieren und dichten zu können. Wenn gegen Abend eine Stelle erreicht wurde, wo das Gras in Strandnähe saftig grün war, ging alles an Land. Das Boot wurde aufs Ufer gezogen und umgekippt; so gab es ein wunderbares Dach, unter dem man behaglich schlafen konnte und vor jeder Unbill des Wetters geschützt war. Und während das Boot auf dem Strand lag, trocknete seine Fellbespannung. Mit dem Treibholz, das es allenthalben an der Küste gab, wurde ein Feuer gemacht, und die Robben oder Vögel, die man tags­ über gefangen hatte, gaben eine treffliche Mahlzeit. Die Mädchen waren stets vergnügt und glücklich - niemand, der sie in einem solchen Lager tanzen und spielen gesehen hätte, wäre auf den Gedanken gekommen, daß sie 13 oder 14 Stunden Ruderarbeit hinter sich hatten. Von den Kajaks brauchte man eigentlich nicht viel zu erzählen - jeder kennt diese schmalen, schnellen, wendigen, fellbezogenen Einmannboote, die Urbilder unserer Falt­ boote. Ihre höchste Entwicklungsstufe haben die Kajaks in Ostgrönland erreicht. Die Eskimos hier sind keine guten Schlittenfahrer, aber mit ihren Kajaks und ihren Dop­ pelpaddeln verstehen sie umzugehen. Die berühmte ,Eskimorolle‘, der Trick, durch geschickten Paddelzug das gekenterte Fahrzeug wieder aufzurichten, ist heute ein be­ liebter Sport geworden, dem die Touristen mit Begeisterung zuschauen; diese Kunst der ,Eskimorolle* ist jedoch gar nicht so schwierig, wie sie auf den ersten Blick aussehen mag. Natürlich muß das Boot genau auf den Mann, der es fährt, zugeschnitten sein, und da der Besitzer des Kajaks und der Erbauer ein und dieselbe Person ist, kennt er sein Boot genau. Grundbedingung für einen Kajak ist, daß er absolut gerade gebaut ist, damit er beim Paddeln nicht nach der einen oder anderen Seite kippen kann. Das Verdeck des Bootes besteht wie die Außenhaut aus Fell; mit dem Rand der engen, runden Sitzluke ist die aus enthaartem Robbenfell bestehende Kleidung des im Kajak sitzenden Mannes wasserdicht verbunden. Auch an den Handgelenken und rund um das Gesicht schließt die Kleidung sehr sorgfältig an, so daß kein Wasser einzudringen vermag. Hierbei erweist sich die Form des runden, im wesentlichen bartlosen Eskimogesichts mit seinen Pausbacken als besonders günstig; schon kurze Barthaare am Kinn erlauben es dem Wasser, einzudringen. Das erste, was ein Eskimo tut, wenn er sich in seinen Kajak setzt, ist, die Arme und das Gesicht naß zu machen, damit die Fellkleidung nicht zu trocken ist und kein Wasser einsickern kann. Die ,Eskimorolle* lernt der Kajakfahrer selbstverständlich nicht zu seinem Vergnü­ gen oder als Attraktion für den Fremdenverkehr, sondern um sein Leben beim Kentern in grober See retten zu können. Mehr noch: Er muß sogar absichtlich kentern können! Denn er sitzt ja sehr tief in seinem Boot, nur ein paar Zoll über dem Wasserspiegel, und eine schwere Welle, die über ihm zusammenstürzt, könnte ihm glatt das Genick bre1 3 0

dien. So heißt es, im richtigen Augenblick den Kajak kentern zu lassen und die Wucht der Welle mit dem Kiel abzufangen. Nun wird man einwenden, daß bei schlechtem Wetter und hohem Seegang die Eskimos an Land bleiben könnten; tatsächlich aber gibt es bestimmte Gegenden, wo es viel leichter ist, bei hochgehender See dicht an die Robben heranzukommen als bei glatter. Die einzelnen Kajaktypen sind je nach dem Ort verschieden; in Ost- wie in West­ grönland gibt es geschlossene Kajaks mit kurzem Paddel und leichtem Jagdgerät. Nur in Nordgrönland, bei den eigentlichen Polareskimos, benutzt man den offenen Kajak, dessen Boden auch keinen scharfen Kiel hat, wie das im Süden der Fall ist. Das hat natürlich seinen guten Grund: Diese Kajaks werden zur Jagd auf das mächtige Walroß gebraucht. Solche Robbe kann bis viereinhalb Meter lang und eine Tonne schwer werden. Das heißt aber, daß die Harpunen und Speere im Vergleich zu den südlicheren Jagd­ waffen schwer und plump sein müssen, und der Walroßjäger muß dicht an sein Opfer heranrudern, um die Harpune anbringen zu können. Nun ist das Walroß nicht nur groß und schwer, sondern im Wasser auch sehr schnell. Im Augenblick, da es getroffen ist, hebt es sich aus dem Wasser und versucht, sich mit den Hauern, die beim Männchen einen Dreiviertelmeter lang werden können, für den Schmerz zu rächen, und oft gelingt es ihm, den Kajak am Ende zu treffen. Wäre jetzt das Boot geschlossen, so hätte der Jäger seine liebe Not, sich aus der engen, dicht anliegenden Sitzluke herauszuzwängen. Beim offenen Kajak aber genügt ein einziger Handgriff, um freizukommen, und wäh­ rend das wütende Walroß noch den verlassenen Kajak attackiert, darf der Eskimo hoffen, von seinen Gefährten ins Boot genommen zu werden. Die Kajaks der Walroßjäger sind weniger scharf gebaut und am Boden flach, damit sie schnell gewendet werden können. Ist der Eskimo dicht an seine Beute herangekom­ men, so wird das Boot mit dem allerletzten Paddelschlag, genau bevor die Harpune losfliegt, gedreht, damit der Jäger sich sofort davonmachen kann. An der Harpune ist eine Leine befestigt, an deren Ende eine Blase sitzt; beim Anpirschen liegt diese Blase, die natürlich auch von einer Robbe stammt, hinter dem Sitz. Taucht das getrof­ fene Walroß, so zieht es Leine und Blase mit sich, doch sorgt das schwimmende Hinder­ nis dafür, daß das Tier sich nicht allzu weit entfernt oder allzu tief taucht. Kommt das Walroß wieder an die Wasseroberfläche, um Atem zu schöpfen, so wird es von dem Jäger und seinen Gefährten umringt und gespeert; stets aber hüten sich die Eskimos, in die Nähe der gefürchteten Hauer zu geraten. Kajaks und Umiaks müssen so oft als möglich aufs Trockene gebracht und dort sorg­ fältig mit Tran geschmiert werden, sonst wird die Fellbespannung spröde und reißt. Damit die immer hungrigen Schlittenhunde sich nicht über das Fell hermachen, werden die Boote an Land auf hohen steinernen Gerüsten aufgebockt. In Südgrönland und in Labrador, wo es im Winter vor der Küste wenig oder gar kein Eis gibt und deshalb die Eskimos das ganze Jahr oder wenigstens die größte Zeit mit ihren Kajaks auf Jagd hinausfahren können, halten sie sich gewöhnlich ständig am gleichen Platz auf. Verlegen sie das Lager, so deshalb, weil ein bestimmtes Beutetier sich anderswo gezeigt hat. Das typische Sommerlager liegt an niedrigem, ins Meer vorspringendem Strand, wo die Fellboote jede Nacht leicht ans Ufer zu ziehen sind. Von hier können die Kajakjäger nach drei Seiten hin fahren, während sie dann,

wenn sich das Lager in einem Fjord befindet, die See nur in einer Richtung zu erreichen vermögen - fjordabwärts. Eine große Gefahr für die Kajaks und die Umiaks bedeutet das Süßwasser-Eis. Das Meerwasser in der Arktis hat immer etwa die Temperatur des Gefrierpunktes, der für Salzwasser tiefer liegt als für Frischwasser. Nun kann es Vorkommen, daß, wenn es im Sommer regnet und die Meeresoberfläche spiegelglatt daliegt, sich das leichtere SüßWasser wie eine Schicht über das schwerere Meerwasser legt, da ja keine Wellen gehen, die Salz- und Frisdiwasser mischen würden. Und da das Meerwasser buchstäb­ lich eiskalt ist, gefriert die Süßwasserschicht sofort und bildet ausgedehnte Flächen von dünnem, aber äußerst scharfem Süßwasser-Eis. Oft erkennt der Mann im Kajak diese Eisfelder im Dunkel der Regenwolken nicht, und so rennt er unversehens in sein Verderben; erst wenn er spürt, wie das Wasser ins Innere seines Kajaks schießt, weiß er, was geschehen ist. Kein Eskimo kann gut schwimmen; ist das Boot leck, so weiß er, daß es sein Schicksal ist, zu ertrinken. Die getauften Grönlandeskimos von heute haben große Sorge, nicht auf einem christlichen Friedhof bestattet zu werden, und deshalb bindet sich so ein Mann schicksalsergeben mit der Leine der HarpunenSchwimmblase an seinen sinkenden Kajak, damit wenigstens sein Leichnam gefunden und in geweihter Erde beigesetzt werden kann. Diese wohlbekannte Gefahr, die das Süßwasser-Eis für die Kajaks bedeutet, ist gelegentlich dazu benutzt worden, Mordtaten zu verheimlichen. Die alte Art, Rache in offenem Kampf zu nehmen mit Harpune oder Speer, ist in Grönland heute streng­ stens verboten; deshalb haben verschiedentlich Eskimos sich an Stammesgenossen da­ durch gerächt, daß sie die Fellbespannung des Boots mit dem Messer aufschlitzten. Diese heimtückische Art sichert den Mörder weitgehend vor Entdeckung, denn niemand kann später sagen, ob die Bootshaut durch Eis oder durch einen Messerschnitt verletzt worden ist. So wacker die Eskimos sich der wilden Natur ihrer Heimat entgegenstellen, wenn es notwendig ist, so vorsichtig sind sie doch, wenn sie mit ihren Booten an der Küste entlang reisen. Wer in einem Umiak mitfährt, ärgert sich immer wieder darüber, daß das Fellboot jeder kleinen Krümmung der Küstenlinie folgt und niemals das Wasser von einem Punkt zum andern überquert. Ein Grund für dieses Verhalten mag der sein, daß sich die Eskimos im Boot nichts entgehen lassen möchten, was irgendwo ans Ufer getrieben sein könnte. Um die langen Wasserwege entlang den Küsten der tief ins Land eingeschnittenen Fjorde abzuschneiden, werden Kajaks und Umiaks oft auch an schma­ len Stellen zwischen zwei solchen Buchten über Land getragen. Selbstverständlich muß dann auch die Ladung der Boote von Wasser zu Wasser geschleppt werden. Ein einzelner Kajak trägt nicht viel mehr als das Gewicht des darin sitzenden Eskimos; wenn man aber zwei oder drei Kajaks durch quergelegte Treibholzstöcke oder Ruder verbindet, so kann man eine ganz hübsche Last mitnehmen. Daß ein Eskimo seinen Kajak über Land trägt, wobei das leichte Boot über dem Kopf Ein Schiffy das Geschichte gemacht hat: Die ,Mayflower\ die 1620 die puritanisdoen Pilgerväter nach der Massachusetts-Bay brachte. Im Jahre 1958 segelte eine getreue Kopie der alten yMayflower' auf gleichem Kurs über den Atlantik 132

Leuchttürme und Feuerschiffe sorgen für Sicherheit auf den Seestraßen

Um ein Haar hätte der Frachter «Kirhy Smith» den Tanker «Nyland» mittendurch geschnitten

gehalten wird, sieht man in Grönland nicht selten. Meist ist der Eskimo dann nach einem See unterwegs, um dort zu fischen oder Vögel zu jagen. Einst hat es viele Wild­ schwäne in Grönland gegeben; wenn die großen Schwimmvögel mauserten und infolge­ dessen flugunfähig waren, wurden sie gejagt, so daß sie schließlich ausstarben. Um ein guter Kajakjäger zu werden, muß man früh anfangen. Schon wenn ein Eskimojunge vier oder fünf Jahre alt ist, baut sein Vater für ihn einen kleinen Kajak, und dann geht es hinaus aufs Wasser. Der kleine Kajak wird am großen befestigt, damit er nicht umsdilagen kann, und so bringt der Vater seinem Sohn nadi und nach alle Feinheiten bei. Neuerdings gehört die Kunst des Kajakfahrens und der Eskimo­ rolle mancherorts sogar zum Schulunterricht. Die Robben, deren Fell der unerläßliche Baustoff für den echten Kajak ist, sind heute in Südgrönland selten geworden, eine Folge der gestiegenen Wassertemperatur. Da aber der Kajak nach wie vor für viele Fischer das zweckmäßigste Fahrzeug ist, wird er jetzt anstelle der Robbenfelle mit Leinwand bespannt; sie wird besonders behandelt und gestrichen, damit sie wasserdicht ist. Je weiter man von Grönland westwärts geht, desto plumper werden die Kajaks. In vielen Teilen des von den Eskimos bewohnten Lebensraumes sind sie völlig ver­ schwunden, in anderen werden sie nur noch selten von den fleißigsten Jägern und Fischern benutzt. Aber überall kennt man sie noch, und überall versteht man sie mit einem Minimum an Holz zu bauen. Walroßrippen, Geweihstangen vom Karibu, dem Polarhirsch, und anderes Material, das sich zu diesem Zweck verarbeiten läßt, wird für das Gerippe des Kajaks zugepaßt und in erstaunlicher Weise miteinander verbunden. In Alaska gibt es auch Zweimann-Kajaks, bei denen die beiden Sitzluken hinterein­ ander liegen. Sie werden mit dem Stechpaddel, das nur ein Blatt hat, angetrieben und sind so groß, daß man hineinkriechen und drinnen schlafen kann. Der Rock, den der Eskimo dort trägt, ähnelt mehr oder weniger der langen Frauenkleidung, und der Saum schließt dicht mit dem Rand der Sitzluke ab. Soll die Eskimorolle gemacht wer­ den, so kriecht der Fahrer hinab auf den Boden des Kajaks und zieht dabei den ganzen Körper einschließlich Kopf ein; nur das Paddel wird herausgehalten, und so kann der Kajak auch wieder aufgeriditet werden. Ist das geschafft, kommt der Es­ kimo wieder hervor, drückt die Falten seines Rocks aus, das Wasser läuft ab, und die Fahrt kann weitergehen. Der Zweimann-Kajak wird heute nur noch selten benutzt und ist auch nicht sehr händig; vielleicht ist er der Vorläufer des Einmann-Kajaks. Für die Aufgaben, die mit ihm zu bewältigen sind, ist ein richtig gebauter und ge­ fahrener Kajak wohl das großartigste Produkt der Bootsbauerkunst. In dieser Hin­ sicht war sein einziger Rivale in der Geschichte der Ruderschiffe die aus Zedernholz gebaute und mit Erdpech kalfaterte Galeere, die von den Phöniziern erfunden und von den Griechen in den Zeiten ihrer größten Macht als Kriegs- und Handelsschiff gefahren worden ist. Das große viereckige, oft prächtig gefärbte Leinensegel diente mehr als Schmuck denn als Fortbewegungsmittel, es sei denn, eine günstige Brise habe es gefüllt. Trotz aller Handwerkskunst ihrer Erbauer waren die Dieren und Trieren, die Biremen und Triremen doch in erster Linie von der Muskelkraft der Ruderer abhängig, um ihren Bestimmungsort erreichen zu können. Für eine Fahrt aufs offene Meer hinaus waren sie nicht geeignet. H

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W INDJAM M ER Windjammer - so nennt der Fahrensmann die großen Segelschiffe aus der guten alten Zeit Christlicher Seefahrt. Windjammer, dieses Wort bedeutet nicht etwa, daß der Wind stöhnend und jammernd durchs Takelwerk fährt, sondern es kommt aus dem Englischen, in dem ,jam‘ drücken und pressen bedeutet, weshalb ja auch die ,ausgedrüdcte‘ Marmelade im Englischen ,jam‘ heißt. Ein Windjammer also ist ein Schiff, das vom Wind vorwärtsgedrückt wird - eben ein Segelschiff. Und von Segel­ schiffen soll in diesem Kapitel die Rede sein. Jeder, der sich mit den Sieben Meeren und ihren Schiffen beschäftigt, wird feststel­ len, daß sich in der Entwicklung der verschiedenen Schiffstypen stets eine Beziehung ablesen läßt zu den Ländern, in denen sie entstanden sind: ein neuer Zweck verlangte ein neues Schiff. Wir können hier die Geschichte der Segelschiffe nicht in aller Ausführ­ lichkeit wiedergeben; sie hat begonnen, wie die Schiffahrt überhaupt, mit einem treiben­ den Baumstamm, an den ein Mensch sich anklammerte, um übers Wasser zu gelangen, sie führte über das Floß aus Stämmen oder geflochtenen Binsen und über den aus­ gehöhlten Einbaum zum regelrechten Schiff mit dem inneren Gerippe der Spanten und der Außenhaut aus Planken. Aber niemand weiß, wer als erster auf den Gedanken gekommen ist, den Wind zu nutzen - den Wind, der ungehindert über die weite Fläche des Meeres dahinstreicht und dem Schiff, in dessen Segel er fällt, bei geringerer Arbeit für die Menschen an Bord größere Geschwindigkeit verleiht, als jedes geruderte Fahr­ zeug zu erreichen vermag. Langsam, aber stetig wurden die Segelschiffe, mit denen der Mensch während der längsten Zeit seiner Geschichte die Sieben Meere beherrschte, immer mehr verbessert. Ihre größte Vollkommenheit erreichten die Windjammer in der letzten Periode ihrer Entwicklung. Damals, als schon die ersten, noch unbeholfenen Dampfschiffe die Wellen pflügten, wurden die schönsten und schnellsten Segler gebaut, die es je gegeben hat, die Klipper. Zu ihnen gehörten die nach einem nur kurzen Dasein heute fast völlig vergessenen Opiumklipper. Diese schönen Segler mit der wundervollen Linienführung waren äußerst schnell, und sie spielten eine sehr bedeutende politische Rolle bei der Eröffnung der Handelsbeziehungen zwischen China und der übrigen Welt im vorigen Jahrhundert. Die Opiumklipper haben ihre besondere Geschichte; Basil Lubbock hat diesem kur­ zen, aber brillanten Kapitel aus der Seefahrtshistorie ein eigenes Buch gewidmet. Und die amerikanische Marine Historical Association (Seegeschichtliche Vereinigung) in Mystic, Connecticut, hat eine Reihe von Briefen veröffentlicht, die einer der kühnsten Opiumklipper-Kapitäne geschrieben hat; sie geben uns ein packendes Bild vom Opium­ schmuggel in der ersten Hälfte des vorigen Jahrhunderts. Diese europäischen und ame­ rikanischen Schmuggler haben nicht gerade eine rühmenswerte Rolle gespielt, und ihre Briefe zeigen, daß sie sich um die moralische Seite ihres Rauschgifthandels den Teufel scherten. Aber er bot geradezu ungeheuerliche Möglichkeiten, riesige Summen zu ver­ 136

dienen, und zwar nicht nur für die großen Herren Reeder an Land, denen die Schiffe gehörten, sondern auch für die Kapitäne und ihre Besatzungen, die freilich stets Kopf und Kragen dabei riskierten. Die Geschichte des Opiumschmuggels nach China beginnt in dem portugiesischen Hafenplatz Macao, nicht weit von Hongkong und Kanton entfernt; hier hatten 1556 die Portugiesen eine Kolonie gegründet. Portugiesen brachten auch das erste Opium aus Indien nach China, und 1760 begann ein Handelsherr in Kanton mit dem regel­ mäßigen Import. Das Opium, der getrocknete Milchsaft unreifer Samenkapseln des Schlafmohns, wurde zunächst nur als Medizin benutzt, bald jedoch zog es als Rausch­ gift immer mehr Süchtige in seinen verderblichen Bann. Um 1800 war das Laster so verbreitet, daß die kaiserlich chinesische Regierung jede weitere Einfuhr verbot. In­ zwischen aber hatte die britische Ostindienkompanie, die das Monopol auf den Mohnanbau und den Opiumhandel hatte, entdeckt, was für ein Bombengeschäft man mit dem Opium machen konnte; allein im ersten Jahr 1780 waren 2800 Ballen Opium von Bombay aus verkauft worden. Als das chinesische Einfuhrverbot erfolgt war, hielt sich die Ostindische Kompanie, die über staatliche Machtbefugnisse verfügte, der Form nach an die Bestimmungen - das heißt, sie erlaubte indischen Händlern, das Geschäft zu übernehmen, und verpachtete Schiffe an die Schmuggler. Im Jahre 1826 brachten die Schmuggler bereits 34 000 Ballen Opium nach China, und man hat geschätzt, daß in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts der britische Verdienst am Opiumschmuggel im Jahresdurchschnitt 24 Millionen Mark betrug. Franzosen, Dänen, Schweden fuhren als Schmuggler, und die Amerikaner, die damals die besten und schnellsten Segler bauten, sahen nicht ein, warum sie das lukrative Geschäft andern lassen sollten. Der erste Amerikaner, der sich auf den Opiumschmuggel legte, brachte im Jahre 1805 124 Ballen aus Smyrna in der Türkei nach Kanton. Seit 1745 war durch kaiserlich chinesische Anordnung den Fremden Kanton am Perlfluß als einziger Handelsplatz zugewiesen; die ausländischen Schiffe mußten in Whampoa, 50 Kilometer unterhalb Kanton, vor Anker gehen und ihre Ladung von dort aus durch chinesische Dschunken nach Kanton hinein befördern lassen. Seit 1825 hatten die chinesischen Mandarine die Absperrung des Hafens von Kanton so dicht gezogen, daß die Opiumschmuggler Whampoa nicht mehr anliefen, sondern ihre Ladung weiter südlich löschten. Große Firmen kamen durch den Opiumschmuggel zur Blüte. Hukwa, der berühm­ teste aller chinesischen Handelsherren, verdankte einen Großteil seines fabelhaften Reichtums diesem schmutzigen Geschäft, und nicht anders als er hielten es höchst respektable englische und amerikanische Familien, indische Fürsten und persische Finanzmänner. Die eigenartige, prickelnde Mischung von Gefahr und Geheimnis des Opiumschmuggels zog Abenteurer und Desperados ebenso an wie alles mögliche Ge­ sindel übelster Art. Die meisten von ihnen kannten nur ein Gesetz: die Bindung an ihre Auftraggeber. Aber auch Grünhörner, die von Seefahrt nicht das geringste verstan­ den, fanden sich oft genug zu ihrer nicht geringen Bestürzung eines Morgens mit dröh­ nendem Kopf an Bord eines Opiumschmugglers, wider Wollen und Wissen ,shanghait‘ fast immer in der Betrunkenheit. Die britischen Opiumschiffe wurden meist von früheren Marineoffizieren geführt. U

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die amerikanischen vor allem von jungen, abenteuerlustigen Söhnen wohlhabender Familien Neuenglands. Die Besatzungen waren ein böser Mischmasch aus aller Herren Ländern, aus Kalkutta und Bombay, aus Marseille und London, aus Kanton und von den Philippinen. In den dreißiger und vierziger Jahren lagen die amerikanischen, britisdien und indischen Sdiiffe in hartem Wettlauf um das Anbringen ihrer verbotenen Fracht, und dank des neuen Klippertyps, den die Amerikaner gesdiaffen hatten, ge­ wannen sie das Rennen. Der erste Klipper, die ,Ann McKim‘, wurde 1832 in Baltimore gebaut. Sie war knapp 44 Meter lang, vorn hatte sie 3,3 Meter Tiefgang, achtern wenig über 5 Meter. Diese Klipper waren herrliche Schiffe, scharf gebaut, lang und rank und schlank; die alte Schiffbauerregel ,Länge läuft* war bis zum äußersten befolgt: Die Schiffslänge betrug das Sechs-, ja Siebenfache der Breite. Vor allem aber waren diese Klipper besegelt wie nie ein Schiff zuvor. Die Masten waren von bis dahin unbekannter Höhe und führten sechs, wenn nicht sieben große Rahsegel, über den Mars- und Bramsegeln noch die ,königlichen‘ Royal- und darüber noch die himmelhohen Sky-Segel (Himmel heißt im Englischen: sky). Für ein scharfes ,Am-Winde-Segeln* bei spitz von vorn einfallender Windrichtung befanden sich zwischen den drei Masten je drei Stagsegel. So war es kein Wunder, daß diese schnittigen und so außerordentlich groß besegelten Schiffe bis zu 14 Knoten liefen - das sind über 25 Kilometer in der Stunde. Um der hohen Geschwindigkeit willen war das Fassungsvermögen beschränkt - die Ladung mußte sich lohnen. Tee war das ideale Gut; er erforderte eine schnelle Reise, weil er sonst an Wert verlor, vertrug aber auch eine höhere Fracht. Einige Jahre fuhr also die ,Ann McKinn* im Teehandel, doch dann wurde sie für das Opiumgeschäft eingesetzt. Neben Tee und Opium waren Sklaven und später der Goldrausch in Kalifornien und Australien die großen Gelegenheiten der Klipper: Tee, weil er guten Gewinn abwarf, Opium und Sklaven, weil ihr Transport illegal war und deshalb noch höhere Gewinne einbrachte, der Goldrausch schließlich, weil es die Goldgräber eilig hatten und sich jeden Tag Vorsprung gern viel Geld kosten ließen. Der erste ,extreme* Klipper, wie wir ihn oben geschildert haben, die ,Rainbow*, stammte von John W. Griffiths; Griffiths hat als erster Schiffe nur entworfen, nicht aber selbst gebaut. Die ,Rainbow* lief 1845 von Stapel. Die Spanten am Bug waren nicht wie bei den völligeren Frachtern jener Zeit nach außen gerundet, sondern Vförmig nach innen eingebuchtet, und der Linienriß - ein zur Wasserlinie paralleler Schnitt - zeigte das, was wir heute Stromlinienform nennen. Die ,Rainbow* sah so schlank und schnittig aus, daß Griffiths’ Freunde befürchteten, ein solches Schiff könne einfach nicht sicher sein. Aber bald wurden weitere Klipper dieser Art gebaut, und sie waren noch schneller als die ,Rainbow*; ihr geistiger Vater war Donald McKay in Boston, auf dessen Zeichenbrett die eleganten Linienrisse dieser Renner des Ozeans entstanden. Griffiths, McKay und ihre Konkurrenten entwarfen und bauten die Klipper ganz besonders für den Opiumschmuggel. James Hall in Boston, als Erbauer schneller Segler nur von McKay übertroffen, lieferte drei Klipper an die Forbeses ausdrücklich für dieses Geschäft, und noch mehr bauten Brown & Bell in New York in ihrer vielbeschäf­ tigten Werft am East River unterhalb der Houston Street. Einen besonderen Anreiz, 138

Opiumklipper zu bauen, gab vor allem der Opiumkrieg 1839 bis 1842. Dieser Krieg zwischen China und Großbritannien begann, als der Mandarin Lin in Kanton sich ent­ schlossen hatte, endlich einmal Ernst zu machen mit dem kaiserlichen Verbot, und mehrere Opiumschiffe beschlagnahmte. Der Opiumkrieg endete mit dem Sieg der Engländer: China mußte Hongkong an Großbritannien abtreten, Schanghai und andere Häfen dem Handel öffnen, weißen Kaufleuten und Missionaren besondere Vorrechte geben. Und die Briten erzwangen sich das Recht auf Einfuhr von Opium, obwohl die Chine­ sen sich weigerten, diese Einfuhr als legal anzuerkennen. Während des Opiumkrieges hatten die Amerikaner ihre Chance zu nutzen verstanden und einen hübschen Teil des Opiumgeschäfts an sich gezogen. Die Opiumklipper wurden nach Fernost geschickt, um dort zu bleiben und zwischen Indien und China zu fahren. Es waren keine großen Schiffe; die ,Mazeppa‘, die 16 Jahre lang als Schmuggelschiff fuhr, bis sie in einem Taifun unterging, hatte nur 125 Tonnen und war 28 Meter lang. Die Hauptgefahren des Opiumschmuggels waren Schiffbruch und Seeräuberei. Ging das Schiff in den chinesischen Gewässern verloren, so gab es für die Männer der Be­ satzung eigentlich nur zwei Möglichkeiten: Entweder kamen sie im Orkan oder in der Brandung vor dem Riff um, oder sie überlebten, doch dann meist nur, um chinesischen Wachbooten in die Hände zu fallen. Und man mußte schon Glück haben, wenn man nach einigen qualvollen Monaten, in denen die Gelben mit Foltern nicht sparten, freigelassen wurde. Die halbe Crew der ,Merbudda‘, die vor Formosa strandete, starb unter der Folter, und die gesamte Besatzung der Brigg ,Ann‘, die 1842 dort ebenfalls Schiffbruch erlitt, wurde bis auf neun Mann nach monatelanger Tortur von den Chine­ sen hingerichtet. Aber die Schmuggler wußten, daß das zum Risiko gehörte. Für ein auf Grund gelaufenes oder in einer Stillte, einer völligen Windstille, be­ wegungslos liegendes Schiff gab es aber noch eine weitere Gefahr: Die Piraten, die vor allem die indonesischen Gewässer und die Malakka-Straße unsicher machten. Wenn auch nur eine flaue Brise wehte, konnte jeder Klipper hohnlachend den schwerfälligen Dschunken der Seeräuber davonlaufen oder sie im Gefecht niederkämpfen. Augustine Heard, der Kapitän des amerikanischen Klippers,Emerald', machte kurzen Prozeß mit einer schwarzgestrichenen Piratendschunke, die sich ihm in den Weg stellte. Die Ge­ schütze von vier Seglern, die von den Piraten geentert worden waren, hatte das See­ räuberschiff an Bord. Es half ihm nichts: Heard rammte es. Die Dschunke sank sofort; die im Wasser mit dem Tode ringenden und verzweifelt um Hilfe rufenden Piraten kümmerten ihn nicht, er dachte überhaupt nicht daran, sie an Bord zu nehmen, sondern hielt sich genauestens an den Spruch der Opiumschmuggler: «Immer nur ,Voraus'! Und wenn dir der Teufel in den Weg kommt, schneid ihn mitten entzwei und fahr durch die beiden Stücke!» Nicht immer freilich gingen die Seegefechte für die Opiumschiffe glücklich aus. 1842 wurde die ,Mavis' von Piraten genommen - man hat nie wieder etwas von ihr gesehen oder gehört. Im gleichen Jahr fiel auch die ,Christiana', die von Macao nach Bombay unterwegs war, Seeräubern zum Opfer. Sie blieb verschwunden; Gewißheit über ihr Schicksal erlangte man erst zwei Jahre später, als ihr Sextant und ihr Chrono­ meter zum Verkauf angeboren wurden. Sogar die 150000 Dollar Silbergeld, die an U9

Bord waren, um dafür in Indien Opium kaufen zu können, kamen wieder ans Tages­ licht, dodi wurden sie der Reederei nicht zurückerstattet. Da der ganze Opiumschmuggel eine gesetzwidrige Angelegenheit war, existieren nur wenige Berichte über ihn. Aus diesem Grund sind die jüngst aufgefundenen Briefe des Kapitäns James S. Prescott an seinen Bruder in New York so interessant. Der erste stammt aus dem April des Jahres 1842, und die ganze Sammlung, 22 Briefe, ist ein ein­ dringlicher fortlaufender Bericht über Tun und Treiben an Bord der Opiumklipper. Prescott führte die Brigg ,Antelope‘. Sie hatte nur 370 Tonnen, aber eine Besatzung von 65 Mann, um Piratenangriffen wirksam begegenen zu können, was auch tatsädilich mehrmals notwendig war. Doch solche Gefechte mit Seeräubern machten auf Prescott kaum Eindruck. Er erwähnt sie nur nebenbei mit ein paar Zeilen, indem er etwa schreibt, es habe etwas Ärger mit Piraten gegeben, die das Schiff nachts angegriffen hätten, als solche Flaute herrschte, daß die ,Antelope‘ keinen Wind in die Segel bekam. Mit viel größerer Anteilnahme berichtet er von einigen amerikanischen Klippern, die er wie alle Seeleute bewunderte, von Kanton und seinen Erlebnissen dort. Er erzählt von der ,Ann McKim‘, dem ersten Klipper, mehr aber noch von der ,Houqua‘, die ihren Namen nach dem berühmten chinesischen Handelsherrn Hukwa führte und von Brown & Bell in New York gebaut war. Die ,Houqua‘ führte Kapitän ,Nat‘ Palmer aus Stonington, nachdem er einige Zeit mit dem Klipper ,Paul Jones* auf Handelsfahrt gewesen war. Käp’n Nat - das ist der gleiche, der als ganz junger Seemann als erster den Antarktis-Kontinent gesehen hat (s. S. 269). Prescott schreibt von der ,Houqua* als dem feinsten Klipper, der je gebaut worden sei, obwohl sie an einem Freitag vom Stapel lief, an einem Freitag in See ging und bei ihrer ersten Reise an einem Freitag in Hongkong einlief - man sieht, Nat Palmer war nicht abergläubisch. Die Welt, in der sich Prescott dort in Fernost bewegte, war so ganz anders als das geschäftige Neuengland. Die Stadt Kanton, auf beiden Ufern des Perlflusses gelegen, war ein Labyrinth von winkligen Gassen und Bambushütten. Am Fluß entlang lag eine lange Reihe von ,Hongs‘, Faktoreien oder Lagerhäusern verschiedener Agenten, alle von den Mandarinen lizenziert. Da gab es britische, holländische, französische, spanische, dänische, schwedische, indische, griechische, amerikanische und andere Faktoreien. Die Häuser sahen anständig aus mit ihren weißgekalkten Außenwänden und waren meist zwei Stockwerke hoch. Im Erdgeschoß lagen die eigentlichen Lagerräume, darüber die Kontore und Unterkünfte; aus Sicherheitsgründen verbanden gedeckte Galerien die Hongs miteinander. Auf dem freien Platz zwischen den Lagerhäusern und dem Fluß hatte sich ein Markt aufgetan, zwischen dessen Buden sich ein buntes Gewimmel von hökernden Händlern, Bettlern und Kulis abspielte. Nahebei lagen die wenigen Straßen, in denen die ,weißen Teufel* Ladengeschäfte betreiben durften, und die enge Hauptverkehrsstraße, die Hog Lane, wo es alle Arten von Kneipen, Bordellen und Spielhöllen gab. Kapitän Prescott war allerdings mehr an seinem Profit interessiert als an der so farbfreudigen Umwelt. Mit dem Opiumhandel wurde mächtig Geld gemacht; ein englischer Schriftsteller, William C. Hunter, der 1837 als Fahrgast auf dem Klipper ,Rose* fuhr, sagt, daß diese Reise mit 300 Ballen Opium einen Nettogewinn von 300000 Dollar einbrachte! Und so schreibt auch Prescott in einem Brief: «Es geht 140

verdammt gut. ..», und in einem anderen: «Mein Geschäft läßt sich so gut an, daß ich hoffe, 10000 Dollar zu haben, bevor das Jahr um ist.» Dann berichtete er im Januar 1845 in einem langen Brief an seinen Bruder von „einer kleinen Transaktion», die kürz­ lich vorgenommen worden sei und bei der er (doch das sagt er nicht) der Anführer war. Die Opiumklipper, so setzt er dem Bruder auseinander, durften, dem Abkommen nach dem Opiumkrieg entsprechend, nur drei oder vier Meilen vor Wusung (das ist der Vorhafen von Schanghai) ankern; dort aber waren sie den Stürmen ausgesetzt, und weil es keinen Schutz vor den Elementen gab, bestand immer Gefahr, daß die Schiffe stran­ deten. Durch einen Sturm gezwungen, lief Prescott näher nach Wusung hinein, obwohl er wußte, daß es verboten war; aber dort hatte er eben einen guten Ankerplatz in einem geschützten Hafen. Sechs andere Schiffe folgten ihm. Die chinesischen Behörden wandten sich beschwerdeführend an den britischen Konsul, er solle die Kapitäne ver­ anlassen, den verbotenen Platz wieder zu verlassen. Dieser hatte jedoch keinerlei Machtbefugnis über amerikanische Schiffe, und so waren die Chinesen entschlossen, Gewalt anzuwenden. «Wir aber», schreibt Prescott, «beschlossen zu bleiben und uns gegenseitig zu schüt­ zen bis zum äußersten. Wir Schmuggler sind immer wohlbewaffnet und gut bemannt und schätzen es, für unseren Schutz in jedem Fall selbst zu sorgen!» In diesem Fall schlugen die sieben amerikanischen Schiffe unter Prescotts Führung die chinesische Hafenpolizei zurück; Prescott erwähnt keinerlei ärgerliche Folgerungen dieser Aus­ einandersetzung. Später fragt er seinen Bruder: «Hättest Du keine Lust, Schmuggler zu sein? Was denken denn die Leute daheim, was ich hier mache? Wie schade, daß Du nicht mit auf Fahrt gegangen bist. Jetzt wärst Du ein Schmuggler, hättest ein feines Kommando und könntest Dein Glück machen!» Mit großer Begeisterung schreibt er über das Einlaufen des Klippers ,Rainbow‘, « des größten Schiffs, das je nach China gekommen ist». Trotz schlechten Wetters hatte sie nur 92 Tage für die Reise von New York um Kap Hoorn nach Kanton gebraucht. Sie löschte ihre Ladung, übernahm neue und machte die Rückreise in 88 Tagen - so schnell, daß sie vor jedem anderen Schiff selbst die Nachricht von ihrer Ankunft in Kanton nach New York mitbrachte. Prescott spielte aber doch immer wieder mit dem Gedanken, den Kapitänsberuf an den Nagel zu hängen, wie es verschiedene seiner Kameraden getan hatten, darunter auch Warren Delano, der Urgroßvater von Franklin Delano Roosevelt; er war nach mehreren ertragreichen Jahren im Opiumschmuggel schließlich daheimgeblieben und als Teilhaber in die Firma Russell, Sturges & Co. eingetreten. Durch ihn wäre auch Prescott die Möglichkeit geboten gewesen, sich an der Firma zu beteiligen, doch er wollte eben immer «nur noch eine Fahrt» machen. «Ich werde die Segelei leid», schreibt er, „und ich denke, daß ich es noch höchstens zwei oder drei Jahre machen werde. Ich habe keinen Spaß mehr daran.» Nun, zwei oder drei Jahre später, im Dezember 1847, klagte er immer noch, daß «alles hier in Fernost unerfreulich geworden und ohne Saft und Kraft ist; mehr und mehr fühle ich jeden Tag Heimweh. Viele meiner alten Bekannten sind nach Hause gegangen oder tot. Die großen Veränderungen, die stattgefunden haben, auch in diesem Land hier, machen mir das alles überdrüssig. Manchmal, wenn ich allein auf See bin. 141

überfällt mich schrecklicher Trübsinn. So ist es vor allem, wenn ich keinen Passagier an Bord habe. Mit meinen Offizieren spreche idi überhaupt nichts. Daher dieses Trübsal­ blasen.» Die letzten Sätze enthüllen die ganze Vereinsamung, die ein Schiffskommandant jener Zeit zu tragen hatte. Man stand damals auf dem Standpunkt, es sei unmöglich, die Disziplin zu wahren, wenn sich der Kapitän nicht von all und jedem fernhielt. Er sprach mit niemandem, es sei denn, er habe einen Befehl zu geben. Er aß allein in seiner ,splendid isolation', hatte seine eigene Bedienung, war ohne jede Berührung mit dem Leben auf seinem eigenen Schiff. Vielleicht mag dies Prescotts Schwermut verständlich machen, daß er sein ganzes Leben lang auf Großer Fahrt unter diesen Umständen verbracht hat. Er war sicher, daß er nun aber mit dem Jahre 1848 endlich dieses Leben an Bord aufgeben könne. Im Mai jedoch hatte er «irgendwo in der Chinesischen See» einen Zu­ sammenstoß mit einem Dampfer; sein Schiff wurde übel mitgenommen, doch gelang es ihm, es sicher in den Hafen zu bringen. Aus seinen Briefen aber kann man lesen, daß der Schwung seiner Jugendtage dahingegangen war. Um diese Zeit nahmen außer­ dem die Angriffe der chinesischen Piraten in alarmierender Vcise zu, obwohl britische Kriegsschiffe unterwegs waren, um die Küsten von dieser Pest zu befreien. Manche der Seeräuber-Dschunken hatten mehr als 600 wohlbewaffnete Piraten an Bord, und von solchen wurden die Klipper ,Omega‘ und ,Carolina‘ überfallen, die in der Tschimmo-Bucht in der Nähe von Futschau ankerten. Die Offiziere und die Besatzungen der Klipper wurden niedergemacht, die Ladung geraubt. Die Tage der Opiumklipper waren gezählt, und einer nach dem anderen verschwand. Die ,Sylph‘ verließ Hongkong mit dem Bestimmungshafen Singapur, kam aber niemals dort an; sie ist, wie man annimmt, von Piraten abgefangen worden. Eine Seeräuber­ flotte brüstete sich sogar ganz offen damit, nicht weniger als fünf der bekanntesten Klipper weggenommen zu haben. Kapitän Prescott schrieb seinen letzten Brief am 20. Februar 1849. Im August dar­ auf verließ er Schanghai in Richtung Hongkong als Kapitän der Bark ,Coquette‘. Ein anderes Schiff, der Klipper ,Gazelle‘, war zu gleicher Zeit in derselben Gegend, und aus dem Schiffstagebuch läßt sich ersehen, daß die ,Gazelle‘ in einen Taifun geriet, genau dort, wo auch die ,Coquette‘ gewesen sein muß. Der Kapitän der ,Gazelle‘ schrieb damals in sein Schiffstagebuch: «Schiff von Wasser überflutet. Großmast ge­ kappt, konnte aber Takelwerk nicht in Lee loswerden, da unter Wasser. Gekappter Großmast geriet unter den Bug und riß Ruder weg. Große Wassermengen in der Kajüte. Gelenzt und geschöpft.» Die ,Gazelle‘ kam durch; die ,Coquette‘ aber und ihren Kapitän hat man nie wieder gesehen. So hat Prescott im Rasen eines Orkans sein letztes Spiel gespielt und ver­ loren - ein ganz besonderer Kapitän auf einem ganz besonderen Schiff und in einer ganz besonderen Art von Handel. Doch damals war das Segelschiff als das Verkehrsmittel der Sieben Meere überhaupt schon vom Tode gezeichnet. Das große Kapitel, dessen Anfang geschrieben wurde noch vor dem Beginn der historischen Zeit, ging seinem Ende entgegen. Viele Jahrtausende waren Segel über die See dahingezogen. Schon die ältesten Völker, von denen Über­ 142

lieferungen auf uns gekommen sind, hatten Segelschiffe. Ägyptens Schiffe fuhren unter Segel - freilich nur bei achterlichem Wind, sonst wurden sie gerudert - nach Punt und Ophir. Da die ägyptischen Schiffbauer kein Langholz hatten, wurden diese Fahrzeuge sehr mühselig aus kurzen Holzstücken zusammengebaut, die mit hölzernen Nägeln fast wie im Mauerverband aneinandergefügt wurden. Dicke Trossen hielten das flachbodige Schiff rundum und an Bug und Heck - beide waren stumpf - zusammen. Die Phönizier, die besten Seefahrer des Altertums, bauten ihre Schiffe aus den präch­ tigen Zedern des Libanons, und sie haben auch den Kiel erfunden. Die Wannengestalt, wie sie die ägyptischen Schiffe hatten, wurde aufgegeben, die phönizischen Schiffe wur­ den länger und schlanker. Ein festes Deck wurde eingezogen. Mit diesen wirklich see­ gehenden Schiffen, die allerdings ebenfalls vorwiegend gerudert wurden und nur bei günstigem Wind ihre prächtig gefärbten Segel setzten, wurden die Phönizier zur ersten großen Seehandelsnation; nicht der Krieg, nicht das Abenteuer, sondern der Handel war es, der sie ihre Schiffe fortschreitend verbessern ließ. Überall im Mittelmeer hatten sie ihre Kolonien und Handelsniederlassungen, und ihre Schiffe fuhren auch für andere Herrscher und Völker, für König Salomo ebenso wie für die Perser, und für die ägyp­ tischen Pharaonen haben sie sogar Afrika umfahren (s. S. 199).

Eines der ägyptischen Handelsschiffey die nach Punt und Ophir fuhren, wird mit Tauschwaren beladen

Auch die griechischen Schiffe, von denen auf Seite 287 noch ausführlich zu reden sein wird, waren vorwiegend Ruderschiffe, die nur vor dem Wind zu segeln vermochten, bei achterlichem, von hinten kommendem Wind also. Und nicht sehr viel besser waren die Schiffe zu der Zeit, da Rom das Mittelmeer und damit, wie seine Bürger glaubten, die ganze Welt beherrschte. Die Schiffe wurden gerudert und setzten ihre Segel nur zu­ sätzlich; die Handelsfahrzeuge waren meist schwerfälliger und hochbordiger als die schnellen Kriegsschiffe, die im Gefecht ausschließlich gerudert wurden. Während im Mittelmeerraum sich der Schiffstyp nur wenig veränderte - die geruderte Galeere wurde das vorherrschende Schiff -, ging die Entwicklung im Norden mit den Drachen­ booten der Wikinger weiter. Es ist wahrhaft bewundernswert, was diese flachgehenden, niedrigen ,Meerdrachen* geleistet haben, die geseglt und gerudert wurden (s. S. 203). 1 4 3

Doch ehe wir nun die mit dem Mittelalter einsetzende Entwicklung der ,Christlichen Seefahrt* mit seegehenden Segelschiffen betrachten, seien die allerwichtigsten Grund­ begriffe genannt. Da ist zunächst die Takelung. Darunter wird alles verstanden, was zum Anbringen und Handhaben der Segel auf einem Sdiiff dient: Masten, Rahen, Gaffeln und Tauwerk. Zwei Hauptarten werden unterschieden: die Rahentakelung, mit horizontal an den Masten aufgehängten Rundhölzern, den Rahen, für die Befesti­ gung der Segel, und die Gaffeltakelung, bei der ein um den Mast in schräger Richtung drehbares Rundholz, die Gaffel, zur Segelführung dient. An Sdiiffen unterscheidet man hauptsächlich: Vollschiffe (mit Rahentakelung an allen Masten), Barken (meist drei Masten, an den beiden vorderen Rahentakelung, am letzten Gaffeltakelung), Briggen (zwei Masten, beide mit Rahen), Schonerbarken (nur der erste Mast mit Rahentakelung, die beiden anderen mit Gaffeltakelung), Schonerbriggen (mit zwei Masten, der erste mit Rahen, der zweite mit Gaffeltakelung), Dreimastsdioner (der vordere Mast mit Rahen- und Gaffeltakelung, die beiden anderen mit GafiFeltakelung), Zweimastschoner, Gaffelschoner (alle Masten mit Gaffeltakelung; über dem Gaffelsegel kann ein zweites, das Gaffeltoppsegel, geführt werden), Kutter (einmastig mit Gaffeltakelung). Alle kleineren Fahrzeuge haben Gaffeltakelung, weil diese leichter zu bedienen ist als die Rahentakelung; die Gaffeltakelung ist auch die im Segelsport übliche. Die Lugger­ takelung ist durch ein lateinisches Segel gekennzeichnet, das an einer langen, leichten, sehr schräg gestellten Rahe gefahren wird und fast Dreiecksform hat. An Rundhölzern gehören zum Takelwerk einmal die Masten mit ihren Verlänge­ rungen, den Stengen; ihr brillenartiges Verbindungsstück heißt Eieshoofd (Eselshaupt). Masten ohne Stengen werden Pfahlmasten genannt. Alle anderen Rundhölzer - auch Rahen und Gaffeln - heißen Spieren. Kennen muß man auch die Namen der Masten. Bei einem Dreimast-Vollschiff heißt der vordere Fockmast, der mittlere Großmast, der hinten Kreuzmast. Bei einer Bark heißt der letzte Mast, der keine Rahen besitzt, Besanmast. Auf Briggen und Schonern heißt der hinterste Mast Großmast, der vordere Fockmast. Viermast-Voll­ schiffe hatten (von vorn nach achtern gezählt) Fock-, Groß-, Achter- und Kreuzmast; Fünfmast-Vollschiffe Fock-, Groß-, Mittel-, Achter- und Kreuzmast; Viermastbarken besitzen Fock-, Groß-, Achter- und Besanmast, Fünfmastbarken Fock-, Groß-, Mittel-, Achter- und Besanmast. Die Segel sind entweder viereckige Rahsegel, die mit ihrer Oberkante an den quer­ schiffs an den Masten angebrachten Rahen befestigt sind und durch die an den RahEnden beiderseits angreifenden Brassen der Windrichtung entsprechend geschwenkt (gebraßt) werden; die Unterecken der Rahsegel heißen Schothörner, die Oberecken Nocken. Im Gegensatz zu den Rahsegeln stehen die Schratsegel mit ihrer Vorderkante in der Mittschiffsebene; ihr Hinterende wird durch eine Schot eingestellt. Schratsegel sind die trapezförmigen Gaffelsegel; die viereckigen Sprietsegel, die durch das diagonal verlaufende Spriet im Winde gehalten werden; die dreieckigen Stagsegel, die an einem Stag, einem zum ,stehenden Gut* (s. u.) gehörenden Tau, fahren. Die Schratsegel ermög­ lichen es, höher oder dichter im Wind zu liegen, und sind, wie wir schon sagten, in der Bedienung einfacher. Rahsegel sind leistungsfähiger und vor allem bei raumem Wind vorteilhaft. ,Raum* kommt ein Wind ein, wenn er ,achterlicher* als ,dwars* ist: achter144

lidi ist alles, was von hinten kommt oder hinten liegt, und dwars ist alles, was unter rechtem Winkel zur Mittschiffslinie liegt. Achterlicher als dwars kommt also ein Wind unter weniger als 90 Grad ein - man sieht, die Seemannssprache hat genau wie die der Jäger oder der Bergleute ihre Geheimnisse. Zu den Schratsegeln zählen auch die Klüver; die Vorsegel, die als Stagsegel am Klü­ verbaum gefahren werden. Das ist die Spiere, die über den Bug hinausragt; Vorsegel sind die Stagfock (wenn nur ein einziges geführt wird), die Klüver, der Jager und der Flieger. Jedes Segel besteht aus zusammengenähten Segeltuchstreifen, den Kleidern oder Bahnen, am Rand mit eingenähter Leine, dem Liek, an dem sich Schleifen - die Legel befinden; der obere Rand der Rahsegel (Rahliek, Ansdilagliek) wird mit Bändsein auf der Rahe straff festgebunden. Alle zu einer vollständigen Takelung gehörenden Segel eines Schiffes bilden ein Stell Segel oder die Besegelung. Die Segel werden geheißt, indem man sie am Mast be­ festigt, und gestrichen, indem man sie samt den Rahen von den Masten abnimmt. Bei starkem Wind werden die Segel gerefft, das heißt verkleinert. Segel setzen heißt, sie dem Wind aussetzen; das Gegenteil ist das Bergen oder Festmachen der Segel, wobei sie auf den Rahen didit zusammengezogen (aufgegeit) und -geschnürt werden. Segel anschlagen oder unterschlagen bedeutet, sie an den Rahen befestigen; abschlagen: sie von den Rahen lösen. Unter Segel gehen sdiließlich ist das gleiche wie Segel setzen und die Anker lichten. Und dann sollte man auch die Namen der Segel kennen. Das unterste Segel an einem vollgetakelten Mast heißt jeweils nach dem Mast, an dem es fährt, also Fock-, Groß­ segel usw. Darüber stehen von unten nach oben: Untermarssegel, Obermarssegel, Unterbramsegel, Oberbramsegel, Royal (Reuel) und schließlich bei sehr großen Schif­ fen die Skysegel. Früher führten die Rahsegel für achterlichen Wind noch Verbrei­ terungen, die Leesegel. Und damit sind wir bei Lee und Luv. Der Fahrensmann orientiert sich grundsätzlich nach der Windrichtung: Der Wind kommt von Luv ein und weht nach Lee, aus welchem Grunde jede Landratte, wenn sie gezwungen ist, dem Meeresgott ihr Opfer darzu­ bringen, an den schönen alten Spruch denken muß: ,Speist du nach Lee, geht’s in die See - speist du nach Luv, kommts wieder ruff!‘ Und weil wir gerade bei Luv und Lee waren, sei auch gesagt, was Back- und Steuer­ bord ist. Wenn man achtern (hinten) an Bord steht und nach vorn sieht, so ist Backbord alles, was sich auf der linken Hälfte des Schiffes befindet, Steuerbord alles auf der rechten Hälfte. Doch nun zurück zur Takelung! Neben den Rundhölzern (den Masten, Rahen, Spie­ ren, Gaffeln) und den Segeln gehört als drittes zur Takelage das Tauwerk. Da gibt es wieder stehendes und laufendes Gut. Das stehende Gut dient zur Befestigung der Ma­ sten, Stengen und des Bugspriets (das ist ein fest mit dem Schiff verbundener ,Klüverbaum‘, der nicht wie dieser weggenommen - ,eingerannt‘ - werden kann); hierher gehören die Wanten, die den Mast nach der Seite hin abstützen, die Stagen, die in Längs­ schiffebene stehen, und die Pardunen - das sind die Verstagungen achterlich von den Wanten. Das laufende Gut dient dem Bewegen und Befestigen der Rahen, Gaffeln und

Bäume sowie zum Setzen, Bewegen und Bergen der Segel. Hierher gehören die Taljen - das sind Flaschenzüge die Brassen, die das Rahsegel in seitlicher Richtung drehen, die Toppnanten für die Bedienung und das Feststellen der Rahen und noch mancherlei anderes Gut, das wir hier einfach nicht nennen können. Wer sich für all das und für die Seemannssprache interessiert, sei auf drei Bücher ver­ wiesen: Auf das seemännische Hand- und Wörterbuch von Gurt Eichler: ,Vom Bug zum Heck*, und auf die beiden Werke mit dem gleichen Titel: ,Seemannschaft‘, das eine von V. Nostiz-Jänkendorf, das andere von Walter Gladisch und Alfred Schulze-Hinrichs. Und nun sei der Bericht von der Geschichte der Segelschiffe wiederaufgenommen. In der ersten Hälfte des Mittelalters entwickelten sich im Mittelmeer sowie in Nord- und Ostsee wirklich echte Segelschiffe, die keines Ruderns mehr bedurften. Im Mittelmeer waren es die sogenannten ,runden Schiffe*, höchstens 20 Meter lang, 7 Meter breit und mit zwei Masten, an denen Lateinersegel geführt wurden. Aus ihnen bildeten sich vom 12. Jahrhundert an die beweglicheren Gailionen oder Galeonen heraus, die allmählich länger, schlanker und schneller wurden und im 16. Jahrhundert bei knapp 30 Metern Länge und etwa 9 Metern Breite zwei Masten mit je drei Rahsegeln, ferner ein Bugspriet, an dem ein Rahsegel gefahren wurde, und einen dritten, kleineren Mast mit einem lateinischen Besan besaßen, manchmal sogar noch einen vierten Mast, ebenfalls mit einem lateinischen Segel. Der Rumpf war immer noch voll und rund gebaut, das Schiff lag hochbordig im Wasser, das Vorschiff und besonders das Hinterschiff trugen Aufbauten von mehreren Stockwerken - die Schanze, das Kastell, die Hütte oder Kampanje ge­ nannt. Kleiner als die Galeonen waren die Karaveilen - die Schiffe, mit denen Kolumbus nach Amerika gefahren ist, Vasco da Gama Afrika gerundet hat. Die Karavellen waren Dreimaster, die meist vorn Rah-, achtern Lateinsegel hatten. Der Galeone verwandt war die Kogge der Nord- und Ostsee, das Handels- und Orlog- (Kriegs-)schiff der Hanse, auch sie bauchig, hochbordig, aber seetüchtig. Sie hatte zwei Masten mit rechteckigen Segeln an losen Rahen sowie einen Achtermast mit Lateinersegel, um besser am Wind liegen zu können. Die hansischen Koggen waren etwa 200 Tonnen groß, als Orlogschiffe nahmen sie um 1370 bis zu 100 Krieger und 20 Pferde an Bord, und um diese Zeit führten sie auf den Kastellen vorn und achtern auch schon Geschütze. Um 1400 waren die englischen Koggen bereits bis zu 600 Tonnen groß, und von den größten Orlogschiffen der Hanse im 16. Jahrhundert, ,Jesus von Lübeck* und ,Großer Adler von Lübeck*, war schon auf Seite 127 die Rede. An den Entdeckungsreisen hatten die Hansekoggen keinen Anteil. Die große Zeit der Vorstöße nach Indien und in die Neue Welt nahm ihren Ausgang von Sagres, einem kleinen Hafen an der äußersten Südspitze von Portugal, 21 Jahre nachdem der portu­ giesische König Johann eine englische Prinzessin geheiratet hatte. Im Jahre 1384 wurde ihm sein Sohn Heinrich geboren, und schon als halbes Kind noch begeisterte sich dieser Prinz für alles, was Meer, Schiff und Seefahrt hieß. 1416 gründete Prinz Heinrich in Sagres eine Seefahrerschule; jeder, der dabei helfen konnte, war eingeladen - arabische Mathematiker und Kartographen, die wußten, wie man mit dem noch ganz primitiven Kompaß jener Zeit umzugehen hatte, jüdische Astronomen, italienische und spanische Seeleute. Eine hervorragende Bibliothek wurde zusammengetragen (noch gab es keine gedruckten Bücher!), in der sich auch die Reisebeschreibung des Marco Polo befand, der 146

Kogge des 15. Jahrhunderts (nach einem Stich des ^Meisters W mit dem Schlüssel^)

hundert Jahre zuvor über Land ins fernöstliche Reich des Großkhans der Mongolen gereist war. Wie mag der Prinz staunend bei Marco Polo gelesen haben, daß die see­ gehenden Schiffe des Ostens das Reich der Seide mit Indien, Persien, Arabien ver­ banden, daß der Großkhan über wahre Riesenschiffe verfügte: «Viermaster mit bis zu sechzig Kabinen; ihr Rumpf war in dreizehn Sdiotten eingeteilt, und je nach Größe waren Besatzungen bis zu dreihundert Matrosen an Bord. Sie waren in der Lage, tausend Körbe Pfeffer aufzunehmen; sie führten audi bis zu zehn Boote mit, die dazu verwandt werden konnten, unterwegs zu fischen oder die Anker zu setzen. Auf soldien großen und wohlausgerüsteten Schiffen ließ es sidi schon gut reisen» (Samhaber). Bessere Schiffe, als es zu seiner Zeit an Westeuropas Küsten gab, wollte der Prinz haben, denn seine Sehnsucht ging nach fernen Küsten; besseres Takelwerk sollten die Schiffe führen, denn sie sollten den Weg über den Ozean nehmen, sollten sich frei­ machen von der Küste. So wurden die Karavellen verbessert, so auch die Karacken, Schiffe vom Galeonentyp, zwar langsamer, dafür aber auch geeignet, mehr Last zu tragen. Prinz Heinrich freilich ist selbst nie aufs Meer hinausgefahren. Dennoch trägt er den Namen ,Heinrich der Seefahrer' zu Recht, denn mit seiner Schule in Sagres beginnt die wirklich große Zeit der Segelschiffe. Zuerst segelten die Portugiesen und Spanier hinaus, unbekannten Ländern jenseits unbekannter Meere entgegen. Die Engländer, die Holländer, die Franzosen, die Skan­ dinavier folgten. Die Schiffe wurden weniger schwerfällig, die Takelung wurde ver­ bessert, man lernte immer mehr die Kunst des ,Am-Winde-Segelns', wozu die Rahen in den richtigen Winkel zur Längsrichtung des Schiffes gestellt werden mußten, damit das Schiff auch bei spitz von vorn einfallendem Wind vorankam. Längst waren die alten, an Back- und Steuerbord angebrachten Steuerriemen verlassen; ersetzt wurden 1

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sie zuerst durch ein am Bug längsschiffs stehendes Ruderblatt, das anfangs durch eine von mehreren Männern bediente Pinne, später durch das zum Symbol aller Seemann­ schaft gewordene Steuerrad gedreht wurde. Zweidecker kamen auf; einer der ersten war die ,Henry Grace ä Dieu‘, erbaut 1514 in Wbolwich; sie führte schon 34 Geschütze, außerdem ncxh etwa 90 leichte Rohre. Die schweren Geschütze standen in der unteren Batterie dicht über Wasser, die ,Stückpforten*, durch die die Kanonen schossen, waren noch klein. Ähnlich den mächtigen Orlogschiffen der Hanse war der für seine Zeit sehr große englische königliche Zwei­ decker ,Great Harry', 1555 erbaut; mit seinen knapp 1000 Tonnen war er freilich noch nicht so groß wie etwa die ,Großer Adler von Lübeck'. Bei den Handelsschiffen blieb vorerst noch die Karavellen- und Koggenform vorherrschend, doch baute man auch schon kleinere, schmalere Jachten mit schärferer Linienführung. Das 17. Jahrhundert brachte dann entscheidende Verbesserungen, die Bramsegel, die Leesegel, die DreimastVollschifftakelung mit Bugspriet, das Spill. In jedem alten Seefahrtsbuch kommt das Spill vor, jene Winde, mit der die Ankerkette oder Trossen eingeholt und schwere Lasten gehievt werden. Das klassische Spill ist eine Winde mit senkrechter Achse und Welle; in den Spillkopf, über den die Kette oder die Verholtrosse läuft, werden die Spillspaken eingesteckt, mit der die Mannschaft um das Spill herumging und bei der Arbeit ihre ,Shanties' sang, ihre Lieder vom Leben an Bord, von Fernweh und von Heimweh - Lieder, die freilich nicht immer für zartbesaitete Ohren bestimmt waren. Annemarie, Annemarie vorbie! Wenn ich von Lande fahr, weht mir dein blondes Haar. Komm ja zurück übers Jahr oder nie . . . Westward ho! Anna Maria, Anna Maria, o mia! Wenn ich zur Heimat fahr, weht mir dein schwarzes Haar Augen und Anker klar: Homeward he! ... Meerfrau Wenn um Kap Hoorn ich fahr hilft mir kein blondes Haar, hilft mir kein schwarzes Haar. Ohne dein, ohne dein blankes Haar, sind wir verlassen, verloo-ren, sind wir verlassen, verlorn . .. (Aus O. Bartning: Entzückte Meerfahrt) 148

Die wichtigsten Schiffe des 17. bis 19. Jahrhunderts wurden dann die Linienschiffe; Frankreich war zunächst führend im Bau, bis die Engländer ihren Rivalen aufholten. Drei- und Vierdecker entstanden, und auch die großen bewaffneten Handelsschiffe, die Ostindienfahrer, wurden nach dem gleichen Vorbild gebaut. 1637 schuf der geniale Schiffsbaumeister Phineas Pett den ersten britischen Dreidecker, die ,Sovereign of the Seas‘, ein Schiff von 1600 Tonnen, 76 Meter lang, fast 11 Meter breit, mit 100 Kanonen und 800 Mann Besatzung an Bord. Das klassische Linienschiff schließlich ist Nelsons Flaggschiff ,Victory‘ geworden, die heute noch in Portsmouth zu sehen ist (s. S. 319). Neben den Linienschiffen, die schließlich, als der Dampfantrieb aufkam, mit Ma­ schinen versehen wurden (und damit ist an dieser Stelle die Geschichte des unter Segel fahrenden Linienschiffs zu Ende), gingen als kleinere Schiffe die Fregatten, schnel­ lere und handigere Zweidecher mit Dreidechertakelung, und die Korvetten, die nur auf dem Oberdeck Kanonen führten. Als Handelsfahrzeuge dienten vor allem Briggen, Schoner und Kutter. Seit 1761 wurde der Boden der Holzschiffe zum Schutz gegen den gefährlichen Bohrwurm mit Kupferhaut beschlagen, 1787 entstand in England das erste größere Schiff aus Eisen - bald nachdem man gelernt hatte, Eisen zu walzen. Im 19. Jahrhundert kannte jeder Junge in jedem Hafen auf beiden Seiten des »Großen Wassers* all die verschiedenen Schiffstypen, die es nun, kurz vor dem Sieg des Dampfschiffs, in verwirrender Vielfalt gab. Großartige Schiffe bauten seit ihrem Be­ freiungskrieg 1775 bis 1783 die Amerikaner. Berühmt waren die Werften und die Kapitäne der Neuengland-Staaten, aber New York war ihnen mindestens ebenbürtig, wenn nicht - ausgenommen vielleicht den einen großen Donald McKay aus Boston überlegen. Der Biograph von William Henry Wegg, einem der führenden New Yorker Schiffbauer dieser Zeit, schreibt, daß zwischen 1807 und 1865 die knappe Meile am Ufer des East River mehr zur Entwicklung des Schiffbaues beigetragen hat als irgend­ ein anderer Platz auf der Erde, mit möglicherweise einer Ausnahme: dem Clyde bei Glasgow, wo die berühmtesten britischen Werften lagen. Innerhalb dieser einen Meile, dem Ufer zwischen Grand Street und 13. Straße gegenüber, lagen die Werften von Webb, von Brown & Bell, von Smith & Dimon, von W. H. Brown und den Wester­ veits - alles Namen, die in der Christlichen Seefahrt einen guten Klang hatten. Boston freilich überrragte noch New York. Hier errichtete Donald McKay seine Werft, nachdem er bei Jacob Bell gelernt hatte, und hier nun entstanden die vollendetsten Segel­ schiffe, McKays Klipper. Sein erster, die ,Staghound‘, lief am 7. Dezember 1850 von Stapel. Im Jahr darauf baute er die »Flying Cloud*, die zweimal auf der Reise von New York nach San Francisco rund um Kap Hoorn weniger als 90 Tage brauchte eine Leistung, die nur noch von einem einzigen anderen Schiff erreicht wurde. Es waren Rekordschiffe, die von McKays Werft stammten. Seine hinreißend schnittige »Lightning* machte über eine Tagesstrecke von 436 Seemeilen im Durchschnitt etwas mehr als 18 Knoten. Es gibt in der Tat nur zwölf Segelschiffe, die mehr als 400 Meilen an einem Tag schafften, und zehn von ihnen waren Klipper von McKay. Seine ,James Baines* hielt den Rekord für die schnellste Reise über den Atlantik: Zwölf Tage sechs Stunden brauchte sie für die Fahrt von Boston nach Liverpool, und für eine Reise rund um die Welt 134 Tage. Als McKay im Jahre 1852 eine neue »Sovereign of the Seas* baute, war sie mit ihren 2421 Tonnen so groß, daß niemand sich fand, der bereit war, dieses M

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Schiff nach den Plänen zu kaufen; er mußte es auf eigene Rechnung bauen und auf Erprobungsfahrten schicken, bis man es ihm abkaufte. Im Jahr darauf baute er die ,Great Republic', ein Riesenschiff mit 4555 Tonnen; sie war 102 Meter lang, das Skysegel am Großmast stand mehr als 60 Meter über Deck! Die Klipper flogen im Opiumschmuggel über den Pazifik, sie brachten in sausender Fahrt die Goldgräber, die es ja so eilig hatten, nach Kalifornien, sie jagten in rund 100 Tagen mit Tee von China nach England. Mit angehaltenem Atem verfolgte die Welt das Rennen dieser Klipper, hohe Wetten wurden auf den Sieger abgeschlossen, und die Londoner Handelsherren stifteten einen Preis für den schnellsten Klipper jedes Jahres. Besonders berühmt geworden ist die Wettfahrt der fünf Klipper ,Fierry Cross‘, ,Ariel‘, ,Taeping‘, ,Taitsing‘ und ,Serica‘ von Futsdiau nach London im Jahre 1866. 99 Tage waren die beiden ersten, die ,Taeping‘ und die ,ArieP, unterwegs gewesen, ohne sich auch nur einmal in Sicht zu bekommen, bevor sie die Themsemündung erreichten, und dennoch liefen sie mit nur zwölf Minuten Abstand in London ein! Aber auch die von China nach Amerika gehenden Teeklipper erreichten Rekordzeiten: Die ,Rainbow‘ stellte ihren ersten Rekord mit einer Reisezeit von 109 Tagen zwischen Kanton und New York auf. Den traurigen Ruhm, die längste Zeit gebraucht zu haben, erntete die ,Eagle‘, die für den Weg von Wusung nach Boston 166 Tage brauchte. Ehe wir die Geschichte von der Christlichen Seefahrt unter Segel schließen, sei noch der deutschen großen Segelschiffe gedacht, die zugleich die größten waren, die je gebaut worden sind. Deutschland fehlte lange Jahrhunderte unter den Seemächten, seitdem die Hanse ihre Macht verloren hatte. Die Erbschaft: der Hanse traten insbesondere die Niederlande an, die im 17. Jahrhundert die wichtigste Seemacht wurden, bis Groß­ britannien nach dem Erlaß der Navigationsakte von 1651, durch die der Handel mit England zu fast ausschließlicher Benutzung britischer Schiffe gezwungen wurde, und durch drei erbitterte Seekriege die Herrschaft an sich riß. Eine bescheidene Seemacht auf deutschem Gebiet baute um diese Zeit lediglich Brandenburg unter dem Großen Kur­ fürsten Friedrich Wilhelm auf, freilich mit holländischer Hilfe und unter holländischer Leitung. Der Niederländer Benjamin Raule gab dem Großen Kurfürsten den Rat, an der afrikanischen Westküste eine Kolonie zu gründen. (Bis in die dreißiger Jahre un­ seres Jahrhunderts stand im Berliner Altstadtkern noch ,Raules HoP, wo der ,Oberdirektor der Commerzien zu Wasser und der Schiffahrt* gewohnt hatte.) Im Herbst 1680 gingen zwei Schiffe unter kurbrandenburgischer Flagge nach Afrika unter Segel, die ,Wappen von Brandenburg* und die ,Morian*. Die Holländer nahmen zwar die ,Wappen* weg, der holländische Kapitän der ,Morian* aber erreichte im Mai 1681 das Kap der Drei Spitzen (Tres Puntas) und schloß mit Negerhäuptlingen einen Schutzund Handelsvertrag ab. Eine Afrikanische Handelskompanie wurde gegründet, und am 1. Januar 1683 hißte der brandenburgische Major Otto Friedrich von der Goeben, der mit zwei Schiffen, der ,Kurprinz* und der ,Morian*, nach der Goldküste gesegelt war, unweit des Kaps der Drei Spitzen die Flagge mit dem Roten Adler. Das Fort Groß-Friedrichsburg wurde errichtet, im Jahre darauf folgten drei weitere, davon eines auf der Insel Arguin in der Senegalmündung. In der Heimat, in Emden und in Pillau, entstanden im Lande selbst gebaute Schiffe, brandenburgische Fregatten schlugen sich wacker im Krieg gegen Schweden um Pommern, doch bald war der Traum von 150

Der Golfstrom (Gemälde von Winslow Hower)

Der Klipper ,James Baines' brauchte für eine Reise von Boston nach Liverpool nur zwölf Tage und sechs Stunden

einer Flotte und von überseeischen Besitzungen ausgeträumt. 1717 verkaufte der preu­ ßische König Friedrich Wilhelm I., der ,Soldatenkönig‘, Groß-Friedrichsburg an die Holländer, die das starke Fort freilich erst 1725 nehmen konnten, weil es der gut brandenburgisch gesinnte Negerfürst Jean Cunny erbittert verteidigte. Fast anderthalb Jahrhunderte quälten sich die deutschen Seestädte mehr oder minder kümmerlich mit dem dahin, was ihnen die großen Seemächte, Frankreich und vor allem England, gnädigst überließen. Einen kurzen, aber stolzen Aufschwung nahm die Schiff­ fahrt der Hansestädte in der Zeit zwischen der Unabhängigkeitserklärung der Vereinig­ ten Staaten 1776 und der von Napoleon verhängten Kontinentalsperre 1806. Dann ging es nochmals bergab. Erst seit 1850 etwa entstand wieder eine preußische Flotte, und seit der Gründung zunächst des Deutschen Zollvereins 1834, dann des Norddeutschen Bundes 1866 und des Deutschen Reiches 1871 ging es schnell mit dem Aufbau einer deutschen Handelsflotte voran. Schon neigte sich zwar die Zeit der Segelschiffe ihrem Ende zu; dennoch entstanden gerade auf deutschen Werften um die letzte Jahrhundert­ wende noch wahre Riesenschiffe, von denen die berühmtesten die ,P-Schiffe‘ der Ham­ burger Reederei Laeisz waren, darunter die 1895 gebaute Fünfmastbark ,Potosi‘, 120 Meter lang, 15,6 Meter breit; sie hatte 4700 Quadratmeter Segelfläche und konnte über 6000 Tonnen Ladung übernehmen. Im Jahre 1900 schlug sie den Rekord des Klippers ,Lightning‘: Auf der Strecke nach Valparaiso erreichte sie eine 24-Stunden-Leistung von 540 Seemeilen und damit eine Durchschnittsgeschwindigkeit von 22,4 Kno­ ten - das macht auch der modernste Motorfrachter unserer Tage nicht. Noch größer das größte Segelschiff, das je die Sieben Meere ohne Hilfsmotor befahren hat - war das Fünfmast-Vollschiff ,Preußen‘, das 1902 vom Stapel lief: 133,2 Meter lang, 16,4 breit mit einer Wasserverdrängung von 11150 Tonnen, einer Tragfähigkeit von 8000 Tonnen und einer Segelfläche von 5560 Quadratmetern. Wie es auf den letzten großen Segelschiffen, auf der ,Potosi‘ und der ,Preußen‘, auf den anderen Schiffen der ,FlyingP-Linie‘: ,Penang‘, ,Peking‘, ,Padua‘, ,Passat‘ und ,Pamir‘ zuging, muß man in Heinrich Hausers packendem Bericht ,Die letzten Segelschiffe' nachlesen; hier erzählt er von « 5 3

110 Tagen, die er auf der ,Pamir‘ gefahren ist - der gleichen ,Pamir', die als Schulschiff im Jahre 1958 auf so tragische Weise 1000 Kilometer südwestlich der Azoren verloren­ gegangen ist. Auf einem P-Sdiiff ist als junger Mann auch der große Architekt Otto Bartning 99 Tage von Hamburg um Kap Hoorn nach Valparaiso gefahren; Bartnings ,Entzückte Meerfahrt' hat in seinem Buch ,Erde geliebte' ihren dichterischen Nieder­ schlag gefunden. Von den stolzen P-Schiffen ist heute nur die ,Passat‘ übriggeblieben. Tee aus China und Weizen aus Australien brachten die Klipper, Güter aus aller Herren Ländern reisten auf vielerlei Arten von Segelschiffen aller Größen über alle Sieben Meere. Für jeden Zweck gab es das rechte Schiff, für jede Reise - von kurzer Küstenfahrt bis zur Weltumsegelung, für jeden Handel, für das ehrsame Geschäft des Königlichen Kaufmanns ebenso wie für das schmutzige des Sklavenhändlers und des Opiumschmugglers. Von den Fischereiflotten, von den Walfängern und Robbenschlä­ gern, die unter Segel in die hohen Breiten der Nord- und der Südhalbkugel vorstießen, wird noch ausführlich die Rede sein. Und jede Art von Handel hat das ihre beigetragen zur Vervollkommnung des Schiffbaues - selbst der Opiumschmuggel. Kaum bekannt ist aber die Tatsache, daß auch die ersten Tanker Segelschiffe gewesen sind. Als die Pe­ troleumlampe die Tranfunzel zu verdrängen begann, als größere Mengen Erdöl von Amerika nach Europa verschifft wurden, glaubte man, daß Dampfer wegen der Feuers­ gefahr nicht das rechte Transportmittel für das Petroleum seien. So fest hielt man an dieser Vorstellung, daß der erste ,Petroleumdampfer', der etwa dem entsprach, was wir heute einen Tanker nennen, erst 1886 gebaut wurde. Das allererste Schiff aber, das ausschließlich zum Transport von Erdöl ausgerüstet war, ist um 1860 das Segelschiff ,Charles' gewesen; die Reederei ließ 95 eiserne Tanks (darunter leider auch einige, die leck wurden) einbauen. Die ,Charles‘ und noch einige andere Segel-,Zisternenschiffe' brannten auf See aus. Mit dem 19. Jahrhundert klang die große Zeit der Segelschiffe aus; geblieben ist ihre Romantik, geblieben sind die Segelboote der Küstenschiffer, geblieben sind vor allem die schnittigen Sportboote und Jachten. Um 1880 bestand noch die Hälfte der in Bau befindlichen Welt-Tonnage aus Segelschiffen. 1901 war der Anteil der Segelschiffe nur noch ein Viertel, und dann ging er rapide fast auf den Nullpunkt zurück. Große Segler fahren heute nur noch als Schulschiffe für den Nachwuchs an Offizieren für die Handels­ und Kriegsflotten, denn, so meinen wohl alle, die etwas von der Kunst des Navigierens verstehen, nur an Bord eines Windjammers kann man wahre Seemannschaft erlernen. Im Augenblick ihres Dahinschwindens aber feierten die großen Segelschiffe noch einmal ihre letzten Triumphe - die ,Preußen' und die ,Potosi' zum Beispiel, oder jenes merk­ würdige Schiff, von dem nun zum Schluß die Rede sein soll, die ,Pereire': Sie begann ihren Lebenslauf im Jahre 1866 als eiserner Schraubendampfer und brachte brav und zu­ verlässig zwanzig Jahre lang Post und Passagiere von Frankreich nach New York und zurück. Dann verkaufte die Reederei sie; die neuen Eigner bauten Dampfkessel und Maschinen aus und verwandelten die ,Pereire' in den Viermastsegler ,Lancing', der nun auf der Route New York-Melbourne fuhr. Die umgebaute ,Lancing' war schneller als zu ihrer Dampferzeit - jetzt machte sie bei günstigem Wind ihre 22 und 23 Knoten. Aber auch sie mußte schließlich den Weg aller großen und schnellen Segelschiffe gehen: 1925 wurde sie in Genua abgewrackt. 154

DAMPFKRAFT

Im Jahre 1809 wagte sich das erste Dampfschiff auf die hohe See hinaus; es war dies die ,Phoenix', die auch tatsächlich ihre Reise von Hoboken nach Philadelphia mit Er­ folg beenden konnte. Das war nur zwei Jahre nachdem Robert Fulton mit seiner jClermont', dem ersten brauchbaren Dampfschiff überhaupt, den Hudson von New York nach Albany hinaufgeschippert war. Und heute, anderthalb Jahrhunderte später, hat das Dampfschiff den Segler von allen Sieben Meeren vertrieben - unter Segeln fahren nur noch Sportboote und Luxusjachten, da und dort an entlegenen Plätzen vielleicht auch noch ein paar Handelsschiffe. Aber in dieser Zeit ist auch der Dampfer selbst schon wieder so veraltet geworden wie vor ihm die Koggen, Galeonen, Ost­ indienfahrer und Klipper. In dieser kurzen Spanne des Aufsteigens und Fallens hat das Dampfschiff das Gesicht der Welt verwandelt dadurch, daß die Überquerung der Weltmeere unabhängig wurde von Wind und Wetter, und durch Reisegeschwindigkeiten, die auch die der ,Lightning‘ und der ,Potosi‘ übertrafen. Und wie auf dem Festen, so gingen auch auf den Sieben Meeren Kohle und Eisen Hand in Hand. Fürs erste freilich hielt man bei den Fahrensleuten - und nicht nur bei ihnen - weder von Eisen noch von Kohle sonderlich viel. Diese ,schwimmenden Teekessel' waren, so dachte man, vielleicht geeignet für Fahrten auf den geschützten Gewässern von Flüssen und Binnenseen. Wie aber sollten sie sich gegen das Wüten der Stürme auf See halten? Was sollte geschehen, wenn ihnen der Brennstoff ausging? Und daß Eisen auf Wasser nicht schwamm - das wußte schließlich jedes Kind! Die Schiffbauer aber, die Reeder, die Kapitäne, die wirklich an die Zukunft des neuen Antriebs zu glauben bereit waren, vertrauten dem Dampf doch nur insoweit, als sie ihn zusätzlich in Dienst nahmen die ersten Dampfer waren noch ganz so getakelt wie die Segelschiffe ihrer Zeit. Die allgemeine Ansicht über das Eisen als Baustoff für Schiffe änderte sich erst, als die ,Garry Owen', eines der neumodischen Eisenschiffe, 1834 in einem Sturm auf den Strand geworfen wurde. Nicht weit von der ,Garry Owen' war im gleichen Sturm auch ein hölzernes Schiff gestrandet. Das Holzschiff wurde völlig zerstört, die ,Garry Owen' aber blieb fast unbeschädigt. Zwanzig Jahre später sollte sich die Überlegenheit des Eisenschiffs abermals und noch eindrucksvoller zeigen. Die ,Arctic' war eines von vier Schwesterschiffen der Reederei Collins Line, der größten Dampfschiffe, die bis dahin in Amerika gebaut waren. Sie war ein hölzerner Raddampfer wie alle frühen Dampfschiffe, hatte eine Länge von 85 Metern und war 2846 Tonnen groß. (Ihr Schwesterschiff, die ,Pacific‘, die 1856 auf See spurlos verlorenging, trug für fünf Jahre das ,Blaue Band' für die schnell­ ste Überquerung des Atlantischen Ozeans.) Sieben Tage war die ,Arctic' von Liverpool aus in See, als sie am 27. September 1854 in dichtem Nebel bei den Neufundlandbänken von einem kleinen eisernen Frachter, der ,Vesta', gerammt wurde. Das eiserne Schiff konnte den Hafen erreichen; die hölzernen Planken der ,Arctic' aber waren so schwer H

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leckgeschlagen, daß das Wasser bald in den Kesselraum einbrach und das Sdiiff mit 322 Männern, Frauen und Kindern, fast alles Passagiere, unterging. Eine Panik, die unter der Besatzung ausgebrochen war, hatte die Verluste an Menschenleben höher werden lassen als sonst - die Hauptsdiuld aber schrieb man der Holzbauweise zu. Noch damals war es für einen Kapitän durchaus kein beliebtes Kommando, einen Dampfer zu führen. Und doch hatte schon 1819, zehn Jahre nachdem die ,Phoenix* erstmals mit ihren Schaufelrädern in See gegangen war, ein Dampfschiff den Atlantik überquert. Das war die ,Savannah* gewesen, die in New York eigens zu diesem Zweck gebaut worden war. Ganze 300 Tonnen hatte dieser erste Ozeandampfer, der selbst­ verständlich noch voll getakelt war und eine Länge von 30 Metern besaß. Die Dampf­ maschine von kümmerlichen 30 PS trieb zwei ungefüge, abnehmbare Schaufelräder an. Die ,Savannah‘ verließ den Hafen, dessen Namen sie trug, am 22. Mai 1819 und er­ reichte Liverpool 26 Tage später. Auf ihrer ganzen Reise setzte die ,Savannah* ihre Dampfmaschine allerdings nur insgesamt 48 Stunden in Betrieb, das heißt durchschnitt­ lich drei Stunden jeden Tag; dennoch hatte sie alle ihre Kohle aufgebraucht. Die Heim­ reise ging ausschließlich unter Segel vonstatten. Das erste Dampfschiff, das mit Kurs West den Atlantik querte, war die 428 Tonnen große ,Rising Star*, die für den Earl of Dundonald in Rotherhithe bei London gebaut worden war. Im Winter 1821/22 fuhr sie, teils unter Dampf, teils unter Segel, von Gravesend nach Valparaiso in Chile. Und im Jahre 1833 wurde der Atlantik erstmals allein mit Dampfkraft in beiden Richtungen bezwungen, von einem kanadischen Dampfer und von einer britischen Korvette. Die seitlichen Schaufelräder waren nur ein höchst unvollkommenes und schwer­ fälliges Antriebsmittel. 1833, als sich die ersten Raddampfer allein mit Hilfe ihrer Maschinen und ihrer Schaufelräder über den Atlantik quälten, war eine brauchbare Schiffsschraube aber bereits erfunden. Ein österreichischer Forstmann, Joseph Ressel, hatte sie 1826 entworfen und drei Jahre danach in Triest an einem 33 Tonnen großen Dampferchen, der ,Civetta*, erprobt. Weitere Versuche wurden ihm jedoch wegen eines kleinen Unfalls verboten, und so blieb seine Erfindung ohne Auswirkung. Doch der Gedanke lag in der Luft. Im gleichen Jahr 1836 nahmen der Engländer Smith und der Schwede Ericsson, damals ebenfalls in England (es ist dies der gleiche Ericsson, der dann in den USA die ,Monitor* gebaut hat), Patente auf Schiffsschrauben, die jedoch noch nicht Flügelpropeller waren wie die heutigen, sondern ,archimedische* Schrauben, wie die im Fleischwolf, von zwei oder anderthalb Umgängen. Nach dem Smithschen Patent wurde 1839 das erste seegehende Dampfschiff mit Schraubenantrieb, die ,Archimedes*, gebaut. Vier Jahre später schon lief, ebenfalls in England, die ,Great Britain* von Stapel, die nun auch eine richtige vierflüglige Schraube von 4,7 Metern Durchmesser hatte; vier Dampfmaschinen mit insgesamt 2000 PS trieben das ganz aus Eisen gebaute, 98 Meter lange und 15 Meter breite Schiff, das 3500 Tonnen Tragfähigkeit besaß, an. Damit begann die schnelle Entwicklung der Dampfer, obwohl es immerhin noch bis in die achtziger Jahre dauerte, bis im Jahresdurchschnitt mehr Dampf- als Segelschiffe gebaut wurden. Lange vorher jedoch hatte der Dampfer, trotz aller Schnelligkeit der Klipper, das Segelschiff hinsichtlich Geschwindigkeit und Zuverlässigkeit überflügelt die industrielle Revolution hatte sich auch auf den Sieben Meeren durchgesetzt. Es war tatsächlich eine Revolution, nicht nur für die Seeleute und den Überseehandel. Schritt 156

Erstmals mit Dampfkrafi über den Atlantik: Die ,Savannah* (1819)

für Schritt verbesserte die Dampfkraft auch die Lebensbedingungen auf den Schiffen für die Passagiere zuerst, dann aber auch für die Besatzungen. Richtige Fahrensleute freilich, die wie ich vor dem Mast großgeworden waren, sahen mit Verachtung auf die Männer hinab, die auf den qualmenden und rußenden Dampfern fuhren. Wir bildeten uns ein, die einzigen zu sein, die wirklich etwas von der See verstanden. Aber wie ich, so hat mancher seine Einstellung geändert. Als ich das erste Mal auf einem Dampfer fuhr und im Sturm völlig durdinäßt war, zog ich nach Wadiwedisel meine nassen Plünnen aus, stellte meine Seestiefel vor die Koje und haute midi hin, wie ich es immer getan hatte. Nach vier Stunden begann meine nächste Wache und ich mußte wieder in die feuchten Sachen, aber das gehörte nun einmal zu den Unannehmlichkeiten des Seemannsberufes, wie man sie vom Segelschiff her gewohnt war; bei schlechtem Wetter war immer alles mehr oder weniger naß. «Aber warum hängst du dein Zeug nicht zum Trocknen über die Kessel?» fragte mich ein Bootsmann, der es besser wußte als ich, der ich gar nicht auf diesen Einfall gekommen wäre. Nun aber fand ich es großartig, immer trockene Plünnen zu haben, auch wenn der Wind noch so stürmisch wehte, und ich sagte mir, daß ich in Zukunft nur noch auf einem Dampfer fahren würde. Die Tradition des Segels hielt sich bei den Schiffsbauern fast zäher als bei den See­ leuten, und sei es auch nur dadurch, daß man den Schiffen noch Tau und Takel, Masten und Spieren gab, als diese schon gar nicht mehr gebraucht wurden. Der erste sogenannte Luxusdampfer der White-Star-Linie, die ,Ozeanic‘, wurde 1871 gebaut; sie war als Viermastbark getakelt, obwohl sie mit ihren Maschinen fast 15 Knoten machte, ohne auch nur ein Segel gesetzt zu haben - die Segel hätten dem 3700-TonnenSchiff ohnehin kaum etwas nützen können. Und das größte Dampfschiff, das im 19. Jahrhundert von Stapel lief, war gar ein Sechsmaster, aber so gut wie nie brauchte dieser Riesendampfer seine Besegelung. 157

Es war wirklich ein Gigant, die ,Great Eastern*: 1851 entworfen, 1858 von Stapel gelaufen, abgewrackt 1889. Mit ihrer Wasserverdrängung von 22 500 Tonnen wurde sie erst durch die 1907 und 1908 von Stapel gelassenen Riesendampfer der CunardLinie, durch die je über 30 000 Tonnen großen Dampfturbinensdiiffe ,Mauretania‘ und jLusitania' übertroffen. Mit einer Länge von 211 Metern und einer Breite von 83 Metern ließ die ,Great Eastern* jedes andere Segel- oder Dampfschiff, das zu jener Zeit die Sieben Meere be­ fuhr, gegen sie als Zwerg erscheinen, und bis in unsere Tage sind nicht sehr viele Fahr­ gastschiffe von dieser Größe gebaut worden. Aber die ,Great Eastern* war von Anbe­ ginn an ein rechtes Unglücksschiff; eine ganze Reihe von Menschen hat sie auf dem Gewissen, die sie umgebracht oder zu Krüppeln hat werden lassen. Ihr Name lebt heute noch in einer Klippe fort, an der sie sich den Boden aufgerissen hat; dieses GreatEastern-Riff liegt am Osteingang des Long-Island-Sundes. Den einzigen wirklichen Erfolg, den das Riesenschiff hatte, konnte es als Kabelleger buchen. Die Geschichte dieses merkwürdigen Schiffes hat vor einigen Jahren James Dugan in seinem Buch ,T3ie Great Iron Ship‘ erzählt. Noch bevor die ,Great Eastern' mit dem Element, das zu beherrschen sie bestimmt war, in Berührung kam, galt sie als Weltwunder. Sie war größer als die Arche Noah, jedenfalls soweit man Isaac Newtons Berechnungen für dieses Riesenfahrzeug der biblischen Urzeit zugrunde legte. Nach den Plänen sollte sie 4000 Passagiere aufnehmen können, doch hat sie selten mehr als einen kleinen Bruchteil dieser Zahl befördert sie war auch nie in der Lage, mehr als wenige Hundert Fahrgäste aufzunehmen. Sie war der Wirklichkeit gewordene Traum eines der berühmtesten Techniker des vorigen Jahrhunderts, Isambard Kingdom Brunei, aber ihr Bau war so kostspielig, daß seine Finanzierung dreimal umorganisiert werden mußte, bis das Schiff endlich in See gehen konnte. Auf der Erprobungsfahrt im Jahre 1859 brachte eine Explosion in einem der Rauchabzüge fünf Mann ums Leben - und, wie es heißt, auch Brunei, der sich über diese Hiobsbotschaft so aufregte, daß er einem Schlaganfall erlag. Ihr erstes Geld verdiente die arme ,Great Eastern' nicht etwa mit einer stolzen Ozeanüberquerung, sondern damit, daß man sie zur Besichtigung freigab und Ein­ trittsgelder kassierte. Das Unglück, das über dem Schiff von Anfang an lag, griff auch nach ihrem ersten Kapitän, William Harrison. Er ertrank, als seine Gig kenterte, die ihn an Land bringen sollte. Als die ,Great Eastern* endlich ihre Jungfernfahrt von Southampton nach New York antrat, hatte sie bereits 18 Menschen umgebracht. Am 17. Juni 1860 verließ das größte Schiff seiner Zeit Southampton mit einer Be­ satzung von 418 Mann, aber mit nur 45 zahlenden Passagieren an Bord - die Über­ fahrt in der Ersten Klasse kostete 125 Dollar. Ihr neuer Kapitän war John Vine Hall, der das erste britische Patent als Dampferkapitän besaß. Sandy Hook vor New York erreichte die ,Great Eastern' am Morgen des 28. Juni; ihren Ruf, nicht nur das größte, sondern auch das schnellste Schiff zu sein, bestätigte sie also nicht. Denn den Rekord für die Überquerung des Atlantik und damit das Blaue Band hielt seit 1856 die ,Persia‘ mit einer Fahrzeit von 9 Tagen, 1 Stunde und 45 Minuten. Aber wenn die ,Great Eastern' auch nicht das schnellste Schiff war - trotz ihrer Ma­ schinen, die eine Gesamtleistung von 11 000 Pferdestärken hatten, um die beiden 158

Schaufelräder von 16,4 Metern Durchmesser und die Schraube von 7,2 Metern Durch­ messer anzutreiben -, so war sie doch sicherlich das größte. Und für alle Superlative schwärmte man jenseits des Großen Teichs nun einmal, so daß dem Riesendampfer mit den fünf Schornsteinen und den sechs Masten in New York ein riesiger Empfang zuteil wurde, der allerdings mehr ein Riesenrummel war. Man hat geschätzt, daß über eine halbe Million Menschen auf den Beinen waren, als die ,Great Eastern* einlief, und innerhalb von vier Wochen hatten 143 764 Besucher ihr Geld bezahlt, um das Schiff besichtigen zu dürfen. Von New York aus wurden zwei Ausflugsfahrten unter­ nommen; 2000 Menschen fuhren das erste Mal mit, die allerdings zu ihrem Miß­ vergnügen feststellen mußten, daß es für nur 300 Passagiere Schlafgelegenheit gab, obwohl man zwei Nächte an Bord bleiben mußte; auch mit der Verpflegung klappte es gar nicht. So durfte man sich nicht wundern, daß an der zweiten Fahrt nur noch 100 Gäste teilnahmen. In den zwei Monaten, die das Unglücksschiff in Amerika blieb, brachte sie nur etwa ein Fünftel von dem ein, was sich ihre Eigner erhofft hatten, und nach England zurück fuhr sie mit ganzen 100 Fahrgästen. Ein Dock, das groß genug gewesen wäre, die ,Great Eastern* aufzunehmen, gab es nirgends, und so mußte man sie für den Winter (denn für eine Winterreise war es an Bord viel zu kalt) auf Strand setzen. Nur dank der Frühlings-Springfluten gelang es, sie wieder flott zu bekommen. Ihre zweite Reise nach New York trat sie einen Monat nach Ausbruch des amerikanischen Bürgerkrieges an; man kann sich vorstellen, daß das Touristengeschäft schlecht war. Auf der Heimreise hatte sie 194 Passagiere und 5000 Tonnen Weizen an Bord. Sie kehrte schnell nach England zurück, weil sie von der britischen Regierung gechartert war, um 2144 Soldaten mit 473 Frauen und Kindern nach Kanada zu bringen - nie wieder ist die Passagierliste der ,Great Eastern' so lang gewesen wie damals. Und im September 1861 schiffte sich die größte Zahl von Passagieren ein, die je für ihre Überfahrt auf der ,Great Eastern* mit barem Geld gezahlt haben; es waren 400. 300 Seemeilen westlich von Irland kam die ,Great Eastern' in einen schweren Sturm. Hohe Seen rollten gegen das Schiff. Wieder einmal sollte der Welt vor Augen geführt werden, daß der Mensch nichts erschaffen kann, was dem Meer zu widerstehen vermag, wenn es seine ganze Kraft entfesselt. Die mächtigen Schaufelräder fielen aus, dann brach der Ruderschaft, so daß das Steuerruder gegen die Schraube zu schlagen begann. Die Maschinen mußten gestoppt werden; hilflos rollte und stampfte das Riesenschiff im Sturm. Ein Versuch, die Segel zu setzen und das Schiff in den Wind zu bringen, schlug fehl - der Sturm riß die Leinwand weg. Zwei Tage lang hämmerten die Wellen mit aller Wut auf das Schiff ein, zertrümmerten Aufbauten, Ausrüstung und Zubehör. Durch die Oberlichter brach Wasser ins Innere ein und überflutete es. Die Rettungsboote wurden zerschlagen, Gepäck und Fracht vernichtet, das Vieh, das man an Bord hatte, um den Passagieren Frischfleisch vorsetzen zu können, kam um. Endlich machte ein Ingenieur unter den Passagieren einen vernünftigen Vorschlag, wie man das Ruder wie­ der in Betrieb bekommen konnte, und als das gelungen war, wurde das schwer ange­ schlagene Schiff mit Mühe und Not zuerst nach dem irischen Hafen Queenstown und dann nach Milford Haven zur gründlichen Überholung gebracht. James Dugan meint, die ,Great Eastern* würde sich bezahlt gemacht haben, wenn sie 159

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Auswanderer von Europa nadi Amerika gebracht - das war damals das große Geschäft der Reedereien - und auf der Rückreise Weizen mitgenommen hätte; die 5000 Tonnen Ladung auf der zweiten Fahrt bedeuteten damals einen Rekord. Aber die Reederei hielt daran fest, das Schiff im normalen Passagier- und Frachtverkehr einzusetzen, und bei ein paar Reisen während des Jahres 1862 hatten sie es mit diesem Entschluß nicht einmal zu schlecht getroffen. Doch dann gab es wieder ein schweres Unglück. Die ,Great Eastern* war auf der Reise nach New York so überladen, daß sie mehr als neun Meter Tiefgang hatte. Unter diesen Umständen entschloß sich Kapitän Walter Paton, anstelle der üblichen, nun aber riskanten Route über Sandy Hook seinen Weg über die Flushing-Bay und durch den Long-Island-Sund zu nehmen. Hier aber riß ein nicht in der Seekarte verzeichnetes Riff - seit diesem Unglück heißt es Great-Eastern-Riff ein 25 Meter langes und über zweieinhalb Meter hohes Leck in den Boden des Riesen­ schiffes. Glücklicherweise blieb die innere Beplankung heil, so daß es zu keinem Wasser­ einbruch in die Schiffsräume kam; Kapitän Paton wagte jedoch eine Heimreise allein im Vertrauen auf die Haltbarkeit der inneren Beplankung nicht. In Amerika gab es kein Trockendock, das für die ,Great Eastern* groß genug war, und da sie einen flachen Boden hatte, konnte man sie auch nicht am Strand für die Reparatur kielholen, das heißt sie so stark auf die Seite legen, daß man die große leckgeschlagene Stelle hätte instandsetzen können. Sdiließlich machten zwei einfalls­ reiche Brüder, Edward und Henry Renwick, das Anerbieten, sie wollten mit Hilfe eines Fangedamms, wie er bei Brückenbauten oder Kanaldurchstichen verwendet wird, die Sache in Ordnung bringen. Um das Leck wurden Spundwände eingerammt, das Wasser zwischen Schiff und Fangedamm ausgepumpt, und dann wurden von innen her neue Eisenplatten eingezogen. Es war ein Meisterstück von Notbehelf, aber es gelang, und nach vier Monaten konnte die ,Great Eastern* wieder auslaufen. Die hohen Unterhaltungskosten, die im Vergleich dazu viel zu geringen Einnahmen und dann auch noch diese Überholung - das ging über die Kraft der Reederei; sie war nicht in der Lage, ihre Schulden zu bezahlen, und so kam das Riesenschiff im Jahre 1864 zur Versteigerung. Aber niemand bot. Doch dann traf einer der Direktoren der Reederei mit dem New Yorker Finanzmann Cyrus Field, der seit 1853 schon an dem Projekt eines Übersee-Telegraphenkabels zwischen Amerika und Europa arbeitete, ein Abkom­ men, nach dem die ,Great Eastern* als Kabelleger gechartert wurde. Der Direktor er­ warb das Schiff für ganze 25 000 Pfund Sterling - gekostet hatte der Bau des Schiffs­ giganten 780 000 Pfund! Field hatte schon seit 1857 versucht, sein transozeanisches Kabel verlegen zu lassen, und als wirklich das erste Kabel lag, brach es bereits nach drei Wochen. Nun fuhr also die ,Great Eastern* als Kabelleger; im Juli 1865 ging sie von Irland aus in See, doch 1186 Seemeilen vom Festland entfernt brach auch das von ihr verlegte Kabel und ging verloren, obwohl man tagelang versuchte, es zu bergen. Im nächsten Jahr aber glückte das Vorhaben. Sie konnte nicht nur ein neues Kabel mit Erfolg legen, sondern auch die mit einer Boje markierte Stelle, an der das erste Kabel verlorengegangen war, wieder­ finden und das Kabel einholen. Noch einmal aber sollte sie als Passagierdampfer starten. Eine französische Gesell­ schaft kam auf die grandiose Idee, die ,Great Eastern* zu chartern und sie für die 162

Aufnahme von 4000 Besuchern der großen Pariser Weltausstellung auszurüsten; für diese Zahl von Passagieren war sie ja ursprünglich tatsächlich entworfen worden. Es wurden auch wirklich 3000 Schlafgelegenheiten eingebaut, doch als das Schiff nun nach New York kam, waren da ganze 191 Menschen bereit, mit der ,Great Eastern* nach Frankreich zu fahren. Die Gesellschaft machte daraufhin natürlich Bankrott. Also wurde der Dampfer wieder in dem einzigen Geschäft verwendet, in dem er Erfolg gehabt hatte - als Kabelleger. Jetzt wurde er von Baron Reuter gechartert, dem Begründer der weltberühmt gewordenen Presse-Agentur. Von dem französischen Hafen Brest aus verlegte die ,Great Eastern* ein Kabel über die vor der Südküste Neufund­ lands liegenden ebenfalls französischen Inseln Saint Pierre und Miquelon nach Duxbury in Massachusetts. Im Anschluß daran wurde sie abermals als Kabelleger gechar­ tert; jetzt ging es nach Indien. Auf dieser Reise, die im November 1869 begann, war die ,Great Eastern* das schwerste Schiff, das je die Sieben Meere befahren hatte. Sie hatte soviel Kabelrollen und Kohle geladen, daß sie einen Tiefgang von mehr als zehn Metern besaß und 34 000 Tonnen verdrängte. Das Kabel wurde von Bombay nach Aden und von dort durch das Rote Meer verlegt, um dann mit einem anderen, von Westen kommenden vereinigt zu werden. Doch damit war es für den Riesendampfer auch mit dem Kabellegen aus, denn seit 1874 erschienen eigens für diesen Zweck gebaute Schiffe. Für Jahre lag das Unglücksschiff in Milford Haven, und alle möglichen wilden Pläne wurden ausgeheckt, was man mit ihm anfangen könne. Aus dieser Zeit stammt wahrscheinlich auch die Episode in einem der einst vielgelesenen Kolportage-Romane von Robert Kraft, in dem die ,Great Eastern* als Zirkusschiff um die Welt fährt etwas ähnliches ist sie dann in der Tat auch wirklich noch geworden. Zunächst aber wurde aus allen Vorhaben nichts, bis der Geschäftsführer der Liverpooler Bekleidungs­ firma Lewis, Louis S. Cohen, auf den Einfall kam, die ,Great Eastern* für eine monu­ mentale Werbung zu verwenden. Cohen wurde durch eine andere Gesellschaft über­ boten, die 131 000 Pfund zahlte, um die ,Great Eastern* in Gibraltar als Kohlenhulk dienen zu lassen. Da aber die neuen Besitzer allerlei Schwierigkeiten hatten, die behörd­ liche Zulassung zu bekommen, charterte Cohen das Schiff auf ein Jahr für Lewis’ Warenhäuser. Wieder in seinem alten Hafen Liverpool, bot der Riesendampfer einen traurigen Anblick. Gewaltige Reklameaufschriften, manche mit zehn Meter hohen Buch­ staben, bedeckten seine Bordwände. Schaustellungen aller Art, Variete-Darbietungen, dazu passende Erfrischungsräume und Bars lockten Scharen von Besuchern an Bord. Dugan schätzt, daß während dieser Zeit eine halbe Million Menschen auf der ,Great Eastern* ihren « kolossalen Spaß » hatten. Die Gesellschaft, die das Schiff gekauft hatte, versuchte den gleichen Erfolg für eigene Rechnung in Irland und Schottland einzu­ heimsen, machte darüber jedoch 1887 Bankrott. Wieder sollte die ,Great Eastern* auf einer Versteigerung losgeschlagen werden, wieder bot niemand. So wurde sie für 320000 Mark heutiger Währung zum Verschrotten an eine Liverpooler Abwrackfirma verkauft. Aber bis zuletzt machte das Schiff allen, die mit ihm zu tun bekamen, nichts als Ärger. Jetzt nämlich stellte sich heraus, wie gut und fest sie gebaut war - es mußte erst eine mächtige Eisenkugel für das Zertrümmern des Schiffsrumpfes erfunden wer­ den (genau so eine, wie man sie heute in den USA benutzt, um abbruchreife Häuser buchstäblich zusammenzuschlagen). 163

Als die ,Great Eastern* abgewrackt wurde, war sie 31 Jahre alt. Inzwischen hatten weniger anspruchsvolle, dafür aber um so leistungsfähigere Dampfschiffe bewiesen, daß sie fast jede Aufgabe zu meistern verstanden, von deren Bewältigung die Ver­ fechter der alten ,Teekessel‘ einst geträumt hatten. Drei Jahre vor dem Ende der ,Great Eastern* wurde der erste ,Zisternendampfer‘ gebaut, der erste Tanker moderner Bau­ art. Und früher schon, 1869, hatte die Eröffnung des Suezkanals der Segelschiffahrt einen besonders schweren Schlag versetzt; Die neue Verbindung verkürzte den Weg nach Osten für die Dampfer außerordentlich, denn sie brauchten nun nicht mehr wie die Segler ums Kap der Guten Hoffnung herum zu fahren; die Segler aber, die, falls sie den Kanal benutzen wollten, sich dort schleppen lassen mußten, wurden nicht zuletzt dadurch immer weniger rentabel. Sehr große Fortschritte machte aber auch der Bau der Dampfer. Lade- und Tragfähigkeit der Frachter wurden laufend verbessert. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wuchs zum Beispiel die britische Handels­ flotte zwar nur um 50 Prozent, wenn man als Einheit die Registertonne von 2,8316 Kubikmetern zugrunde legt, den Raumgehalt der Schiffe also; die Tragfähigkeit aber aller britischen Handelsschiffe stieg im gleichen Zeitraum auf das Siebenfache! Inzwischen hatte sich auch die Flagge der Hansestädte und dann die des jungen Deutschen Reiches auf den Sieben Meeren durchgesetzt. Zwei Linien insbesondere wur­ den für die Geltung deutscher Schiffahrt fast sprichwörtlich: die HAPAG und der Norddeutsche Lloyd. Als Hamburg-Amerikanische Packetfahrt-Aktien-Gesellschaft wurde die HAPAG 1846 gegründet, um mit ihren Schiffen Passagiere und Post auf der Nordatlantikroute zwischen Hamburg und New York zu befördern. Von Anfang an legte die HAPAG besonderen Wert darauf, es ihren Kajütpassagieren an Bord besonders bequem zu machen, was damals auf den Schiffen anderer Nationen durch­ aus ncxh nicht allgemein üblich war. Der Hinweis, jeder Fahrgast in der Ersten Klasse werde sein eigenes Bett haben, war geradezu sensationell. Zehn Jahre nach Gründung konnte die HAPAG auch schon die ersten deutschen (freilich noch in England gebauten) Dampfer von je rund 2000 Tonnen auf die Reise schicken; es waren dies die selbst­ verständlich noch als Segelschiffe getakelten ,Borussia‘ und ,Hammonia‘. Ihre erste Fahrt allerdings machten beide Dampfsegler nicht nach New York, sondern als Trup­ pentransporter; sie waren von Frankreich und Großbritannen, die gegen Rußland den Krimkrieg führten, gechartert worden. Schon ein Jahr nach Indienststellung der beiden ersten Hamburger Dampfer folgte Bremen mit der Gründung des Norddeutschen Lloyd. 1857 wurde eine Linie nach England eröffnet, mit drei kleinen Dampfern von je 600 Tonnen und einer Maschinenkraft von 600 PS, und im nächsten Jahr versahen bereits vier Dampfsegler regelmäßig unter der Flagge mit Schlüssel und Anker den Liniendienst zwischen der Hansestadt an der Weser und New York. Die Namen der Schiffe kennzeichneten das Programm des Lloyd: die ,Bremen‘ und die ,New York* mit je 2674 Bruttoregistertonnen sowie die ,Hudson‘ und die ,Weser* mit je 2266 tons. 60 Passagiere Erster Klasse, 110 Zweiter Klasse und 400 Fahrgäste im Zwischendeck Auswanderer nach Amerika - brachten diese Dampfsegler in knapp einem Monat nach Übersee; die Rückreise ging um rund zehn Tage schneller vonstatten, und mit ihren Durchschnittsgeschwindigkeiten von 14 und 14^/4 Knoten waren die Schiffe der beiden ersten deutschen Übersee-Reedereien schneller als die meisten Motorfrachter heute. 164

Die ersten Jahre brachten beiden Reedereien zwar schwere Rückschläge; dennoch wußten sie sich unter ihren führenden Männern in echt hansischem Geist durchzubeißen, unter Adolf Godeffroy von der Hamburg-Amerikanischen Packetfahrt-Aktien-Gesellschaft und unter Hermann Henridi Meier und Eduard Grüsemann vom Norddeutsdien Lloyd; ein Vierteljahrhundert später gehörten beiden Reedereien modernste und schön­ ste Schiffe, Schnelldampfer, die es mit jedem britischen und amerikanisdien Schiff aufnehmen konnten, und im Jahre 1897 glückte es dem Norddeutschen Lloyd, erstmals mit seinem 14 349 BRT großen Vierschornsteindampfer ,Kaiser Wilhelm der Große' das Blaue Band für die schnellste Überquerung des Atlantik zu erringen. Drei Jahre später nahm es ihm der HAPAG-Schnelldampfer ,Deutschland' ab, bis 1907 der über 30 000 Tonnen große Turbinendampfer ,Mauretania‘ der britischen Cunard-Line die begehrte Trophäe - die freilich nur ein Symbol war - an sidi riß und sie für zwanzig Jahre England sicherte. Das große Geschäft hatte den überall um die Mitte des vorigen Jahrhunderts ent­ standenen Reedereien die mäditige Auswanderungswelle gebracht, die Nordamerika zum ,melting pot‘, zum Schmelztiegel der Völker machte. Nur geräumige Dampfer konnten die in die Millionen gehenden Auswanderer in der zweiten Hälfte des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts über den ,Großen Teich' bringen. Die Besitzer der ,Great Eastern' hatten das noch nicht begreifen wollen; andere Gesellschaften ver­ dankten ihren schnellen Aufstieg nicht zuletzt gerade der Beförderung der Aus­ wandererscharen. Immer größer wurden die Dampfer, immer schneller - die ,Mauretania' hatte ihren Rekord mit 26,16 Knoten Geschwindigkeit aufgestellt -, immer mehr Schiffe ließen die großen Reedereien über die Sieben Meere fahren. Im Jahre 1914, als der erste Weltkrieg ausbrach, war die HAPAG die größte Reederei der Welt mit 439 Schiffen von über 1,3 Millionen Bruttoregistertonnen; der Norddeutsche Lloyd hatte damals eine Gesamtbruttotonnage von knapp einer Million. Aber es waren nicht nur die Riesendampfer, die das Gesicht der Sieben Meere prägten. Selbst in den fern­ sten Winkeln des Weltmeeres und an den entferntesten Küsten zogen größere und kleinere Dampfer ihre Rauchfahnen über den Horizont. Doch der gleiche technische Fortschritt, der das Dampfschiff so schnell und so großartig vorangebracht hatte, sorgte bereits dafür, daß der Schiffstyp heranreifte, der die Nachfolge der Dampfer antreten sollte.

DAS M O TO R SC H IFF Dem deutschen Ingenieur Rudolf Diesel, der 1892 ein Patent auf eine neuartige, mit Schweröl zu betreibende Verbrennungskraftmaschine nahm, hätten die Heizer auf allen Dampfern der Welt eine goldene Medaille stiften oder auf andere Weise ihren Dank abstatten sollen. Denn es gab auf dieser Erde wohl kaum eine schwerere Arbeit - und auf See bestimmt nicht - als die der Männer vor den Feuerlöchern der mächtigen Dampf­ kessel auf den großen Schiffen. Der Motor aber, den Diesel geschaffen hat und der am 17. Februar 1894 erstmals ruckweise Arbeit hergegeben hatte, sollte den Heiz- und Masdiinenraum der Schiffe so blitzsauber und den Aufenthalt darin so angenehm wer­ den lassen, daß man sich dort, wenn man durchaus wollte, auch im weißen Anzug betätigen konnte. Im Jahre 1892 war Diesel das Patent erteilt worden; nach einem «unaufhörlichen Kampf mit Dummheit und Neid, Trägheit und Bosheit, heimlichem Widerstand und offenem Kampf der Interessen», nach einer «entsetzlichen Zeit der Martyriums» kam der Erfolg: Am 26. Juni 1895 war der Wärmeverbrauch des bis heute nach seinem Erfin­ der benannten Motors nur noch etwa halb so groß wie der jeder anderen Wärmekraft­ maschine. 1898 begann der Siegeszug des Dieselmotors. Dennoch sollte es einige Jahre dauern, bis diese großartige Erfindung sich auch auf den Sieben Meeren durchsetzte. 1903 baute die Nobel-Gesellschaft für den Verkehr auf dem Kaspischen Meer ein Dieselmotorschiff, die ,Wandal‘, aber erst 1911 - zwei Jahre bevor Rudolf Diesel, dem trotz seines Genies die Begabung für den harten Lebenskampf gefehlt hatte, den Frei­ tod in den Wellen des Meeres suchte - wurde das erste seegehende Schiff mit Diesel­ motorantrieb gebaut, die ,Selandia‘ in Dänemark; den Auftrag gab FI. N. Andersen von der Dänischen Ostasien-Kompanie. Die ,Selandia‘ war knapp 113 Meter lang und als Dreimast-Schoner getakelt; wer sie sah, staunte nicht schlecht: Das Schiff hatte ja keinen Schornstein! Dieses erste Übersee-Motorschiff lief 11 Knoten, und schon auf ihren ersten Fahrten bewies sich ein für allemal die Überlegenheit des Motorschiffes dem Dampfer gegenüber. Der Mann, der diesen für die Schiffahrt revolutionären Bauauftrag gegeben hatte, kannte die Sieben Meere sehr genau. Ich erinnere mich an H. N. Andersen als an eine der eindrucksvollsten Persönlichkeiten Dänemarks. Lange bevor ich ihn kennenlernte, hatte er sich nach einem an Abenteuern reichen Leben auf See an Land niedergelassen. Als Schiffszimmermann war er einst vor dem Mast gefahren; während einer Reise fiel der Zweite Offizier aus, und der Kapitän beförderte Andersen an dessen Stelle. Damit vertauschte er den Platz im Logis unter der Back auf dem Vorschiff mit der Kajüte. Lange Zeit war er dann in Fernost. Dort baute er unter anderem für den König von Siam eine Jacht, und schließlich kehrte er in seine dänische Heimat zurück, um hier eine eigene Gesellschaft zu leiten. Andersen war ein kluger Kopf, und er erkannte den großen Fortschritt, den der Dieselmotor für die Seefahrt bedeutete, früher als die meisten seiner Zeitgenossen. i66

Dieser Motor, der billiges, nicht explosibles Rohöl mit hohem Wirkungsgrad ver­ brennt, war in mancherlei Hinsicht für den Reeder geradezu das Ideale: Die Kohlen­ bunker eines Dampfers, vor allem wenn er auf Routen mit weiten Entfernungen fuhr, etwa nach dem Fernen Osten, nahmen einen großen Teil des Schiffsraumes ein, viel mehr, als der flüssige Brennstoff beanspruchte. Fuhr man mit Motoren, so gewann man also Raum für die Ladung. Und dann die riesigen Dampfmaschinen mit ihren mäch­ tigen Kesseln - sie brauchten den besten Platz mittschiffs. Wie anders beim Motorschiff: Das Dieselöl wurde in Tanks innerhalb der Schiffswandungen untergebracht, und der Motor selbst konnte aufs Achterschiff verlegt werden, womit man zugleich die lange Schraubenwelle sparte. Vor allem aber bedurfte das Motorschiff nicht der großen Zahl schwitzender Heizer und der die Kohle heranschleppenden Trimmer. Meine eigene Begeisterung für das Motorschiff stammt aus der Zeit, da ich als Heizer auf einem Dampfer gefahren bin. Nichts war fürchterlicher, als wenn man gezwungen wurde, in den engen Flammrohren der Kessel Ruß und Teer abkratzen zu müssen, wie es von Zeit zu Zeit nötig war; diese Arbeit, ebenso schwer wie unangenehm, wurde einem strafweise zudiktiert, und ich selbst bin dabei mehr als einmal ohnmächtig ge­ worden. Im Maschinenraum eines modernen Motorschiffes gibt es heute nicht viel mehr zu tun, als das eine oder andere Handrad zu drehen - schon wird der Brennstoff ein­ gespritzt. Da muß nicht mehr eine schwere Schaufel Kohle um die andere sorgfältig über die dicke, höllenheiße Glut in die Feuerung unter den Kessel geworfen werden eine überaus mühevolle Arbeit, die viel Kraft und Geschicklichkeit zugleich fordert, wenn das Schiff unter Volldampf gehalten werden soll. Praktisch werden heute keine Dampfer mehr gebaut. Die einzigen Dampfkessel, die heute noch an Bord üblich sind, dienen der Heizung auf den Fahrgastschiffen, werden aber auch immer mehr von der Ölfeuerung verdrängt, öfters werden noch für das Ladegeschirr, für die Winden, Derricks, Krane und Ladepfosten kleine Dampfmaschinen verwendet. Die größten heute noch fahrenden Schiffe, die britische ,Queen Elizabeth* mit 83 673 Bruttoregistertonnen, 77 500 Tonnen Wasserverdrängung und einer Ge­ schwindigkeit von 31 Knoten bei 200000 PS sowie die amerikanische ,United States* mit 53 329 BRT, 59140 Tonnen Wasserverdrängung und 36 Knoten bei 246 000 Pferde­ stärken (die ,United States* trägt seit 1952 das Blaue Band) sind zwar auch noch ,Dampfer* - Turbinendampfer -, aber in ihren Kessel- und Maschinenräumen geht es nicht mehr so zu wie einst vor den glühenden Feuerlöchern der alten Dampfer. Auch hier ist die Technik zum Segen für den arbeitenden Menschen geworden. Vielleicht deshalb, weil ihnen H. N. Andersen den ersten Start gegeben hat, bauen heute die Dänen die besten Schiffsdieselmotoren, und aus Dänemark kommen auch über 40 Prozent aller Diesel auf See. Sicher wären sie noch weiter verbreitet, wenn nicht manche Regierungen verlangten, daß jedes Schiff, für das sie Subventionen geben, mit einheimischen Maschinen und Motoren ausgerüstet sein muß. Im Zeitalter des Motor­ schiffs sind die USA übrigens an die Spitze aller Handelsflotten gelangt; während des zweiten Weltkriegs haben sie das bis dahin führende Großbritannien überflügelt. Ständige Verbesserung des Schiffbaues und ständig wachsender Bedarf haben die Welthandelsflotte erstaunlich ansteigen lassen. Als der zweite Weltkrieg ausbrach, gab cs 12 798 Handelsschiffe, Personen- und Frachtschiffe also, mit einem Bruttotonnagc167

raum von 58 000000 Tonnen. 1955 waren es bereits 14783 Schiffe; die Gesamttonnage aber war noch stärker angestiegen, nämlich auf 89 Millionen BRT, und fast ein Drittel davon fiel auf die USA. Um wieviel größer die Schiffe geworden sind, seitdem die ersten Dampfer die Wasser der Sieben Meere pflügten, mag man daraus ersehen, daß in diesen Zahlen nur die Schiffe von 1000 Tonnen und mehr enthalten sind, was nicht heißen soll, daß die kleineren Fahrzeuge nicht auch ihre ofl sehr große Bedeutung haben. Der Wechsel aber in der Führung unter den seefahrenden Nationen kann aus den beiden folgenden Übersichten abgelesen werden: G rösste H andelsflotten 1939 Land

Großbritannien Vereinigte Staaten Japan Norwegen Deutschland Italien

Schiffe

3 319 1 379 1180 1072 854 667 U ND

Vereinigte Staaten Großbritannien Norwegen Panama Italien Frankreich

Bruttoregistertonnen

17 771000 8126000 5102 000 4 499 000 3916000 3 178 000

1955 3 346 3 046 1056 519 581 589

25 483 000 19 527 000 6559000 3 935 000 3 634000 3 540 000

Zweimal hat die deutsche Handelsmarine fürchterlichste Einbuße erlitten; zwei Weltkriege haben den Bestand an Schiffen jeweils auf praktisch Null zusammen­ schrumpfen lassen. Und zweimal mußte die Handelsflotte aus dem Nichts wiederauf­ gebaut werden. Symbol des neuen Aufstiegs nach dem ersten Weltkrieg waren die beiden Schwesterschiffe ,Bremen‘ und ,Europa‘ der HAPAG. 1929, wenig mehr als zehn Jahre nach dem Zusammenbrudi, holte sich die ,Bremen‘ (51 731 BRT, 125 000 PS) mit 28,5 Knoten das Blaue Band, mußte es im Jahr 1930 an die ,Europa‘ abtreten, die ,nur‘ knapp 50 000 BRT, aber gleiche Maschinenleistung hatte, errang es jedoch 1933 nochmals für ein weiteres Jahr. Die nächsten Träger des Blauen Bandes waren die ita­ lienische ,Rex‘, die französische ,Normandie*, die britische ,Queen Mary* und schließ­ lich seit 1952 die amerikanische ,United States*. Nach den Zerstörungen des zweiten Weltkrieges und durch Demontage und Bauver­ bote nach 1945 war die deutsche Handelsflotte noch ungleich schwerer getroffen worden als nach 1918. Bis 1948 durfte kein Schiff gebaut oder gekauft werden, und erst 1951 wurden die letzten Beschränkungen aufgehoben. Aber mit einer bewunderungswür­ digen Energie ist abermals eine deutsche Handelsflotte geschaffen worden. Im Jahre i68

Das erste Dampfschiff Robert Fultons, die *Clermont\ auf dem Hudson (1807) Die «Savannah», der erste Dampfer, der den Atlantik überquerte (1818)

Der erste eiserne Schrauhendampfer «The Great Britain» (1843) Die «America» (Vorn: 32 000 BRT, 240 m) und die «United States» (Hinten: 53 329 BRT, 302 m) im New Yorker Hafen

Modernes Fracht-Motorschiff der Deutschen Dampfschiffahrtsgesellschafi Hansay Bremen. Die besonders starken Ladehäume können Lasten bis zu 120 Tonnen Gewicht hieven

1955 stand die Bundesrepublik Deutschland mit einem Anteil von 17,5 ®/o an zweiter Stelle hinter den USA im Handelsschiffbau - allein 1954 waren 956 Schiffe von Stapel gelaufen (1938 im ganzen Deutschen Reich dagegen nur 481) und 772 Schiffe auf Kiel gelegt worden. Aus den noch nicht 100000 BRT von Januar 1946, durchweg winzigen Schiffen für Küstenfahrt und Fischerei, sind nun wieder rund 4 Millionen geworden, was allerdings nur gerade vier Prozent der Gesamttonnage der Welt­ handelsflotte (einschließlich der Fahrzeuge unter 1000 Tonnen) von über 100 Millio­ nen BRT ausmacht. Doch die großen Fahrgastschiffe (unter deutscher Flagge heute die ,Berlin‘ des Nord­ deutschen Lloyd, die ,Bremen‘ der HAPAG sowie die ,Hanseatic‘ der HamburgAtlantic-Linie, mit ihren 206 Metern Länge und 28 500 Bruttoregistertonnen das größte Schiff in der Handelsflotte der Bundesrepublik) und die schnellen Kombi-Motorschiffe für Fracht- und Passagierbeförderung sind nicht mehr der letzte Schrei. Schon wird die Gasturbine als Antriebsmittel erprobt, aber vorher noch wird wohl die Energie des Atomkerns, bei Unterseebooten bereits erfolgreich genutzt, auch den Motorschiffbau revolutionieren. So habe ich gelesen, daß Großbritannien sein erstes Atomschiff einen Riesentanker, der mit 80 000 Tonnen fast so groß sein wird wie die ,Queen Elizabeth* - 1960 von Stapel laufen lassen will. Die Sowjetrussen bauen in Leningrad einen Eisbrecher, der mit Kernenergie betrieben werden soll; er wird über 120 Meter lang sein und natürlich ,Lenin* heißen. Die Russen sind über diese Leistung so stolz, daß sie bereits Bilder des auf der Helling (so nennt der Schiffbauer seinen Bauplatz) seiner Vollendung entgegengehenden Schiffes veröffentlicht haben. In Schweden spricht man davon, daß man bis vielleicht 1965 einen 100000-Tonnen-Tanker mit Kern­ reaktoren als Antrieb fertigstellen will, der 30 Knoten laufen wird. Und für die Lieferung des ersten, noch nicht so großen Atom-Tankers im Jahre 1963 sind in Schweden bereits die Verträge unterzeichnet. 1 7 1

So soll das erste amerikanische Atom-Handelsschiff aussehen

Der erste mit Atomkraft getriebene Frachter wird sicher noch nicht sehr rentabel sein. In den USA ist nach den Plänen der Atomenergie-Kommission und des Marine­ ministeriums ein solcher Atomfrachter im Mai 1958 auf Stapel gelegt worden; Künstler haben auch schon die ersten Zeichnungen dieses neuen Schiffstyps geschaffen. Der sehr schlanke, stromlinienförmige Rumpf von knapp 300 Metern Länge wird alle Aufbauten achtern haben, also hinter der Schiffsmitte. Hier werden auch die 60 Fahrgastkabinen liegen. Das Atomschiff soll eine Ladung von etwa 9500 Tonnen aufnehmen können und selbst etwa 21000 Tonnen haben. Als Name des Atomschiffes wurde ursprünglich ,Atomic Mariner* genannt; jetzt heißt es, daß es auf den Namen des ersten Dampf­ seglers getauft werden soll, der den Atlantik bezwungen hat: ,Savannah*. Das Interessanteste an diesem Schiff ist natürlich sein Antrieb. Meist stellt man sich heute noch vor, für den Betrieb eines Atomreaktors genüge ein Teelöffel voll Kern­ brennstoff. In Wirklichkeit aber nimmt die Maschinenanlage eines Atomschiffs viel

Vielleicht werden einmal schnelle Atomschiffe dieses Typs, der schlingerfrei sein soll, die Sieben Meere befahren 172

mehr Raum in Anspruch, als man sich vorstellt, möglicherweise zehn Prozent der ge­ samten Länge. Der Kernreaktor, der die Warme für die Dampfturbinen liefert, die ihrerseits die Schrauben antreiben, soll in einer 210 Tonnen schweren Stahlhülle stecken, die außerdem durch Blei- und Holzwände nach außen abgeschirmt sein wird. Die Ab­ messungen der Maschine werden auf 15 mal 10 Meter geschätzt, die Leistung auf 22 000 PS. Das Atomschiff soll 350000 Seemeilen oder nahezu drei Jahre laufen kön­ nen, ohne neuen Atombrennstoff übernehmen zu müssen. Die Baukosten werden 42,5 Millionen Dollar betragen, und schon deshalb darf man annehmen, daß sich dieses Schiff nicht rentieren wird. Wenn es 1960 in See geht - vor­ ausgesetzt, daß sich die derzeitigen Pläne verwirklichen lassen -, so soll es zunächst auf ausgedehnten Probefahrten bis in alle Einzelheiten geprüft und dann auf eine Weltreise geschickt werden. Darnach will das Marineministerium es einem privaten Unternehmer überlassen. Auch in Deutschland ist man auf dem Gebiet der Planung von Atomschiffen nicht untätig; sowohl in der Bundesrepublik als auch in der DDR arbeiten wissenschaftliche Institute an den Plänen für Schiffe mit Kernenergie-Antrieb. Und vielleicht dauert es nicht mehr lange, bis das Atomschiff auf den Sieben Meeren ein ebenso gewohnter An­ blick ist wie der Dampfer und das Motorschiff.

DAS UNTERSEEBO O T Das berühmteste Unterseeboot der Welt hat niemals existiert. Es ist das durch Jules Vernes Roman ,Zwanzigtausend Meilen unterm Meer* und durch Disneys gleich­ namigen Film unsterblich gewordene Tauchboot ,Nautilus‘ des menschenfeindlichen Kapitäns Nemo. Doch als Jules Verne 1869/70 seinen utopischen Roman schrieb, war das Tauchboot gar keine Utopie mehr, sondern bereits Wirklichkeit - leider eine bis dahin und auch in der Folgezeit fast ausschließlich nur zu Kriegszwecken benutzte Wirklichkeit. Der Menschheitstraum aber, in die dunkle Meerestiefe hinabzutauchen, ist sicherlich so uralt wie der vom Fliegen. « Siebzig Tage saß der große König Alexander in seinem gläsernen Boot tief drunten im Meer, in Frieden und Fröhlichkeit, und betrachtete Wunder und Ungeheuer der Tiefe» - so erzählt seit den letzten vorchristlichen Jahr­ hunderten die Sage vom makedonischen König Alexander dem Großen, dem kühnen Heerführer, der, nachdem er die Grenzen der Welt erobert, nachdem er, einer anderen Sage nach, mit einem von geflügelten Greifen gezogenen Wagen das Luftmeer be­ zwungen hatte, nun auch die Abgründe der See mit eigenen Augen zu sehen wünschte. Die Sage von diesem Tiefseeabenteuer des großen Königs ist durch den ganzen mittelmeerischen Kulturkreis gewandert, ist in alle Sprachen überliefert und von allen 1 7 3

f ji^ ^ jS j lI W in i W H fllT iiV llH ln llllllllin ifn itfifl^ llm lli t S ;

Alexander der Große hei seinem Tauchunternehmen (mittelalterliche Buchminiatur)

Völkern mit eigenem Märdien- und Fabelgut bereichert worden - nicht zuletzt aus dem Orient, in dem wenige Jahrhunderte später die Erzählkunst abermals das Meer mit den wunderbarsten Wesen und den fürchterlichsten Ungeheuern beleben sollte, wie wir sie aus den Geschichten aus Tausendundeiner Nadit kennen. Viele Jahrhunderte wan­ dert die Gesdiichte von dem in die Meerestiefen hinabgestiegenen König durch die Län­ der; bis ins Mittelalter hinein begegnen wir ihr immer wieder. Die phantastischste Aus­ gestaltung hat sie schließlich in der äthiopischen Fassung gewonnen: In einem gläsernen Käfig, der mit Eselshäuten bedeckt ist, hat sich der König hinabsenken lassen, und so sitzt er nun 70 Tage dort unten, «in Frieden und Fröhlichkeit», und beobachtet: Ein Untier schwimmt zwei Tage lang an der gläsernen Behausung des Königs vorbei, ein anderes zwei Tage und zwei Nädite, ein drittes gar «so schnell wie der Blitz», aber es braucht drei Tage und drei Nächte, bis endlich der Schwanz erscheint. Auch die griediische Fassung, in der König Alexander in einer gläsernen ,kolympha' sitzt - einer 174

Taucherglocke, wie sie des Königs genialer Lehrer, der große Philosoph Aristoteles, schon beschrieben hatte -, weiß Erstaunliches zu berichten: 90 Meter tief ist hier die Taucherglocke mit dem König gesunken, als ein mächtiger Fisdi erscheint, der die Glocke, das Boot, von dem sie mit Ketten hinabgelassen wurde, die 150 Mann, die die Ketten hielten, meilenweit wegsdileift und schließlich auf den Strand setzt, womit denn der gute König Alexander in der Tat eine Tauchbootfahrt gemacht hat! Noch in den Handschriften des hohen Mittelalters begegnen wir dem kühnen König, sehen ihn in einem gläsernen Faß hocken, in dem die aufgehängten Lampen offenbar der Be­ leuchtung der dunklen Meerestiefe dienen sollen, und erleben mit ihm die Meeres­ ungeheuer, riesige Fische, einen recht naturalistisch aufgefaßten Tintenfisch, Unter­ wasserwesen von Menschengestalt und ,richtige‘ Seehunde. Noch eine andere mittelalterliche Sage, in der sich altjüdische Überlieferungen, byzan­ tinische Fabulierkunst und deutscher Spielmannssang wunderlich mischen, die Sage von König Salman und von Morolf, weiß von einem unter Wasser fahrenden Zauberboot zu berichten. Aber nicht nur Fabel, Sage und Märchen künden von Fahrten in die Tiefe. Derselbe Roger Bacon, der als ,Doctor mirabilis* die Scheidung von Gottesgelehrtheit und Naturwissenschaft folgerichtig durchführt, dem Erfahrung, Experiment und mathe­ matische Berechnung die drei Hauptsäulen des Forschens sind, der die erste Beschrei­ bung des Schießpulvers gegeben hat, derselbe Roger Bacon notiert auch schon im Jahre 1242: «Man kann Instrumente bauen zum Tauchen ohne irgendwelche Gefahr, wie schon Alexander der Große solche Vorrichtungen bauen ließ.» Hatte Roger Bacon vielleicht ebenso, wie er von der chinesischen Erfindung des Schießpulvers Kenntnis er­ halten hatte, auch von den chinesischen Versuchen erfahren, schon um 200 v. Chr. Tauch­ boote zu bauen? Das Universalgenie Leonardo da Vinci (1452-1519) konstruiert be­ reits solche Schiffe, mit denen man unter Wasser fahren kann; aber er, der sonst all die Entwürfe der von ihm in seinem überquellenden Einfallsreichtum ersonnenen Kriegs­ maschinen aufgehoben hat, vernichtet die Skizzen der Unterwasserboote - « denn die Menschen sind so bösartig, daß sie damit auch noch auf dem Grunde des Meeres morden würden». Anno 1460 zeichnet der italienische Ingenieur Valturio ein Unterwasserboot, das durch seitliche Schaufelräder angetrieben wird. Fünf Jahre später entwirft der Nürn­ berger Kriegsbaumeister Kyeser ebenfalls ein Tauchboot. 1624 fährt der niederlän­ dische Erfinder Cornelius Drebbel zwei Stunden getaucht die Themse von Westminster bis Greenwich hinab, 1653 versuchen sich Fournier und Mersenne mit der Konstruktion eines unter Wasser schwimmenden Bootes, 1692 erprobt Denis Papin auf der Fulda die Möglichkeit der Tauchfahrt. Am 20. Juni 1774 wird der Engländer Day das erste Todesopfer des nun immer häufiger in Angriff genommenen Unternehmens, mit Schif­ fen die Tiefe der Gewässer zu befahren, und zwei Jahre danach wird das Unterseeboot zum ersten Male als Waffe eingesetzt: 1776 - eben haben die Vereinigten Staaten ihre Unabhängigkeit erklärt - greift David Bushneils Tauchschiff ,Turtle‘ die englische Fregatte ,Eagle* an. David Bushneil stammte aus Saybrook in Connecticut und hatte das College in Yale besucht. Er war 33 Jahre alt, als die Briten 1775 Boston eroberten. Damals kam ihm der Gedanke, ein Tauchfahrzeug zu bauen, das in der Lage war, britische Kriegs­ 1 7 5

schiffe dadurch zu versenken, daß man vom getauchten Boot aus unter Wasser eine Sprengmine am Sdiiffsrumpf befestigte. Im Juni 1776, kurz vor den Kämpfen, in deren Verfolg die Amerikaner New York aufgeben mußten, ließ er seine Idee Wirk­ lichkeit werden. Geformt war Bushnells Taudiboot etwa wie eine Schildkröte, weshalb er es audi ,Turtle* nannte, Schildkröte. Es war gerade groß genug, einen Mann aufzunehmen. Ein Tank konnte soviel Wasser als Ballast aufnehmen, daß das Fahrzeug unter der Meeresoberflädie verschwand. Zwei von Hand betriebene Schrauben - lange vor Res • sell - bewegten das Tauchboot in horizontaler und vertikaler Richtung. Außen war eine primitive Mine angebradit, 150 Pfund Schießpulver in hölzerner Verpackung. Sehr sinnreich hatte sich Bushnell ausgedacht, wie er seine Sprengladung mit einem kräftigen Nagel am Rumpf des feindlichen Kriegschiffs befestigen wollte. Ein Uhrwerk sollte die Explosion erst dann auslösen, wenn die ,Sdiildkröte‘ sich wieder weit genug von ihrem Opfer entfernt haben würde. Bushnell fand auch einen mutigen Unteroffizier des Heeres, Ezra Lee, der entschlos­ sen war, das reichlich unheimliche Wagnis auf sich zu nehmen. In einer Juninacht pirschte er sich mit der ,Turtle* an die mit 64 Kanonen bestückte englische Fregatte ,Eagle* heran, die vor Governors Island ankerte. Er erreichte sein Ziel auch wirklich, doch als er den Nagel einschlagen wollte, merkte er, daß es nicht ging - der Nagel drang in den metallenen Beschlag nicht ein. Bevor er sich noch mit seiner ,Schildkröte* am Schiffsrumpf entlang weitertasten konnte, um eine Stelle zu finden, an der er den Nagel in Holz treiben konnte, zog ihn der Gezeitenstrom mit sich fort; die Mine mußte er fahrenlassen. Sie explodierte, ohne Schaden anzurichten. Ein weiterer Versuch, die britische Flotte mit Unterwasserbooten anzugreifen, unterblieb; George Washing­ ton aber hat nach siegreicher Beendigung des Freiheitskrieges gesagt, Lees Unternehmen mit Bushnells ,Turtle* sei « eine geniale Tat» gewesen. Ebenfalls Sprengminen am Boden feindlicher Schiffe anbringen wollte Robert Fulton, auch er ein Amerikaner. Dieser hervorragende Erfinder ging 1797 in das Frank­ reich der ,Großen Revolution*, denn er war überzeugt, daß eines der Haupthindernisse für das Heraufkommen eines menschheitsbeglückenden Utopiens die britische Flotte war, die Frankreichs Küste blockierte. «Um die Freiheit der Meere durch Zerstörung der englischen Flotte zu sichern», entwarf er ein Unterseeboot. Im Jahre 1800 war es fertig; Fulton nannte es nach einem Tintenfisch der tropischen Meere, der eine schöne, schneckenähnliche Schale besitzt, ,Nautilus*. Sechseinhalb Meter Länge, zwei Meter Höhe maß das Tauchboot, das unter Wasser durch die Muskelkraft dreier Menschen angetrieben werden sollte; über Wasser konnte es segeln, getaucht werden sollte es bei umgelegtem Mast durch Aufnehmen von Wasser als Ballast, und zum Aufsteigen sollten Pumpen das Wasser wieder ausstoßen. Für die notwendige Atemluft hatte ein Behälter mit Preßluft zu sorgen. Selbstverständlich interessierte sich Napoleon brennend für das Projekt; zwei Versuchsboote wurden ge­ baut. Im September 1800 war es soweit: Fulton ging mit der ,Nautilus* in See, um zwei Briggen der britischen Blockadeflotte anzugreifen, die einige Seemeilen vor der Küste lagen. Bis in Sichtweite des Feindes fuhr das Tauchboot an der Oberfläche unter Seggel, dann verschwand es. Zwei Mann arbeiteten an den Kurbeln für die Schraube, 176

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David Busknells Tauchboot yTurtle* von 1776

Fulton steuerte. Die Tauchfahrt ging freilich so langsam vonstatten, daß er die Hilfe des ablaufenden Gezeitenstroms brauchte, um an sein Ziel heranzukommen. Fulton schafft es nicht mehr rechtzeitig; er muß warten. Sechs Stunden bleibt die ,Nautilus‘ ge­ taucht; während der ganzen Zeit sitzen die Männer im Dunkeln, denn die Kerze zur Beleuchtung haben sie ausgeblasen, um die kostbare Atemluft nicht zu verschwenden. Noch einmal versucht Fulton, zum Angriff anzusetzen. Aber die beiden feindlichen Schiffe haben inzwischen ihren Platz gewechselt, und er kann sie nicht mehr finden. Ohne sichtbaren Erfolg, aber mit der Überzeugung, daß seine Erfindung sich bewährt hat, kehrt Fulton zurück. Napoleon, der gehofft hatte, mit Fultons Tauchbooten die britische Flotte zerstören und dann seine Armee nach England übersetzen zu können, verlor das Interesse, nicht zuletzt vielleicht deshalb, weil sein Marineminister stärkste Bedenken anmeldete; Ein Schiff versenken zu wollen, ohne seiner Besatzung die Chance zu geben, sich kämpfend zur Wehr setzen zu können, verstoße gegen das Kriegsrecht und sei nichts anderes als Piraterie. So kehrte Fulton nach Amerika zurück und baute hier das erste wirklich brauchbare Dampfschiff der Welt. Aber immer wieder bemühten sich die Erfinder um die Verwirklichung des Gedankens, unter Wasser zu fahren. Sogar der gefangene Napoleon sollte mit einem Tauchboot befreit werden. Und immer wieder ist auch der Gedanke an die Verwendung des ,submarinen Schiffes* als Waffe da - auch bei dem Mann, der vor wenig mehr als hundert Jahren die bis dahin weitaus beste Lösung des Unterseeboot-Problems gefunden hat, bei Wilhelm Bauer. Als Sohn eines Wachtmeisters im 5. Bayerischen Chevauleger-Regiment wurde Wil­ helm Bauer am 23. Dezember 1822 zu Dillingen geboren. Er besucht die Volksschule, lernt das Drechslerhandwerk in München, wo sein Vater nun ehrenvollen Dienst bei den Hartschieren tut, der Leibwache des Königs. Der Junggeselle geht auf Wandersdiaft, zieht hinauf nach Norden, sieht die Hansestädte Bremen, Hamburg, Lübeck, 1 7 7

wird vom Erlebnis des Meeres gefangengenommen, schaut begeistert auf das geschäftige Treiben in den Werften. Einer Empfehlung folgend, walzt er sodann wieder nach Süden, mit dem Ziel Konstantinopel. Aber in der Heimatstadt München bleibt er hängen, wird auf des Vaters Geheiß Soldat, ebenfalls Chevauleger, leichter Reiter, später, nach einem Reitunfall, Kanonier. Und mit der 10. Sechspfünder-Batterie Stieglitz des Baye­ rischen Hilfskorps marsdiiert der Korporal Bauer wieder nach Norden, nadi Schles­ wig-Holstein, gegen die Dänen. Hier, an dem von ihm so geliebten Meer, angesichts der Brücke über den Sund nach Alsen, blitzt in ihm der Gedanke eines Tauchschiffs auf, mit dem man die für den Feind so wichtige Brücke sprengen könnte. Bauer ist ein ge­ schickter Handwerker, aber er ist mehr - ein systematischer Experimentator. Taudien können soll sein Schiff wie ein Seehund, denen er so oft beim Wachdienst in den Küsten­ batterien zugesehen hat. Und im Quartier beginnt er nun mit holzgesdinitzten Modellchen, mit ausgeblasenen Hühnereiern, die er mit Schrotkugeln beschwert. Bald sind es schon Blechmodelle, und schon hat er ganze Stöße von Aufzeichnungen, Skizzen, Ta­ bellen - da kommt der Befehl zum Marsch nach Hause. Aber die See, der Gedanke an seinen ,eisernen Seehund* halten den Bayern im Nor­ den fest. Er tritt als Unteroffizier in die kleine schleswig-holsteinische Armee ein und kann sich nun in Kiel ganz der Arbeit für seine Idee widmen, kann physikalische Vor­ lesungen an der Universität hören, hohen Offizieren sein Projekt eines ,Brandtaudiers* vortragen. Auch er will vom getauchten Boot aus Minen am Feindschiff anbringen. Für 30 Taler wird 1850 ein Modell gebaut, das zeigt, wie das Unterwasserboot durch Auf­ nahme von Wasserballast sinkt, aber durch die in ihm eingeschlossene Luft auf der ge­ wünschten Tauditiefe gehalten wird. Noch im gleichen Jahr ermöglicht eine Sammlung bei allen Soldaten der schleswig-holsteinischen Armee den Bau des ,Seeteufels*. Am 18. Dezember 1850 läuft das Tauchboot auf der Werft von Schweffel und Howaldt in Kiel von Stapel, am 1. Februar 1851 beginnt Wilhelm Bauer mit zwei Gefährten, die das Paar Treträder für den Schraubenantrieb bedienen, die Probefahrt. Als Ballast dienen Eisenbarren. Bauer weiß, daß sein Tauchboot aus Zeit- und Geldmangel zu schwach gebaut ist. Dennoch wagt er es. Der Brandtaucher ,Seeteufel* führt das Tauch­ manöver aus, er sinkt - aber er sinkt unaufhaltsam. Mit knapper Not entkommen I 1*1®Modell des Kieler Brandttanelier Apparats von Wilhelm Bauer. ^

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sie gekommen waren. Mehr und mehr Vögel waren nun am Himmel, und in der Nacht auf den 30. Juli kam Land in Sicht, die kleine Insel Puka Puka. Das Segel wurde niedergeholt, aber am Morgen stellte sich heraus, daß eine Strömung das Floß nord­ wärts abgetrieben hatte - die Gelegenheit, den Strand der Insel zu erreichen, war verpaßt. An Bord der ,Kon-Tiki‘ nahm man das nicht allzu tragisch. Denn jetzt war der Beweis erbracht, daß man den Pazifik mit einem Floß überqueren konnte, und über länger oder kürzer mußten sie ja doch auf Land treffen. Drei Tage später, am 97. Tag der Reise, tauchte die Insel Angatau auf; doch war es auch hier nicht möglich, an die Küste heranzukommen, obwohl die Eingeborenen Hilfe leisteten. 97 Tage also hatte die ,Kon-Tiki‘ gebraucht, um von Peru nach Polynesien zu ge­ langen. Genau das aber war, wie Heyerdahl richtig geschätzt hatte, das absolute Minimum an Zeit, um diese Strecke zu bewältigen. Und besser, als alle Worte es ver­ mögen, sagt uns diese präzise Vorausbestimmung der Reisedauer, was Heyerdahl für ein Kerl ist. Er kennt seine Karten, er kennt die Meeresströmungen, er weiß alles. Und er hatte die richtige Mannschaft zusammengebracht. Die rechten Kameraden zu finden, das ist aber vielleicht die schwierigste Aufgabe, die es bei einem solchen Unter­ nehmen zu lösen gilt. Nun, da die ,Kon-Tiki‘ Polynesien erreicht hatte, kamen noch einige interessante und aufregende Tage. Am 7. August, dem 101. Tag der Fahrt, wurde das Floß auf das Ost­ riff der Koralleninsel Raroia geworfen - die mächtige Brandung schlug die Hütte zusammen, zerbrach den Mast und zerriß das Segel, dem eigentlichen Floß jedoch vermochte selbst sie nichts anzuhaben; tief und fest lagen die Taue im weichen Balsaholz. 8000 Kilometer hatte die ,Kon-Tiki‘ hinter sich gebracht, einen Weg, doppelt so lang wie der, den Kolumbus anno 1492 bewältigt hatte. Wer im einzelnen nachlesen will, was diese großartige Driftfahrt alles an Abenteuern mit sich gebracht hat, muß zu Thor Heyerdahls eigener Schilderung greifen, zu seinem Buch ,Kon-Tiki‘. Wunderbar jedenfalls und einzigartig ist es, so will mir scheinen, wie er versucht hat, seine Theorie zu untermauern, wie er aber auch bewiesen hat, daß die Norweger nach wie vor auf dem Meer zu Hause sind, daß der alte Wikingergeist noch nidit ausgestorben ist. Wie immer, wenn einer etwas Großes geleistet hat, meldet sich die Kritik zu Wort und bringt schwer zu beantwortende Fragen vor. Im Falle ,Kon-Tiki‘ ließen sich die wissenschaftlichen Spezialisten selbst durch den Erfolg der Floßfahrt nicht überzeugen, und ein bekannter französischer Reisender, Kapitän Eric de Bisschop, stellte sich auf den genau entgegengesetzten Standpunkt, indem er behauptete, es sei umgekehrt ge­ wesen: Er bezweifelte frühe Beziehungen zwischen Südamerika und Polynesien keines­ wegs, meinte aber, von Westen her seien Kulturträger zum Kontinent gekommen. Es ist hier nicht der rechte Ort, zu diskutieren, warum der Franzose anderer Meinung war als der Norweger; es mag genügen, wenn wir berichten, daß auch Kapitän de Bis­ schop versucht hat, seine These durch die Tat zu beweisen. Er rüstete ein Bambusfloß aus, viereinviertel Meter breit, zwölf Meter lang, und ging mit vier Franzosen und einem Chilenen an Bord von Tahiti aus am 6. November 1956 in See, um die 10000 Meilen bis zur Küste von Chile mit dem driftenden Floß zu bewältigen. Nach 194

Tagen kam das Floß ,Tahiti Nui‘ in einen schweren Sturm; zu diesem Zeitpunkt befand sich de Bisschop 900 Seemeilen westlich von Chile und etwa 300 Meilen westlich der Robinson-Insel Juan Fernandez. Das in Seenot geratene und von Haien umkreiste Floß mußte mit Funk Hilfe herbeirufen. Kapitän de Bisschop hatte auf die Westwinddrift, weit südlich des Kurses der ,KonTiki‘, und auf den Südäquatorialstrom vertraut, die beide zusammen ihn nach Osten bringen sollten. Offenbar war Heyerdahls Balsafloß seetüchtiger als Bissdiops aus Bambus gebaute ,Tahiti Nui‘. Doch wie dem auch sei - in beiden Fällen wurde der Beweis erbracht, daß Menschen auf einem Floß den Pazifik zwischen den Inseln Poly­ nesiens und dem südamerikanischen Festland zu queren in der Lage sind, und zwar von West nach Ost wie von Ost nach West. Und vielleicht war es in grauer Vorzeit auch wirklidi so, daß kühne Seefahrer damals schon von den Inseln der Südsee her die amerikanische Westküste ansteuerten, und daß Inkaflöße zu den Atollen Plynesiens fuhren.

H A N N O U N D DER GÖTTERWAGEN Von allen Seefahrergeschichten ist, glaube ich, kaum eine so großartig wie die von Hanno. Ein Karthager war er, Flottenadmiral, und er muß vor etwa 2500 Jahren gelebt haben. Seine Fahrt südwärts an der westafrikanischen Küste entlang ist die erste große Entdeckungsreise, von der wir sogar fast so etwas wie einen Bericht aus erster Hand haben. Hannos Vorstoß führte ihn weiter aus dem Mittelmeerraum fort als jeden anderen Seemann der folgenden zwei Jahrtausende. Von diesem bewundernswürdigen Abenteuer haben wir Kenntnis durch die grie­ chische Übersetzung einer Inschrift, von der es heißt, der Admiral habe sie nach seiner Heimkehr dem Tempel des Gottes Melkart geweiht. Das Original ist verlorengegangen, die Übersetzung - bekannt unter dem Namen ,Der Periplus des Hanno' - ist unvoll­ ständig. Dennoch: Wir erfahren aus ihr, daß dieser Mann vor zweieinhalb Jahrtausen­ den schon fast bis zum Äquator vorgedrungen ist. Es war um das Jahr 500 v. Chr., und der karthagische Staat stand in voller Blüte. Hanno hatte offenbar Kunde von einer kühnen Reise, die schon hundert Jahre zuvor phönizische Schiffer auf Befehl des Pharaos Necho vom Roten Meer aus rund um ganz Afrika und schließlich zurück durch die Säulen des Herakles - die Straße von Gibraltar - nach Ägypten gemacht haben sollten. Phönizier hatten einst auch Karthago gegründet (cs lag dort, wo es heute wieder eine Stadt Carthage gibt, auf einer Halbinsel nordöstlich von Tunis), und die Karthager hatten im westlichen Mittelmeer die Vormachtstellung über das Phöniziertum errungen. Wie die Phönizier waren auch die Karthager kundige 1 9 9

und geschickte Seefahrer. Die Gesdiichte von der Umseglung Afrikas ist durch Herodot auf uns gekommen, aber er selbst hat sie nicht glauben wollen, und zwar deshalb, weil die Phönizier ihrer Aussage nach «bei der Umsdiiffung Libyens die Sonne zur Rechten gehabt hätten». Gerade das aber, was für Herodot so unglaubhaft klang, zeugt uns Heutigen für die Wahrheit des Berichts von der Expedition für Pharao Necho. Südlich des Äquators steht bei westlichem Kurs die Sonne zu Mittag ja tatsächlich « zur Rech­ ten», nämlich im Norden! Nur wer das selbst erlebt hatte, konnte von dieser für das Weltbild des Altertums völlig unbegreiflichen Tatsache wissen. Ob Hanno nun von diesem Unternehmen Kunde hatte oder nicht - er jedenfalls ging nach gründlicher Vorbereitung von Karthago aus in umgekehrter Richtung in See. «Auf Befehl Karthagos», so lesen wir im griechischen Text, «sollte Hanno eine Reise über die Säulen des Herakles hinaus unternehmen. Demgemäß segelte er mit 60 Pente­ konteren, Schiffen mit fünfzig Riemen, und mit einer Besatzung, bestehend aus Männern und Frauen, von 30000 Köpfen aus.»

Phönizisches Ruderschiff (nach einem alten Vasenbild)

Der Zweck der Expedition war es, an der afrikanischen Küste Siedlungen und Han­ delsstationen anzulegen. Ob die Zahl 30 000 wirklich stimmt, mag man bezweifeln. Der Bericht fährt nunmehr in der Wir-Form fort; von der Gründung verschiedener Kolonialsiedlungen ist die Rede, und dann heißt es: «Wir kamen an einen See, der nicht weit entfernt vom Meer lag; er war über und über mit hohem Schilf bewachsen. Elefan­ ten und eine große Zahl anderer wilder Tiere hatten hier ihren Fraßplatz.» Die Stämme, mit denen Hannos Leute zusammentrafen - er nennt sie ,Äthiopier‘ -, erwiesen sich als freundlich. Doch als es dann weiter südwärts ging, wurde alles anders. Es muß offenbar an der Mündung des Senegal gewesen sein, als sie auf Wilde stießen, die in Felle gekleidet waren und eine Landung durch ein Steinbombardement verhin­ derten. Die Karthager segelten weiter, und als sie nun « an eine gewaltige Einbuchtung der See» kamen, sahen sie auf beiden Seiten Feuer brennen und hörten ein schreckliches Getöse von «Pfeifen, Zimbeln, Trommeln und wirrem Geschrei». Die Feuerbrände wurden größer; offensichtlich hat es sich um einen riesigen Waldbrand gehandelt, denn

nun heißt es: «Wir passierten ein Gebiet, brennend von Feuer und Rauch, und Feuer­ ströme fielen von daher ins Meer. Infolge der Hitze konnte das Land nicht betreten werden.» Die Karthager hatten einige Eingeborene als Dolmetscher an Bord. Um diese Zeit hatten sie bereits Kap Verde, die westliche Spitze Afrikas, und wohl auch schon Kap Palmas gerundet. Und als nun über dem Flammenmeer nachts ein anderes, sehr viel höheres Feuer zu sehen war, das bis an die Sterne zu reichen schien, sich am Tage aber als ein großer Berg erwies, wurden die Eingeborenen befragt. Sie nannten den Berg den ,Wagen der Götter'. Dieser ,Wagen der Götter' kann nur die Fakospitze im Kamerun­ gebirge gewesen sein, ein 4075 Meter hoher Vulkan, der noch in historischer Zeit tätig gewesen sein muß. Schließlich kam Hannos Flotte in eine Bucht, die zur Landung einlud. Wenn der ,Wagen der Götter' wirklich die höchste Erhebung des Kamerungebirges gewesen ist (und es gibt keine andere befriedigende Deutung als diese), dann müssen die Karthager sich nun in unmittelbarer Nähe des Äquators befunden haben. Hier sahen sie auf einer Insel zahlreiche «Wilde, größtenteils Weiber mit behaartem Körper. Unser Dolmetscher nannte sie Gorillas». Die zu den ,Weibern' gehörenden ,Männer' wehrten die Verfolger durch Steinwürfe ab und entkamen über Felsstürze. Dexh gelang es, drei ,Weiber' zu fangen. Diese sonderbaren ,Wilden' wollten durchaus nicht begreifen, daß sie in Gefangenschaft geraten waren, und setzten sich erbittert mit Beißen und Kratzen zur Wehr, bis die Karthager sie schließlich töteten. Die Haut wurde abgezogen, die Felle brachte man an Bord und nahm sie nach Karthago mit, als un­ mittelbar danach die Heimreise angetreten wurde, weil der Proviant zur Neige ging. Vieles spricht dafür, daß es sich bei den ,Wilden' mit dem Namen ,Gorilla' nicht um Angehörige der größten Menschenaffenart gehandelt hat, die wir heute Gorilla nennen, sondern um Schimpansen. Der kurze Bericht sagt nichts darüber aus, wie lange die Fahrt nach Karthago zurück gedauert hat; wir erfahren auch nichts über die Verluste und über das Schicksal der Siedler. Aber nach Herodot war die von Pharao Necho ausgesandte Expedition schon hundert Jahre vorher so vorzüglich geplant gewesen, daß die Seefahrer, die mehr als zwei Jahre unterwegs waren, im Herbst jeweils an Land gingen, Getreide säten, die Ernte abwarteten und dann erst weitersegelten. Es erscheint wenig wahrscheinlich, daß es Hanno nicht ähnlich gehalten hat. Da sich die Eingeborenen bis fast zum Wendepunkt der Reise als freundlich erwiesen hatten, dürfen wir annehmen, daß er Tauschhandel mit ihnen treiben konnte, um zu Proviant zu kommen; wo das nicht möglich war, boten die Küstenwälder sicherlich Früchte genug. Und auf der Heimreise wird es ebenso gewesen sein; vielleicht konnten da aber schon die an Land gesetzten Siedler aushelfen. Man fragt sich natürlich, warum Hannos Afrikareise für lange Zeit die einzige ge­ blieben ist. Offenbar lag den Seefahrern jener Zeit nur daran, gute Handelsmöglich­ keiten zu erschließen, und Hannos kurzer Bericht mag wohl doch nicht recht geeignet gewesen sein, den Händlern Mut genug zu machen, die Schrecken des Atlantischen Ozeans und dazu auch noch die Gefahren an der afrikanischen Küste auf sich zu nehmen.

So kam es, daß sich für viele Jahrhunderte der Blick nicht nach Süden richtete, sondern nach Osten. Von dort her kamen wunderbare Schätze, Seide, Edelsteine und vor allem Gewürze, die damals unbedingt gebraucht wurden, um das Fleisch, das ja nur durch Einsalzen haltbar gemacht werden konnte, auf die Dauer überhaupt genieß­ bar zu machen. Der Handel mit diesen Kostbarkeiten lockte die Entdecker nach Arabien und Persien, Indien und ins ferne Cathay, ins Land der Seide: China. Ein römischer Steuererheber, so heißt es, sei der erste Europäer gewesen, der das stete Wehen der Monsune und ihren halbjährlichen Wechsel kennengelernt habe; von einem Ort, der wohl irgendwo in der Gegend des Golfs von Aden gelegen hat, sei er über den Indischen Ozean bis nach Ceylon verschlagen worden. Hier wurde ihm bedeutet, er brauche nur ein paar Monate zu warten, dann würde der Wind mit Sicherheit in genau entgegen­ gesetzter Richtung wehen und ihn wieder dorthin zurückbringen, wo er hergekommen sei. Und so geschah es denn auch. Nach anderer Quelle hat als erster ein griechischer Seemann, Hippalos, um 100 v. Chr. die Monsune genutzt, aber den arabischen See­ leuten waren sie sicherlich schon früher bekannt. Zur Zeit des Römerreiches jedenfalls kreuzten bereits zahlreiche Schiffe regelmäßig den Indik in beiden Richtungen und tauschten die Güter des Ostens gegen die des Westens. Später, im Mittelalter, bis zur Zeit der portugiesischen Entdeckungsfahrten, war der Indien- und Ostasienhandel ein Privileg der Araber. Die herrlichen Seefahrergeschichten aus 1001 Nacht künden noch heute von dieser Zeit. Als Marco Polo zum Großkhan der Mongolen zog, als Venedigs Macht in höchster Blüte stand, bezog Europa die Schätze des Ostens ausschließlich auf dem Umweg über die arabischen Dhaus, die mit dem Monsun den Indischen Ozean querten. Von den kühnen Fahrten der Phönizier und Karthager in den Meeren um Afrika hat ihre Nachwelt kaum Kenntnis und keinen Nutzen gehabt. Vielleicht deshalb, weil diese ebenso kühnen Seefahrer wie schlauen Händler die Geheimnisse ihrer Fahrten und Handelsbeziehungen allzu sicher bewahrt haben. Die nächsten, die mit ihren Schiffen in den Atlantik vorstießen, waren Männer aus Europas Norden. Ihnen stand der Sinn kaum nach Handel, als sie westwärts fuhren. Im Gegenteil - der Ruf, in dem sie bei den Völkern Europas standen, war wirklich nicht der beste, galten sie doch als wilde Krieger und wüste Seeräuber. Von Phöniziern und Karthagern hatten sie nie auch nur ein Wort gehört, und so konnten sie auch gar nicht auf den Gedanken kommen, etwa Hannos Kurs zu folgen. Indem sie aber in den kälteren Meeren dort anfingen, wo die Phönizier aufgehört hatten, trugen sie das Ihre bei zur Erkundung der Sieben Meere und der Erde.

D IE ERSTEN WEISSEN I N AMERIKA Soweit wir es heute wissen, war der erste Europäer, der Amerika gesehen hat, ein junger Wiking namens Bjarni Herjulfson. Kurz vor der Wende des ersten Jahrtausends fuhr er von Island aus, um seinen Vater zu besuchen, der sich auf Grönland in der Verbannung befand. Etwa ein Jahrhundert zuvor war die große Insel im Nordmeer von Gunnbjörn, dem Sohn des Ulf Krake, erstmals angesegelt worden, und in den achtziger Jahren des 10. Jahrhunderts hatte der wilde Eirik Raudi, Eridi der Rote, mit seinen Gefolgsleuten hier Land genommen, als er vom Thing zu Thornes auf Island für drei Jahre geächtet worden war. Mit Erich dem Roten war Herjulf Bardson ge­ gangen, und ihn wollte, von Norwegen kommend, sein Sohn Bjarni besuchen, um, wie er es gewohnt war, den Winter mit dem Vater zu verbringen. Bjarni war damals trotz seiner Jugend ein befahrener Seemann, der sich bereits ,Vermögen und Mannesruhm* gewonnen hatte. Die Route nach Grönland war verständlicherweise so gut wie unbekannt, und so kam es, daß Bjarni sich zu weit nach Süden hielt. Dann geriet sein Schiff in Nebel und Schneestürme und wurde weit nadi Westen abgetrieben. Nadi vielen Tagen kam Land in Sicht. Aber es konnte den Schilderungen nach nicht Grönland sein, denn die Küste, die vor Bjarnis Augen lag, war dicht bewaldet und hügelig. Nach weiteren zwei Tagen siditete er abermals Land, wiederum waldig, aber flach, und nach weiteren drei Tagen nochmals, doch war die Küste nun ein un­ wirtliches, gletscherbedecktes Gebirge. An keiner der drei Stellen war Bjarni an Land gegangen, denn ihm war klar, daß er Grönland nicht erreicht hatte, sondern sich zu weit westlich befand. Er ging auf Ostkurs, und vier Tage später endlich lief er genau die Landzunge an, auf der sein Vater Herjulf siedelte. Das war etwa im Jahre 986. Aber welche Küste hatte Bjarni Herjulfson gesehen? Wir wissen es heute: Es war Labrador. Und damit war Bjarni der eigentliche Entdecker Amerikas geworden, ohne freilich den Boden des Landes betreten zu haben. Wie jeder Seemann, so erzählte auch Bjarni von seiner Reise. Und einer war da, der gar nicht genug davon hören konnte: Leif Eirikson, der Sohn Erichs des Roten, auch er, wie uns die Grönlandsaga überliefert, ein tüchtiger Seemann und beliebt dazu. Er brauchte nicht lange zu fragen, um die 35 Männer zusammenzubringen, mit denen er das von Bjarni entdeckte Land suchen wollte, und kaufte für dieses Unternehmen Bjarnis gutes Schiff. Es waren wirklich gute Schiffe, die ,Meeresschiffe* der Wikinger, großartig gebaut, langgestreckt, von eleganter Form, am Bug den geschnitzten Drachenkopf, ein einziges großes viereckiges Segel am Mast und an Back- und Steuerbord je ein halbes Dutzend oder mehr langer Riemen. Ihren stolzen Namen ,Wikinger‘ führten die Seefahrer aus Nordland nach dem Wort ,vik*, das gleichbedeutend ist mit Fjord - sie selbst haben durch ihre Taten den Namen zum Begriff kühner Meerfahrt werden lassen. Die Männer an den Riemen waren alles andere denn Galeerensklaven; freie Männer in Waffen 2 0 3

waren es, deren Schilde außenbords hingen, solange sie ruderten. Und an Land nahmen sie es mit jedem Krieger auf. Stolze und harte Seeleute waren sie. Die Wikingerschiffe hatten kein Dedc. Vor Schlechtwetter schützten sie sich, so gut es ging, indem sie ihre ledernen Schlafsäcke als Persenning benutzten. So wacker sie an Land zu zechen und schmausen verstanden - an Bord waren sie mehr als genügsam, trotz der Arbeit an den Riemen, die von je zwei oder drei Mann geführt wurden mit der Exaktheit ge­ drillter Galeerensklaven, aber mit sehr viel mehr Kraft. Manchmal schlugen sie mitt­ schiffs ein Zelt auf, doch machten sie selbst bei wirklich schlechtem Wetter kaum Gebrauch davon, denn auch vor einem Sturm verkrochen sie sich nicht. Leif und seine 35 Männer nahmen Kurs Südwest und erreichten so wirklich das Land, das Bjarni beschrieben hatte, eine abschreckend öde Küste, dahinter eisbedeckte Berge mit Gletschern. Leif nannte es Helluland, Land der flachen Steine. Auf unseren heutigen Karten heißt es Labrador, und es ist noch heute so unwirtlich, besonders im Winter, wie zu Leifs Zeiten. Weiter nach Süden muß dann Leifs Drachenschiff die Westküste von Neufundland passiert haben. Jetzt wurden Landschaft und Klima freundlicher. Bäume wuchsen an der flachen Küste, weißer Sandstrand war da. Markland, Baumland, wurde es von Leif genannt; es war das heutige Neuschottland. Auf einer Insel fanden sie wunderbar süß schmeckendes Gras. Wahrscheinlich war dies die jetzige Prince-Edward-Insel. Die Fahrt führte dann, soweit wir heute die Angaben der Sagas richtig deuten können, an der Küste Neuschottlands entlang. Kap iiable kam außer Sicht, und schließ­ lich gelangten Leif und seine Wikinger abermals an Land. Dabei lief ihr Schiff bei Ebbe auf Grund. Es muß dies in der Gegend von Kap Cod gewesen sein, an der Küste von Massachusetts. Mit einem Boot gingen sie an Land, und was sie sahen, war so schön, daß sie be­ schlossen, hierzubleiben. Das Schiff schleppten sie bei Flut in einen dort mündenden Fluß und warfen Anker aus. Lachse gab es in Hülle und Fülle, das Gras wuchs üppig, und man war einhellig der Meinung, auch im Winter könne das Vieh draußen bleiben und weiden. Als gar ein Deutscher, Tyrkir, den Leif seinen ,Ziehvater‘ nannte, Weintrauben entdeckte, waren Freude und Überraschung groß, und Leif gab dem Land den Namen Winland - Wein­ land. Leif und seine Männer überwinterten in Holzhäusern und kehrten im Frühling zurück, das Schiff vollbeladen mit Holz, das auf Grönland äußerste Mangelware war. Die Saga von Leif schweigt darüber, ob sie Eingeborenen begegneten. Als Leif in Grönland von seiner glückhaften Reise und von dem neuentdeckten Land berichtete, von den herrlichen Viehweiden, von dem milden Winter, von den Wein­ reben und vom Holzreichtum, erhielt er sehr schnell den Beinamen ,der Glückliche'. Ein anderer grönländischer Wikinger, Thorfinn Karlsefni, beschloß es Leif nachzutun, nach Winland zu segeln und in diesem Paradies eine Siedlung zu gründen. Doch noch während Ihorfinn seine Mannschaft zusammenstellte, fuhren schon andere Drachen­ schiffe an die von Leif entdeckte Küste, um das kostbare Holz zu holen - jenes Holz, das Jahrhunderte später ein sehr begehrter Rohstoff Neuenglands für die britischen Schiffbauer werden sollte. Unter denen, die auf Leifs Spuren nach Grönland segelten, befand sich auch sein jüngerer Bruder Lhorwald. 204

Um 1003 war Karlsefni so weit, in See gehen zu können; 160 Männer und fünf Frauen zählten zu seiner Mannschaft, und auch einige Stücke des widerstandsfähigen nordischen Rindviehs wurden mitgenommen, da ja Leif erzählt hatte, wie günstig die Futterverhältnisse in Winland seien. Es war sicherlich keine ganz leichte Angelegenheit, die Rinder in den offenen Schiffen über den Nordatlantik zu bringen, aber die Wikin­ ger meisterten auch diese Aufgabe - wobei es allerdings noch nicht heraus ist, ob Ihorfinns Expedition mit dem Ziel der Gründung einer Kolonie im ,Guten Winland* wirk­ lich die typischen, für die Kriegsfahrt gebauten, langgestreckten, schmalen Schiffe mit ihren stark hochgezogenen Vor- und Achtersteven benutzt hat. Die Wikinger hatten nämlich sowohl Kriegs- wie Handelsschiffe, und sie bauten beide Schiffstypen ganz unterschiedlich. Dabei hatten sie offensichtlich auch das An­ triebsproblem durchaus bedacht: Beim Handelsschiff, das es sich leisten konnte, lang­ samer zu sein, verzichtete man auf die langen Riemen, weil man sie ja nicht so nötig hatte wie beim Kriegsschiff, das schnell und sehr wendig sein mußte. Deshalb also führten die Handelsschiffe der Wikinger - der Nordmänner oder Normannen, wie man sie auch nannte -- nur ein großes Segel und einen Mast, und auch in der Form waren sie anders als die ,Drachenschiffe*: bauchiger, geräumiger und angesichts der 205

weiten Strecken, die sie zu bewältigen hatten, wohl auch komfortabler. Eine große Zahl solcher Schiffe verkehrte regelmäßig zwischen Island und Grönland hier und Skandinavien dort, brachte Felle und Walroßzähne (für kostbare Schnitzereien) nach der Heimat und von dort all das, was die Siedlungen im hohen Norden nicht selbst erzeugen konnten. Denn, und das darf man nicht vergessen, die Island- und Grön­ landnormannen waren ja nicht nur Krieger und Seefahrer, sondern auch Bauern. Ihorfinns Flotte bestand aus mehreren Schiffen - wieviel es genau waren, läßt sich aus der Saga nicht entnehmen, mindestens aber waren es drei. Auch wie lange die Fahrt dauerte, ist nicht bekannt. Jedenfalls wurde Winland erreicht. Zunächst ging in der neuen Siedlung alles gut. Es war Frühling, als Thorfinn und die Seinen nach Winland kamen. Den Sommer verbrachten sie mit dem Errichten von Häusern und mit dem Bestellen der Felder; Menschen und Vieh gediehen. Erkundungs­ vorstöße führten zu einer Entdeckung, die den ersten Wikingern offenbar noch nicht geglückt war: Das Land war bewohnt. Die Indianer - die Wikinger nannten sie ,Skrälinger* - erwiesen sich als freundlich und tauschten gern sehr feines Pelzwerk gegen das von den Nordmännern mitgebrachte rote Tuch ein. Auch der erste Winter verlief friedlich, und die Saga weiß zu berichten, daß damals das erste europäische Kind in Amerika geboren wurde, Snorrl, den Gudrid, Ihorfinn Karlsefnis Frau, zur Welt brachte. So hätte die junge Wikingersiedlung der Anfang der Erschließung Amerikas durch die Weißen sein können. Doch bald wendete sich das Blatt. Das rote Tuch ging aus, Milch und Käse, den Indianern völlig unbekannt, waren ihnen auf die Dauer wohl nicht genug als Tauschobjekt für die Pelze, und metallene Waffen einzuhandeln verbot Karlsefni. Man darf zudem annehmen, daß seine Leute nicht gerade sehr friedfertig waren, sondern genau solche Rauhbeine wie die anderen Nordmänner, von denen die Sagas erzählen. Kurz und gut, es kam zum bewaffneten Zusammenstoß, es gab Tote, und als der im neuen Land geborene Snorri ,drei Winter alt* war, als es zudem auch in den Reihen der Wikinger zwischen Verheirateten und Unverheirateten Streit gab, brach Thorfinn Karlsefni sein Unternehmen ab - die Reise ging zurück nach Grönland. Karlsefni siedelte sich später am Skagafjord in Norwegen an und wurde als hoch­ geachteter Mann der Ahnherr einer edlen Sippe. Außer der Überlieferung in der Grönlandsaga hat die erste Besiedlung Amerikas durch die Weißen keine sichtbaren Spuren hinterlassen. Auch von späteren Fahrten der Grönlandwikinger nach Winland wissen wir so gut wie nichts; wir dürfen aber annehmen, daß ziemlich regelmäßig Schiffe an die amerikanische Küste gesegelt sind, um das unentbehrliche Holz zu holen. Von einem der letzten haben wir wieder Kunde, in den isländischen Annalen des Bischofs von Skalholt um 1350: Damals wurde ein Markland-Schiff durch einen Sturm nach Island verschlagen. All die aufsehenerregen­ den Nachrichten aber, die von Zeugnissen für Wikingervorstöße tief ins Innere des nordamerikanischen Kontinents sprechen, bis ins Gebiet der Großen Seen, stehen auf äußerst schwachen Füßen. Der berühmte Runenstein von Kensington im Staate Minne­ sota, datiert vom Jahre 1362, darf als Fälschung gelten, und auch alle anderen Funde sind mehr als unsicher, wie der Direktor des Dänischen Nationalmuseums Kopenhagen, Johannes Brondsted, 1954 in einer grundlegenden Untersuchung gezeigt hat. 206

Und wenn wir vorhin gesagt haben, daß Leif an der Küste von Massachusetts erst­ mals amerikanischen Boden betreten hat, so ist auch dies nur eine, wenn auch recht wohlbegründete Hypothese unter vielen. Es gibt andere, die Winland nach Long Island verlegen oder in das Gebiet des St. Lorenzstroms. Die unsichere Überlieferung, die nicht zuletzt ihren Grund darin hat, daß die Sagas erst nach mehrhundertjähriger mündlicher Weitergabe, bei der sich manche Einzelheit verändert haben mag, schrift­ lich festgelegt wurden, läßt keine genaue Lokalisierung mehr zu. Auch die Grönlandwikinger verschwanden schließlich aus dem Gesichtsfeld Europas. Bis ins 15. Jahrhundert bestand noch Verbindung zu Island und zum skandinavischen Heimatland. Im Laufe dieses Jahrhunderts aber hören die letzten Nachrichten auf, die Siedler an der Westküste Grönlands bleiben sich selbst überlassen - Klimaverschlech­ terung, Zusammenbruch der Viehhaltung, Seuchen, mangelhafteste Ernährung und als Folge schließlich eine ungewöhnlich hohe Kindersterblichkeit und körperliche Verküm­ merung der Erwachsenen: das waren die Ursachen des traurigen Dahinschwindens der Grönlandnormannen, fast zu genau der gleichen Zeit, als Christoph Kolumbus west­ wärts ausfuhr. Seiner mutigen Tat ist jener bleibende Erfolg beschieden gewesen, den das Schicksal den Wikingern unter Leif Eirikson und Tiorfinn Karlsefni versagt hat.

KURS WEST! Zwei Dinge sind es, die den rotblonden, heißblütigen Genueser Seemann Christoph Kolumbus, geboren 1451 als Sohn eines Webers und getauft als Christophoro Colombo, von den Spaniern Christobal Colon genannt, hoch hinausheben über die anderen Männer vor und nach ihm in jener Zeit, die heute das ,große Zeitalter der Entdeckun­ gen* genannt wird. Der eine Grund: Kolumbus war der erste, der es gewagt hat, sich nicht mehr nur in Küstennähe vorwärtszutasten oder von einer Insel zur nächsten, sondern hinauszustoßen in die Weite der unbekannten, von Gefahren umwitterten offenen See, und das voller Vertrauen allein auf eine geographische Theorie. Und zum zweiten haben erst seine Reisen das Tor zur Neuen Welt aufgestoßen und damit auch der Alten Welt völlig neue Triebkräfte verliehen. Es tut der einzigartigen Leistung dieses Mannes nicht den geringsten Abbruch, daß er bis zu seinem Tode gar nicht gewußt hat, was ihm eigentlich geglückt war. Das Bild der Welt, das er sich gemacht hatte, ließ Japan, das sagenumwobene Zipangu, nur 2500 Meilen westlich der Kanarischen Inseln liegen. Und noch in seiner Todesstunde hat er geglaubt, den kürzesten Seeweg nach Indien gefunden zu haben - daß es wirk­ lich eine Neue Welt war, die er entdeckt hatte, war ihm nicht bewußt. Dennoch: So sehr er in dieser Hinsicht irrte, so großartig war seine Leistung im ganzen, und mit vollem Recht läßt man mit seiner Tat ein neues Zeitalter beginnen. 207

Sein Ruhm ist so groß, daß sidi eine ganze Reihe von Städten um die Ehre streitet, Kolumbus’ Geburtsort zu sein - es ist das gleiche wie zur Zeit der alten Griechen mit Homer. Aber es ist wohl sicher, daß er aus Genua stammt, dort 1451 geboren wurde und der Sohn eines Webers war. Mit etwa 20 Jahren muß er zur See gegangen sein. Die meisten seiner Fahrten haben ihn ins Mittelmeer geführt, wenn er auch später gesagt hat, schon fast als Kind habe er an Deck gestanden und sei viel weiter herum­ gekommen, sogar bis nach Island. Doch wie dem auch sei - nach mancherlei Abenteuern auf Seefahrt und Seeraub kam er 1476 durch einen Schiffbruch nach Portugal. Hier blieb er. Portugal war seit den Tagen des Prinzen Heinrich (1394-1460) die führende Seefahrernation; die von ,Dom Enrique el Navegador* geschulten Kapitäne fuhren damals schon bis in die Gegend, in der einst Hanno seine Fahrt hatte abbrechen müssen, und brachten Gewürze, Gold, Elfenbein von den portugiesischen Haadelsstationen an der westafrikanischen Küste. In den Jahren, da Kolumbus in Lissabon weilte, verschlang er alles, was er an geographischen Büchern und Karten bekommen konnte. Und um 1484 waren sein Weltbild und sein kühner Plan fertig: auf dem Wege nach Westen Zugang zu finden zu den sagenhaften Schätzen Indiens. Daß die Erde eine Kugel sei, war um diese Zeit schon bei allen Gebildeten anerkannt. Insofern war seine Idee noch nicht neu; was ihm aber den Mut gab für sein Unternehmen, war seine Vorstellung vom Erdumfang und von der Entfernung zwischen dem westlichsten Punkt Europas und dem östlichsten Asiens. Ein Brief und eine Karte des italienischen Astronomen Toscanelli bestärkten ihn darin - ganze 65 bis 70 Längengrade trennten angeblich Europa von Asien: Kolumbus schätzte den wahren Erdumfang um ein Drittel kleiner, als er ist. So kam er zu der Annahme, von Portugal bis Japan müsse es nicht sehr viel weiter sein als bis zu den am weitesten vorgeschobenen Stützpunkten der Portugiesen in Afrika. Von dem riesigen amerikanischen Kontinent, von der Ausdehnung des Pazifik konnte er einfach keine Ahnung haben. Noch während er an seinen Plänen schmiedete und einflußreiche Leute für sie zu gewinnen suchte, drangen die Portugiesen immer weiter an der afrikanischen Küste südwärts vor: 1484 wurde die Kongomündung, im gleichen Jahr die Walfischbucht erreicht. Damals mußte Kolumbus erkennen, daß er bei den Gelehrten und Beamten am Hof von Lissabon, wo er immer wieder um königliche Hilfe für sein Unternehmen vorstellig wurde, kein Gehör fand: Selbst wenn seine Berechnungen richtig waren wer kannte die Gefahren des freien Ozeans, wer die dort herrschenden Wind- und Meeresströmungen? Da war die Art, sich ängstlich an die Küste zu klammern, aber schrittweise dem ersehnten Ziel Indien immer näherzukommen, doch sicherer, und vor allem: Dieser Kolumbus war ein Fanatiker, ein Besessener. Vielleicht war er gar ein Phantast? Im gleichen Jahr 1484 verließ Kolumbus enttäuscht Lissabon und ging nach Spanien. Wieder antichambrierte er bei Hofe. Zwei königliche Kommissionen prüften sein Projekt, kamen aber ebenfalls zu einer Ablehnung. Was Kolumbus da vortrug, eine wunderliche Mischung aus wissenschaftlich Ernstzunehmendem und mystisch Spekula­ tivem, war in der Tat für die Gelehrten undiskutabel; zudem aber lag Spanien noch im Krieg mit dem letzten Bollwerk der Mauren auf der Pyrenäenhalbinsel. 208

Das Bild der ,Alten W elt\ wie es bis Kolumbus allgemein anerkannt war, hatte Ptolemäus schon um 150 n. Chr. gezeichnet. Es kannte, wie diese ,Weltkarte^ aus der Schedelschen Chronik von 1493 - ein Jahr nach der Entdeckung Amerikas durch Kolumbus! - zeigt, nur Europa, Afrika bis zu den Nilquellen und Asien. Von Ostasien nach Westafrika erstreckte sich angeblido ein Südkontinent, die ,Terra australis incognita! - das ,Unbekannte südliche Land* so daß der Indische Ozean als Binnenmeer erscheint.

Inzwischen hatte der Portugiese Bartholomeu Diaz die Südspitze Afrikas erreicht; aus gutem Grund nannte er sie ,Cabo tormentoso-Stürmisches Kap*. Sein König aber, der keine Ahnung hatte von den Schwierigkeiten, dieses Kap zu umrunden, gab ihm in der Zuversicht, daß nun der Weg nach Indien frei sei, den noch heute geltenden Namen ,Kap der Guten Hoffnung*. Das war 1488 gewesen. Immer noch kämpfte Kolumbus mit Verbissenheit um seinen Plan. Mochten die Gelehrten tausendmal sagen, er habe die Entfernungen weit unter­ schätzt: Er fühlte sich von geradezu religiösem Sendungsbewußtsein durchdrungen. Abermals suchte er die Hilfe des portugiesischen Hofes - zu spät. Dort bereitete man sidi bereits auf jene Expedition nach Indien vor, die unter Vasco da Gama 1498 tat­ sächlich das Ziel erreichte, das sich Prinz Heinrich der Seefahrer 80 Jahre zuvor gesteckt hatte. Mit dem König von Frankreich, mit dem Londoner Hof nahm Kolumbus Fühlung auf. Nichts! Doch Königin Isabella von Spanien, deren Sympathien er schon an209

läßlich der ersten Begegnung gewonnen hatte, entschied sich schließlidi doch für den Mann, der so beredt von seinen Vorstellungen und Plänen zu sprechen wußte. Inzwi­ schen waren auch die Mauren besiegt und vertrieben worden. Noch im letzten Augen­ blick, denn schon wollte Kolumbus abermals enttäuscht von dannen ziehen, erreichten die Boten der Königin den Mann, der da meinte, Zipangu sei nur wenige tausend Meilen von den Kanaren entfernt. Sicherlich hat sich Königin Isabella mehr von der Intuition leiten lassen als von klarer Berechnung. Aber selbst diese sprach für Kolumbus: Was konnte sein Unter­ nehmen schon mehr kosten als die drei Schiffe, die er forderte? Was aber war zu gewin­ nen, wenn er wirklich recht hatte? Ungeheurer Reichtum! Die beiden, die schließlich am 17. April 1492 den Vertrag Unterzeichneten, waren durchaus keine lebensfremden Träumer. Und was Kolumbus sich in diesem Vertrag zusichern ließ, zeigt, daß er seine Forderungen zu stellen wußte: Drei Schiffe, den Rang eines Admirals der Flotte und Vizekönigs aller von ihm zu entdeckenden Län­ der sowie ein Zehntel von allen in den neuen Ländern zu gewinnenden Schätzen und Handelserträgnissen. Zwei von den drei Schiffen, die Kolumbus erhielt, gehörten zu einem verhältnis­ mäßig neuen Typ. Es waren Karavellen, Schiffe, die sehr viel seetüchtiger und handiger waren als alle früheren Typen, insbesondere für die Fahrt auf hoher See, obwohl uns heute diese hochgebauten, breitbauchigen Karavellen mit ihren Kastellen an Bug und Heck allenfalls noch als geschnitztes Modell zum Schmuck des Herrenzimmers gefallen wollen. Die Takelage bestand beim Normaltyp aus drei Masten mit dreieckigen Lateinersegeln und einem Fockmast, der ein viereckiges Rahsegel trug. Ging es auf den freien Ozean hinaus, so setzte man anstelle der lateinischen Segel Vierecksegel, die allerdings die Karavelle nicht mehr als 60 Grad in den Wind brachten; aber dafür konnte eine Karavelle selbst schweres Wetter gut bestehen. Kolumbus* Flotte bestand aus drei Schiffen, der ,Santa Maria*, seinem Flaggschiff, das etwa 100 Tonnen und eine Mannschaft von 52 Köpfen hatte, der ,Pinta‘ mit 18 Mann und der ,Nina* von nur 40 Tonnen, ebenfalls mit 18 Mann an Bord; zweifels­ ohne war die ,Nina* keine Karavelle, sondern eine große, mit drei Lateinersegeln ausgerüstete Schaluppe. Am 3. August 1492 ging die kleine Flotte von Palos nach den Kanaren in See. Von hier aus, so hatte Kolumbus entschieden, sollte westlicher Kurs gehalten werden. Daß er vielleicht doch nicht der allererste Europäer gewesen ist, der auf diese Fahrt gen Westen ging, wird durch eine alte Karte von 1424 belegt, die erst im Jahre 1954 entdeckt worden ist. Sie stammt von der Hand eines Venezianers und gehörte zu der Sammlung des Sir Thomas Philipps, eines Engländers, der 1872 gestorben ist. Diese Karte zeigt dort, wo wir heute Westindien finden, vier Inseln, die der Venezianer ,Antillia* nennt. Bis 1954 hatte man gemeint, dieser auch auf anderen Karten der Zeit, die allerlei Fabelinseln im Ozean darstellen, auftauchende Name sei reine Er­ findung; nun aber steckt möglicherweise doch etwas dahinter, und auch Kolumbus mag von ,Antillia* gehört haben, vielleicht von sagenhaften Inseln, vielleicht aber auch von wirklich gefundenen. Die drei Schiffe verließen die Kanaren am 9. September. Anders als bei vielen

Entdeckungsreisen war das Wetter vorzüglich. Die Schiffe kamen gut voran. Doch je weiter man sich von bekannten Küsten entfernte, desto besorgter wurden die Mienen der Besatzung, in deren Köpfen allerlei Aberglauben herumspukte. Die Angst stieg, und am 10. Oktober, als man nun schon 31 Tage kein Land mehr gesehen hatte, kam cs zu einer Meuterei. Doch noch einmal gelang es Kolumbus, seine Leute zu beschwich­ tigen. Drei Tage noch sollten sie durchhalten, dann würde das Ziel erreicht sein. Und wirklich: Am nächsten Morgen trieben belaubte Zweige, die nur von Landpflanzen stammen konnten, an den Schiffen vorbei. «Am dreiunddreißigsten Tage kam ich in das Indische Meer, wo ich viele Inseln, bewohnt von zahlreichem Volk, entdeckte » - so schrieb Kolumbus auf der Heimreise.

Kolumbus landet auf San Salvador

Die Ehre, als wirklich erster die Neue Welt gesehen zu haben, gebührt dem Matro­ sen Rodrigo de Triana, der im Krähennest der ,Pinta‘ am frühen Morgen des 12. Okto­ ber 1492 ,Land‘ aussang. Die Stelle, an der Kolumbus den Boden der Neuen Welt betrat, nachdem er sorgfältig sein bestes Gewand angelegt hatte - einen Rock aus dunkelgrünem Samt mit weißer Halskrause, violette Strümpfe und einen roten Man­ tel -, nannte er San Salvador. Man nimmt heute allgemein an, daß es die WatlingsInsel in der Bahama-Gruppe gewesen ist; allerneuesten Forschungen der SmithsonianInstitution in Washington zufolge soll Kolumbus jedoch nicht auf der Watlings-Insel gelandet sein, sondern etwa 320 Kilometer weiter südöstlich auf einer heute unbe­ wohnten Insel der Caicos-Gruppe. Da er ja zutiefst von dem Glauben durchdrungen war, Indien erreicht zu haben (Indien, China, Japan, das alles ging damals nicht nur bei ihm recht durcheinander), nannte er die Eingeborenen, die an den Strand eilten, Indianer, und so ist es bis heute geblieben. Immerhin war er recht überrascht, daß diese Indianer durchaus nicht so aussahen, wie die Reiseberichte etwa die Chinesen geschildert hatten. Verdruß jedenfalls gab es mit den harmlosen Bewohnern der Insel nicht, da sie, wie er schreibt, «glaubten, er sei vom Himmel herabgekommen». Nicht minder erstaunt war Kolumbus, auf diese Weise zum Rang einer Gottheit erhoben, darüber, daß die Inseln, die er nun zu sehen bekam, so gut wie gar nicht dem Bild

entsprachen, das er sich von ihnen gemacht hatte nach der Beschreibung Marco Polos, der um 1300 viele Jahre im Reich des Großkhans der Mongolen gewesen war. Nichts war hier zu finden von der hohen Kultur, den großen Städten, dem regen Schiffs­ verkehr, wie ihn Marco Polo an der Ostküste Asiens erlebt hatte. Dieses Land also galt es zu finden. Die Fahrt bringt Kolumbus nach Kuba - abermals zwar in para­ diesische Schönheit, abermals zu friedlichen Eingeborenen, aber es gibt keine Städte, keinen Mongolenkaiser, keine Schätze. Und nicht anders ist es in Haiti, das er Espanola, Hispaniola, nennt. Hier lief die ,Santa Maria* auf Grund. Ihr Anker wird noch heute auf Haiti als kostbarer Schatz gehütet. Aus dem Holz der ,Santa Maria* wurde ein Fort errichtet, das mit dem größten Teil der Mannschaft des Flaggschiffes besetzt wurde. Der Admiral selbst ging an Bord der ,Nina*; zu Anfang des Jahres 1493 begann die Heimreise, auf der Kolumbus seine Fähigkeiten als Seemann weit mehr unter Beweis stellen konnte als bei der Hinfahrt. Er ließ sich vom Wind ziemlich weit nach Nordosten führen, bis er in das Gebiet des stetig wehenden Westpassats kam, der ihn rasch Europa näher­ brachte. Immerhin waren zwei wütende Stürme zu bestehen, eine Aufgabe, die schon wirkliche Meisterschaft verlangte. Doch dann kamen die Azoren in Sicht, und am 9. März 1493 landete Kolumbus - nicht in Spanien, sondern ausgerechnet in Lissabon, in der Hauptstadt des gleichen portugiesischen Königs, von dessen Hof er neun Jahre zuvor bei Nacht und Nebel entwichen war. Am 15. März schließlich liefen die ,Nina’ und die ,Pinta* in Palos ein, mit einer Mannschaft an Bord, die zermürbt war und größtenteils krank: Mit dem 15. März 1493 beginnt der schauerliche Siegeslauf der Syphilis, die das Danaergeschenk der Neuen Welt an ihre weißen Entdecher war. Was der Admiral an Schätzen zurückbrachte, war freilich nicht sehr überzeugend. Vier von den sechs Indianern, die man an Bord genommen hatte, waren unterwegs gestorben. Zwei Indianer, eine Sammlung von Pflanzen, Früchten und Heren, darunter Papageien, bunte Federn, Eingeborenenschmuck, einige wenige Perlen, etwas Gold das war alles. Dennoch war Kolumbus’ Auftreten am spanisdien Hof das eines Trium­ phators, und so wurde er auch empfangen und gefeiert. Er hatte zwar die fabelhaft reichen Städte des Fernen Ostens nicht gefunden - noch nicht! -, er brachte zwar keine Gold- und Silberschätze mit und wußte auch nicht, wo die Goldminen, wo die Perlen­ gründe lagen, aber er verkündete stolz: «Der Zugang zu Gold und Perlen steht nun offen!» Er ging nicht von seiner Überzeugung ab, das Märchenreich des Mongolen­ kaisers gefunden zu haben, er deutete an, welchen Gewinn allein die Sklavenjagd einbringen werde. Ganz Spanien war begeistert. Kein Mensch zweifelte auch nur eine Sekunde, daß es nun nur noch eine Kleinigkeit sei, das, was Kolumbus verheißen hatte, Wirklichkeit werden zu lassen. Sechs Monate wurde er wie ein Held gefeiert, dann ging er aber­ mals in See, nun als ,Großadmiral des Weltmeeres* Befehlshaber einer prächtigen Flotte von 17 Schiffen und anderthalbtausend Mann - nicht mehr nur hergelaufenes Gesindel und Sträflinge wie bei der ersten Ausfahrt, aber doch Abenteurer, gierig auf Gold und Beute. Wieder wurde eine Reihe von Inseln entdeckt, aber wenn man an das große Ziel denkt, war diese Expedition ein Fehlschlag. Kolumbus wollte Siedlungen anlegen - die

Aus der Zeit der alten Linienschiffe: Oben: Blick auf das Deck, vorn ein Gangspill; unten links: Geschütze eines Batteriedecks, durch die Stückpforten ausgerannt; rechts: Mit dem Log wird die Schiffsgeschwindigkeit bestimmt

Fultons rNaHtilus» wurde über Wasser gesegelt, getaucht durch Menschenkraft bewegt

Fultons Selbstporträt am Periskop

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Wie Fultons Tauchhoot heißt auch das erste mit Atomenergie betriebene Unterseeboot ^Nautilus»

Ein Offizier der ^Nautilus» am Periskop

Im New Yorker Explorers Club wird die Planung von Heyerdahls Kon-Tiki-Expedition besprochen. Von rechts nach links: Peter Freuchen, Thor Heyerdahl, Hermann Watzinger (der als erster zu Heyerdahls Mannschaft kam) und der Chief of Clannfhearghuis

bei der ersten Reise auf Haiti gegründete war zugrunde gegangen die Männer um ihn aber wollten zu allererst Gold. Es gab Gold. Aber man wollte mehr. Man tat schön mit den Indianern, um Gold zu bekommen, man folterte sie um des Goldes willen. Wb aber lagen die fabelhaften Goldminen, von denen die Eingeborenen erzähl­ ten? Man erfuhr es nicht; man konnte es nicht erfahren, weil es sie auf den Inseln gar nicht gab. Kolumbus war zweifellos ein großer Seemann und ein erfahrener Nautiker. Die Fähigkeiten eines guten Kolonisators aber gingen ihm ab. Und nun, beim Kreuzen in den Gewässern um Kuba, Haiti und Jamaika, muß ihn zudem auch völlige Un­ sicherheit befallen haben, ob dies wirklich Asien sei: Er zwang wider besseres Wissen die gesamte Mannschaft schriftlich an Eides Statt zu erklären, daß Kuba das Vorgebirge Asiens sei und jeder schwere Strafe zu gewärtigen habe, der später je etwas anderes aussagen würde. 1496 schließlich kehrt er nach Spanien zurück, nachdem schon einige seiner Leute vorher heimgesegelt waren, um gegen den Großadmiral und seinen Bruder Klage zu führen, den er auf Haiti als seinen Stellvertreter zurückgelassen hatte. Die gegen Kolumbus vorgebrachten Klagen, die wahrscheinlich mindestens teilweise nicht unberechtigt waren, und die Tatsache, daß er abermals keine großen Schätze vorzuweisen hatte, führten in Spanien zu erheblicher Enttäuschung. Ein Jahr brauchte er, um sich zu rechtfertigen. Der Hof freilich hielt zu ihm. Und so konnte er 1498 mit sechs Schiffen zu einer dritten Reise ausfahren. Freiwillige allerdings hatte er dieses Mal nur wenige gefunden; die meisten der zukünftigen Siedler waren Sträflinge. Auf dieser dritten Reise nun entdeckte Kolumbus das amerikanische Festland, ohne es allerdings zu betreten. Denn wieder befällt ihn merkwürdige Unruhe, ja Unsicher­ heit und geradezu Entsetzen. Er schreibt in seinem Bericht von «Drachen- und Schlangenschlünden», wenn er Meeresströmungen meint, er fürchtet, ans Ende der Welt gekommen zu sein, dorthin, wo das ,Paradies‘ beginnt. Er flüchtet geradezu in Gegenden, die ihm vertraut sind, nach Haiti. Hier findet er nichts als Streit und Haß unter den Weißen und brutale Gewalt gegen die Eingeborenen. Kolumbus führt selbst ein unerbittlich strenges Regiment, mit dem Erfolg, daß man ihn schließlich sogar in Ketten nach Spanien zurückschafft. Er wird allerdings sofort wieder in Ehren bei Hof aufgenommen, und er darf auch noch ein viertes Mal nach Westen ausfahren, 1502, mit vier Schiffen. Doch das Betreten von Kuba und Haiti wird ihm untersagt. Auf dieser vierten Reise ist er an der Ostküste Mittelamerikas von Honduras bis Panama entlanggesegelt. Und er mußte erkennen; Eine große Landmasse, ein ganzer Erdteil vielleicht verlegte hier den Weg westwärts, den Weg nach Indien. Wo aber war die Durchfahrt? Er fand sie nicht. Enttäuscht kehrte er zurück; wenige Jahre später, am 20. Mai 1506, starb er, an Körper und Geist gebrochen, verarmt, verbittert. Man hat viel an dem ,Don Quichote des Ozeans* herumgenörgelt, hat ihn einen Scharlatan, einen bigotten Fanatiker genannt, einen mystischen Phantasten, einen Hochstapler, einen ruhmsüchtigen, goldgierigen, grausamen Abenteurer, einen Lügner gar. All das trifft nicht den Kern seines Wesens. Der Kontinent, den er entdeckt, aber nie betreten hat, führt nicht einmal seinen Namen, sondern den des lalieners Amerigo Vespucci, der seit 1497 die Ostküste des neuen Erdteils besucht und eine vielgelesene

Die vier Reisen des Kolumbus. Die drei Schiffe seiner ersten Amerikafahrt sind nado einer von Kolumbus selbst stammenden Skizze dargestellt

Reisebesdireibung veröffentlicht hatte; als 1507, ein Jahr nach dem Tode des Kolumbus, der deutsche Gelehrte Martin Waldseemüller eine ,Kosmographie‘ schrieb, nannte er das von Vespucci beschriebene Land nach Amerigo Amerika. Schon am 1. November 1493 aber hatte der Geschichtsschreiber Petrus Martyr von Angleria in einem Briefe ge­ schrieben; «Colon, Entdecker der Neuen Welt». Mag Kolumbus mit allen Banden seines Wesens und Wollens zutiefst dem Mittelalter verhaftet gewesen sein - die kühne Tat des stolzen und leidenschaftlichen Mannes eröffnet eine neue Zeit. Mit Recht nennt ihn sein Biograph S. E. Morison « den größten Seefahrer seiner Zeit», und allen Nörglern und Neidern zum Trotz bleibt das Urteil bestehen, das Alexander von Humboldt, der ,zweite Entdecker Amerikas*, gefällt hat; «Der Ruhm des Kolumbus beruht gleich dem sämtlicher außerordentlicher Männer, welche durch Schriften oder Handlungen den Kreis des Wissens erweitert haben, ebenso sehr auf den Fähigkeiten des Geistes und der Stärke des Charakters als auf dem mäch­ tigen Einfluß, welchen sie fast immer, ohne es zu wollen, auf die Bestimmung des Menschengeschlechts ausgeübt haben.» Die älteste Karte der Neuen Welty gezeichnet 1500 von Juan de la Cosay der Kolumbus als Pilot begleitet hatte. Wenn man die Karte um 90 Grad nach links drehty sieht man rechts Europa und Afrikay links die amerikanische Ostküste. Kolumbus zu Ehren trägt die Karte oben ein Bild des Heiligen Christophorus 2i 8

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Diese Kartenskizze von etwa 1503 wird Bartolomeo Colomhoy dem Bruder des Christoph KolumhuSy Zugeschrieben. Rechts erkennt man Spanien und Westafrika, in der Mitte die West­ indischen Inseln mit Jamaika und Spaniola (Haiti). Kuba fehlt; man hielt die Insel für einen Teil des asiatischen Festlandsy das Kolumbus erreicht zu haben glaubte. (Das Wort ySerica' links oben bedeutet China!) Die südamerikanische Küste erscheint als yMondo N o vo \ als Neue Welt

Amerigo Vespucci war nicht der einzige gewesen, der auf die Kunde von der Ent­ deckung einer ,Neuen Welt* durch Kolumbus westwärts gesegelt war, um die Ostküste Asiens zu finden. Abermals ein Italiener versuchte es auf der nordwestlichen Route. Es war Giovanni Caboto, wie Kolumbus in Genua geboren; er war venezianischer Bürger geworden und hatte sich schließlich als John Cabot in Bristol als Schiffseigner und Kaufmann niedergelassen. Im Mai 1497 ging er mit seiner ,Matthew‘ in See, einem Schiff, das noch kleiner war als Kolumbus’ ,Nina‘. König Heinrich VII. hatte ihm ein Patent erteilt, jedes bis dahin unbekannte Land, das er finden sollte, für die britisdie Krone in Besitz zu nehmen. Von allen Schätzen, die Cabot finden oder heim­ bringen würde, war ihm ein Anteil zugesichert, außerdem sollte er Gouverneur aller neuentdeckten Länder werden. 53 Tage lang, 20 Tage mehr, als Kolumbus gebraucht hatte, kämpfte sich Cabot verbissen nach Westen durdi und erreichte dort tatsächlich Land, an der jetzigen Kap-Breton-Insel nordwestlich von Neuschottland. Er entdeckte bei dieser Gelegenheit die fischreichen Neufundlandbänke, die bald ertragreidier wer­ den sollten als selbst die Silberminen Südamerikas, und audi die Pechtannen an der Küste der Kap-Breton-Insel durften als wertvoll gelten; aber es gab dort weder Gold noch fand sich eine Durchfahrt nach Indien. John Cabot und sein Sohn Sebastian unternahmen noch weitere Reisen, in deren Verlauf sie auch Neuschottland entdeckten. Vater Cabot erhielt als Belohnung seines Königs eine Jahrespension von ganzen zehn Pfund, und länger als ein Menschenalter sollte es dauern, bis sich ein Engländer auf­ machte, um Cabots Spuren zu folgen und auf Entdeckungsreisen zu gehen. In dem Jahr, in dem Kolumbus seine dritte Fahrt angetreten hatte, war es den Portugiesen gelungen, zu ernten, was Prinz Heinrich ,el Navegador* gesät hatte: Vasco da Gama erreichte mit vier Schiffen nach dreijähriger Fahrt die Küste Ostindiens auf dem Weg über die Südspitze von Afrika. Sein Ruhm überstrahlte den des Entdeckers der Neuen Welt, seine Tat eröffnete nun wirklich den Seeweg nach Indien, seine Route ums Kap der Guten Hoffnung blieb für Jahrhunderte die Straße, auf der die Schätze

des Orients nach Europa gelangten. Vasco da Gamas größte Leistung war die, daß er sich wie Kolumbus auf das offene Meer hinauswagte: In einem großen Bogen segelte er von den Kapverden bis zur Südspitze Afrikas, machte sich so frei von dem müh­ seligen und langwierigen Weg längs der Küste des großen ,Buckels‘ und vermied auch die Gefahren der westafrikanischen Küste weiter südlich, die noch Bartholomen Diaz hatte bestehen müssen. Die Entdeckungen des Christoph Kolumbus und des Vasco da Gama wurden sehr bald zur Grundlage weltbewegender Umwälzungen. Kolumbus hatte nicht übertrieben, als er prahlte - und er war nie ein Mann von Bescheidenheit «Ich habe mehr Land unter die Botmäßigkeit Eurer Königlichen Hoheiten gebracht, als es in Afrika und Europa zusammen gibt.» Männer, kühn wie er, aber noch härter und rücksichtsloser gegen sich und andere, folgten dem Weg, den er gezeigt hatte, über den Atlantik und begründeten ein Reich unter Spaniens Flagge, größer als jedes zuvor. Und die Schiffe der Portugiesen segelten auf dem von Vasco da Gama erschlossenen Seeweg nach Indien; Portugal hatte infolgedessen wenige Jahre später bereits praktisch das Mono­ pol auf den Handel mit dem Fernen Osten in Händen. Die ganze Welt schickte sich an, einen Riesenschritt vorwärts zu machen. Der Welthandel begann, und die Kennt­ nisse von jenen Ländern wuchsen, zu denen zwei große Seefahrer die Türen auf­ gestoßen hatten.

Vasco da Gama erreidote Ostindien im Jahre 1498 auf dem Weg um das Kap der Guten Hoffnung

R U N D UM DIE WELT L Magellan

Wann der Mann, der an der Spitze der ersten Fahrt rund um die Welt gestanden hat, geboren worden ist, weiß man nicht genau; es muß um 1480 gewesen sein. Ferdinand Magellan war, das ist gewiß, der Sohn eines verarmten portugiesischen Edelmannes, und ursprünglich hieß er Fernao de Magalhaes; Magellan oder Magallanes ist die spanische Version seines Namens. Sein Vater schickte ihn an den Hof von Lissabon, und hier hatte er das Glück, Schüler einiger bedeutender Gelehrter und Geographen sein zu dürfen. Im Jahre 1505 ging er an Bord eines Schiffes, das an einer berühmt gewordenen, sieben Jahre dauernden Reise nach den ostindischen Gewässern teilnahm. Hier erwarb er sich ausgezeichnete seemännische Kenntnisse und Fertigkeiten. Aber auf dieser Fahrt legte er auch Proben seiner Tapferkeit und Klugheit ab. Bei einem Vorstoß nach Malakka, 1508/09, bekam er rechtzeitig Wind von einem gegen die Europäer geplanten Anschlag: Die Weißen sollten überfallen und umgebracht werden. Er warnte den Kommandanten, und dank seiner Wachsamkeit konnte in einem Gegenangriff das Vorhaben der Feinde vereitelt werden. Bald darauf, im Jahre 1511, hörte er erstmals von den sagenhaften Gewürzinseln, die wir heute die Molukken nennen. Sein Vetter, Francisco Serrao, hatte dorthin eine Expedition geleitet, und er schwärmte von diesen Inseln wie von einem Paradies, obwohl er dort sein Schiff verloren hatte. Magellan war von der Schilderung be­ geistert, aber noch tat er nichts, selbst dorthin zu kommen. Er merkte nämlich sehr genau, daß er sich unbeliebt gemacht hatte, und zwar bei der wichtigsten portugiesischen Persönlichkeit in Ostindien, beim Vizekönig Alfonso d’Albuquerque. Bei einem Kriegs­ rat hatte der junge Magellan gegen eine vom Vizekönig geplante Expedition ge­ sprochen, und als diese dann tatsächlich fehlschlug, war natürlich der Mann, der nun sagen konnte: «Hab ich’s nicht vorhergesagt?», nirgends gern gesehen. So kehrte Magellan 1512 klugerweise nach Portugal zurück. Im nächsten Jahr aber war er schon wieder unterwegs, nunmehr auf einem nach Afrika gehenden Schiff. Bei dieser Gelegenheit wurde er am Knie so schwer verwundet, daß er für den Rest seines Lebens lahmte. Abermals nach Lissabon zurückgekehrt, hoffte er, Anwartschaft auf eine gute Stelle zu haben, doch mußte er sich mit einer sehr bescheidenen begnügen. Durch Hofintrigen enttäuscht und in dem bitteren Gefühl, betrogen zu sein, machte er den Versuch, sich dadurch vorwärtszubringen, daß er dem König Emmanuel einen kühnen Plan vortrug: Er wollte an der Spitze einer großen Expedition den Weg zu den Gewürzinseln, von denen er durch Serrao wußte, wie weit östlich sie lagen, nicht um Afrika herum suchen, sondern über eine Durchfahrt, die, wie er überzeugt war, sich in dem von Kolumbus entdeckten Land finden müsse. Der König lehnte diesen Plan rundweg ab, worauf Magellan seinem Herrscher und

jedem, der es sonst noch wissen wollte, schriftlich dokumentierte, daß er nunmehr in andere Dienste treten werde. Und das tat er denn auch. Er ging 1517 an den Hof Karls V., Königs von Spanien - zwei Jahre später war Karl auch Kaiser des Heiligen Römischen Reiches. Mit Magellan kamen zwei weitere Männer, die sich wie er in Portugal schlecht behandelt fühlten, Ruy Faleiro, ein hervorragender Astronom und Mathematiker, sowie ein wohlhabender Kaufmann. Magellan hatte einen Globus mitgebracht, an dem er dem spanischen König die Richtigkeit seines Plans demonstrierte; offenbar hat sich Karl V. jedoch weniger von geographischen Gesichtspunkten überzeugen lassen als von politischen. Damals nämlich befanden sich Spanien und Portugal beim Aufbau ihrer Weltreiche in heftiger Rivalität. Als fromme Christen hatten sich die Könige beider Länder an den Heiligen Vater gewandt mit der Bitte, einen Schiedsspruch zu fällen, und 1494 entschied Papst Alexander VI. Borgia, daß alle nichtchristlichen Länder zwischen den beiden Rivalen aufzuteilen seien. Spanien sollte alles Land gehören westlich einer Linie, die der Papst 370 Meilen (diese Meile nach heutigem Maß zu 4,8 Kilometer gerechnet) westlich der Kapverdischen Inseln in ein Gebiet legte, das damals - zwei Jahre nach Kolumbus’ Landung auf San Salvador! - praktisch völlig unbekannt war. Auf unseren Karten entspricht diese Linie etwa dem 49. Längengrad. Alles Land östlich dieser Linie aber sollte unter portugiesische Herrschaft kommen; daß der weit in den Atlantik vor­ springende Teil Südamerikas östlich dieser Linie lag, wußte damals noch niemand, aber schließlich wurde auf Grund des päpstlichen Schiedsspruchs Brasilien portugiesisch, und das um so eher, als der Portugiese Pedro Alvarez Cabral im Jahre 1500 bei dem Versuch, Afrika noch weiter westlich ausholend zu umfahren, vom Sturm verschlagen

Mit fünf Schiffen trat Ferdinand Magellan 1519 die erste Weltumsegelung an. Nur einem Schiff gelang es, das Unternehmen^ das Magellan selbst mit dem Leben bezahlen mußte, zu Ende zu führen

an die Küste des südamerikanisdien Kontinents gelangte. Ob aber die Gewürzinseln zum spanischen oder zum portugiesischen Teil der Welt gehörten, das vermochte nie­ mand zu sagen. Immerhin: Es gelang Magellan, Karl V. zu überzeugen, daß die Gewürzinseln eher westlich von Peru als östlich von Brasilien liegen müßten. Im März 1518 gab der König seine Zusage, die von Magellan und Faleiro geplante Expedition westwärts nach den Gewürzinseln zu finanzieren, behielt sich jedoch den Löwenanteil am Gewinn dieser Reise vor. Die beiden sollten fünf Prozent des Ertrags erhalten und außerdem Vizekönige aller von ihnen entdeckten neuen Gebiete werden sowie sonstige große Privilegien genießen. Dieser Plan konnte nicht geheim bleiben. Er erregte, als er durchsickerte, allenthalben großes Aufsehen, am meisten in Portugal, und es hieß sogar, der König dieses Landes schmiede ein Mordkomplott gegen Magellan. Dieser aber hatte selbst genug Ärger und Aufregung. König Karl V. erhob ihn in den Adelsstand, mit dem Erfolg, daß sich Magellan am Hofe üblen Intrigen von Spaniern, die auf den Portugiesen neidisch waren, ausgesetzt sah. Und zu allem gelang es dem portugiesischen Gesandten, sogar Faleiro gegen Magellan aufzuhetzen; der Astronom zog sich von dem Vorhaben zurück. Karl V. jedoch hielt sein Versprechen, und obwohl die fünf Schiffe, die er Magellan zur Verfügung stellte, alt und halbverfault waren, trieb dieser seine Vorbereitungen für das große Unternehmen unverzagt voran. Keines der Schiffe war groß. Die ,Trinidad*, das Flaggschiff, hatte 110 Tonnen, die ,San Antonio* 120, die ,Concepcion* 90, die ,Victoria* 85 und die ,Santiago* 75. Der Betrag, den der König vorschoß, belief sich auf 20000 Dukaten; davon mußten auch der Proviant für zwei Jahre und die Tauschgüter für den Handel mit den Eingeborenen beschafft werden. Die Mannschaft, 230 Köpfe stark, kam aus allen Ecken und Enden der Welt, allerlei unzuverlässiges Volk. Und von Anfang an sollte Magellan es mit den Spaniern besonders schwer haben; sie warteten nur auf eine günstige Gelegenheit zur Meuterei, weil sie wütend darüber waren, daß sie unter einem Portugiesen fahren mußten. Loyal verhielt sich lediglich Juan Serrao, der Kapitän der ,Santiago*. Als Wissen­ schaftler ging der italienische Edelmann Antonio Pigafetta mit. Ihm verdanken wir einen eingehenden Bericht von dem tollkühnen Unternehmen des Ferdinand Magellan. Am 10. August 1519 ging Magellan als ,Admiral und Generalkapitän* an Bord der ,Trinidad*, die Segel wurden gesetzt - die große Fahrt ins Ungewisse begann. Ein Mann von großen Fähigkeiten muß nicht immer auch ein liebenswürdiger Mensch sein; aber vielleicht brauchte Magellan seine ganze Härte, wenn er seinen Plan über­ haupt zu einem guten Ende führen wollte. Schon bei den Kanarischen Inseln ging es los. Magellan befahl den anderen Kapitänen, ihm blindlings zu folgen, sie aber wollten verständlicherweise den Kurs wissen, den sie zu halten hätten, und sei es auch nur für den Fall, daß ein Sturm die Flotte auseinanderrisse. Bei der Mannschaft erhob sich die erste Unruhe, als der Admiral sie auf halbe Ration setzte, weil die Schiffe in den äquatorialen Kalmen volle 60 Tage kaum von der Stelle kamen. Und schließlich flammte die erste offene Meuterei auf: Der Kapitän der ,San Antonio* meuterte an­ läßlich einer Besprechung an Bord der ,Trinidad*. Magellan setzte ihn kurzerhand ab und ließ ihn in Eisen legen. Pigafetta weiß von der Fahrt über den Atlantik mancherlei zu erzählen. Wir lesen 224

von Haien, die einen Mensdien im Nu verschlingen, von der Erscheinung des Heiligen Corpus Christi in Gestalt eines hellen Feuers am Großmast beim Ende eines Sturmes, wodurch der Mannschaft, die schon wieder an Meuterei dachte, « Trost und Beruhigung ihrer üblen Gedanken» gegeben wurde; wir lesen von «Fliegenden Fischen, die sich einer Woge gleich aus der See erhoben, in solcher Zahl und Dichte, daß sie zwischen sich auch ungeflügelte Fische mit hochnahmen». Schließlich wurde der östlichste Punkt von Brasilien erreicht. Trinkwasser und frischer Proviant ließen die Stimmung für eine Weile zugunsten des Admirals steigen. Die Schiffe wurden überholt, dann ging es an der Küste entlang südwärts auf der Suche nach einer Durchfahrt durch den Kontinent. Spät im März - die Flotte war etwa bis zum 50. Breitengrad vorgedrungen - hatte sich dieser Wasserweg nach Westen immer noch nicht finden lassen, und so entschloß sich der Admiral, in einem gut ge­ schützten Naturhafen zu überwintern. Er konnte nicht ahnen, wie nahe er schon dem ersten Reiseziel war. Hier nun stießen die Weißen auf eine Rasse von Riesen. Pigafetta berichtet über­ treibend, daß selbst der größte Spanier gerade die Gürtellinie dieser Giganten erreichte. Sie trugen nur einen Umhang aus dem Fell eines unbekannten Tieres - des Guanakos aus der Lamaverwandtschaft, wie wir heute wissen -, und ihre Füße steckten in so ungefügen Hüllen, daß Magellan sie Patagonier nannte, Großfüße. Diese Patagonier waren friedlich und zutraulich, einige konnten getauft werden. Der Generalkapitän beschloß, ein paar dieser Riesenmenschen als Kuriosität mit nach Spanien zu nehmen. Es gelang ihm, zwei zu überlisten, indem er ihnen zuredete, sich Handschellen anlegen zu lassen, was die harmlosen Naturkinder auch ahnungslos taten. Der Versuch, nun noch zwei Frauen gefangenzunehmen, scheiterte jedoch; es gab Kampf, bei dem ein Matrose durch einen vergifteten Pfeil ums Leben kam. Keiner der mitgeschleppten Patagonier hat bis zum Ende der Reise gelebt. Inzwischen sah sich der Admiral abermals genötigt, die Rationen zu kürzen. Offiziere und Matrosen murrten. Es ging so etwas wie Panikstimmung um. Viele verlangten in die Heimat zurück, aber Magellan erklärte ihnen, er würde solange segeln, als er noch eine Planke unter den Füßen hätte. Kein Wunder also, daß die drei spanischen Kapitäne sich insgeheim an Bord der,Antonio' zusammensetzten und eine Meuterei ausheckten. Magellan sah völlig klar: Es würde ihm kaum möglich sein, allein mit seinem Flaggschiff und der ,Santiago‘ unter dem treuen Serrao die drei anderen Schiffe hindern zu können, Kurs Heimat zu nehmen. Aber er war nicht der Mann, schnell aufzugeben. Also schickte er einen seiner Offiziere zu Kapitän Mendoza von der ,Victoria‘ mit dem Befehl, er habe sich unverzüglich an Bord der ,Trinidad' zu melden. Mendoza las den Befehl und brach in schallendes Gelächter aus - seine Kameraden sollten sehen, was er von einem Befehl dieses Admirals hielt. Er hatte zu früh gelacht: Im gleichen Augenblick rannte ihm der Überbringer des Befehls den Degen durch die Brust. Ein Kommando der ,Trinidad‘ bemächtigte sich der ,Victoria‘ und schlug jeden Wider­ stand nieder. Die drei Schiffe, über die der Generalkapitän nun verfügte, legten sich vor den Ausgang der Bucht und sperrten so die Ausfahrt für die beiden Meuterersdiiffc. Die ,San Antonio', die die Blockade zu durchbrechen versuchte, wurde geentert; darauf­ hin ergab sich auch die ,Concepcion'. 22S

Magellan griff durch. Kapitän Quesada von der ,San Antonio* wurde hingerichtet, und zwar durch seinen eigenen Diener; der Haupträdelsführer, Kapitän Juan de Cartagena, nach königlichem Befehl Stellvertreter des Admirals, wurde zunächst in Ketten gelegt und dann bei der Abfahrt zusammen mit seinem Mitverschworenen, einem Priester, an der Küste ausgesetzt. 40 Mann, denen an sich wegen der Meuterei der Stridc zu­ kam, wurden begnadigt, nachdem sie erneut vereidigt worden waren; ihnen wurde angedroht, man werde ihnen bei einem neuen Eidbruch die Hölle ungleich mehr einheizen als jetzt. Als der Winter sich seinem Ende zuneigte, schickte der Generalkapitän die ,Santiago* südwärts, um nach einer Durchfahrt zu suchen. Das Schiff lief auf eine Klippe und ging verloren, die Mannschaft konnte sich dank der seemännischen Kunst des Kapitäns retten. Obwohl mehr als 150 Kilometer zwischen dem Ankerplatz der Flotte und den Gestrandeten lag, organisierte Magellan die Versorgung der Schiffbrüchigen, die nach mühevollem Fußmarsch zur Flotte zurückkehren konnten. Mitte August 1520, als es eben Frühling wurde, ging der Admiral mit den ihm verbliebenen vier Schiffen wieder in See. Sofort kam die Flotte in schwere Stürme. Erst am 21. Oktober erreichten sie den 52. Grad südlicher Breite, und hier öffnete sich vor ihnen eine Bucht. Die starke Strömung ließ hoffen, daß dies endlich die so lange gesuchte Meeresstraße nach Westen sei. Das Vorgebirge erhielt den Namen Kap der 11000 Jungfrauen. Magellan, vorsichtig geworden, sandte die ,San Antonio* und die ,Concepcion* voraus, um die Tiefe dieser Straße festzustellen. Schon glaubte er auch diese Schiffe zerschellt an den unzähligen Klippen und verloren, als sie wieder in Sicht kamen und signalisierten, sie hätten den westlichen Ausgang gefunden. Dies mag der glücklichste Augenblick des Admirals gewesen sein: Das also war der Weg westwärts zu den Gewürzinseln! In zermürbendem Kampf mit widrigem Wind, wütenden Wellen, ge­ fährlichen Riffen und einer immer schmaler werdenden Fahrrinne ging es weiter, und nun stellte es sich heraus, daß es nicht einen Ausgang gab, sondern deren zwei. Welcher war der richtige? Die ,San Antonio* und die ,Concepcion* wurden abermals vorausgeschickt, um den südwestlichen zu erkunden. Vier Tage später kam die ,Concepcion* zurück und meldete, sie habe gleich von Anfang an die ,San Antonio* aus der Sicht verloren. Magellan verbrachte mehrere Tage mit Warten. Boote suchten nach dem Schiff - vergeblich: Die ,San Antonio* blieb verschwunden. Sie befand sich nämlich bereits auf der Rückreise nach Spanien. Ihr Steuermann, Esteban Gomez, haßte den Generalkapitän geradezu glühend deshalb, weil auch er den Plan gehabt hatte, die Gewürzinseln auf westlichem Kurs aufzu­ finden - und nun mußte er, der stolze Spanier, als Steuermann unter einem portugie­ sischen Befehlshaber fahren! Unter Gomez’ Führung überwältigte die Mannschaft den Kapitän der ,San Antonio* und setzte ihn gefangen. An der Küste Patagoniens wurden sodann die beiden von Magellan Ausgesetzten, Cartagena und der Priester, an Bord genommen. In Spanien, das die Meuterer tatsächlich erreichten, erzählte Gomez, er habe Magellan zu überreden versucht, jetzt, da die Durchfahrt tatsächlich gefunden sei, erst einmal zurückzukehren und dann mit besseren Schiffen und reich­ licherem Proviant den Vorstoß erneut zu wagen. Magellan aber, so behauptete Gomez, 226

Iiilbe gesdiworen, er werde die Fahrt audi unter den schwierigsten Verhältnissen fortsetzen, selbst dann, wenn seine Männer nidits mehr zu beißen hätten als das Leder der Takelung, wozu sie in der Tat schon vor einiger Zeit gezwungen gewesen seien. Pigafetta hingegen spricht von Gomez nur als von einem Lügner und Meuterer. TKOPICO SZ CAPRICORNO

Eine frühe Darstellung der Magellan-Straße; rechts der Atlantiky links der Pazifik (aus Crescentio: Nautica mediterranea^ 1601)

Am 28. November 1520 hatten sich Magellans Schiffe endlich zur offenen See durch­ gekämpft. Der nächste Teil der Reise, 4000 Meilen, beanspruchte über drei Monate. 98 Tage Wasser, endlose Wasserwüste! Keinerlei Land kam in Sicht, ausgenommen ein paar kleine, unbewohnte Inseln. Nicht ein einziger Sturm erhob sich, und aus diesem Grund gab Magellan dem Meer, das er nun querte, seinen Namen: Mare Pacificum. Aber so friedlich dieses Meer war - es war eine Hölle. Woche um Woche verging bei gleich ruhiger See unter brennender Sonne. Krankheiten, Hunger und Durst quälten die Mannschaft, und wer nicht dahinsiechte, war dem Wahnsinn nahe. Die Verpflegung wurde schlechter und schlechter. Der Schiffszwieback sah nicht mehr aus wie Brot, sondern war von Würmern wimmelnder, von Mäuseharn stinkender, verschimmelter Staub. Das Trinkwasser faulte, tote Ratten lagen in den Fässern. Jetzt kauten die Männer wirklich auf Leder herum und stopften sich den Magen mit Säge­ spänen; für eine frischgefangene Ratte wurde ein halber Dukaten gezahlt. Der Skorbut forderte seine Opfer. 19 Mann starben, mehr als 30 waren so krank, daß sie sich nicht mehr zu bewegen vermochten. Gott mußte sie in diesem verfluchten Meer vergessen haben, und keiner würde wohl das Ende dieser Irrsinnsfahrt erleben. Nur einer behielt seine Zuversicht: Magellan. Am 6. März 1521 schließlich kam Land in Sicht, fruchtbare, bewohnte Inseln. Zahlreiche Kanus paddelten auf die Schiffe zu. Die Eingeborenen brachten Wasser, Früchte, Lebensmittel. Doch dann, als sie die erste Scheu überwunden hatten, wurden sie frech und stahlen wie die Raben, stahlen mit einer beispiellosen Frechheit alles, was nicht niet- und nagelfest war, sogar das Rettungsboot am Hede des Flaggschiffes. Kann man es Magellan übelnehmen, wenn er diesen Inseln den Namen Ladrones gab, Diebsinseln? Es sind die heutigen Marianen.

Wütend über das Verhalten der Eingeborenen, ging er mit 50 Mann an Land, holte sich sein Rettungsboot wieder, ließ an Lebensmitteln zusammenschleppen, was immer man fand; etwa ein Dutzend der Insulaner wurde niedergeschossen, der Rest floh, das Dorf ging in Flammen auf. Die Früchte, das Gemüse, das frische Wasser ließen die Mannschaft das überstandene Martyrium schnell vergessen. Die Stimmung schlug um - nun war Magellan wieder der große Führer. Wenige Tage später kam man an eine kleine Insel mit einem günstig gelegenen Hafen; hier sollten die Schiffe überholt und die Kranken gesundgepflegt werden. Menschen waren nicht zu sehen. Also wurden Zelte aufgeschlagen, um die Kranken aufzunehmen. Doch schon am nächsten Tag erschien ein Kanu mit Einge­ borenen, die dieses Mal keine Diebe waren. Sie brachten Fische, Bananen und Kokos­ nüsse sowie eine Art Palmwein und waren glücklich, all das gegen Messer und billigen Schmuck eintauschen zu können. Abermals ein paar Tage später kehrten sie zurück, und jetzt hatten sie Gewürze mit; genau die Gewürze, um derentwillen Magellan diese Reise ans andere Ende der Welt angetreten hatte - Gewürze, die man in Europa mit Gold aufwog! Man verständigte sich notdürftig, und der Generalkapitän erfuhr, daß es diese Gewürze auf weiter im Westen liegenden größeren Inseln in Hülle und Fülle gebe. Hoffnungsfreudig ließ Magellan die Segel setzen; bald schon erreichte seine Flotte eine Gruppe größerer und kleinerer Inseln, die der Admiral nach dem heiligen Lazarus benannte; später erst erhielt sie den heutigen Namen; Philippinen. Die Ortsbestimmung ergab, daß diese Inseln noch in jener Hälfte der Welt liegen mußten, die Papst Alexan­ der den Spaniern zugesprochen hatte. Vom ersten Augenblick an konnte Magellan mit den Eingeborenen Verbindung auf­ nehmen. Vor Jahren hatte er in Malakka einen Sklaven gekauft, und dieser, Anrique mit Namen, verständigte sich mit den Inselbewohnern bemerkenswert gut. Diese standen übrigens auf einer Kulturstufe, wie sie ihnen auf ihrer Fahrt bisher nicht begegnet war. Und nun erschien der König der Insel. Als Gastgeschenk überbrachte er unter anderem drei große Porzellangefäße, gefüllt mit Reis und goldgeschuppten Fischen. Als Gegengabe erhielt er ein türkisches Gewand in Rot und Gelb; der General­ kapitän versicherte dem eingeborenen Herrscher, daß er in friedlicher Absicht auf die Insel gekommen sei. Dann kam die Rede auf den Handel. Magellan zeigte, was er zu bieten hatte, und sagte, was er dagegen einzutauschen wünschte. Sicherheitshalber aber gab er dem König auch eine Probe seiner Macht. Zum nicht geringen Erschrecken der Insulaner ließ er einen Kanonenschuß lösen, und ein Scheinkampf zwischen zwei Mann der Besatzung, die Harnische trugen, sollte demonstrieren, daß auch ein Schwerthieb einen gepanzerten Mann nicht zu verwunden vermöge. Der höchst verwunderte Herrscher rief aus, ein solcher Mann könne ja hundert Kriegern die Stirn bieten, worauf Magellan, nicht ganz zu Recht, antwortete; «So ist es, und ich habe drei Schiffe, auf jedem 200 Mann, gewappnet wie dieser eine!» Ein großes Fest wurde gefeiert. Pigafetta hatte allen Anlaß, Gott um Vergebung zu bitten, weil er am Karfreitag Schweinefleisch essen mußte und schließlich vom Palmwein so betrunken war, daß er am Strand schlief. 228

Dann stellte sich der Herrscher einer anderen Insel vor. Seine Waffen, ja selbst seine Zähne waren mit Gold eingelegt, und er erklärte, auch in seiner Küche sei alles aus (iold. Beide Könige und viele ihrer Untertanen ließen sich anläßlich eines großen Festes taufen, bei dem auch feierlich verkündet wurde, daß ewiger Friede zwischen Spanien und den Inseln herrschen solle. Die beiden Fürsten geleiteten Magellans Expedition zur nächsten Insel, Sebu. Hier herrschte ein König, der erheblich gewitzter war als seine Kollegen; er stand nämlich mit Schiffen aus Hinterindien in Handelsverkehr und hatte sich angewöhnt, von den Kaufleuten Abgaben zu erheben. Magellan ließ ihm durch Anrique verdolmetschen, daß seine Schiffe dem mächtigsten Herrscher der Welt gehörten und er gar nicht daran denke, irgendwelche Abgaben an wen auch immer zu zahlen; sollte sich Sebu jedoch feindlich verhalten, so werde er es in Grund und Boden schießen. Ein arabischer Kauf­ mann, der gerade auf der Insel weilte, konnte Magellans Worte bestätigen, da er Kunde von Karl V. hatte, und so verzichtete der König von Sebu auf seine Forderung. Auch auf Sebu ließen sich Herrscher und Volk taufen, als der Bruder des Königs, der todkrank darniederlag, fünf Tage nach der vom Priester empfangenen Taufe wieder quicklebendig war. Abermals wurde die allgemeine Bekehrung durch ein großes Fest gefeiert, auf dem schöne junge Mädchen die ganze Nacht vor den Gästen tanzten und sangen. Sie waren völlig nackt, und ihre durchbohrten Ohrläppchen waren so mit Schmuck beschwert, daß sie bis auf die Schultern herabhingen. In der folgenden Zeit wurde täglich am Strand eine Messe gelesen, wobei die Spanier ihre liebe Not hatten, bei der Sache zu sein, denn auch hier erschienen die Frauen und Mädchen nur mit einem kleinen Lendenschurz bekleidet. Wenn es allerdings um den Handel ging, vergaß man auch, nach den Weibern zu sehen. Magellan mußte seinen Leuten dringend ans Herz legen, sich zurückzuhalten, denn die Bewohner von Sebu hatten soviel Gold, daß die Matrosen all ihr Hab und Gut dagegen einzutauschen suchten. Eine Zeitlang konnte der Generalkapitän die Inselfürsten völlig davon überzeugen, daß der Christengott seinen Bekennern hilfreich zur Seite stehe. Wo sich aber die Bevölkerung einer Ortschaft weigerte, sich taufen zu lassen, griff Magellan ein, die Häuser wurden niedergebrannt und alle Ungläubigen umgebracht, soweit man ihrer habhaft werden konnte. Und als einer der Könige einen großen Sieg über einen alten Feind errang, versicherte ihm Magellan, dies sei nur durch Gottes Gnade möglich geworden. Diese seine Erfolge veranlaßten Magellan schließlich, auch die Angelegenheit der kleinen Insel Matan in die eigene Hand zu nehmen. Der König von Sebu sah im Herrscher dieser Insel einen aufrührerischen Rebellen, der sich zudem weigerte, Karl V. als obersten Herrn anzuerkennen. Die Offiziere versuchten dem Generalkapitän aus/u reden, daß er selbst dabeisein müsse, wenn es gegen Matan gehe, doch der erklärte, er sei nicht der Mann, andere für sich kämpfen zu lassen. Pigafetta, ein ebenso wackerer Soldat wie gewissenhafter Chronist, gibt folgenden Bericht über die Geschehnisse auf Matan: «Wir ließen elf Leute in den Booten. So standen wir mit ganzen 49 Mann den über 1500 Insulanern gegenüber, die sich in drei Abteilungen gegliedert hatten und uns sofort wütend angriffen. Magellan teilte seine wenigen Leute ebenfalls in drei 229

Gruppen. Eine halbe Stunde schossen wir mit Gewehren in die Feinde, ohne ihren Angriff abschlagen zu können. Bald fielen zwei von unseren Männern, und das befeuerte den Mut der Feinde. Mit sdirillem Geschrei rückten sie erneut vor, und nun wurde Magellan am Bein durdi einen vergifteten Pfeil getroffen. Er gab plötzlich den Befehl zum geordneten Rück­ zug, doch wurden seine Worte falsch verstanden, die Mehrzahl unserer Leute floh, und nur noch zu sieben standen wir um unseren verwundeten Generalkapitän. Sie drängten uns zurück. Schon standen wir bis zu den Knien im Wasser. Die Insu­ laner waren nun bereits so nahe, daß sie die Lanzen, die sie nach uns geworfen hatten, wieder aufheben und den Wurf fünf-, sechsmal wiederholen konnten. Sie erkannten Magellan. Dreimal gelang es ihnen, ihm mit dem Speer den Helm vom Kopf zu stoßen. Doch Magellan dachte nicht an Übergabe, und obwohl wir nur noch ein paar Mann waren, die an seiner Seite fochten, hielten wir mehr als eine Stunde lang stand. Schließlich aber traf einer der Feinde den Generalkapitän mit der Lanze im Gesicht. Der durchbohrte zwar diesen Gegner noch mit der Lanze, doch als er jetzt mit dem Schwert um sich schlagen wollte, ging es nicht mehr: Er war am Arm so schwer ge­ troffen, daß er ihn nicht mehr heben konnte. Jetzt fielen die Feinde dichtgedrängt über ihn her - und damit war das Ende unseres ruhmreichen Führers gekommen. Er stürzte vornüber. Aber immer wieder wandte er den Kopf, um zu sehen, ob wir noch unser Boot zu erreichen in der Lage seien. Wir alle waren mehr oder weniger verwundet und hatten keine Aussicht, ihn heraushauen zu können. So wateten wir zu unseren Booten und mußten ihn den Feinden überlassen. Magellans Tod rettete uns das Leben, denn die ganze Aufmerksamkeit der Feinde richtete sich nur auf ihn, wäh­ rend wir zu unseren Schiffen flohen.» Das geschah am 27. April 1521. Der König von Sebu und seine Leute hatten sich aus dem Kampf herausgehalten, weil Magellan es so befohlen hatte. Der Admiral und 12 seiner Männer waren gefallen, alle anderen verwundet. Die Matan-Insulaner aber wurden durch ihren Sieg so übermütig, daß sie den Leichnam des Admirals auch gegen Lösegeld nicht herausgaben. Mit dem sinnlosen Tode Magellans brach das Unglück über die Expedition herein. Die Offiziere wählten Juan Serrao und Duarte Barbosa als Kommandanten. Doch diese sollten wenig Gelegenheit haben, ihre Fähigkeiten unter Beweis zu stellen. Denn jetzt, als die Eingeborenen sahen, daß die Fremden trotz allen Schutzes durch ihren Gott verwundbar und sterblich waren, fielen sie in ihr Heidentum zurück und, was schlimmer war, sie schenkten den Vorschlägen des heimtückischen Sklaven Anrique Gehör, man solle alle diese Weißen umbringen und ihr Gut in Besitz nehmen. Anrique war nämlich erbittert darüber, daß die beiden neuen Führer ihm nicht, wie er es erwartet hatte, nach Magellans Tod die Freiheit geschenkt hatten. Ein hinterlistiger Plan wurde ausgebrütet: Der Fürst von Sebu lud die Offiziere zu einer Totenfeier am Strand ein. Pigafetta schreibt: «24 folgten der Einladung, ich selbst ging nicht, weil mein Gesicht noch durch die Wunden, die ich empfangen hatte, stark verschwollen war. Juan Carvalho kam bald zum Schiff zurück, da er sich nicht wohlfühlte, und kaum war er an Bord der ,Trinidad‘, als er vom Strand her Kampflärm, Geschrei und Stöhnen hörte. Er ließ den Anker lichten, dichter unter Land gehen und den Ort beschießen. Plötzlich tauchte Juan Serrao auf. Verwundet und gefesselt, schrie er zu 230

uns herüber, wir sollten das Schießen einstellen, andernfalls würde auch er umgebracht. Wir fragten nach den anderen, und er antwortete, sie alle seien ermordet, mit Ausnahme des Dolmetschers. Um Gott, aller Heiligen und der Menschlichkeit willen flehte er uns an, alle Waren, die wir an Bord hätten, auszuliefern, um sein Leben zu retten. Aber der neue Kapitän, Carvalho, verbot dies und ließ auch nicht zu, daß sich die Sdiiffe noch mehr dem Land näherten.» Nur noch 115 von den 230 Mann, die mit Magellan diese Reise angetreten hatten, waren am Leben. Die von Würmern fast zerfressene ,Concepcion‘ wurde deshalb auf­ gegeben und in Brand gesetzt. Mit den beiden letzten Schiffen, der ,Trinidad' und der »Victoria', ging die Fahrt weiter, auf südwestlichem Kurs. Die Disziplin an Bord verschlechterte sich zusehends, so schreibt Pigafetta, seit Magellans feste Hand fehlte. Nachdem sie eine ganze Anzahl kleinerer Inseln angelaufen hatten, erreichten sie Borneo, bereits wieder auf karge Rationen gesetzt. Die große Stadt, vor der sie Anker warfen, war Brunei, und die Leute hier sahen in den Europäern nicht mehr die un­ überwindlichen Fremden. Denn über dieses Gebiet regierte ein mächtiger Sultan, und die Ankömmlinge mußten sehr bescheiden um die Erlaubnis bitten, Wasser übernehmen und Tauschhandel treiben zu dürfen. Die Elefanten des Sultans, seine reich unifor­ mierte Leibgarde von 300 Mann und ein glänzendes Gastmahl wirkten auf die Seeleute geradezu überwältigend. Also ließen sie sich Zeit, denn jedermann schien freundlich zu sein. Doch als sich eines Tages mehrere hundert Boote den Schiffen näherten, be­ kamen sie es mit der Angst zu tun, setzten schleunigst Segel und machten sich davon. Am Hafenausgang kam es zu einem Gefecht mit einigen großen Dschunken, die sich ihnen in den Weg stellen wollten. Sie beschossen die feindlichen Schiffe, töteten eine ganze Anzahl von Feinden und machten auch Gefangene, unter ihnen einen Mann, der als Großadmiral von Borneo bezeichnet wurde. Unglücklicherweise hatten sie bei der plötzlichen Abfahrt einen großen Teil ihrer Tauschwaren und einige Leute zurücklassen müssen, unter ihnen auch Carvalhos Sohn. Der Versuch, ihn gegen den Admiral auszutauschen, schlug fehl, es wurde statt dessen ein hohes Lösegeld gefordert. Trotzdem sah Carvalho seinen Sohn nie wieder. Dafür behielt er 16 Männer und drei junge Frauen als Gefangene. Mit der Zeit war der Zustand der Schiffe gefährlich schlecht geworden. An einer kleinen Insel ging man deshalb an Land; die Schiffe wurden unter großen Schwierig­ keiten, aber mit bewundernswertem Geschick überholt, vom Bewuchs gereinigt und kalfatert. Das scheint aber auch die letzte Gelegenheit gewesen zu sein, bei der noch einmal Magellans Geist spürbar wurde. Denn von nun an artete die Fahrt bald in regelrechte Piraterie aus; zwei friedliche Handelsschiffe wurden geentert und ausge­ plündert. Aber das große Ziel war immer noch nicht vergessen; die Gewürzinseln. Und es wurde erreicht - am 6. November 1521, nach 27 Monaten, kamen sie zu der Molukkeninsel Tidore. «Wir dankten Gott», so lesen wir bei Pigafetta, «und ließen sämtliche Kanonen Salut schießen, denn wir hatten 27 Monate weniger zwei Tage mit der Suche nach Maluco verbracht, nach diesem einen Ziel in der unendlichen Weite des Inselmeeres.» Auf Tidore nahm man sie freundlich auf, und ein lebhafter Tauschhandel setzte ein. Sic erhandelten «Nelken, Ingwer, Sago, Reis, Kokosnüsse, Mandeln von ungewöhn^ 3 1

lidier Größe, süße und bittere Apfelsinen, Zuckerrohr, Kokosöl, Sesamöl, Melonen, Gurken und andere eßbare Früchte und Gemüse mehr. Es gab Ziegen und Geflügel, Honig von wilden Bienen, weiße und farbige Papageien, die leidit sprechen lernten», berichtet Pigafetta. Die so begehrten Gewürze konnten tonnenweise verladen werden. Carvalho schenkte dem Sultan die drei in Borneo gefangengenommenen Mädchen. Doch man fürchtete abermals Verrat, und als schließlich bekannt wurde, daß der König von Portugal befohlen hatte, die spanischen Schiffe aufzubringen oder zu versenken, wo immer sie angetroffen würden, ging man schleunigst wieder in See, unter neuen Segeln und vollbeladen bis an die Grenze der Tragfähigkeit mit Gewürzen; noch am letzten Tag hatte der Sultan 800 Pfund als Geschenk für Karl V. an Bord bringen lassen. Jetzt aber stellte sich heraus, daß die ,Trinidad* nicht mehr seetüchtig genug war, die Reise fortzusetzen. So wurde der Beschluß gefaßt, daß die beiden Schiffe sich trennen sollten. Die ,Trinidad* lief nochmals die Molukken an, um dort überholt zu werden und dann die Rückreise über den Stillen Ozean zu versuchen. Die ,Victoria*, nun unter dem Kommando des baskischen Steuermanns Sebastian Delcano, der einer der Meu­ terer von Patagonien gewesen war, nahm den Weg durch den Indischen Ozean. Am 21. Dezember 1521 trennten sich die Schiffe. 46 Mann waren an Bord der ,Victoria*, darunter auch Pigafetta, außerdem 13 Malaien. Sonderbare Geschichten erzählt der Chronist von diesem Teil der Fahrt; er schreibt von kleinen Inseln, bewohnt von Kannibalen, die eher wie Tiere aussahen als wie Menschen, die Bärte in Blätter gewickelt, während ihre kriegerischen Weiber Pfeil und Bogen führten. Und er will Pygmäen gesehen haben, wenig mehr als einen halben Meter hoch, dafür aber mit körperlangen Ohren; eines dieser Riesenohren diene beim Schlafen als Unterlage, mit dem anderen deckten sie sich zu. Hier hat der sonst so gewissenhafte Pigafetta zweifel­ los ein kräftiges Seemannsgarn gesponnen - daß er das konnte, hatte er ja schon anläßlich seiner Schilderung der Giganten von Patagonien bewiesen. Trotz heftiger Stürme und gefährlicher Klippen wurde Timor erreicht, wo einige Männer der Besatzung desertierten. Von hier ging es hinaus in den Indischen Ozean mit Kurs auf das Kap der Guten Hoffnung. Neun Wochen vergingen, und wieder ging der Skorbut um, wieder bestand die Verpflegung aus nichts als verschimmeltem Reis, toten Ratten und fauligem Wasser. Das stürmische Kap wurde am 6. Mai bezwungen. Mit nordwestlichem Kurs ging es nun den Kapverden entgegen, die nach weiteren zwei Monaten in Sicht kamen. 21 Mann, darunter die meisten der unglücklichen aus Fernost Verschleppten, starben auf diesem Teil der Reise. Die Überlebenden waren sich durchaus der Tatsache bewußt, daß sie sich in Feindes­ gebiet befanden. Der Bootsbesatzung, die an Land geschickt wurde, um Proviant zu übernehmen, hatte man eingeschärft, sie solle sagen, daß das Schiff aus Amerika käme. Tatsächlich fand sie damit Glauben. Zweimal fuhr das Boot hin und zurück und brachte Frischwasser und Lebensmittel. Dabei passierte etwas sehr Überraschendes: An Land hörte die Besatzung, daß es Donnerstag sei - nach ihrer Berechnung aber konnte es erst Mittwoch sein. Erst später sollten sie erfahren, daß ihnen kein Irrtum unterlaufen war, sondern daß sie bei ihrer Fahrt nach Westen rund um die Erde einen ganzen Tag verloren hatten. Die Männer der »Victoria* waren die ersten Menschen, die vor das 2 3

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Kolumbus hatte die von ihm entdeckten Inseln und Länder für Teile Asiens gehalten. Bald aber erkannte man^ daß die ,Neue Welt* ein eigener Kontinent war, durch zwei Meere von der Alten Welt getrennt, wie es diese Karte aus Sebastian Münsters ,Kosmographie* von 1550 in den Einzelheiten zwar falsch, im Prinzip aber richtig zeigt

Problem der ,Datumsgrenze* gestellt wurden - ein Problem, das die Gelehrten der Zeit noch sehr beschäftigen sollte und auch heute noch manchem Menschen Kopf­ zerbrechen bereitet. Inzwischen machte das Boot der ,Victoria* mit 13 Mann an Bord seine dritte Fahrt zur Proviantübernahme. Bei dieser Gelegenheit verplapperte sich einer. Wenig später bemerkte man an Bord, daß sich mehrere Karavellen dem Ankerplatz der ,Victoria* bedrohlich näherten. Es wurde Alarm gegeben, Delcano ließ unverzüglich Anker lichten und machte sich eiligst auf und davon. Die dreizehn blieben zurück. Jetzt ging es ohne Aufenthalt der Heimat entgegen. Am Montag, dem 8. September 1522 ließ das letzte der fünf Schiffe, mit denen Magellan ausgefahren war, im Hafen von Sevilla den Anker fallen. Von den 230 Mann, die drei Jahre und einen Monat zuvor mit dem Generalkapitän und Admiral in See gegangen waren, kehrten ganze ^33

18 an Bord der ,Victoria' zurück, die meisten von ihnen krank. Und nur ganz wenige von den Eingeborenen der Gewürzinseln hatten die Strapazen der Reise überlebt. Am nächsten Tage wankten die achtzehn, nur mit dem Büßerhemd bekleidet, barfuß und brennende Kerzen in den Händen, zur Kirche, um Gott zu danken für ihre Er­ rettung. Dann wurden sie nach Valladolid eingeladen, wo Delcano von Karl V. mit allem höfisdien Prunk empfangen wurde. Der letzte Kapitän der ,Victoria‘ und ehe­ malige Meuterer wurde geadelt unter gleichzeitiger Zusicherung einer Jahrespension von 300 Dukaten. Die ,Trinidad' sollte, nachdem sie auf den Molukken überholt worden war, kein Glück mehr haben. Eine von Malakka herangeeilte portugiesische Flotte, die die spanischen Störenfriede vertreiben sollte, machte der ,Trinidad‘ den Garaus; was von der Besatzung noch am Leben war, wurde gefangengesetzt. Erst viele Jahre später sahen die letzten sieben von den 35 Mann der ,Trinidad' Spanien wieder. So groß auch die Verluste an Schiffen und Menschenleben gewesen waren - für die spanische Krone bedeutete die erste Weltumseglung einen bedeutenden finanziellen Erfolg. In der Last der ,Victoria‘ befanden sich fast 26 Tonnen Gewürze, zumeist Nelken. Sie erbrachten die Summe von 41000 Dukaten. Da die ganze Ausrüstung der Flotte 20 000 Dukaten gekostet hatte, konnte Kaiser Karl V. einen Gewinn von über 100 Prozent einstreichen. Magellan aber, vielleicht der größte Seemann, der je die Sieben Meere befahren hat, war nicht mehr - er mußte sein kühnes Unternehmen, das den exakten Beweis für die Kugelgestalt der Erde und genaue Angaben über die bis dahin völlig im Dunkel liegenden GrößenVerhältnisse der Kontinente und Meere erbracht hatte, mit dem Leben bezahlen.

2. Allein rund um die Welt Es gibt ein altes, aber immer noch beliebtes und unterhaltsames Fragespiel: «Welche zehn Bücher würden Sie mitnehmen, wenn Sie zehn Jahre allein auf einer einsamen Insel leben müßten?» Unter den Antworten, die ich zu hören bekam, taudite immer wieder der Name Joshua Slocum auf. Ich konnte mir darunter nichts vorstellen, bis ich viel später erst sein Buch in die Hand bekam - eines der besten Bücher, das je über die Sieben Meere geschrieben worden ist, voller Humor, voller Tatsachen, und vieles Alte in neuer Sicht gesehen, vor allem aber ein Bericht über eine wahrhaft kühne Reise. Der erste Mensch, der mutterseelenallein um die Welt gefahren ist, war nicht etwa ein junger Sportsmann, als er sich an dieses Unternehmen machte, sondern ein alter, in seinem Beruf erfahrener Seemann. Schon mit zehn Jahren hatte er auf Decksplanken gestanden. Er arbeitete sich vom einfachen Matrosen hoch zum Besitzer einer kleinen Bark, und er war stolz darauf, daß er es ,vor dem Mast' soweit gebracht hatte und nicht ,durchs Kajütfenster'. Doch eines Tages ging die Bark vor der brasilianischen Küste verloren, und damit hatte Slocum nichts mehr außer seinem guten Humor und seiner Lebens- und Schaffenskraft. Eine Reihe von Jahren arbeitete er in Boston auf einer Werft. Doch dann, 1892, schenkte ihm der Kapitän eines Walfängers spaßeshalber eine kleine, völlig veraltete Schaluppe, die ,Spray‘. Sieben Jahre lang hatte das Schiff­ 234

dien ungenutzt am Strand von Fairhaven, gegenüber New Bedford in Massachusetts, gelegen. Alles lachte über den Witz, aber Joshua Slocum meinte, er wolle sich daranmachen, das alte Mädchen aufzumöbeln - und das tat er denn auch! Ganz allein fällte er eine mächtige Eiche für den Kiel, weitere Bäume für die Spanten; ein Farmer mußte ihm das Holz zufahren. Langsam, aber sicher entstand eine neue ,Spray‘, etwas über zehn Meter lang, dreieinviertel Meter breit, eineinviertel Meter tief, neun Tonnen netto, zwölf Tonnen brutto. Die neue ,Spray‘ kostete Slocum 13 Monate Arbeit und 553 Dol­ lar 62 Cents für Materialien. Da er nicht hintereinander an seinem Schiff arbeiten konnte, wurde es der 24. April 1895, bis Slocum den Anker lichten und nach dem alten Fischereihafen Gloucester in Massachusetts segeln konnte, um die ,Spray‘ dort endgültig für eine richtige Reise auszurüsten. Zuerst dachte Slocum an Fischerei. Doch schien ihm dies zu langweilig, und so entschloß er sich, allein um die Welt zu segeln. Dazu brauchte er ein Rettungsboot. Also beschaffte er sich einen alten Fischerkahn, schnitt ihn mittendurch und bastelte aus der vorderen Hälfte ein kleines Rettungsboot, das an Deck nicht viel Raum fortnahm und von ihm ohne sonderliche Mühe und ganz allein zu Wasser gelassen und auch wieder an Bord gehievt werden konnte; der ganze Fischerkahn wäre zu groß und schwer für einen einzelnen Mann gewesen. Das Chrono­ meter, das er als Schiffer auf seiner Bark benutzt hatte, ging nicht mehr. Statt dessen kaufte er sich eine alte Blechuhr, für die ihr Besitzer anderthalb Dollar verlangte, aber nur einen bekam, weil das Zifferblatt gesprungen war. Eine große Laterne hatte er schon, und von einer Dame in Boston bekam er eine Petroleumlampe mit doppeltem Brenner, die zugleich als Beleuchtung für die Kajüte und zum Kochen diente. In Yarmouth nahm Slocum Proviant an Bord - etwas Butter, ein Faß Kartoffeln, ein paar Konservenbüchsen und sechs Faß Wasser -, und am 1. Juli 1895 ging er in See. Anfangs empfand er die Einsamkeit als doch recht qualvoll - nur wenn ein Sturm ihm ordentlich zu schaffen machte, spürte er das Alleinsein nicht. Um dem abzuhelfen, gewöhnte er es sich an, sich selbst laut Kommandos zu geben und sie laut zu beant­ worten. Wenn er bei festgelegtem Ruder in seiner Koje lag, rief er von Zeit zu Zeit den imaginären Rudergänger an, um sich dann selbst zu antworten: «All right, sir; all right, sir!» Allmittäglich sang er laut «Acht Glasen!» aus. Nach und nach legte sich das Gefühl des Alleinseins, aber den schönen Brauch, sich selbst Kommandos zu geben und, wie es an Bord üblich ist, respektvoll zu wiederholen, behielt er bei. Natürlich hatte sich sein tollkühnes Unternehmen herumgesprochen, die Zeitungen schrieben über diesen närrischen, aber offenbar nicht kleinzukriegenden alten Seebären, und so kam es, daß er überall, wo er mit seiner ,Spray‘ auftauchte, wie ein guter Be­ kannter begrüßt wurde. Es begann bereits, als Slocum acht Tage unterwegs war: Der Kapitän eines Segelschiffes, das der ,Spray‘ begegnete, warf ihm eine Leine zu, und an diese Leine war eine Flasche Wein gebunden - eine sehr gute Flasche Wein sogar. Genau 18 Tage, nachdem die ,Spray‘ Kap Sable passiert hatte, konnte Joshua Slocum vor Fayal auf den Azoren den Anker fallen lassen. Inselbewohner sind seit eh und je die freundlichsten Menschen der Welt, und Slocum wurde aufs herzlichste willkommen geheißen. Man schenkte ihm soviel Früchte, daß er gar nicht wußte, was er damit nnfangen solle. Einer aber meinte es offenbar besonders gut; es war dies ein netter Kerl, 235

der schon einmal auf einem Walfänger von New Bedford gefahren war und etwas Englisch konnte. Eines schönen Abends brachte dieser ein junges Mädchen, unschuldig wie ein Engel, an Bord der ,Spray*: die Kleine sei willens und entschlossen, Slocum für den Rest seiner Reise zu begleiten; sie könne auch Fliegende Fische kochen und würde überhaupt alle anfallende Arbeit leisten. Hier stand nun der gute Slocum vor dem ersten wirklichen Hindernis. Denn jetzt mußte er den beiden auseinanderkla­ müsern, daß er für die Dame weder Platz an Bord noch rechte Neigung habe, worauf der Dolmetscher, dem das Mädchen fünf Dollar versprochen hatte für den Fall, daß Joshua sie nehme, nun seinerseits von diesem das Geld haben wollte. Es blieb Slocum nichts anderes übrig, als sich eiligst mit Kurs Gibraltar davonzumachen. Hier wurde er von den Briten großartig aufgenommen; die ,Spray* wurde überholt und verproviantiert. Als Slocum erzählte, er plane seine Reise auf der Route Mittel­ meer-Suezkanal-Rotes Meer fortzusetzen, warnten ihn die Briten: Er allein mit seinem kleinen Schiff würde den Seeräubern im Roten Meer sicherlich nicht entgehen. So entschloß sich Slocum, nicht durchs Mittelmeer zu fahren, sondern Magellans alter Route zu folgen. Den Piraten im Roten Meer hatte er entgehen wollen, aber nun war sein nächstes Abenteuer, daß er vor der marokkanischen Küste von Seeräubern gejagt wurde. Schon kam das Piratenschiff immer näher, schon eilte Slocum in die Kajüte und holte sein Gewehr, um sein Leben so teuer wie möglich zu verkaufen. Da packte plötzlich eine Bö die ,Spray*, und der Baum des Großsegels brach. Jetzt hatte er alle Hände voll zu tun und vergaß darüber ganz die Seeräuber; als er endlich wieder Umschau halten konnte, waren sie verschwunden. Die gleiche Bö, die den Baum hatte brechen lassen, war den Piraten zum Unheil geworden: sie hatte ihr Fahrzeug völlig entmastet. Nachdem Slocum dieses Abenteuer erst einmal überstanden hatte, wurde die Fahrt über den Atlantik recht gemütlich. Nur hin und wieder kam ein Schiff in Sicht, die meiste Zeit über waren Delphine seine Begleiter, gelegentlich aber auch Haie. Diese konnte Slocum nun gar nicht leiden, und so warf er ihnen die leeren Konservenbüchsen zu, die sie auch prompt mit offenbar bestem Appetit verschlangen. Seine eigene Ver­ pflegung war in schönster Ordnung, und ein glücklicher Fang verbesserte sie noch. Es gelang ihm nämlich, eine große Seeschildkröte zu harpunieren. Mit List und Tücke brachte er das schwere Tier schließlich auch an Deck, und nun gab es SchildkrötenSteak mit Kartoffeln und geschmorten Zwiebeln. Er schreibt launig, daß wohl nie eine Mannschaft so mit ihrem Koch zufrieden war wie die der ,Spray*. Im November wurde Rio de Janeiro erreicht; unverzüglich ging es weiter. Doch Mitte Dezember kam die ,Spray* an der Küste von Uruguay fest - das Schiff saß auf Grund. Mit seinem kleinen Rettungsboot versuchte Slocum die ,Spray* wieder flott zu bekommen, aber so sehr er sich auch abquälte, es schien alles umsonst. Schließlich kenterte das Boot auch noch, und jetzt fiel es dem Weltumsegler zu seinem nicht geringen Schrecken ein, daß er ja nicht schwimmen konnte. Er war nahe daran, aufzugeben. Glücklicherweise gelang es ihm dann doch noch, sein Boot wieder zum Schwimmen zu bringen, er kletterte hinein, paddelte ans Ufer und schlief dort völlig erschöpft ein. Als er aufwachte, bemerkte er, daß ein junger Mann gerade dabei war, das Rettungs­ boot mit Hilfe eines Pferdes abzuschleppen. Slocum schrie natürlich, mit dem Erfolg, 236

Die ySpray\ mit der Joshua Slocum 1895-1898 allein um die Welt gesegelt ist

daß der junge Mann eine ganze Menge Leute herbeibrachte, die nun sehr freundlich zu dem fremden, einsamen Seemann waren. Durch sie wurden schließlich auch die Be­ hörden in Montevideo benachrichtigt, die dann einen Schleppdampfer schickten. Die ,Spray* kam frei und wurde im Triumph nach der Hauptstadt geschleppt. Hier und in Buenos Aires hatte Slocum wunderbare Tage, er wurde gefeiert und mit Geschenken überhäuft. Unter anderem erhielt er auch einen besseren Kochherd, für den er aller­ dings Holz zum Feuern brauchte. Am 26. Januar 1896 endlich warf Slocum die Leinen wieder los und ging unter Segel, um nun durch die Magellanstraße in den Pazifischen Ozean zu kommen. In Sandy Port, einer Kohlenstation in der Nähe der Magellanstraße, machte er noch einmal Halt. Die 2000 Bewohner dieses verlorenen Nestes waren nicht gerade die feinsten Leute, aber Slocum wurde von ihnen freundlich behandelt. Sie warnten ihn vor den Eingeborenen hier, da diese recht unzuverlässig seien; er solle sie nicht allzu­ nahe an die ,Spray‘ herankommen lassen. Für alle Fälle gab ihm einer der Männer einen 237

Sack voll Zwecken mit. Bei der Fahrt durch die ungemütlichen Gewässer der Magellanstraße half sich Slocum mit einem Trick, der die Eingeborenen glauben machen sollte, daß nicht nur ein Mann an Bord sei, sondern mehrere: Am Ausguck baute er eine Art Vogelscheuche, die mit Seemannskleidung ausstaffiert wurde und durch eine Leine sogar bewegt werden konnte. Kam aber ein Kanu in Sicht, von dem er annehmen mußte, daß man ihn von dort aus sehen konnte, so ging er in die Kajüte, wechselte dort schnell Mütze und Jacke, und erschien dann wieder durch die Luke im Vorschiff, so daß die Eingeborenen sicher dachten, es seien mindestens drei Mann an Bord. Ging er vor Anker, so suchte er sich dafür stets Plätze aus, an denen viele Robben lagen das beste Zeichen dafür, daß hier keine Menschen waren. Dank dieser Vorsorge und der Schlepphilfe, die ein chilenisches Kanonenboot leistete, passierte die ,Spray‘ glück­ lich die Magellanstraße. Als er sie bei Kap Pilar verließ, sang er ebenso laut wie stolz und vergnügt: Der Pazifik war erreicht! Er hatte zu früh gesungen! Der Wind frischte immer mehr auf und wurde schließlich so steif, daß Slocum alle Segel bergen mußte. Die ,Spray‘, jetzt hoch auf einer Welle reitend, im nächsten Augenblick fast untertauchend, wurde in die Magellanstraße zurückgetrieben. Slocum war müde, er mußte endlich wieder einmal schlafen, und so ging er in einer kleinen Bucht vor Anker. Bevor er aber in seine Koje kroch, streute er die Zwecken des netten Mannes von Sandy Point über das ganze Deck. Es ist ein wohlbekanntes Phänomen, daß niemand mit bloßen Füßen auf eine Zwecke treten kann, ohne einen Laut von sich zu geben. Genau das war der Sinn der Veran­ staltung: Falls Feuerländer über Nacht wirklich an Deck kommen sollten, war für sie diese Überraschung vorbereitet. Man durfte mit Sicherheit annehmen, daß sie vor Schreck und Schmerz laut aufschreien würden. Und wirklich - gegen Mitternacht wurde Slocum durch gellende Schreie geweckt. Noch ehe er an Deck war, hatte sich der unerbetene Besuch davongemacht, ein paar waren schleunigst in ihre Kanus gesprungen, einige sogar ins Wasser, wahrscheinlich, um ihre brennenden Sohlen abzukühlen. So­ lange sich die ,Spray‘ in den Gewässern der Magellanstraße aufhielt, streute Slocum allabendlich seine Zwecken aus. An Bord kam freilich niemand mehr. Eines Tages ruderte Slocum mit seinem kleinen Rettungsboot an Land, um frisches Wasser und Feuerholz zu holen. Bei dieser Gelegenheit fand er Wrackstücke und an­ gespültes Gut, darunter ein Faß Wein sowie mehrere Fässer und größere Klumpen Talg. Selbstverständlich nahm er den Wein an Bord und vom Talg soviel, als er irgend unterbringen konnte, obwohl ihn währenddessen einige Patagonier, die sich am Ufer versteckt hatten, beschossen. Einer der Pfeile blieb zitternd im Mast stecken. Endlich aber, und zwar während eines Schneesturmes, gelang es Slocum doch, aus der Magellan­ straße herauszukommen; erst einmal im Pazifik, nahm er Kurs Nord. Fünfzehn Tage später erreichte er die Robinson-Insel Juan Fernandez. Mit Kurs Ost ging es dann weiter, 72 Tage lang bis nach Samoa. Die Hauptgefahr auf dieser langen Strecke war ein im letzten Augenblick verhinderter Zusammenstoß mit einem großen Wal. Auf Samoa, das damals noch deutsche Kolonie war, verkaufte Slocum sei­ nen Talg an einen Seifensieder. Bei rauher See und schwerem Sturm lief die ,Spray‘ nördlich an den Fidschi-Inseln vorbei und erreichte in 42 Tagen Neukaledonien wäh­ rend eines Sturmes, in dem der amerikanische Klipper ,Patrician‘ unterging. Ein fran238

’/ösischer Postdampfer, der die ,Spray* während dieses bösen Sturmes gesichtet hatte, bcriditete in Sydney von dieser Begegnung. Alles fürditete bereits, daß Slocums Schiff verloren sei, denn die Passagiere des Postdampfers hatten im Salon bis zu den Knien im Wasser gestanden. Der kleinen, wackeren ,Spray‘ jedoch war gar nichts passiert; unversehrt lief sie in Sydney ein. Wie überall, so wurde Slocum auch hier fürstlidi geehrt. Der Yachtclub von Sydney beschenkte ihn mit neuen Segeln. Geld verdiente er ebenfalls; wer die ,Spray‘ besich­ tigen wollte, mußte sedis Pence zahlen. Nadi einiger Zeit ging dieses Geschäft nicht mehr recht; also fing Slocum einen Hai und stellte ihn aus; die Besichtigung kostete ebenfalls sechs Pence. Als er Sydney verließ, war er aufs reichlichste versehen mit Proviant, und einiges Geld hatte er auch in der Tasche. So ging es mit Kurs Nord an der australischen Ostküste entlang. Da Slocum am Kap der Guten Hoffnung nicht vor der Mitte des Südsommers sein wollte, machte er noch einen Abstecher nach der Insel Timor nordwestlich von Australien und von dort zu den Kokos-Inseln mitten im Indischen Ozean. Auf dieser Strecke hatte er so stetigen Wind, daß er 23 Tage hinter­ einander alles in allem nur drei Stunden an der Ruderpinne zu tun hatte. über Rodriguez und Mauritius ging es nach Durban an der südafrikanischen Ost­ küste. Wiederum wurde Slocum aufs großartigste aufgenommen. Im Dezember 1897, nach einem Absdiiedsessen, ging er wieder in See. An die 800 Meilen von der Tafelbay entfernt, befand sich die ,Spray* nun in einer Gegend, die eigentlich immer rauhes Wet­ ter und grobe See hat, und so war es auch jetzt. Stürme tobten um das Kap der Guten Hoffnung. Manchmal kam der Sturm von achtern und jagte das Schiff vor sich her, manchmal kam er von vorn und trieb es zurück. Am Weihnachtstag sah es aus, als wolle die ,Spray‘ kopfstehen, und zum erstenmal während seiner ganzen Reise bekam Slo­ cum ernstlich Zweifel, ob seine Schaluppe dies durchstehen werde. Und er selbst war so oft unter Wasser, daß er fürchtete, überhaupt keine Luft mehr zu bekommen. Aus­ gerechnet in dieser Situation lief ein großer britischer Dampfer an der hart kämpfen­ den ,Spray* vorbei und setzte das Signal: «Wünsche Fröhliche Weihnaditen!» Selbst dieses dicke Schiff jedodi stampfte so stark in der wilden See, daß sein Heck hoch aus dem Wasser gehoben wurde und die Schraube sich in der Luft drehte - was nicht wenig dazu beitrug, Slocums gute Laune wiederherzustellen. Schon zwei Tage später jedoch segelte die ,Spray* mit günstigstem Wind, das Kap der Guten Hoffnung wurde mühelos gerundet, und Slocum betrachtete seine Weltumsege­ lung als so gut wie beendet. Den Kapstädtern erlaubte er gern, ihn bis zum 26. März 1898 zu bewirten. Dann ging es bei schönstem Wetter und in der angenehmen Gesell­ schaft von Delphinen und Fliegenden Fischen auf Kurs Heimat. Slocum wußte nichts davon, daß zwischen den USA und Spanien Krieg ausgebrochen war, und es bestand durchaus die Möglichkeit, daß er in Gefangenschaft geriet. Aber er hatte immerhin einiges läuten gehört, und als ihm das amerikanische Kriegsschiff ,Oregon* begegnete, das vom Pazifik her um Kap Hoorn herum kam, und signalisierte: Haben Sie irgendwo Kriegsschiffe gesichtet?», wußte er, was los war. Auf die Frage der ,Oregon* antwortete er mit dem Signal «Nein!», denn er hatte nirgendwo spanische Schiffe gesehen, setzte dann aber mit dem ihm eigenen Humor hinzu: «Lassen Sie uns zu gegenseitigem Schutz zusammenbleiben!» ^ 3 9

Die ,Oregon* hatte dazu freilich keine Zeit, und Slocum blieb mit seiner ,Spray* allein. Am 18. Mai 1898 schrieb er in sein Logbuch: «Heute nacht sah ich zum ersten Mal seit nahezu drei Jahren wieder den Polarstern.» Auf der zu den Kleinen Antillen gehörenden Insel Dominica legte er eine Pause von einer Woche ein, dann nahm er Kurs auf Kap Hatteras; noch einmal war ein schwerer Siidweststurm durdizustehen, bis die ,Spray* endlich Montauk Point am Ende von Long Island rundete. Noch war nicht alle Gefahr vorbei: Die Hafeneinfahrt von Newport war zum Schutz vor spa­ nischen Kriegsschiffen vermint, aber Slocum machte sich nichts daraus und lief mit günstigem Wind am 3. Juli 1898 in Newport ein. Noch immer ist die Reise der ,Spray* unübertroffen; kein anderer hat allein mit einem Segelfahrzeug eine so große Strecke bewältigt und so viele Plätze angelaufen. Joshua Slocum war 51 Jahre alt, als er mit seiner Weltumsegelung begann, die fast auf den Tag drei Jahre gedauert hat. Lange blieb er nicht daheim. Er ging nach Australien, heiratete dort, und mit seiner Frau machte er eine Fahrt quer über den Pazifik - 6000 Meilen im Segelboot. 14 Jahre nach dem Start zu der Alleinreise um die Welt, die ihn berühmt gemacht hatte, kam noch einmal die alte Sehnsucht über ihn, allein sein zu können mit seinem Schiff und dem Meer, und so wurde die gute alte ,Spray* noch einmal klargemacht. Von Bristol, Rhode Island, aus ging es in See; das erste Ziel sollte die Orinoko-Mündung in Südamerika sein. Doch weder die ,Spray* noch Joshua Slocum sind je wieder gesichtet worden.

N O R D O STPA SSA G E Ein großes Gebiet des Nördlichen Eismeeres zwischen Spitzbergen und Nowaja Semlja führt seinen Namen nach Willem Barents. Nun sind zwar viele Seefahrer dadurch in die irdische Unsterblichkeit eingegangen, daß ein Meer oder eine See nach ihnen benannt worden ist, doch hat Barents wirklich seine ganz besondere Bedeutung, die ihn weit hinaushebt über die meisten anderen. Er nämlich ist der erste Europäer, der gezeigt hat, wie man in der Arktis überwintert. Über 350 Jahre sind seitdem vergangen. Und doch will es uns scheinen, daß er den Forschern unserer Tage, die in der Arktis und der Antarktis arbeiten, weit näher steht als den großen Seefahrern seiner Zeit, von Kolumbus über Drake bis zu Magellan. Sein Geburtsdatum ist nicht sicher überliefert, doch dürfte er genau zur Mitte des 16. Jahrhunderts oder kurz davor auf der westfriesischen Insel Terschelling das Licht der Welt erblickt haben. Als halbes Kind noch wurde er Schiffsjunge und brachte es schließlich zum Kapitän eines Amsterdamer Handelsseglers. Dann aber wandte er sich dem Robbenschlag zu, und damals erwarb er sich mehr Kenntnisse über Wind und Wasser, Wetter und Wellen des Nordmeeres als jeder andere Seemann seiner Zeit. 240

Zanbcr tropischer Küsten

Damals bewegte vor allem die niederländischen Kaufleute und Seefahrer ein schwer­ wiegendes Problem: Gab es noch einen anderen Weg zu den Schätzen Ostindiens als die von Vasco da Gama und Magellan erschlossenen? Das hatte seinen guten Grund: Die Niederlande, vorher den spanisdien Königen untertan, hatten 1581 ihre Un­ abhängigkeit erklärt. Wenn ihre Schiffe jetzt auf den üblichen Routen nach Indien, China und den Gewürzinseln segelten, mußten sie gewärtig sein, von den Spaniern weggenommen oder vernichtet zu werden (Portugal war seit 1580 mit Spanien ver­ eint). Was lag also näher, als einen neuen Weg zu suchen? Vielleicht konnte man den Fernen Osten auch erreichen, wenn man nördlich um Europa und Asien herum iiadi den Wunderländern Ostasiens vorstieß? Diese Nordostpassage zu finden - das war die Aufgabe, vor die Barents gestellt wurde. Schon vor ihm waren die Engländer auf die gleiche Idee gekommen; sie waren bis in die Gegend des Karischen Meeres gelangt und hatten mit den Eingeborenen leb­ haften Pelzhandel getrieben. Auf ihren Spuren war dann auch eine holländische Expedition unter Oliver Brunei nach Osten vorgestoßen, hatte zu Land sogar den Ob erreicht, war aber bei einem erneuten Versuch, die Nordostpassage zu erzwingen, 1584 gesdieitert. Jetzt, zehn Jahre später, im Juni 1594, wurde ein neuer Versuch unternommen. Zwei Schiffe sollten durch die Jugor-Straße, die die Insel Waigatsdi vom Festland trennt, ostwärts Vordringen, während die »Merkur* unter Barents längs der Westküste von Nowaja Semlja ihren Weg suchte. Das Schiff, das er befehligte, unterschied sich in der Bauart kaum von denen der großen spanischen und portugiesischen Entdecker. Doch noch ehe Barents in bisher unbekannte Gegenden zu gelangen vermochte, war es mit seiner Kunst auch schon zu Ende: undurchdringliches Packeis versperrte jede Weiterfahrt. Barents kehrte nach Amsterdam zurück, wo man bereits eine neue, größere Expedition für das nächste Jahr ausrüstete. Mit sieben Schiffen ging es 1595 abermals nach Nordosten; eines der Schiffe stand unter dem Kommando von Barents. Wieder verlegte das Eis den Weg, jetzt bereits im Weißen Meer, und von den Eingeborenen - es waren in Rentierfelle gekleidete Lap­ pen - erfuhr man, daß hier alljährlidi das Meer völlig zufriere. Das konnte also nicht

Die beiden Schiffe der Barents-Expedition. Über den Schiffen eine Himmelserscheinung: Die Sonne hat Neben­ sonnen und Ringe

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der Weg nadi China sein. Man mußte ihn wohl weiter nördlich suchen. Folglich ging es abermals heimwärts, um im nächsten Jahr nicht mehr um das Nordkap und die Halbinsel Kola herum die Nordostpassage zu erzwingen, sondern mit von vorn­ herein nördlichem Kurs. Zwei Schiffe gingen 1596 zu diesem Zweck abermals in See. Das Kommando führte Jakob van Heemskerk, den man wohl deswegen ausgewählt hatte, weil er aus vor­ nehmerer Familie stammte als Barents. Auch er war ein befahrener Seemann, verfügte außerdem über eine für die damalige Zeit vorzügliche wissenschaftliche Ausbildung und war auch für alle Fragen des Hohen Nordens sehr interessiert. Heemskerk und Barents waren sich ebenbürtig; Barents, der ältere von beiden, fungierte als Navigator und Erster Steuermann, und Heemskerk (er hat später als Admiral die spanische Flotte unter den Kanonen von Gibraltar besiegt) erkannte stillschweigend den Älteren als den eigentlichen Führer des Unternehmens an. Das zweite, kleinere Schiff wurde von Jan Corneliszoon de Rijp befehligt. Die Geschichte dieser Expedition hat uns Gerrit de Veer überliefert, der Schiffsarzt (in der Musterrolle wird er als ,Bader und Chirurgus' geführt); er muß ein ganz präch­ tiger Kerl gewesen sein, und sein Bericht über die Abenteuer dieser Fahrt wurde zu einem der meistgelesenen Bücher der damaligen Zeit. Auch Barents selbst war ein großartiger Mann, stämmig, wohl etwas zurückhaltend, mit gesundem Menschenverstand und gutem Humor, vor allem aber immer besorgt um seine Mannschaft. Im Mai 1596 also gingen die beiden Schiffe in See. Am Nordkap wollte Barents Kurs Ost nehmen, doch entschieden sich van Heemskerk und de Rijp dafür, zunächst weiter nach Norden vorzustoßen. Mehrere Tage lang ging die Fahrt durch Treibeis, dann kam eine Insel in Sicht, von der man bis dahin nichts gewußt hatte. Ein Teil der Mannschaft ging an Land, um zu sehen, ob man etwas Genießbares fände, und geriet dabei in den Kampf mit einem ausgehungerten Eisbären, der zwei Mann tötete, bevor ein von Barents geführtes Kommando zu Hilfe eilte und den wütenden Bären niederschoß. Zur Erinnerung an dieses Ereignis wurde die Insel Bäreninsel getauft; diesen Namen führt sie auch heute noch. Zehn Tage später - immer noch ging es nordwärts - kam abermals Land in Sicht, das hohe Berge trug und deshalb Spitzbergen genannt wurde; Barents vermutete, Spitzbergen sei ein Teil von Grönland. Hier konnte er auch ein altes zoologisches Rätsel lösen: Auf Spitzbergen brüteten riesige Mengen wilder Gänse, von denen man bis dahin nicht gewußt hatte, woher sie kamen, wenn sie als Wintergäste an den euro­ päischen Küsten auftauchten. Nun aber ging die Fahrt nach Osten, denn die Aufgabe lautete ja, den Weg um Asien herum zu finden. Das kleinere Schiff unter de Rijp wurde in die Heimat zurück­ geschickt, um dort zu berichten, wie weit man im Norden vorgedrungen war; bis auf 80 Grad 11 Minuten nördlicher Breite, weiter als jeder andere Europäer jemals zuvor. Im Juli kam Nowaja Semlja in Sicht; das Schiff befand sich etwa vor der Mitte der Westküste dieser langgestreckten Insel. Mit nordöstlichem Kurs folgte Barents der Küste, umrundete am 31. August die Nordostspitze, Kap Maurits, und fuhr in das Karische Meer, auch Kara-See genannt, ein. Jetzt aber brach eine bittere Kälte über das Schiff herein, Eisberge drifteten heran, das Meer war bedeckt von riesigen Eis244

sdiollen. Der Polarwinter war da, obwohl gerade erst der August zu Ende gegangen war. «Der Wind wehte so unregelmäßig, daß wir keinen Kurs halten konnten, und außerdem waren wir dauernd gezwungen, zu wenden und zu halsen, um dem Eis­ gang auszuweichen», schreibt Gerrit de Veer. So war von Vorwärtskommen kaum die Rede. Noch war, zu Anfang September, das Schiff dicht unter der Nordostküste von Nowaja Semlja, als ein heftiger Schnee­ sturm einsetzte. Barents schlug vor, in einem kleinen Hafen - sie nannten ihn später Eishafen - Zuflucht zu suchen, in der Hoffnung, von hier aus doch noch weiter ostwärts und in wärmere Gewässer Vordringen zu können, wenn sich der Sturm erst einmal gelegt hätte. Doch schon am nächsten Morgen war das Schiff fest eingefroren. Nun blieb nichts weiter übrig, als sich in aller Ruhe zu überlegen, wie man hier den schweren arktischen Winter am besten überstehen könne. Man kann bei Gerrit de Veer nachlesen, daß Barents und seine Männer mit Bedacht und einigermaßen guter Stimmung ans Werk gingen, um die lange Polarwinternacht zu meistern; glücklicherweise gab es zwischen van Heemskerk und Barents keinerlei Mißhelligkeiten, obwohl ja keiner wirklich sicher wußte, was zu tun sei. Als erstes begann man aus Treibholz, das sich reichlich an der Küste fand, ein Haus als Unterkunft zu bauen; auch Holz vom Schiff, das im Eis festgekeilt saß, wurde dazu benutzt. Der Schiffszimmermann, unter dessen Leitung der Bau vonstatten ging, starb jedoch bald als erstes Opfer dieser Überwinterung. Nach seinem Plan wurde jedoch entschlossen weitergearbeitet, wenn auch viele krank und manche kaum fähig waren, die schweren Stämme heranzuschleppen. Die V^nde wuchsen, doch dann stand man vor der Aufgabe, das Haus zu decken. So schwierig es zunächst aussah - es wurde

Das Winterquartier der Barents-Expedition. Vorn wird ein Eisbär zerwirkt, rechts im Bild Fallen für Eisbären und Polarfüchse

geschafft: Eines der großen Schiffssegel wurde über das Haus gezogen und außen mit Sand überdeckt. Damit hatte das Haus in der Tat ein dichtes und vor allem ein wär­ mendes Dach, denn bald lag Schnee und Eis dick darauf, und das gibt, wie jeder Eskimo weiß, eine vorzügliche Isolation gegen die Kälte. Im Inneren des Hauses, das nur einen einzigen Raum besaß, zehn Meter lang, sechs Meter breit, wurde ein vom Schiff geholter Ofen aufgestellt. Holz zum Heizen war genug vorhanden; als Schorn­ stein diente ein Faß ohne Boden. An den \^nden entlang wurden Schlafstellen ein­ gerichtet, und alles, was es an Brauchbarem auf dem Schiff gab, wurde in der Hütte gestapelt, vor allem auch die aus Amsterdam mitgebrachte Handelsware. Unter denen, die im Laufe des Winters erkrankten, befand sich auch Barents. Für ihn wurde ein Bett in der Nähe des Feuers errichtet, « denn », so berichtet Gerrit de Veer, «es war so außerordentlich kalt, daß das Feuer fast keine Wärme mehr ausstrahlte; wenn wir unsere Füße am Feuer wärmen wollten, verbrannten uns die Strümpfe, ehe wir die Hitze spürten, so daß wir immer genug Arbeit hatten, die Löcher zu stopfen. Wenn es nicht schon vorher sengrig gerochen hätte, wären uns die Strümpfe ganz verbrannt, bevor wir es überhaupt merkten». Gerrit de Veer tat überhaupt alles, um die Mannschaft gesund zu erhalten. Jeder mußte allwöchentlich ein heißes Bad nehmen; als Bad diente ein halbiertes Faß. Alle, die noch einigermaßen kräftig waren, hielt er ständig in Bewegung: Sie mußten Fallen bauen, Holz heranschleppen, Schnee schmelzen für den Badezuber. Die Ernährung war naturgemäß nicht gerade sehr gut, aber es reichte. Schiffszwieback hatte man genug, etwas Wein war da, und wenn auch das Gulasch aus Fuchsfleisch nicht sonderlich gut schmeckte, so wurden sie doch satt. Die Felle der gefangenen Füchse wur­ den zu Jacken, Mützen und Schuhen verarbeitet. Obwohl draußen ein wilder Schnee­ sturm tobte und mancher den Kopf hängen ließ, feierten sie den Dreikönigstag am 6. Januar 1597 so gut es ging. Gerrit de Veer machte Musik, man trieb allerlei Dumm­ heiten, sogar ein Inselkönig wurde für diesen Tag gewählt. Trotz de Veers Bemühungen starb im Januar der zweite Mann. Nach 81 Tagen der Polarnacht erschien erstmals wieder die Sonne über dem Hori­ zont. Es war der 27. Januar 1597. Höher und höher stieg die Sonne, «wir gingen am Meeresstrand entlang und sahen dort Ende März und Anfang April, wie das Eis sich in wunderbarer Weise gehoben und aufeinandergetürmt hatte, daß es aussah, als ob ganze Städte mit Türmen und Zinnen aus Eis aufgebaut wären». Endlich brach das Eis auf. Doch das Schiff war vom Eis so schwer beschädigt, daß gar nicht damit zu rechnen war, es wieder flottzumachen. Barents und van Heemskerk beratschlagten, wie man die Rückkehr am besten bewerkstelligen könne. Sie beschlossen, aus dem reichlich vorhandenen Schiffsholz zwei offene Boote zu bauen und mit ihnen zunächst längs der Küste der Insel, dann hinüber zum russischen Festland und von dort auf der Route von 1595 westwärts zu fahren. Daß diese Fahrt ein Unternehmen voller Schwierig­ keiten und Gefahren bedeuten würde, darüber bestand kein Zweifel - aber es blieb ihnen ja keine andere Möglichkeit. Erst im Juni brachen sie auf. Kurz zuvor schrieb Barents einen Bericht in dreifacher Ausfertigung, einen für jedes Boot; den dritten verschloß er in einem leeren Pulver­ horn, das er in den Schornstein des Hauses hängte. Falls keiner lebend die Heimat 246

Wiedersehen würde, sollte dieser Bericht denen, die vielleicht später einmal den Weg hierher finden würden, Kunde geben von den Geschehnissen. Barents war bereits schwer krank, als die Fahrt begann. Er hatte schon nicht mehr selbst ans Ufer gehen können, sondern mußte mit einem Schlitten zum Boot gebracht werden. Obwohl es nun bereits Juni war, hatten die Boote sich mühselig durch das Treibeis vorwärts­ zukämpfen; einmal froren sie sogar für eine Weile fest. Am 28. Juni starb Barents, bis zuletzt ein Vorbild seiner Männer, «in einem plötzlichen Anfall», wie de Veer berichtet. Zu diesem Zeitpunkt befanden sich die Boote am Südende von Nowaja Semlja nahe der Küste des Festlands. Woche um Woche ging es nun unter schwersten Entbehrungen westwärts. Die Boote wurden leck, aber man wagte nicht an Land zu gehen aus Angst vor den Eisbären, die immer wieder gesichtet wurden. Meist war es kalt; endlich wurde an einem wärmeren Tage eine kleine Insel erreicht, auf der es keine Eisbären gab. Hier ließ Heemskerk all die geretteten Ballen mit Handelsware auspacken, trocknen und sorg­ sam wieder zusammenpacken, denn er war willens, das, was ihm die Amsterdamer Handelsherren anvertraut hatten, auch riditig wieder zurückzubringen. Mit Hilfe russischer Walfänger erreichten die Holländer endlich die Halbinsel Kola, und hier, in einer russischen Fischerei-Niederlassung, fanden sie zu ihrer grenzenlosen Überrasdiung de Rijp und seine Männer. Sein Schiff war vom Sturm ins Weiße Meer verschlagen worden, und er hatte mit Hilfe der Russen recht behaglich überwintern können. Mit de Rijps Schiff ging es dann schließlich zurück in die Heimat. Die Geschichte von Barents und seiner Überwinterung auf Nowaja Semlja hat noch ein Nachspiel. Es dauerte 274 Jahre, bis endlich wieder einmal Menschen nach Eishafen kamen. Ein norwegischer Robbenschläger fand 1871 das Winterhaus noch ganz so, als sei es eben von seinen Bewohnern verlassen worden. Da stand das halbierte Faß, in dem die Holländer gebadet hatten, in einer Ecke lehnte eine Muskete, und im Rauchfang hing das Pulverhorn mit Barents’ Bericht. All diese Zeugnisse einer kühnen Forscher­ fahrt befinden sich jetzt im Haager Marinemuseum. Endgültig bezwungen wurde die Nordostpassage erst 1878/1879 durch den schwe­ dischen Polarforscher Nils Adolf Erik Nordenskjöld. Am 18. Juli 1878 ging er mit seiner ,Vega‘ von Tromsö aus in See, am 20. Juli 1879 dampfte die ,Vega‘ durch die Beringstraße. Eine großartige Leistung war vollbracht - für den Handelsaustausch freilich mit Ostasien hatte sie keine Bedeutung mehr. Wichtig ist der ,Nördliche See­ weg*, der alljährlich nur etwa zwei Monate offen ist, jedoch für die Sowjetunion. In der ersten Hälfte des zweiten Weltkrieges haben auch einige wenige deutsche Schiffe mit russischer Unterstützung die Nordostpassage benutzt, um in den Pazifik zu gelangen.

ALLES FÜR D IE WI S S ENS CHAF T In der gleichen Zeit, in der nach den Schrecken des Siebenjährigen Krieges der Preußen­ könig Friedrich der Große seinem Land durch Urbarmachung des Warthebrudis im Frieden eine neue Provinz erobert, in der gleichen Zeit, in der die britischen Kolonien Nordamerikas mit dem Mutterland immer unzufriedener werden und sich die Unab­ hängigkeitserklärung anbahnt - in dieser Zeit strahlt in Großbritannien der Stern eines Mannes auf, der einen völlig neuen Typ des Seefahrers begründen sollte. Er war der erste, der wirklich menschliche Beziehungen zu den Naturvölkern ferner Küsten knüpfte; ihn trieb etwas anderes hinaus auf die Sieben Meere als die Gier nach Schätzen, er wollte auch keine fremden Länder erobern; er hielt seine Crew nicht mit brutaler Gewalt zusammen, sondern sorgte sich um ihr Wohlergehen. Dieser Mann war James Cook. Geboren wurde James Cook im Jahre 1729 als eines der vielen Kinder eines armen Landarbeiters in Yorkshire. Als Dreizehnjährigen steckte ihn der Vater zu einem Kurzwarenhändler in die Lehre. Aber den Jungen zog es zur See. Auf einem Kohlen­ schiff wurde er Schiffsjunge, und das bedeutete damals wohl das Letzte vom Letzten. Aber der Junge war vernarrt in die Seefahrt; seine kümmerlichen Groschen sparte er zusammen, um sich Bücher über Navigation und Astronomie zu kaufen, und jede der wenigen freien Minuten lernte er. Lesen und Lernen - das war das einzige, was ihm mehr als sieben Jahre Küstenfahrt an Bord der Kohlenschiffe erträglich machte. Dann kam er zur Kriegsmarine, und dank seiner Kenntnisse wurde er, 27 Jahre alt, Unter­ leutnant auf der ,Eagle‘. Nach Kanada kommandiert, zeichnete er sich durch vorzügliche kartographische Aufnahmen der Gewässer um Neufundland, Labrador und den St.-Lorenz-Golf aus sowie durch die sehr präzise Beobachtung einer Sonnenfinsternis im Jahre 1766. Diese Leistung erbrachte ihm die Beförderung zum Leutnant und lenkte außerdem die Aufmerksamkeit der Royal Society, der damals bedeutendsten wissenschaftlichen Körperschaft, auf den jungen Seemann. Was er an nautischen und astronomischen Kenntnissen und Fähigkeiten aufzuweisen hatte, war für einen Marine­ offizier mehr als ungewöhnlich. Als deshalb die Royal Society und die Admiralität gemeinsam beschlossen, eine Expedition in die Südsee zu entsenden, die damals noch weitgehend unbekannt war - bei dieser Gelegenheit sollte auch der Durchgang des Planeten Venus vor der Sonne beobachtet werden -, fiel die Wahl auf Cook als Leiter des Unternehmens. Als Schiff wurde die Bark ,Endeavour* ausersehen. Die Vorbereitungen waren noch im Gange, als Admiral Wallis von einer Reise in die Südsee heimkam und in seinen Berichten von einer Insel schwärmte, die ein Paradies auf Erden sein mußte: Tahiti. An diesen Geschichten mußte wirklich etwas sein, was man daraus ersehen konnte, daß achtzig Mann von Wallis’ Besatzung sich alle Mühe gaben, mit der ,Endeavour* wieder ausfahren zu können, um so nochmals zu dieser glücklichen Insel zu kommen, auf der ohnehin die astronomischen Beobachtungen vorgenommen werden sollten. 248

Cook setzte mit Nachdruck einige Neuerungen durch. So ging er nicht davon ab, daß lebende Schafe und Ziegen an Bord zu nehmen seien, obwohl er damit mancherlei Kritik erntete. Er war jedoch der Überzeugung, daß man mit Frisdifleisch dem Skorbut Vorbeugen könne, jenem Schrecken der Seefahrer, in dem man damals noch ein unent­ rinnbares Schicksal sah. Zwei Wissenschaftler begleiteten die Expedition, außerdem zwei Zeichner. Am 26. August 1768 ging die ,Endeavour* von Plymouth aus in See. Kap Hoorn wurde am 21. Januar 1769 erreicht. Die Erforschung von Feuerland war die erste Aufgabe. Die Naturforscher gingen an Land, und bei dieser Gelegenheit kam es zu einem ungewöhnlichen Ereignis. Als ein Berg erstiegen wurde, brach ganz plötzlich eine wahrhaft tödliche Kälte herein; selbst der schwedische Botaniker Daniel Solander, der von einer Lapplandreise einige Erfahrungen besaß, hatte so etwas noch nicht erlebt. Alle waren steifgefroren, und zwei volle Tage vergingen mit dem Abstieg. Zwei Neger, die als Diener dabeiwaren, erfroren. Ohne weitere Vorkommnisse ging es dann durch den Pazifik nach Tahiti, das im Mai angelaufen wurde. Der Empfang dort war überaus herzlich, und das um so mehr, als die Eingeborenen unter den Matrosen mehrere ihrer alten Freunde von Wallis’ Besuch wiedererkannten. Das gute Einvernehmen hielt auch die ganzen drei Monate an, während derer die ,Endeavour* vor Tahiti lag. Das Klima der Insel war wirklich paradiesisch, und bei prächtigstem Wetter konnte der Venusdurchgang vor der Sonne beobaditet werden. Die dabei gewonnenen Daten waren wissenschaftlich von beson­ derem Interesse, insbesondere für die Kenntnis der Entfernung der Erde von der Sonne. Selbstverständlich nutzten die Naturforscher die Zeit aber auch sonst nach Kräften aus; sie studierten die Sitten und Gebräuche der Insulaner, sammelten Pflan­ zen und Liere, untersuchten die benachbarten Inseln und nahmen sie kartographisch auf. Hier machte Cook, wiederum als erster, Schluß mit dem unglückseligen Brauch, neuentdeckte Inseln oder Landschaften nach Königen oder Staatsmännern zu be­ nennen - ein Brauch, der oft genug Anlaß zu Mißverständnissen gegeben hat, vor allem dadurch, daß ein Entdecker, der irgendwo landete, nicht wissen konnte, daß vor ihm schon ein anderer dagewesen war. So hatte auch Wallis der Insel Tahiti den Namen ,Georg Ill.-Insel* gegeben. Cook hingegen wählte grundsätzlich, und wo immer es möglich war, den von den Eingeborenen benutzten Namen und trug diesen in seine Karten ein. Nur dort, wo es solche nicht gab, schuf er neue; die ganze Inselgruppe beispielsweise, für die ihre Bewohner keinen Allgemeinbegriff hatten, nannte er Society Islands, Gesellschaftsinseln, zu Ehren der Royal Society. Schon vor Wallis und Cook war übrigens der Spanier Quiros auf Tahiti gewesen, im Jahre 1606; er hatte die Insel Sagittaria getauft, während der Franzose Bougainville sie « wegen der Sittenlosigkeit der Weiber» Nouvelle Cythere benannte, Neu-Kythera. Seit 1842 sind die Gesellschaftsinseln französisch; die Inselgruppe umfaßt insgesamt elf Inseln von zu­ sammen etwa 1650 Quadratkilometern, von denen auf Tahiti allein 1275 entfallen. Der Aufenthalt auf Tahiti war wirklich eine paradiesische Zeit; echte Freundschaften zwischen Weißen und Insulanern entstanden, und die hübschen Polynesierinnen waren sehr liebenswert. Aber Cook mußte weiter - zu seinem eigenen und seiner Männer Bedauern. Einer der Häuptlinge von Tahiti, ein heiliger Mann namens Tupia, erklärte »49

sidi bereit, die Expedition zu begleiten; auch sein junger Sohn kam mit. Beide sollten sich später noch oft als nützlich erweisen. Jetzt ging Cook daran, eine der großen Aufgaben zu lösen, die ihm für die Expe­ dition gestellt waren: festzustellen, ob es den mysteriösen großen Südkontinent wirk­ lich gab, die Terra Australis Incognita; viele Geographen jener Zeit waren von der Existenz dieses Kontinents überzeugt, und auf den Karten erstreckten sich seine angeblichen Küsten von der Südsee bis zum Südpol. Cook segelte also zunächst scharf nach Süden bis zu einer Breite von 40 Grad. Er fand jedoch entgegen allen Voraussagen keinerlei Land, mit Ausnahme der einsamen Insel Rurutu. Dann ging es westwärts. Neuseeland wurde erreicht, das vorher schon, im Jahre 1642, von dem Niederländer Abel Tasman entdeckt worden war. Wie Tasman, so fragte sich auch Cook, ob Neu­ seeland vielleicht zur Terra Australis gehöre, und er entschloß sich, diese Frage zu beantworten. Die nächsten sechs Monate verbrachte er damit, Neuseeland zu um­ segeln: Wieder war es nichts mit dem Südkontinent, denn es zeigte sich, daß Neu­ seeland aus zwei Inseln bestand, die durch eine Meeresstraße voneinander getrennt waren; sie wurde später nach Cook benannt. Die eingeborenen Maoris waren nicht so freundlich wie die Bewohner von Tahiti. Tupia konnte sich mit ihnen verständigen, und dank seiner Dolmetscherkunst kam es zu ersten Beziehungen. Cooks angeborene Güte und sein Wunsch, Frieden zu halten, wurde aber von den Neuseeländern falsch ausgelegt; sie griffen die ,Endeavour‘ an, und bei der Verteidigung wurden einige Maoris erschossen. Da kam Cook auf den Einfall, man solle doch ein paar Eingeborene gefangennehmen, um ihnen zu zeigen, daß die Engländer keine bösen Absichten hätten, und sie dann zu ihren Landsleuten zu entlassen. Die Besatzung eines Kanus wurde überwältigt, wobei leider vier Maoris getötet wurden; die restlichen drei nahm man an Bord. Hier gelang es Tupia schließlich, sie zu überzeugen. Die Gefangenen vergaßen ihre Furcht vor den Fremden und den Tod ihrer Stammesgenossen. Mit Geschenken überhäuft, lachten und sangen sie und versprachen, zu Hause zu berichten, was für nette Leute die weißen Menschen auf dem großen Schiff seien. Am nächsten Tag ging deshalb Cook mit einem Teil seiner Besatzung an Land; die drei Maoris erzählten auch wirklich, wie freundlich man sie behandelt habe, und Tupia setzte den Maoris auseinander, die Engländer seien wahrhaftig keine Menschenfresser. Das gab endlich den Ausschlag. Die Maoris machten Besuche an Bord des Schiffes, doch wurde das gute Einverneh­ men dadurch gestört, daß plötzlich einige Eingeborene Tupias kleinen Sohn packten, in ihr Kanu zerrten und sich davonmachen wollten. Die Briten feuerten auf die Flüchtenden und verwundeten ein paar von ihnen; Tupias Sohn benutzte die Gelegen­ heit, sprang ins Wasser und konnte befreit werden. Dieser Zwischenfall bestärkte die Engländer in der Überzeugung, die einige schon vorher gehabt hatten, daß die Maoris tatsächlich Kannibalen seien; Cook untersagte jedoch jegliche Vergeltungsmaßnahmen. Der Platz, an dem die ,Endeavour‘ damals lag, heißt seitdem Cape Kidnapper Kindsräuber-Kap. Cooks Nachsicht sollte sich lohnen. Die Beziehungen zu den Eingeborenen besserten sich immer mehr, und bald war es möglich. Tag und Nacht in den Maori-Siedlungen bleiben und so ihr Leben und Treiben studieren zu können. Cook beschreibt die ein2 5 0

James Cook

geborenen Frauen und Mädchen als kokett. Sie malten sich ihr Gesicht mit rotem Ocker an, der mit ö l angerührt war, und da die Maoridamen ihren Anstridi täglich erneuerten, lief eine ganze Anzahl Matrosen ständig mit roter Nase herum - eine Folge der landesüblidien Sitte, die Zuneigung dadurch zu bekunden, daß man die Nasen aneinander rieb. Obwohl die Maoris immer wieder stahlen und es auch während der Umsegelung von Neuseeland wiederholt zu Angriffen von Kanus auf die ,Endeavour‘ kam, ließ Cook keinen Übergriff seiner Mannschaft gegen die Eingebore­ nen zu. Er verlangte unbedingte Respektierung von Person und Eigentum bei allen Völkern, die er auf seiner Expedition besuchte. Wie ernst er es mit diesem Befehl meinte, mag ein Beispiel zeigen: Drei Matrosen ließ er auspeitschen, weil sie Süßkartoffeln ,organisiert' hatten (wie man heute sagen würde). Zwei der Diebe bekamen die neunschwänzige Katze zwölfmal; der dritte, der einwandte, er könne nicht einsehen, was er da verbrochen habe, denn schließlich seien es ja Wilde, denen man die Süßkartoffeln fortgenommen habe, mußte weitere zwölf Schläge einstecken, damit er es endlich lerne, daß er Unrecht getan habe. Cook war nicht nur der erste Europäer, der auf diese Weise ein Ende machte mit jeder Rassenüberheblichkeit, er war auch ein ausgezeichneter Forscher. Die Karten, die er und der ihm unterstellte Astronom Charles Green auf dieser Reise gezeichnet haben, sind Meisterwerke von wunderbarer Präzision. Auch die beiden Naturforscher der Expedition, Joseph Banks und der Schwede Solander, leisteten wertvolle Arbeit auf botanischem und zoologischem Gebiet; besonders wichtig waren die völkerkundlichen Beobachtungen, denn bald sollte europäischer Einfluß manchen alten Brauch völlig zum Verschwinden bringen. ^51

Nadidem Cook die Inselnatur Neuseelands gesichert hatte - inzwischen war es März 1770 geworden - wollte er mit Kurs West erneut die Suche nach der Terra Australis Incognita aufnehmen. Die ,Endeavour' war aber, wie er feststellen mußte, nicht mehr in bester Verfassung, und außerdem nahte nun der Südwinter. So entschloß er sich, nicht nach Süden vorzustoßen, sondern Tasmanien anzusegeln, dann der Küste des damals noch fast völlig unbekannten Neuhollands - des heutigen Australiens zu folgen und schließlich um das Kap der Guten Hoffnung heimzukehren. Scharfer Südwest zwang ihn, Kurs nach Nordwest zu nehmen, so daß Tasmanien nicht ange­ segelt werden konnte. Am 20. April 1770 kam die Ostküste Australiens in Sicht - ein Land « von trostloser Dürre und Verlassenheit». Nach langer Suche wurde ein günstiger Ankerplatz gefunden, wo sich auch Frischwasser fand; er erhielt den Namen Botany Bay, weil der Naturforscher Banks geradezu begeistert war über die bisher völlig unbekannten Pflanzen und Tiere, die er hier fand. (Großbritannien legte hier später eine Sträflingskolonie an.) Die Eingeborenen waren so scheu, daß sie nicht einmal die Geschenke, die man für sie am Strand niederlegte, anzurühren wagten. Dann ging es weiter längs der Ostküste Australiens, mehr als tausend Seemeilen. Hier zeigte sich Cooks Seemannschaft in ihrer ganzen Größe, denn je weiter die ,Endeavour‘ nach Norden kam, desto gefährlicher wurden die Gewässer. Das Schiff befand sich jetzt im Bereich des Großen Barriere-Riffs, das über 1800 Kilometer lang ist; mit seinen unzähligen Atollen, Riffen, Untiefen und schmalen Durchfahrten konnte es jeden Augenblick die Katastrophe bringen. Und richtig: In einer Juninacht lief die ,Endeavour‘ auf. Cook ließ die Kanonen und alles, was sonst noch schwer war, über Bord bringen, um das Schiff mit steigender Flut wieder flott zu bekommen, doch war die ,Endeavour‘ so leckgeschlagen, daß selbst alles Lenzen an sämtlichen Pumpen zugleich nichts nützte. Ein Deckoffizier schlug schließlich vor, das Leck von außen durch ein altes, mit Sägespänen und Schafdünger gefülltes Segel abzudichten, das vom Wasserdruck in das Leck hineingepreßt wurde. Auf diese Weise gelang es tatsächlich, die ,Endeavour* wieder flottzumachen und eine Bucht anzulaufen, wo sie an Land gesetzt und der Schaden notdürftig geflickt wurde. Jetzt gab es neues Unheil: Zum ersten Mal brach der gefürchtete Skorbut an Bord aus. Tupia, der Mann aus Tahiti, war einer von den am schwersten Erkrankten- Er aber war es auch, der für Heilung sorgte. Er ließ sich an Land bringen, sammelte dort Pflanzen und Früchte, fing auch Fische, und wirklich konnte er mit dieser (wie wir heute wissen: vitaminreichen) Kost sich selbst und alle anderen Kranken wieder gesund machen, mit einer Ausnahme. Der Astronom Green nämlich weigerte sich, ,auf das Niveau' eines Wilden hinabzusteigen, mit dem traurigen Erfolg, daß er schließlich starb. Vorsichtig ging es mit der wieder einigermaßen seetüchtigen ,Endeavour‘ weiter nordwärts. Das gesamte Land nahm Cook unter die Herrschaft der britischen Krone und nannte es Neusüdwales - einen Eingeborenennamen konnte er hier nicht ermitteln. Dann ging es westwärts durch die Meeresstraße, die bereits 1606 von dem Spanier Torres gefunden worden war, nach Neuguinea. Während der ganzen mühseligen Fahrt durch den südlichen Teil der Torres-Straße, der seitdem den Namen EndeavourStraße führt, mußte ununterbrochen gelenzt werden. Neuguinea wurde erreicht, doch 25^

Stand Cook auf dem Standpunkt, daß hier die Holländer schon genug erforscht hätten und außerdem seine Aufgabe für diese Reise erfüllt sei. Auf der Heimreise wurde Batavia angelaufen, wo die ,Endeavour‘ überholt wurde. Hier, im ,ungesündesten Hafen der Welt', wurde die gesamte Mannschaft von einem bösen Fieber heimgesucht, das zehn Männer dahinraffte, darunter auch Tupia, seinen Sohn und den Sdiiffsarzt. Nur ein einziger blieb ganz verschont, ein uralter Seebär, der schon seine 70 oder 80 Jahr auf dem Buckel hatte und ständig betrunken war. Das war natürlich ein interessantes Problem für die Doktoren in Batavia und später audi in England: War gerade dieser eine deshalb gegen das Fieber immun, weil er so alt war, oder dank dem Alkohol? Es dauerte fast drei Monate, bis die Überlebenden soweit wiederhergestellt waren, daß die Heimreise fortgesetzt werden konnte, kurz nach Weihnachten 1770. Auf der Fahrt um das Kap der Guten Hoffnung gab es erneut Skorbut an Bord mit weiteren Todesfällen. Insgesamt kostete diese Reise, die Cook mit einer 58köpfigen Mannschaft angetreten hatte, 30 Menschenleben. Im Juli 1771 lief die ,Endeavour* in London ein. 43 Monate waren seit ihrem Aus­ laufen vergangen. Aber die wissenschaftlichen Ergebnisse waren so großartig, daß sie größtes Aufsehen in der ganzen Welt erregten, und die britische Admiralität entschloß sich deshalb, eine neue Expedition auszusenden, um das Rätsel des Südlands endgültig zu lösen, was um so notwendiger erschien, als auch die Franzosen sich sehr energisch in der Südsee betätigten. Es war selbstverständlich, daß diese Expedition abermals unter Cooks Kommando zu stehen hatte. Nach fast genau einem Jahr waren die Vorbereitungen für die zweite Expedition beendet. Dieses Mal waren es zwei Schiffe, die ,Adventure* und die ,Resolution*. Cook hatte aus der ersten Reise gelernt: jetzt hatten die Schiffe frisches Obst, vor allem Zitronen, und Frischgemüse an Bord, um dem Skorbut vorzubeugen. In die Antarktis sollte es gehen, und man wußte sehr wohl von den in die Arktis vorge­ stoßenen Forschern und Walfängern, daß gerade in den polnahen Gebieten diese Krankheit besonders grassierte, ja man diskutierte sogar darüber, ob nicht die schlechten Witterungsbedingungen dort und die Kälte den Skorbut begünstigten. Cook jedenfalls hatte seine Expedition bereits so geplant, daß er von Zeit zu Zeit Gelegenheit bekam, Frischgemüse zu übernehmen. Seine Überlegung sollte ihm recht geben: Er lief mit 118 Mann aus und verlor während der ganzen Fahrt nur vier; die wenigen Fälle von Skorbut konnten schnell und leicht ausgeheilt werden. Am 13. Juni 1772 gingen die ,Resolution*, 462 Tonnen, unter Cook und die ,Adventure*, 336 Tonnen, unter Furneaux in See. Ende Oktober war man in Kapstadt, wo noch einige Forscher zu den bereits an Bord befindlichen stießen; die bedeutendsten Naturforscher, die an dieser Reise teilnahmen, waren Johann Reinhold Förster und sein Sohn Georg. Dann begann die Fahrt weit hinab nach Süden, hinein in das Eismeer. Bei 50 Grad südlicher Breite war das Meer weithin mit großen Eisschollen bedeckt. Da außerdem dichter Nebel über dem Wasser lag, erschien jeder Versuch, weiter vorzu­ dringen, höchst gefährlich. Ein kleines Kommando wurde zur Erkundung aufs Eis geschickt, ging aber um ein Haar verloren, so daß man so etwas nicht noch einmal wagen durfte. Nunmehr wurde Kurs Nordost genommen, dann aber begann der zweite Vorstoß nach Süden. Am 17. Januar 1773 erreichte Cook als erster von allen

Entdeckungsreisenden den Südlichen Polarkreis. Doch beim 67. Breitengrad zwang eine mächtige Eisbarriere zur Umkehr. Vom sagenhaften Südland aber war nirgends etwas zu sehen - hier gab es keinen Kontinent, sondern nichts als Meer und Nebel und Stürme und Eis. In diesen unwirtlichen Gewässern kam auch die ,Adventure‘ außer Sicht. Wie verabredet, traf sie jedoch, wenn auch mit zwei Monaten Verspätung, vor Neuseeland am vereinbarten Treffpunkt wieder mit der ,Resolution‘ zusammen, und nun ging es nach Tahiti, wo Cook genau so herzlich aufgenommen wurde wie bei der ersten Reise. Im Frühling wurde die Reise fortgesetzt. Die Schiffe waren reichlich verproviantiert: Nicht weniger als 300 Schweine wurden mitgenommen, außerdem viel Geflügel und Kokosnüsse. In Neuseeland wurden die Vorräte ergänzt, denn abermals war die Antarktis das Ziel. Schon vorher verloren die beiden Schiffe die Verbindung zuein­ ander - die ,Adventure‘ traf auch nicht rechtzeitig am Treffpunkt ein, und so segelte die ,Resolution‘ allein los, nach Süden. Wiederum wurde der Südliche Polarkeis erreicht, dieses Mal bei 147 Grad westlicher Länge; wiederum verhinderten Eis und Stürme - bei einer Breite von 67 Grad 31 Minuten - ein weiteres Vordringen nach Süden. Cook versuchte weiter östlich einen erneuten Vorstoß, der ihn auch wirklich bis auf 71 Grad 10 Minuten brachte. Hier aber ging es nicht weiter. Eine gewaltige Eiswand türmte sich auf; Takelwerk und Segel gefroren, so daß sie nicht mehr bedient werden konnten, die Kälte ging durch Mark und Bein. Man war froh, wieder auf nördlichen Kurs gehen zu können. Vom Südkontinent war auch hier keine Spur zu finden. Cook war sich darüber im klaren, daß jetzt seine Crew erst einmal Sonne und frisches Obst benötigte. So steuerte er die Osterinsel an, die am 9. März 1774 erreicht wurde. Drei Wochen lang erholte sich die Mannschaft hier, und die Forscher nutzten die Zeit, die Natur dieser eigenartigen Insel, vor allem aber die geheimnisvollen riesigen Steinstatuen zu studieren. Von der Osterinsel ging es über die Marquesas wieder nach Tahiti. Hier sahen die Briten die gesamte Flotte der Insel zusammengezogen: 160 Doppelboote, jedes 30 Meter lang, für die Krieger, und 170 kleinere Auslegerkanus als Transporter. Sogar ,Lazarett‘boote waren dabei mit vorbereiteten Liegestätten aus Bananenblättern für die Verwundeten. Cook wartete den Ausbruch der Feindseligkeiten nicht ab, sondern segelte mit west­ lichem Kurs weiter nach jener Inselgruppe, die schon 1606 von dem ,Don Quichote der Südsee*, dem Spanier Quiros, entdeckt und für einen Teil des fabelhaften Südkontinents gehalten worden war. Hier wohnten Melanesier, Menschen, die bei weitem nicht so schön und vor allem nicht so freundlich waren wie die liebenswürdigen Polynesier. Cook gab der Inselgruppe den Namen Neue Hebriden. Vier Tage später tauchte eine bisher unbekannte Insel auf, die Neukaledonien benannt wurde. Mit den Einwohnern dieser Insel war recht gut auszukommen; sie waren im Gegensatz zu den Eingeborenen der Neuen Hebriden friedlich und stets unbewaffnet. Merkwürdigerweise besaßen sie keinerlei Haustiere, weshalb Cook ihnen je ein Zuchtpaar Schweine und Hunde über­ ließ. Dann aber ging es auf kürzestem Weg nach Neuseeland, denn Cook wollte endlich wissen, wo die ,Adventure‘ geblieben war. Nach drei Wochen vergeblichen Wartens entschloß sich Cook, die Rückreise mit Kurs Ost und um Kap Hoorn herum 254

anzutreten. Die »Adventure* hatte sich, wie sich später herausstellte, beim ersten Treffen bereits verspätet; Furneaux war dann auf eigene Faust losgesegelt, und die ,Adventure‘ erreichte schließlich London genau zwei Wochen vor der ,Resolution‘. Im Januar 1775 wurde Kap Hoorn gerundet. Weiter ging die Reise ostwärts, eine kleine Insel wurde gefunden und Südgeorgien benannt. Nochmals nahm Cook Kurs Südost, bis auf 60 Grad südlicher Breite, ohne auf Land oder gar den Südkontinent zu stoßen. Lediglich eine unbedeutende Gruppe kleiner eisbedeckter Inseln - die Neu-Sandwich-Gruppe - kam in Sicht. Als schließlich die ,Resolution‘ auf der Höhe

James Cooks drei große Reisen erbrach­ ten den Beweis, daß es im Pazifik eine ,Terra australis incognita* nicht gab. Der ySüdkontinent^ war und blieb eine Fabel. Rechts oben Cooks Schiff ,Resolution' ^ 5 5

des Kaps der Guten Hoffnung war, konnte Cook sich mit gutem Gewissen sagen, daß er rund um den Südpol gesegelt war, ohne das geringste Anzeichen für die Existenz der Terra Australis Incognita gefunden zu haben. Der Auftrag, den die Expedition gehabt hatte, war erfüllt: Es gab keinen Südkontinent - wenigstens dort nicht, wo man ihn bislang vermutet und in die Karten hineinphantasiert hatte. Nach drei Jahren und 18 Tagen, im Juli 1775, traf die ,Resolution‘ wieder in England ein. Cooks zweite Erdumsegelung hatte mehr an neuen geographischen und natur­ wissenschaftlichen Erkenntnissen heimgebracht als jede andere Expedition zuvor. Cook war zum Nationalheld geworden; er wurde zum Kapitän befördert, mit der Ehren­ stellung eines ,Yierten Kapitäns beim Königlichen Hospital für Seeleute zu Greenwich* ausgezeichnet und in die Royal Society aufgenommen. Und schon hatte man auch eine neue Aufgabe für ihn. Jetzt sollte er einen alten Seefahrertraum verwirklichen: Es galt, die Nordwestpassage zu finden, die Durchfahrt zwischen Atlantik und Pazifik nördlich von Amerika. Wer konnte für dieses Vorhaben geeigneter sein als Cook? Mit zwei Schiffen, der treuen ,Resolution* und der ,Discovery‘ unter Clerke, verließ er im Sommer 1776 Plymouth. Von Westen her wollte er das Problem der Durchfahrt hoch oben im Nördlichen Eismeer klären. Da er zu diesem Zweck den Pazifik kreuzen mußte, nahm er reichlich Vieh mit - Rinder, Schafe, Ziegen, Pferde -, um die Tiere auf den Südseeinseln auszusetzen. Die Route führte um das Kap der Guten Hoffnung und dann südlich von Australien und Tasmanien zu dem alten Ankerplatz auf Neu­ seeland. Von hier segelte Cook nordwärts, besuchte verschiedene Inseln und kam schließlich im Juli 1777 wieder auf seinem geliebten Tahiti an. Jetzt gelang es ihm, seinen guten Freund, den König Otu, zu überreden, als Gegenleistung für das mitge­ brachte Vieh die althergebrachten Menschenopfer aufzugeben. Gegen Ausgang des Jahres wurden die Gesellschaftsinseln verlassen. Zu Weihnachten liefen die Schiffe eine kleine, unbewohnte Insel an, auf der ungewöhnlich viele Schildkröten vorkamen. Die Insel erhielt den Namen Christmas Island, Weihnachts­ insel. Von hier aus wurde Kurs Nord genommen, denn jetzt begann der Teil der Reise, der die Erfüllung des Auftrags bringen sollte. Ende Januar wurde eine Inselgruppe angesegelt, die von Cook den Namen Sandwich-Inseln erhielt; es war dies die HawaiiGruppe, die schon vor mehr als 250 Jahren von den Spaniern entdeckt worden, dann aber völlig in Vergessenheit geraten war. Die Sandwich-Insulaner standen auf einer bemerkenswert hohen Kulturstufe, hatten eine wohlentwickelte Landwirtschaft und erwiesen sich als äußerst lernbegierig. Es fanden sich auch einige eiserne Werkzeuge als Beweis für eine Begegnung mit Europäern - selbstverständlich stammten diese Eisengeräte von den Spaniern, an die kein Mensch mehr dachte. Die Westküste von Nordamerika wurde im März 1778 knapp südlich der Mündung des Columbia erreicht, dort, wo schon Francis Drake bei seiner Weltumsegelung 1577-1580 gewesen war. Auf der Vancouver-Insel wurden die Schiffe überholt. Längs der Küste von Alaska ging es dann hinauf durch die Beringstraße. Damit wurde Cook der erste Seefahrer, der den Nördlichen und den Südlichen Polarkreis überschritten hatte. Im Beringmeer versperrte Packeis den weiteren Weg - die Nordwestpassage war hier nicht zu finden. Nachdem einige der Aleuten-Inseln kartographisch aufge­ nommen worden waren, begann die Rückreise zur Hawaii-Gruppe. 256

Etwa ein Jahr, nachdem Cook diese Inseln erstmals gesichtet hatte, landete er in der Karakakua-Bay auf Hawaii. Die Eingeborenen hielten ihn für einen Gott, der vor langer, langer Zeit von ihnen gegangen sei mit dem Versprechen, auf einer schwimmen­ den Insel voll von Kokosnüssen, Hunden und Schweinen wiederzukehren. Der König Tiriobu überreichte Cook schöne Gewänder sowie mit bunten Federn besetzten Kopf­ schmuck und tauschte den Namen mit ihm - die höchste Ehre, die er zu vergeben hatte. Bis zur Abreise der Schiffe Ende Februar 1779 bestand zwischen den Insulanern und den Weißen bestes Einvernehmen. Aber kaum waren die Schiffe ausgelaufen, gerieten sie in einen schweren Sturm, der sie zwang, in die Karakakua-Bucht zurück­ zukehren. Doch wie hatte sich hier alles verändert. Keine Kanus kamen ihnen entgegen, um sie zu begrüßen und Tauschware anzubieten. Kein Mensch war zu sehen. Der König hatte den Ankerplatz verlassen und ihn für ,tabu‘ erklärt - niemand durfte sich hier sehen lassen. Dieses Tabu sollte für Cook die schlimmsten Folgen haben. Einige seiner Leute überredeten ein paar eingeborene Frauen, das Tabu zu brechen und mit ihnen in die verbotene Bucht zu kommen. Die Hawaiianer wurden hellhörig, und am Morgen war der Kutter, mit dem die Matrosen an Land gegangen waren, verschwunden. Daraufhin ließ sich Cook selbst hinüberrudern, um den König zur Herausgabe des Bootes zu veranlassen; nur eine Handvoll bewaffneter Matrosen begleitete ihn. Schon hatte sich der König damit einverstanden erklärt, mit an Bord der ,Resolution‘ zu kommen, um dort weiter zu verhandeln, als ihn eine seiner Frauen warnte, mit dem Fremden zu gehen. Der König zögerte, irgend jemand schrie, ein hoher Würdenträger sei getötet worden, es kam zum Handgemenge. Die Krieger legten ihre Schlachtkleidung an. Kämpfend zog sich Cook mit seinen Leuten zu seinem Boot zurück, vier Mann wurden getötet. Inmitten des Getümmels befand sich Cook. Keiner wagte ihn anzurühren, solange er dem König Auge in Auge gegenüberstand. Doch nun wandte er, der immer um Frieden Besorgte, den Kopf, um seinen Männern zu befehlen, nicht mehr zu schießen. In diesem Moment sprang ihn einer der Krieger an, ein Keulenhieb traf ihn, ein Dolchstich folgte. Gellendes Triumphgeschrei. Kapitän Cook stürzte ins Wasser, sein Körper wurde nochmals und nochmals von Stichen durchbohrt, dann zerrten die Insulaner den Toten ans Ufer. Dies geschah am 14. Februar 1779. Cook hatte seinen Männern immer und immer wieder eingehämmert, wie man mit den Eingeborenen umgehen sollte. So sehr war ihnen seine Lehre in Fleisch und Blut übergegangen, daß selbst jetzt kein Versuch unternommen wurde, den Tod des großen Seefahrers zu rächen. Am nächsten Tag lieferten die Eingeborenen seine Gebeine aus - sie hatten den Leichnam zerstückelt und verbrannt. Cooks sterbliche Reste wurden in der Bucht feierlich bestattet. Noch viele Jahre wurde Cook auf Hawaii als wieder­ geborener Gott verehrt. Nach den von Cook hinterlassenen Weisungen versuchte sein Nachfolger, Kapitän Clerke, nochmals die Nordwestpassage zu erzwingen. Die Schiffe segelten nach Kamtschatka und durch die Beringstraße ins Nördliche Eismeer. Wieder machte das Eis jedes weitere Vordringen unmöglich. Clerke starb bei der Heimreise auf Kamtschatka, und Leutnant King führte die Schiffe schließlich um das Kap der Guten Hoffnung nach England zurück, wo sie nach mehr als vierjähriger Abwesenheit eintrafen. ^ 5 7

James Cook wird für alle Zeiten unvergessen bleiben als der kühnste und fähigste aller britischen Seeleute. In der kurzen Zeit von zehn Jahren hat er mehr erforscht und kartographisch aufgenommen als je ein Mensch vor oder nach ihm. Er war der erste Leiter einer echten wissenschaftlidien Expedition und gilt audi heute noch als einer der größten Forsdier. Ein tragisdier Zufall wollte es, daß gerade er, der wie kein anderer versudit hat, in jedem ,Wilden‘ auch den Menschen zu sehen, unver­ schuldet von solchen Naturkindern erschlagen wurde.

ZUM N O R D PO L Die Geschichte der Entdeckungen im hohen Norden unserer Erde ist mehr als ein Bericht über die Vorstöße polwärts, der damit endet, daß Robert Edwin Peary schließlich den Pol erreicht hat. Seitdem Willem Barents in die Arktis gesegelt war, haben zahlreiche wagemutige Männer und, auch das muß gesagt werden, tollkühne Narren ihr Teil beigetragen zur Mehrung der Kenntnisse über das Nördliche Eismeer und seine von Eis und Schnee bedeckten Länder. Wissenschaft und Abenteuer reichen sich in dieser Geschichte die Hand. Wir wollen versuchen, eine Vorstellung vom Kampf dieser Männer gegen eine überaus feindselige Natur zu geben, indem wir wenigstens die bezeichnendsten und wichtigsten Kapitel aus der Entdeckungsgeschichte des hohen Nordens erzählen. Seitdem Menschen auf Grönland lebten, nutzten sie dankbar das von Wind und Wellen an die Küsten dieses baumlosen Landes geschwemmte Treibholz. Woher das Holz kam, danach fragten sie nicht. Erst sehr spät zerbrachen sich einige Wissenschaftler darüber den Kopf und kamen zu dem Schluß, daß dieses Holz zum großen Teil nur aus Sibirien kommen könne. Auf welchem Weg aber? Diese Frage steht im Zusammen­ hang mit einem der tragischsten Geschehen in der Geschichte der Polarforschung, das dann jedoch zur Voraussetzung für eine Forschungsreise wurde, die ein völlig neues Bild vom hohen Norden erbringen sollte. Die Tragödie begann damit, daß ein junger amerikanischer Marineoffizier, Kor­ vettenkapitän George Washington DeLong, dem New Yorker Zeitungsverleger Gordon Bennett seinen Plan vortrug, zum Nordpol vorzustoßen. Gordon Bennett war der Sohn und Nachfolger von James Gordon Bennett, dem Eigentümer und Chefredakteur des ,New York Herald', der 1871 Stanley losgeschickt hatte, um den im innersten Afrika verschollenen Livingstone zu suchen und zu finden. Wie sein Vater, so war auch Gordon Bennett nicht der Mann, der vor hohen Kosten zurückscheute, wenn es darum ging, sich für seine Zeitung eine Weltsensation sichern zu können. Er erklärte sich also bereit, DeLongs Expedition zu finanzieren. 2 5 8

Mit dem Balsa-Floß «Kon-Tiki» segelte Thor Heyerdahl von Peru nach Polynesien

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