Die Rezeption »westlicher« Verfassungsrechte in der Türkei: Die türkische Verfassung von 1961 [1 ed.] 9783428582129, 9783428182121

Seit den Reformperioden im Osmanischen Reich und noch stärker seit der Gründung der Republik Türkei war die Rezeption vo

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Die Rezeption »westlicher« Verfassungsrechte in der Türkei: Die türkische Verfassung von 1961 [1 ed.]
 9783428582129, 9783428182121

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Schriften zur Rechtsgeschichte Band 199

Die Rezeption „westlicher“ Verfassungsrechte in der Türkei Die türkische Verfassung von 1961

Von

Metin Batkin

Duncker & Humblot · Berlin

METIN BATKIN

Die Rezeption „westlicher“ Verfassungsrechte in der Türkei

Schriften zur Rechtsgeschichte Band 199

Die Rezeption „westlicher“ Verfassungsrechte in der Türkei Die türkische Verfassung von 1961

Von

Metin Batkin

Duncker & Humblot · Berlin

Der Fachbereich Rechtswissenschaft der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt am Main hat diese Arbeit im Jahre 2019 als Dissertation angenommen.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

D30 Alle Rechte vorbehalten © 2021 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Satz: L101 Mediengestaltung, Fürstenwalde Druck: CPI buchbücher.de gmbh, Birkach Printed in Germany ISSN 0720-7379 ISBN 978-3-428-18212-1 (Print) ISBN 978-3-428-58212-9 (E-Book) Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706

Internet: http://www.duncker-humblot.de

Meinen Eltern

Vorwort Die vorliegende Arbeit wurde im Wintersemester 2019/2020 vom Fachbereich Rechtswissenschaft der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt am Main als Dissertation angenommen. Mein besonderer Dank gilt zunächst meinem Doktorvater Herrn Professor em. Dr. Dr. h. c. Joachim Rückert, der die Entstehung der Arbeit mit vielen Anregungen und steter Gesprächsbereitschaft begleitet hat und bereits während des Studiums mein Interesse an der Rechtsgeschichte weckte und bestärkte. Danken möchte ich auch Herrn Professor Dr. Stefan Kadelbach für die Übernahme und die zügige Erstellung des Zweitgutachtens. Als Doktorand des ehemaligen Max-Planck-Instituts für europäische Rechtsgeschichte (heute Max-Planck-Institut für Rechtsgeschichte und Rechts­theorie) hatte ich im Rahmen der International Max Planck Research School for Comparative Legal History (IMPRS) das Privileg, in einen vielfältigen Austausch mit Rechtshistorikerinnen und Rechtshistorikern aus aller Welt treten zu können und in einer erstklassigen Forschungsumgebung arbeiten zu dürfen. Hierfür danke ich den damaligen IMPRS-Mitgliedern, sowohl dem Leitungsgremium als auch den Mit-Doktorandinnen und Mit-Doktoranden. Meiner Lebensgefährtin Nina Weymann danke ich sehr für ihre immerwährende Unterstützung sowie für ihre Rücksichtnahme und ihr Verständnis, insbesondere bei der Fertigstellung der Arbeit und der Disputation. Besonderer Dank gebührt zudem meiner Schwester Aylin Batkin, die mich während der Entstehung der Arbeit in jeder Hinsicht vorbehaltlos unterstützte. Meine Eltern Gülay und Aslan Batkin haben nicht nur zum Gelingen dieser Arbeit in vielfältiger Weise beigetragen, sondern meinen Werdegang durch ihre liebevolle Unterstützung erst ermöglicht. Ihnen sei diese Arbeit in Dankbarkeit gewidmet. Berlin, im Mai 2021

Metin Batkin

Inhaltsverzeichnis A. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11 B. Der Rezeptionsbegriff als Untersuchungsgrundlage . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16 C. Forschungsstand und Quellenlage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 23 D. Die Entstehung der Verfassung von 1961 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 27 I. Historischer Kontext: Autoritäre Zivilregierung, politische Unruhen und Militärintervention . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 27 II. Organisatorische Grundlagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 46 III. Der Kemalismus und seine Vorgaben für die Verfassung von 1961 . . . . . 51 1. Republikanismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 53 2. Laizismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 54 3. Nationalismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 54 4. Populismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 57 5. Etatismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 58 6. Revolutionismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 60 IV. Gründe für eine neue Verfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 61 1. Reaktion auf die autoritäre Zivilregierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 61 2. Neue Verfassungsentwicklungen im Ausland . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 63 3. Rechtliche Absicherung und Legitimation der Militärintervention . . . 65 V. Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 67 E. Die Verfassung von 1961 unter besonderer Berücksichtigung von Rezeptionsvorgängen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Begründung der Auswahl . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Staatsorganisation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Stellung und Befugnisse des Präsidenten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Gestaltung und Bedeutung des Parlaments . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Position und Rolle der Regierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Gründung des Verfassungsgerichts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Grundrechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Allgemeine Grundrechtsprinzipien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Freiheits- und Gleichheitsrechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Soziale und wirtschaftliche Grundrechte und -pflichten . . . . . . . . . . . . 4. Politische Grundrechte und -pflichten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

69 69 71 71 83 103 113 127 129 136 163 186 193

10 Inhaltsverzeichnis F. Legitimationen und Gründe für die Rezeption „westlicher“ Verfassungsrechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 201 I. Berufung auf Mustafa Kemal Atatürk und die kemalistische Bewegung . 201 II. Die Identität der Republik Türkei mit dem Osmanischen Reich und die Kontinuität der verfassungsrechtlichen Entwicklung  . . . . . . . . . . . . . . . . 207 III. Das besondere Verhältnis zum „Westen“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 223 1. Bedeutung des Wortes „Verwestlichung“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 224 2. Begriffliche Abgrenzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 229 3. Bestimmung des „Westens“ und die Frage der Zugehörigkeit . . . . . . . 233 IV. Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 242 G. Motive und Ursachen für die Wahl der italienischen Verfassung von 1947/1948 und des deutschen Grundgesetzes von 1949 als Hauptgegenstände der Rezeption . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Anspruch auf Modernität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Erfahrungen mit Diktaturen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Der Antikommunismus in der Türkei . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Die außenpolitische Situation des Kalten Krieges . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Die eigene antikommunistische Tradition . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Folgen für die Verfassungsentstehung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

243 243 246 249 249 251 253 260

H. Grenzen der Rezeption . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Der türkische Nationalismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Rolle des Islam und das Verhältnis zwischen Staat und Religion  . . . . . . III. Das Militär als politischer Faktor . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

262 263 271 291

I. Zusammenfassung, Bewertung und Ausblick  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 310 Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 317 Quellenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 325 Sachwortverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 329

A. Einleitung „Geographie ist Schicksal“1. Dieser Ausspruch ist in den türkischen Politik- und Geschichtswissenschaften weit verbreitet, aber auch allgemein in der türkischen Öffentlichkeit ein geflügeltes Wort. Er trifft nämlich auf die Türkei zu wie auf kaum ein anderes Land. Denn die Türkei liegt an der Schnittstelle verschiedener Kulturen, Religionen, Konfessionen, politischer Systeme, Handelswege und Energiekorridore. Sie befindet sich in Regionen bzw. grenzt an solche, die seit Jahrhunderten Schauplatz von Machtkämpfen mit teils globaler Bedeutung waren und es teilweise immer noch sind. Wechselseitige Einflüsse mit dem arabischen Raum, mit Persien, mit dem Kaukasus und Russland, dem Balkan sowie dem „westlichen“2 Europa prägen die türkische Geschichte bis heute. Doch darunter war und ist das türkische Verhältnis zum „Westen“ stets von besonderer historischer Bedeutung und zudem geprägt von einer besonders hohen Komplexität. Während der Anfangs- und Hochphase des Osmanischen Reiches war der „Westen“ Eroberungs- und Ausbreitungsgebiet, aber auch Handels- und Bündnispartner.3 Mit dem beginnenden Niedergang des Reiches ab dem späten 17. Jahrhundert entstanden die Notwendigkeit und das Bedürfnis nach einer Reform im osmanischen Staats- und Militärwesen sowie in der Rechtsordnung.4 Die daraus resultierende Reformperiode der Tanzimat5, die mit der Proklamation eines Reformedikts („Gülhane Hatt-ı Hümun“) im Jahre 1839 eingeläutet wurde, war der Beginn von Rezeption im Sinne einer Übernahme 1  Ursprünglich stammt dieser Ausdruck vom arabischen Historiker und Philo­ sophen Ibn Khaldun (1332–1406). 2  Die Bedeutung des „Westens“ in der Türkei und das türkische Verständnis und das türkische Bild vom „Westen“ sind essentiell für die Thesen und Schlussfolgerungen dieser vorliegenden Untersuchung. Daher werden die Worte „Westen“ und „westlich“ bewusst in Anführungszeichen gesetzt, um zu signalisieren, dass damit der Begriff vom „Westen“ gemeint ist, der in der Türkei der Jahre 1960/1961 vorherrschte bzw. vom türkischen Verfassungsgeber vertreten wurde. Hierauf wird im weiteren Verlauf der Arbeit noch besonders eingegangen. 3  Kreiser/Neumann, Geschichte der Türkei, S. 251–253; Majores/Rill, Das Osmanische Reich, S. 351; Matuz, Das Osmanische Reich, S. 85. 4  Rumpf, Rezeption und Verfassung, S. 4–5; Kreiser/Neumann, Geschichte der Türkei, S.  336 ff. 5  Tanzimat bedeutet wörtlich „Verordnungen“, jedoch lässt es sich sinngemäß auch als „Gesetzgebung“ oder „Rechtsvorschriften“ übersetzen, vgl. hierzu Kreiser/Neumann, Geschichte der Türkei, S. 336.

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A. Einleitung

„westlicher“ Rechtsnormen und Gesetze. Denn in dieser Periode gab es erste Schritte in Richtung einer Modernisierung des Rechts nach „westlichem“ Vorbild. Die Reformen führten aber nicht zu einer tiefgreifenden Säkularisierung der Rechtsordnung, da insbesondere die neuen Gesetze in der Regel nur neben die bis dahin vorhandenen Regelungen des islamisch geprägten Rechts traten und diese nicht ersetzten. Das Ergebnis war ein Dualismus zwischen weltlichem und religiösem Recht.6 Nach der Niederlage und dem Zusammenbruch des Osmanischen Reiches im Ersten Weltkrieg sammelte und organisierte Mustafa Kemal Atatürk die türkische Nationalbewegung, die erfolgreich im Türkischen Befreiungskrieg von 1919 bis 1922 die Zerstückelung des türkischen Kernlandes durch die Siegermächte des Ersten Weltkrieges verhinderte, die Besatzungsmächte aus dem Land vertrieb und die Unabhängigkeit der Türkei erkämpfte.7 Es folgte eine beispiellose Welle radikaler Reformen. Aufgrund der Geschwindigkeit und des Ausmaßes dieser Reformen sowie der Vehemenz ihrer Umsetzung wird in diesem Zusammenhang auch von der „Kemalistische[n] Revolution“8 bzw. „Türkische[n] Revolution“9 gesprochen. Mustafa Kemal Atatürk bezweckte dabei nichts weniger als den radikalen Bruch mit den traditionellen Staats- und Gesellschaftsstrukturen des Osmanischen Reiches, die Errichtung einer Republik nach „westlichem“ Vorbild und die „Verwestlichung“ von Staat und Gesellschaft.10 Ziel war die Gründung und Etablierung eines türkischen Nationalstaates, der nach einem Ausspruch Mustafa Kemal Atatürks den „Stand der zeitgenössischen Zivilisationen“ (türk.: „muasır medeniyetler seviyesi“) erreichen sollte. Daher wurde das Sultanat abgeschafft und am 29. Oktober 1923 die Republik ausgerufen. Im März 1924 wurde schließlich auch das Kalifat als die geistige Hälfte der Macht der osmanischen Dynastie und als Symbol der Theokratie abgeschafft. Zur „Türkischen Revolution“ gehörte insbesondere auch die Trennung von Staat und Religion im Sinne und zum Zwecke einer Säkularisierung von Staat und Gesellschaft. Zudem wurde die arabische Schrift durch die lateinische Schrift ersetzt, das Führen von Familiennamen wurde verpflichtend und der Sonntag wurde zum allgemeinen Ruhetag anstelle des Freitags. Schließlich ersetzte der Gregorianische 6  Rumpf, Rezeption und Verfassung, S. 5; Pritsch, Das Schweizerische Zivilgesetzbuch in der Türkei, in: Zeitschrift für vergleichende Rechtswissenschaft, Band 59, S. 135–136; Plagemann, Von Allahs Gesetz zur Modernisierung per Gesetz, S. 35. 7  Majores/Rill, Das Osmanische Reich, S. 365–368. 8  Pritsch, Das Schweizerische Zivilgesetzbuch in der Türkei, S. 138. 9  T. C. Temsilciler Meclisi, Genel gerekçeli Anayasa Komisyonu raporu, 09.03. 1961 (Begründung zum Entwurf der Verfassungskommission der Abgeordnetenversammlung vom 09.03.1961; im Folgenden: Begründung zum Entwurf der Verfassungskommission), S. 2. 10  Pritsch, Das Schweizerische Zivilgesetzbuch in der Türkei, S. 138.



A. Einleitung13

Kalender die islamische Zeitrechnung. Des Weiteren stellten die Kemalisten Frauen und Männer rechtlich gleich (einschließlich dem Scheidungsrecht für beide Ehepartner, dem gleichen Erbrecht für Frauen und Männer, dem aktiven Wahlrecht für Frauen im Jahre 1930 und dem passiven Wahlrecht im Jahre 1934 und damit früher als in Frankreich, Portugal oder der Schweiz).11 Von entscheidender Bedeutung und ein wesentlicher Programmpunkt der Kemalisten war der radikale Umbau des Bildungswesens. Die Kemalisten begründeten ein komplett neues säkulares Schulwesen und gestalteten das Universitätswesen umfassend neu, indem sie die alten Strukturen auflösten und neue Universitäten mit Hilfe ausländischer Professoren gründeten.12 Neben der Bildungspolitik war der Kernpunkt der „Türkischen Revolution“ die Säkularisierung und Modernisierung des Rechts. Der noch zu Zeiten des Osmanischen Reiches bestehende Dualismus zwischen weltlichem und religiösem Recht sowie die Unterscheidung zwischen muslimischen und nichtmuslimischen Untertanen wurde aufgehoben. Die Gesetze des Osmanischen Reiches wurden durch Rezeptionen „westlicher“ Gesetze ersetzt. Allen voran wurde 1926 das Schweizerische Zivilgesetzbuch von 1907 mitsamt den ersten beiden Abteilungen des Obligationenrechts von 1911 übernommen sowie das Italienische Strafgesetzbuch von 1889. Ein Jahr später trat die Zivilprozessordnung des Schweizer Kantons Neuenburg als neue Türkische Zivilprozessordnung in Kraft. Im Jahre 1929 wurde eine neue Strafprozessordnung erlassen, die eine Rezeption der Deutschen Strafprozessordnung darstellte. Auf diesem Wege erreichten die Kemalisten eine völlige Umgestaltung und Säkularisierung des Rechts in der Türkei.13 In der Geschichte der modernen Türkei war also die Rezeption von Recht die maßgebliche Methode zur Reform und Entwicklung des Rechts. Hieran knüpft das vorliegende Werk an. Die Untersuchung geht der Fragestellung nach, welche Normen, Prinzipien und Institutionen aus dem „Westen“ bei der Ausarbeitung der Verfassung von 1961 übernommen worden sind. Im Fokus stehen die Gründe und Motive für die Rezeption, genauso deren Legitimation und Begründung sowie Grenzen und Schranken. Dabei stellt die vorliegende Arbeit bewusst auf die Verfassung von 1961 als Untersuchungsgegenstand ab. Denn anders als Kodifikationen und Gesetzbücher des Zivilrechts und des Strafrechts bilden Verfassungen als Spitze der Normenhierarchie den rechtlichen und politischen Rahmen für den Staat und die Gesellschaft, auf dessen Grundlage das Zivilrecht und Strafrecht ihre entsprechende Anwendung finden. Verfassungen bestimmen die Regeln politi11  Rill,

Kemal Atatürk, S. 98–100. Exil und Bildungshilfe, S. 48–49. 13  Pritsch, Das Schweizerische Zivilgesetzbuch in der Türkei, S. 140–142; Rumpf, Rezeption und Verfassungsordnung, S. 20–21. 12  Widmann,

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A. Einleitung

scher Entscheidungs- und Machtprozesse. Indem Verfassungen die Bestellung, die Zusammensetzung und die Kompetenzen der Staatsorgane sowie deren Verhältnis zum Bürger bestimmen, sind sie entscheidend für die Organisation und die Ausübung von politischer Herrschaft und Macht.14 Verfassungen legen somit Grundstrukturen eines politischen Systems fest und formen die Institutionen des Staates.15 Daher spielt die Verfassungsgebung besonders in Zeiten von Revolutionen, Staatsstreichen und Staatsgründungen eine herausragende Rolle. Denn in diesen Fällen wird durch eine neue Verfassung auch versucht, eine neue Ordnung zu entwerfen und in der Folge diese zu bewahren. Die Verfassung soll im besten Fall die politische Ordnung und die politischen Entscheidungs- und Machtprozesse prägen und gestalten.16 Die Funktion einer Verfassung erschöpft sich aber nicht in der Gestaltung der politischen Prozesse und der politischen Organisation des Staates. Denn der Gehalt einer Verfassung besteht nicht nur in ihren unmittelbaren Normen und Regelungen, sondern er geht darüber hinaus. Eine Verfassung stellt nämlich auch einen „gesellschaftlichen Ordnungsentwurf“17 und einen „Orien­ tierungshorizont“18 für die Gesellschaft dar, indem sie Leitideen, Ziele und Prinzipien der sozialen und politischen Ordnung und des gesellschaftlichen Zusammenlebens formuliert.19 Als Folge dieser Funktion können Verfassungen auch das Selbstverständnis der Gesellschaft prägen und damit zur Bildung einer kollektiven Identität der Gesellschaft beitragen. Somit können Verfassungen integrativ und identitätsstiftend für Staat und Gesellschaft wirken. Daher ist eine Untersuchung der Rezeption auf dem Gebiet des Verfassungsrechts mitsamt der ihr zugrundeliegenden Motive und Beweggründe, Legitimationen und Grenzen besonders interessant und lohnenswert. Dabei hat das vorliegende Werk nicht alle Verfassungen der türkischen Republikgeschichte (Verfassung von 1921, Verfassung von 1924, Verfassung von 1961, Verfassung von 1982) zum Gegenstand, da eine entsprechende Analyse bezogen auf alle Verfassungen den Umfang dieser Arbeit sprengen würde. Die Untersuchung bezieht sich auf die Verfassung von 1961. Diese erscheint dem Verfasser als das interessanteste und vielversprechendste Untersuchungsobjekt für die vorliegenden Fragestellungen. Anders als die Verfassungen von 1921 und 1924 hatte die Verfassung von 1961 nicht bloß einen 14  Loewenstein,

Verfassungslehre, S. 127; Vorländer, Die Verfassung, S. 9–10. Die Verfassung, S. 17. 16  Loewenstein, Verfassungslehre, S. 127, 152; Vorländer, Die Verfassung, S. 9, 17. 17  Vorländer, Die Verfassung, S. 10. 18  Schulz, Verfassung und Nation, S. 28. 19  Schulz, Verfassung und Nation, S. 28; Vorländer, Die Verfassung, S. 10. 15  Vorländer,



A. Einleitung15

transitorischen Charakter, sondern sie war von den Verfassungsgebern bewusst als neue Grundlage der politischen Entscheidungs- und Machtprozesse und als neuer Ordnungsrahmen für Staat und Gesellschaft konzipiert worden. Die Verfassung von 1921 hingegen wurde während des Türkischen Befreiungskrieges verabschiedet und sollte in erster Linie den Kampf der Nationalbewegung unter Mustafa Kemal Atatürk legitimieren und die staatsorganisatorischen Probleme dieser Übergangszeit vom Sultanat zur Republik lösen. Sie bestand daher lediglich aus 24 Artikeln, beinhaltete weder Regelungen zur Judikative noch zu den Grundrechten und hob die bis dahin geltende osmanische Verfassung von 1876 nicht auf.20 Daher fehlte ihr der für Verfassungen typische umfassende Charakter. Denn es ist ein maßgebliches Strukturelement von Verfassungen, dass sie eine lückenlose und umfassende Regelung aller staatlichen Gewalt beinhalten.21 Die Verfassung von 1924 hingegen hatte zwar wie die Verfassung von 1961 einen umfassenden Charakter im vorgenannten Sinne, aber auch sie war das Ergebnis der Übergangsperiode, sodass auch sie Züge eines Provisoriums in sich trug.22 Weder sollte noch konnte sie durch Festlegung von Leitideen, Zielen und Prinzipien der sozialen und politischen Ordnung einen „gesellschaftlichen Ordnungsentwurf“23 oder einen „Orientierungshorizont“24 für die Gesellschaft darstellen. Vielmehr hatte die Verfassung von 1924 den Zweck, die rechtliche Grundlage und die Legitimation für die umfassenden Reformen der Kemalisten zu bilden, durch die erst ein neuer Ordnungsentwurf und ein neuer Orientierungshorizont geschaffen wurden.25 Die Verfassung von 1924 stellte also keinen Rahmen für den türkischen Staat und die Gesellschaft dar, sondern sollte die Entstehung und Entwicklung dieses Rahmens erst ermöglichen. Die Verfassung von 1961 hingegen war nicht nur von einem umfassenden Charakter und sollte nicht nur eine neue Grundlage für die politischen Prozesse und die politische Organisation des Staates sein, sondern sie war auch die erste türkische Verfassung nach der großen Verfassungswelle auf der Welt ab 1945. Gerade Letzteres macht die Verfassung von 1961 auch im Vergleich zur Verfassung von 1982 für die Untersuchung der Rezeption „westlicher“ Verfassungsrechte besonders interessant. 20  Bolland/Pritsch, Die türkische Verfassung vom 20. April 1924, S. 175, 206; Abadan, Die Entstehung der Türkei und ihre verfassungsrechtliche Entwicklung bis 1960, in: JöR, Band 9, S. 364; Gözübüyük, Açıklamalı Türk anayasaları (Die türkischen Verfassungen mit Erläuterungen), S. 42. 21  Unruh, Der Verfassungsbegriff des Grundgesetzes, S. 9, 12, 86. 22  Abadan, Die türkische Verfassung von 1961, in: JöR, Band 13, S. 326. 23  Vorländer, Die Verfassung, S. 10. 24  Schulz, Verfassung und Nation, S. 28. 25  Abadan, Die türkische Verfassung von 1961, S. 326; Rumpf, Rezeption und Verfassungsordnung, S. 16.

B. Der Rezeptionsbegriff als Untersuchungsgrundlage Rezeption bedeutet Aufnahme oder Übernahme fremden Gedanken- oder Kulturguts26. Somit beschreibt die Rezeption keine bestimmte Sache und keinen festgelegten Zustand, sondern einen Prozess, einen Vorgang.27 Dieser Vorgang der Rezeption erschöpft sich dabei nicht in dem Akt der Annahme einer Norm oder eines Gesetzes durch den Gesetzgeber des rezipierenden Landes28, sondern ist ein umfassender und vielschichtiger Prozess.29 Die erste Phase dieses Prozesses stellt das Erkennen von fremden Rechtsnormen als grundsätzlich der Rezeption zugängliche Gedanken- und Kulturgüter dar. Dabei ist die in diesem Zusammenhang mitunter vertretene Auffassung, wonach nur schriftlich fixiertes Recht rezipierbar sei30, nicht haltbar. Rechtsnormen können rezipiert werden, sofern sie identifizierbar und erkennbar, mithin formulierbar sind.31 Sie müssen aber nicht zwingend bereits als Gesetzestexte schriftlich vorliegen. Auch wenn beispielsweise die Rezeption von Recht aus einem common law-System aufgrund dessen unübersichtlicher Prägung durch unzählige richterliche Entscheidungen besonders kompliziert ist, so ist sie dennoch möglich. Der deutsche Rechtswissenschaftler Ernst Eduard Hirsch, der lange Jahre in der Türkei gelebt hat, hat dies auch praktisch belegt, indem er auf das türkische Handelsgesetzbuch von 1957 verweist, das Regelungen zum Seehandelsrecht enthält, die die „Quintessenz von Entscheidungen anglo-amerikanischer Gerichte darstellen“32. Auf die Phase des Erkennens folgt die Phase des Beurteilens der fremden Rechtsnormen in Form einer wertenden Auslese. In dieser Phase beurteilt der Rezipient, ob und in welcher Form die Annahme bestimmter fremder Rechts26  Duden, http://www.duden.de/rechtschreibung/Rezeption, zuletzt aufgerufen am 08.08.2017. 27  Hirsch, Rezeption als sozialer Prozess, S. 13–14; Plagemann, Von Allahs Gesetz zur Modernisierung per Gesetz, S. 36; Rumpf, Rezeption und Verfassungsordnung, S. 2. 28  So aber Pritsch, Das Schweizerische Zivilgesetzbuch in der Türkei, S. 129 f. 29  Plagemann, Von Allahs Gesetz zur Modernisierung per Gesetz, S. 37; Rumpf, Rezeption und Verfassungsordnung, S. 2. 30  So Pritsch, Das Schweizerische Zivilgesetzbuch in der Türkei, S. 129 f. 31  Hirsch, Rezeption als sozialer Prozess, S. 15–16; Rumpf, Rezeption und Verfassungsordnung, S. 3. 32  Hirsch, Rezeption als sozialer Prozess, S. 16.



B. Der Rezeptionsbegriff als Untersuchungsgrundlage17

normen für die Erfüllung der von ihm verfolgten rechtspolitischen Zwecke und für die Befriedigung der Bedürfnisse des eigenen Landes geeignet ist. In der darauffolgenden Phase der Annahme setzen die Organe des rezipierenden Landes die ausgewählten fremden Rechtsnormen in der Regel durch die Verabschiedung von entsprechenden Gesetzen formal in Kraft. Der Phase der Annahme folgt die Integration in die Rechtsordnung und Rechtswirklichkeit des rezipierenden Landes, die „zumindest den in ständiger Praxis verfolgten Ansatz zur Umsetzung“33 verlangt.34 Ein darüberhinausgehender bestimmter Erfolg der Übertragung von Recht ist jedoch nicht Bestandteil des Rezep­ tionsbegriffs. Dies ergibt sich bereits aus dem Umstand, dass der Erfolg einen bestimmten Zustand beschreibt, während die Rezeption einen prozessualen Vorgang darstellt.35 Zudem kann man nicht nur dann von einem Erfolg der Rezeption ausgehen, wenn das rezipierte Recht derart verinnerlicht wurde, dass es in seiner ursprünglichen Form der neue maßgebliche Bestandteil der Rechtsordnung des rezipierenden Landes geworden ist. Vielmehr kann eine Rezeption auch und vor allem dann erfolgreich sein, wenn durch sie im Vergleich sowohl zum bisherigen einheimischen Recht als auch zum rezipierten Recht neues Recht entsteht. Dies kann entweder durch bewusste Änderung des rezipierten Rechts während des Rezeptionsprozesses entstehen und/oder durch eine Vermischung des rezipierten Rechts mit dem einheimischen Recht im Zuge der Rezeption oder später im praktischen Alltag.36 Man muss sich also von der eurozentrischen Sichtweise lösen, wonach eine Rezeption nur erfolgreich ist, wenn das rezipierte („westliche“) Recht das bisherige einheimische Recht verdrängt und an dessen Stelle neuer prägender Teil der Rechtsordnung wird, die die gesellschaftlichen Verhältnisse tatsächlich regelt. Denn maßgeblich sind die Absichten und Pläne des Rezipienten und der von ihm verfolgte Zweck. Erfolgreich ist die Rezeption also dann, wenn der Rezipient seine mit der Rezeption verfolgten Ziele und Zwecke erreicht. Wenn also die im Osmanischen Reich während der Tanzimat-Periode rezipierten „westlichen“ Rechte das bis dahin geltende islamische Recht nicht verdrängten, sondern neben dieses traten und somit zu einem neuen Dualismus zwischen den Rechtssystemen führten, dann ist das nicht per se ein Misserfolg der Rezeption. Denn die osmanischen Machthaber und Eliten während der TanzimatPeriode hatten gar nicht die Absicht, dass die rezipierten „westlichen“ Rechte 33  Rumpf,

Rezeption und Verfassungsordnung, S. 3. Von Allahs Gesetz zur Modernisierung per Gesetz, S. 37–38; Rumpf, Rezeption und Verfassungsordnung, S. 2–3. 35  Plagemann, Von Allahs Gesetz zur Modernisierung per Gesetz, S. 38; Rumpf, Rezeption und Verfassungsordnung, S. 3. 36  So ähnlich auch Plagemann, Von Allahs Gesetz zur Modernisierung per Gesetz, S. 38. 34  Plagemann,

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B. Der Rezeptionsbegriff als Untersuchungsgrundlage

den praktischen Alltag des islamischen Staatswesens und des islamischen Teils der Gesellschaft prägen und das islamische Recht verdrängen. Vielmehr sollte die Rezeption nur insoweit erfolgen und das rezipierte Recht sollte nur insoweit praktische Anwendung finden, wie es notwendig ist, um den Anschluss des Osmanischen Reiches an den technischen bzw. militärischen Stand des „Westens“ zu ermöglichen und um Forderungen aus Europa und Russland soweit entgegenzukommen, dass diesen kein Vorwand für weitere Expansionen in osmanisches Territorium entsteht.37 Auch insofern empfiehlt es sich daher, den Erfolg einer Rezeption vom Rezeptionsbegriff grundsätzlich zu trennen. Aus der bisherigen begrifflichen Erklärung ergibt sich ferner, dass der Rezeption ein voluntatives Element innewohnt. Mit anderen Worten liegt eine Rezeption nur vor, wenn „ein Volk aufgrund eigenen Entschlusses fremde Gesetze als Bestandteile seines eigenen Rechts übernimmt.“38 Daher ist Voraussetzung einer Rezeption, dass die politischen bzw. zur Rechtsetzung befugten Organe des rezipierenden Landes sich der Rezeption bewusst sind und die maßgeblichen Akteure bei der Durchführung der Rezeption darstellen. Die Entscheidung für die Übernahme des fremden Rechts muss daher den Akteuren des rezipierenden Landes zugerechnet werden können. Die Entscheidung für die Rezeption muss also im Ermessen der Akteure des rezipierenden Landes liegen und jene müssen diese Entscheidung in eigener Hoheit willentlich getroffen haben.39 Hierbei kann sich das rezipierende Land der Unterstützung externer Berater und der Hilfe aus dem Ausland bedienen, sofern die inländischen Organe die maßgeblichen Akteure bleiben. Maßgeblich für die Rezeption ist letztlich, dass die Akteure des rezipierenden Landes im Hinblick auf die Übernahme des fremden Rechts die Letztentscheidungskompetenz und die Kompetenzkompetenz innehaben.40 Folglich handelt es sich nicht um eine Rezeption, wenn eine Besatzungs- oder Kolonialmacht in den von ihr besetzten oder kolonialisierten Gebieten ihre eigenen Gesetze in Geltung setzt und damit diese den dortigen Völkern auf­ oktroyiert. Vielmehr liegt im Falle eines solchen Hineintragens von Recht in ein Land von außen durch Besatzer oder Kolonialmächte eine „Expansion“ vor.41 37  Sürek, Die Verfassungsbestrebungen der Tanzimat-Periode, S. 62, 140–141; Velidedeoğlu, Die Rezeption in der Türkei und in Europa, S. 384–385. 38  Pritsch, Das Schweizerische Zivilgesetzbuch in der Türkei, S. 128. 39  Plagemann, Von Allahs Gesetz zur Modernisierung per Gesetz, S. 41; Rumpf, Rezeption und Verfassungsordnung, S. 2. 40  Plagemann, Von Allahs Gesetz zur Modernisierung per Gesetz, S.  42–43; Rumpf, Rezeption und Verfassungsordnung, S. 2. 41  Rumpf, Rezeption und Verfassungsordnung, S. 2; Pritsch, Das Schweizerische Zivilgesetzbuch in der Türkei, S. 127.



B. Der Rezeptionsbegriff als Untersuchungsgrundlage19

Außerdem gilt es zwischen der Vollrezeption bzw. totalen Rezeption auf der einen Seite und der selektiven Rezeption auf der anderen Seite zu unterscheiden. Die Übernahme fremden Rechts kann in Form einer Vollrezeption (auch totale Rezeption genannt) erfolgen. Dies bedeutet, dass ein Gesetzbuch bzw. eine Kodifikation im Ganzen übersetzt und übernommen wird. Ein fremdes, ausländisches Gesetzbuch wird dabei von den zuständigen Organen des rezipierenden Landes in übersetzter Form en bloc angenommen und als neues Gesetzbuch des rezipierenden Landes verabschiedet.42 Als Beispiele für eine Vollrezeption seien die bereits erwähnten Rezeptionen des Schweizerischen Zivilgesetzbuches von 1907 mitsamt den ersten beiden Abteilungen des Obligationenrechts von 1911 und der Zivilprozessordnung des Schweizer Kantons Neuenburg durch die Türkei genannt.43 Neben der Vollrezeption kann die Übernahme fremden Rechts auch in Form einer selektiven Rezeption44 erfolgen. Selektiv bedeutet „auf Auswahl, Auslese beruhend; auswählend“45. Bei der selektiven Rezeption wird nicht ein fremdes Gesetz en bloc übersetzt und als neues eigenes Gesetz verabschiedet, sondern es werden im Rahmen der Ausarbeitung eines neuen Gesetzes einzelne Normen, Vorschriften und Rechtsinstitute aus einem fremden Gesetz oder aus mehreren verschiedenen fremden Gesetzen ausgesucht und übernommen.46 Die maßgeblichen Akteure der Rezeption nehmen aus einem bestimmten Kreis von fremden Gesetzen eine Auslese der Normen und Rechtsinstitute vor, die sie als gelungen und für ihre Zwecke passend erachten, und übernehmen diese in ihre eigene Rechtsordnung. Im Gegensatz zur Vollrezeption, die regelmäßig mit einem radikalen Bruch mit der vorherigen Rechtslage und den bisherigen Rechtsanschauungen einhergeht, können die Rezipienten bei der Rechtsetzung im Rahmen einer selektiven Rezeption Bestandteile aus fremden Gesetzen übernehmen und zusätzlich auch das bisher geltende inländische Recht miteinbeziehen.47 Bei der selektiven Rezep42  Pritsch,

Das Schweizerische Zivilgesetzbuch in der Türkei, S. 131. auch Plagemann, Von Allahs Gesetz zur Modernisierung per Gesetz, S. 40. 44  Pritsch, Das Schweizerische Zivilgesetzbuch in der Türkei, S. 131, spricht in diesem Zusammenhang von „eklektischer Rezeption“. Das Wort „eklektisch“ hat jedoch nicht nur die Bedeutung „aus bereits Vorhandenem auswählend, aus Verschiedenem ausgewählt“, sondern beinhaltet auch eine negative, abwertende Konnotation im Sinne von „nur Ideen, Stilelemente anderer verwendend; unschöpferisch“ (Duden, http://www.duden.de/rechtschreibung/eklektisch#Bedeutung1b, zuletzt aufgerufen am 26.07.2017). Um solche Konnotationen zu vermeiden, zieht es daher der Verfasser vor, anstatt von „eklektischer Rezeption“ von „selektiver Rezeption“ zu sprechen. 45  Duden, http://www.duden.de/rechtschreibung/selektiv, zuletzt aufgerufen am 26.7.2017. 46  Pritsch, Das Schweizerische Zivilgesetzbuch in der Türkei, S. 131. 47  Pritsch, Das Schweizerische Zivilgesetzbuch in der Türkei, S. 131. 43  So

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B. Der Rezeptionsbegriff als Untersuchungsgrundlage

tion sind die maßgeblichen Akteure somit flexibler im Hinblick auf Umfang und Ausgestaltung der Übernahme fremden Rechts. Das Ergebnis der selektiven Rezeption ist also nicht die Übersetzung und darauffolgende Übernahme eines fremden Gesetzes en bloc, sondern die Entstehung eines neuen Gesetzes, dass aus Normen und Vorschriften besteht, die aus verschiedenen fremden Gesetzen und eventuell auch aus dem bisher geltenden inländischen Recht stammen können. Für die Forschung bietet die selektive Rezeption interessante Anknüpfungspunkte, insbesondere in Bezug auf die Ausleseprozesse, deren Ausgestaltung und die dahinterliegenden Gründe. An dieser Stelle zeigt sich auch die vorherrschende Methode der Rezeption von Recht, nämlich die Rechtsvergleichung. Denn die Ausleseprozesse im Rahmen der Rezeption verlangen denklogisch den Vergleich verschiedener Gesetze und Rechtstexte. Daher umfasst die Rezeption von Recht stets auch die Rechtsvergleichung. Die Rechtsvergleichung ist die „natürliche Methode der Rezeption nationalen Rechts“48. Im Bereich des Verfassungsrechts stellt sich die Rezeption stets als eine selektive Rezeption dar. Denn die Besonderheiten einer Verfassung, die sie insbesondere von den Gesetzbüchern des Zivilrechts und des Strafrechts unterscheiden, schließen eine Vollrezeption grundsätzlich aus. Eine Vollrezeption einer Verfassung im Sinne einer Übersetzung und Übernahme einer fremden Verfassung en bloc hat es nach Kenntnisstand des Verfassers daher auch noch nie gegeben. Denn wie bereits erörtert, ist eine Verfassung, anders als ein Zivilgesetzbuch oder ein Strafgesetzbuch, nicht nur die Kodifikation der Rechtsnormen für den von ihr umfassten Rechtsbereich, also vorliegend in erster Linie für das Staatsorganisationsrecht und für die Grundrechte. Vielmehr stellt sie auch einen „gesellschaftlichen Ordnungsentwurf“49 dar und verkörpert regelmäßig auch Leitideen, Ziele und Prinzipien für die soziale und politische Ordnung.50 Verfassungen sind sowohl Ausdruck als auch Ausgangspunkt der kollektiven Identität einer Gesellschaft und prägen das Selbstverständnis von Staat und Gesellschaft. Daher kann Rezeption im Bereich des Verfassungsrechts folgerichtig nur in Form einer selektiven Rezeption erfolgen, um den notwendigen Raum für die jeweilige kollektive Identität und das jeweilige Selbstverständnis einer Gesellschaft zu erhalten. Die Kritik am Rezeptionsbegriff, wonach die Rezeptionsvorstellung als Forschungsgrundlage ein veraltetes, passives Bild der Entgegennahme ohne eigenes Zutun vermittle und die lokalen Bedingungen der Übertragung von Recht sowie die daraus resultierenden Prozesse der Verarbeitung und Ableh48  Plagemann,

Von Allahs Gesetz zur Modernisierung per Gesetz, S. 39. Die Verfassung, S. 10. 50  Schulz, Verfassung und Nation, S. 28; Vorländer, Die Verfassung, S. 10. 49  Vorländer,



B. Der Rezeptionsbegriff als Untersuchungsgrundlage21

nung von Recht vernachlässige51, teilt der Verfasser nicht. Es ist zwar richtig, dass die Rechtsgeschichtswissenschaft „heute nicht mehr eine vom Zentrum Europa ausgehende Diffusions- und Wirkungsgeschichte schreiben und die Welt aus vom europäischen Denken geformten Kategorien zu begreifen versuchen [kann].“52 Vielmehr muss bei der Rekonstruktion von Aneignungsprozessen der Schwerpunkt nicht auf Normen, sondern auf die lokalen Bedingungen der Reproduktionsprozesse und die konkreten Umstände der Übertragung von Recht gelegt werden. Hierzu ist es aber weder notwendig, noch hinreichend, auf den Begriff der Rezeption zu verzichten bzw. diesen zu ersetzen. Dies gilt umso mehr, als dass die vorgeschlagenen Alternativen, wie (Rechts-)Transfer, Adaption, Transplantation, (Cultural) Translation, Mischung oder Kreuzung53 keineswegs eine bessere Betrachtungsweise garantieren oder per se eine bessere Untersuchungsgrundlage liefern. Im Gegenteil geht eine neue Semantik stets mit neuen Konnotationen und Abgrenzungsproblemen einher, die zu Missverständnissen und Verwirrung führen und daher mit einem erhöhten Klärungsbedarf einhergehen können. Insbesondere der Begriff (Rechts-)Transfer erscheint nicht als adäquater Ersatz für den Rezeptionsbegriff. Denn der Begriff (Rechts-)Transfer ist im Vergleich zur Rezeption umfassender, damit unschärfer und weniger klar. Transfer bedeutet nämlich „Übermittlung, Weitergabe, Überführung“54. Während es sich bereits aus der Definition und der begrifflichen Bedeutung des Wortes Rezeption ergibt, dass die Organe des rezipierenden Landes die maßgeblichen Akteure der Rechtsübertragung sein müssen, lässt sich dies für den Begriff des (Rechts-)Transfers nicht behaupten. Denn der Transfer als Begriff trifft keine Aussage darüber, von wem das Transportgut, hier das Recht, transferiert wird. Dies bedeutet, dass der Transfer von Recht sowohl von den Akteuren des Landes, aus dem das Recht stammt, als auch von den Akteuren des Landes, in das das Recht transferiert wird, vorgenommen werden kann. Zudem fehlt dem Transferbegriff im Gegensatz zur Rezeption das voluntative Element. Die Abgrenzung zwischen Rezeption und Expansion lässt sich deshalb nicht ohne Weiteres auf den Begriff des Transfers übertragen. Vielmehr kann Transfer sowohl Rezeption als auch Expansion sein. Man könnte die Rezep51  Duve, Von der Europäischen Rechtsgeschichte zu einer Rechtsgeschichte Europas in globalhistorischer Perspektive, in: RG 20, S. 53; Sürek, Die Verfassungsbestrebungen der Tanzimat-Periode, S. 8, 10. 52  Duve, Von der Europäischen Rechtsgeschichte zu einer Rechtsgeschichte Europas, S. 21. 53  Duve, Von der Europäischen Rechtsgeschichte zu einer Rechtsgeschichte Europas, S.  53 ff.; Sürek, Die Verfassungsbestrebungen der Tanzimat-Periode, S. 9; Stolleis, Transfer normativer Ordnungen – Baumaterial für junge Nationalstaaten, in: RG 20, S.  75 m. w. N. 54  Duden, http://www.duden.de/rechtschreibung/Transfer, zuletzt aufgerufen am 07.08.2017.

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B. Der Rezeptionsbegriff als Untersuchungsgrundlage

tion also als eine bestimmte Form des (Rechts-)Transfers ansehen.55 Aber als adäquate Semantik und Untersuchungsgrundlage taugt der Begriff des (Rechts-)Transfers für das vorliegende Werk nicht. Schließlich muss berücksichtigt werden, dass die Wahl der Semantik und die damit einhergehende Untersuchungsmethode kein Selbstzweck sind. Die dazugehörige Diskussion darf daher auch nicht um ihrer selbst willen geführt werden. Die Semantik soll lediglich als Ausgangspunkt und Grundlage für die Analyse und das Verständnis des Untersuchungsgegenstandes dienen. Entscheidend für eine umfassende Analyse und das richtige Verständnis sind aber vielmehr die Art und Weise der Auseinandersetzung mit den Quellen und die Konzentration der Analyse auf den Rezipienten, auf dessen Beweggründe, Ziele, Vorstellungen und das kulturelle Umfeld. Denn nur so kann man sich vom eurozentrischen Weltbild und einer orientalistischen Betrachtungsweise der Übertragung von Recht lösen. Hierfür ist die Wahl der Semantik als solche gar nicht in erster Linie von Bedeutung, da diese höchstens traditierte Denkmuster stören kann, aber keineswegs per se die richtige Sicht auf die Geschichte vermittelt.56 Und gerade die bisherige Darstellung der Diskussion um den Rezeptionsbegriff und dessen Definition belegen, dass eine eurozentrische und orientalistische Betrachtungsweise keinesfalls dem Begriff der Rezeption inhärent ist. Im Gegenteil zeigt insbesondere die Abgrenzung der Rezeption von der Expansion, dass der Ausgangspunkt für die Rezeption der Wille und die Vorstellungen des Rezipienten sind. Ferner zeigt die bereits dargelegte Auseinandersetzung mit der selektiven Rezeption, dass Rezeption keineswegs ein passives Bild der Entgegennahme vermitteln muss, sondern die aktiven Prozesse seitens des Rezipienten im Hinblick auf Suche, Auswahl, Auslese und schließlich Übernahme von Recht in den Mittelpunkt stellen kann.

55  Plagemann,

Von Allahs Gesetz zur Modernisierung per Gesetz, S. 45. Von Allahs Gesetz zur Modernisierung per Gesetz, S. 45–46; Stolleis, Transfer normativer Ordnungen, S. 75–76. 56  Plagemann,

C. Forschungsstand und Quellenlage In der türkischen Literatur und Forschung gibt es selbstverständlich eine Fülle von Werken zum türkischen Verfassungsrecht und zur türkischen Verfassungsgeschichte im Allgemeinen57 sowie zur türkischen Verfassung von 1961 und ihrer Entstehung im Speziellen.58 Dabei sind die Werke, die nicht nur einen historischen Überblick über die türkische Verfassungsentwicklung geben bzw. sich nicht nur mit dem türkischen Verfassungsrecht allgemein beschäftigen, sondern sich speziell auf die Verfassung von 1961 beziehen, zumeist aus den 1960er und 1970er Jahren. Ab den 1980er Jahren nimmt die Anzahl der Arbeiten, die sich explizit mit der Verfassung von 1961 beschäftigen, merklich ab. Dies ist insofern nicht verwunderlich, da die Verfassung von 1961 mit dem Militärputsch 1980 und der Verabschiedung der Verfassung von 1982 ihre Geltung verloren hat. Dies hat dazu geführt, dass sich das Interesse der Wissenschaft und Forschung tendenziell in Richtung der neuen Verfassung von 1982 verschoben hat. Nach Kenntnis des Verfassers gibt es aber weder aus den 1960er und 1970er Jahren noch aus der Zeit danach in der türkischen Literatur ein Werk, das die Rezeption „westlicher“ Verfassungsrechte bzw. die Vorbildfunktion bestimmter „westlicher“ Verfassungen bei der Entstehung der türkischen Verfassung von 1961 zum Hauptgegenstand hat bzw. diese ausführlich untersucht und darlegt. In verschiedenen Arbeiten wird zwar auch auf dieses Thema eingegangen, indem darauf verwiesen wird, dass bei der Entstehung der türkischen Verfassung von 1961 verschiedene Verfassungen „westlicher“ Staaten als Vorbilder fungierten bzw. 57  U. a. Erdoğan, Türkiye’de Anayasalar ve Siyaset (Verfassungen und Politik in der Türkei); Gözler, Türk Anayasa hukuku (Türkisches Verfassungsrecht); Gözübüyük, Açıklamalı Türk anayasaları. 1876, 1921, 1924, 1961, 1982 (Die türkischen Verfassungen mit Erläuterungen. 1876, 1921, 1924, 1961, 1982); Tanör, Osmanlı  – Türk anayasal gelişmeleri (Die osmanisch-türkischen Verfassungsentwicklungen); Özbudun, Anayasa hukuku (Verfassungsrecht); Abadan/Savci, Türkiye’de Anayasa gelişmelerine bir bakış (Ein Blick auf die Verfassungsentwicklungen in der Türkei). 58  U. a. Aldıkaçtı, Anayasa hukukumuzun gelişmesi ve 1961 anayasası (Die Entwicklung unseres Verfassungsrechts und die Verfassung von 1961); Kili (Hrsg.), 27  Mayıs 1960 devrimi, Kurucu Meclis ve 1961 anayasası (Die Revolution vom 27. Mai 1960, die konstituierende Versammlung und die Verfassung von 1961); Soysal, Haklar ve özgürlükler bakımından 1961 anayasasının evrensel anlamı (Die universelle Bedeutung der Verfassung von 1961 aus der Sicht der Rechte und Freiheiten), in: Ankara Üniversitesi Siyasal Bilgiler Fakültesi Dergisi (Zeitschrift der Fakultät für Politische Wissenschaften der Universität Ankara), Band 24, S. 91–94.

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C. Forschungsstand und Quellenlage

den türkischen Verfassungsgebern als Arbeitsgrundlage und Vorlage dienten.59 Jedoch wird diese Thematik in diesen Arbeiten nicht weiter ausgeführt oder näher untersucht und begründet. Erst recht fehlt es bislang an einer Analyse der Motive und Beweggründe, Legitimationen und Grenzen der Rezeption. Nichtsdestotrotz kann die umfangreiche rechtliche, historische und politische Literatur zum türkischen Verfassungsrecht als Grundlage für die weitergehende Untersuchung der Rezeption „westlicher“ Verfassungsrechte herangezogen werden. Entsprechendes gilt auch für die westeuropäische, namentlich deutschsprachige, englischsprachige und französischsprachige Literatur. Dabei kommt in Westeuropa der deutschsprachigen Forschung über das türkische Recht qualitativ und quantitativ eine herausragende Position zu. Diese Stellung hat insbesondere zwei Gründe. Zum einen liegt dies sicher an der hohen Zahl an türkischstämmigen deutschen Juristen, die als Enkelgeneration der sogenannten Gastarbeiter, die ab 1961 in die Bundesrepublik Deutschland einwanderten, verstärkt die Rechtslage in der Türkei und die türkische Rechtsgeschichte als Forschungsgegenstand entdecken. Zum anderen sind es vor allem die älteren deutschsprachigen Werke aus der Feder von deutschen Professoren oder ihrer türkischen Schüler. Denn in der Zeit des Nationalsozialismus war die Türkei ein Zufluchtsort für eine hohe Zahl von deutschen Wissenschaftlern aus allen Fachgebieten mitsamt ihren Familien und auch ihren Mitarbeitern.60 Diese Wissenschaftler waren federführend am Aufbau eines neuen Universitätssystems in der Türkei beteiligt. Die Juristen unter diesen wirkten bei der Etablierung eines neuen Rechtsystems nach „westlichem“ Vorbild maßgeblich mit. Namentlich erwähnt seien hier Andreas Bertalan Schwarz und Ernst Eduard Hirsch. Letzterer hatte maßgeblichen Anteil an der Abfassung des türkischen Handelsgesetzbuches und des türkischen Urheberrechtsgesetzes.61 Nach 1945 kehrten die meisten Wissenschaftler zurück nach Deutschland oder emigrierten in andere Staaten wie die USA, einige verbrachten den Rest ihres Lebens in der Türkei. Allen gemein war, dass sie auch nach 1945 weiterhin ein besonderes Interesse an der Türkei und ihrer Entwicklung hatten, was sich in ihren weiteren Forschungsarbeiten widerspiegelt. Gerade in diesem Rahmen, aber auch darüber hinaus, ist auch die Verfassung von 1961 Gegenstand deutschsprachiger Forschung gewe59  Gözler, Türk Anayasa hukuku (Türkisches Verfassungsrecht), S. 83; Tanör, Osmanlı – Türk anayasal gelişmeleri (Die osmanisch-türkischen Verfassungsentwicklungen), S. 374; Aksoy, Başörtüsü – Türban. Batılılaşma – Modernleşme, Laiklik ve Örtünme (Das Kopftuch – der Turban. Verwestlichung – Modernisierung, Laizismus und die Verhüllung), S. 231. 60  Widmann, Exil und Bildungshilfe, S. 53 ff., 161 ff., 168 ff., 254 ff. 61  Widmann, Exil und Bildungshilfe, S. 116 ff.



C. Forschungsstand und Quellenlage25

sen.62 Aber auch in diesen Arbeiten liegt der Schwerpunkt nicht auf der Rezeption „westlicher“ Verfassungsrechte und den dazugehörigen Fragen und Umständen. Vielmehr wird regelmäßig die Verfassung von 1961 ihrem Aufbau nach wiedergegeben und ihr Inhalt erörtert. Häufig wird zudem der historische und politische Kontext dargelegt. In manchen Werken wird, ähnlich wie in entsprechenden türkischen Arbeiten, von Einflüssen „westlicher“ Verfassungen (insbesondere des deutschen Grundgesetzes, der italienischen Verfassung und der französischen Verfassung) auf die türkische Verfassung von 1961 bzw. von der Rezeption entsprechender Verfassungsrechte gesprochen, ohne dies jedoch durch entsprechende Quellenuntersuchungen zu verifizieren und näher zu analysieren.63 Daneben gibt es jedoch sehr wohl Untersuchungen und entsprechende deutschsprachige Werke und Schriften, die sich mit der Frage der Rezeption „westlicher“ Rechte in der Türkei beschäftigen. Diese beziehen sich aber auf den Bereich des Zivilrechts und damit auf die Rezeption des Schweizerischen ZGB und des Schweizerischen Obligationenrechts in der Türkei im Jahre 1926.64 Im Bereich des Verfassungsrechts und insbesondere bezogen auf die Verfassung von 1961 fehlt es aber an einer entsprechenden, durch Quellennachweise begründeten und tiefgehenden Untersuchung und Analyse. Diese Lücke soll durch die vorliegende Arbeit geschlossen werden. Dabei stützt sich diese Arbeit auf die türkische Verfassung von 1961, auf die Vorgängerverfassung von 1924 sowie die Verfassungen westeuropäischer Staaten in den jeweiligen Fassungen von 1960/1961, die Gegenstand der Rezeption durch den türkischen Verfassungsgeber waren oder zumindest während der Beratungen zur Verfassung zur Diskussion standen. Zu diesen westeuropäischen Verfassungen gehören in erster Linie das deutsche Grundgesetz von 1949 und die italienische Verfassung von 1947/1948. Des Weiteren wurden auch die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte, die Euro­ päische Menschenrechtskonvention und die Europäische Sozialcharta (jeweils in der 1960/1961 geltenden Fassung) als Rezeptionsgegenstände untersucht. 62  U. a. Hirsch, Die Verfassung der Türkischen Republik; Abadan, Die türkische Verfassung von 1961, S. 325– 436; Plagemann, Von Allahs Gesetz zur Modernisierung per Gesetz, S. 173 ff. 63  Rumpf, Rezeption und Verfassungsordnung: Beispiel Türkei, URL: www. tuerkei-recht.de/Rezeption.pdf, zuletzt aufgerufen am 06.07.2017; Rumpf, Die ‚Europäisierung‘ der türkischen Verfassung, in: Scholler/Tellenbach (Hrsg.), Westliches Recht in der Republik Türkei 70 Jahre nach der Gründung, S. 51–84. 64  Bandak, Die Rezeption des schweizerischen Zivilgesetzbuches in der Türkei; Hirsch, Rezeption als sozialer Prozess – erläutert am Beispiel der Türkei; Gürzumar, Die Rezeption des westlichen Rechts in der Türkei vor 1926. Ein hinkender Versuch der Modernisierung durch das Recht, in: Kieser/Meier/Stoffel (Hrsg.), Revolution islamischen Rechts. Das Schweizerische ZGB in der Türkei, S. 35–47.

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C. Forschungsstand und Quellenlage

Die in der Arbeit wiedergegebenen deutschen Übersetzungen dieser Verfassungs- bzw. Rechtstexte stammen aus den im Quellenverzeichnis aufgeführten Quellen; bei den türkischen Verfassungstexten wurden diese zum Teil durch eigene Übersetzungen des Verfassers geändert. Um die Hintergründe der Rezeption, insbesondere die Beweggründe und Motive sowie Begründungen und Legitimationen erfassen und darlegen zu können und schließlich auch die Grenzen der Rezeption zu erkennen, untersuchte der Verfasser die Quellen, die die Entstehungsgeschichte der Verfassung von 1961 wiedergeben. Hierzu gehören die Protokolle der im Zuge der Verfassungsentstehung gebildeten Abgeordnetenversammlung (türk.: „Temsilciler Meclisi“) und des Komitees für nationale Einheit (türk.: „Milli Birlik Komitesi“), die die beiden Kammern der konstituierenden, d. h. verfassungsgebenden Versammlung (türk.: „Kurucu Meclis“) bildeten. Zudem analysierte der Verfasser den Verfassungsentwurf der von der Abgeordnetenversammlung gewählten Verfassungskommission mitsamt deren Begründung. Diese Begründung und die bereits genannten Protokolle der Abgeordnetenversammlung sind die mit Abstand wichtigsten Quellen für die vorliegende Arbeit, da die Abgeordnetenversammlung und die Verfassungskommission die Hauptakteure und der Mittelpunkt der Diskussionen bei der Entstehung der Verfassung gewesen sind. Die in der Arbeit wiedergegebenen deutschen Zitate aus diesen Primärquellen stellen Übersetzungen des Verfassers dar (soweit nicht anders angegeben); das Gleiche gilt für Zitate aus der türkischsprachigen Literatur. Wann immer es für ein umfassendes Verständnis der Verfassungsarbeiten notwendig war, bezog der Verfasser ergänzend die Regelungen der Verfassungsentwürfe der Juristischen Fakultät der Universität ­Istanbul und der Fakultät für Politische Wissenschaften der Universität Ankara, die von der Verfassungskommission als Studien- und Hilfstexte benutzt wurden, mit in die Untersuchung ein.

D. Die Entstehung der Verfassung von 1961 I. Historischer Kontext: Autoritäre Zivilregierung, politische Unruhen und Militärintervention Der historische Kontext ist entscheidend für das richtige und umfassende Verständnis der Verfassung von 1961. Denn eine Verfassung entsteht niemals in einem luftleeren Raum, sondern ist das Ergebnis der politischen und gesellschaftlichen Umstände ihrer Zeit. Dies gilt für die Verfassung der Repu­ blik Türkei von 1961 in besonderem Maße, da sie in Folge eines Regierungssturzes während einer Militärherrschaft bewusst als Reaktion auf die vorangegangene Zeit ausgearbeitet wurde. Die „Türkische Revolution“ der 1920er und 1930er Jahre erfolgte unter der Einparteienherrschaft der Republikanischen Volkspartei (CHP). Zwar war diese Partei zu keiner Zeit politisch ein vollkommen homogener Block. Es gab innerhalb der Partei verschiedene Flügel und Gruppierungen und selbst Mustafa Kemal Atatürk musste für die eine oder andere Reform beziehungsweise Gesetzesvorlage mühsam Mehrheiten organisieren. Jedoch existierten weder im noch außerhalb des Parlaments Oppositionsparteien. Zwar gab es zwei Anläufe, diese zuzulassen und aufzubauen, jedoch wurden beide Versuche nach kurzer Zeit abgebrochen. 1924 gründeten unter der Führung von ehemaligen Waffenbrüdern Mustafa Kemal Atatürks im Befreiungskrieg 29 Abgeordnete die Fortschrittliche Republikanische Partei (TCP). 1930 gründete Ali Fethi Okyar mit wohlwollender Unterstützung Mustafa Kemal Atatürks die Freie Republikanische Partei (SCF). Beides waren Experimente, eine weitere Partei neben der Republikanischen Volkspartei (CHP) zu eta­ blieren und sie in einen politischen Wettstreit mit dieser treten zu lassen. Beide Parteien fanden das gleiche Ende. Nach kurzer Zeit sammelten sich die traditionalistischen Kräfte um diese Parteien, die die Grundlagen der neuen Ordnung nicht akzeptieren wollten. Insbesondere die Elemente der Republik und des Laizismus schienen für die Kemalisten durch Forderungen nach einer Rückkehr zur Monarchie und zur islamischen Ordnung gefährdet.65 Die Folge war, dass nach nicht ganz sieben Monaten die Fortschritt­ 65  Eser/Baltacı/Arslan, Türk Siyasal Sisteminde 1960 Müdahalesi ve Vesayetin Kurumsallaşması Üzerine Bir Analiz Denemesi (Ein Analyseversuch über die Intervention von 1960 im türkischen Politiksystem und die Institutionalisierung der Bevormundung), in: Süleyman Demirel Üniversitesi Fen Edebiyat Fakültesi Sosyal Bi-

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D. Die Entstehung der Verfassung von 1961

liche Republikanische Partei (TCP) verboten wurde. Die Freie Republikanische Partei (SCF) löste ihr Gründer Fethi Okyar selbst wieder auf.66 Bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges blieb es bei einer autoritären Einparteienherrschaft, weil die Kemalisten die Zeit als noch nicht reif ansahen, um in ein demokratisches Mehrparteiensystem überzugehen. Nach dem Zweiten Weltkrieg änderte sich dies. Die CHP-Regierung läutete eine Phase der partiellen Demokratisierung ein, die schließlich in den freien und fairen Wahlen vom 14. Mai 1950 gipfelten. Von besonderer Bedeutung war die Erlaubnis zur freien Gründung politischer Parteien, die das Entstehen der Demokratischen Partei (DP) im Jahre 1946 ermöglichte.67 Im Zuge der Politik der Demokratisierung erhielten die Universitäten eine weitreichende Autonomie, den Studenten und Arbeitern wurde das Vereinigungsbeziehungsweise Koalitionsrecht gewährt und gewisse Schranken der Pressefreiheit wurden abgebaut.68 Zusammen mit der neuen Opposition arbeitete das Parlament ein neues Wahlgesetz aus, das die Grundsätze der Wahlen als frei, gleich, geheim und unmittelbar statuierte, alle Phasen der Wahlen der richterlichen Überprüfung und Überwachung unterstellte und allen Parteien den Zugang zum Rundfunk ermöglichte.69 Für diesen Politikwechsel der Republikanischen Volkspartei (CHP) gab es mehrere Gründe. Erstens war der Übergang zu einem Mehrparteiensystem ein programmatisches und ideologisches Anliegen der Kemalisten. Mit der Politik der „Verwestlichung“ ging auch die Verwirklichung eines parlamentarischen Mehrparteiensystems einher. Die ersten Versuche in den 1920er und 1930er Jahren beweisen dieses Anliegen. Sie wurden aus den Reihen der Republikanischen Volkspartei (CHP) nicht nur geduldet, sondern anfangs auch gefördert. Zweitens traten nach 1945 wirtschaftliche und soziale Probleme zutage, die zu Streitigkeiten in der Republikanischen Volkspartei (CHP) und zu steigender Unzufriedenheit in der Bevölkerung führten, auch wenn es zu dieser Zeit noch keine

limler Dergisi (Zeitschrift für Sozialwissenschaften der Literaturwissenschaftlichen Fakultät der Süleyman Demirel Universität), Band 25, S. 73; Şahinler, Kemalismus, S. 78. 66  Eser/Baltacı/Arslan, Türk Siyasal Sisteminde 1960 Müdahalesi Üzerine Bir Analiz Denemesi (Ein Analyseversuch über die Intervention von 1960 im türkischen Politiksystem), S. 73. 67  Bulut, 27 Mayıs 1960’tan Günümüze Paylaşılamayan Demokrat Parti Mirası (Das beanspruchte Erbe der Demokratischen Partei vom 27. Mai 1960 bis heute), in: Süleyman Demirel Üniversitesi Fen Edebiyat Fakültesi Sosyal Bilimler Dergisi (Zeitschrift für Sozialwissenschaften der Literaturwissenschaftlichen Fakultät der Süleyman Demirel Universität), Band 19, S. 74. 68  Bulut, Demokrat Parti Mirası (Das Erbe der Demokratischen Partei), S. 75. 69  Çavdar, Türkiye’nin Demokrasi Tarihi. 1950’den Günümüze (Die Demokratiegeschichte der Türkei. Von 1950 bis heute), S. 14–15.



I. Historischer Kontext29

Massenproteste oder Unruhen gab.70 Der Übergang zum Mehrparteiensystem sollte diese Stimmung kanalisieren, ein Abdriften in extreme Bewegungen verhindern und die Fundamente des Staates schützen. Drittens begünstigte, um nicht zu sagen forderte auch der außenpolitische Rahmen und der internationale Kontext des Kalten Krieges diese Politik. Die Bedrohung durch die Sowjetunion und die ideologisch-programmatische Auseinandersetzung mit dem Kommunismus zwangen die Türkei dazu, Farbe zu bekennen und sich dem Bündnis des „Westens“ anzuschließen, dessen Hauptmerkmal neben der freien Marktwirtschaft ein parlamentarisches Mehrparteiensystem (oder zumindest Zweiparteiensystem) war.71 Ihre Zugehörigkeit zum Block des „Westens“ konnte die Türkei nicht besser zeigen als durch die freien Parlamentswahlen vom 14. Mai 1950. Mit einem für alle Beobachter überraschenden Erdrutschsieg gewann die erst vor vier Jahren gegründete Demokratische Partei (DP) diese Wahl mit 52,67 % der Stimmen, während die Republikanische Volkspartei (CHP) auf 39,45 % kam. Daraufhin übergab die Wahlverliererin die Regierungsmacht an die Demokratische Partei (DP) und ermöglichte einen friedlichen Machtwechsel. Eine Partei, die 27 Jahre lang alleine und ohne Konkurrenz regierte, hielt nun ohne unmittelbaren Zwang von sich aus freie Wahlen ab und beugte sich anschließend dem Resultat. Sie stand nach den verlorenen Wahlen ohne Widerstand und ohne Gewalt von den Regierungsbänken auf und setzte sich auf die Oppositionsbänke. Dies gilt zu Recht als ein Meilenstein in der Geschichte der türkischen Demokratie.72 Die neue Regierungspartei war keine Gründung außerhalb des bisherigen politischen Systems und Establishments. Die Gründer der Demokratischen Partei (DP) waren keine politischen Neulinge. Die vier Gründungsväter Adnan Menderes, Celâl Bayar, Refik Koraltan und Mehmet Fuat Köprülü waren vorher CHP-Abgeordnete. Celâl Bayar fungierte in der Regierung Mustafa Kemal Atatürks als Minister. Von 1937–1939 war er unter der Präsidentschaft Ismet Inönüs, des zweiten Mannes im Staat nach Mustafa Kemal Atatürk, sogar Ministerpräsident. Fast die gesamte DP-Führungsriege war vorher in der CHP aktiv und zwar nicht nur als einfache Mitglieder, sondern an bedeu-

70  Bulut,

Demokrat Parti Mirası (Das Erbe der Demokratischen Partei), S. 74. Türk Siyasal Sisteminde 1960 Müdahalesi Üzerine Bir Analiz Denemesi (Ein Analyseversuch über die Intervention von 1960 im türkischen Politiksystem), S. 74. 72  Toynbee, Die Welt und der Westen, S. 34; Kalaycıoğlu, 27 Mayıs 1960 ihtilaline giden yol (Der Weg zur Revolution vom 27.  Mai 1960), in: Kili (Hrsg.), 27 Mayıs 1960 devrimi, Kurucu Meclis ve 1961 anayasası (Die Revolution vom 27. Mai 1960, die konstituierende Versammlung und die Verfassung von 1961), S. 35. 71  Eser/Baltacı/Arslan,

30

D. Die Entstehung der Verfassung von 1961

tenden Stellen in Partei, Regierung und Parlament.73 Die Demokratische Partei (DP) wurde innerhalb des Parlamentes von Abgeordneten gegründet, die wegen ihrer Gegnerschaft zur Politik der Republikanischen Volkspartei (CHP) aus der Partei ausgeschlossen wurden oder selbst ausgetreten waren. Das Erscheinen der Demokratischen Partei (DP) auf der politischen Bühne ist daher nicht nur als politische Neugründung, sondern primär als eine Abspaltung von der Republikanischen Volkspartei (CHP) zu begreifen, weswegen die Haltung der neuen Partei zu Fragen der politischen Grundordnung zunächst ähnlich der der bisherigen Staatspartei schien. Dies nährte anfangs die Hoffnung auf ein etabliertes, stabiles Mehrparteiensystem, in der die Parteien zu einem Konsens bezüglich der staatlichen und gesellschaftlichen Grundlagen gelangen, darauf aufbauend als Konkurrenten in einen politischen Wettstreit um die Gunst der Wähler eintreten und sich nicht als zu bekämpfende Feinde betrachten. Noch bevor sie ihr Programm und ihre Grundausrichtung konkret formulieren konnte, entwickelte sich die neue Partei jedoch alsbald zum Sammelbecken verschiedenster Kräfte, deren verbindendes Merkmal nur die Tatsache war, dass sie in Opposition zur Republikanischen Volkspartei (CHP) standen und nun durch die Demokratische Partei (DP) Einfluss auf die Politik des Landes nehmen wollten.74 Rasch kristallisierte sich eine Frontstellung heraus, deren Grundzüge bis in die Zeit der „Zweiten Konstitution“ im Osmanischen Reich ab 1909 zurückreichen und bereits dort die politischen Lager bestimmten. Auf der einen Seite standen die islamisch-konservativen Kreise, die wirtschaftspolitisch liberal und gesellschaftspolitisch religiös-traditionalistisch waren. Sie hatten großen Rückhalt in den religiösen Orden und Stiftungen und waren mitunter mit diesen auch organisatorisch verwachsen. Sie definierten sich weniger über die Nation und vielmehr über die Religion, sodass sie eine dezentrale Staatsstruktur vertreten konnten.75 Die Einpar­ teienherrschaft der Republikanischen Volkspartei (CHP) zwischen 1923 und 1946 schloss diese Kreise zum großen Teil von der politischen Macht aus, da diese der Verwestlichungspolitik und dem Laizismus ablehnend gegenüberstanden. Gemäßigte Elemente dieser Gruppen waren jedoch auch in der Republikanischen Volkspartei (CHP) vertreten und in diese eingebunden. Ab 1946 avancierte die Demokratische Partei (DP) zur Vertreterin dieses politischen Lagers. 73  Bulut, Demokrat Parti Mirası (Das Erbe der Demokratischen Partei) S. 74; Kalaycıoğlu, 27 Mayıs 1960 ihtilaline giden yol (Der Weg zur Revolution vom 27. Mai 1960), S. 36. 74  Bulut, Demokrat Parti Mirası (Das Erbe der Demokratischen Partei), S. 75. 75  Kalaycıoğlu, 27 Mayıs 1960 ihtilaline giden yol (Der Weg zur Revolution vom 27. Mai 1960), S. 36.



I. Historischer Kontext31

Auf der anderen Seite dieser politischen Frontlinie stand die Republikanische Volkspartei (CHP) für die kemalistischen Kreise, die wirtschaftspolitisch sozialdemokratisch bis etatistisch und staats- sowie gesellschaftspolitisch ­laizistisch-„westlich“ waren. Sie legten großen Wert auf die Nationalstaatlichkeit und definierten sich nicht religiös, sondern national. Dabei prägten sie den türkischen Nationalstaat stark zentralistisch.76 Soziologisch gesprochen repräsentierte die Republikanische Volkspartei (CHP) in den 1950ern die großstädtisch geprägten Schichten, die Bürokratie und die Armee, mithin die politischen und kulturellen Zentren, während die Demokratische Partei (DP) für die Peripherie, die Provinzen, die ländlichen und kleinstädtischen Schichten stand.77 In dieser Konstellation fehlten die verbindenden politischen und ideologischen Prinzipien. Der bereits angesprochene gemeinsame Konsens bezüglich der staatlichen und gesellschaftlichen Grundlagen, auf denen dann die politische Auseinandersetzung hätte stattfinden können, war kaum vorhanden. Während die Kemalisten die laizistische Republik als absolutes Wesensmerkmal des Staates begriffen und in ihren Namen aufnahmen (Republikanische Volkspartei (CHP)), sprach Adnan Menderes 1954 als Ministerpräsident vor der Fraktion seiner Partei die Worte, die ihm später zum Verhängnis wurden: „Wenn ihr es möchtet, könnt ihr das Kalifat wieder einführen“. Auch wenn damit keine konkrete Forderung nach der Abschaffung der Republik einherging, war dies eine Provokation erster Güte, da das Kalifat ein Symbol der Theokratie war und die geistige Hälfte der Macht des osmanischen Sultans beschrieb. Die Folge dieser Konstellation war ein Mangel an gegenseitigem Respekt und an notwendiger Toleranz und die Betrachtung des politischen Gegners als Feind der als gut und einzig richtig angesehenen eigenen Auffassung von Staat und Gesellschaft.78 Auch wenn es im Laufe der Jahrzehnte große soziale Veränderungen gab, die sich auch auf die politischen Lager auswirkten und eine Typisierung der Anhängerschaft erschweren (beispielsweise die fortschreitende Verstädterung mit der Folge, dass in der Türkei des Jahres 2019 ein Urbanisierungsgrad von 75,63 % vorlag), prägt diese Frontlinie mit kleinen Abweichungen bis heute das Bild vom politischen Spektrum in der Türkei. Hierzu trägt außerdem bei, dass auch eine gesellschaftlich-kulturelle Linie die politischen ­Lager trennt, die sich im Alltag der einzelnen Bürger und in der konkreten Lebenswirklichkeit zeigt. Auf der einen Seite stehen die konservativen, religiösen Bevölkerungsgruppen, für die der traditionelle Islam eine der bedeu76  Kalaycıoğlu, 27 Mayıs 1960 ihtilaline giden yol (Der Weg zur Revolution vom 27. Mai 1960), S. 37. 77  Kalaycıoğlu, 27 Mayıs 1960 ihtilaline giden yol (Der Weg zur Revolution vom 27. Mai 1960), S. 36–37. 78  Kalaycıoğlu, 27 Mayıs 1960 ihtilaline giden yol (Der Weg zur Revolution vom 27. Mai 1960), S. 39–40.

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tendsten und identitätsstiftenden Elemente ihres Lebens ist. Auf der anderen Seite stehen die Teile der Bevölkerung, die einen „westlichen“ Lebensstil pflegen, die säkulare Staatsordnung als sehr wichtig erachten und sich über die Nation definieren. Die zur schematischen Einteilung in diese Lager oft verwendeten Symbole sind dabei das Kopftuch und der Alkohol. Denn aus der Haltung einer Person zur Frage des Kopftuchs und des Konsums von Alkohol lassen sich regelmäßig Rückschlüsse auf ihre parteipolitische Gesinnung ziehen. Die neue DP-Regierung unter Adnan Menderes setzte auf diese Lagerbildung und verfolgte eine populistische Politik, indem sie insbesondere durch Nutzung, um nicht zu sagen Ausnutzung der Religion, religiöser Überzeugungen und Lebensstile den Graben noch vertiefte und das Land polarisierte. Dabei konnte sie im Bereich der Wirtschaft in den ersten Jahren ihrer Regierungszeit Erfolge verbuchen und den gesellschaftlichen Wohlstand merklich steigern.79 Dies hatte seine Gründe in der Erholung der Weltwirtschaft nach dem Zweiten Weltkrieg, die die Export- und Importmöglichkeiten vergrößerte. Zudem kam auch die Türkei in den Genuss der US-amerikanischen Wirtschaftsförderung im Rahmen des Marshall-Plans.80 Des Weiteren verfolgte die DP-Regierung eine liberale Wirtschaftspolitik, die die Tätigkeit von privaten Unternehmen ermöglichte und förderte, was dazu führte, dass in der Türkei zum ersten Mal große Industrieunternehmen entstanden. Diese Politik ging jedoch einher mit einer großen staatlichen und privaten Verschuldung. Dies rächte sich ab der Mitte der 1950er Jahre mit einem wirtschaftlichen Einbruch, der sich durch eine hohe Inflation und eine steigende Arbeitslosigkeit bemerkbar machte. Bei den Parlamentswahlen von 1954 war jedoch von dieser Krise noch nicht viel zu spüren, sodass sich die Demokratische Partei (DP) im Vorfeld der Wahlen im Lichte des wachsenden Wohlstandes sonnte und ihr Ergebnis von 1950 um fast vier Prozentpunkte auf 56,64 % der Stimmen steigern konnte.81 Die polarisierende Politik ging einher mit einem autoritären Regierungshandeln, das sich im Laufe der zehn Regierungsjahre der Demokratischen Partei (DP) von 1950 bis 1960 immer weiter steigerte und die politischen Errungenschaften, die die Türkei seit 1946 im Rahmen des Übergangsprozesses von der Einparteienherrschaft zum Mehrparteiensystem erlangt hatte, 79  Çavdar, Türkiye’nin Demokrasi Tarihi. 1950’den Günümüze (Die Demokratiegeschichte der Türkei. Von 1950 bis heute), S. 46; Eser/Baltacı/Arslan, Türk Siyasal Sisteminde 1960 Müdahalesi Üzerine Bir Analiz Denemesi (Ein Analyseversuch über die Intervention von 1960 im türkischen Politiksystem), S. 75. 80  Çavdar, Türkiye’nin Demokrasi Tarihi. 1950’den Günümüze (Die Demokratiegeschichte der Türkei. Von 1950 bis heute), S. 46. 81  Çavdar, Türkiye’nin Demokrasi Tarihi. 1950’den Günümüze (Die Demokratiegeschichte der Türkei. Von 1950 bis heute), S. 48.



I. Historischer Kontext33

zum großen Teil rückgängig machte. Denn die neue Regierung beschloss, dass der Rundfunk, der in Vorbereitung des Mehrparteiensystems allen Parteien zur Verfügung gestellt wurde, für diese wieder zu sperren. Nur staat­ liche Organe und Institutionen hatten noch Zugang zum Rundfunk. In der Praxis bedeutete dies, dass nur die DP-Regierung den Rundfunk als Hauptmassenmedium dieser Zeit nutzen konnte und dies auch ausgiebig zu Propagandazwecken tat. Die Autonomie, die die Universitäten genossen, schränkte sie wieder massiv ein und versuchte, auf Lehre und Forschung Einfluss zu nehmen und insbesondere die studentischen Organisationen, in denen sie eine Gefahr für ihre Macht sah, zu kontrollieren und zu beschränken.82 Nach dem Wahlsieg 1954 sah sich die Demokratische Partei (DP) stark genug, sich der Justiz und der Verwaltung zu bemächtigen. Die Regierung ließ reihenweise Richter, Staatsanwälte und sonstige Staatsbeamte in den Ruhestand versetzen und besetzte die Positionen mit Parteimitgliedern, die der Regierung genehm und hörig waren.83 Das Wahlrecht, welches als Mehrheitswahlrecht bereits vorher der größten Partei Vorteile verschaffte, wurde nochmals in diese Richtung verändert. Wahlbezirke, die nicht die Regierungspartei unterstützten, bestrafte diese auf verschiedenen Wegen. Prominentes Beispiel ist der Status der Provinz Kırşehir nach den Wahlen von 1954. Der Vorsitzende der oppositionellen Republikanisch-nationalen Partei (CMP), Osman Bölükbaş, hatte hier seinen Wahlbezirk und gewann diesen auch. Die Folge war, dass die Regierung diese Provinz zu einem Landkreis degradierte und sie der Nachbarprovinz Nevşehir anschloss. Erst im Zuge des Wahlkampfes von 1957 erhielt das Gebiet seinen Provinzstatus zurück. Ähnlich erging es der Provinz Malatya, die die DP-Regierung nach dem Wahlsieg Ismet Inönüs als Vorsitzender der Republikanischen Volkspartei (CHP) in zwei Hälften teilte.84 Nicht nur in Wahlkämpfen, sondern auch innerhalb der Legislatur­ perioden behinderten und unterdrückten die Sicherheitsbehörden massiv die Tätigkeiten der Oppositionsparteien, allen voran die der Republikanischen Volkspartei (CHP), sodass von einem offenen und fairen Politikbetrieb nicht mehr die Rede sein konnte. Diese Handlungen, gepaart mit den wirtschaft­ lichen Problemen, führten ab 1954 zu Unruhen im ganzen Land, vor allem jedoch in den Großstädten, insbesondere ausgehend von Schülern und Studenten. Das Feld, auf dem die immer autoritärer werdende Haltung der Demokratischen Partei (DP) besonders zum Vorschein kam, war der Umgang mit der 82  Eser/Baltacı/Arslan, Türk Siyasal Sisteminde 1960 Müdahalesi Üzerine Bir Analiz Denemesi (Ein Analyseversuch über die Intervention von 1960 im türkischen Politiksystem), S. 77. 83  Bulut, Demokrat Parti Mirası (Das Erbe der Demokratischen Partei), S. 77. 84  Çavdar, Türkiye’nin Demokrasi Tarihi. 1950’den Günümüze (Die Demokratiegeschichte der Türkei. Von 1950 bis heute), S. 63.

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Presse und der Pressefreiheit. Dabei hatten weite Teile der Presse die Demokratische Partei (DP) seit ihrer Gründung 1946 unterstützt und einen entscheidenden Anteil an deren Wahlsieg 1950 gehabt. Viele namhafte Zeitungen mit Ausnahme der Ulus und der Halkçı, die Parteiorgane der Republikanischen Volkspartei (CHP) waren, setzten sich im Vorfeld der Parlamentswahlen 1950 teilweise unterschwellig, teilweise offen und deutlich für eine Regierungsübernahme durch die Demokratische Partei (DP) ein.85 Sie erhofften sich von einer neuen Regierung insbesondere größere Presse- und Meinungsfreiheit. Zwar hatte die Republikanische Volkspartei (CHP) seit 1946 im Zuge der Vorbereitungen für den Übergang zum Mehrparteiensystem ihre bis dahin sehr restriktive Politik im Bereich der Pressefreiheit wie bereits angesprochen aufgegeben und die Einschränkungen dieser Freiheit zum Teil abgebaut. Beispielsweise änderte sie im Juni 1946 das Pressegesetz dahingehend, dass nicht mehr die Regierung, sondern nur noch unabhängige Gerichte Zeitungen und Zeitschriften verbieten konnten.86 Mit solchen Schritten schuf die Republikanische Volkspartei (CHP) überhaupt erst eine Atmosphäre des freien politischen Wettbewerbs, in der sich Zeitungen und Zeitschriften auch für einen Wahlsieg der damaligen Opposition einsetzen konnten. Viele Journalisten, Reporter und Herausgeber trauten 1950 jedoch am ehesten der Demokratischen Partei (DP) zu, noch umfassender und schneller die Schranken der Pressefreiheit abzubauen. Ein Regierungswechsel erschien zudem nach über einem Vierteljahrhundert CHP-Herrschaft als besonders attraktiv. Die Einparteienherrschaft hatte viele oppositionelle Bewegungen heraufbeschworen, die die Zeit reif für einen Wechsel sahen, für einen frischen Wind in der Politik.87 Hinzu kam die noch vom Zweiten Weltkrieg bedingte wirtschaftliche Krise. Auch wenn die Türkei in den Zweiten Weltkrieg nicht unmittelbar involviert war, traf der Krieg die Wirtschaft des Landes hart. Die stark gestiegenen Militärausgaben und die Generalmobilmachung auf 1,5 Millionen Soldaten als Dauerzustand, um gegen einen befürchteten Angriff Deutschlands gewappnet zu sein, lähmten den Staatshaushalt und die Wirtschaft. Die politische Quittung hierfür erhielt die bishe85  Emre Kaya, Demokrat Parti döneminde basın-iktidar ilişkileri (Die Beziehungen zwischen der Presse und den Machthabern während der Phase der Demokratischen Partei), in: Istanbul Üniversitesi Iletişim Fakültesi Hakemli Dergisi (Zeitschrift der Fakultät für Kommunikationswissenschaften der Universität Istanbul), Band 39, S. 94; Yıldız, Demokrat Parti iktidarı (1950–1960) ve basın (Die Herrschaft der Demokratischen Partei (1950–1960) und die Presse), in: Ankara Üniversitesi Siyasal Bilgiler Fakültesi Dergisi (Zeitschrift der Fakultät für Politische Wissenschaften der Universität Ankara), Band 51, S. 483, 485, 486. 86  Yıldız, Demokrat Parti iktidarı (1950–1960) ve basın (Die Herrschaft der Demokratischen Partei (1950–1960) und die Presse), S. 483. 87  Yıldız, Demokrat Parti iktidarı (1950–1960) ve basın (Die Herrschaft der Demokratischen Partei (1950–1960) und die Presse), S. 483, 485.



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rige Regierungspartei 1950 von den Wählern und im Vorfeld bereits von der Presse.88 In der Tat verabschiedete die neue DP-Regierung von Adnan Menderes am 15. Juli 1950 ein liberaleres Pressegesetz, das auf die vorangegangenen Reformen der Republikanischen Volkspartei (CHP) aufbaute. Durch dieses Gesetz entfiel unter anderem die strafrechtliche Verantwortung der Herausgeber für den Inhalt von Artikeln, die Journalisten und Berichterstatter für ihre Zeitungen schrieben. Zudem bedurfte es für das Erscheinen einer neuen Zeitung keiner staatlichen Einwilligung mehr, es reichte eine einfache Anmeldung.89 Jedoch begann die Demokratische Partei (DP) noch im Jahr der Regierungsübernahme die neu gewonnene Macht dahingehend zu nutzen, ­ besonders regierungsfreundliche und ihr nahestehende Zeitungen finanziell zu unterstützen und regierungskritische Medien wirtschaftlich unter Druck zu setzen. Dies geschah durch die Vergabe von günstigen Krediten und der Verkauf von staatlichen Grundstücken zu günstigen Preisen an Unternehmen und Personen, denen regierungsnahe Zeitungen gehörten. Auch tätigte das Regierungskabinett illegale, verdeckte Zahlungen aus dem Staatshaushalt an diese Kreise.90 Des Weiteren änderte sie auch die Vergabeverfahren für die Schaltung von staatlichen Anzeigen, die in den 1950er Jahren eine wichtige Einnahmequelle für türkische Zeitungen bildeten. Nur noch regierungsfreundliche Zeitungen kamen in den Genuss dieser Anzeigen und den damit verbundenen Einnahmen.91 Außerdem benutzte die Regierung das staatliche Papiermonopol als Mittel zur Bestrafung beziehungsweise Belohnung von Zeitungen und Zeitschriften. Regierungskritischen Presseerzeugnissen wurde das überlebenswichtige Papier, das staatliche Papierfabriken herstellten, immer wieder gekürzt und vorenthalten, während der Regierung genehme Zeitungen nahezu uneingeschränkten Zugang zum Papier hatten.92 Diese Maßnahmen der Regierung und ihre allgemein autoritäre Regierungsweise, darunter insbesondere ihr Umgang mit Universitäten und studen88  Eser/Baltacı/Arslan, Türk Siyasal Sisteminde 1960 Müdahalesi Üzerine Bir Analiz Denemesi (Ein Analyseversuch über die Intervention von 1960 im türkischen Politiksystem), S. 74; Kalaycıoğlu, 27 Mayıs 1960 ihtilaline giden yol (Der Weg zur Revolution vom 27. Mai 1960), S. 37. 89  Yıldız, Demokrat Parti iktidarı (1950–1960) ve basın (Die Herrschaft der Demokratischen Partei (1950–1960) und die Presse), S. 487. 90  Yıldız, Demokrat Parti iktidarı (1950–1960) ve basın (Die Herrschaft der Demokratischen Partei (1950–1960) und die Presse), S. 488, 499. 91  Emre Kaya, Basın-iktidar ilişkileri (Die Beziehungen zwischen der Presse und den Machthabern), S. 99; Yıldız, Demokrat Parti iktidarı (1950–1960) ve basın (Die Herrschaft der Demokratischen Partei (1950–1960) und die Presse), S. 496. 92  Emre Kaya, Basın-iktidar ilişkileri (Die Beziehungen zwischen der Presse und den Machthabern), S. 99, 104, 105.

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tischen Protesten, gepaart mit den neu aufkommenden wirtschaftlichen und sozialen Fragen (allen voran Urbanisierung und Bevölkerungswachstum), auf die die Demokratische Partei (DP) keine adäquaten Antworten zu haben schien, führten dazu, dass viele Zeitungen und Zeitschriften die Regierungspartei immer stärker kritisierten und sich größtenteils ganz von ihr abwendeten. Das Ansehen der Republikanischen Volkspartei (CHP) in der Presse stieg ab der Mitte der 1950er Jahre erkennbar deutlich wieder an.93 Die Regierung reagierte darauf mit immer stärkeren Eingriffen in die Pressefreiheit, die sich in der zweiten Hälfte der 1950er Jahre zu einer brutalen Unterdrückung steigerten. Hierfür ließ das Kabinett während seiner Regierungszeit von der Parlamentsmehrheit mehrere, zum Teil verfassungswidrige Gesetze verabschieden, mit denen es kritische Stimmen zum Verstummen bringen wollte. Beispielsweise wurden im Jahre 1954 Zeitungsartikel, die den politischen oder wirtschaftlichen Ruf und das Ansehen des Staates schädigen oder das Volk aufwiegeln könnten, unter Androhung von Geld- und Gefängnisstrafen verboten. 1956 verbot der Gesetzgeber die Veröffentlichung von Parlamentsprotokollen sowie von Inhalten von Gerichtsverhandlungen.94 Insbesondere nach zwei Ereignissen erhöhte die Regierung den Druck auf die Presse jeweils enorm. Nach den progromartigen Ausschreitungen gegen die griechisch-orthodoxe Minderheit am 06. und 07. September 1955 kritisierten Teile der Presse die schleppende Untersuchungs- und Aufklärungsarbeit staatlicher Stellen und einige Zeitungen vermuteten sogar die Anstifter und Hauptverantwortlichen in staatlichen beziehungsweise regierungsnahen Kreisen. Die DP-Regierung jedoch bezichtigte die politische Linke (das heißt die Republikanische Volkspartei (CHP) und noch weiter links stehende kommunistische Gruppen) der Anstiftung und nutzte, statt die Vorfälle ausreichend aufzuklären, die Situation aus, um in den Städten den Ausnahmezustand auszurufen und Oppositionsmitglieder verhaften zu lassen.95 Nach den Parlamentswahlen von 1957, aus denen die Demokratische Partei (DP) trotz starker Verluste als Siegerin hervorgegangen war, berichteten viele Zeitungen ausführlich von den Wahlfälschungsvorwürfen seitens der Oppositionsparteien. Die Regierung reagierte mit noch größerer Härte. Zeitungsverbote und Prozesse gegen Journalisten nahmen immer mehr zu. Hinzu kam ausufernde Polizeigewalt gegen Journalisten und Fotografen.96 Besonders kritische Zei93  Yıldız, Demokrat Parti iktidarı (1950–1960) ve basın (Die Herrschaft der Demokratischen Partei (1950–1960) und die Presse), S. 491, 504. 94  Yıldız, Demokrat Parti iktidarı (1950–1960) ve basın (Die Herrschaft der Demokratischen Partei (1950–1960) und die Presse), S. 492, 494, 495. 95  Çavdar, Türkiye’nin Demokrasi Tarihi. 1950’den Günümüze (Die Demokratiegeschichte der Türkei. Von 1950 bis heute), S. 50–53. 96  Emre Kaya, Basın-iktidar ilişkileri (Die Beziehungen zwischen der Presse und den Machthabern), S. 101, 105, 106; Yıldız, Demokrat Parti iktidarı (1950–1960) ve



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tungen wurden immer wieder für eine gewisse Zeit verboten, was sie an den Rand des finanziellen Ruins trieb, da die Einnahmen in dieser Zeit wegbrachen. In den zehn Regierungsjahren der Demokratischen Partei von 1950 bis 1960 gab es insgesamt 2300 Presseverfahren gegen Journalisten, Reporter, Herausgeber oder Zeitungen als juristische Personen. Insgesamt 867 Journalisten wurden verurteilt, darunter viele auch mehrfach.97 Die Führung der Demokratischen Partei (DP) von Adnan Menderes versuchte während ihrer Regierungszeit die Presselandschaft unter ihre Kontrolle zu bringen und ­jegliche Kritik zu unterbinden. „Die zwei wichtigen Funktionen der Presse, ‚opponieren‘ und ‚informieren‘, die für die Politiken der DP einen geeigneten Boden bereiteten, traten der DP nach 1950 als unbedingt zu beseitigende Hindernisse gegenüber.“98 Das Fass zum Überlaufen brachte schließlich die Einrichtung einer parlamentarischen Untersuchungskommission am 18. April 1960. Die Unruhen durch die Studentenschaft und die teils gewaltsamen Auseinandersetzungen zwischen Anhängern der Regierung und der Opposition nahm Ministerpräsident Adnan Menderes zum Anlass eine Untersuchungskommission im Parlament einzusetzen. Diese Kommission sollte nicht etwa die Hintergründe der Ereignisse untersuchen und dem Parlament darüber berichten. Die Verantwortlichen waren aus Sicht der Regierung schon gefunden, das Ergebnis stand für sie schon fest. In dem Beschluss zur Gründung der Untersuchungskommission hieß es, dass die Hauptoppositionspartei CHP auf illegale Weise die Bevölkerung zu Gesetzesverstößen anstifte und aufhetze, ihre Anhänger bewaffne, zum Bürgerkrieg aufrufe und durch die Wahlfälschungsvorwürfe bezogen auf die Parlamentswahlen von 1957 das Vertrauen des Volkes zerstöre und zu Unruhen aufstachele.99 Ein großer Teil der Presse würde zu denselben Zwecken handeln und durch Lügen und Wahrheitsverfälschungen das Land politischen, sozialen und wirtschaftlichen Gefahren aussetzen.100 Die Regierung sah sich also für die politischen Spannungen, die wirtschaft­ basın (Die Herrschaft der Demokratischen Partei (1950–1960) und die Presse), S. 502. 97  Yıldız, Demokrat Parti iktidarı (1950–1960) ve basın (Die Herrschaft der Demokratischen Partei (1950–1960) und die Presse), S. 504. 98  Yıldız, Demokrat Parti iktidarı (1950–1960) ve basın (Die Herrschaft der Demokratischen Partei (1950–1960) und die Presse), S. 486. 99  Parlamentsbeschluss Nummer 10848 vom 19.04.1960, aus Esen, 18 Nisan Tarihli Tahkikat Komisyonu (Die Untersuchungskommission vom 18. April), in: Mülkiye Dergisi (Zeitschrift der Vereinigung der Absolventen der Fakultät für Politische Wissenschaften der Universität Ankara), Band 34, S. 174–175. 100  Parlamentsbeschluss Nummer 10848 vom 19.04.1960, aus Esen, 18 Nisan Tarihli Tahkikat Komisyonu (Die Untersuchungskommission vom 18. April), S. 175.

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lichen Probleme und die Unruhen in den Städten nicht in der Verantwortung und auch nicht in der Pflicht, durch ausgleichende und die demokratischen Regeln achtende Regierungsarbeit die Probleme zu entschärfen. Vielmehr bezeichnete sie die Oppositionsarbeit der CHP und die kritische Bericht­ erstattung in oppositionellen Medien als illegitim und verfassungswidrig und schob diesen die Verantwortung zu. Diese Bewertung machte die Regierung zu einem bereits feststehenden Ergebnis und zur Grundlage der Arbeit der Untersuchungskommission. Diese hatte daher keinen parlamentarischen Charakter, sondern sollte vielmehr wie ein Organ der Exekutive fungieren und alle notwendigen Maßnahmen treffen, die zur Unterbindung der vermeintlich illegalen und Unruhe stiftenden Aktivitäten der Opposition erforderlich erschienen.101 Folgerichtig waren alle Kommissionsmitglieder Abgeordnete der regierenden Demokratischen Partei (DP).102 Durch das Gesetz mit der Nummer 7468 vom 28. April 1960 erhielt diese Untersuchungskommission umfangreiche Vollmachten. Hierzu gehörten alle Befugnisse, die die Strafprozessordnung, die Militärstrafprozessordnung und das Pressegesetz den Richtern und Justizbehörden zustanden.103 Explizit hielt Artikel 2 des Gesetzes zudem fest, dass die Untersuchungskommission zum Zwecke einer ordnungsgemäßen Untersuchung jegliche Art von Veröffent­ lichungen, das heißt Zeitungen, Zeitschriften, Bücher, Aufsätze, Plakate und so weiter verbieten kann. Entsprechende Werke durfte sie einsammeln und konfiszieren lassen, sowie die Schließung von Druckereien anordnen. Außerdem hatte sie die Befugnis, Maßnahmen gegen Demonstrationen, Versammlungen und Bewegungen politischer Art zu ergreifen. Sie durfte, wenn es aus ihrer Sicht für ihre Tätigkeit notwendig erschien, Unterlagen, Dokumente und Gegenstände jeder Art beschlagnahmen. Zudem waren ihre Untersuchungen geheim. Das Gesetz verbot die Veröffentlichung etwaiger Ergebnisse und Berichte unter Androhung einer Gefängnisstrafe.104 Alle Entscheidungen waren endgültig und nicht der Kontrolle durch die Gerichte unterworfen. Eine Berufung oder Revision gab es nicht.105 Widerstand gegen die Maßnahmen und Entscheidungen der Untersuchungskommission konnten mit einer Gefängnisstrafe zwischen einem und drei Jahren bestraft werden.106 Die Struktur und die Befugnisse der Untersuchungskommission, gepaart mit der Begründung für ihre Einrichtung und für das dazugehörige Gesetz und 101  Esen, 18 vom 18. April), 102  Esen, 18 vom 18. April), 103  Artikel 1 104  Artikel 5 105  Artikel 9 106  Artikel 3

Nisan Tarihli Tahkikat Komisyonu S. 176. Nisan Tarihli Tahkikat Komisyonu S. 190. des Gesetzes mit der Nummer 7468 des Gesetzes mit der Nummer 7468 des Gesetzes mit der Nummer 7468 des Gesetzes mit der Nummer 7468

(Die Untersuchungskommission (Die Untersuchungskommission vom vom vom vom

28. April 28. April 28. April 28. April

1960. 1960. 1960. 1960.



I. Historischer Kontext39

mit den Äußerungen der Regierungsvertreter, lassen nur den Schluss zu, dass die DP-Regierung von Adnan Menderes die Untersuchungskommission als Mittel dazu benutzte, um die Opposition und die kritische Presse auszuschalten und zum Schweigen zu bringen. Sie war Ausdruck des Versuchs der Etablierung einer neuen Einparteienherrschaft.107 Diese Regelungen waren eindeutige Verstöße gegen die türkische Verfassung von 1924. Diese kannte zwar keine Gewaltenteilung, sondern fasste die Legislative und die Exekutive in der Hand des Parlaments zusammen.108 Jedoch wies sie die Judikative gemäß ihrem Artikel 8 unabhängigen Gerichten zu. Gegen diese verfassungsrechtliche Bestimmung verstieß das Gesetz über die Befugnisse der Untersuchungskommission genauso wie gegen die Grundrechte, deren Geltung im Zusammenhang mit der Untersuchungskommission rechtlich und praktisch aufgehoben wurde.109 Jedoch gab es im System der Verfassung von 1924 keinen Mechanismus und kein Verfahren zur Feststellung und Aufhebung verfassungswidriger Gesetze und Maßnahmen, insbesondere kein Verfassungsgericht. Im Gegenteil, auch die Auslegung der Gesetze stand dem Parlament zu.110 Die Feststellung der Verfassungswidrigkeit und eine Nichtigerklärung der Gesetze gegen den Willen der Mehrheitspartei waren daher nicht möglich. Unmittelbar nach ihrer Gründung begann die Untersuchungskommission ihre weitreichenden Befugnisse zu nutzen. Bereits am Tag ihrer Gründung verbot sie jegliche Versammlungen von Parteien und politischen Organisa­ tionen. Am 29. April 1960 erweiterte sie dieses Verbot auf nunmehr alle größeren Versammlungen. Des Weiteren verschob sie die Kommunalwahlen auf unbestimmte Zeit. Sie belegte mehrere Zeitungen mit einem Veröffent­ lichungsverbot und ließ deren Druckereien schließen.111 Alle Entscheidungen 107  Jenkins, Context and Circumstance: The Turkish Military and Politics (Zusammenhang und Verhältnisse: Das türkische Militär und die Politik), S. 11. 108  Artikel 6 der türkischen Verfassung von 1924: Das Recht der Gesetzgebung übt die Nationalversammlung selbst aus. Artikel 7 Abs. 1 der türkischen Verfassung von 1924: Das Recht der Vollziehung [d. h. die Exekutive] übt die Nationalversammlung durch den von ihr gewählten Präsidenten der Republik und einen von ihm zu ernennenden Rat der Vollzugsbeauftragten aus. Artikel 7 Abs. 2 der türkischen Verfassung von 1924: Die Nationalversammlung kann die Regierung jederzeit kontrollieren und absetzen. 109  Çavdar, Türkiye’nin Demokrasi Tarihi. 1950’den Günümüze (Die Demokratiegeschichte der Türkei. Von 1950 bis heute), S. 77; Esen, 18 Nisan Tarihli Tahkikat Komisyonu (Die Untersuchungskommission vom 18. April), S. 182. 110  Artikel 26 der türkischen Verfassung von 1924. 111  Esen, 18 Nisan Tarihli Tahkikat Komisyonu (Die Untersuchungskommission vom 18. April), S. 185–186, 188–189.

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D. Die Entstehung der Verfassung von 1961

fällte die Untersuchungskommission ohne eine offizielle Begründung oder nur mit den kurzen Hinweisen, dies geschehe „zur Gewährleistung einer ordnungsgemäßen Durchführung der Untersuchung“112 oder „weil es für notwendig erachtet wird“113. Sie sah sich nicht dazu verpflichtet, ihre Maßnahmen der Öffentlichkeit zu erklären oder gar zu rechtfertigen. Die Tat­ sache, dass sie sich auf die Parlamentsmehrheit stützen konnte, reichte ihr als Legitimation völlig aus. An dieser Stelle zeigt sich eine Vorstellung von Demokratie und demokratischer Regierungsform, die typisch für die politische Rechte der Türkei ist und auch eine Erklärung für die autoritäre Regierungsweise der Demokratischen Partei (DP) unter Adnan Menderes darstellt. Die Vertreter des religiösund rechtskonservativen Teils des politischen Spektrums in der Türkei verstehen unter Demokratie eine unbegrenzte Herrschaft der Mehrheit. Nach dieser Vorstellung drückt sich die Herrschaft des Volkes dadurch aus, dass die Partei, die die Mehrheit der Stimmen erringt, uneingeschränkte Regierungsmacht erhält. Bis zur nächsten Wahl soll sie tun und lassen können, was immer ihr beliebt.114 Aufgrund der stark hierarchischen, auf den Parteivorsitzenden zugeschnittenen Strukturen der türkischen Parteien, wobei dies bei den rechten Parteien noch ausgeprägter ist als bei den linken, bedeutet dies in der Praxis, dass der Parteivorsitzende der Regierungspartei, der regelmäßig auch als Regierungschef fungiert, vollkommen frei und uneingeschränkt handeln können soll.115 Das von der politischen Rechten in diesem Zusammenhang ins Feld geführte Schlagwort ist der „Wille der Nation“ (türk.: „milli irade“), der sich durch die Wahlen manifestiere und eine Prägung der verfassungsrechtlich abgesicherten Volkssouveränität sei.116 Alle Faktoren, die die politische Macht der sich auf die Parlamentsmehrheit stützenden Regierung beschränken und begrenzen, erscheinen als eine Bevormundung des Volkes und ein Verstoß gegen die Volkssouveränität. Eine Begrenzung und Kontrolle der Regierungsmacht durch die Opposition, durch kritische Medien und durch unabhängige Gerichte, gar durch ein Verfassungsgericht, sehen die konservativen Parteien als undemokratisch an. Die Opposition hat nur die Aufgabe, 112  Esen, 18 Nisan Tarihli Tahkikat Komisyonu (Die Untersuchungskommission vom 18. April), S. 185. 113  Esen, 18 Nisan Tarihli Tahkikat Komisyonu (Die Untersuchungskommission vom 18. April), S. 189. 114  Arı, Türk Sağının Demokrasi Anlayışı: Altmış Yıllık Süreç (Das Demokratieverständnis der türkischen Rechten: Ein sechzigjähriger Prozess), S. 712. 115  Arı, Türk Sağının Demokrasi Anlayışı (Das Demokratieverständnis der türkischen Rechten), S. 715. 116  Arı, Türk Sağının Demokrasi Anlayışı (Das Demokratieverständnis der türkischen Rechten), S. 715.



I. Historischer Kontext41

sich auf die nächsten Wahlen vorzubereiten und darauf zu hoffen, bei diesen die Mehrheit zu erringen.117 Jede Oppositionstätigkeit, die darüber hinausgeht, wird als undemokratisch empfunden und muss gegebenenfalls nicht toleriert werden.118 Kritik an der Regierung entsprach somit für die Demokratische Partei (DP) einer Kritik an dem „Willen der Nation“, was sie als ein Verstoß gegen die Volkssouveränität, als illegal ansah und daher sanktionieren durfte. Die türkische Rechtswissenschaft bezeichnet diese Demokratieauffassung als „Mehrheitsdemokratie“ (türk.: „çoğunlukçu demokrasi“) im Gegensatz zur „pluralistischen Demokratie“ (türk.: „çoğulcu demokrasi“), die seit der Mitte des 20. Jahrhunderts vom linken Parteienspektrum und insbesondere von der Republikanischen Volkspartei (CHP), die sich seit der zweiten Hälfte der 1950er Jahre links der Mitte einordnete119, vertreten wird und Wert legt auf effektive Gewaltenteilung, ausreichenden Schutz und Einflussmöglichkeiten für die Opposition sowie richterliche Kontrolle der Regierung. Alle diese Elemente, die auch einen demokratischen Rechtsstaat im „westlichen“ Sinne ausmachen, werden von den Anhängern der „Mehrheitsdemokratie“ nur sehr begrenzt respektiert oder gar abgelehnt. Die Gefahr, die in dieser Vorstellung liegt, ist evident. Sie kann zu einer autoritären Regierungsform, um nicht zu sagen zu einer Diktatur ausarten, in der die gewählte Regierungsspitze schalten und walten kann, wie es ihr beliebt. Aus dem Anspruch, uneingeschränkt regieren zu dürfen, wird dabei das Recht abgeleitet, in alle Bereiche von Staat und Gesellschaft eingreifen zu können, sodass den Oppositionsparteien die Luft zum Atmen abgeschnürt wird und ein Machtwechsel durch Wahlen nur noch theoretisch möglich ist. Genau diese Gefahr begann sich während der Regierungszeit der Demokratischen Partei (DP) unter Adnan Menderes zu realisieren. Noch problematischer erscheint dieses Demokratieverständnis vor dem Hintergrund, dass die Mehrheit, aus der man das Recht auf eine unbeschränkte Ausübung der Macht ableitet, nicht einmal einer absoluten Mehrheit der Stimmen entsprechen muss. Es reicht vielmehr aus, dass die Regierungspartei im Besitz der absoluten Mehrheit der Parlamentssitze ist.120 Die Geschichte der türkischen Wahlen, die verschiedene Wahlsysteme und Wahl117  Arı, Türk Sağının Demokrasi Anlayışı (Das Demokratieverständnis der türkischen Rechten), S. 713. 118  Arı, Türk Sağının Demokrasi Anlayışı (Das Demokratieverständnis der türkischen Rechten), S. 712. 119  Çavdar, Türkiye’nin Demokrasi Tarihi. 1950’den Günümüze (Die Demokratiegeschichte der Türkei. Von 1950 bis heute), S. 64, 69. 120  Esen, 18 Nisan Tarihli Tahkikat Komisyonu (Die Untersuchungskommission vom 18. April), S. 191; Arı, Türk Sağının Demokrasi Anlayışı (Das Demokratieverständnis der türkischen Rechten), S. 712.

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D. Die Entstehung der Verfassung von 1961

hürden kannte, zeigt, dass eine Parlamentsmehrheit nicht unbedingt einer Mehrheit des Volkes, noch nicht einmal einer Mehrheit der abgegebenen Stimmen entsprechen muss. Beispielsweise sicherte sich die Demokratische Partei (DP) dank des Mehrheitswahlrechts bei den Wahlen von 1957 mit circa 47 % der Stimmen fast 70 % der Parlamentssitze, obwohl die drei im Parlament vertretenen Oppositionsparteien zusammen auf über 51 % der Stimmen gekommen waren.121 45 Jahre später reichten der Gerechtigkeitsund Entwicklungspartei (AKP) von Recep Tayyip Erdoğan bei den Parlamentswahlen 2002 sogar nur 34,29 % der Stimmen, um eine Zweidrittelmehrheit im Parlament zu erringen, da aufgrund eines Verhältniswahlrechts mit einer landesweiten 10 %-Wahlhürde viele Parteien nicht ins Parlament einziehen konnten. Selbst in diesen Konstellationen folgerten die rechtskonservativen Wahlsieger aus ihrer parlamentarischen Mehrheit einen Anspruch darauf, alleinige Vertreter des Volkswillens zu sein, wodurch alle ihre Handlungen per se legitimiert seien und jede Beschränkung ihrer Macht eine Verletzung der Volkssouveränität darstelle. Wie ein roter Faden zieht sich diese Demokratieauffassung durch die Partei- und Wahlprogramme der Konservativen und durch die Reden und Aussagen ihrer Parteigrößen und insbesondere ihrer Parteiführer, von Adnan Menderes in den 1950ern über Süleyman Demirel in den 1970ern und Turgut Özal in den 1980ern bis zum aktuellen Staatsoberhaupt Recep Tayyip Erdoğan.122 Die Reaktionen auf die Untersuchungskommission waren heftig. Proteste und Straßenschlachten zwischen der Polizei und den Demonstranten prägten das Bild in den Großstädten. Die Universitätsprofessoren stellten teilweise ihren Lehrbetrieb ein.123 Um der Situation Herr zu werden, sah sich die DPRegierung gezwungen, am 27. April 1960 den Ausnahmezustand zu erklären und das Militär zur Aufrechterhaltung der Ordnung im Innern einzusetzen. Damit setzte sie unfreiwillig einen Prozess in Gang, an dessen Ende ihr Sturz stand. Denn die Streitkräfte waren trotz der politischen Unruhen und Spannungen bisher nicht unmittelbar in Erscheinung getreten. Nun waren auch sie auf dem Spielfeld und bekamen die Gelegenheit, die entscheidenden Züge zu machen.124 Gerade die jüngeren Offiziere sahen nicht ein, gegen die Demonstranten (allen voran gegen die Studenten) vorzugehen, denen sie poli121  Çavdar, Türkiye’nin Demokrasi Tarihi. 1950’den Günümüze (Die Demokratiegeschichte der Türkei. Von 1950 bis heute), S. 64. 122  Arı, Türk Sağının Demokrasi Anlayışı (Das Demokratieverständnis der türkischen Rechten), S. 712–714. 123  Esen, 18 Nisan Tarihli Tahkikat Komisyonu (Die Untersuchungskommission vom 18. April), S. 168; Çavdar, Türkiye’nin Demokrasi Tarihi. 1950’den Günümüze (Die Demokratiegeschichte der Türkei. Von 1950 bis heute), S. 77. 124  Kalaycıoğlu, 27 Mayıs 1960 ihtilaline giden yol (Der Weg zur Revolution vom 27. Mai 1960), S. 43.



I. Historischer Kontext43

tisch und ideologisch nahestanden. Sie teilten weitgehend ihre Sorgen und ihre Abneigung gegen die Politik der DP-Regierung. Am Morgen des 27. Mai 1960 widersetzten sich daher die Offiziere aus den mittleren Rängen den Anweisungen des Generalstabs, erklärten die Regierung für abgesetzt und übernahmen die Macht.125 Die Demokratische Partei (DP) wurde verboten und aufgelöst. Großen Widerstand gab es nicht, er wäre angesichts der militärischen Kräfteverhältnisse auch sinnlos gewesen. Daher gab es im Zusammenhang mit dem Regierungssturz auch kein Blutvergießen, insbesondere keine Toten. Unmittelbar nach der Regierungsübernahme durch die Streitkräfte wurden die führenden Mitglieder der gestürzten DP-Regierung festgenommen. Auf der Insel Yassıada wurde ihnen vor dem eigens hierfür gegründeten „Hohen Gerichtshof“ (türk.: „Yüksek Adalet Divanı“) der Prozess gemacht. Die Militärregierung, Komitee für nationale Einheit (türk.: „Milli Birlik Komitesi“) genannt, bestimmte über die personelle Besetzung. Angeklagt wurden insgesamt 588 Personen. Der Hauptanklagepunkt war die Verletzung der Verfassung.126 Daneben machte das Gericht zahlreiche Nebenschauplätze auf, um so die gestürzte DP-Regierung zu delegitimieren und vorzuführen.127 Am 15. September 1961 verkündete das Gericht sein Urteil. 15 Angeklagte wurden zum Tode verurteilt, 432 Personen zu Freiheitsstrafen, 15 davon zu einer lebenslänglichen Freiheitsstrafe. 35 Personen wurden freigesprochen. Das Komitee für nationale Einheit minderte einige Strafen. Von den Todesurteilen wurden drei vollstreckt. Der ehemalige Ministerpräsident Adnan Menderes, sowie die beiden Minister Fatin Rüştü Zorlu und Hasan Polatkan wurden am 16. beziehungsweise 17. September 1961 hingerichtet.128 Das Verfahren war formaljuristisch nicht zu beanstanden. Die Militärregierung sicherte es durch den Erlass entsprechender Gesetze und die Übergangsverfassung ab. Jedoch wurden universale Strafrechtsprinzipien (wie das Rückwirkungsverbot von Gesetzen und das Recht auf den gesetzlich bestimmten Richter) nicht eingehalten.129 Dieses Gerichtsverfahren war ein Massen- und Schauprozess, der der Legitimation des Regierungssturzes und der Militärregierung diente und der gesellschaftlichen Versöhnung nicht zuträglich gewesen ist. 125  Kalaycıoğlu, 27 Mayıs 1960 ihtilaline giden yol (Der Weg zur Revolution vom 27. Mai 1960), S. 43. 126  Çavdar, Türkiye’nin Demokrasi Tarihi. 1950’den Günümüze (Die Demokratiegeschichte der Türkei. Von 1950 bis heute), S. 96. 127  Çavdar, Türkiye’nin Demokrasi Tarihi. 1950’den Günümüze (Die Demokratiegeschichte der Türkei. Von 1950 bis heute), S. 96. 128  Erdoğan, Türkiye’de Anayasalar ve Siyaset (Verfassungen und Politik in der Türkei), S. 88. 129  Erdoğan, Türkiye’de Anayasalar ve Siyaset (Verfassungen und Politik in der Türkei), S. 88.

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D. Die Entstehung der Verfassung von 1961

Diesen historischen Kontext lesen und interpretieren die politischen Akteure in der Türkei bis heute sehr verschieden, jeweils abhängig davon, zu welchem politischen Lager sie sich zugehörig sehen. Für die kemalistischsäkularen Teile der Türkei war der Sturz der Regierung von Adnan Menderes ein Akt der Notwehr gegen einen autoritären Ministerpräsidenten, der das Land auf eine Diktatur zusteuerte und zudem gegen die Prinzipien und Revolutionen Mustafa Kemal Atatürks verstoßen hatte, insbesondere gegen den Laizismus. Für sie ist der 27. Mai 1960 das Ergebnis einer Revolution des Volkes, an deren Spitze sich die Streitkräfte gesetzt und diese somit kanalisiert haben. Für die konservativ-islamischen Teile von Politik und Gesellschaft hingegen war Adnan Menderes ein Held der Demokratie, ein Märtyrer, der für die demokratische Sache sein Leben gelassen hat. Den Sturz seiner Regierung betrachten sie als Putsch einer Junta gegen eine demokratische Regierung, als ein Zeichen der Bevormundung (türk.: „vesayet“) des Volkes durch die Eliten, die Bürokratie und die Streitkräfte. An dieser Stelle wird ersichtlich, dass die Verurteilung von Adnan Menderes und zweier seiner Minister zum Tode und insbesondere die Vollstreckung dieser Strafen nicht nur aus verfassungsrechtlicher und menschenrechtlicher Hinsicht kritikwürdig ist, sondern auch auf lange Sicht politisch negative Folgen hervorbrachte. Denn sie polarisierte das Land und machte Adnan Menderes zu einer KultFigur der politischen Rechten. Dies führte dazu, dass eine kritische Bewertung der Politik von Adnan Menderes und seiner Demokratischen Partei (DP) auf Seiten seiner Anhänger und selbsternannten Erben bis heute kaum stattfand.130 Die bisherige Darstellung der Ereignisse in dieser Arbeit zeigt, dass die Wahrheit irgendwo in der Mitte der beiden dargelegten Deutungen liegt. Weder kann man den 27. Mai 1960 als einen Tag darstellen, an dem aus rein ideologisch-machtpolitischen Gründen eine kleine Junta ohne irgendeinen Rückhalt in der Bevölkerung gegen eine demokratisch legitimierte und demokratisch handelnde Regierung geputscht hat. Noch lässt sich dieser Tag als eine von breiten Volksmassen durchgeführte Revolution gegen einen brutalen Despoten begreifen. Vielmehr entspricht es der Realität, dass die Regierung der Demokratischen Partei (DP) 1950 aus den ersten vollkommen freien, gleichen, geheimen und unmittelbaren Wahlen des Landes mit einer absoluten Mehrheit der Stimmen und Sitze hervorgegangen ist. Sie ermöglichte die Vertretung der Interessen breiter Schichten der religiösen Land­ bevölkerung, kanalisierte deren Opposition gegen die bisherige Einparteienherrschaft der Republikanischen Volkspartei (CHP), band diese Schichten somit an die Republik und diente so auch zur Stabilisierung des Staates. 130  Arı, Türk Sağının Demokrasi Anlayışı (Das Demokratieverständnis der türkischen Rechten), S. 712.



I. Historischer Kontext45

Zwar hatte sie gegen Ende ihrer Regierungszeit merklich an Rückhalt im Volk verloren, jedoch unterstützten sie bis zum Schluss weite Teile der Landbevölkerung, insbesondere die religiösen Teile des Volkes, aber auch die neu aufkommenden Industriellenkreise. Auch wenn die ernstzunehmenden Wahlfälschungsvorwürfe bezüglich der Parlamentswahlen von 1957 weder überzeugend bewiesen noch widerlegt werden konnten, bleibt es dabei, dass wohl eine relative Mehrheit des Volkes hinter der Demokratischen Partei (DP) stand. Es entspricht aber auch der Realität, dass die DP-Regierung ihre demokratische Legitimation dazu missbrauchte, die unliebsame Presse und die Oppositionsparteien massiv zu unterdrücken, verfassungswidrige Gesetze zu erlassen und ebensolche Maßnahmen zu ergreifen. Sie vergiftete mit einer Polarisierung der Öffentlichkeit unter Ausnutzung religiöser Gefühle und Überzeugungen das politische Klima, das gegen Ende der Regierungszeit geprägt war von Unruhen und Polizeigewalt. Gerade die Berufung der Untersuchungskommission und deren erste Amtshandlungen lassen den Schluss zu, dass die Demokratische Partei (DP) nicht gewillt war, auf absehbare Zeit auf demokratischem Wege die Regierungsmacht abzugeben. Insofern stellt man nicht nur Mutmaßungen an, wenn man ernsthaft bezweifelt, ob nach 1960 unter der DP-Regierung von Adnan Menderes noch einmal freie und faire Wahlen stattgefunden hätten. Auch wenn bestimmte Teile der Bevölkerung die DPRegierung auch 1960 noch unterstützten, begehrten die Studentenschaft und die universitären Lehrkörper gegen die autoritäre DP-Regierung auf, genauso wie weite Teile der städtischen Mittelschicht und die Bürokratie. Ohne die Unterstützung und den Rückhalt in diesen Schichten hätten die Streitkräfte einen Regierungssturz nicht umsetzen können. Die gegensätzliche Wahrnehmung und Deutung der historischen Ereignisse lässt sich zum Teil auch in der Literatur und Wissenschaft beobachten und macht sich schon an der Wortwahl und Bezeichnung der Ereignisse fest. Der Verfasser hat die Erfahrung gemacht, dass man aus der Verwendung der Worte „Putsch“/„Staatsstreich“, „Junta“ oder „Bevormundung“ (türk.: „darbe“, „cunta“, „vesayet“) im Titel oder in der Einleitung von Texten, die diese Zeit zum Gegenstand haben, darauf schließen kann, dass der Schwerpunkt der Darstellung in diesen Texten auf der Kritik an den Militärs, der Republikanischen Volkspartei (CHP) und/oder generell an den Kemalisten liegt. Das autoritäre Regierungshandeln der Demokratischen Partei (DP) wird in diesen Texten zwar nicht unbedingt unter den Teppich gekehrt, aber doch regelmäßig verharmlosend dargestellt und heruntergespielt.131 Umgekehrt konzentrieren sich Texte, die von „Revolution“ oder „Umsturz“ spre131  Beispielhaft für viele: Erdoğan, Türkiye’de Anayasalar ve Siyaset (Verfassungen und Politik in der Türkei), S. 85–95.

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D. Die Entstehung der Verfassung von 1961

chen (türk.: „ihtilal“, „devrim“ oder „inkılap“), sehr häufig auf die Versäumnisse und Fehler der Demokratischen Partei (DP) und deren Maßnahmen zur massiven Unterdrückung der Presse und der Opposition, ohne dass sie gründlich und erschöpfend auf die Probleme hinsichtlich der demokratischen Legitimation des Regierungssturzes, des Ausschlusses der durch die Demokratische Partei (DP) verkörperten Bevölkerungsteile von der politischen Arena und der Todesstrafe eingehen.132 Aus diesem Grund hält es der Verfasser für angebracht, die Übernahme der Regierungsgeschäfte durch die Streitkräfte nach dem Sturz der zivilen, aber autoritären Regierung von Adnan Menderes statt mit den unmittelbar oder mittelbar wertenden Bezeichnungen wie „Revolution“, „Putsch“, „Staatstreich“ oder „Coup d’État“ mit dem historisch weniger aufgeladenen und weniger wertenden Wort der Militärintervention zu benennen.133

II. Organisatorische Grundlagen Die führenden Offiziere der Militärintervention vom 27. Mai 1960 bildeten das sogenannte Komitee für nationale Einheit (türk.: „Milli Birlik Komitesi“). Am 12. Juni 1960 erließ dieses Komitee eine kurze provisorische Verfassung aus 27 Artikeln, die die bestehende Verfassung von 1924 nicht komplett aufhob, sondern ergänzte und in einigen Punkten änderte.134 Aus ihr gingen auch die Pläne der Militärführung für die Zukunft des Landes hervor. Diese provisorische Verfassung sah eine rasche Ausarbeitung einer neuen Verfassung und eines neuen Wahlgesetzes vor. Im Anschluss daran sollte nach freien Wahlen die Macht wieder an die neu gewählte zivile Regierung übergeben werden. Bis dahin lag die Staatsgewalt in den Händen des Komitees für nationale Einheit. Es bestimmte eine provisorische Regierung und hatte auch die Befugnisse der Legislative inne.135 Zur Erarbeitung der neuen Verfassung und des neuen Wahlgesetzes wurde eine konstituierende Versammlung (türk.: „Kurucu Meclis“) gebildet. Diese bestand aus zwei 132  Beispielhaft für viele: Gözübüyük, Açıklamalı Türk anayasaları. 1876, 1921, 1924, 1961, 1982 (Die türkischen Verfassungen mit Erläuterungen. 1876, 1921, 1924, 1961, 1982), S. 83–86. 133  Ähnlich Tanör, Osmanlı – Türk anayasal gelişmeleri (Die osmanisch-türkischen Verfassungsentwicklungen), S. 364. Dieser verwendet die Worte „Bewegung“ (türk.: „hareket“) und „Intervention“ (türk.: „müdahale“). 134  Das betreffende Gesetz Nummer 1 vom 12.06.1960 trug daher den Titel „Provisorisches Gesetz bezüglich der Aufhebung und Änderung einiger Bestimmungen des Verfassungsgesetzes Nummer 491 von 1924“. 135  Abadan, Die türkische Verfassung von 1961, S. 338; Aldıkaçtı, Anayasa hukukumuzun gelişmesi ve 1961 anayasası (Die Entwicklung unseres Verfassungsrechts und die Verfassung von 1961), S. 132.



II. Organisatorische Grundlagen47

Kammern. Die eine Kammer bildete das Komitee für nationale Einheit, die andere die neu geschaffene Abgeordnetenversammlung (türk.: „Temsilciler Meclisi“).136 Diese zivile Abgeordnetenversammlung war der Mittelpunkt der Verfassungsarbeiten und -diskussionen. Gemäß den Artikeln 29–31 des Gesetzes Nummer 157 vom 16.12.1960 wählte die Abgeordnetenversammlung eine Verfassungskommission mit 20 Mitgliedern. Diese erarbeitete (unter Hinzuziehung der im Vorfeld von der Juristischen Fakultät der Universität Istanbul und von der Fakultät für Politische Wissenschaften der Universität Ankara ausgearbeiteten Verfassungsentwürfe als Studien- und Hilfstexte) einen Verfassungsentwurf mitsamt einer Begründung.137 Dieser Verfassungsentwurf bildete die Grundlage für die weiteren Beratungen und Verhandlungen. Sowohl der Aufbau als auch die programmatische und inhaltliche Grundausrichtung der Verfassung änderten sich im Laufe des Verfahrens nicht mehr, sodass die Arbeit der Verfassungskommission der Abgeordnetenversammlung als die entscheidende und maßgeblich prägende Stelle des ganzen Prozesses der Verfassungsentwicklung anzusehen ist. Über diesen Entwurf verhandelte die Abgeordnetenversammlung und verabschiedete anschließend einen Verfassungstext. Im Anschluss behandelte das Komitee für nationale Einheit diesen Verfassungstext. Artikel, denen beide Kammern zustimmten, galten als angenommen. Bei einer Änderung durch das Komitee für nationale Einheit musste ihr die Abgeordnetenversammlung zustimmen. Bei einer Ablehnung der Änderung schaltete sich ein Vermittlungsausschuss ein, der der konstituierenden Versammlung als Zusammenkunft beider Kammern (in der die Abgeordnetenversammlung zahlenmäßig die Mehrheit innehatte) einen Kompromissvorschlag zur Abstimmung vorlegte. Aus Sorge vor einer starken Position der Vertreter und Anhänger der ehemaligen Demokratischen Partei (DP) bei der Verfassungsentstehung verzichteten die neuen Machthaber auf allgemeine, unmittelbare Wahlen als Mittel zur Bestimmung der 273 Mitglieder der Abgeordnetenversammlung.138 Stattdessen entwickelten sie zur Bestimmung der Abgeordneten ein gemischtes System, welches neben der Wahl und der Ernennung auch korporative Elemente beinhaltete. Ein Teil der Mitglieder setzte sich aus Vertretern bestimmter Organisationen und Institutionen zusammen, die autonom aus ihren Reihen Abgeordnete bestimmen konnten. Hierzu gehörten die Anwaltskammern (6 Abgeordnete), Pressevereinigungen (12 Abgeordnete), Gewerkschaften (6 Abgeordnete), Handelskammern (10 Abgeordnete), Universitäten (12 Abgeordnete), Justizorgane (12 Abgeordnete), Lehrervereinigungen (6 Abgeord136  Abadan,

Die türkische Verfassung von 1961, S. 341. Verfassung der Türkischen Republik, S. 42. 138  Gençkaya, Türk siyasal sisteminde Kurucu Meclis (Die konstituierende Versammlung im türkischen Politiksystem), S. 22. 137  Hirsch,

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D. Die Entstehung der Verfassung von 1961

nete), Bauernverbände (6 Abgeordnete), Jugendverbände (1 Abgeordneter), Handwerkervereinigungen (6 Abgeordnete) und die Veteranenvereinigung (2 Abgeordnete)139. Einen weiteren Teil der Abgeordneten bestimmten unmittelbar die politischen Parteien. Da die Demokratische Partei (DP) nicht mehr existierte und sich bis zu diesem Zeitpunkt noch keine Nachfolgeorganisation etablieren konnte, profitierten von dieser Regelung nur die Republikanische Volkspartei (CHP) und die Republikanisch-nationale Bauernpartei (CKMP), denen ein Kontingent von 49 beziehungsweise 25 Abgeordneten zustand.140 Schließlich wurden 75 Abgeordnete als Vertreter der Verwaltungsprovinzen im Wege einer mittelbaren, da zweistufigen und nicht allgemeinen Wahl bestimmt. Hierzu wählten die Gemeinderäte, Vorsteher der Gemeinden und Stadtteile, Schulrektoren und die Vorsitzenden der Berufsgenossenschaften Delegierte, die wiederum anschließend die Abgeordneten wählten.141 Hinzu kamen noch zehn Abgeordnete, die der kommissarische Staatspräsident General Cemal Gürsel, der zugleich den Vorsitz im Komitee für nationale Einheit innehatte, auswählte. Außerdem gab sich das Komitee für nationale Einheit ein eigenes Kontingent von 18 Abgeordneten. Darüber hinaus war die vom Komitee für nationale Einheit ausgewählte Übergangsregierung auch Teil der Abgeordnetenversammlung.142 Auf dem Weg dieser Konstruktion stellte die Militärregierung einerseits ihren Einfluss auf den Entstehungsprozess der neuen Verfassung sicher und erreichte andererseits eine relativ breite Repräsentation verschiedener Teile der Bevölkerung.143 Nichtsdestotrotz war die Republikanische Volkspartei (CHP) die prägende Kraft in der konstituierenden Versammlung. Sie konnte ihren Einfluss nicht nur über die ihr zugewiesenen 49 Mandate geltend machen, sondern sicherte sich auch über andere Kontingente Plätze in der Abgeordnetenversammlung. Beispielsweise waren von den 75 Vertretern der Verwaltungsprovinzen der größte Teil CHP-Mitglieder. Der Grund hierfür lag darin, dass sich auch Parteimitglieder zu Vertretern der Verwaltungsprovinzen wählen lassen konnten.144 Davon profitierte die Republikanische Volks139  Gençkaya, Kurucu Meclis (Konstituierende Versammlung), S. 23; Abadan, Die türkische Verfassung von 1961, S. 342. 140  Gençkaya, Kurucu Meclis (Konstituierende Versammlung), S. 23; Abadan, Die türkische Verfassung von 1961, S. 342. 141  Aldıkaçtı, Anayasa hukukumuzun gelişmesi ve 1961 anayasası (Die Entwicklung unseres Verfassungsrechts und die Verfassung von 1961), S. 133–134; Gençkaya, Kurucu Meclis (Konstituierende Versammlung), S. 23. 142  Abadan, Die türkische Verfassung von 1961, S. 342. 143  Gençkaya, Kurucu Meclis (Konstituierende Versammlung), S. 27. 144  Gençkaya, Kurucu Meclis (Konstituierende Versammlung), S. 24.



II. Organisatorische Grundlagen49

partei (CHP) in besonderem Maße, während sich die Nachfolgegruppierungen der verbotenen Demokratischen Partei (DP) bis zu diesem Zeitpunkt noch nicht hatten ausreichend organisieren können. Ähnliches lässt sich für andere Kontingente sagen. Summa summarum waren 222 der 273 Mitglieder der Abgeordnetenversammlung der Republikanischen Volkspartei (CHP) zuzurechnen145. Neben den Streitkräften war daher die Republikanische Volkspartei (CHP) die treibende und prägende Kraft bei der Ausarbeitung der neuen Verfassung. Auf der anderen Seite war der Teil des politischen Spektrums, den die Demokratische Partei (DP) bis zu ihrem Verbot repräsentiert hatte, von den Verfassungsarbeiten nahezu ausgeschlossen, auch wenn mit der Republikanisch-nationalen Bauernpartei (CKMP) eine politische Organisation in der Abgeordnetenversammlung vertreten war, die aus einer früheren Abspaltung von der Demokratischen Partei (DP) hervorgegangen war und ihr somit programmatisch teilweise nahe stand.146 Nachfolgeorganisationen, die die eigentliche Basis und Kernwählerschaft der Demokratischen Partei (DP) hätten vertreten können, konnten sich in so kurzer Zeit noch nicht herauskristallisieren. Hinzu kam ein Beschluss des Komitees für nationale Einheit (Artikel 6 des Gesetzes Nummer 157 vom 16.12.1960), wonach Personen, die in der Zeit der DP-Regierung deren „verfassungs- und menschenrechtswidrige“ Politik und entsprechende Maßnahmen unterstützt hatten, keine Mitglieder der Abgeordnetenversammlung sein durften. Damit entzog die Militärregierung den alten DP-Eliten auch die Möglichkeit über die anderen Kontingente in die konstituierende Versammlung einzuziehen. Dies wäre jedoch auch ohne diese Regelung nur sehr eingeschränkt möglich gewesen, da die Institutionen und Organisationen, denen die größten Kontingente zustanden, der Demokratischen Partei (DP) vor und nach dem 27. Mai 1960 skeptisch bis ablehnend gegenüberstanden und unter deren Regierung Einschränkungen und Repressalien zu erdulden hatten (vor allem Universitäten, Pressevereinigungen, Gewerkschaften). Der Ausschluss der Mitglieder und Vertreter der Demokratischen Partei (DP) von den Verfassungsarbeiten war also eine bewusste Entscheidung der militärischen Machthaber. Dies wirkte sich sowohl kurzfristig als auch auf lange Sicht schlecht für die allgemeine Akzeptanz der neuen Verfassung aus. Sie galt für die politischen Erben der Demokratischen Partei (DP) und die von diesen repräsentierten Schichten als die Verfassung des politischen Gegners, weswegen man ihr, unabhängig von ihrem konkreten Inhalt, stets mit einer gewissen Distanz, mitunter auch mit einer offenen Missbilligung begegnete. Dies zeigte sich schon bei der Volksabstimmung über die neue Verfassung. Denn die Parteien 145  Gençkaya, 146  Schröder,

Kurucu Meclis (Konstituierende Versammlung), S. 24. Die Türkei im Schatten des Nationalismus, S. 96.

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und Gruppierungen, die der verbotenen und aufgelösten Demokratischen Partei (DP) nahestanden, lehnten die neue Verfassung per se ab. Die als Nachfolgepartei der Demokratischen Partei (DP) am 11. Februar 1961 gegründete Gerechtigkeitspartei (AP) propagierte im Vorfeld der Volksabstimmung über die neue Verfassung deren Ablehnung mit dem Slogan „Im Nein liegt der Nutzen“ (türk.: „Hayır’da hayır vardır“).147 Die Absage an die Verfassung basierte weniger auf etwaigen inhaltlichen oder programmatischen Einwendungen, sondern vielmehr auf dem generellen Ausschluss der Vorgängerpartei von dem Prozess der Verfassungsentstehung. Auch war diese Haltung eine Reaktion auf den parallel stattfindenden Massenprozess gegen die frühere Führungsriege der Demokratischen Partei (DP). Trotzdem nahm das Volk die neue Verfassung in der Abstimmung am 9. Juli 1961 an. Bei einer Wahlbeteiligung von 81,05 % entfielen 61,7 % der abgegebenen Stimmen auf die Annahme der neuen Verfassung.148 Umgerechnet auf die Gesamtzahl der Wahlberechtigten bedeutet dies, dass 49,85 % der Wahlberechtigten für die Verfassung stimmten, während 30,89 % aller Wahlberechtigten dagegen waren und 18,95 % der Wahlberechtigten nicht zur Abstimmung gingen. Es lässt sich zwar nicht eindeutig klären, ob diejenigen, die zu Hause geblieben sind, mehrheitlich Anhänger der Demokratischen Partei (DP) waren und deshalb der Abstimmung fernblieben oder es wegen der damals weitverbreiteten Annahme, die Verfassung werde auf jeden Fall angenommen, einfach nicht für notwendig hielten, auch ihre Stimme abzugeben. Dennoch bestätigte das Ergebnis die Polarisierung der Gesellschaft in zwei große politische Lager und die Einschätzung, dass die Verfassung nicht im Wege eines breiten Konsenses über alle Bevölkerungsschichten und -gruppen hinweg entstanden ist. Durch die Tatsache, dass die Streitkräfte und die Republikanische Volkspartei (CHP) als Verfassungsgeber federführend waren, lassen sich Rückschlüsse auf die ideologischen Grundlagen und auf die Geschichtsbilder von der unmittelbaren Vergangenheit ziehen, die bei der Erarbeitung der Verfassung vorherrschend waren und diese daher bestimmten. Sowohl die führenden Offiziere der Streitkräfte als auch die Republikanische Volkspartei (CHP) als die Partei, die Mustafa Kemal Atatürk gegründet hatte, waren Verfechter und Anhänger des Kemalismus und geprägt von einem dieser Ideologie entsprechenden Bildungs- und Wertekanon. Die Militärintervention vom 27. Mai 1960 bewerteten sie als legitime Revolution gegen einen tyrannischen Despoten zum Schutze der parlamentarischen Demokratie, der Freiheit der Bürger und der kemalistischen Prinzipien und Werte. Die Verfassung von 1961 147  Çavdar, Türkiye’nin geschichte der Türkei. Von 148  Çavdar, Türkiye’nin geschichte der Türkei. Von

Demokrasi Tarihi. 1950’den Günümüze (Die Demokratie1950 bis heute), S. 100. Demokrasi Tarihi. 1950’den Günümüze (Die Demokratie1950 bis heute), S. 100.



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ist ein Ergebnis und eine Folge dieser ideologischen Prinzipien und Werte sowie dieser historischen Auffassungen und Urteile.

III. Der Kemalismus und seine Vorgaben für die Verfassung von 1961 Da die Personen, Gruppen und Parteien, die maßgeblich an der Verfassungsentstehung beteiligt waren und diese prägten, Anhänger der Staatsauffassung und Politik Mustafa Kemal Atatürks und der nach ihm benannten Ideologie des Kemalismus waren, ist es erforderlich, den Kemalismus und seine Bedeutung für die Verfassung von 1961 näher zu erläutern. Die neue türkische Staatselite, die sich nach der Gründung der Republik Türkei 1923 aus den militärischen und politischen Weggefährten und Anhängern Mustafa Kemal Atatürks formte, konstituierte während dessen Regierungszeit die Ideologie des Kemalismus. Dieser besteht aus den sechs Prinzipien des Republikanismus, Laizismus, Nationalismus, Populismus, Etatismus und Revolutionismus. Er ist Ergebnis und Ausdruck der Taten und Handlungen Mustafa Kemal Atatürks und seiner Bewegung vom Beginn des Befreiungskrieges am 19. Mai 1919 (Ankunft Mustafa Kemal Atatürks in Samsun an der Schwarzmeerküste) bis zu seinem Tod am 10. November 1938.149 Diese Ideologie ist aus den militärischen und politischen Kämpfen gegen die Siegermächte des Ersten Weltkriegs und gegen die alte osmanische Herrscherdynastie und ihre Anhänger hervorgegangen. Daher stellt sie eine Reaktion auf diese Auseinandersetzungen und auf die alte Ordnung des Osmanischen Reiches dar.150 Dies bedeutet, dass nicht der Kemalismus als vorgegebene Ideologie die Taten, Reformen und Revolutionen der Kemalisten bedingte. Vielmehr bedingten die Reformen und Revolutionen mit dem Ziel, die Türkei zu einer modernen (das heißt aus kemalistischer Sicht säkularen, nationalstaatlichen, „westlichen“) Republik zu entwickeln, die Prinzipien des Kemalismus. Nicht die Politik diente dem Kemalismus, sondern der Kemalismus diente der Politik der Modernisierung und „Verwestlichung“, die die Türkei nach dem bekannten Ausspruch Mustafa Kemal Atatürks auf den „Stand der zeitgenössischen Zivilisationen“ (türk.: „muasır medeniyetler seviyesi“) heben sollte. Er fordert den Bruch mit den traditionellen Staats- und Gesellschaftsstrukturen des Osmanischen Reiches und ist auf die Errichtung einer „westlichen“ Republik gerichtet.151 Aus diesem Grund erfasst es Chris149  Rumpf, Das Nationalismusprinzip in der türkischen Verfassung, S. 409; Tekinalp, Kemalizm (Kemalismus), S. 35. 150  Tekinalp, Kemalizm (Kemalismus), S. 247. 151  Rumpf, Nationalismusprinzip, S. 410.

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tian Rumpf vollkommen richtig, wenn er die kemalistischen Prinzipien als „Funktionen“ beschreibt, die „einem freiheits- und gemeinwohlorientierten ‚Zivilisationismus‘ “152 dienen. Als Folge dieses Umstandes hat sich der Kemalismus nie zu einer in sich geschlossenen Ideologie entwickelt. Er ist kein abschließend ausdifferenziertes theoretisches System, sondern vielmehr eine pragmatische Staatsauffassung, „die in der Lage ist, sich nach den Regeln politischer Vernunft den Erfordernissen der Gegenwart anzupassen“153. 1935 erklärte der damalige Generalsekretär der Republikanischen Volkspartei (CHP) Recep Peker im Hinblick auf den Kemalismus und dessen Umsetzung durch seine Partei: „Unsere Partei ist nicht gefangen in einem religiösen Orden [türk.: „tekke“] und unser Programm ist kein Koranvers. Bei unseren zukünftigen Handlungen sind wir an die Erfordernisse der Zeit gebunden. Was die morgigen Erfordernisse sein werden, können wir nicht wissen. Wir wissen nur eines: Wir werden das tun, das uns die Erfahrung und der Verstand für das Vorwärtsschreiten […] der Nation und des Landes aufzeigt.“154 Der Kemalismus besitzt daher eine gewisse Dynamik und stellt eine Ideologie dar, deren Ziel und Zweck die Modernisierung und Entwicklung der Türkei ist.155 Sie ist nur insoweit kompromisslos, „als [dass] sie eine Abkehr von abendländischen Idealen und [eine] Hinwendung zur osmanischen Tradition nicht zulässt“156. Es gibt bis heute keine als allgemein verbindlich anerkannte Ausformulierung und Darstellung des Kemalismus, kein Standardwerk, insbesondere nicht von Mustafa Kemal Atatürk selbst. Zwar gibt es mittlerweile eine unüberschaubare Fülle von Werken, die sich mit dem Kemalismus oder Teilausschnitten von ihm beschäftigen. Zudem gab es in den 1930ern mit den Zeitschriften „Ülkü“ und „Kadro“ zwei Plattformen, auf denen verschiedene ­Intellektuelle versuchten, den Kemalismus auszuformulieren.157 Typischerweise traten diese theoretischen Abhandlungen und Diskussionen erst auf, nachdem Mustafa Kemal Atatürk und seine Anhänger die großen politischen und ideologischen Schlachten gewonnen und die radikalsten Reformen umgesetzt hatten. Aber auch diese Werke und Theorien führten dazu, dass die Zahl der Möglichkeiten, den Kemalismus zu verstehen und auszulegen, noch 152  Rumpf,

Nationalismusprinzip, S. 412. Nationalismusprinzip, S. 408. 154  Zitiert aus Tekinalp, Kemalizm (Kemalismus), S. 90. 155  Tekinalp, Kemalizm (Kemalismus), S.  91; Rumpf, Nationalismusprinzip, S. 413. 156  Rumpf, Nationalismusprinzip, S. 408. 157  Türkeş, The ideology of the Kadro movement: A patriotic leftist movement in Turkey, S. 115, 116. 153  Rumpf,



III. Der Kemalismus und seine Vorgaben für die Verfassung von 1961 53

weiter stieg, sodass im Laufe der Jahrzehnte die kemalistischen Prinzipien unterschiedlich verwendet und interpretiert wurden.158 Hieraus ergibt sich, dass der Verfasser dieser Arbeit den Kemalismus nicht abschließend und erschöpfend darlegen kann und dies im Hinblick auf die Verfassung von 1961 auch nicht tun muss. Denn der Kemalismus machte keine unumstößlichen konkreten inhaltlichen Vorgaben für eine nach ihm gerichtete Verfassung. Seine Prinzipien dienen als allgemeine Richtlinien für das Ziel eines wirtschaftlich und politisch unabhängigen Nationalstaates, der die Standards der modernen, zeitgenössischen Zivilisation erreicht und weiterträgt.159 Auf die Frage, welche Regelungen, Strukturen und Institutionen die Modernität, die Unabhängigkeit und das Erreichen des Standards der zeitgenössischen Zivilisation ausmachen, können und müssen die politischen Akteure der jeweiligen Zeit selbst eine Antwort finden. Entscheidend ist demnach, wie die Verfassungsgeber die vorgegebenen Richtlinien unter Beachtung der Grundausrichtung verstehen und auslegen, was sie für den konkreten Regelungssachverhalt daraus folgern. An dieser Stelle soll daher ein Überblick über diese Richtlinien gegeben werden, um die später darzulegenden Auslegungen und Folgerungen der Verfassungsgeber von 1961 für die konkreten Verfassungsregelungen und -probleme richtig einordnen zu können. 1. Republikanismus Der Republikanismus steht für die Ablehnung aller monarchischen Systeme, insbesondere ist sie gegen die traditionelle Staatsstruktur des Osmanischen Reiches, das heißt gegen die theokratische und absolute Monarchie gerichtet.160 Mit der Ausrufung der Republik am 29. Oktober 1923 fand sie ihre Umsetzung und bildet seitdem den Inhalt des ersten Artikels aller Verfassungen der Republik Türkei. Mit diesem Prinzip gehen auch eine neue verfassungsrechtliche Zuweisung und Ableitung der Souveränität einher. Statt der absoluten und unbedingten Souveränität des Herrscherhauses der Dynastie Osman gilt mit der Gründung der Republik nunmehr die Souveränität des Volkes als Grundlage der staatlichen Ordnung.161 Zugleich enthält bereits dieses Prinzip unabhängig vom Prinzip des Laizismus ein Element der Säkularisierung. Denn die absolute Souveränität des Sultans war im Osmanischen Reich untrennbar verbunden mit dem theokratischen Charakter 158  Ermağan,

EU-Skeptizismus in der Türkei, S. 31. Nationalismusprinzip, S. 411. 160  Tekinalp, Kemalizm (Kemalismus), S. 250; Rumpf, Nationalismusprinzip, S. 411. 161  Şahinler, Kemalismus, S. 89–91; Rumpf, Nationalismusprinzip, S. 411. 159  Rumpf,

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des Staates und ging einher mit einer religiösen Legitimation der Herrschaft. Der Sultan leitete seine Souveränität unmittelbar von Gott ab. Denn aus dem Koran (insbesondere aus Sure 3, Vers 189: „Gottes ist die Herrschaft über Himmel und Erde; Gott ist aller Dinge mächtig“) folgte die absolute Herrschaft Gottes, die mit dem Ausspruch „die Souveränität gehört Allah“ (türk.: „egemenlik Allahındır“) den politischen Diskurs und die verfassungsrechtlichen Grundlagen des Osmanischen Reiches bestimmte. Der Sultan wiederum übte diese Herrschaft als „Schatten Gottes“ auf Erden aus.162 Mit der Ausrufung der Republik und damit verbunden der Volkssouveränität endete diese religiöse Legitimation der Herrschaft. Die Republik hatte es gemäß eines in seiner Gründungszeit weitverbreiteten Ausspruchs geschafft, „die Souveränität vom Himmel auf die Erde holen“ (türk.: „egemenliği gökten yere indirmek“). 2. Laizismus Der Laizismus gehört zu den wichtigsten, weil folgenreichsten Prinzipien des Kemalismus. Er statuiert die in der türkischen Geschichte erstmalige Trennung von Staat und Religion, mit dem Ziel der Befreiung des Staates und der Bevölkerung von den religiös bedingten oder zumindest legitimierten und daher mächtigen traditionellen Strukturen und Lebensweisen. Damit verbunden ist eine tiefgreifende Säkularisierung von Staat und Gesellschaft.163 Die Religion soll in der Öffentlichkeit und insbesondere in der Politik keine Rolle mehr spielen und in die Privatsphäre der Menschen zurückgedrängt werden.164 Die Abschaffung des islamischen Rechts und die Einführung weltlicher, vom „Westen“ rezipierter Gesetzbücher sind genauso Ausdruck dieses Laizismus wie der Aufbau eines weltlichen Schul- und Universitätssystems. Die Kemalisten verstehen den Laizismus primär als nichtreligiöse Legitimierung des Staates und als Nichteinmischung der Religion in die Belange des Staates und der öffentlichen Gesellschaft.165 3. Nationalismus Der Nationalismus stellt neben dem Laizismus den inhaltlichen Kern der kemalistischen Republik dar.166 Die Idee des Nationalismus bedeutet für die 162  Spuler-Stegemann,

Der Islam in ausgewählten Staaten – Türkei, S. 231. Kemalismus, S. 78–79. 164  Ermağan, EU-Skeptizismus in der Türkei, S. 30. 165  Rumpf, Laizismus und Religionsfreiheit in der Türkei, S. 18; Hirsch, Verfassung der Türkischen Republik, S. 84. 166  Rumpf, Laizismus und Religionsfreiheit in der Türkei, S. 18. 163  Şahinler,



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Kemalisten die Entwicklung und Stärkung einer türkischen Nationalstaatlichkeit, eines entsprechenden Nationalgefühls, mithin die Verwirklichung eines türkischen Nationalstaates.167 Damit geht die Abwendung von der traditionellen Struktur des Osmanischen Reiches als theokratischer Vielvölkerstaat einher, der seine Bewohner nach Religionsgemeinschaften ordnete, seine Verwaltung danach ausrichtete und die Rechtsstellung der jeweiligen Gruppen und Individuen aus dem islamischen Recht folgerte (millet-Struktur).168 Es liegt kein Widerspruch vor, wenn man den Kemalisten einerseits die „Verwestlichung“ als Mittel und Ziel ihrer Politik zuschreibt und andererseits den Nationalismus zu einem ihrer Grundprinzipien erklärt. Denn der türkische Nationalismus bedeutet nicht etwa die Ablehnung von äußeren Einflüssen und die Rückbesinnung auf eigene Traditionen, sondern sie ist gerade ein Ausdruck der Verwestlichungspolitik. Der auf religiösen Prinzipien aufbauende Vielvölkerstaat galt als veraltet und rückständig, der Nationalstaat, wie er im „Westen“ verbreitet war, als zeitgenössisch (türk.: „çağdaş“) und erstrebenswert. Die Verwirklichung des Nationalstaates war daher ein essen­ tieller Teil der „Verwestlichung“ und stellte gleichzeitig deren Fundament dar, auf dem die anderen Reformen und Veränderungen aufgebaut werden konnten. Dabei bedingen der Laizismus und der Nationalismus einander. Der Islam im Allgemeinen und der theokratische Staat im Besonderen, die bis zur Gründung der Republik die Identität und die Zugehörigkeit der Menschen bestimmten, fielen wegen des Grundsatzes des Laizismus, der die Trennung von Staat und Religion vorschreibt und die Säkularisierung von Staat und Gesellschaft fordert, als Integrationselemente aus.169 Diese Lücke soll der kemalistische Nationalismus schließen, der wiederum selbst den Laizismus braucht, um den theokratischen Staat in die Schranken weisen zu können. Dieser Nationalismus der Kemalisten basiert nicht auf einer Rasse oder einer Religion beziehungsweise Konfession.170 Vielmehr definieren sie den Nationalismus über die türkische Nationalsprache, die aus der Geschichte erwachsene gemeinsame Kultur und das ebenfalls aus der gemeinsamen Geschichte entstandene „emotional-moralische Moment der Brüderlichkeit“171, die sich in gemeinsamen Werten und Idealen (türk.: „ülkü“) ausdrückte.172 Alle ethnischen und religiösen Gruppen konnten daher bei der National167  Ermağan,

EU-Skeptizismus in der Türkei, S. 30. Nationalismusprinzip, S. 416. 169  Rumpf, Nationalismusprinzip, S. 420; Rumpf, Laizismus und Religionsfreiheit in der Türkei, S. 18. 170  Tekinalp, Kemalizm (Kemalismus), S. 253–254; Ermağan, EU-Skeptizismus in der Türkei, S. 30. 171  Rumpf, Nationalismusprinzip, S. 419. 172  Tekinalp, Kemalizm (Kemalismus), S. 251, 253. 168  Rumpf,

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staatswerdung miteinbezogen werden.173 Aus kemalistischer Sicht sind alle Bürger Teil der Nation, unabhängig von Rasse, Ethnie, Religion oder Konfession. Dieser Ansatz beinhaltet sowohl die Möglichkeit der Einheit im Nationalstaat unter Förderung von gleicher Teilhabe und Integration ohne Unterdrückung der ethnischen oder religiösen Unterschiede174, als auch die Handhabe zur Leugnung beziehungsweise Assimilation bestimmter Volksund Religionsgruppen. Die gemeinsame Nationalsprache kann als lingua franca dienen und anderen Sprachen weiterhin Raum lassen. Sie kann aber auch als Aufforderung zur Derogation oder Unterdrückung anderer Sprachen begriffen werden. Die gemeinsame Kultur kann als eine nationale Kultur­ politik gedacht werden, die verschiedene kulturelle Strömungen unter einem Dach sammelt und vereinigt, sie kann aber auch zur Legitimation der Leugnung und Assimilation anderer Kulturelemente herangezogen werden.175 Beispielsweise erwies sich der kemalistische Nationalstaat für die Minderheit der islamischen Konfession der Aleviten im Vergleich zu ihrer Situation im Osmanischen Reich als Segen. Die Aleviten waren im Osmanischen Reich keine anerkannte Glaubensgemeinschaft. Sie galten im Gegenteil als Ketzer und Häretiker, als Gefahr für die Stabilität des sunnitisch-islamisch legitimierten und geprägten Reiches. Daher wurden sie sozial und räumlich ausgestoßen und konnten am öffentlichen und staatlichen Leben nicht teilnehmen.176 Sie waren über Jahrhunderte hinweg Diskriminierungen, Repressionen und Verfolgungen ausgesetzt.177 Erst der säkulare Nationalstaat der Kemalisten, der nicht mehr auf Religion und Konfession beruhte, sondern auf Sprache, Geschichte und Kultur, beendete die Isolation und Verfolgung der Aleviten. Der neue Nationalstaat definierte die Zugehörigkeit und die politisch- gesellschaftlichen Spielregeln neu, wodurch es zu einer Emanzipation und Entdiskriminierung der Aleviten, ihrer religiösen Lehren und ihrer Lebensart kam.178 Der Präsident der Alevitisch-Bektaschitischen Föderation erklärte hierzu in einem Interview: „Mit der Republik gelangten wir vom Status des Dieners zu dem des Bürgers. […] Die Republik hat die Ungleichheit zwischen den Bürgern verhindert. Sie hat jeden gleich behandelt. Ohne auf die Religion zu achten hat sie ‚Ihr seid gleich‘ gesagt. […] In der Republik haben wir zum ersten Mal das Wort ‚gleich‘ gehört.“179 In der Folge bekennt sich seither eine sehr große Mehrheit der Aleviten zum kemalisti173  Ermağan,

EU-Skeptizismus in der Türkei, S. 30. Kemalizm (Kemalismus), S. 265. 175  Rumpf, Nationalismusprinzip, S. 418. 176  Gümüş, Türkische Aleviten, S. 139. 177  Gümüş, Türkische Aleviten, S. 71, 85, 92, 105. 178  Gümüş, Türkische Aleviten, S. 139–140. 179  Zitiert aus Çalışlar, Aleviler (Aleviten), S. 36. 174  Tekinalp,



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schen Nationalstaat. Die türkischen Aleviten entwickelten sich zu einer der tragenden Säulen der kemalistischen Republik und waren auch in den 1950ern und 1960ern loyale Anhänger der Republikanischen Volkspartei (CHP) Mustafa Kemal Atatürks und sind es auch heute noch in mindestens diesem Maße.180 Auch die Kurden fanden anfangs ihren Platz als eigene Ethnie innerhalb dieses Nationalstaates. Der propagierte Nationalismus schien dem nicht entgegen zu stehen. Die Siedlungsgesetzgebung von 1934 und 1935 ging noch von der Existenz einer kurdischen Volksgruppe aus.181 Aber ab der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, insbesondere in den 1970ern und 1980ern, wurden die Kurden mit einer Leugnung und Unterdrückung durch den Staat konfrontiert, der diese Politik durch Bezugnahme auf den Nationalismus zu legitimieren versuchte. Zwar waren die Kurden vom gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und politischen Leben nicht per se ausgeschlossen. Es gab kurdische Industrielle, Beamte, Richter, Abgeordnete, Minister und sogar einen kurdischen Staatspräsidenten, nämlich Turgut Özal, der von 1989 bis zu seinem Tode 1993 dieses Amt bekleidete. In den Genuss der Teilhabe konnten die Kurden jedoch nur kommen, wenn sie sich als Türke definierten. Die kurdische Sprache und Kultur wurde insbesondere in den 1980ern und Anfang der 1990er unterdrückt. Kollektivrechte und Regelungen zur Selbstverwaltung sucht man zu dieser Zeit vergebens. Die Forderung nach diesen stand unter Strafe. Selbst das Verwenden der kurdischen Sprache in der ­Öffentlichkeit konnte Sanktionen nach sich ziehen. Der Staat benutzte den Nationalismus als „ein Vehikel zur zwangsweisen Assimilation“182. 4. Populismus Das Prinzip des Populismus verlangt eine „Herrschaft durch und mit dem Volk statt über das Volk“183. Dies bedeutet das Streben nach einer Realisierung der auch im Republikanismus angelegten Volkssouveränität durch eine tatsächliche Mitwirkung des Volkes an der Politik des Landes. Zudem steht der Populismus für eine gemeinwohlorientierte Politik, die den Interessen des gesamten Volkes gerecht wird und nicht nur die Vorteile einzelner Personen, Gruppen oder Klassen im Blick hat.184 Die Hauptforderung des Populismus ist die nach Gleichheit und Gleichberechtigung aller Staatsbürger.185 Er 180  Gümüş,

Türkische Aleviten, S. 141–143, 236–237. Nationalismusprinzip, S. 410. 182  Rumpf, Nationalismusprinzip, S. 407. 183  Rumpf, Nationalismusprinzip, S. 411. 184  Ermağan, EU-Skeptizismus in der Türkei, S. 30. 185  Tekinalp, Kemalizm (Kemalismus), S. 248; Şahinler, Kemalismus, S. 67. 181  Rumpf,

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symbolisiert die Absage der Kemalisten an alle Gesellschaftsformen, denen Standes- und Klassenideologien zugrunde liegen, seien sie religiös-traditionell begründet wie im Osmanischen Reich oder ökonomisch-materialistisch wie im Kommunismus. Daher ist die Abschaffung der osmanischen Titel und Privilegien für einzelne Personen und Stände die praktische Umsetzung des Prinzips des Populismus.186 Der Populismus steht für das kemalistische Streben nach einer „klassenübergreifende[n] gesellschaftliche[n] Kooperation“187. 5. Etatismus Das kemalistische Prinzip des Etatismus betrifft die Wirtschaftspolitik des Staates. Er sieht eine Wirtschaftsordnung vor, in die der Staat aktiv eingreift. Der Staat steuert, dirigiert und koordiniert die Wirtschaft des Landes. Dies ist jedoch nicht mit sozialistischen Wirtschaftsordnungen sowjetischer Couleur vergleichbar. Während Letztere Privateigentum nicht oder nur sehr begrenzt anerkennen, geht der kemalistische Etatismus vom Privateigentum als Grundlage der Wirtschaftsordnung aus.188 Privatinvestitionen und die Privatwirtschaft im Allgemeinen wurden durch den Etatismus nicht verdrängt oder verboten, sondern waren im Gegenteil willkommen für den Aufbau der türkischen Wirtschaft. Auf verschiedenen Wegen versuchte die CHP-Regierung in den 1920ern und 1930ern private Investitionen zu fördern und Anreize hierfür zu geben.189 Aufgrund der ökonomischen Rückständigkeit, den die Republik vom Osmanischen Reich geerbt hatte (fehlende Infrastruktur und kaum vorhandene Industrialisierung), sahen die Kemalisten aber den Staat in der Pflicht, durch große Investitionen in die Infrastruktur und durch die Gründung von Industriebetrieben für eine rasche wirtschaftliche Entwicklung zu sorgen.190 Privateigentum und Marktwirtschaft blieben also eine Grundlage des Wirtschaftslebens, jedoch war der Staat der prägende Akteur in der Wirtschaft und in einigen Sektoren sogar federführend.191 Der kemalistische Etatismus geht also von einem Nebeneinander und im besten Fall von einer Kooperation von privater und staatlicher Wirtschaftstätigkeit aus.192 Als Ausdruck dieses Prinzips waren bestimmte Wirtschaftsbereiche bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs gänzlich in staatlicher Hand, wie der Bergbau und allgemein die Förderung von Bodenschätzen, sowie zu Beginn der Republik 186  Şahinler,

Kemalismus, S. 67. EU-Skeptizismus in der Türkei, S. 30. 188  Tekinalp, Kemalizm (Kemalismus), S. 211. 189  Şahinler, Kemalismus, S. 83, 87. 190  Ermağan, EU-Skeptizismus in der Türkei, S. 30–31. 191  Tekinalp, Kemalizm (Kemalismus), S. 214. 192  Şahinler, Kemalismus, S. 81–82. 187  Ermağan,



III. Der Kemalismus und seine Vorgaben für die Verfassung von 1961 59

auch das Bankensystem.193 Andere Wirtschaftszweige hingegen wurden ganz der Privatwirtschaft überlassen.194 Schon während der Regierungszeit Mustafa Kemal Atatürks, aber insbesondere auch danach, waren der konkrete Inhalt des Etatismus und seine tatsächliche Umsetzung umstritten. Die verschiedenen Parteiflügel der Republikanischen Volkspartei (CHP) legten bereits in den 1930ern den Etatismus unterschiedlich aus und folgerten dadurch eine jeweils kleinere oder größere Rolle des Staates in der Wirtschaft.195 Anders als in kommunistischen Staaten geht mit der türkischen Wirtschaftsordnung auch keine Ideologie von der Herrschaft des Proletariats einher.196 Die Kemalisten vertreten keine Klasseninteressen und lehnen den Klassenkampf als prägendes Bild der Geschichts- und Wirtschaftsauffassung ab. Arbeitgeber und Arbeitnehmer sollen beide zur Förderung der türkischen Wirtschaft beitragen. Durch diese würden auch sie selbst durch höheren Wohlstand und Reichtum profitieren. Den notwendigen Interessenausgleich zwischen beiden Seiten soll der Staat sicherstellen. Diesem kommt die Rolle eines Schiedsrichters zu, der keine Klasseninteressen, sondern die Interessen der Gesamtgesellschaft im Auge hätte.197 Der Hintergrund dieser Wirtschaftspolitik lag in der Überzeugung, die Türkei könne die wirtschaftliche Differenz zum „Westen“ nur durch eine staatlich gelenkte Wirtschaftspolitik schließen. Dabei war den Kemalisten bewusst, dass der wirtschaftliche Aufschwung des „Westens“ beginnend von der industriellen Revolution primär ein Ergebnis privater wirtschaftlicher Tätigkeit und einer freien Marktwirtschaft gewesen ist.198 Jedoch standen sie in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts als wirtschaftlich rückständiges Agrarland einem bereits industrialisierten „Westen“ und dem industrialisierten Russland gegenüber. Die wirtschaftliche Dominanz dieser Staaten bedrohte aus kemalistischer Sicht die wirtschaftliche Entwicklung und finan­ zielle Unabhängigkeit der Türkei, wodurch langfristig gesehen letztendlich die durch den Befreiungskrieg erlangte politische Unabhängigkeit wieder in Gefahr geraten würde.199 Der rasche wirtschaftliche Anschluss wurde als überlebenswichtig angesehen. Die Regierung meinte, keine Zeit mehr dafür zu haben, auf eine Industrialisierung nach „westlichem“ Muster zu setzen, also auf eine ausschließlich durch den Privatsektor und durch die Privatwirt193  Şahinler, 194  Şahinler,

195  Tekinalp, 196  Şahinler,

197  Tekinalp, 198  Tekinalp, 199  Şahinler,

Kemalismus, S. 84, 86. Kemalismus, S. 84. Kemalizm (Kemalismus), S. 212. Kemalismus, S. 86. Kemalizm (Kemalismus), S. 171, 218. Kemalizm (Kemalismus), S. 198. Kemalismus, S. 84.

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schaft angetriebene, langsam vonstattengehende, viele Jahrzehnte benötigende wirtschaftliche Entwicklung.200 Nach dem bisher Gesagten ergibt sich, dass auch der kemalistische Etatismus unterschiedlich zur Geltung kommen kann. Er kann als marktwirtschaftliche Ordnung verstanden werden, die der Staat durch Investitionen und Förderungen unterstützt und in die er sozial ausgleichend eingreift (in gewisser Weise vergleichbar mit der sozialen Marktwirtschaft in der Bundesrepublik Deutschland). Er kann jedoch auch als ideologischer Unterbau für eine um sich greifende Staatswirtschaft dienen, die die Privatwirtschaft trotz rechtlicher Zulassung praktisch marginalisiert und die entscheidenden Freiheiten beschränkt. Beispielsweise gab es in der Republik Türkei zunächst keine Vereinigungs- und Koalitionsfreiheit. Maßnahmen des Arbeitskampfes waren untersagt. Im Rahmen des bereits dargelegten Demokratisierungsprozesses ab 1946 wurde auch die Vereinigungs- und Koalitionsfreiheit gewährt. Typischerweise konnten die politischen Akteure beide Rechtslagen als im Einklang mit dem Etatismus stehend und als dessen Folge ansehen und darstellen. 6. Revolutionismus Der Revolutionismus fordert eine immer weiter schreitende Modernisierung, ein permanentes Streben nach Fortschritt. Er steht für eine Geisteshaltung, nach der man sich nicht mit dem Erreichten zufriedengibt, sondern versucht, immer weiter vorwärts zu schreiten und in allen Bereichen die Entwicklung weiter voranzutreiben mit dem Ziel, den Stand der modernen Zivilisation zu erreichen. Nach kemalistischer Überzeugung bedarf es hierzu einer beständigen Fortschritts- und Erneuerungsbewegung und nicht nur einmaliger Reformen.201 In diesem Prinzip befand sich daher auch die Legitimation für die radikalen und umfassenden Reformen der 1920er und 1930er Jahre auf nahezu allen politischen und gesellschaftlichen Gebieten.202 Dieser Revolutionismus ist es auch, der dem Kemalismus eine Dynamik, eine Entwicklungs- und Anpassungsfähigkeit verleiht. Dieses Prinzip verhindert, dass der Kemalismus wie eine in Stein gemeißelte Doktrin statisch und unbeweglich wird.203 Es ermöglicht und fordert sogar eine pragmatische Anpassung der Prinzipien an die Erfordernisse und Umstände der jeweiligen Zeit. 200  Tekinalp,

Kemalizm (Kemalismus), S. 198–199, 204. Kemalizm (Kemalismus), S. 281; Ermağan, EU-Skeptizismus in der Türkei, S. 31; Şahinler, Kemalismus, S. 96. 202  Ermağan, EU-Skeptizismus in der Türkei, S. 31; Şahinler, Kemalismus, S. 96– 99. 203  Rumpf, Nationalismusprinzip, S. 411–412. 201  Tekinalp,



IV. Gründe für eine neue Verfassung61

Den Verfassungsgebern von 1961 stellte der Kemalismus die Aufgabe der Modernisierung und Erneuerung durch „Verwestlichung“ mit dem Ziel, den Stand der modernen Zivilisation zu erreichen. Er duldete keine Umkehr zum einst vorherrschenden Politik- und Gesellschaftssystem des Osmanischen Reiches. Bei der Übertragung der Prinzipien in ihre eigene Zeit und der Wahl der Mittel zur Erfüllung der ihr gestellten Aufgabe ließ er den Verfassungsgebern aber freie Hand.

IV. Gründe für eine neue Verfassung Unmittelbar nach der Machtübernahme begann das Komitee für nationale Einheit mit den Vorbereitungen und Vorkehrungen für die Ausarbeitung einer neuen Verfassung.204 Bei der Frage nach der Notwendigkeit einer neuen Verfassung waren sich die Streitkräfte mit der Republikanischen Volkpartei (CHP), die bereits seit 1957 eine umfassende Verfassungsrevision forderte, den kemalistisch geprägten Juristischen Fakultäten und weiten Teile der Presse einig.205 Die Gründe für eine neue Verfassung lassen sich auf drei Ebenen finden. Zum einen war die neue Verfassung eine Reaktion auf die vorangegangene Zeit der gestürzten autoritären Regierung, zum anderen war sie eine Antwort auf die Verfassungsentwicklungen der letzten Jahrzehnte im Ausland. Zudem stellte sie auch eine Absicherung und Legitimation der Militärintervention vom 27. Mai 1960 und der darauffolgenden Militärherrschaft dar. 1. Reaktion auf die autoritäre Zivilregierung Die Verfassung von 1961 ist das Ergebnis der Militärintervention vom 27. Mai 1960 gegen die Regierung der Demokratischen Partei (DP) von Ministerpräsident Adnan Menderes. Aus der (ihrer Überzeugung nach vorliegenden) Notwendigkeit des Sturzes der autoritären Regierung Menderes folgerten die neuen Machthaber die Notwendigkeit einer neuen Verfassung. Für die Streitkräfte und der ihnen politisch und ideologisch nahestehenden Kreise in der Bürokratie, der Justiz, den Universitäten und der Politik (hier allen voran die Republikanische Volkspartei (CHP)) war die Militärintervention ein legitimer Akt des Widerstandes und der Notwehr, eine Revolution gegen einen Despoten zum Schutze der Demokratie und der Revolutionen Mustafa

204  Siehe

S.  46 ff. Türkiye’nin Demokrasi Tarihi. 1950’den Günümüze (Die Demokratiegeschichte der Türkei. Von 1950 bis heute), S. 65–67; Abadan, Die türkische Verfassung von 1961, S. 329, 335. 205  Çavdar,

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D. Die Entstehung der Verfassung von 1961

Kemal Atatürks und seines Vermächtnisses.206 Sie waren der Ansicht, durch die Militärintervention der Errichtung einer autoritären und reaktionären Einparteienherrschaft der Demokratischen Partei (DP) nur knapp entgangen zu sein. Daher sahen sich die Protagonisten in der Pflicht, Vorkehrungen zu treffen und Maßnahmen zu ergreifen, die zukünftig eine zu große politische Machtfülle und eine autoritäre Herrschaftsausübung unmöglich machen. In erster Linie gehörten zu diesen Vorkehrungen entsprechende verfassungsrechtliche Regelungen, Prinzipien und Institutionen. Die Erfahrung der letzten zehn Jahre hatte sie jedoch gelehrt, dass die Verfassung von 1924 und ihr Verfassungssystem dazu nicht in der Lage waren. Aus diesem Grund entschied man sich zur Ausarbeitung einer neuen Verfassung. Dies ergibt sich sowohl aus der Begründung der Verfassungskommission zu ihrem Verfassungsentwurf als auch aus den Protokollen der Abgeordnetenversammlung. In der Begründung zum Verfassungsentwurf gab die Verfassungskommission unter der Überschrift „Gründe für die Ausarbeitung einer neuen Verfassung“ einen kurzen historischen Überblick über die politische Entwicklung der Türkei seit dem Übergang zum Mehrparteiensystem. Hierbei konzentrierte sie sich auf die autoritäre Regierungspolitik der Demokratischen Partei (DP), die von ihr ausgehende Unterdrückung von Presse und Opposition, sowie die Abkehr von den Prinzipien und Idealen der „Türkischen Revo­ lution“.207 Als Reaktion darauf sah die Verfassungskommission die Umsetzung folgender Punkte als dringend erforderlich an und hielt hierzu die Ausarbeitung einer neuen Verfassung für notwendig: „Reform der Einrichtung der nationalen Repräsentation; Sicherstellung einer Ausübung der politischen Macht durch politische Einrichtungen und Organe, die aus Wahlen hervorgehen; Sicherung der politischen Macht als eine aktive, dynamische und effektive Organisation, die sowohl die Ansprüche eines modernen Staates, als auch einer Gesellschaft, die die wirtschaftliche und soziale Entwicklung realisieren muss, erfüllt; eine politische und rechtliche Kontrolle der Ausübung der politischen Macht, die den Anforderungen eines Rechtsstaates entspricht; Verwirklichung der Kontrolle der politischen Machthaber durch die Stimme des Volkes. […] Die Errichtung eines Rechtsstaates nach diesen Regeln ist der Grund für die Vorbereitung einer […] neuen Verfassung“.208 Nach dem Sturz der autoritären DP-Regierung wollte also die kemalistische Gegenseite die politischen Machtverhältnisse und -prozesse neu gestalten. Nach dem US-amerikanischen Staats- und Verfassungsrechtler deutscher Herkunft, Carl Loewenstein, ist hierfür gerade die Verfassung von entscheidender Bedeutung. Denn das Hauptcharakteristikum einer Verfassung ist die 206  Siehe

S. 44 ff. und S. 49 f. zum Entwurf der Verfassungskommission, S. 2–3. 208  Begründung zum Entwurf der Verfassungskommission, S. 3. 207  Begründung



IV. Gründe für eine neue Verfassung63

Ordnung der politischen Beziehungen und Machtprozesse durch ein System fester Regeln.209 Sie ist die „grundlegende Apparatur und […] [das] grundlegende Instrument der Kontrolle des Machtprozesses“210. Da die türkischen Verfassungsgeber diesen politischen Machtprozess nach den Erfahrungen mit einer autoritären Herrschaftsform neu ordnen und kontrollieren wollten, entschieden sie sich für eine neue Verfassung. Auch in den Verhandlungen in der Abgeordnetenversammlung kristallisierte sich dieser Beweggrund für eine neue Verfassung heraus. Beispielsweise erklärte der Abgeordnete Şahap Kitapçı, die Militärintervention hätte das Land gerettet und nun sei es an der Zeit durch eine neue Verfassung die legitime und soziale Ordnung wiederherzustellen. Die neue Verfassung sei ein Ausdruck „der Wirkungen der vor dem 27. Mai vorliegenden politischen und sozialen Bedingungen und der Bedürfnisse, die sich in diesen Tagen besonders stark manifestierten.“211 Auch der Abgeordnete Fuat Arna sprach von den „bitteren Erfahrungen“212, deren Folge die Verfassung sei und die in der Verfassung ihre Berücksichtigung gefunden hätten. Schließlich brachte der Abgeordnete Rauf Bayındır diesen Grund für die neue Verfassung deutlich zum Ausdruck: „Die wirklich schlechte Verwendung der gestrigen [das heißt alten] Verfassung in der Zeit der zehnjährigen Herrschaft [der DP-Regierung], deren Missbrauch, das Führen des Landes ins Verderben und die Sache der Verfassungsbrüche haben uns zur Ausarbeitung einer neuen Verfassung gedrängt.“213 2. Neue Verfassungsentwicklungen im Ausland Neben der Reaktion auf die autoritäre Vorgängerregierung lagen die Motive für eine neue Verfassung auch in den Verfassungsentwicklungen im Ausland. Nach dem Erlass der türkischen Verfassung von 1924 bis zur Militärintervention von 1960 gab es in der Welt große Veränderungen. Allen voran bestimmten der Zweite Weltkrieg und dessen Folgen die Geschehnisse auf der Welt. Aber auch der Kalte Krieg und der Beginn der Dekolonisation in Asien und Afrika waren von großer Bedeutung. All dies wirkte sich auch auf das Verfassungsrecht aus, sowohl in der Wissenschaft als auch in der Praxis. Die Folge war eine Veränderung der auf Verfassungsebene zu lösenden Probleme, aber auch generell der verfassungsrechtlichen Prinzipien, Werte und Institutionen. 209  Loewenstein,

Verfassungslehre, S. 127. Verfassungslehre, S. 127. 211  T. C. Temsilciler Meclisi Tutanak Dergisi (Protokolle der Abgeordnetenversammlung), Band 2, S. 371. 212  Protokolle der Abgeordnetenversammlung, Band 2, S. 369. 213  Protokolle der Abgeordnetenversammlung, Band 2, S. 469. 210  Loewenstein,

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D. Die Entstehung der Verfassung von 1961

Dies führte zu einer regelrechten Verfassungswelle in den 1940ern und 1950ern. In etlichen Ländern, sowohl in Europa als auch in Asien, entstanden neue Verfassungen, beispielsweise das deutsche Grundgesetz von 1949, die italienische Verfassung von 1947/1948, die französischen Verfassungen von 1946 und 1958, die japanische Verfassung von 1947, die indische Verfassung von 1949 oder die pakistanische Verfassung von 1956, um nur einige Länder unter vielen zu nennen. Viele Staaten, die keine neue Verfassung erarbeiteten, verabschiedeten häufig umfangreiche Verfassungsreformen. Hingegen hatte es in der Türkei, der sowohl eine unmittelbare Beteiligung am Zweiten Weltkrieg als auch Auseinandersetzungen mit Kolonien erspart geblieben sind, seit 1937 keine nennenswerten Verfassungsänderungen oder -reformen gegeben. Und auch die Änderung von 1937 wirkte sich nicht auf die Staatsorganisation oder die Grundrechte aus, sondern war mehr von symbolischer Natur. Denn im Zuge dieser Änderung fanden die sechs kemalistischen Prinzipien Eingang in die Verfassung von 1924.214 Dies war nichts anderes als die symbolische Bekräftigung der politischen und verfassungsrechtlichen Prinzipien, die bereits seit 1923 die Herrschaft der Republikanischen Volkspartei (CHP) kennzeichneten und die Verfassung von 1924 formten. Seit dem Übergang zum Mehrparteiensystem 1946 gehörte zwar das Versprechen von Verfassungsänderungen in jedem Wahlkampf zum festen Repertoire fast aller Parteien.215 Tatsächlich umgesetzt wurde aber nichts. Insbesondere die Demokratische Partei (DP), die zwischen 1950 und 1960 dank eines Mehrheitswahlrechts mit großen parlamentarischen Mehrheiten regieren konnte und daher eine Schlüsselposition bezüglich Verfassungsänderungen innehatte, unterließ entsprechende Bemühungen.216 Daher war 1960 sowohl innerhalb der Streitkräfte als auch innerhalb des politischen Establishments und der Wissenschaft die Meinung vorherrschend, dass auch in der Türkei die Zeit reif sei für eine neue Verfassung (oder zumindest für umfangreiche Verfassungsreformen). Sie sahen sich in der ­ Pflicht, auf die weltweite Verfassungswelle zu reagieren und ebenfalls eine neue Verfassung zu erarbeiten. Der Abgeordnete Rauf Bayındır legte dies während der Beratungen in der Abgeordnetenversammlung dar: „Selbst wenn es die finstere Ära der vergangenen zehn Jahre nicht gegeben hätte, wären wir verpflichtet gewesen, die Verfassung neu auszuarbeiten. Gemäß den Verhältnissen der heutigen Welt, den heutigen Erfordernissen und dem heutigen Demokratieverständnis […] mussten wir die Verfassung ändern.“217 Auch der 214  Abadan,

Die Entstehung der Türkei, S. 373. Die türkische Verfassung von 1961, S. 328. 216  Abadan, Die Entstehung der Türkei, S. 374; Abadan, Die türkische Verfassung von 1961, S. 327–328. 217  Protokolle der Abgeordnetenversammlung, Band 2, S. 469. 215  Abadan,



IV. Gründe für eine neue Verfassung65

Revolutionismus als kemalistisches Prinzip bedingte diese Überzeugung. Denn die Forderung des Revolutionismus nach einer immer weiter schreitenden Modernisierung, einem permanenten Streben nach Erneuerung und Fortschritt bewirkte bei den kemalistischen Kreisen, die nach der Militärintervention vom 27. Mai 1960 wieder die Meinungsführerschaft erlangt hatten, die Vorstellung, eine Antwort auf die neuen Verfassungsentwicklungen auf der Welt geben zu müssen und sich nicht mit der bisherigen Verfassung von 1924 zufriedengeben zu können. 3. Rechtliche Absicherung und Legitimation der Militärintervention Neben den ersten beiden Gründen sprach für eine neue Verfassung auch das Bedürfnis nach einer umfassenden Legitimation der Militärintervention vom 27. Mai 1960 und der anschließenden Militärherrschaft. Dabei gab sich das Komitee für nationale Einheit von Anfang an große Mühe, den Sturz der DP-Regierung und die Errichtung einer vorübergehenden Militärherrschaft zu rechtfertigen und rechtlich zu legitimieren. Man verließ sich nicht auf die normative Kraft des Faktischen, wonach für die Befugnis zur Ausübung der Staatsgewalt durch einen neuen Machthaber, der infolge eines Regierungsumsturzes oder einer Revolution die Herrschaft erlangte, alleine das tatsächliche Innehaben der Macht und damit verbunden die Anerkennung der tatsächlichen Verhältnisse von Bedeutung ist und nicht etwa deren rechtmäßiger Erwerb.218 Demnach entscheidet der Erfolg eines Umsturzes beziehungsweise einer Revolution über deren Legitimität und es bedarf grundsätzlich keiner weiteren Rechtfertigung.219 Die Militärregierung versuchte jedoch mehrfach unter Bezugnahme auf verschiedene Faktoren ihre Taten normativ als rechtmäßig zu qualifizieren. Noch am Morgen der Machtübernahme ließ das Komitee für nationale Einheit einen Ausschuss aus Juraprofessoren unter dem Vorsitz des Rektors der Universität Istanbul zusammenrufen, dessen erste Aufgabe die Ausformulierung eines Gutachtens über die rechtliche Legitimität der Militärintervention war, die einen Tag später im Rundfunk verlesen wurde.220 Auch die provisorische Verfassung vom 12. Juni 1960 enthielt als Einleitung unter dem Titel „Allgemeine Bestimmungen“ eine lange Rechtfertigung für die Militärintervention. In Artikel 1 des Gesetzes Nummer 157 vom 13.12.1960 zur Errich218  Jellinek, Allgemeine Staatslehre, S. 337–342; Lepsius, Besitz und Sachherrschaft im Öffentlichen Recht, S. 178–179; Schliesky, Souveränität und Legitimität von Herrschaftsgewalt, S. 226. 219  Hirsch, Verfassung der Türkischen Republik, S. 35. 220  Abadan, Die türkische Verfassung von 1961, S. 334.

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D. Die Entstehung der Verfassung von 1961

tung einer konstituierenden Versammlung finden sich ebenfalls entsprechende Erklärungen. Die Rechtfertigung konzentrierte sich dabei auf eine Delegitimierung der früheren Machthaber. Das Unrecht der DP-Regierung diente als rechtliche Legitimierung für die Militärregierung. Die Gründe, die die neue Regierung für den Verlust der Legitimation der Demokratischen Partei (DP) aufzählte, lassen sich in drei Punkten zusammenfassen. Der gestürzten Regierung wurden der Bruch und die Missachtung der Verfassung sowie die Abkehr von den Reformen Mustafa Kemal Atatürks vorgeworfen. Hinzu kam der Vorwurf der Verletzung der Grund- und Menschenrechte, die neben dem Verfassungsbruch, der vornehmlich auf die staatsorganisatorischen Bestimmungen gerichtet war, aufgezählt wurde. Die Militärintervention wurde als eine Reaktion auf diese Politik verstanden, als die Ausübung des Widerstandsrechts. Die von dem für die Legitimierung der Militärintervention einberufenen Ausschuss ausformulierte Erklärung spricht in diesem Zusammenhang davon, dass die DP-Regierung „gegen die Reformen von Atatürk Stellung genommen [hat], […] die Staatsbürger, die Opposition und die Presse […] unter großen Druck gesetzt [hat], […] die Türkische Große Natio­nalversammlung […] weitgehend zu einer Fraktionsgruppe degradiert wurde […] [und] damit […] als funktionsunfähig und als ‚de facto‘ aufgelöst [galt]“221. In der vorläufigen Verfassung hielten die neuen Machthaber fest: „Da die Verfassung von den Anführern der an der Macht befindlichen Partei mit Füßen getreten wurde und alle Individual- und Menschenrechte und Freiheiten […] aufgehoben wurden, die Kontrolle durch die Opposition unmöglich gemacht und dadurch eine Einparteiendiktatur errichtet worden war, wurde die Türkische Große Nationalversammlung faktisch zu einer Fraktion einer Partei umgewandelt und verlor daher ihre Legitimität.“222 Schließlich erklärte Artikel 1 des Gesetzes Nummer 157 vom 13.12.1960 die Militär­ intervention als eine Umsetzung „des Widerstandsrechts der türkischen Nation gegen die Unterdrückung“. Hieraus folgt, dass eine neue Verfassung als rechtliche Legitimation der Militärintervention formaljuristisch nicht notwendig gewesen ist. Über die Vorwürfe des Verfassungsbruchs, der Verletzung der Menschenrechte und der Ablehnung und Abkehr von den Revolutionen Mustafa Kemal Atatürks gelangte man zur Einordnung der DP-Regierung als ein Unrechtsregime, dessen Sturz folgerichtig nicht Unrecht sein könne, sondern im Gegenteil eine Wiederherstellung der Verfassung und des Rechts gewesen sei. Der Logik dieses Argumentationsmusters folgend war die Handlung der Streitkräfte auch inaus Abadan, Die türkische Verfassung von 1961, S. 334. Bestimmungen des Provisorischen Gesetzes bezüglich der Aufhebung und Änderung einiger Bestimmungen des Verfassungsgesetzes Nummer 491 von 1924. 221  Zitiert

222  Allgemeine



V. Fazit67

nerhalb der alten Verfassungsordnung legitim und rechtmäßig, mithin bedurfte es nicht einer Legitimierung durch eine neue Verfassungsordnung. Daher sind die vorrangigen Gründe für eine neue Verfassung in den beiden bereits geschilderten Punkten zu sehen, das heißt in dem Bestreben, der Gefahr der Entstehung eines (neuen) autoritären Regimes durch eine neue Verfassungsordnung zu begegnen und die Verwirklichung dieser Gefahr durch diese zu verhindern, sowie in der Überzeugung, neue Verfassungsentwicklungen aufnehmen und diese mitgehen zu müssen. Dennoch hatte die Verfassung von 1961, auch wenn dies wie eben dargelegt nicht ihre Hauptaufgabe gewesen ist, auch die Funktion, die Militärintervention vom 27. Mai 1960 und die anschließende Militärregierung zusätzlich rechtlich abzusichern und zu legitimieren. Dies ergibt sich bereits aus der Präambel der Verfassung von 1961, die von der türkischen Nation spricht, die unter anderem „unter Nutzung ihres Widerstandsrechts die Revolution vom 27. Mai 1960 gegen ein Regime durchgeführt hat, das durch sein verfassungs- und rechtswidriges Gebaren und Verhalten seine Legitimität verloren hatte“. Zusätzlich hielten die Verfassungsgeber in Übergangsartikel 4 Absatz 2 TürkVerf (im Folgenden werden Artikel der Türkischen Verfassung von 1961 mit „TürkVerf“ gekennzeichnet) fest, dass die Entscheidungen und Maßnahmen des Komitees für nationale Einheit während der Übergangsphase von der alten zur neuen Verfassungsordnung und die Ausführung dieser Entscheidungen durch die Verwaltung nicht justiziabel sind und diesbezüglich keine „strafrecht­liche, finanzielle oder zivilrechtliche Verantwortlichkeit“ besteht. Mit anderen Worten genossen die Mitglieder des Komitees für nationale Einheit für die Handlungen während ihrer Regierungszeit Immunität. Des Weiteren konnten gemäß Übergangsartikel 4 Abs. 3 TürkVerf die Gesetze, die das Komitee für nationale Einheit erlassen hatte, zwar durch den parlamentarischen Gesetzgeber geändert oder aufgehoben werden, aber sie waren der Gerichtsbarkeit des Verfassungsgerichts, also dem Vorwurf der Verfassungswidrigkeit entzogen. Die Verfassung von 1961 diente somit auch der recht­lichen Absicherung der Militärintervention vom 27. Mai 1960.

V. Fazit Die Verfassung von 1961 war das Werk kemalistisch geprägter Parteien, Schichten und Institutionen, allen voran der CHP und der Streitkräfte. Der Kemalismus bildete daher den Rahmen und die Grundlage für die neue Verfassung. Da der Kemalismus aber keine in sich geschlossene Ideologie und kein abschließendes theoretisches System darstellt, waren die türkischen Verfassungsgeber durch sie nicht an bestimmte Verfassungsnormen oder Verfassungssätze gebunden. Vielmehr gab der Kemalismus den türkischen Ver-

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D. Die Entstehung der Verfassung von 1961

fassungsgebern die Zielrichtung ihres Handelns vor, namentlich die weiterschreitende Modernisierug und Erneuerung der Türkei durch „Verwestlichung“ sowie die Etablierung eines wirtschaftlich und politisch unabhängigen Nationalstaates, der die Standards der modernen, zeitgenössischen Zivilisation erreicht und weiterträgt. Im Kemalismus liegt auch einer der Gründe für die Ausarbeitung der Verfassung von 1961. Denn das kemalistische Prinzip des Revolutionismus und die damit einhergehende Geisteshaltung, nämlich die Forderung nach einer immer weiterschreitenden Modernisierung und das permanente Streben nach Fortschritt und Erneuerung, führten dazu, dass sich die Träger dieser Geisteshaltung (d. h. in erster Linie die CHP und die Streitkräfte) in der Pflicht sahen, der Welle an neuen Verfassungen seit dem Zweiten Weltkrieg Rechnung zu tragen und ebenfalls eine neue Verfassung auszuarbeiten. Ein weiterer Grund für die Ausarbeitung einer neuen Verfassung waren die Erfahrungen mit der autoritären, islamisch-konservativen Vorgängerregierung. Mit der neuen Verfassung verfolgten die Verfassungsgeber das Ziel, die Macht- und Entscheidungsprozesse und -strukturen neu zu ordnen, um zukünftig Machtmissbrauch zu verhindern. Durch entsprechende verfassungsrechtliche Institutionen, Verfahren und Prinzipien sollte sichergestellt werden, dass ein Abgleiten in ein autoritäres Regime nicht erneut möglich ist. Die neue Verfassung war daher eine unmittelbare Reaktion auf die Unterdrückung der Opposition, die Gängelung der Presse, die Missachtung der Grundrechte, allen voran der Meinungs- und Versammlungsfreiheit, und die Aushebelung der unabhängigen Justiz durch die gestürzte DP-Regierung unter Adnan Menderes. Daneben sollte durch eine neue Verfassungsordnung die Militärintervention gegen die islamisch-konservative DP-Regierung nachträglich rechtlich abgesichert und legitimiert werden. Daher garantierte die Verfassung von 1961 den Mitgliedern der Militärregierung Immunität für den Sturz der islamisch-konservativen Vorgängerregierung sowie für die ergriffenene Maßnahmen während der Militärherrschaft und statuierte die Verfassungsfestigkeit der Gesetze und Entscheidungen der Militärregierung.

E. Die Verfassung von 1961 unter besonderer Berücksichtigung von Rezeptionsvorgängen I. Begründung der Auswahl Die Untersuchung der Verfassung von 1961 geht nachfolgend weder wahllos von bestimmten Einzelbereichen und Einzelnormen aus, noch reiht sie zusammenhang- und beziehungslos alle Verfassungsartikel aneinander. Vielmehr setzt die vorliegende Arbeit bewusst Schwerpunkte auf bestimmte Bereiche der Verfassung, die in größeren Zusammenhängen stehen, und konzentriert sich auf die Darlegung der Rezeptionsvorgänge in diesen Bereichen unter Berücksichtigung der Zusammenhänge und Wechselwirkungen. Hierzu gehören die Stellung des Präsidenten, die Gestaltung und Bedeutung des Parlaments und die Rolle der Regierung im Verhältnis zum Parlament und zum Präsidenten als die zentralen Elemente der Staatsorganisation. Hinzu kommt die Erörterung des Grundrechtekatalogs, sowohl hinsichtlich Inhalt und Aufbau der Grundrechte als auch hinsichtlich der Grundrechtsbeschränkungen, sowie die Untersuchung der Verfassungsgerichtsbarkeit. Damit umfasst diese Auswahl, betreffend die Anzahl der Artikel und der in der Verfassung geregelten inhaltlichen Materien, den größten und hauptsächlichen Teil der Verfassung von 1961. Die Wahl dieser Schwerpunkte findet ihre Begründung in dem unmittelbaren Zusammenhang zwischen den ausgewählten Regelungsgebieten mit den beiden Hauptmotiven und Beweggründen für die neue Verfassung. Die untersuchten Bereiche geben Auskunft über die Umsetzung der mit der neuen Verfassung verfolgten Ziele und Absichten. Aus diesem Grund waren diese Abschnitte auch für die Verfassungsautoren von besonderem Belang und Interesse, sodass im Rahmen der Verfassungsarbeiten an diesen Stellen auch im Bezug auf die Rezeption „westlicher“ Verfassungsrechte die maßgeblichen Diskussionen und Auseinandersetzungen stattfanden. Die Absicht der militärischen Machthaber und der ihnen nahestehenden kemalistischen Kreise, mit einer neuen Verfassung die Machtbeziehungen und politischen Prozesse im Land neu zu ordnen und zu gestalten, um eine Machtkonzentration in der Hand eines Organs oder gar einer Person in Zukunft zu verhindern und der erneuten Errichtung einer autoritären Herrschaft vorzubeugen, spiegelt sich in dieser Auswahl wider. Die Befugnisse und

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E. Verfassung von 1961 unter Berücksichtigung von Rezeptionsvorgängen

Kompetenzen von Präsident, Parlament und Regierung und die Ausgestaltung ihrer Verhältnisse zueinander ist von besonderer Bedeutung und Brisanz für die Etablierung einerseits einer leistungsfähigen und effektiven Staatlichkeit und andererseits einer funktionierenden und austarierten Gewaltenteilung, in der sich die Staatsgewalten gegenseitig kontrollieren und beschränken. Ein ganz besonderes Gewicht haben in diesem Rahmen die Grundrechte, die in ihrer Funktion vornehmlich als Abwehrrechte gegen den Staat die Rechte und Freiheiten der Individuen vor Übergriffen des Staates schützen und somit die Macht staatlicher Organe und Institutionen begrenzen.223 Ihre Geltung und Sicherstellung ist der verlässlichste und sicherste Schutz vor dem Aufkommen einer autoritären Staatsmacht, da eine Machtkonzentration nicht mit individuellen Grundfreiheiten und Grundrechten in Einklang zu bringen ist.224 Auch die Einrichtung des Verfassungsgerichts sei an dieser Stelle erwähnt. Das Verfassungsgericht kontrolliert die staatlichen Akteure und Organe und begrenzt deren Macht, in dem es diese zur Beachtung der Verfassung zwingt.225 Die Motivation der Verfassungsgeber mit der Verfassung von 1961 auf die neuen Verfassungsentwicklungen in der Welt zu reagieren und diesen Rechnung zu tragen, findet wiederum seine Umsetzung in besonderem Maße in der Errichtung des Verfassungsgerichts und in der Einführung von sozialen Grundrechten als Ausdruck des Sozialstaates als neues Staatsprinzip. Zwar war die staatliche Gerichtsbarkeit selbstverständlich schon viel länger Gegenstand von Verfassungswerken auf der ganzen Welt. Jedoch bezweckten entsprechende Bestimmungen vorrangig nur die Sicherstellung der richter­ lichen Unabhängigkeit und den Schutz der Gerichte vor Eingriffen anderer staatlicher Organe. Das primäre Ziel war eine gegenseitige Isolierung von Gerichten und den anderen Staatsgewalten.226 Erst ab dem Zweiten Weltkrieg entwickelte sich die Judikative im gesamten „Westen“ vor allem in Form des Verfassungsgerichts zu einem echten Machtträger im Gefüge der staatlichen Organisation. Das Verfassungsgericht wurde im Zuge dieser neuen Entwicklung zu einer Institution, die die vollziehenden und gesetzgebenden Organe überwacht und kontrolliert.227 Für die türkischen Verfassungsgeber von 1960 war ein solches Verfassungsgericht daher eine noch junge Institution, die zudem in der Türkei bis dahin noch nicht Fuß gefasst hatte.

223  Loewenstein,

Verfassungslehre, Verfassungslehre, 225  Loewenstein, Verfassungslehre, 226  Loewenstein, Verfassungslehre, 227  Loewenstein, Verfassungslehre, 224  Loewenstein,

S. 295, 333. S. 335. S. 243. S. 243. S. 243.



II. Staatsorganisation71

II. Staatsorganisation Kern jeder Verfassung sind neben den Grundrechten die Regelungen über die Bestellung, die Zusammensetzung und die Kompetenzen der Staatsorgane und über deren Verhältnis zueinander. Die Strukturen des politischen Systems und die Institutionen des Staates, mithin die Staatsorganisation bestimmen die staatlichen Entscheidungs- und Machtprozesse. Die maßgeb­ lichen Staatsorgane sind vorliegend der Staatspräsident als Staatsoberhaupt, die Regierung als Exekutive, das Parlament als Legislative und das Verfassungsgericht. Entscheidend sind dabei nicht nur die Zusammensetzung und Funktionen dieser Organe jeweils für sich, sondern im Rahmen der Gewaltenteilung auch die „wechselseitigen Einwirkungen dieser […] Machtträger aufeinander im Rahmen des Machtprozesses“228. Diese wechselseitigen Einwirkungen, also die Kontrolleinrichtungen zwischen den einzelnen Macht­ trägern und Organen stellen die sogenannten „Interorgan-Kontrollen“ dar.229 Daneben sind jedoch auch die Kontrolleinrichtungen innerhalb der jeweiligen Organe und Machtträger, mithin die internen Kontrollen, Einflussnahmemöglichkeiten und Machtbegrenzungen eines jeden Organs für das Verständnis des politischen Systems relevant. Diese stellen die sogenannten „Intra-OrganKontrollen“ dar.230 1. Stellung und Befugnisse des Präsidenten Die Stellung und die Befugnisse des Staatsoberhaupts sind maßgeblich für das gesamte System der Staatsorganisation und prägen die Machtbeziehungen und politischen Entscheidungswege des Staates. Vor diesem Hintergrund entschieden sich die türkischen Verfassungsgeber von 1961 dazu, dem Staatsoberhaupt keine starke Machtposition einzuräumen, sondern ein parlamentarisches System einzuführen, das aber im Gegensatz zur bis dato geltenden Verfassung von 1924 auf dem Prinzip der Gewaltenteilung basieren sollte. Der Staatspräsident, der wörtlich Präsident der Republik (türk.: „Cumhurbaşkanı)“ heißt, wird von der Türkischen Großen Nationalversammlung (TGNV), d. h. den beiden Kammern des Parlaments, aus ihren eigenen Reihen mit einer Mehrheit von zwei Dritteln der Gesamtzahl der Parlamentsmitglieder in geheimer Abstimmung gewählt. Sollte eine Zwei-Drittel-Mehrheit in den ersten zwei Wahlgängen verfehlt werden, so reicht in einem dritten Wahlgang die absolute Mehrheit. Wählbar ist jedes Mitglied der 228  Loewenstein,

Verfassungslehre, S. 168. Verfassungslehre, S. 167–168. 230  Loewenstein, Verfassungslehre, S. 167. 229  Loewenstein,

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E. Verfassung von 1961 unter Berücksichtigung von Rezeptionsvorgängen

TGNV, der das vierzigste Lebensjahr vollendet und eine Hochschulbildung abgeschlossen hat (Art. 95 Abs. 1 TürkVerf). Die Amtsperiode des gewählten Kandidaten beträgt sieben Jahren, eine unmittelbare Wiederwahl ist ausgeschlossen (Art. 95 Abs. 1 und Abs. 2 TürkVerf). Nach der Wahl endet die Mitgliedschaft des Staatspräsidenten im Parlament genauso wie die Beziehung zu seiner Partei (Art. 95 Abs. 3 TürkVerf). Diese Regelungen hinsichtlich der Wahl des Präsidenten der Republik waren Gegenstand von lebhaften Diskussionen in der Abgeordnetenversammlung. Strittig waren insbesondere die Fragen, ob das Parlament den Staatspräsidenten wählen soll oder unmittelbar das Volk, ob eine Wiederwahl zulässig sein soll und ob die Amtszeit des Staatspräsidenten fünf oder sieben Jahre betragen soll.231 Maßgeblich für die Klärung dieser Fragen war der Wunsch, mit dem Präsidenten der Republik eine unabhängige und über dem politischen Tagesgeschehen stehende Position zu schaffen. Kommissionssprecher Turan Güneş erklärte hierzu, dass der Präsident der Republik den Staat repräsentiert, mithin eine Repräsentationsfunktion hat. Darüber hinaus solle ihm, laut Güneş, eine Rolle als „Schiedsrichter“ im Spiel des parlamentarischen Systems zukommen. Eine darüber hinausgehende aktive Funktion und Machtposition sollte er explizit nicht erhalten.232 Dies deckt sich auch mit den Ausführungen in der Verfassungsbegründung, wonach der Staatspräsident ein „unpar­ teiisches und geschätztes Organ“ sein soll.233 Daher lehnte eine große Mehrheit der Abgeordneten eine Wahl des Staatsoberhauptes durch das Volk ab. Die Abgeordneten befürchteten, dass bei einer Direktwahl durch das Volk die Position des Präsidenten zu sehr politisiert wäre als dass dieser wirklich noch die Rolle eines Schiedsrichters einnehmen könnte.234 Zudem trugen die Verfassungsgeber die Sorge, dass der Präsident der Republik bei einer Wahl durch das Volk in der politischen Praxis eine zu große Machtposition erlangen könnte.235 Gerade im Hinblick auf den mit der Verfassung von 1961 verfolgten Zweck, Machtmissbrauch und Machtkonzentration zu verhindern und der Entwicklung autoritärer Tendenzen in Staat und Regierung vorzubeugen, wäre die Aufnahme der Direktwahl des Staatsoberhaupts durch das Volk in die Verfassung in der Tat kontraproduktiv gewesen. Zur Frage der Wiederwahl des Staatspräsidenten führte Kommissionssprecher Turan Güneş aus, dass eine entsprechende Möglichkeit abzulehnen sei, 231  Protokolle

der Abgeordnetenversammlung, Band 3, S. 479–489. der Abgeordnetenversammlung, Band 3, S. 485. 233  Begründung zum Entwurf der Verfassungskommission, S. 38. 234  Protokolle der Abgeordnetenversammlung, Band 3, S. 483. 235  Protokolle der Abgeordnetenversammlung, Band 3, S. 482. 232  Protokolle



II. Staatsorganisation73

da ansonsten der Präsident nicht unabhängig agieren könnte, da er vom Wohlwollen der Parlamentsmehrheit abhängig wäre, um wiedergewählt zu werden.236 Zudem muss an dieser Stelle berücksichtigt werden, dass unter der alten Verfassungsordnung von 1924 eine Wiederwahl des Präsidenten uneingeschränkt möglich war. Die Folgen waren sehr lange Amtszeiten der Staatspräsidenten und damit einhergehend eine große politische Macht. Genau dies wollten die türkischen Verfassungsgeber verhindern, sodass sie sich gegen die Möglichkeit der Wiederwahl entschieden.237 Ausschlaggebend für die Dauer der Amtszeit des Präsidenten war wiederum die Überlegung, Parlament und Präsidentenamt unabhängig voneinander zu gestalten. In der Verfassung von 1924 war die Amtszeit des Staatspräsidenten gebunden an die Legislaturperiode des Parlaments. Ausweislich der Verfassungsbegründung war dies dem bewussten Verzicht auf die Gewaltenteilung geschuldet, der verfassungstheoretisch die Macht beim Parlament bündelte. In der neuen Verfassung sollte die Amtszeit des Präsidenten völlig unabhängig von den Legislaturperioden der Parlamentskammern sei, um die Unparteilichkeit des Präsidenten zu gewährleisten.238 Da die Nationalversammlung eine Legislaturperiode von fünf Jahren hatte und der Senat alle sechs Jahre zur Wahl stand, entschied man sich für eine Amtsperiode von sieben Jahren für den Staatspräsidenten.239 In seiner repräsentativen Position ist der Präsident der Republik das Staatsoberhaupt der Republik Türkei und vertritt damit die Einheit der Nation (Art. 97 Abs. 1 TürkVerf). Da er Teil der Exekutive ist, kann er, sofern er es für erforderlich hält, den Ministerrat unter seiner Leitung versammeln bzw. den Vorsitz übernehmen (Art. 97 Abs. 2 TürkVerf). Aus der Verfassungsbegründung geht hervor, dass damit aber keine politische Macht oder Richtlinienkompetenz des Staatspräsidenten einhergehen sollte. Vielmehr sahen die Verfassungsgeber in dieser Befugnis lediglich die logische Folge des Umstandes, dass der Staatspräsident die Spitze der Exekutive darstellt. Explizit wiesen sie darauf hin, dass der Präsident der Republik die Sitzungen des Ministerrat bei Bedarf leiten darf und dort seine Meinung äußern kann, aber kein Verhalten an den Tag legen darf, dass in die verantwortliche Politik des Ministerrates eingreift.240 Diese Einschätzung ist insbesondere vor dem Hintergrund richtig, dass den Staatspräsidenten, wie noch zu erörtern sein wird, keine Verantwortlichkeit für seine Handlungen trifft, im Gegensatz zum Ministerrat, der für seine Entscheidungen und Handlungen gegenüber dem 236  Protokolle

der Abgeordnetenversammlung, Band 3, S. 487. Die türkische Verfassung von 1961, S. 392. 238  Begründung zum Entwurf der Verfassungskommission, S. 37. 239  Protokolle der Abgeordnetenversammlung, Band 3, S. 486. 240  Begründung zum Entwurf der Verfassungskommission, S. 38. 237  Abadan,

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E. Verfassung von 1961 unter Berücksichtigung von Rezeptionsvorgängen

Parlament in vollem Umfang verantwortlich ist und diesem Rechenschaft schuldet. Aber dennoch beinhaltet diese Regelung, entgegen dem Bestreben der Verfassungskommission, sehr wohl die Möglichkeit, dass der Staatspräsident auf die aktive Politik Einfluss nimmt und den Ministerrat in die von ihm gewünschte Richtung lenkt. Schließlich lässt sich keine feste Grenze ziehen, wann ein womöglich sehr beliebter und allein deswegen schon einflussreicher Staatspräsident in der Runde des Ministerrates seine Ansichten äußert und wann er sich in das politische Tagesgeschäft einmischt oder die Richt­ linien der Politik vorgibt. Außerdem entsendet der Staatspräsident Vertreter des türkischen Staates in andere Länder und empfängt die Vertreter ausländischer Staaten in der Türkei. Eigenständige völkerrechtliche Befugnisse stehen dem Staatspräsidenten nicht zu. Er ratifiziert und verkündet zwar völkerrechtliche Abkommen (Art. 97 Abs. 2 TürkVerf), kann aber ohne Erlaubnis der TGNV keine die Republik Türkei bindenden Erklärungen gegenüber anderen Staaten abgeben oder mit diesen Abkommen schließen.241 Ein eigenständiges Recht zur Auflösung des Parlaments und damit zur Ansetzung von Neuwahlen hat der Präsident der Republik nicht. Jedoch kann der Präsident der Republik nach der Konsultation der Präsidenten der beiden Parlamentskammern Neuwahlen beschließen, wenn der Ministerrat innerhalb der letzten 18 Monate zweimal bei einem Misstrauensvotum unterlegen ist, nun zum dritten Mal ein Misstrauensvotum erteilt bekommt und daraufhin der Ministerpräsident die Neuwahlen vom Staatspräsidenten verlangt (Art. 108 TürkVerf). Die Neuwahl kann also nur durch Zusammenwirken von Ministerpräsident und Staatspräsident nach dreifach erfolgtem Misstrauensvotum im Parlament herbeigeführt werden. Diese Möglichkeit der Auflösung und der anschließenden Neuwahl gilt aber nur für eine Kammer des Parlaments, namentlich für die Nationalversammlung, nicht jedoch für den Senat. Letzteren kann der Präsident der Republik unter keiner Bedingung auflösen. In der Verfassungsbegründung wies die Verfassungskommission darauf hin, dass das Auflösungsrecht, das der Exekutive in parlamentarischen Regimen zugestanden wird, in einer nur sehr eingeschränkten Weise in die türkische Verfassungsordnung übernommen worden ist. Denn „wegen der Ansicht, dass dies für unser Land Nachteile mit sich bringen könnte, wurde auf ein in parlamentarischen Regimen normales und automatisches Auflösungsrecht verzichtet“242. In der Abgeordnetenversammlung war diese Regelung indes Gegenstand hitziger Diskussionen. Eine Gruppe von Abgeordneten wollte auch dieses eingeschränkte, da an viele Bedingungen geknüpfte, Recht zur Auflösung des Parlaments und damit zur Ausschreibung von 241  Abadan,

Die türkische Verfassung von 1961, S. 393. zum Entwurf der Verfassungskommission, S. 40.

242  Begründung



II. Staatsorganisation75

Neuwahlen der Exekutive nicht zugestehen. Sie kritisierten, dass man mit dieser Bestimmung der Exekutive zu viel Macht geben würde, da sich Ministerpräsident und Staatspräsident verabreden und die Nationalversammlung auflösen könnten.243 Zudem verwiesen sie auf die eigenen, schlechten Erfahrungen mit dem Auflösungsrecht. Denn Sultan Abdülhamid II. löste 1878 das osmanische Parlament auf und regierte 33 Jahre lang autokratisch das Land und hebelte damit faktisch die osmanische Verfassung aus.244 Im Kern vertrat diese Gruppe daher die Ansicht, dass nur das Parlament selbst über seine Auflösung bestimmen dürfen sollte.245 Die Befürworter dieser Regelung argumentierten hingegen, dass der komplette Verzicht auf ein Auflösungsrecht in einem parlamentarischen System nicht möglich sei, da dies das Gegenstück zur Abhängigkeit der Regierung vom Vertrauen des Parlaments darstellt.246 Zudem betonten sie, dass ein Szenario wie unter Sultan Abdülhamid II. unter der neuen Verfassungsordnung undenkbar sein wird, da mit der Auflösung der Nationalversammlung automatisch die Neuwahl erfolgen muss und bis dahin die aufgelöste Nationalversammlung ihre Tätigkeit fortführt.247 Eine von der Nationalversammlung unkontrollierte Regierung ist also ausgeschlossen. Außerdem verwiesen sie auf die zahlreichen Hürden, die es für eine Ausschreibung von Neuwahlen zu überwinden gilt und die ganz bewusst als solche gesetzt wurden.248 Der Präsident der Republik kann auf die Gestaltung und Entwicklung der Gesetze keinen inhaltlichen Einfluss nehmen. Seine Mitwirkung beschränkt sich auf die Verkündung der vom Parlament beschlossenen Gesetze. Denn gemäß Art. 93 TürkVerf muss der Präsident der Republik die von der TGNV angenommenen Gesetze innerhalb von zehn Tagen verkünden. Hierbei hat der Staatspräsident jedoch ein suspensives Vetorecht. Denn ein Gesetz, dass er nicht gutheißt, kann er innerhalb von zehn Tagen zur erneuten Beratung und Verhandlung an das Parlament zurückschicken. Eine inhaltliche Beschränkung, unter welchen Gesichtspunkten er ein Gesetz missbilligen und an das Parlament zurückgeben kann, gibt es nicht. Jedoch sind Haushaltsgesetze und Verfassungsänderungsgesetze von dieser Regelung ausgenommen und müssen vom Präsidenten innerhalb der 10-Tages-Frist verkündet werden. Ein vom Präsidenten der Republik zurückverwiesenes Gesetz, das durch das Parlament erneut angenommen und bestätigt wurde, muss vom Staatsoberhaupt verkündet werden. Eine qualifizierte Mehrheit für die erneute 243  Protokolle 244  Protokolle 245  Protokolle 246  Protokolle 247  Protokolle 248  Protokolle

der Abgeordnetenversammlung, der Abgeordnetenversammlung, der Abgeordnetenversammlung, der Abgeordnetenversammlung, der Abgeordnetenversammlung, der Abgeordnetenversammlung,

Band 4, Band 4, Band 4, Band 4, Band 4, Band 4,

S. 523. S. 526. S. 527. S. 524. S. 529. S. 524–525.

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E. Verfassung von 1961 unter Berücksichtigung von Rezeptionsvorgängen

Annahme des Gesetzes durch das Parlament ist nicht erforderlich. Vielmehr reicht eine einfache Mehrheit aus. Gemäß der Begründung der Verfassungskommission wurde auf die Notwendigkeit einer qualifizierten Mehrheit im Parlament im Falle eines Vetos des Staatspräsidenten bewusst verzichtet. Den entsprechenden Vorschlag eines qualifizierten Mehrheitserfordernisses, der noch im Entwurf der Juristischen Fakultät der Universität Istanbul enthalten war, lehnte die Verfassungskommission mit der Begründung ab, „dass damit dem Staatspräsidenten eine Art relatives Vetorecht zustehen würde“, was die Kommission als unangemessen ansah.249 Die Verfassungskommission begriff also das Recht des Präsidenten aus diesem Artikel nicht als relatives bzw. suspensives Vetorecht.250 Jedoch gilt allgemein im Verfassungsrecht ein Zurückweisungsrecht, wie es Art. 93 TürkVerf statuiert, völlig unabhängig davon, mit welcher Mehrheit das Parlament das Gesetz im Anschluss annehmen muss, um den Präsidenten zur Verkündung zu zwingen, als ein relatives bzw. suspensives Vetorecht, im Gegensatz zum absoluten Vetorecht, bei dem das Parlament keine Möglichkeit zur erneuten Annahme dieses Gesetzes hätte. Unabhängig von der Bezeichnung dieses Rechts ist jedoch ersichtlich, dass die Verfassungskommission dem Staatspräsidenten keine inhaltlich entscheidende Rolle im Gesetzgebungsverfahren zubilligen wollte und daher explizit keine besonderen Erfordernisse an die erneute Annahme des zurückverwiesenen Gesetzes stellte. Dennoch stellt dieses suspensive Vetorecht des Präsidenten eine, wenn auch begrenzte, Interorgan-Kon­ trolle dar, da es durch das Zurückweisen eines Gesetzes dieses zwar nicht endgültig verhindern, aber das Parlament zur erneuten Beratung zwingen kann. Durch diese Zurückweisung kann der Staatspräsident die Aufmerksamkeit der Medien und der Öffentlichkeit allgemein auf dieses Gesetz ziehen und damit die Legislative praktisch unter Rechtfertigungsdruck setzen. Der Staatspräsident ist eines der Organe, die im abstrakten Normenkon­ trollverfahren vor dem Verfassungsgericht klagebefugt sind (Art. 149 TürkVerf). Wenn er ein Gesetz für verfassungswidrig hält, kann er innerhalb von 90 Tagen nach der Verkündung des Gesetzes eine Nichtigkeitsklage vor dem Verfassungsgericht erheben. Dies bedeutet aber zudem, dass der Präsident auch ein Gesetz, das er für verfassungswidrig hält, verkünden muss, sofern das Parlament dieses Gesetz angenommen bzw. nach Zurückweisung durch den Präsidenten bestätigt hat. Erst im Anschluss steht dem Präsidenten der Gang zum Verfassungsgericht offen. Wenn er von der Verfassungswidrigkeit eines Gesetzes überzeugt ist, so ist die Klageerhebung nicht nur ein Recht 249  Begründung

zum Entwurf der Verfassungskommission, S. 37. Abadan, Die türkische Verfassung von 1961, S. 395, meint, dem Präsidenten würde „weder ein absolutes noch ein suspensives Vetorecht“ zustehen, sondern lediglich ein „Zurückweisungsrecht“. 250  Auch



II. Staatsorganisation77

des Staatspräsidenten, sondern sogar seine Amtspflicht.251 Dies ergibt sich aus dem von ihm zum Amtsantritt geleisteten Eid aus Art. 96 TürkVerf, wonach er die Verfassung achten und von den Prinzipien des Rechtsstaates nicht abweichen darf: „Ich schwöre bei meiner Ehre, dass ich als Präsident der Republik mich jeder Gefahr für die Unabhängigkeit des türkischen Staates oder für die Einheit des Landes und der Nation entgegenstellen werde, die uneingeschränkte und bedingungslose Souveränität der Nation und die Verfassung achten und verteidigen werde, von den auf den Menschenrechten beruhenden Prinzipien der Demokratie und des Rechtsstaates und der Unparteilichkeit nicht abweichen werde und mit meiner ganzen Kraft und meinem ganzen Sein dafür arbeiten werde, den Ruhm und die Ehre der türkischen Nation zu beschützen und zu mehren und die von mir übernommene Pflicht zu erfüllen.“

Den Oberbefehl über die Streitkräfte steht nicht dem Staatspräsidenten zu. Vielmehr legt Art. 110 TürkVerf fest, dass der Oberbefehl über die Streitkräfte untrennbar mit dem Wesen der TGNV verbunden ist und vom Präsidenten der Republik repräsentiert wird. Für die Gewährleistung der nationalen Sicherheit und für die Vorbereitung der Streitkräfte für den Kriegsfall ist der Ministerrat zuständig und gegenüber der TGNV verantwortlich und nicht etwa der Staatspräsident (Art. 110 Abs. 2 TürkVerf). Der Generalstabschef ist der Kommandant der Streitkräfte (Art. 110 Abs. 3 TürkVerf). Dieser wird zwar vom Staatspräsidenten ernannt, jedoch auf Vorschlag des Ministerrats, sodass diese Personalentscheidung letztendlich nicht vom Staatspräsidenten, sondern vom Ministerpräsidenten gefällt wird. Dies zeigt sich auch daran, dass der Generalstabschef wegen seiner Pflichten und Befugnisse nicht dem Staatspräsidenten, sondern dem Ministerrat gegenüber verantwortlich ist (Art. 110 Abs. 4 TürkVerf). Der Staatspräsident steht damit lediglich symbolisch an der Spitze der Streitkräfte. Er hat weder in Friedens- noch in Kriegszeiten den Oberbefehl über die Streitkräfte, sondern repräsentiert nur die oberste Kommandogewalt, deren Träger das Parlament ist.252 Aus der Repräsentationsfunktion und der geringen politischen Gestaltungskraft des Präsidenten der Republik folgt der Ausschluss der Verantwortlichkeit des Staatsoberhaupts. Denn der Präsident ist für Handlungen, die im Zusammenhang mit seinen Aufgaben stehen, nicht verantwortlich (Art. 98 Abs. 1 TürkVerf). Alle seine Verfügungen sind vom Ministerpräsidenten und dem zuständigen Minister gegenzuzeichnen. Die Verantwortlichkeit für diese Verfügungen obliegt dann dem Ministerpräsidenten und dem betreffenden Minister (Art. 98 Abs. 2 TürkVerf). Diese Regelungen stehen im Einklang mit den Grundsätzen und der Systematik des parlamentarischen 251  So 252  So

auch Hirsch, Verfassung der Türkischen Republik, S. 145. auch Hirsch, Verfassung der Türkischen Republik, S. 154.

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E. Verfassung von 1961 unter Berücksichtigung von Rezeptionsvorgängen

Systems der türkischen Verfassung von 1961. Wenn dem Staatspräsidenten vor allem repräsentative und vermittelnde Funktionen zukommen, aber ihm keine politische Gestaltungsmacht zusteht, sondern der Ministerrat als Zen­ trum und Kern der Exekutive von der Parlamentsmehrheit abhängig und dem Parlament gegenüber verantwortlich ist, so gibt es keinen Grund, eine Verantwortlichkeit des Staatsoberhaupts zu statuieren. In der Verfassungsbegründung werden diese Regelungen als „Knotenpunkt“ der aus zwei Elementen (Ministerrat als Regierung, Präsident der Republik als Staatsoberhaupt) bestehenden exekutiven Gewalt bezeichnet. Zudem erklären die Verfassungsgeber in der Begründung, dass in der Praxis die Entscheidungen und Verfügungen von den Ministern vorbereitet und im Anschluss dem Präsidenten der Republik vorgelegt werden.253 Mit anderen Worten bringt die Begründung zum Ausdruck, dass, wie Hirsch es zutreffend formuliert, die exekutiven Akte im „Schoße der Regierung oder durch das Parlament vor­ bereitet [werden]“254, mithin Ministerrat und Parlament die eigentlichen Machtzentren sein sollen. Im darauffolgenden Art. 99 TürkVerf wird die Verantwortlichkeit des Staatspräsidenten wegen Hochverrats geregelt. Demnach kann der Präsident der Republik auf Antrag von mindestens einem Drittel der Gesamtzahl der Mitglieder der TGNV durch einen sich dem Antrag anschließenden Beschluss von mindestens zwei Dritteln der Gesamtzahl der Mitglieder der TGNV, der in einer gemeinsamen Sitzung beider Parlamentskammern gefasst wird, wegen Hochverrats angeklagt werden. Diese Regelung ist im Zusammenhang mit Art. 98 TürkVerf zu sehen und stellt nach der Begründung der Verfassungskommission eine bewusste Ausnahme von der dort aufgestellten Regel der Unverantwortlichkeit des Staatspräsidenten dar.255 Ferner vertritt der Präsident des Senats und nicht etwa der Präsident der Nationalversammlung den Präsidenten der Republik, sowohl in vorübergehenden kurzen Zeiträumen bedingt etwa durch Krankheit oder Reisen ins Ausland, als auch für einen gegebenenfalls längeren Zeitraum bis zur Wahl eines neuen Staatsoberhaupts, da der bisherige Präsident der Republik dauerhaft seine Aufgaben nicht mehr erfüllen kann, beispielweise wegen Rücktritts oder Versterbens (Art. 100 TürkVerf). Bei der Gestaltung der bis hierin dargelegten Befugnisse des Staatspräsidenten haben sich die türkischen Verfassungsgeber bewusst entschieden, die Bestimmungen der türkischen Verfassung von 1924 hinsichtlich der Befugnisse und Kompetenzen des Staatspräsidenten grundsätzlich beizubehalten. 253  Begründung

zum Entwurf der Verfassungskommission, S. 38. Verfassung der Türkischen Republik, S. 148. 255  Begründung zum Entwurf der Verfassungskommission, S. 38. 254  Hirsch,



II. Staatsorganisation79

Hinsichtlich der Regelungen, die sich auf die Stellung und die Position des Staatspräsidenten im System der Staatsorgane beziehen, zu denen insbesondere auch das Wahlprozedere und die Amtszeit des Staatsoberhaupts zählen, wichen die Verfassungsväter und -mütter von den Regelungen der Verfassung von 1924 ab und nahmen sich bei der Ausarbeitung der neuen Bestimmungen „westliche“ Verfassungsordungen zum Vorbild. Die Änderungen der Bestimmungen der Verfassung von 1924 hinsichtlich Wahlprozedere und Amtszeit des Präsidenten der Republik rühren vornehmlich aus dem Umstand her, dass die türkischen Verfassungsgeber den in der Verfassung von 1924 enthaltenen Grundsatz, wonach Legislative und Exekutive systemtheoretisch in einer Hand, namentlich in der des Parlaments vereinigt sind, bewusst abstreiften und durch eine effektive Gewaltenteilung die Macht- und Einflussprozesse neu gestalten wollten, um einen erneuten Machtmissbrauch und ein erneutes Abgleiten in einen Autoritarismus zu verhindern. Denn dies verlangte eine deutlichere Trennung des Staatsoberhaupts vom Parlament. Die Bindung des Schicksals des Präsidenten der Republik an das Schicksal des Parlaments schien als nicht mehr adäquat. In der Verfassungsbegründung heißt es dazu, dass diese enge Bindung dem bisherigen System der „Parlamentsregierung“ geschuldet gewesen sei und nun eine Änderung notwendig werde, da man ein parlamentarisches System mit Gewaltenteilung einführen wolle.256 Während der Beratungen in der Abgeordnetenversammlung zu den Regelungen zur Amtszeit sowie zur Wahl und Stellung des Staatspräsidenten waren deshalb das deutsche Grundgesetz, die französische und die US-amerikanische Verfassungsordnung sowie die italienische Verfassung Ausgangspunkt und Diskussionsgrundlage.257 Die türkischen Verfassungsgeber untersuchten also verschiedene, in ihren Augen „westliche“ Verfassungen, um die Regelungen zu finden, die den türkischen Bedürfnissen entsprechen. Jedoch existieren keine eindeutigen Belege für entsprechende Übernahmen aus anderen Verfassungen. Aber es sprechen gewichtige Gründe für eine Vorbildfunktion der italienischen Verfassung. Zunächst einmal gibt es deutliche inhaltliche Parallelen. Beide Verfassungen sehen für das Staatsoberhaupt eine Amtszeit von sieben Jahren vor.258 Zudem sehen beide Verfassung die Wahl des Staatsoberhaupts in einer gemeinsamen Sitzung beider Parlamentskammern vor259, während beispielsweise in Frankreich ein spezielles Wahlkolle256  Begründung

zum Entwurf der Verfassungskommission, S. 38. der Abgeordnetenversammlung, Band 3, S. 480–485. 258  Art. 85 Abs. 1 der italienischen Verfassung von 1947: Der Präsident der Republik wird auf sieben Jahre gewählt. 259  Art. 83 der italienischen Verfassung von 1947: Der Präsident der Republik wird vom Parlament in gemeinsamer Sitzung seiner Mitglieder gewählt. 257  Protokolle

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E. Verfassung von 1961 unter Berücksichtigung von Rezeptionsvorgängen

gium den Präsidenten wählt260 und in Deutschland die Bundesversammlung, die sich aus den Mitgliedern des Bundestages und Vertretern der Bundesländer zusammensetzt. Einziger Unterschied zwischen der italienischen und der türkischen Regelung ist, dass in Italien auch Beauftragte der Regionen an der Wahl teilnehmen. Da in der Türkei keine Regionen vorgesehen waren, fehlt konsequenterweise dieser Punkt. Zudem ist auch das Wahlverfahren in beiden Verfassungsordnungen identisch. Während in Deutschland in den ersten beiden Wahlgängen eine absolute Mehrheit und in einem eventuellen dritten Wahlgang die relative Mehrheit ausreicht und in Frankreich im ersten Wahlgang eine absolute Mehrheit und in einem eventuell notwendigen zweiten Wahlgang die relative Mehrheit notwendig ist261, verlangen die türkische und die italienische Verfassungsordnung eine Zwei-Drittel-Mehrheit in den ersten beiden Wahlgängen und in einem eventuell erforderlichen dritten Wahlgang die absolute Mehrheit. Vor dem Hintergrund des Umstandes, dass während der Beratungen in der Abgeordnetenversammlung am häufigsten und vor allem in positiver Weise von der italienischen Verfassung gesprochen wurde sowie dass bereits im allgemeinen Teil der Begründung der Verfassungskommission von der besonderen Vorbildfunktion der italienischen Verfassung (neben der des deutschen Grundgesetzes) die Rede ist262, liegt eine Übernahme der ita­ lienischen Regelungen an dieser Stelle nahe. Das Recht zur Ausschreibung von Neuwahlen in Art. 108 TürkVerf hingegen stellt eine Übernahme aus der französischen Verfassung von 1946 dar. Gemäß den Erklärungen der Befürworter dieser Bestimmung in der Abgeordnetenversammlung enthält die französische Verfassung von 1946 diese Norm263, ist Frankreich „der Ursprung dieses Verfassungsartikels“264. Tatsächlich enthält die französische Verfassung von 1946 eine sehr ähnliche An der Wahl nehmen drei Beauftragte für jede Region teil, die vom Regionalrat in der Weise gewählt werden, dass die Vertretung der Minderheiten gewahrt ist. Das Aostatal hat nur einen Beauftragten. Die Wahl des Präsidenten der Republik findet in geheimer Abstimmung mit Zweidrittelmehrheit der Versammlung statt. Nach dem dritten Wahlgang genügt die absolute Mehrheit. 260  Artikel 6 der französischen Verfassung von 1958: Der Präsident der Republik wird […] von einem Wahlkollegium gewählt, bestehend aus den Mitgliedern des Parlaments, der Generalräte und der Versammlungen der überseeischen Gebiete sowie aus den gewählten Vertretern der Gemeinderäte. 261  Artikel 7 Abs. 1 der französischen Verfassung von 1958: Die Wahl des Präsidenten der Republik erfolgt im ersten Wahlgang mit absoluter Mehrheit. Wurde sie nicht erreicht, so wird der Präsident der Republik im zweiten Wahlgang mit relativer Mehrheit gewählt. 262  Begründung zum Entwurf der Verfassungskommission, S. 3. 263  Protokolle der Abgeordnetenversammlung, Band 4, S. 528. 264  Protokolle der Abgeordnetenversammlung, Band 4, S. 529.



II. Staatsorganisation81

Bestimmung.265 Sowohl die türkische als auch die französische Bestimmung verlangen für die Ausschreibung von Neuwahlen zwei verlorene Vertrauensabstimmungen der Regierung in den letzten 18 Monaten und ein Zusammenwirken der beiden Teile der Exekutive, wobei die türkische Bestimmung den Ministerpräsidenten als Ausgangspunkt benennt, während Frankreich einen Beschluss des gesamten Ministerrats verlangt. Der Auflösungsbeschluss selbst wird in beiden Verfassungsordnungen vom Staatsoberhaupt gefasst. Beide Verfassungen sehen zudem im Vorfeld die Anhörung des Präsidenten der aufzulösenden Parlamentskammer vor, während die türkische Regelung zusätzlich die Anhörung des Präsidenten der anderen Parlamentskammer verlangt. Die türkischen Verfassungsgeber haben also die französische Norm rezipiert und dabei die Voraussetzungen zur Ausschreibung von Neuwahlen leicht verschärft. Bezüglich des Amtseides verweist die Verfassungskommission hingegen auf die Verfassung von 1924. Sie erklärt nämlich in der Begründung, dass für den Amtseid aus Art. 96 TürkVerf der „alte Eid“ sprachlich vereinfacht und angepasst, sprich modernisiert wurde.266 Inhaltlich entspricht der Eid aus Art. 96 TürkVerf also der Bestimmung der türkischen Verfassung von 1924. Die Stellung des Präsidenten der Republik im Zusammenhang mit den Streitkräften ist ebenso eine Übernahme der Systematik der Verfassung von 1924.267 Lediglich die in der Verfassung von 1924 noch enthaltene Unterscheidung zwischen Friedens- und Kriegszeiten ist in der Verfassung von 1961 entfallen und damit auch die Befugnis des Staatspräsidenten, in Kriegszeiten den Oberbefehlshaber auf Vorschlag der Regierung zu ernennen. Die Rolle und die sonstigen Befugnisse des Staatspräsidenten unterscheiden sich aber nicht. Diese Einschätzung wird von der Begründung bestätigt, in dem die Verfassungskommission erklärte, dass die ersten beiden Absätze des Art. 110 TürkVerf eine Wiederholung der Verfassungsregelungen der Verfas265  Artikel 51 der französischen Verfassung von 1946: Wenn im Verlauf eines Zeitraumes von 18 Monaten zwei Ministerkrisen unter den in den Artikeln 49 und 50 [d. h. verlorene Vertrauensfragen] vorgesehenen Bedingungen eintreten, kann nach Anhören des Präsidenten der Versammlung die Auflösung der Nationalversammlung im Ministerrat beschlossen werden. Die Auflösung wird in Übereinstimmung mit diesem Beschluss durch Dekret des Präsidenten der Republik verkündet. Die Verfügungen des vorstehenden Absatzes sind nur nach Verlauf der ersten 18 Monate der Wahlperiode anwendbar. 266  Begründung zum Entwurf der Verfassungskommission, S. 38. 267  Art. 40 der türkischen Verfassung von 1924: Der Oberbefehl über das Heer steht der Großen Nationalversammlung der Türkei als juristischer Person zu und wird durch den Präsidenten der Republik repräsentiert. Die Befehlsgewalt über die Streitkräfte wird im Frieden nach Maßgabe eines besonderen Gesetzes dem Chef des Großen Generalstabs, im Kriege einer Persönlichkeit, die auf Bericht des Rats der Vollzugsbeauftragten vom Präsidenten der Republik zu ernennen ist, übertragen.

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E. Verfassung von 1961 unter Berücksichtigung von Rezeptionsvorgängen

sung von 1924 sind.268 Zudem ist ausweislich der Begründung der Verfassungskommission auch das suspensive Vetorecht des Präsidenten der Repu­ blik gegen Gesetzesvorlagen des Parlaments eine inhaltlich unveränderte Übernahme aus der Verfassung von 1924.269 Der direkte Vergleich beider Bestimmungen bestätigt dies.270 Auch bezüglich Art. 98 TürkVerf, der das Verhältnis zwischen Ministerrat und Staatspräsident betrifft und damit mittelbar zum Ausdruck bringt, dass die politische Macht der Exekutive beim Ministerrat und nicht beim Staatspräsidenten liegt, zeigt der Blick in die Verfassungsbegründung, dass die entsprechende Bestimmung der Verfassung von 1924 beibehalten worden ist.271 Denn „die Beibehaltung dieses Artikels so wie sie in der alten Verfassung war, verfolgt den Zweck, bei den etablierten Staats- und Verwaltungsprozessen in der Türkei keinerlei Änderungen herbeizuführen“272. Diese Argumentation mag auf den ersten Blick überraschen und als ein Widerspruch zu den übergeordneten und allgemeinen Aussagen und erklärten Zielen der Verfassungsgeber erscheinen. Schließlich war Sinn und Zweck der Ausarbeitung einer neuen Verfassung unter anderem, die Machtverhältnisse und Entscheidungsprozesse im Staat neu zu regeln, um künftig autoritäre Tendenzen und Machtmissbrauch zu verhindern. Jedoch konterkarieren die vorliegenden Aussagen und die dahinterstehende grundsätzliche Beibehaltung der Befugnisse des Staatspräsidenten dieses Ziel nicht. Denn gerade weil die Verfassungsgeber eine Machtkonzentration in der Hand eines Organs bzw. einer Person verhindern wollten, entschieden sich, wie bereits oben erwähnt, die Befugnisse und Kompetenzen des Präsidenten der Republik nicht auszubauen, sondern im Kern beizubehalten. Eine Änderung dieser schien den Verfassungsgebern nicht als adäquat. Vielmehr waren die entscheidenden Stellen für die neu zu ordnenden Macht- und Entscheidungsprozesse die Gestaltung des Parlaments und dessen Verhältnis zum Ministerrat, die Grün268  Begründung

zum Entwurf der Verfassungskommission, S. 40. zum Entwurf der Verfassungskommission, S. 37. 270  Art. 35 der türkischen Verfassung von 1924: Der Präsident der Republik fertigt aus und verkündet binnen 10 Tagen die von der Nationalversammlung angenommenen Gesetze. Mit Ausnahme der Verfassung und der Staatshaushaltsgesetze kann er Gesetze, deren Verkündung er für unangebracht hält, ebenfalls binnen zehn Tagen unter Angabe der Gründe zur nochmaligen Beratung an die Nationalversammlung zurückverweisen. Nimmt die Nationalversammlung das Gesetz abermals an, so ist der Präsident der Republik zu dessen Verkündung verpflichtet. 271  Art. 39 der türkischen Verfassung von 1924: Alle vom Präsidenten der Repu­ blik zu erlassenden Anordnungen werden vom Ministerpräsidenten oder dem zuständigen Minister gegengezeichnet. 272  Begründung zum Entwurf der Verfassungskommission, S. 38. 269  Begründung



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dung eines Verfassungsgerichts und der Ausbau bzw. der Schutz der Grundrechte. Diese Aspekte sind Gegenstand der folgenden Kapitel. 2. Gestaltung und Bedeutung des Parlaments Das Parlament ist in einer Demokratie der Haupt- und Angelpunkt der politischen Auseinandersetzungen und des politischen Systems, da es nicht nur Inhaber der gesetzgebenden Gewalt ist, sondern auch die politische Kontrolle über die Exekutive ausübt.273 Mit der Gründung der Republik Türkei ereilte dem Parlament jedoch eine Überhöhung ihrer Bedeutung und ihrer Funktionen dahingehend, dass unter der Verfassungsordnung von 1924 das Parlament als „alleinige und wirkliche Repräsentantin der Nation“274 angesehen wurde. In der Folge gab es unter der Verfassungsordnung von 1924 keine Gewaltenteilung, sondern das Parlament war Inhaber der gesetzgebenden und der vollziehenden Gewalt. Die Regierung übte die dem Parlament zustehende vollziehende Gewalt lediglich in dessen Namen aus. Staatspräsident und Regierungskabinett waren daher keine eigenen Staatsorgane, die ihre Stellung und Kompetenz unmittelbar aus der Verfassung ableiteten, sondern lediglich Vollzugsorgane des Parlaments, die ihre Befugnisse vom Parlament erhielten. Daher konnte das Parlament jederzeit die Exekutiv­ organe kontrollieren und absetzen, umgekehrt gab es aber keine Möglichkeit für die Exekutivorgane, das Parlament zu beeinflussen.275 Dies führte in der Praxis zu einer Machtkonzentration in der Hand der Mehrheitspartei, da die Verfassung von 1924 kaum Mechanismen und Verfahren kannte, die die Rechte der politischen Minderheit bzw. der parlamentarischen Opposition sichern. Dies wiederum führte aufgrund der hierarchischen, auf den Parteivorsitzenden zugeschnitten Strukturen der türkischen Parteien, in denen innerparteiliche Demokratie kaum ihre Durchsetzung findet, dazu, dass der Parteivorsitzende, der „selbstverständlich“ von „seiner“ Mehrheitspartei zum Ministerpräsidenten oder Staatspräsidenten gewählt wird, der tatsächliche und nahezu unkontrollierte Inhaber der politischen Macht war. Dies öffnete einem Machtmissbrauch Tür und Tor und ermöglichte es Ministerpräsident Menderes die bereits im Kapitel über den historischen Kontext dargelegte autoritäre Politik in die Tat umzusetzen und die demokratischen Spielregeln außer Kraft zu setzen. 273  Loewenstein,

Verfassungslehre, S. 177. der türkischen Verfassung von 1924: Alleinige und wirkliche Repräsentantin der Nation ist die Türkische Große Nationalversammlung. Sie übt die Staatsgewalt im Namen der Nation aus. 275  Bolland/Pritsch, Die türkische Verfassung vom 20. April 1924, S. 210, 225; Veliağagil, Parlament und Regierung in der türkischen Verfassung von 1961, S. 25. 274  Art. 4

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Die türkischen Verfassungsgeber wollten entsprechenden Entwicklungen vorbeugen und entschieden sich daher dafür, das bisherige System aufzugeben und stattdessen eine Gewaltenteilung vorzunehmen: „Die […] Verfassung von 1924 […] hat den Erfordernissen der Zeit entsprechend ein System der Parlamentsregierung gegründet, die eine Vormacht der gesetzgebenden Gewalt zum Ausdruck bringt. Aber dieses Regime [d. h. die islamischkonservative Vorgängerregierung] hat es nicht versäumt, in der Praxis statt der Souveränität des Parlaments eine Übermacht der Regierung zu etablieren, die gänzlich im Widerspruch zum Geist der Verfassung stand. Das in diesem Entwurf vorgesehene parlamentarische Regime stellt […] eine Neuerung in der Geschichte unseres Staates dar. Als Grundlage wurde statt der […] Gewalteneinheit eine weiche Gewaltenteilung herangezogen.“276

Ausgehend von den Erfahrungen der letzten Jahrzehnte waren sich die Verfassungsgeber zudem einig, die gesetzgebende Gewalt auf zwei Parlamentskammern zu verteilen. Denn das Zweikammersystem wurde als „Garantie der demokratischen Ordnung und eine der Lösungen der politischen Krise […] [des] Landes“277 angesehen. Dies korrespondiert mit den Ausführungen des Verfassungsrechtlers Carl Loewenstein, der in zutreffenderweise Weise darlegt, dass bezüglich der Legislative „die wichtigste Intra-OrganKontrolle […] darin [besteht], dass die Gesetzgebungsfunktion als solche auf zwei getrennte Zweige der Versammlung aufgeteilt ist, die sich gegenseitig hemmen und kontrollieren. Dies ist der Sinn des Zweikammersystems.“278 Daher besteht das türkische Parlament, das seinen bisherigen, noch aus der Zeit des Befreiungskrieges stammenden Namen Türkische Große Nationalversammlung (TGNV; türk.: „Türkiye Büyük Millet Meclisi“ (TBMM)) beibehält, aus der Nationalversammlung als erste Kammer und dem Senat der Republik als zweite Kammer (Art. 63 Abs. 1 TürkVerf). Mit Ausnahme der in der Verfassung genannten Fällen tagen die Kammern getrennt (Art. 63 Abs. 2 TürkVerf). Die Verfassung von 1961 legt die Aufgaben der Legislative abschließend fest. Dazu gehören gemäß Art. 63 TürkVerf in erster Linie, Gesetze zu erlassen, abzuändern und aufzuheben, d. h. der TGNV steht im Rahmen der verfassungsrechtlichen Grenzen die Gesetzgebungsbefugnis in originärer und 276  Begründung zum Entwurf der Verfassungskommission, S. 4; die Bezeichnung „weiche Gewaltenteilung“ soll den Unterschied zwischen einem parlamentarischen und einem Präsidialsystem verdeutlichen. Das Präsidialsystem gilt als System mit „harter Gewaltenteilung“, da dort die Abhängigkeiten und Kontrollmöglichkeiten zwischen Parlament und Regierung geringer sind als im parlamentarischen System, das eine „weiche Gewaltenteilung“ vorweist, da die Regierung vom Vertrauen des Parlaments abhängig ist und von diesem gewählt wird. 277  Begründung zum Entwurf der Verfassungskommission, S. 5. 278  Loewenstein, Verfassungslehre, S. 177.



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unbeschränkter sowie unübertragbarer Weise zu.279 Zudem gehören, neben der Kontrolle über die Exekutive, auch die Verhandlung und Annahme der Haushaltsgesetzentwürfe, die Beschlussfassung über die Prägung von Geld, Entscheidungen über Amnestien und Gnadenersuchen und über die Vollstreckung von Todesurteilen zu den Aufgaben der TGNV. Jedoch schränkten die Verfassungsgeber von 1961 damit die Funktionen und Aufgaben der TGNV im Vergleich zur Verfassung von 1924 ein. Vor allem verlor das Parlament das Recht auf die Interpretation der Gesetze, die aufgrund der Gewaltenteilung fortan der Judikative zustehen sollte. In der Begründung der Verfassungskommission heißt es hierzu: „Die offizielle Auslegung des Gesetzes ist normalerweise ein Punkt, der unter die Zuständigkeit der Rechtsprechung fällt. Es ist undenkbar, dass die Rechtsprechung, die nun ihre völlige Unabhängigkeit erlangt, durch eine Auslegung der Legislative gebunden wird. Wenn die Legislative durch die Umsetzung der Gerichte sieht, dass ein von ihr erlassenes Gesetz ihren Zweck nicht erfüllt, dann bedeutet dies, dass dieses Gesetz nicht den von ihr gewollten Inhalt trägt. In diesem Fall beschränkt sich das, was zu tun ist, auf die Änderung dieses Gesetzes.“280 Entsprechendes gilt auch für den Aufschub von Ermittlungen und Strafen, die ebenfalls in die Zuständigkeit der Judikative fallen, sowie der Umgang und die Aufhebung von Monopolen und Konzessionen, da dies in den Aufgabenbereich der Exekutive fällt.281 Die Nationalversammlung als erste Kammer der TGNV besteht aus 450 Abgeordneten, die in allgemeinen Wahlen gewählt werden (Art. 67 TürkVerf). Die Voraussetzungen zum aktiven Wahlrecht überließen die Verfassungsgeber dem Gesetzgeber, nahmen aber die Bedingungen für das passive Wahlrecht in die Verfassung auf. Demnach sind grundsätzlich alle türkischen Staatsbürger, die das 30. Lebensjahr vollendet haben, als Abgeordnete wählbar (Art. 68 Abs. 1 TürkVerf). Die Ausnahmen hiervon sind in der Verfassung selbst enthalten.282 Die Wahlperiode beträgt vier Jahre, sofern keine vorzeiti279  Hirsch,

Die Verfassung der Türkischen Republik, S. 129. zum Entwurf der Verfassungskommission, S. 29. 281  Begründung zum Entwurf der Verfassungskommission, S. 29. 282  Art. 68 Abs. 2 bis 4 der türkischen Verfassung von 1961: Wer Türkisch nicht lesen und schreiben kann, entmündigt ist, seinen aktiven Militärdienst, obwohl er dazu verpflichtet und nicht befreit ist, nicht geleistet hat oder so angesehen wird, als ob er ihn nicht geleistet hätte, sowie diejenigen, die von der Übernahme öffentlicher Ämter ausgeschlossen oder die wegen einer mit Zuchthaus bedrohten strafbaren Handlung rechtskräftig verurteilt sind, und diejenigen, die – mit Ausnahme von Fahrlässigkeitsdelikten – mit einer Gefängnisstrafe von mehr als fünf Jahren oder wegen einer entehrenden Straftat wie Unterschlagung, Untreue, aktive und passive Bestechung, Diebstahl, Betrug, Fälschung, Vertrauensmissbrauch oder betrügerischem Bankrott rechtskräftig verurteilt worden sind, können, auch wenn sie begnadigt worden sind, als Abgeordnete nicht gewählt werden. 280  Begründung

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gen Neuwahlen beschlossen werden. Auch in Falle von Neuwahlen bleibt die Nationalversammlung bis zur Wahl der neuen Versammlung bestehen und führt ihre Arbeit fort (Art. 69 TürkVerf). Der Senat hingegen besteht aus 150 in allgemeiner Wahl gewählten und 15 vom Präsidenten der Republik bestimmten Mitglieder. Zudem ziehen die 22 Mitglieder des Komitees für nationale Einheit als Mitglieder auf Lebenszeit in den Senat ein und alle Präsidenten der Republik werden nach Ausscheiden aus ihrem Amt automatisch zu Mitgliedern des Senats (Art. 70 TürkVerf).283 Der Entwurf der Juristischen Fakultät der Universität Istanbul hingegen sah die Bildung des Senats noch auf einer berufsständischen Basis vor, d. h. eine Zusammensetzung, die auf Ständen und Korporationen beruhen sollte.284 Dies lehnten die Verfassungsgeber ausdrücklich ab, weil sie entsprechende Ideen als nicht vereinbar mit den demokratischen Grundsätzen und dem Prinzip der Volkssouveränität ansahen: „In einem demokratischen […] Regime gibt es keine Möglichkeit, dass eine Klasse oder ein Stand eine gesonderte Repräsentation erhält und dass einer politischen Entscheidung, die ihre Legitimation aus einer allgemeinen Wahl zieht […] eine andere poltische Entscheidung gegenübergestellt wird. […] Aus diesem Grund wurde die zweite Kammer des Istanbuler Entwurfs, die auf Stände und Korporationen basiert, nicht angenommen.“285 Die Verfassung koppelt das aktive Wahlrecht bei der Wahl zum Senat an die Voraussetzungen für das aktive Wahlrecht bei der Wahl zur Nationalversammlung (Art. 71 TürkVerf). Eine Auflösung der Kammer und eine entsprechende Ausschreibung von Wahlen, wie für die Nationalversammlung im Die Kandidatur kann nicht von dem Ausscheiden aus dem Beamtenverhältnis abhängig gemacht werden. […] Richter, Offiziere, Militärbeamte und Unteroffiziere können, solange sie nicht aus dem Amt ausscheiden, weder kandidieren noch gewählt werden. 283  Artikel 70 der türkischen Verfassung von 1961: Der Senat der Republik besteht aus 150 Mitgliedern, die in allgemeinen Wahlen gewählt werden, und aus 15 Mitgliedern, die vom Präsidenten der Republik ernannt werden. Der Vorsitzende und die Mitglieder des Komitees für nationale Einheit, die in dem Gesetz Nr. 15 vom 13. Dezember 1960 namentlich aufgeführt sind, sowie die ehemaligen Präsidenten der Republik sind ungeachtet ihres Lebensalters ex officio Mitglieder des Senats der Republik. Die Mitglieder ex officio sind denselben Vorschriften unterworfen wie die anderen Mitglieder des Senats der Republik; mit der Ausnahme jedoch, dass die Absätze 1 und 2 des Artikels 73 und Absatz 1 des Übergangsartikels 10, Teil V. dieser Verfassung auf sie keine Anwendung finden. Mitglieder ex officio, die nach ihrem Eintritt in den Senat einer politischen Partei beitreten, hören mit dem Tage der nächstfolgenden Senatswahl auf, Mitglieder ex officio zu sein. 284  Veliağagil, Parlament und Regierung, S. 49; Hirsch, Die Verfassung der Türkischen Republik, S. 133. 285  Begründung zum Entwurf der Verfassungskommission, S. 32.



II. Staatsorganisation87

bereits untersuchten Art. 108 TürkVerf vorgesehen, ist bezüglich des Senats nicht möglich. Bezüglich des passiven Wahlrechts für die Wahl zum Senat enthält die Verfassung aber Regelungen, die sich von denen der Wahl zur Nationalversammlung zum Teil unterscheiden. Wählbar für den Senat sind alle türkischen Staatsbürger, die das 40. Lebensjahr vollendet und ein Hochschulstudium abgeschlossen haben und für die kein Hinderungsgrund für die Wahl als Abgeordneter der Nationalversammlung vorliegt (Art. 72 Abs. 1 TürkVerf). Die vom Präsidenten der Republik auszuwählenden Mitglieder müssen auch das 40. Lebensjahr vollendet haben und für besondere Leistungen auf verschiedenen Gebieten bekannt sein. Mindestens 10 der 15 vom Staatsoberhaupt auszuwählenden Mitglieder müssen unabhängig sein, d. h. dürfen keiner Partei angehören (Art. 72 Abs. 2 TürkVerf). Die Mitgliedschaft im Senat dauert sechs Jahre, eine Wiederwahl ist möglich. Ein Drittel der durch allgemeine Wahl gewählten Mitglieder und ein Drittel der durch den Staatspräsidenten ernannten Mitglieder des Senats werden alle zwei Jahre erneuert (Art. 73 TürkVerf). Im Kriegsfall können die Wahlen sowohl zur Nationalversammlung als auch zum Senat durch Gesetz um ein Jahr hinausgeschoben werden (Art. 74 Abs. 1 TürkVerf). Wenn, aus welchem Grund auch immer, in einer der beiden Kammern Sitze frei werden, sollen diese im Wege der Nachwahl besetzt werde. Diese Nachwahlen finden, unabhängig davon zu welcher der beiden Kammern, gemeinsam mit den alle zwei Jahre stattfindenden Wahlen zum ­Senat statt. Im letzten Jahr vor den allgemeinen Wahlen zur Nationalversammlung finden keine Nachwahlen statt (Art. 74 Abs. 2 und Abs. 3 TürkVerf). Diese besonderen Regelungen zur Nachwahl sollen eine häufige Abhaltung von Wahlen und damit eine permanente Wahlkampfsituation unterbinden.286 Die unterschiedlichen Wahlperioden für beide Kammern und die Bestellung von einigen Mitgliedern des Senats durch den Staatspräsidenten sowie die automatische Mitgliedschaft der Staatspräsidenten nach Beendigung ihrer Amtszeit dienen dem Zweck, den Senat von der Nationalversammlung unterscheidbar zu machen.287 Denn wenn, wie Loewenstein richtigerweise ausführt, beide Kammern „auf der gleichen oder einer ähnlichen Wahlbasis beruhen, kann eine gleiche oder ähnliche Parteienkonstellation in beiden Häusern erwartet werden, womit die in der konkurrierenden Beteiligung der beiden Häuser am Gesetzgebungsverfahren liegende Intra-Organ-Kontrolle weitgehend verwischt würde“288. Zu den Techniken und Mitteln zur Vermei286  Hirsch,

Die Verfassung der Türkischen Republik, S. 134. zum Entwurf der Verfassungskommission, S. 32–33. 288  Loewenstein, Verfassungslehre, S. 183. 287  Begründung

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dung dieser „Verdoppelung des Wählerwillens“ zählt Loewenstein unter anderem auch die Ansetzung von unterschiedlichen Wahlperioden und unterschiedliche Wahlverfahren auf.289 Jedoch haben die beiden Kammern nicht dieselben Befugnisse und Kompetenzen. Sowohl bezüglich der Kontrolle der Regierung als auch im Hinblick auf das Gesetzgebungsverfahren hat die Nationalversammlung ein deutliches Übergewicht. Der Senat der Republik stellt dagegen ein Kontrollund Überwachungsgremium dar, das die Macht der Nationalversammlung begrenzen und dessen Ausübung bremsen soll. Im Einzelnen kennt die Verfassung von 1961 bezüglich der Kontrolle der Regierung verschiedene Mittel. Zu diesen Mitteln und Verfahren der InterOrgan-Kontrolle der Legislative über die Exekutive gehören gemäß Art. 88 und Art. 89 TürkVerf die Kleine Anfrage, die Generaldebatte, die parlamentarische Untersuchung und die parlamentarische Prüfung sowie die Interpellation (Große Anfrage) gegebenenfalls mit einem angeschlossenen Vertrauens- bzw. Misstrauensvotum. Die Kleine Anfrage ist in ihren Einzelheiten nicht in der Verfassung selbst geregelt. Vielmehr überließen die Verfassungsgeber die Regelungen des Verfahrens dem Gesetzgeber, der dies in der Geschäftsordnung der TGNV tat. Im Rahmen der Kleinen Anfrage haben alle Mitglieder der Nationalversammlung und des Senats das Recht, dem Ministerpräsidenten oder einem Minister schriftlich Fragen zu stellen, die diese dem Wunsch des fragenden Parlamentsmitglieds entsprechend schriftlich oder mündlich beantworten müssen. Die Fragen der Parlamentsmitglieder müssen sich auf konkrete inhaltliche Themen und Punkte beziehen und müssen auf die Einholung konkreter Auskünfte gerichtet sein. Weitere inhaltliche Einschränkungen gibt es nicht.290 Im Rahmen der Kleinen Anfrage sind also die Nationalversammlung und der Senat gleichgestellt. Die Parlamentarische Untersuchung hingegen dient der Vorbereitung einer Anklage vor dem Verfassungsgericht in dessen Funktion als Staatsgerichtshof gegen ein Regierungsmitglied im Zusammenhang mit Straftaten, die dieser im Rahmen der Ausübung des Ministeramtes begangen haben soll. Mitglieder beider Parlamentskammern haben das Recht, einen Antrag auf Einleitung einer Untersuchung gegen ein Kabinettsmitglied zu stellen, wenn sie der Ansicht sind, dass dieser im Rahmen der Ausübung seines Amtes eine strafbare Handlung vorgenommen hat. Über diesen Antrag entscheiden die Kammern der TGNV in einer gemeinsamen Sitzung. Gegebenenfalls wird ein Ausschuss zur Untersuchung gebildet, der aus der gleichen Anzahl von 289  Loewenstein, 290  Veliağagil,

Verfassungslehre, S. 183. Parlament und Regierung, S. 73.



II. Staatsorganisation89

Mitgliedern beider Parlamentskammern besteht. Nach Abschluss dieser Untersuchung findet dann in einer gemeinsamen Sitzung beider Kammern eine Abstimmung über eine Verweisung an das Verfassungsgericht statt, das als Staatsgerichtshof das Verfahren weiterführt. Währenddessen dürfen in den Fraktionen beider Kammern keine Beschlüsse oder Verhandlungen über die parlamentarische Untersuchung getätigt werden (Art. 90 TürkVerf). Aus diesen Regelungen ergibt sich, dass Nationalversammung und Senat grundsätzlich die gleichen Kompetenzen im Hinblick auf die parlamentarische Untersuchung haben, wobei die Nationalversammlung aufgrund der höheren Anzahl der Mitglieder bei der Abstimmung in der gemeinsamen Sitzung eine stärkere Position innehat. Die Parlamentarische Prüfung gemäß Art. 88 Abs. 2 TürkVerf dient der Aufklärung eines bestimmten Sachverhalts. Sie soll es dem Parlament ermöglichen, sich über einen bestimmten Sachgegenstand ausreichend informieren zu können. Im Zuge dieses Verfahrens wird ein Untersuchungsausschuss gebildet, der nach Abschluss der Untersuchungen der Parlamentskammer, die ihn beauftragt hatte, einen Bericht vorlegt. Eine weitere Rechtsfolge ist nicht vorgesehen. Beide Parlamentskammern können dieses Mittel zur Informationsbeschaffung nutzen. Das schärfste Schwert in der Hand des Parlaments gegenüber dem Ministerrat ist die Interpellation (Große Anfrage) gemäß Art. 89 TürkVerf, die in einen Misstrauensantrag münden kann.291 Dieses Mittel steht aber nur der Nationalversammlung, nicht jedoch dem Senat zu. Auf Antrag eines Abgeordneten oder einer Fraktion entscheidet die Nationalversammlung durch Beschluss, ob sie die Interpellation auf die Tagesordnung setzt. Während der 291  Artikel 89 der türkischen Verfassung von 1961: Das Recht zur Großen Anfrage steht ausschließlich der Nationalversammlung zu. Die Frage, ob eine von Abgeordneten oder von einer Fraktion eingebrachte Große Anfrage auf die Tagesordnung gesetzt werden soll, wird in der ersten nach Einreichung des Antrags stattfindenden Sitzung erörtert. Bei einer solchen Erörterung darf nur das Antrag stellende Mitglied oder eines der den Antrag stellenden Mitglieder, je ein Abgeordneter im Namen jeder Fraktion, der Ministerpräsident oder ein im Namen des Ministerrates sprechender Minister das Wort ergreifen. Der Tag der Verhandlung über die Große Anfrage wird gleichzeitig mit der Verkündung des Beschlusses über die Aufnahme der Anfrage in die Tagesordnung festgesetzt. Die Anfrage darf erst nach einer Frist von zwei Tagen, vom Zeitpunkt des Beschlusses über die Aufnahme in die Tagesordnung an gerechnet, und nicht später als sieben Tage danach erörtert werden. Über die während der Erörterung einer Anfrage eingebrachten und mit Gründen versehenen Misstrauensanträge oder den Antrag eines Vertrauensvotums vonseiten des Ministerrates darf erst nach Ablauf eines Tages abgestimmt werden. Zur Absetzung des Ministerrates bedarf es der absoluten Mehrheit der Gesamtzahl der Mitglieder.

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Beratung über die Interpellation kann, was der eigentliche Zweck dieses Verfahrens ist, von Abgeordneten der Nationalversammlung ein Misstrauensantrag gegen den Ministerrat bzw. gegen einzelne Minister gestellt werden. Auch der Ministerrat kann diesen Antrag in Form einer Vertrauensfrage stellen. Sollte die Nationalversammlung sein Misstrauen aussprechen, so stürzt der Ministerrat bzw. der betroffene Minister. Diese Möglichkeit des Sturzes der Regierung ist nicht an die Wahl bzw. Bildung einer neuen Regierung gebunden, d. h. Art. 89 TürkVerf statuiert die Möglichkeit eines destruktiven Misstrauensvotums im Gegensatz zu einem konstruktiven Misstrauensvotum. Jedoch knüpften die Verfassungsgeber dieses destruktive Misstrauensvotum an bestimmte Voraussetzungen, um einen leichtfertigen oder durch ein zufälliges Zusammenkommen einer relativen Mehrheit gegen die Regierung bedingten Sturz des Ministerrats zu verhindern. Daher bedarf es für den Sturz der Regierung bzw. des betreffenden Ministers eine absolute Mehrheit der Gesamtzahl der Mitglieder der Nationalversammlung (Art. 89 Abs. 6 TürkVerf). Zudem müssen zwischen der Beschlussfassung, dass ein Interpella­ tionsantrag auf die Tagesordnung gesetzt wird und der Beratung darüber, sowie zwischen einem Misstrauensantrag und der Abstimmung darüber bestimmte Fristen eingehalten werden (Art. 89 Abs. 4 und 5 TürkVerf). Die Verfassungskommission rechtfertigte den Ausschluss des Senats von der Möglichkeit einer Interpellation mit dem Hinweis auf die unterschiedliche Besetzung und Funktion von Nationalversammlung und Senat. Während die Nationalversammlung im Gesamten aus allgemeinen Wahlen hervorgeht, sind die Mitglieder des Senats zum Teil nicht unmittelbar demokratisch legitimiert, sodass ein Sturz der Regierung mit deren Stimmen schwerlich demokratisch legitimiert werden könnte. Zu Recht erklärte die Verfassungskommission in der Verfassungsbegründung, dass „die Verantwortlichkeit der Regierung eine Einrichtung ist, die die Tätigkeiten der Regierung unmittelbar durch die allgemeine Wahl an die öffentliche Meinung bindet. Aufgrund der Art der Zusammensetzung des Senats der Republik erscheint dieser als nicht geeignet, ein Glied dieser Kette zu sein“292. Zudem sollte der Senat insbesondere dadurch, dass ein Drittel seiner Mitglieder alle zwei Jahre zur Wahl stehen, die Stimmungen in der Bevölkerung auffangen, den „Nuancen“ der öffentlichen Meinung Ausdruck verleihen. Wenn die Regierung nun vom Vertrauen des Senats abhängig wäre, könnte sie alle zwei Jahre wegen eventuell veränderter Mehrheitsverhältnisse im Senat stürzen. Die Nationalversammlung hingegen bildet nach Ansicht der Verfassungskommission durch die allgemeinen Wahlen alle vier Jahre den „Globaltrend“ ab, den das Volk für die Politik vorsieht und auf die sich eine Regierung stützen (können) muss.293 292  Begründung 293  Begründung

zum Entwurf der Verfassungskommission, S. 35. zum Entwurf der Verfassungskommission, S. 32–33.



II. Staatsorganisation91

Eine Gruppe von Abgeordneten kritisierte dies und forderte auch für den Senat das Recht, der Regierung das Misstrauen aussprechen zu können. Denn ansonsten seien „im Ergebnis die Kompetenzen in der Hand der Nationalversammlung versammelt. Im Ergebnis ist das zweite Parlament kompetenzlos, in der Form eines Luxus-Parlaments eingerichtet“294. Die Gegenseite hingegen argumentierte, dass dem Senat ganz bewusst nicht die gleichen Kompetenzen und Befugnisse eingeräumt werde wie der Nationalversammlung, er aber dennoch seine Berechtigung hätte. Denn der Senat sei als „eine Institution der politischen Kontrolle“ gedacht und erfülle die Funktion eines „Siebs“, nicht mehr, aber eben auch nicht weniger. Die Kompetenzen seien aus diesem Grund nur in diesem Grad zugestanden wie sie für die Erfüllung ebendieser Funktion notwendig sind.295 Zusätzlich gibt es noch die Generaldebatte, die in Art. 88 Abs. 1 TürkVerf genannt, aber nicht weiter ausgeführt wird. Sie entspricht einer Großen Anfrage ohne die Möglichkeit einer Vertrauensfrage bzw. eines Misstrauens­ antrags. Sie kann von beiden Parlamentskammern ausgeübt werden und dient der Kontrolle der Regierung im Wege einer parlamentarischen Diskussion.296 Das im Rahmen der Kontrolle der Regierung zum Ausdruck kommende spezifische Verhältnis zwischen Nationalversammlung und Senat wird schließlich auch im Gesetzgebungsverfahren deutlich, d. h. bei der Ausübung der anderen Hauptfunktion und Erfüllung der weiteren Kernaufgabe der Legislative, nämlich der Beratung und Verabschiedung von Gesetzen. Das Recht, Gesetzesvorschläge zu unterbreiten steht allen Mitgliedern der TGNV, also sowohl den Abgeordneten als auch den Senatoren zu. Daneben steht auch der Regierung das Gesetzesvorschlagsrecht zu, jedoch nur dem Ministerrat als Organ der Exekutive, nicht jedoch den einzelnen Ministern (Art. 91 TürkVerf). Dies ist eine Folge der an anderer Stelle noch darzulegenden Verantwortlichkeit des Ministerrats als solches für die Gesamtpolitik der Regierung nach Art. 105 Abs. 1 TürkVerf.297 Die Beratung über Gesetzesvorschläge bzw. Gesetzesentwürfe beginnt stets in der Nationalversammlung, unabhängig davon, wer Initiator des Vorschlags bzw. Entwurfs ist (Art. 92 Abs. 1 TürkVerf). Bereits dies verdeutlicht die Vorrangstellung der Nationalversammlung gegenüber dem Senat. Ein Entwurf der von der Nationalversammlung ohne oder mit Änderungen angenommen wurde, wird an den Senat weitergeleitet. Wenn der Senat diesen von der Nationalversammlung erhaltenen Entwurf ohne Änderungen annimmt, 294  Protokolle

der Abgeordnetenversammlung, Band 3, S. 466. der Abgeordnetenversammlung, Band 3, S. 468. 296  Veliağagil, Parlament und Regierung, S. 74. 297  Hirsch, Die Verfassung der Türkischen Republik, S. 143. 295  Protokolle

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gilt das Gesetz als verabschiedet (Art. 92 Abs. 2 und Abs. 3 TürkVerf). Wenn der Senat jedoch den von der Nationalversammlung angenommenen Entwurf nur mit Änderungen annimmt, dann wird dieser Entwurf zurück an die ­Nationalversammlung geleitet. Nur wenn die Nationalversammlung den Änderungen des Senats zustimmt, gilt diese Fassung als verabschiedet (Art. 93 Abs. 4 TürkVerf). Wenn die Nationalversammlung den Änderungen des Senats nicht zustimmt, dann wird ein Gemischter Ausschuss gebildet, deren Mitglieder aus den Reihen der Mitglieder der jeweils zuständigen Ausschüsse der beiden Kammern in gleicher Anzahl gewählt werden. Dieser Gemischte Ausschuss entwirft einen eigenen Gesetzesentwurf, der einen Kompromiss zwischen den Fassungen der Nationalversammlung und des Senats darstellen soll. Anschließend wird dieser Entwurf des Gemischten Ausschusses zusammen mit den beiden anderen Fassungen erneut der Nationalversammlung vorgelegt. Die Nationalversammlung muss dann eine dieser drei Fassungen unverändert annehmen. Mit anderen Worten kann und muss sich die Nationalversammlung zwischen dem von ihr ursprünglich angenommenen Entwurf, dem Senatsentwurf und dem Entwurf des Gemischten Ausschusses entscheiden und dann verabschieden. Sie ist somit nicht verpflichtet, den als Kompromissversuch gedachten Entwurf des Gemischten Ausschusses anzunehmen (Art. 92 Abs. 5 TürkVerf). Ein entsprechendes Verfahren gilt für Gesetzesentwürfe, die bei der ersten Beratung von der Nationalversammlung abgelehnt werden. Auch diese gehen im Anschluss an den Senat. Sollte dieser den Entwurf ebenfalls ablehnen, gilt der Gesetzesvorstoß als gescheitert (Art. 92 Abs. 6 TürkVerf). Sollte der Senat den von der Nationalversammlung abgelehnten Entwurf jedoch mit oder ohne Änderungen annehmen, wird dieser erneut der Na­tionalversammlung zur Beratung und Abstimmung vorgelegt. Wenn in der Folge die Nationalversammlung diesen Entwurf ohne Änderungen annimmt, so gilt er als verabschiedet. Wenn die Nationalversammlung diesen Entwurf nur mit Änderungen annimmt, so wird das bereits geschilderte Verfahren des Gemischten Ausschusses in Gang gesetzt. Wenn die Nationalversammlung aber weiterhin bei ihrer Ablehnung bleibt, gilt der Gesetzesentwurf als endgültig gescheitert (Art. 92 Abs. 7 TürkVerf). Dabei muss der Senat die Gesetzesentwürfe innerhalb einer bestimmten Frist beraten und darüber abstimmen. Gesetzesvorschläge, die nicht innerhalb dieser Fristen vom Senat behandelt worden sind, gelten in der Fassung als verabschiedet, die die Nationalversammlung angenommen hat (Art. 92 Abs. 10 TürkVerf). Auch diese Bestimmung zeigt, dass der Senat nicht die Hauptrolle im Gesetzgebungsverfahren innehat. Ihre aktive Mitwirkung ist somit nicht zwingend erforderlich für die Annahme eines Gesetzes.



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Für bestimmte Fälle, in denen sich die Nationalversammlung über die Entscheidung des Senats hinwegsetzt, bedarf es aber einer qualifizierten Mehrheit. Wenn die Nationalversammlung einen Gesetzesentwurf, den der Senat mit absoluter Mehrheit angenommen hat, in geänderter Weise annehmen möchte, dann bedarf es hierzu ebenfalls einer absoluten Mehrheit in einer offenen Abstimmung (Art. 92 Abs. 5 TürkVerf). Entsprechendes gilt, wenn die Nationalversammlung einen vom Senat abgelehnten Entwurf annehmen möchte. Hierzu bedarf es der absoluten bzw. sogar der Zweidrittelmehrheit in der Nationalversammlung, wenn der Senat den Gesetzesentwurf mit eben dieser Mehrheit ablehnt (Art. 92 Abs. 8 und Abs. 9 TürkVerf). Zusammenfassend gilt, dass beim Gesetzgebungsverfahren die Nationalversammlung das letzte Wort hat. Wenn sich die Nationalversammlung und der Senat über die Verabschiedung oder den Inhalt eines Gesetzes nicht einig sind, kann sich im Ergebnis die Nationalversammlung über die Ansicht und Entscheidung des Senats hinwegsetzen. Die endgültige Entscheidung über Gesetzesentwürfe steht somit der Nationalversammlung zu. Dies rechtfertigt die Verfassungskommission in ihrer Verfassungsbegründung damit, dass die Regelungen zum Gesetzgebungsverfahren den Zweck verfolgen, sowohl „das Zweikammersystem abzubilden“ als auch „einen ungewissen Schwebezustand“ für Gesetzesentwürfe zu unterbinden und „die Verantwortlichkeit und Wirksamkeit der Regierung“ sicherzustellen.298 Denn das wichtigste Mittel, mit dem eine Regierung seine Aufgaben wahrnimmt, ist gemäß der Begründung der Verfassungskommission die Ausarbeitung von Gesetzen, die die Regierungspolitik verwirklichen sollen. Deshalb soll eine Regierung, die in der Mehrheit der Nationalversammlung ihren Ursprung hat und aus dieser ihre Legitimation bezieht, dieser Mehrheit entsprechend Poltik machen und mit dieser Mehrheit die Gesetze für ihre Politik durchsetzen können: „Als eine natürliche Folge der politischen Verantwortlichkeit der Regierung wird es als unverzichtbar angesehen, dass im Falle eines Streits [zwischen den beiden Kammern des Parlaments] die Nationalversammlung das letzte Wort hat.“299 Die für parlamentarische Systeme klassische Verknüpfung der Regierung an die parlamentarische Mehrheit in der Nationalversammlung, die aus allgemeinen und freien Wahlen hervorgegangen ist, bedingt aus Sicht der Verfassungsgeber die Letztentscheidungskompetenz der Nationalversammlung bei der Verabschiedung von Gesetzen. Die Einrichtung des Senats hingegen sollte bewusst im Gesetzgebungsverfahren nicht gleichwertig neben der Nationalversammlung stehen und dieselben Machtbefugnisse und Kompetenzen erhalten, sondern vielmehr die Macht der Nationalversammlung und insbesondere der dortigen Mehrheits298  Begründung 299  Begründung

zum Entwurf der Verfassungskommission, S. 36. zum Entwurf der Verfassungskommission, S. 36–37.

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partei bzw. Mehrheitskoalition begrenzen und die Ausübung dieser Macht bremsen. Der Institution des Senats kommt damit innerhalb der Legislative die Funktion einer Intra-Organ-Kontrolle zu. Nicht mehr, aber auch nicht weniger. Denn auch wenn die Nationalversammlung das Veto bzw. die Änderung des Senats übergehen kann, so kann der Senat während seiner Beratungen und im Wege seiner Abstimmungsergebnisse die Nationalversammlung unter einen besonderen Rechtfertigungsdruck setzen, gerade im Zusammenspiel mit einer freien Presse. Denn wenn sich die Nationalversammlung über die Ansichten und Entscheidungen des Senats hinwegsetzt, dann muss sie dies vor der Öffentlichkeit in irgendeiner Weise begründen und rechtfertigen, sich zumindest mit den Argumenten des Senats auseinandersetzen. Außerdem wird es der Regierungsmehrheit in der Nationalversammlung durch die Einbindung des Senats in das Gesetzgebungsverfahren erschwert, Gesetze im Hau-Ruck-Verfahren durch das parlamentarische Verfahren zu bringen. Gerade in der zweiten Hälfte der 1950er Jahre stellte der später gestürzte Ministerpräsident Menderes die Opposition und die Öffentlichkeit häufig vor vollendete Tatsachen, indem er ein neues Gesetz forderte, der entsprechende Entwurf noch am selben Tag von seiner Regierungspartei ins Parlament eingebracht und verabschiedet, in der Nacht vom Staatspräsidenten unterzeichnet und am nächsten Morgen im Amtsblatt veröffentlicht und damit in Kraft gesetzt wurde. Eine politische Diskussion oder Auseinandersetzung war in dieser kurzen Zeit unmöglich. Die Einrichtung des Senats ist als unmittelbare Reaktion auf diese Zeit zu begreifen. Ausweislich der Protokolle zur Beratung in der Abgeordnetenversammlung war dies ein Kernanliegen der Verfassungsgeber, diese sogenannten „Blitzgesetze“, die zudem inhaltlich häufig Bürger- und Oppositionsrechte einschränkten, zukünftig zu unterbinden.300 Zudem hat der Senat nach Ansicht der Verfassungskommission im Gesetzgebungsverfahren das Recht und die Aufgabe die Existenz der Regierungsmehrheit zu überprüfen.301 Diese Kontrollmöglichkeit kann sie dadurch wahrnehmen, indem sie die Nationalversammlung bei einem Abweichen von ihrem Standpunkt zu dem Nachweis einer qualifizierten Mehrheit für ein Gesetzesvorhaben zwingen kann, wenn sie selbst mit ebendieser qualifizierten Mehrheit abgestimmt hat. Auch bei den Regelungen für die Verabschiedung des Haushalts bleibt diese Konstellation zwischen den beiden Kammern, d. h. die Nationalversammlung als das im Ergebnis entscheidende Gremium und der Senat als bremsende und überprüfende Kontrollinstanz, erhalten. Das Verfahren zur 300  Protokolle

der Abgeordnetenversammlung, Band 4, S. 348. zum Entwurf der Verfassungskommission, S. 37.

301  Begründung



II. Staatsorganisation95

Verabschiedung des Haushalts zeigt dennoch deutliche Unterschiede zum Gesetzgebungsverfahren, die die Verfassungsgeber damit rechtfertigten, dass es bei den Haushaltsberatungen keine langen Verzögerungen und Verschleppungen geben sollte und eine Übereinstimmung mit den Entwicklungsplänen, die eng mit dem Haushaltsgesetz verkoppelt sind und die notwendige wirtschaftliche Entwicklung der Türkei durch eine auf Dauer angelegte wirtschaftliche Gesamtplanung ermöglichen sollten302, sichergestellt werden muss. Wörtlich heißt es in der Begründung der Verfassungskommission: „Wegen der Notwendigkeiten, den Haushalt mit einem Parlament, das aus zwei Kammern besteht, in einer bestimmten Zeit und im Einklang mit dem Entwicklungsplan zu verabschieden, ist für die Prozedur der Beratung und Verabschiedung der Entwürfe zum Haushaltsgesetz ein besonderes System erforderlich.“303 Dieses besondere System sieht vor, dass der Ministerrat spätestens drei Monate vor Beginn des Fiskaljahres den Haushaltsentwurf zusammen mit einem Bericht über die nationalen Haushaltsschätzungen der TGNV vorlegt (Art. 94 Abs. 1 TürkVerf). Dieser Entwurf geht zunächst an einen Gemischten Ausschuss, der für die Haushaltsberatungen anders als im Gesetzgebungsverfahren stets zu bilden ist und aus 35 Abgeordneten der Nationalversammlung und 15 Senatoren besteht, wobei den Regierungsparteien mindestens 30 Sitze zustehen müssen (Art. 94 Abs. 2 TürkVerf). Dies soll sicherstellen, dass sich die Regierung für ihren Haushaltsplan auf ihre parlamentarische Mehrheit verlassen kann. Der Entwurf, den der Gemischte Ausschuss innerhalb von acht Wochen annehmen muss, wird im Anschluss an den Senat weitergeleitet, der innerhalb von zehn Tagen diesbezüglich zu beraten und abzustimmen hat. Bei Änderungen durch den Senat geht der Entwurf erneut an den Gemischten Ausschuss, der einen endgültigen Entwurf annimmt und der Nationalversammlung zur Beratung und Verabschiedung vorlegt (Art. 94 Abs. 3 und Abs. 4 TürkVerf). Dies bedeutet, dass bei der Ausarbeitung des Haushalts der Senat eine kontrollierende und überprüfende Funktion innehat, aber ihr letztlich keine eigene Entscheidungskompetenz zukommt. Maßgebliche Gremien sind der Gemischte Ausschuss, der in seiner Mehrheit aus Abgeordneten der Nationalversammlung besteht, und die Nationalversammlung, die auch an dieser Stelle die Letztentscheidungskompetenz innehat. Während der jeweiligen Beratungen in den Parlamentskammern zum Haushaltsgesetz tragen die Parlamentsmitglieder ihre Ansichten und Meinungen über den Haushalt im Plenum der jeweiligen Parlamentskammern im 302  Hirsch,

Die Verfassung der Türkischen Republik, S. 146. zum Entwurf der Verfassungskommission, S. 37.

303  Begründung

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Rahmen der Generaldebatte zum Haushalt vor (Art. 94 Abs. 5 TürkVerf). Dabei dürfen die Parlamentsmitglieder keine Vorschläge vorbringen, die die Ausgaben steigern oder die Einnahmen mindern (Art. 94 Abs. 6 TürkVerf). Diese letzte Regelung stellt natürlich eine relevante Einschränkung für Debatten über den Haushalt in den Parlamentskammern dar und zeigt, dass nach dem Willen der Verfassungsgeber die eigentliche inhaltliche Arbeit bezüglich des Haushalts im Gemischten Ausschuss stattfinden soll. Anders beurteilt sich die Stellung des Senats im Zusammenhang mit Verfassungsänderungen. Auch wenn für die Beratung und Annahme von Verfassungsänderungen grundsätzlich die Vorschriften für die Beratung und Annahme von Gesetzen gelten (Art. 155 Abs. 2 TürkVerf), gibt es für Verfassungsänderungen dennoch weitreichende Einschränkungen. Denn anders als Gesetzesvorschläge kann ein Antrag auf Änderung der Verfassung weder vom Ministerrat noch von einem einzelnen Parlamentsmitglied, sondern nur von mindestens einem Drittel der Gesamtzahl der Mitglieder der TGNV schriftlich gestellt werden. Schließlich braucht es für die Annahme einer Verfassungsänderung jeweils eine Zweidrittelmehrheit der Gesamtzahl der Mitglieder beider Parlamentskammern, die getrennt abstimmen (Art. 155 Abs. 1 TürkVerf). Diese Regelung ist selbstverständlich der besonderen Bedeutung und dem besonderen Gewicht der Verfassung geschuldet, die deshalb eines besonderen Schutzes bedarf und nur unter erschwerten Bedingungen geändert werden können soll. Aus diesem Grund steht der Senat in dieser Frage gleichwertig neben der Nationalversammlung. Letztere kann sich nicht über die Entscheidung des Senats hinwegsetzen, genausowenig wie der Senat sich über die Entscheidung der Nationalversammlung hinwegsetzen kann. Insofern findet eine vollumfängliche gegenseitige Intra-Organ-Kontrolle zwischen Nationalversammlung und Senat statt. Nicht nur aus diesem Grund stimmt der Verfasser den Schlussfolgerungen Veliağagils nicht zu, wonach der Senat „mehr oder weniger ein Spiegelbild der Nationalversammlung“ sei, der daher „eine bloß künstliche Erscheinung“ darstelle.304 Auch die dazugehörige Argumentation Veliağagils, das Ziel der Verfassungsgeber, die Macht der Nationalversammlung zu begrenzen und übereilte Entscheidungen zu verhindern, sei bereits mit der Gründung des Verfassungsgerichts erreicht worden bzw. sei mit anderen Mitteln des parlamentarischen Verfahrens wie feste Fristen besser erreichbar gewesen305, erscheint nicht tragfähig. Denn wie noch zu erörtern sein wird, ist das Verfassungsgericht zwar ein wichtiger Meilenstein für die Kontrolle von Parlament und Regierung. Diese justizielle Kontrolle beschränkt sich aber auf die Überprüfung der Einhaltung der Verfassung durch die Legislative und Exe304  Veliağagil, 305  Veliağagil,

Parlament und Regierung, S. 52. Parlament und Regierung, S. 51–52.



II. Staatsorganisation97

kutive. Sie stellt keine Beschränkung und Begrenzung der Macht der Nationalversammlung hinsichtlich politischer Entscheidungen dar, die nicht verfassungswidrig sind. Auch längere Fristvorgaben bezüglich der Handlungen der Nationalversammlung können selbstverständlich den Senat als zweite Kammer nicht ersetzen. Denn im Gegensatz zu Verfahrensfristen kann der Senat als zweite Kammer die Nationalversammlung auch im Gesetzgebungsverfahren dazu zwingen, über ihre Entscheidungen vor dem Hintergrund der Argumentation des Senats erneut zu beraten und diese damit vor der Öffentlichkeit unter Rechtfertigungsdruck bringen. Und ebenfalls im Gegensatz zu Verfahrensfristen stellt der Senat durch die alle zwei Jahre stattfindenden Wahlen von einem Drittel seiner Mitglieder eine zusätzliche Korrektur- und Warnmöglichkeit durch das Wahlvolk dar. Zu den Zuständigkeiten des Parlaments gehört gemäß Art. 65 TürkVerf auch die Entscheidung über die Annahme völkerrechtlicher Abkommen.306 Demnach bedarf die Ratifizierung der mit ausländischen Staaten oder internationalen Organisationen vereinbarten Verträge im Namen der Türkischen Republik die Zustimmung der TGNV, die diese nur im Wege eines Gesetzes erteilen kann. Kommissionssprecher Turan Güneş verdeutlichte während der Verhandlungen in der Abgeordnetenversammlung, dass mit dieser Bestimmung völkerrechtlich verbindliche Erklärungen und Verträge nur nach vor­ heriger Erlaubnis des Parlaments möglich sein sollen. Er erklärte, dass in Zukunft das Verfahren für völkerrechtliche Abkommen so ablaufen werden, 306  Art. 65 der türkischen Verfassung von 1961: Die Ratifizierung der mit ausländischen Staaten oder internationalen Organisationen vereinbarten Verträge im Namen der Türkischen Republik ist an die Zustimmung der Türkischen Großen Nationalversammlung gebunden; die Ratifizierung kann nur durch den Erlass eines Gesetzes durch die Große Türkische Nationalversammlung erfolgen. Verträge zur Regelung von Wirtschafts-, Handels- und technischen Beziehungen mit einer Laufzeit von weniger als einem Jahr können, sofern sie keine Belastung der Staatsfinanzen nach sich ziehen und sofern sie niemandes Stellung oder die Eigentumsrechte türkischer Staatsangehöriger im Ausland verletzen, mit ihrer Verkündung in Kraft gesetzt werden. In diesem Falle müssen solche Verträge innerhalb von zwei Monaten nach ihrer Verkündung der Türkischen Großen Nationalversammlung unterbreitet werden. Im Zusammenhang mit einem internationalen Vertrag getroffene Ausführungsabkommen sowie mit gesetzlicher Ermächtigung abgeschlossene Wirtschafts-, Handels-, technische oder Verwaltungsverträge sind nicht an die Zustimmung der Türkischen Großen Nationalversammlung gebunden; Wirtschafts- und Handelsverträge und Verträge, die Individualrechte berühren, treten jedoch erst nach ihrer Verkündung in Kraft. Die in Absatz 1 enthaltenen Vorschriften finden für alle Verträge Anwendung, die eine Abänderung türkischer Gesetze nach sich ziehen. Ordnungsgemäß in Kraft gesetzte internationale Verträge haben Gesetzeskraft. Hinsichtlich dieser Verträge ist der Rechtsweg zum Verfassungsgericht gemäß den Artikeln 149 und 151 nicht gegeben.

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dass die Regierung über ein völkerrechtliches Abkommen verhandeln und, wenn sie eine Einigung erzielt, dem Parlament vorlegen wird. Das Parlament berät und entscheidet über dieses Abkommen und gegebenenfalls gestattet es dann im Wege eines Gesetzes die Ratifikation dieses Abkommen. Erst mit der Verkündung dieses Gesetzes durch den Präsidenten der Republik soll dann das Abkommen Bindungswirkung für die Türkei erlangen.307 Dies bedeutet, dass die Regierung keine bindenden Erklärungen auf völkerrecht­ licher Ebene abgeben kann. Es braucht immer erst die Rückkoppelung an das Parlament. Von diesem Grundsatz macht die Verfassung aber Ausnahmen. Daher bedürfen Ausführungsabkommen zu bereits ratifizierten internationalen Abkommen, sowie Wirtschafts- und Handelsabkommen, die von der Regierung im Rahmen einer gesetzlichen Ermächtigung ausgehandelt werden, grundsätzlich keiner Zustimmung durch die TGNV. Entsprechendes gilt auch für Wirtschafts- und Handelsabkommen, die eine Laufzeit von weniger als einem Jahr haben, keine Belastungen für den Staatshaushalt mit sich bringen und die Eigentumsrechte türkischer Bürger nicht antasten. Diese müssen der TGNV lediglich nach Abschluss mitgeteilt werden. In der Abgeordnetenversammlung waren vor allem die Ausnahmetat­ bestände Gegenstand von Diskussionen. Manche Stimmen verlangten die Ausnahmetatbestände auszuweiten und damit größere Freiräume für die Regierung zu erreichen, andere wiederum wollten die Ausnahmetatbestände am besten ganz weglassen und bindende völkerrechtliche Erklärungen gänzlich dem Parlament vorbehalten.308 Der verabschiedete Artikel stellt damit das Ergebnis eines Kompromisses zwischen diesen Lagern dar. Die Verfassungskommission verteidigte diesen Kompromiss mit der Erklärung, dass sie mit diesen Bestimmungen im Bereich völkerrechtlicher Abkommen der Exekutive so viele Befugnisse wie möglich zugestehen und gleichzeitig dafür Sorge tragen wollte, dass das Parlament der Ort ist, an dem die Außenpolitik geprägt wird und sich manifestiert.309 Schließlich erlangen ordnungsgemäß in Kraft getretene Abkommen Gesetzeskraft und können nicht vor dem Verfassungsgericht wegen vermeintlicher Verfassungswidrigkeit angegriffen werden (Art. 65 Abs. 5 TürkVerf). Auf die Regelungen zum Abschluss von völkerrechtlichen Abkommen folgen in Art. 66 TürkVerf die Verfassungsbestimmungen zum Einsatz von Streitkräften. Gemäß diesen Bestimmungen hat nur die TGNV die Befugnis, in den nach dem Völkerrecht legitimen Fällen Kriegserklärungen abzugeben 307  Protokolle

der Abgeordnetenversammlung, Band 3, S. 372. der Abgeordnetenversammlung, Band 3, S. 370–375. 309  Protokolle der Abgeordnetenversammlung, Band 3, S. 374. 308  Protokolle



II. Staatsorganisation99

und den Einsatz der türkischen Streitkräfte im Ausland sowie die Stationierung von ausländischen Truppen in der Türkei zu gestatten. Ausnahmsweise kann die Regierung über den Einsatz der Truppen im Ausland bzw. die Stationierung ausländischer Truppen im Inland entscheiden, wenn dies aufgrund von internationalen Abkommen, denen auch die Türkei beigetreten ist, oder aufgrund der völkerrechtlichen Regeln des Anstands erforderlich ist (Art. 66 Abs. 1 TürkVerf). Zur Erteilung dieser Erlaubnis tagen die beiden Kammern des Parlaments gemeinsam und stimmen auch gemeinsam ab (Art. 66 Abs. 2 TürkVerf). Diese Regelungen korrespondieren mit der Bestimmung des bereits dargelegten Art. 110 TürkVerf, wonach der Oberbefehl über die Streitkräfte untrennbar mit dem Wesen der TGNV verbunden ist und vom Präsidenten der Republik lediglich repräsentiert wird. Daher steht insbesondere die Befugnis zur Kriegserklärung und Truppenentsendung folgerichtig nicht dem Staatsoberhaupt, sondern der TGNV zu. In der Verfassungsbegründung hielt die Verfassungskommission hierzu fest, dass dieser Artikel die Kompetenz der Legislative bezüglich Kriegserklärungen, Entsendung von Truppen ins Ausland und der Stationierung ausländischer Truppen in der Türkei bestätigt.310 In den Beratungen in der Abgeordnetenversammlung verdeutlichten die Verfassungsgeber, dass dieser Artikel auch eine Reaktion auf die türkische Geschichte und insbesondere auf die islamisch-konservative Vorgängerregierung ist. Insbesondere verwiesen die Verfassungsväter und -mütter auf den Eintritt des Osmanischen Reiches in den Ersten Weltkrieg und die Entsendung von türkischen Truppen in den Koreakrieg durch Ministerpräsident Menderes. In beiden Fällen wurde das Parlament vor vollendete Tatsachen gesetzt und praktisch übergangen. Dies sollte durch Art. 66 TürkVerf zukünftig unterbunden werden.311 Ausgehend vor diesen historischen Erfahrungen verlangten einige Abgeordnete sogar die Ausnahmetatbestände zu streichen. Die Verfassungskommission verhinderte dies aber unter anderem mit dem Hinweis auf die NATO-Mitgliedschaft der Türkei, die gegebenenfalls ein rasches Handeln der Türkei nach den dazugehörigen Verträgen verlange, die bereits vom Parlament abgesegnet worden sind. Während der Arbeiten an diesen ausführlichen verfassungsrechtlichen Vorgaben für die Stellung und die Funktionsweise des Parlaments orientierten sich die türkischen Verfasungsgeber an anderen, „westlichen“ Verfassung ihrer Zeit. In den Beratungen in der Abgeordnetenversammlung zogen die Verfassungsväter und -mütter immer wieder Vergleiche mit Bestimmungen in 310  Begründung 311  Protokolle

zum Entwurf der Verfassungskommission, S. 31. der Abgeordnetenversammlung, Band 3, S. 378.

100 E. Verfassung von 1961 unter Berücksichtigung von Rezeptionsvorgängen

„westlichen“ Verfassungen und diskutierten über Beispiele aus diesen.312 Mitunter bedienten sie sich dem Mittel der Übernahme und Rezeption aus „westlichen“ Verfassungen. Viel häufiger aber übernahmen die Verfassungsgeber die Regelungen aus der türkischen Verfassung von 1924 und änderten bzw. gestalteten sie um. Hierbei orientierten sie sich aber meistens auch an „westlichen“ Verfassungen. Bezüglich des Namens für das Parlament als Ganzes, d. h. für beide Kammern zusammen, hielten die Verfasungsgeber aus Gründen der Tradition an der bisherigen Bezeichnung der „Türkischen Großen Nationalversammlung“ fest und hielten damit den Terminus der Verfassungsordnung von 1924 bei.313 Die in Art. 64 TürkVerf dargelegten Aufgaben der TGNV sind ausweislich der Begründung der Verfassungskommission eine Übernahme aus der Verfassung von 1924, die sie aber an einigen Stellen geändert haben.314 Insbesondere der Wegfall des Rechts des Parlaments auf Auslegung Gesetze und der Zuständigkeit für die Behandlung von Monopolen rechtfertigten die Verfassungsgeber jedoch mit dem „modernen Rechtsverständnis“315. In Anbetracht des Umstandes, dass, wie später noch zu erörtern sein wird, die türkischen Verfassungsgeber unter „modernen“ Verfassungen die jüngeren „westlichen“ Verfassungen meinten, kann man die Schlussfolgerung ziehen, dass sie sich bei der Ausarbeitung dieser Bestimmung „westliche“ Verfassungen zum Vorbild nahmen, die ebenfalls entsprechende Rechte für das Parlament nicht vorsehen. Bei der Festlegung der Anzahl der Mitglieder der Nationalversammlung und des Senats diskutierten die Verfassungsgeber über die Bestimmungen in der italienischen und in der französischen Verfassungsordnung und versuchten, die dort enthaltenen Regelungen angepasst an die türkischen Verhältnisse bezüglich Bevölkerung und Landesgröße, zu übertragen.316 In der Begründung der Verfassungskommission zur Größe der Nationalversammlung heißt es zudem, dass in „modernen Parlamenten“ die Anzahl der Abgeordneten zwischen 450 und 650 schwankt und dass die Verfassungskommission in Anbetracht der parlamentarischen Notwendigkeiten und der Zahl des verfügbaren „politischen Personals“ in der Türkei die Anzahl von 450 als ausreichend angesehen hat.317 Dies zeigt, dass sich die türkischen Verfassungs­ geber in dieser Frage an dem Standard „westlicher“ Verfassungen orientier312  Protokolle der Abgeordnetenversammlung, Band 3, S. 363 ff., Band 3, 384 ff., Band 3, S. 464 ff. 313  Begründung zum Entwurf der Verfassungskommission, S. 28. 314  Begründung zum Entwurf der Verfassungskommission, S. 29. 315  Begründung zum Entwurf der Verfassungskommission, S. 29. 316  Protokolle der Abgeordnetenversammlung, Band 3, S. 389 ff. 317  Begründung zum Entwurf der Verfassungskommission, S. 31.



II. Staatsorganisation101

ten und diese in Einklang mit den Erfordernissen der Türkei zu bringen versuchten. Auch bezüglich der Zusammensetzung des Senats verfolgten die Verfassungsgeber das Ziel, Regelungen zu schaffen, die den Ansprüchen von „modernen Demokratien“ und „modernen parlamentarischen Regimen“ entsprechen.318 Konkretere Angaben hinsichtlich etwaiger Vorbilder ergeben sich aus den Quellen nicht. Jedoch fallen die großen Parallelen zwischen den türkischen Bestimmungen und den Regelungen der italienischen Verfassung auf.319 Beide Verfassungen verlangen für die Wählbarkeit ein Mindestalter von 40 Jahren, beide bestimmen die Senatoren in allgemeinen und direkten Wahlen und nicht etwa als Vertreter bestimmter regionaler Parlamente oder Regierungen. Zudem hat in beiden Verfassungsordnungen das jeweilige Staatsoberhaupt ein Kontingent an Senatoren zu bestimmen. Desweiteren werden in beiden Staaten die Staatspräsidenten nach Ende ihrer Amtszeit zu Senatoren auf Lebenszeit. Die Unterschiede, die es zwischen beiden Verfassungsordnungen diesbezüglich gibt, sind nicht von grundsätzlicher Natur, wie beispielsweise die konkrete Zahl der vom Staatsoberhaupt zu benennenden Senatoren oder die Voraussetzung eines Hochschulstudiums für Senatoren, die nur die türkische Verfassung kennt. Daher liegt, insbesondere wenn man sich vergegenwärtigt, dass im allgemeinen Teil der Begründung der Verfassungskommission von der grundsätzlich besonderen Rolle der italienischen Verfassung für die Arbeiten der türkischen Verfassungsgeber gesprochen wird320, eine Vorbildfunktion der italienischen Verfassung in dieser Frage nahe, wenn sie auch nicht mit Sicherheit nachgewiesen werden kann. Im Bereich der Billigung von völkerrechtlichen Abkommen durch das Parlament wurde der Grundsatz aus der Verfassung von 1924 beibehalten.321 Die Ausnahmetatbestände jedoch, die es der Regierung ermöglichen, ohne eine vorherige Erlaubnis des Parlaments völkerrechtliche bindende Abkommen abzuschließen, stellen im Vergleich zur Verfassungsordnung von 1924 318  Begründung

zum Entwurf der Verfassungskommission, S. 33. der italienischen Verfassung von 1947: Die Senatoren werden in allgemeiner und direkter Wahl von den Wählern gewählt, die das 25. Lebensjahr überschritten haben. Zu Senatoren sind die Wähler wählbar, welche das 40. Lebensjahr vollendet haben. Art. 59 der italienischen Verfassung von 1947: Wer Präsident der Republik gewesen ist, wird – vorbehaltlich Verzicht – kraft seines Amtes und auf Lebenszeit Senator. Der Präsident der Republik kann fünf Staatsbürger zu Senatoren auf Lebenszeit ernennen, die durch größte Verdienste auf sozialem, wissenschaftlichem, künstlerischem und literarischem Gebiet dem Vaterland Ruhm und Ehre eingebracht haben. 320  Begründung zum Entwurf der Verfassungskommission, S. 3. 321  Begründung zum Entwurf der Verfassungskommission, S. 20. 319  Art. 58

102 E. Verfassung von 1961 unter Berücksichtigung von Rezeptionsvorgängen

Neuerungen dar, die auf entsprechende Vorbilder in „westlichen Verfassungsordnungen“ zurückgehen. Dies geht aus der Begründung der Verfassungskommission hervor, die in diesem Zusammenhang auf die Verpflichtungen aus der NATO-Mitgliedschaft verweist und zudem erklärt, dass in allen ­„demokratischen Ländern“ diese Ausnahmen Verfassungspraxis seien, ohne diese explizit aufzuzählen.322 Für die Bestimmungen zur Verabschiedung der Gesetze lassen sich anhand der Quellen keine unmittelbaren, konkreten Vorbilder erkennen oder entsprechende Übernahmen rekonstruieren. Dies ist sicher auch dem Umstand geschuldet, dass im Gesetzgebungsverfahren verschiedene Institutionen und Organe des Staates involviert sind und die spezifischen Interessen der maßgeblichen Akteure ihre Berücksichtigung finden müssen. Daher ist es nicht verwunderlich, dass die türkischen Verfassungsgeber diesbezüglich eigene Wege eingeschlagen haben und sich dabei aber mit den Bestimmungen und Lösungen in „westlichen“ Verfassungen auseinandergesetzt haben. Entsprechendes gilt für die verschiedenen Mittel und Verfahren der InterOrgan-Kontrolle des Parlaments gegenüber der Exekutive. Zwar entsprechen die Verfahren der türkischen Verfassung dem Grunde nach und prinizipiell denen, die in „westlichen“ Verfassungen enthalten sind. Insofern sind die türkischen Verfassungsgeber ihrem Anspruch, „westlichen“ Standards zu entsprechen, gerecht geworden. Die Einzelheiten und die konkrete Ausgestaltung dieser Mechanismen zur Kontrolle und Überwachung der Regierung durch das Parlament sind jedoch nicht das Ergebnis einer Übernahme aus anderen Verfassungen, sondern stammen originär aus der Feder der türkischen Verfassungsgeber, die sie nach zähem Ringen innerhalb der Abgeordnetenversammlung als Kompromiss zwischen den verschiedenen Ansichten schufen. Während der Debatten in der Abgeordnetenversammlung haben die Verfassungsgeber ganz deutlich gemacht, dass sie an dieser Stelle weder der italienischen Verfassung folgen, die beiden Parlamentskammern die gleichen Möglichkeiten zur Kontrolle der Regierung und damit auch das Recht zum Sturz der Regierung einräumt323, noch das deutsche Grundgesetz als möglichen Paten ansahen, da dort ein föderales System umgesetzt sei, was auf die Türkei nicht übertragbar sei. Explizit wiesen die Verfassungsgeber zudem darauf hin, dass gerade die italienische und französische Verfassungspraxis in dieser Hinsicht nicht wünschenswert für die Türkei ist, da dort die völlige Abhängigkeit der Regierungen von beiden Kammern ohne Sicherungsmechanismen zu häufigen Regierungstürzen und Regierungskrisen führe.324 Dies zeigt, dass die türkischen Verfassungsmütter und -väter auch an dieser Stelle 322  Begründung

zum Entwurf der Verfassungskommission, S. 30. der Abgeordnetenversammlung, Band 3, S. 468. 324  Protokolle der Abgeordnetenversammlung, Band 3, S. 468–469. 323  Protokolle



II. Staatsorganisation103

die Regelungen in „westlichen“ Regelungen untersuchten und dabei auch die Verfassungspraxis vor Augen hatten. Die Bestimmungen über die Verabschiedung des Haushaltsgesetzes haben verschiedene Quellen. Art. 94 Abs. 1 TürkVerf, der die Grundregeln aufstellt, ist eine Übernahme aus der türkischen Verfassung von 1924. Die darauffolgenden Bestimmungen über das Verfahren des Gemischten Ausschusses sind eine Folge des Übergangs in ein Zweikammersystem und wurden vom türkischen Verfassungsgeber zur Umsetzung dieses Systems auch im Bereich der Haushaltsgesetzgebung spezifisch geschaffen. Die Regelungen der Grundsätze zu den Beratungen über den Haushalt in Art. 94 Abs. 5 TürkVerf haben laut Verfassungskommission ihre Vorbilder in der Praxis von anderen „modernen Parlamenten“, wobei keine nähere Angaben diesbezüglich gemacht werden.325 Schließlich verweisen die Verfassungsgeber bei Art. 94 Abs. 6 TürkVerf, der Vorschläge während der Debatten im Parlament über den Haushalt verbietet, die die Ausgaben steigern oder die Einnahmen mindern, auf die französische Verfassung von 1958.326 3. Position und Rolle der Regierung Auch wenn Art. 6 TürkVerf die Erfüllung der Aufgaben der Exekutive im Rahmen der Gesetze gleichrangig dem Präsidenten der Republik und dem Ministerrat zuweist, ist dennoch der Ministerrat (türk.: „bakanlar kurulu“), mit anderen Worten das aus dem Ministerpräsidenten und den Ministern bestehende Regierungskabinett, das eigentliche Zentrum und der tatsächliche Inhaber der exekutiven Befugnisse und Kompetenzen im Staat, während, wie bereits dargelegt, dem Präsidenten der Republik vornehmlich Repräsentations- und Schiedsrichterfunktionen zukommen.327 In der Verfassungsbegründung zu Art. 102 TürkVerf, der die Zusammensetzung des Ministerrates betrifft, heißt es daher folgerichtig, dass die Exekutivgewalt de facto in den Händen des Ministerrats liegen wird.328 Gemäß Art. 102 Abs. 1 TürkVerf ernennt der Präsident der Republik aus dem Kreis der Mitglieder der TGNV den Ministerpräsidenten als Spitze des Ministerrates. Dies bedeutet aber keineswegs, dass die Entscheidung über die Person des Ministerpräsidenten tatsächlich in der Hand des Staatsoberhaupts liegt. Denn im parlamentarischen System der Verfassungsordnung von 1961 bedarf die Regierung eines Vertrauensvotums des Parlaments, mithin muss die Regierung den Mehr325  Begründung

zum Entwurf der Verfassungskommission, S. 37. zum Entwurf der Verfassungskommission, S. 37. 327  Wenn im Folgenden von der Regierung gesprochen wird, ist daher lediglich der Ministerrat gemeint, nicht auch der Präsident der Republik. 328  Begründung zum Entwurf der Verfassungskommission, S. 39. 326  Begründung

104 E. Verfassung von 1961 unter Berücksichtigung von Rezeptionsvorgängen

heitsverhältnissen im Parlament Rechnung tragen. Daher wird der Präsident der Republik nur eine Person zum Ministerpräsidenten ernennen und damit mit der Bildung einer Regierung beauftragen, der eine Chance hat, von der Nationalversammlung ein Vertrauensvotum zu erhalten, mithin von der Mehrheit der Abgeordneten unterstützt zu werden.329 In der Praxis bedeutet dies, dass die Partei oder die Koalition von Parteien, die eine Mehrheit in der Nationalversammlung innehat, den Ministerpräsidenten (und auch die Minister) im Vorfeld bestimmen wird und dem Präsidenten der Republik lediglich die formelle Rolle zufällt, die Entscheidung der Parlamentsmehrheit durch Ernennung umzusetzen. Die einzelnen Minister wiederum werden vom Ministerpräsidenten ausgewählt und ebenfalls vom Präsidenten der Republik ernannt. Anders als der Ministerpräsident müssen die Minister nicht zwingend Mitglied einer der beiden Parlamentskammern sein. Denn gemäß Art. 102 Abs. 2 TürkVerf wählt der Ministerpräsidenten seine Minister aus dem Kreis der Mitglieder der TGNV aus oder aber er entscheidet sich für Personen, die zum Abgeordneten wählbar sind, ohne solche zu sein. Zum Amtsbeginn einer Regierung bedarf es eines Vertrauensvotums durch das Parlament. Gemäß Art. 103 TürkVerf wird hierzu die Liste des Ministerrats vollständig beiden Kammern des Parlaments unterbreitet. Sollten sich die Kammern in den parlamentarischen Ferienzeiten befinden, werden sie zur Tagung einberufen. Das Regierungsprogramm muss innerhalb einer Woche nach der Gründung des Ministerrats vom Ministerpräsidenten oder von einem der Minister vor beiden Parlamentskammern verlesen werden. Im Anschluss stellt sich der Ministerrat dem Vertrauensvotum der Nationalversammlung. Die Regierung bedarf also lediglich des Vertrauens der Nationalversammlung, nicht aber des Senats der Republik. Gemäß Art. 103 Abs. 2 TürkVerf müssen zwischen der Verlesung des Regierungsprogramms und der Aussprache dazu mindestens zwei volle Tage liegen und zwischen der Be­ endigung dieser Aussprache und der Abstimmung bezüglich des Vertrauensvotums erneut zwei volle Tage. Ausweislich der Verfassungsbegründung dienen diese Fristen der Sicherstellung einer ausreichend sachgemäßen und ernsthaften Aussprache und damit der entsprechenden Auseinandersetzung mit dem Regierungsprogramm.330 Hirsch vermutet es ganz richtig, wenn er sagt, dass durch diese Fristen auch Raum für die Reaktion der Öffentlichkeit und insbesondere der Presse geschaffen werden sollte, die die Abstimmung beeinflussen können.331 Diese Regelungen des Art. 103 TürkVerf haben zur Folge, dass die Errichtung einer Regierung, den Grundsätzen eines parlamentarischen Systems 329  Hirsch,

Verfassung der Türkischen Republik, S. 150. zum Entwurf der Verfassungskommission, S. 39. 331  Hirsch, Verfassung der Türkischen Republik, S. 150. 330  Begründung



II. Staatsorganisation105

folgend, von der Zustimmung des Parlaments abhängig ist. Ohne das Vertrauensvotum der Nationalversammlung kann sich keine Regierung konsti­ tuieren. Daher ist auch die Behauptung von Hirsch, wonach bereits mit der Mitteilung der Liste der vom Präsidenten der Republik ernannten Minister an die beiden Parlamentskammern die Regierung konstituiert sei, nicht zutreffend.332 Die Verfassungsgeber sahen vielmehr das Vertrauensvotum ausdrücklich als konstitutiv für die Errichtung einer Regierung an, auch wenn der Wortlaut des Art. 103 TürkVerf davon spricht, dass das Regierungsprogramm „innerhalb einer Woche nach Gründung [Hervorhebung durch den Verfasser] des Ministerrats“ vor den beiden Parlamentskammern verlesen werden muss, mithin bereits vor dem Vertrauensvotum von einer Gründung die Rede ist. Jedoch erklärte Kommissionssprecher Turan Güneş während der Beratungen in der Abgeordnetenversammlung ausdrücklich, dass eine Regierung die zum Amtsbeginn kein Vertrauensvotum erhalten hat, als „nicht existent“ gilt.333 Dieser Unterschied ist nicht folgenlos. Denn die bereits erörterte Auflösung der Nationalversammlung und gleichzeitige Ausrufung von Neuwahlen gemäß Art. 108 TürkVerf durch die Exekutive kann nur erfolgen, wenn innerhalb der letzten 18 Monate die Regierung zweimal kein Vertrauensvotum erlangt hat und nun ein drittes Mal dieses von der Nationalversammlung verweigert bekommt. Dies gilt aber nur für eine bereits konstituierte Regierung, die zum Amtsbeginn von der Nationalversammlung das Vertrauen ausgesprochen bekommen hat, also bereits amtierend ist. Eine Ministerliste, die bereits zu Beginn ihrer Amtszeit kein Vertrauensvotum erhält, kann nicht diese Auflösung der Nationalsversammlung nach Art. 108 TürkVerf betreiben. Dies betonten die Verfassungsgeber explizit während der Verhandlungen in der Abgeordnetenversammlung.334 Neben dem zwingend erforderlichen Vertrauensvotum für die Konstituierung einer Regierung zu Beginn einer Amtszeit gemäß Art. 103 TürkVerf gibt es zudem die Möglichkeit eines Vertrauensvotums während der laufenden Amtszeit einer bestehenden Regierung nach Art. 104 TürkVerf. Demnach kann der Ministerrat, wenn er es für erforderlich hält, nach der Beratung im Ministerrat von der Nationalversammlung ein Vertrauensvotum verlangen. Dieses Verlangen des Vertrauensvotums kann nicht vor Ablauf eines ganzen Tages seit der Benachrichtigung der Nationalversammlung beraten werden und kann nicht vor Ablauf eines ganzen Tages seit der Beendigung dieser Beratung zur Abstimmung gebracht werden. Der Antrag auf Vertrauensvotum kann nur mit absoluter Mehrheit der Gesamtzahl der Mitglieder der Nationalversammlung abgelehnt werden. 332  Hirsch,

Verfassung der Türkischen Republik, S. 150. der Abgeordnetenversammlung, Band 4, S. 525. 334  Protokolle der Abgeordnetenversammlung, Band 4, S. 525. 333  Protokolle

106 E. Verfassung von 1961 unter Berücksichtigung von Rezeptionsvorgängen

Grundsätzlich ist eine solches Vertrauensvotum während der laufenden Amtsperiode einer Regierung, die zu Amtsbeginn von der Nationalversammlung das Vertrauen nach Art. 103 TürkVerf ausgesprochen bekommen hat, nicht notwendig. Die Regierung ist bis zum Ablauf der Legislaturperiode bzw. bis zu einem eventuellen Misstrauensvotum der Nationalversammlung nach Art. 89 TürkVerf demokratisch legitimiert. Gemäß der Begründung der Verfassungskommission stellt dieser Verfassungsartikel jedoch das korrespondierende Gegenstück zum Interpellationsrecht (und damit verbunden zum Recht auf das Stellen eines Misstrauensantrags) der Nationalversammlung nach Art. 89 TürkVerf dar.335 Wenn also das Parlament im Rahmen einer von ihr herbeigeführten Interpellation der Regierung das Vertrauen entziehen kann, dann soll auch die Regierung die Möglichkeit bekommen, ein Vertrauensvotum zu verlangen. Als Beispiele für Fälle, in denen der Ministerprä­ sident eine solches Vertrauensvotum dem Wortlaut der Bestimmung gemäß „für erforderlich“ halten könnte, zählt die Verfassungskommission die Stärkung der eigenen Stellung der Regierung im Rahmen politischer Auseinandersetzungen sowie die Überprüfung bzw. das Aufzeigen der Rückendeckung durch das Parlament auf.336 Der politisch wohl wichtigste Faktor dieser Vertrauensfrage ist, dass das wiederholte Versagen eines in diesem Rahmen verlangten Vertrauens unter den Voraussetzungen des bereits dargelegten Art. 108 TürkVerf zur Ausschreibung von Neuwahlen führen kann, wenn der Ministerpräsident und der Präsident der Republik dafür plädieren. Zudem legt die Verfassung von 1961 fest, dass der Ministerpräsident als Vorsitzender des Ministerrats die Zusammenarbeit zwischen den Ministern und die Durchführung der allgemeinen Politik der Regierung sicherzustellen hat (Art. 105 Abs. 1 S. 1 TürkVerf). Dabei ist der Ministerrat für die Durchführung der Regierungspolitik gemeinsam als Organ verantwortlich (Art. 105 Abs. 1 S. 2 TürkVerf). Daneben ist jeder Minister für die Maßnahmen, die in seinen eigenen Zuständigkeitsbereich gehören, sowie für Handlungen und Geschäfte aller Personen, die unter seiner Personalhoheit stehen, zusätzlich und gesondert verantwortlich (Art. 105 Abs. 2 TürkVerf). Die Minister stehen hinsichtlich der Immunität und der Verbote den Mitgliedern der TGNV gleich (Art. 105 Abs. 3 TürkVerf). Die Regelung des Art. 105 Abs. 3 TürkVerf ist eine Folge des Art. 102 TürkVerf, wonach auch Personen, die zwar zum Abgeordneten der TGNV wählbar, aber eben nicht Mitglieder des Parlaments sind, auch zu Ministern ernannt werden können. Für Minister, die gleichzeitig Abgeordnete oder Senatoren sind, ist diese Bestimmung hingegen obsolet. Die Begründung der 335  Begründung 336  Begründung

zum Entwurf der Verfassungskommission, S. 39. zum Entwurf der Verfassungskommission, S. 39.



II. Staatsorganisation107

Verfassungskommission bestätigt diese Einschätzung ausdrücklich.337 Die Bestimmungen des Art. 105 Abs. 1 TürkVerf zeigen, dass die Mitglieder des Ministerrats intern nicht gleichberechtigt sind, sondern dass dem Ministerpräsidenten innerhalb des Kabinetts eine politisch und verfassungsrechtlich herausgehobene Stellung zukommt. In diesem Zusammenhang heißt es in der Begründung der Verfassungskommission, dass dieser Absatz „als eine Notwendigkeit des parlamentarischen Systems den Ministerrat bezüglich der Durchführung der allgemeinen Politik für verantwortlich hält und konkludent aufzeigt, dass ein Misstrauensantrag, der sich gegen die Person des Ministerpräsidenten richtet, zum Sturz des Ministerrats führt“.338 Da also der Ministerpräsident für die Zusammenarbeit und die Durchführung der Regierungspolitik Sorge trägt und zugleich der Ministerrat im Ganzen dafür verantwortlich ist, bedeutet ein Rücktritt des Ministerpräsidenten oder ein Misstrauensvotum gegen diesen das Ende des Ministerrats. Stürzt der Ministerpräsident, stürzt die Regierung als Ganzes. Art. 106 Abs. 1 TürkVerf bestimmt, dass die Ministerien nach Maßgabe der durch Gesetz bestimmten Grundsätze errichtet werden. Eine vorübergehende Vertretung von beurlaubten oder entschuldigten Ministern ist durch einen anderen Minister möglich, jedoch kann ein Minister nicht mehr als einen anderen Minister vertreten (Art. 106 Abs. 2 TürkVerf). Entsprechendes gilt bei nicht besetzten Ministerposten. Ein Minister, der durch die TGNV dem Staatsgerichtshof zur Verhandlung über Straftaten, die im Rahmen der Ausübung des Ministeramtes begangen worden sein sollen, überwiesen wurde, verliert bereits mit dieser Überweisung sein Amt (Art. 106 Art. 3 TürkVerf). Wenn während der laufenden Amtsperiode der Regierung ein Ministerposten aus welchem Grund auch immer vakant wird, muss innerhalb von 15 Tagen ein neuer Minister ernannt werden (Art. 106 Abs. 4 TürkVerf). Bezüglich der Absätze 2 bis 4 erklärte die Verfassungskommission in ihrer Verfassungsbegründung, dass durch diese Regelungen Missbräuche verhindern werden sollen und daher die Vertretung eines Ministers, die für einen längeren Zeitraum oder gar dauerhaft praktiziert werden soll, bewusst verboten wurde.339 Auch an dieser Stelle zeigt sich damit das Bestreben der Verfassungsgeber, die Konzentration von politschem Einfluss und politischer Macht in der Hand einer Person zu unterbinden. Denn dies wäre der Fall, wenn eine Person dauerhaft mehrere Ministerposten bekleiden und damit mehrere Ministerien lenken könnte.

337  Begründung

zum Entwurf der Verfassungskommission, S. 39. zum Entwurf der Verfassungskommission, S. 39. 339  Begründung zum Entwurf der Verfassungskommission, S. 40. 338  Begründung

108 E. Verfassung von 1961 unter Berücksichtigung von Rezeptionsvorgängen

Ferner kann der Ministerrat „zum Aufzeigen der Anwendung eines Gesetzes oder zur Ausführung der Vorgaben eines Gesetzes Rechtsverordnungen erlassen, die nicht gegen die Gesetze verstoßen dürfen und einer Vorprüfung durch den Staatsrat unterzogen werden“. Diese Rechtsverordnungen werden vom Präsidenten der Republik unterzeichnet und wie Gesetze verkündet (Art. 107 TürkVerf). Diese Bestimmung dient der Umsetzung und Ausführung der vom Parlament erlassenen Gesetze durch den Ministerrat. Sie ist zugleich eine Konkretisierung des Art. 6 TürkVerf, wonach die Exekutive nur zu Handlungen und Maßnahmen „im Rahmen der Gesetze“ ermächtigt ist.340 Ganz im Sinne der Bestrebungen der Verfassungsgeber, Machtkonzentration und Machtmissbrauch zu verhindern, steht die Befugnis zum Erlass von Rechtsverordnungen unter Vorbehalten. Dazu zählt die Einschränkung, dass die Rechtsverordnungen nicht gegen Gesetze verstoßen dürfen, was sich bereits aus dem allgemeinen Rechtsstaatsprinzip ergibt und daher nicht notwendigerweise explizit erwähnt werden müsste. Mit dem Erfordernis der Vorabkontrolle durch den Staatsrat wurde jedoch ein zusätzlicher Kontrollmechanismus geschaffen, der bereits das Entstehen rechtswidriger Rechtsverordnungen verhindern soll. Daran ändert auch der Umstand nichts, dass gemäß den Äußerungen der Verfassungsgeber der Staatsrat bei dieser Vorabprüfung keine bindenden Entscheidungen fällen darf, sondern lediglich beratend durch Mitteilung seiner Ansicht und Meinung tätig werden soll.341 Denn auch wenn der Staatsrat bei dieser Vorabkontrolle der Regierung keine bindenden Vorgaben machen kann, so erzeugen doch die Äußerungen und Rechtsansichten des Staatsrats einen gewissen Druck auf die Regierung, sich an Recht und Gesetz zu halten. Der Ministerrat müsste sich in der Öffentlichkeit in besonderer Weise rechtfertigen, wenn es Rechtsverordnungen erlässt, die der Staatsrat für gesetzeswidrig hält. Im Nachgang hingegen, d. h. nach Erlass einer Rechtsverordnung, kann der Staatsrat, nach dem Willen der Verfassungsgeber, die Rechtsverordnungen im Rahmen einer Nichtigkeitsklage für ungültig erklären.342 Sowohl bei der beratenden Vorabkontrolle als auch bei der bindenden Überprüfung im Rahmen einer Nichtigkeitsklage soll der Staatsrat die Übereinstimmung mit den Gesetzen und die Übereinstimmung mit der Verfassung kontrollieren.343 Die Verfassung von 1961 enthält zudem Sonderregelungen für die Bildung einer provisorischen Regierung während Wahlkampfzeiten für die National-

340  Hirsch,

Verfassung der Türkischen Republik, S. 152. der Abgeordnetenversammlung, Band 4, S. 520. 342  Protokolle der Abgeordnetenversammlung, Band 4, S. 521. 343  Protokolle der Abgeordnetenversammlung, Band 4, S. 520. 341  Protokolle



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versammlung.344 Im Vorfeld der Wahlen zur Nationalversammlung, die wegen Ablaufs der Legislaturperiode oder wegen Selbstauflösung des Parlaments gemäß Art. 69 TürkVerf anstehen, müssen der Justizminister, der Innenminister und der Verkehrsminister zurücktreten und ihre Position für parteilose Mitglieder der TGNV räumen. Die übrigen Minister können in ihren Ämtern verbleiben. Sollte es jedoch Neuwahlen wegen Auflösung des Parlaments durch den Präsidenten der Republik gemäß Art. 108 TürkVerf geben, müssen alle Minister zurücktreten. Sie werden durch Mitglieder der in der Nationalversammlung vertretenen Fraktionen im Verhältnis ihrer Stärke in der Nationalversammlung ersetzt, mit Ausnahme des Justiz-, Innen- und Verkehrsministers, die auch in diesem Fall durch parteilose Abgeordnete ersetzt werden müssen. Der provisorische Ministerrat bedarf keines Vertrauensvotums und bleibt bis zum Zusammentreten der neu gewählten Nationalversammlung im Amt. Die Verfassungskommission begründete diese Regelungen mit dem kurzen Hinweis darauf, dass „durch diesen Verfassungsartikel die Wahlen in einer unparteiischen Atmosphäre stattfinden können“345. Einige Mitglieder der Abgeordnetenversammlung forderten die Entfernung dieses Artikels aus dem Verfassungsentwurf. Sie kritisierten unter anderem, dass durch die zwingende 344  Artikel 109 der türkischen Verfassung von 1961: Der Justizminister, der Innenminister und der Verkehrsminister müssen vor den allgemeinen Wahlen zur Nationalversammlung zurücktreten. Drei Tage vor Beginn der Wahlen und, wenn vor Ablauf der Legislaturperiode ein Beschluss über die Abhaltung von Neuwahlen ergeht, innerhalb von fünf Tagen nach der Beschlussfassung, muss der Ministerpräsident aus den Reihen der parteilosen Mitglieder der Türkischen Großen Nationalversammlung einen neuen Justizminister, Innenminister und Verkehrsminister ernennen. Wenn ein Beschluss über die Abhaltung von Neuwahlen gemäß Artikel 108 erlassen worden ist, müssen die Minister von ihrem Amt zurücktreten und der Ministerpräsident einen vorläufigen Ministerrat bilden. Der provisorische Ministerrat besteht aus den Mitgliedern der Fraktionen im Verhältnis zu ihrer Stärke in der Nationalversammlung, mit Ausnahme des Justizministers, des Innenministers und des Verkehrsministers, die aus den Reihen der parteilosen Mitglieder der Türkischen Großen Nationalversammlung ernannt werden müssen. Die Zahl der Mitglieder, die aus den Reihen der Fraktionen ernannt werden müssen, wird vom Vorsitzenden der Nationalversammlung festgesetzt und dem Ministerpräsidenten mitgeteilt. Parteimitglieder, die einen ihnen angebotenen Ministerposten ablehnen oder später zurücktreten, werden durch Nichtparteiangehörige ersetzt, wobei es keine Rolle spielt, ob diese der Nationalversammlung angehören oder nicht. Der Provisorische Ministerrat muss spätestens fünf Tage nach der Veröffentlichung des Beschlusses über die Abhaltung von Neuwahlen im Amtsanzeiger gebildet werden. Der provisorische Ministerrat bedarf keines Vertrauensvotums. Der provisorische Ministerrat übt seine Funktionen für die Dauer der Wahlen bis zum Zusammentritt der neuen Versammlung aus. 345  Begründung zum Entwurf der Verfassungskommission, S. 40.

110 E. Verfassung von 1961 unter Berücksichtigung von Rezeptionsvorgängen

Vorgabe eines provisorischen Ministerrats die Regierungsgeschäfte ins Stocken geraten würden.346 Zudem führten sie Bedenken hinsichtlich der demokratischen Legitimation ins Feld, da ein vom Parlament bestätigter und damit demokratisch legitimierter Ministerrat, sofern er zwischenzeitlich nicht das Vertrauen des Parlaments verliert, einen Auftrag zur Regierung bis zur nächsten Wahl besitze und man ihr diesen Auftrag nur wegen einer anstehenden Wahl der Nationalversammlung nicht per se absprechen könne.347 Die Verfassungskommission und die Mehrheit der Abgeordneten hingegen rechtfertigten diese Bestimmung damit, dass die Wahlen vor Beeinflussung und Manipulationen seitens der Regierung, die entsprechende Mittel und Möglichkeiten besitze, geschützt werden müssen.348 Zudem würde diese Bestimmung dabei helfen, die Akzeptanz des Wahlergebnisses in der Bevölkerung zu erhöhen, da sie Vorwürfen und Gerüchten hinsichtlich unlauterer Wahlkampfhilfe durch den Einsatz der Regierungsressourcen für die Mehrheitspartei einen Riegel vorschieben soll.349 Dabei verwiesen sie auf die Erfahrungen mit der autoritären Vorgängerregierung, die entsprechende Ressourcen und Mittel der Regierung für den Wahlkampf der Regierungspartei einsetzte und somit die Legitimation der Wahlen unterminierte.350 Mit anderen Worten ist diese Bestimmung eine ausdrückliche Reaktion auf die Maßnahmen und Handlungen der autoritären Vorgängerregierung und soll einen fairen Wahlkampf sicherstellen. Diese Bestimmungen bezüglich der Position und der Rolle der Regierung stellen das Ergebnis einer Arbeitsweise der Verfassungsgeber dar, bei der sie einerseits die entsprechenden Regelungen der bisherigen Verfassung von 1924 gegebenenfalls in sprachlich oder auch inhaltlich veränderter Form übernahmen, und bei der sie andererseits ausgehend von ihren Ansprüchen und Zielen neue Bestimmungen schufen, die weitgehend dem „westlichen“ Verfassungsstandard dieser Zeit entsprachen. Bezüglich Art. 102 TürkVerf, der die Zusammensetzung des Ministerrats betrifft, lassen sich aus den zugänglichen Quellen keine Rückschlüsse auf etwaige Rezeptionsvorgänge ziehen. Aber während der Beratungen zu diesem Artikel diskutierten die Abgeordneten insbesondere über zwei Themen, namentlich über die Frage, ob an die Besetzung des Postens des Verteidigungsministers besondere Voraussetzungen geknüpft werden sollten und ob der Ministerpräsident die Möglichkeit erhalten soll, auch Personen, die nicht Mitglieder eines der Parlamentskammern sind, als Minister auszuwählen. 346  Protokolle

der Abgeordnetenversammlung, der Abgeordnetenversammlung, 348  Protokolle der Abgeordnetenversammlung, 349  Protokolle der Abgeordnetenversammlung, 350  Protokolle der Abgeordnetenversammlung, 347  Protokolle

Band 4, Band 4, Band 4, Band 4, Band 4,

S. 535. S. 536. S. 539. S. 538. S. 538–539.



II. Staatsorganisation111

Einige Abgeordnete vertraten dabei die Ansicht, dass aufgrund seiner besonderen Zuständigkeit für die türkischen Streitkräfte, die Position des Verteidigungsministers nur Menschen mit besonderen Qualifikationen besetzen können sollten, wie beispielsweise von Offizieren.351 Die Mehrheit der Abgeordneten lehnte dies aber mit der Begründung ab, dass eine besondere Behandlung der Position des Verteidigungsministers und eine Beschränkung des Zugangs zum Amt des Verteidigungsministers nicht im Einklang mit dem Ziel steht, eine „demokratischen Staatsaufbau“ zu schaffen352. Bezüglich der zweiten diskutierten Thematik verlangten einige Abgeordnete, dass die Minister zwingend Mitglied eines der Parlamentskammern sein sollten, da der Posten eines Ministers primär ein politisches Amt sei.353 Jedoch blieb es bei der Fassung, wonach die Wählbarkeit einer Person zum Parlamentsmitglied ausreichend ist, um ihn zum Minister zu ernennen. Hierbei wurde unter anderem als Argument ins Feld geführt, dass auch in anderen parlamentarischen Regimen eine entsprechende Einschränkung für die Regierungsbildung nicht bestehe.354 Die Argumentation der Abgeordneten im Rahmen dieser Auseinandersetzungen zeigt, dass sie sich an den Verfassungsordnungen von Ländern mit „demokratischem Staatsaufbau“ bzw. mit einem parlamentarischen System orientierten und diese als Maßstab ansahen, auch wenn im vorliegenden Fall keine Anzeichen für eine Übernahme einer konkreten Verfassungsnorm ersichtlich sind. Die Regelungen zum Vertrauensvotum zu Amtsbeginn (Art. 103 TürkVerf) und während einer Amtsperiode (Art. 104 TürkVerf) entsprechen inhaltlich dem Grundsatz nach den damals vorherrschenden Regelungen und Verfahren in parlamentarischen Regierungssystemen Westeuropas. Eine Übernahme einer bestimmten Verfassungsbestimmung liegt aber sicher nicht vor, da keine andere Verfassung die Bestimmungen in der Form und mit dem Regelungsgehalt enthält wie sie in Art. 103 und 104 TürkVerf festgehalten sind. Daher ist davon auszugehen, dass die türkischen Verfassungsgeber an dieser Stelle ein eigenständiges Verfahren für das Verhältnis zwischen Parlament und Regierung schufen, aber dabei, ihrer generellen Arbeitsweise entsprechend, die entsprechenden „westlichen“ Lösungen vor Augen hatten und den entsprechenden Standards zu genügen versuchten. Die Bestimmungen des Art. 105 TürkVerf, die die Verantwortlichkeit des Ministerrats betreffen und die besondere Machtposition des Ministerpräsi351  Protokolle

der Abgeordnetenversammlung, der Abgeordnetenversammlung, 353  Protokolle der Abgeordnetenversammlung, 354  Protokolle der Abgeordnetenversammlung, 352  Protokolle

Band 4, Band 4, Band 4, Band 4,

S. 505, 507. S. 508. S. 510. S. 511.

112 E. Verfassung von 1961 unter Berücksichtigung von Rezeptionsvorgängen

denten zum Ausdruck bringen, begründet die Verfassungskommission damit, dass sie „den Trends moderner Verfassungen entsprechen“. In der Tat enthalten die neueren „westlichen“ Verfassungen, die ein parlamentarisches System enthalten, ähnliche Regelungen. Zu nennen wären diesbezüglich das deutsche Grundgesetz und die italienische Verfassung von 1947.355 Eine konkrete Vorbildfunktion einer bestimmten Verfassung ergibt sich aus den Quellen nicht, jedoch liegt aufgrund des Hinweises in der Verfassungsbegründung und aufgrund der grundlegenden Arbeitsweise der Verfassungsgeber, die Verfassungsnormen durch eine selektive Rezeption im Wege eine Rechtsvergleichung zu schaffen, der Schluss nahe, dass sich die türkischen Verfassungsväter und -mütter an diesen „westlichen“ Standards dieser Zeit orientierten, aber dabei auch eigenständige Lösungen zur Erreichung ihrer Regelungsziele suchten. Dabei erscheint, aufgrund der nicht nur inhaltlichen, sondern auch sprachlichen Ähnlichkeit zwischen der türkischen und der italienischen Bestimmung, die Vorbildfunktion der italienischen Verfassungsordnung besonders wahrscheinlich.356 Zu Art. 106 Abs. 1 TürkVerf, der die Einzelheiten bezüglich der Errichtung der Ministerien dem Gesetzgeber überlässt, verweist die Verfassungskommission in ihrer Verfassungsbegründung auf das Gesetz Nr. 4951 vom 13.09.1946 und damit auf die Rechtslage unter der Verfassungsordnung von 1924.357 Die anderen Absätze dieses Artikels, die den Umgang mit freigewordenen Ministerposten betreffen, sind Weiterentwicklungen der Bestimmung aus der Verfassung von 1924358, da diese als nicht ausreichend angesehen wurden, um eine Machtkonzentration zu verhindern. In den „westlichen“ 355  Art. 65 des deutschen Grundgesetzes: Der Bundeskanzler bestimmt die Richt­ linien der Politik und trägt dafür die Verantwortung. Innerhalb dieser Richtlinien leitet jeder Bundesminister seinen Geschäftsbereich selbstständig und unter eigener Verantwortung. Über Meinungsverschiedenheiten zwischen den Bundesministern entscheidet die Bundesregierung. Der Bundeskanzler leitet ihre Geschäfte nach einer von der Bundesregierung beschlossenen und vom Bundespräsidenten genehmigten Geschäftsordnung. 356  Art. 95 der italienischen Verfassung von 1947: Der Präsident des Ministerrates bestimmt die allgemeine Politik der Regierung und übernimmt dafür die Verantwortung. Er wahrt die Einheitlichkeit der Ausrichtung in Politik und Verwaltung, indem er die Tätigkeit der Minister fördert und koordiniert. Die Minister sind gemeinsam für die Handlungen des Ministerrates und einzeln für die Handlungen ihres Geschäftsbereiches verantwortlich. Das Gesetz regelt den Aufbau des Präsidiums des Ministerrates und setzt die Anzahl, den Aufgabenbereich und die Organisation der Ministerien fest. 357  Begründung zum Entwurf der Verfassungskommission, S. 39. 358  Art. 49 der türkischen Verfassung von 1924: Einen beurlaubten oder aus irgendeinem zulässigen Grunde verhinderten Minister vertritt einstweilen ein anderes Mitglied des Rates der Vollzugsbeauftragten. Jedoch darf ein Minister nicht mehr als ein Ministerium vertretungsweise verwalten.



II. Staatsorganisation113

Verfassungen dieser Zeit, wie im deutschen Grundgesetz oder in der italienischen Verfassung, gibt es keine vergleichbaren Regelungen. Vielmehr werden diese Themen regelmäßig dem Gesetzgeber überlassen. Die Bestimmungen in Art. 106 Abs. 2 bis Abs. 4 TürkVerf sind daher nicht das Ergebnis einer unmittelbaren Rezeption „westlicher“ Verfassungsnormen, sondern stellen Formulierungen dar, die durch den türkischen Verfassungsgeber auf die spezifischen türkischen Bedingungen zugeschnitten wurden. Die Ermächtigung zum Erlass von Rechtsverordnungen in Art. 107 TürkVerf stellt ausweislich der Verfassungsbegründung eine Übertragung aus der türkischen Verfassung von 1924 dar, die sprachlich modernisiert worden ist.359 Tatsächlich enthält die türkische Verfassung von 1924 eine fast identische Bestimmung.360 Einziger nennenswerter Unterschied ist, dass die alte Regelung die Vorgabe enthielt, dass bei der Frage der Vereinbarkeit von Rechtsverordnungen mit der Gesetzeslage das Parlament die Entscheidungsbefugnis innehat. Dies war eine Folge der Gewalteneinheit und der damit verbundenen besonderen Machtposition des Parlaments. Denn wenn das Parlament die alleinige Vertreterin der Nation und Inhaberin der Macht zur Gesetzgebung und Regierung ist, dann kann sie konsequenterweise auch die Rechtsverordnungen, die ja Exekutivnormen sind, hinsichtlich ihrer Übereinstimmung mit den Gesetzen prüfen. Eine entsprechende Regelung ist in der Verfassung von 1961, die dezidiert die Gewaltenteilung als Grundlage hatte, nicht enthalten. Die entsprechende nachträgliche Überprüfung der Rechtsverordnung findet vielmehr durch die Judikative, genauer durch den Staatsrat im Rahmen einer Nichtigkeitsklage statt.361 4. Gründung des Verfassungsgerichts Innerhalb der Ordnung der Verfassung von 1924 existierte in der Türkei kein Verfassungsgericht. Zwar bestimmte die Verfassung von 1924 den Vorrang der Verfassung und untersagte verfassungswidrige Gesetze362, aber sie 359  Begründung

zum Entwurf der Verfassungskommission, S. 40. der türkischen Verfassung von 1924: Um die Art der Anwendung der Gesetze zu bestimmen oder die vom Gesetz getroffenen Anordnungen sicherzustellen, erlässt der Rat der Vollzugsbeauftragten Verordnungen, die jedoch keine neuen Vorschriften enthalten dürfen und vom Staatsrat geprüft sein müssen. Die Verordnungen treten mit ihrer Unterzeichnung und Verkündung durch den Präsidenten der Republik in Kraft. Wird behauptet, dass die Verordnungen den Gesetzen widersprechen, so hat die Türkische Große Nationalversammlung hierüber zu entscheiden. 361  So auch Hirsch, Verfassung der Türkischen Republik, S. 152. 362  Art. 103 Abs. 1 der türkischen Verfassung von 1924: Kein Artikel dieser Verfassung darf aus irgendeinem Grund oder Vorwand unberücksichtigt bleiben oder außer Kraft gesetzt werden. 360  Art. 52

114 E. Verfassung von 1961 unter Berücksichtigung von Rezeptionsvorgängen

kannte keine Institution und kein Mechanismus zur unabhängigen Überprüfung und gegebenenfalls Aufhebung verfassungswidriger Gesetze. Ein Verfassungsgericht war nicht vorgesehen und die Prozessgerichte hatten lediglich die Kompetenz, die formelle Verfassungsmäßigkeit der Gesetze zu überprüfen, aber nicht deren materielle Verfassungsmäßigkeit. Mit anderen Worten konnten die Prozessgerichte bei der Anwendung der Gesetze kontrollieren, ob diese im Hinblick auf das Gesetzgebungsverfahren verfassungsgemäß erlassen worden sind, aber eine inhaltliche Überprüfung und eine Verweigerung der Anwendung eventuell verfassungswidriger Gesetze war grundsätzlich nicht möglich.363 Dieser Verfassungsordnung lag das Verständnis zugrunde, dass alleine die Türkische Große Nationalversammlung die Vertreterin der Nation ist. Legislative und Exekutive waren daher systemtheoretisch in der Hand des Parlaments zusammengefasst. Dem Parlament oblag explizit die Auslegung und die Aufhebung der Gesetze, was dahingehend interpretiert wurde, dass dem Parlament die Prüfung der Gesetzmäßigkeit exekutiver Maßnahmen sowie der Verfassungsmäßigkeit der Gesetze vorbehalten ist.364 Eine unabhängige Kontrolle des Parlaments war unter der Verfassungsordnung von 1924 somit nicht nur nicht vorgesehen, sondern explizit auch nicht erwünscht. Damit war eine Prüfung der Verfassungsmäßigkeit gegen den Willen der Mehrheitspartei nicht möglich, was in den 1950ern der islamisch-konservativen DP-Regierung Tür und Tor für verfassungswidrige Maß­nahmen und Gesetze öffnete, wie insbesondere die im Kapitel über den h ­ istorischen Kontext dargelegte Gängelung der Presse, Aushebelung der Versammlungsfreiheit und Errichtung einer parlamentarischen Untersuchungskommission, die die Geltung der Grundrechte aussetzen und auch Rechtsprechungsfunktionen übernehmen sollte. Dieses Fehlen eines unabhängigen Verfassungsgerichts und damit einer unabhängigen Kontrolle des Regierungshandelns und der Gesetze auf ihre Verfassungsmäßigkeit war also eines der Gründe, der der islamisch-konservativen DP-Regierung ermöglichte, ihre Macht immer weiter auszubauen, die Grundrechte und die Unabhängigkeit der Gerichte auszuhebeln und sich anzumaßen, ein autoritäres Regime errichten zu können. Denn die Institution des Verfassungsgerichts ist ein prägendes Element eines demokratischen Rechtsstaates. Auch wenn in der praktischen Politik das Wechselspiel und die gegenseitige Einflussnahme sowie Kontrolle zwischen Parlament und Regierung den Kern der politischen Entscheidungs- und Machtprozesse bilden365, so ist das VerfasArt. 103 Abs. 2 der türkischen Verfassung von 1924: Kein Gesetz darf im Widerspruch zur Verfassung stehen. 363  Abadan, Die türkische Verfassung von 1961, S. 408. 364  Abadan, Die türkische Verfassung von 1961, S. 408. 365  Loewenstein, Verfassungslehre, S. 189.



II. Staatsorganisation115

sungsgericht dennoch eine zentrale Institution zur Kontrolle der übrigen Machtträger und damit auch zur Begrenzung staatlicher Macht im Wege der Gewaltenteilung. Insbesondere die Zuständigkeit des Verfassungsgerichts für die Überprüfung der von der Regierung veranlassten und vom Parlament erlassenen Gesetze sowie der auf dieser Grundlage ergangenen (Einzelfall-) Maßnahmen der Verwaltung im Hinblick auf ihre Verfassungsmäßigkeit ist ein zentrales Element zur Sicherung und Durchsetzung rechtsstaatlicher und demokratischer Grundsätze und damit zur Verhinderung von Machtkonzentration und Machtmissbrauch. Daher ist Loewenstein zuzustimmen, wenn er die Aussage trifft, „dass ein nicht von der Regierung kontrollierter Gerichtshof in autokratischen und autoritären Regimen undenkbar ist, geschweige denn ein Gericht, das die Regierung kontrolliert“366. Diese Funktion und Bedeutung eines Verfassungsgerichts erkannten auch die türkischen Verfassungsgeber und schufen mit der Verfassung von 1961 erstmals in der Geschichte der Türkei die Institution des Verfassungsgerichts. Ausgehend von den Erfahrungen mit der autoritären Vorgängerregierung, die ihre Macht auch mit verfassungswidrigen Gesetzen zu sichern und auszubauen versuchte, bezweckten die Verfassungsgeber mit der Errichtung eines Verfassungsgerichts entsprechenden Entwicklungen zukünftig vorzubeugen. Die Verfassungskommission erklärte in ihrer Entwurfsbegründung hierzu: „Der [Verfassungs]Entwurf erkennt das Prinzip der gerichtlichen Kontrolle der Gesetze bezüglich deren Übereinstimmung mit der Verfassung an. Dieses Prinzip ist für unser Land neu. In unserem Land, in dem seit Jahren Beschwerden über verfassungswidrige Gesetze laut werden, wird die Annahme dieses Prinzips als eine wichtige Angelegenheit angesehen […] und die Gründung eines Verfassungsgerichts gebilligt.“367

Nach dem Willen der Verfassungsgeber sollte also das neu zu gründende Verfassungsgericht der Entstehung und Umsetzung von verfassungswidrigen Gesetzen und damit von verfassungswidrigen Zuständen einen Riegel vorschieben. Explizit wiesen die Verfassungsgeber auch darauf hin, dass sie mit der Institution des Verfassungsgerichts die Geltung und den Schutz der Grundrechte sicherstellen und damit zusammenhängend die Macht der Regierung begrenzen, mithin eine wirksame Interorgan-Kontrolle schaffen wollen: „Der [Verfassungs]Entwurf bemüht sich, dass die Freiheiten keinen Übergriffen ausgesetzt sind. Aus diesem Grund unterliegen […] alle behördlichen Maßnahmen des Staates einer verbesserten gerichtlichen Kontrolle. […] [Außerdem] will er [d. h. der Verfassungsentwurf] durch das Verfassungsgericht sicherstellen, dass die gesetzgebende Gewalt die von der Verfassung gesetzten Grenzen nicht überschrei366  Loewenstein, 367  Begründung

Verfassungslehre, S. 255. zum Entwurf der Verfassungskommission, S. 49.

116 E. Verfassung von 1961 unter Berücksichtigung von Rezeptionsvorgängen tet. […] Der Punkt ist, dass durch das Verfassungsgericht die gesetzgebende Gewalt, die dort dominierende Macht der Mehrheiten, mit anderen Worten unmittelbar die politische Macht selbst begrenzt sind.“368

Voraussetzung einer effektiven Kontrolle von Regierung und Parlament durch das Verfassungsgericht ist dessen Unabhängigkeit von den zu kontrollierenden Organen. Maßgeblich für die Unabhängigkeit wiederum ist insbesondere das Verfahren zur Besetzung des Verfassungsgerichts, mithin die Art und Weise der Berufung in das Amt des Verfassungsrichters.369 Art. 145 TürkVerf regelt diesbezüglich ausführlich die Wahl der Mitglieder des ­Verfassungsgerichts. Demnach besteht das Verfassungsgericht aus 15 ordentlichen Mitgliedern und fünf Ersatzmitgliedern. Der Kassationshof (türk.: „Yargıtay“) als oberstes Gericht der ordentlichen Gerichtsbarkeit wählt vier der ordentlichen Mitglieder des Verfassungsgerichts. Drei weitere ordentliche Verfassungsgerichtsmitglieder werden vom Staatsrat (türk.: „Danıştay“) gewählt, welcher zum einen das oberste Verwaltungsgericht darstellt und zum anderen auch als Beratungsgremium der Regierung in Rechtsfragen fungiert. Ein weiterer ordentlicher Verfassungsrichter wird vom Rechnungshof (türk.: „Sayıştay“) gewählt. Art. 145 Abs. 1 TürkVerf beinhaltet dabei auch Vorgaben hinsichtlich Wahlmodalitäten und Kandidatenkreis. Gemäß diesen Vorgaben sind die drei genannten Staatsorgane bei der Wahl für ihr jeweiliges Kontingent an Verfassungsrichtern nicht frei, sondern das jeweilige Plenum des betreffenden Organs wählt zwingend aus der Mitte seines Präsidenten und seiner Mitglieder mit absoluter Mehrheit der Gesamtmitgliederzahl in geheimer Abstimmung die vorgegebene Anzahl von Verfassungsrichtern. Für den Kassationshof und den Staatsrat sind dabei auch die jeweiligen Generalstaatsanwälte wählbare Kandidaten. Ferner wählt die Nationalversammlung als eine der beiden Kammern des Parlaments drei ordentliche Mitglieder des Verfassungsgerichts. Der Senat als zweite Parlamentskammer wählt zwei ordentliche Verfassungsrichter. Auch die beiden Parlamentskammern sind bei der Wahl der Verfassungsrichter an verfassungsrechtliche Vorgaben gebunden. Denn gemäß Art. 145 Abs. 2 TürkVerf dürfen sie keine Mitglieder des Parlaments wählen, d. h. amtierende Abgeordnete und Senatoren sind keine verfassungsrechtlich zulässigen Kandidaten. Ferner müssen beide Parlamentskammern bei der Wahl für ihr Kontingent je einen Verfassungsrichter wählen, der aus dem Kreis der Kandidaten stammt, die vorher in einer Sitzung der Universitätslehrer der Rechtswissenschaft, Wirtschaftswissenschaften und Politikwissenschaften durch geheime Abstimmung aufgestellt worden sind. Dieses Universitäts­ lehrerkollegium stellt in dieser Sitzung dreimal so viele Kandidaten auf wie 368  Begründung

369  Loewenstein,

zum Entwurf der Verfassungskommission, S. 8. Verfassungslehre, S. 235.



II. Staatsorganisation117

es freie Sitze am Verfassungsgericht gibt, die zum Kontingent der Parlamentskammern zählen. Der Staatspräsident benennt nach Art. 145 Abs. 1 TürkVerf zwei weitere ordentliche Mitglieder des Verfassungsgerichts. Dabei hat der Staatspräsident eines der beiden von ihm zu benennenden Mitglieder unter den Kandidaten auszuwählen, die der Militärkassationshof aus seinen eigenen Mitgliedern in geheimer Abstimmung aufstellt. Parallel zum Universitätslehrerkollegium stellt der Militärkassationshof dreimal so viele Kandidaten auf wie es freie und zum Kontingent des Staatspräsidenten zählende Plätze am Verfassungsgericht gibt. Von den fünf Ersatzmitgliedern des Verfassungsgerichts wählen der Kassationshof zwei Mitglieder, der Staatsrat und die beiden Parlamentskammern jeweils ein Mitglied unter Beachtung der jeweiligen Bedingungen wie bei der Wahl der ordentlichen Verfassungsrichter (Art. 145 Art. 5 TürkVerf). Für alle Wahlkontingente gilt, dass die Mitglieder des Verfassungsgerichts das vierzigste Lebensjahr vollendet und im Kassationshof, im Staatsrat, im Militärkassationshof oder im Rechnungshof als Präsident, Mitglied oder Generalstaatsanwalt tätig gewesen sein müssen oder mindestens fünf Jahre als Dozent einer Universität in den Fachbereichen der Rechtswissenschaft, Wirtschaftswissenschaften oder Politikwissenschaften fungiert haben müssen oder 15 Jahre als Rechtsanwalt gearbeitet haben müssen (Art. 145 Art. 4 TürkVerf). Gemäß Art. 145 Abs. 1 TürkVerf wählt das Verfassungsgericht aus seiner Mitte in geheimer Abstimmung für eine Periode von vier Jahren einen Präsidenten und einen Vizepräsidenten, wobei eine Wiederwahl zulässig ist. Bei der Abstimmung ist eine Zweidrittelmehrheit erforderlich. Es fällt auf, dass die türkische Verfassung von 1961 ein sehr ausdifferenziertes System für die Besetzung der Verfassungsrichterposten besitzt. Sie vermied es, die Wahl der Verfassungsrichter gänzlich in die Hand einer einzigen Staatsgewalt zu legen, wie zum Beispiel in Deutschland, in dem die beiden Parlamentskammern die Verfassungsrichter wählen.370 Auch gingen die türkischen Verfassungsgeber nicht den Weg Frankreichs, bei dem die Mitglieder des Verfassungsgerichts vom Staatspräsidenten und den Präsidenten der beiden Parlamentskammern gewählt werden,371 mithin die Wahl auf 370  Art. 94 Abs. 2 S. 2 des deutschen Grundgesetzes: Die Mitglieder des Bundesverfassungsgerichtes werden je zur Hälfte vom Bundestage und vom Bundesrate gewählt. 371  Artikel 56 der französischen Verfassung von 1958: Der Verfassungsrat besteht aus neun Mitgliedern; ihre Amtszeit beträgt neun Jahre und kann nicht erneuert werden. Der Verfassungsrat wird alle drei Jahre zu je einem Drittel erneuert. Drei Mit-

118 E. Verfassung von 1961 unter Berücksichtigung von Rezeptionsvorgängen

zwei Staatsgewalten verteilt, aber stark auf Einzelpersonen zugeschnitten ist, da nicht die Parlamentskammern selbst, also durch ihr Plenum, sondern deren Präsidenten die Wahl treffen. Vielmehr entschieden sich die türkischen Verfassungsgeber dafür, bei der Besetzung der Verfassungsrichterposten alle drei Staatsgewalten einzubeziehen und den Einfluss von einzelnen Personen zu beschränken. Anders als in Deutschland oder Frankreich war damit in der türkischen Verfassung keine Person und kein Organ bei der Auswahl der Verfassungsrichter federführend. Wenn man in der türkischen Verfassungsordnung von einem leichten Übergewicht einer Staatsgewalt bei der Wahl der Verfassungsrichter sprechen will, dann am ehesten bezüglich der Wahlkontingente der Organe der Judikative.372 Denn die Kontingente des Staatspräsidenten als Spitze der Exekutive und der Parlamentskammern als Legislative sind nicht nur bezüglich der Zahl der zu wählenden Richter geringer gegenüber den Kontingenten der wahlberechtigten Organe der Judikative.373 Exekutive und Legislative sind darüber hinaus auch bei Auswahl ihrer Kontingente an engere Vorgaben gebunden als die Judikative, da sie bei ihrer Auswahl mindestens einen Kandidaten benennen müssen, der vom Militärkassationshof bzw. dem Universitätslehrerkollegium aufgestellt worden ist. Dies stellt eine weitere Ausdifferenzierung des Auswahlverfahrens dar und eine weitere Beschränkung des Einflusses von Exekutive und Legislative. Die türkischen Verfassungsgeber hatten anscheinend größeres Vertrauen in die Gerichtshöfe als in die anderen beiden Staatsgewalten. Art. 146 TürkVerf regelt das Ende der Mitgliedschaft beim Verfassungsgericht. Demnach treten sie bei Vollendung des 65. Lebensjahres in den Ruhestand. Eine zeitlich beschränkte Amtszeit gibt es nicht. Die Mitgliedschaft am Verfassungsgericht endet jedoch, wenn ein Mitglied wegen einer Straftat verurteilt wird, die einen Ausschluss aus dem Richterberuf zur Folge hat. Zudem kann mit absoluter Mehrheit der Gesamtmitglieder des Verfassungsgerichts der Mangel an gesundheitlicher Eignung für eine Weiterführung des Amtes eines Verfassungsrichters festgestellt werden, was die Beendigung der Mitgliedschaft der betroffenen Person am Verfassungsgericht zur Folge hat. glieder werden vom Präsidenten der Republik ernannt, drei vom Präsidenten der Nationalversammlung und drei vom Präsidenten des Senats. 372  Zur Judikative zählt der Verfasser an dieser Stelle nicht nur den Kassationshof und den Staatsrat, sondern auch den Rechnungshof, obwohl dessen Status als Gerichtshof strittig ist. Unabhängig von der dazugehörigen Diskussion um den Status des Rechnungshofs, ist dieser ähnlich wie die obersten Gerichtshöfe ein Gremium zur Kontrolle der Exekutive, dessen Mitglieder die richterliche Unabhängigkeit besitzen. 373  Wie bereits dargestellt, wählt der Kassationshof vier Verfassungsrichter (und drei Ersatzrichter), der Staatsrat drei Verfassungsrichter (und einen Ersatzrichter) und der Rechnungshof einen Verfassungsrichter. Der Staatspräsident und der Senat benennen je zwei Verfassungsrichter (der Senat noch zusätzlich einen Ersatzrichter) und die Nationalversammlung drei Verfassungsrichter (und einen Ersatzrichter).



II. Staatsorganisation119

Die zu dieser Bestimmung getätigten Beratungen in der Abgeordnetenversammlung zeigen erneut, dass für die Verfassungsmütter und -väter die Unabhängigkeit des Verfassungsgerichts eine hohe Priorität innehatte. Diese verstanden sie nicht nur als funktionelle Unabhängigkeit des Gerichts, sondern auch als unmittelbare persönliche Unabhängigkeit der einzelnen Verfassungsrichter. Einige Abgeordnete forderten nämlich, die Verfassungsrichter nur für eine bestimmte Amtszeit von sieben oder zehn Jahren mit der Möglichkeit einer Wiederwahl zu benennen.374 Die Verfassungskommission und die Mehrheit der Abgeordneten setzten aber die Regelung des Art. 146 TürkVerf durch. Hierbei führten sie zwei Argumente für die Mitgliedschaft bis zu einem Höchstalter und gegen eine feste, in Jahren festgelegte Amtszeit ins Feld. Es wurde die Ansicht vertreten, dass sich zwar Parlamentsmehrheit und Regierung regelmäßig ändern können und auch sollen, aber das Verfassungsgericht gerade im Lichte seiner Aufgabe der Überprüfung der Verfassungsmäßigkeit staatlicher Akte eine Kontinuität und Beständigkeit in seiner Rechtsprechung sicherstellen sollte, was aber ein häufiger personeller Wechsel erschweren könnte.375 Hauptargument war aber die Sorge vor einer mangelnden Unabhängigkeit der Richter, wenn sie nur für eine bestimmte Periode von einigen Jahren gewählt sind. Es bestehe die Gefahr, dass die Verfassungsrichter nicht frei entscheiden könnten, wenn sie sich um ihre Wiederwahl Sorgen machen müssten. Dann könnten sie dazu neigen, so zu entscheiden, wie es den wahlberechtigten Organen gefällt. Um daher die Freiheit und Unabhängigkeit der Verfassungsrichter zu gewährleisten, müsse eine Ernennung bis zum Renteneintrittsalter erfolgen.376 Ausgehend von Sinn und Zweck, die die türkischen Verfassungsgeber mit der Gründung eines Verfassungsgerichts in erster Linie verfolgten, nämlich die Verhinderung bzw. die Aufhebung von verfassungswidrigen Gesetzen und damit von verfassungswidrigen Zuständen, ist die Hauptaufgabe des Verfassungsgerichts in Art 147 Abs 1 TürkVerf festgehalten, wonach das Verfassungsgericht die Kontrolle und Überprüfung der Gesetze und der Geschäftsordnungen des Parlaments hinsichtlich ihrer Verfassungsmäßigkeit vornimmt. Hierfür gibt es zwei Verfahren, die abstrakte Normenkontrolle (Art. 149 TürkVerf) und die konkrete Normenkontrolle (Art. 151 TürkVerf). Im Rahmen der abstrakten Normenkontrolle können bestimmte Organe und Institutionen unmittelbar eine Nichtigkeitsklage vor dem Verfassungsgericht mit der Behauptung erheben, dass Gesetze oder die Geschäftsordnung bzw. bestimmte Bestimmungen in diesen verfassungswidrig sind. Diese Klagebefugnis steht dem Staatspräsidenten, den politischen Parteien, die bei den 374  Protokolle

der Abgeordnetenversammlung, Band 4, S. 201, 204. der Abgeordnetenversammlung, Band 4, S. 202, 205. 376  Protokolle der Abgeordnetenversammlung, Band 4, S. 202, 205–206. 375  Protokolle

120 E. Verfassung von 1961 unter Berücksichtigung von Rezeptionsvorgängen

letzten allgemeinen Wahlen zur Nationalversammlung mindestens zehn Prozent der gültigen Stimmen erhalten haben oder in der Türkischen Großen Nationalversammlung vertreten sind, sowie deren Fraktionen und mindestens 1/6 der Mitglieder eines der Parlamentskammern zu. Diese Gremien und Organe können ohne jegliche Beschränkung hinsichtlich des Klagegegenstandes eine abstrakte Normenkontrolle in Gang setzen. Daneben haben auch der Hohe Richterrat, der Kassationshof, der Staatsrat, der Militärkassationshof und die Universitäten die Befugnis zur Erhebung einer Nichtigkeitsklage, jedoch nur in den Sachbereichen und Regelungsgebieten, die ihre jeweilige Existenz oder ihre jeweiligen Aufgaben betreffen. Im Gegensatz zur konkreten Normenkontrolle gibt es für das Verfahren der abstrakten Normenkontrolle eine Klageerhebungsfrist. Diese beträgt 90 Tage ab dem Tag der Verkündung des betreffenden Gesetzes oder der betreffenden Geschäftsordnung im Amtsblatt (Art. 150 TürkVerf). Im Rahmen der konkreten Normenkontrolle hat ein Gericht die Bestimmung, die für den betreffenden Fall zur Anwendung kommt und die es für verfassungswidrig hält, dem Verfassungsgericht vorzulegen und hierfür den laufenden Prozess auszusetzen. Das gleiche gilt, wenn einer der Prozessparteien den Einwand der Verfassungswidrigkeit erhebt und das Gericht dies ernstlich für möglich hält. Wenn es den entsprechenden Einwand nicht für ernstlich möglich hält, dann entscheidet darüber zusammen mit der Entscheidung in der Hauptsache die Berufungsinstanz (Art. 151 Abs. 1 TürkVerf). Im Falle einer Vorlage an das Verfassungsgericht hat dieses drei Monate Zeit für eine Entscheidung. Nach Ablauf dieser Zeit folgt das mit der Sache befasste Gericht in der Frage der Verfassungsmäßigkeit der betreffenden Norm seiner eigenen Einschätzung und setzt das Gerichtsverfahren fort. Entscheidungen des Verfassungsgerichts, die bis zum Eintritt der Rechtskraft der Gerichtsentscheidung in der Hauptsache ergehen, binden die Gerichte jedoch in jedem Fall (Art. 151 Abs. 3 und Abs. 4 TürkVerf). Die Möglichkeit einer Individualverfassungsbeschwerde, durch die sich jeder betroffene Bürger bzw. jede betroffene natürliche oder juristische Person mit der Behauptung der Verfassungswidrigkeit eines Gesetzes bzw. einer staatlichen Maßnahme wegen Verletzung der Grundrechte an das Verfassungsgericht wenden kann, haben die türkischen Verfassungsgeber bewusst nicht in die Verfassung aufgenommen. Die Verfassungsväter und -mütter befürchteten, dass die Aufnahme der Individualverfassungsbeschwerde in die Verfassung zu einer Flut von Klagen führen könnte, die zudem zum Teil gar nicht zur Sicherstellung verfassungsmäßiger Zustände, sondern aus purer Renitenz oder zur Erregung von Aufmerksamkeit als Mittel der Werbung erhoben werden könnten.377 Möglichkeiten der Begrenzung der Individual-



II. Staatsorganisation121

verfassungsbeschwerde, wie die Voraussetzung des Vorliegens einer Klagebefugnis zum Ausschluss von Popularklagen, wurden nicht diskutiert oder in Betracht gezogen. Die Verfassungsgeber sahen die Interessen und Grundrechte der Bürger ausreichend über die Regelungen der konkreten Normenkontrolle geschützt, da in diesem Verfahren das mit der Sache befasste Gericht auf den erhobenen Einwand der Prozessparteien hin die Entscheidung des Verfassungsgerichts ersuchen kann.378 Der Verfasser teilt diese Ansicht nur bedingt. Denn, wie bereits erörtert, liegt es bei der konkreten Normenkontrolle im Ermessen des mit der Sache befassten Gerichts, ob der Einwand der Verfassungswidrigkeit ernsthaft in Betracht kommt und daher das Verfassungsgericht anzurufen ist. Zwischen dem Bürger und dem Verfassungsgericht ist zwingend ein Gericht der ordentlichen bzw. der Verwaltungsgerichtsbarkeit zwischengeschaltet. Der Weg über die konkrete Normenkontrolle stellt daher keinen adäquaten Ersatz zur Individualverfassungsbeschwerde dar. Die türkischen Verfassungsgeber gaben sich aber mit den Schutzmechanismen der abstrakten und konkreten Normenkontrolle zufrieden. Zudem entscheidet und urteilt das Verfassungsgericht gemäß Art. 147 Abs. 2 TürkVerf als Staatsgerichtshof (türk.: „Yüce Divan“; wörtlich übersetzt: „Erhabene Versammlung/Erhabener Rat“) über im Zusammenhang mit dem bekleideten Amt begangene Straftaten des Staatspräsidenten, der Minister, der Präsidenten und Mitglieder des Kassationshofs, des Staatsrats, des Militärkassationshofs, des Hohen Richterrates (der die personal- und dienstrechtliche Kontrolle über die Gerichte innehat) und des Rechnungshofes einschießlich der Generalstaatsanwälte am Kassationshof, am Staatsrat und am Militärkassationshof sowie der eigenen Mitglieder des Verfassungsgerichts. Diese Funktion und Aufgabe des Verfassungsgerichts war in der Abgeordnetenversammlung umstritten. Einige Abgeordnete vertraten die Ansicht, dass die Aburteilung von Staatsorganen durch ein Strafgericht erfolgen müsse. Dies entspräche aber nicht der Natur des Verfassungsgerichts, welches daher gar nicht dafür zuständig sein sollte. Zumindest sollte das Verfassungsgericht nicht in seiner gewöhnlichen Zusammensetzung tätig werden, sondern unter Hinzuziehung der Mitglieder der Strafkammern des Kassationshofs.379 Im Ergebnis setzte sich die Verfassungskommission aber durch, die die Aburteilung der obersten Staatsorgane als klassische Aufgabe eines Verfassungsgerichts betrachtete und diesbezüglich auf die Verfassungen anderer Länder, insbesondere auf Italien verwies.380

377  Protokolle

der Abgeordnetenversammlung, der Abgeordnetenversammlung, 379  Protokolle der Abgeordnetenversammlung, 380  Protokolle der Abgeordnetenversammlung, 378  Protokolle

Band 4, Band 4, Band 4, Band 4,

S. 218. S. 218. S. 209. S. 212.

122 E. Verfassung von 1961 unter Berücksichtigung von Rezeptionsvorgängen

Daneben ist das Verfassungsgericht für die Kontrolle der Finanzen von politischen Parteien zuständig. Als Ausdruck des Parteienprivilegs steht eine Entscheidung über ein Verbot einer Partei wegen Verfassungswidrigkeit einzig und allein dem Verfassungsgericht zu.381 Die Verfassung bestimmt bezüglich der Arbeitsweise des Verfassungsgerichts, dass dieses grundsätzlich nach Aktenlage entscheidet. Eine mündliche Verhandlung nach Ladung der Beteiligten findet nur in den Fällen statt, in denen das Gericht als Staatsgerichtshof tätig wird oder das Gericht die mündliche Verhandlung für erforderlich hält (Art. 148 Abs. 2 TürkVerf). Weitere Vorgaben bezüglich Arbeitsweise und Geschäftsverteilung macht die Verfassung nicht, sondern überlässt entsprechende Regelungen der Geschäftsordnung, die sich das Gericht selbst gibt (Art. 148 Abs. 1 S. 2 TürkVerf). Verfahren und Organisation des Verfassungsgerichts sind aber durch Gesetz festzulegen (Art. 148 Abs. 1 S. 1 TürkVerf). Die Entscheidungen des Verfassungsgerichts sind endgültig (Art. 152 Abs. 1 TürkVerf). Somit gibt es keine innerstaatlichen Rechtsmittel gegen Entscheidungen des Verfassungsgerichts. Die Normen, die vom Verfassungsgericht als verfassungswidrig eingestuft und deshalb für nichtig erklärt wurden, verlieren im Zeitpunkt der Entscheidung des Verfassungsgerichts ihre Geltung und treten außer Kraft. Damit wirken die Urteile des Verfassungsgerichts grundsätzlich inter omnes, was auch in der Verfassungsbegründung ausdrücklich festgehalten ist.382 In den Fällen, in denen das Verfassungsgericht es für nötig hält, kann es beschließen, dass die Nichtigkeit als Folge der Verfassungswidrigkeit nicht sofort, sondern zu einem späteren Zeitpunkt innerhalb eines Zeitraums von sechs Monaten nach dem Tag der Entscheidung eintritt (Art. 152 Abs. 2 TürkVerf). Ausweislich der Beratungen in der Ab­ geordnetenversammlung dient diese Befugnis des Verfassungsgerichts, die Nichtigkeitsfolge zeitlich um bis zu sechs Monate zu verzögern, dem Zweck, dem Gesetzgeber die Gelegenheit zu geben, Regelungslücken, die durch die Nichtigkeit eines Gesetzes entstehen können, durch neue Regelungen zu schließen.383 Unabhängig von dieser Frage des Eintrittsdatums der Nichtigkeitsfolge eines Verfassungsgerichtsurteils wirkt die Nichtigkeit in jedem 381  Da die Gründung von Parteien und deren Betätigung ein politisches Grundrecht ist, hat es der Verfasser vorgezogen diese Thematik, dabei insbesondere auch die Frage nach der Rezeption „westlicher“ Verfassungsrechte, im noch folgenden Kapitel über die Grundrechte zu erörtern. Dies entspricht auch der Systematik der türkischen Verfassung von 1961, die die Kontrollfunktion des Verfassungsgerichts bezüglich politischer Parteien im Rahmen der Grundrechte erwähnt (Art. 19 und Art. 57 TürkVerf). 382  Begründung zum Entwurf der Verfassungskommission, S. 50. 383  Protokolle der Abgeordnetenversammlung, Band 4, S. 224.



II. Staatsorganisation123

Fall nicht zurück (Art. 152 Abs. 3 TürkVerf). Mit anderen Worten wirkt die Entscheidung des Verfassungsgerichts ex nunc und nicht ex tunc. Gemäß der Verfassungsbegründung diente diese Festlegung der Sicherstellung des „gesellschaftlichen Friedens“384. Im deutschen Sprachgebrauch würde man von „Rechtsfrieden“ sprechen. Eine ex tunc-Wirkung würde nämlich sämtliche vergangenen Rechtsverhältnisse und Sachverhalte, die von der maßgeblichen Norm betroffen waren, erfassen und somit im Nachhinein diese Rechtsverhältnisse und Sachverhalte zum Gegenstand neuer Diskussionen und Rechtsstreitigkeiten machen. Sowohl der Staat als auch die Bürger müssten damit rechnen, dass eine zukünftige Verfassungsgerichtsentscheidung ihre jetzigen Verhältnisse nachträglich und rückwirkend ändert. Dies würde zu einer großen Unsicherheit führen und somit den „gesellschaftlichen Frieden“ gefährden. Daher entschieden sich die türkischen Verfassungsgeber für eine ex nunc-Wirkung der Urteile des Verfassungsgerichts. Art. 152 Abs. 4 TürkVerf ermöglicht es dem Verfassungsgericht bei Entscheidungen im Rahmen einer konkreten Normenkontrolle nach Art. 151 TürkVerf zu beschließen, dass „sich die Entscheidung auf diesen Fall beschränkt und nur für die Prozessparteien verbindlich ist“. Das Verfassungsgericht kann dementsprechend Ausnahmen vom inter omnes-Grundsatz des Art. 152 Abs. 1 TürkVerf machen und seine Entscheidung gegebenenfalls auf eine inter partes-Wirkung beschränken. In der Begründung der Verfassungskommission heißt es hierzu: „Auf der anderen Seite [d. h. in Abgrenzung zum inter omnes-Grundsatz] wurde auch die Festlegung einer inter partesEigenschaft des Urteils bedacht. Das Verfassungsgericht kann in den Fällen, in denen sie es für notwendig hält, auch Entscheidungen dieser Art treffen.“385 Auf Nachfrage seitens der Abgeordneten erklärte Kommissionssprecher Nurettin Ardıçoğlu hierzu: „Ein Urteil der Verfassungswidrigkeit, der auf den Fall beschränkt ist bedeutet Folgendes: Eine Entscheidung, das zu einem Gesetz wegen dessen Verfassungswidrigkeit ergeht und ‚auf diesen Fall‘ beschränkt ist, lähmt dieses Gesetz in rechtlicher und praktischer Hinsicht. […] Die Gerichte werden dieses Gesetz […] nicht anwenden. Diese [inter partes-] Eigenschaft wird für die gesetzgebende Gewalt eine ausreichende Warnung sein. Selbst wenn bei einem Fall eine Beschränkung ‚auf diesen Fall‘ vorliegt, wird das gesetzgebende Parlament durch eine Entscheidung der Verfassungswidrigkeit zu einer Verbesserung dieses Abschnitts, dieses Gesetzes gezwungen sein.“386

Dies bedeutet, dass die Verfassungsgeber mit der Bestimmung des Art. 152 Abs. 4 TürkVerf, entgegen der Bezeichnung in der Begründung als inter 384  Begründung

zum Entwurf der Verfassungskommission, S. 50. zum Entwurf der Verfassungskommission, S. 50. 386  Protokolle der Abgeordnetenversammlung, Band 4, S. 224. 385  Begründung

124 E. Verfassung von 1961 unter Berücksichtigung von Rezeptionsvorgängen

partes-Entscheidung eine Art Zwitterstellung zwischen einer Wirkung inter partes und einer Wirkung inter omnes schaffen wollten. Das Urteil soll nur die Parteien binden, aber die für verfassungswidrig eingestufte Norm keine Anwendung durch die Gerichte mehr finden. Da weitere Angaben und Informationen aus den Quellen nicht ersichtlich sind, erschließt sich die dogmatische Einordnung und die Umsetzbarkeit dieser Regelung nicht. Im Gegenteil wirkt diese Bestimmung widersprüchlich. Schließlich soll aufgrund eines inter partes-Urteils die Norm von anderen Gerichten nicht mehr angewendet werden und der Gesetzgeber soll gezwungen sein, das betreffende Gesetz zu ändern. Es wird nicht ersichtlich, worin dann der Unterschied zu einer Norm bestehen soll, die inter omnes für nichtig erklärt worden ist. Wohl auch deswegen hat das Verfassungsgericht in der Praxis diese Regelung nur auf die Fälle bezogen, in denen eine Klage als unzulässig oder unbegründet abgelehnt wurde. Ein ablehnendes Urteil bleibt nämlich auf diesen Fall und auf die beteiligten Parteien beschränkt. Das Verfassungsgericht kann dieselbe Vorschrift in späteren Verfahren erneut prüfen und zu einem anderen Ergebnis, namentlich der Feststellung der Verfassungswidrigkeit, kommen. In Fällen der Verfassungswidrigkeit einer Norm kann hingegen nur eine inter omnes-Entscheidung ergehen, die die Nichtigkeit dieser Norm zur Folge hat.387 Außerdem bestimmt Art. 152 Abs. 5 TürkVerf, dass die Entscheidungen des Verfassungsgerichts unverzüglich im Amtsblatt zu veröffentlichen sind und alle Gewalten und Organe des Staates binden. Bei der Ausarbeitung dieser Systematik und der dargestellten Regelungen für ein neu zu gründendes Verfassungsgericht orientierten sich die türkischen Verfassungsgeber an den neueren „westlichen“ Verfassungen. In ihrer Entwurfsbegründung erklärt die Verfassungskommission, dass sie für die Gründung eines Verfassungsgerichts „wie in den letzten Verfassungen West­ europas“388 eintritt. Aus den Beratungen in der Abgeordnetenversammlung wird ersichtlich, dass die Verfassungsväter und -mütter entsprechende Bestimmungen verschiedener „westlicher“ Verfassungen zur Diskussion stellten, miteinander verglichen und schließlich diejenigen Normen und Bestimmungen übernahmen, die sie als passend und geeignet einstuften. In der Abgeordnetenversammlung waren in erster Linie die Regelungen des deutschen Grundgesetzes, der österreichischen Verfassung und der italienischen Verfassung Gegenstand der Erörterungen und Stellungnahmen. Dabei ergab sowohl die Auswertung der Protokolle der Abgeordnetenversammlung als auch der inhaltliche Vergleich der Verfassungstexte, dass die italienische Verfassung von 1947 für die Systematik und den Inhalt der türkischen Bestimmungen Pate stand. Das deutsche Grundgesetz und die österreichische 387  Hirsch,

Verfassung der Türkischen Republik, S. 103. zum Entwurf der Verfassungskommission, S. 50.

388  Begründung



II. Staatsorganisation125

Verfassung wurden zumeist als Vergleichsreferenzen herangezogen, aber deren Bestimmungen wurden in diesem Bereich kaum rezipiert. Anders als zum Beispiel das deutsche Grundgesetz, treffen die italienische und die türkische Verfassung die Regelungen zum Verfassungsgericht in einem eigenen Abschnitt und nicht in einem allgemeinen Abschnitt über die Rechtsprechung. Bei den Aufgaben und Zuständigkeiten des Verfassungsgerichts ähnelt die dargelegte türkische Bestimmung des Art. 147 TürkVerf ­inhaltlich und von der systematischen Stellung sowie dem Aufbau her der italienischen Bestimmung.389 Kommissionssprecher Muammer Aksoy erklärte zudem während der Diskussionen in der Abgeordnetenversammlung über die Aufgabe des Verfassungsgerichts, als Staatsgerichtshof über Anklagen gegen die obersten Staatsorgane zu urteilen, dass sie hinsichtlich der Regelung dieser Funktion und Aufgabe des Verfassungsgerichts die „Inspiration“ aus der italienischen Verfassung erhalten haben.390 Einziger Unterschied zur italienischen Verfassung ist, dass die türkische Regelung keine Kompetenz des Verfassungsgerichts bei Streitigkeiten zwischen Staatsorganen bzw. zwischen dem Zentralstaat und den Regionen oder zwischen den Regionen kennt (sogenanntes Organ-Streit-Verfahren). Dies liegt in erster Linie daran, dass die Türkei keine Regionen als politische Körper kennt. Die türkischen Verfassungsgeber sahen in diesem Verfahren vornehmlich ein Element des Re­gionalismus und sahen daher keine Notwendigkeit, dem türkischen Verfassungsgericht eine entsprechende Kompetenz zuzugestehen.391 Die ausführlichen Regelungen in der türkischen Verfassung zur abstrakten und konkreten Normenkontrolle haben in der italienischen Verfassung kein Pendant. Die italienische Verfassung verweist diesbezüglich auf den einfachen Gesetzgeber.392 Die einfachgesetzliche Umsetzung entspricht aber weitgehend den türkischen Verfassungsbestimmungen. Insbesondere kennen beide Verfassungsordnungen keine Individualverfassungsbeschwerde, anders als zum Bei389  Art. 134 der italienischen Verfassung von 1947: Der Verfassungsgerichtshof urteilt: – über Streitigkeiten betreffend die Verfassungsmäßigkeit der Gesetze und der Akte mit Gesetzeskraft des Staates und der Regionen; – über Streitigkeiten betreffend die Zuständigkeit zwischen den Gewalten des Staates und über die Streitigkeiten zwischen dem Staat und den Regionen und zwischen den Regionen; – gemäß der Verfassung über die Anklagen, die gegen den Präsidenten der Republik und die Minister erhoben werden. 390  Protokolle der Abgeordnetenversammlung, Band 4, S. 212. 391  Protokolle der Abgeordnetenversammlung, Band 4, S. 211. 392  Art. 137 Abs. 1 der italienischen Verfassung von 1947: Ein Verfassungsgesetz bestimmt die Bedingungen, die Formen und die Fristen für das Recht zur Einleitung der Verfahren über die Verfassungsmäßigkeit sowie die Garantien für die Unabhängigkeit der Richter des Verfassungsgerichtshofes.

126 E. Verfassung von 1961 unter Berücksichtigung von Rezeptionsvorgängen

spiel in Deutschland, wo die Verfassungsbeschwerde 1960 zwar noch nicht verfassungsrechtlich, aber zumindest einfachgesetzlich vorgesehen war. Auch bei den Regelungen zur Wahl der Verfassungsrichter ähnelt die türkische Bestimmung sehr den italienischen Festsetzungen.393 Anders als die anderen „westlichen“ Verfassungen beziehen die türkische und italienische Verfassung alle drei Staatsgewalten bei der Wahl der Verfassungsrichter mit ein, wobei in beiden Verfassungsordnungen das Kontingent für die Exekutive dem Staatspräsidenten zufällt und nicht etwa dem Ministerpräsidenten oder der Regierung als Kollektiv. Insbesondere fällt auf, dass beide Verfassungen den obersten Gerichten maßgebliche Kontingente einräumen und damit die Verfassungsrichterposten zum Teil über eine interne Auslese der Justiz besetzen und so das Selbstbewusstsein sowie die funktionelle Unabhängigkeit der Justiz besonders stärken. Einziger nennenswerter Unterschied ist, dass die italienische Verfassung für die Verfassungsrichter eine Amtszeit von 12 Jahren vorsieht, wohingegen nach der türkischen Verfassung die Verfassungsrichter bis zum Renteneintrittsalter amtieren. Wie bereits erörtert, waren an dieser Stelle die Bestrebungen der türkischen Verfassungsgeber, die Unabhängigkeit der Verfassungsrichter besonders zu garantieren, ausschlaggebend, weswegen sie bewusst von der italienischen Regelung abwichen.394 Angesichts des Umstandes, dass die Verfassungsgeber bei anderen Regelungen zum Verfassungsgericht ausdrücklich von der Übernahme aus der italienischen Verfassung sprachen, lässt die sehr große Ähnlichkeit der ­Bestimmungen zur Wahl der Verfassungsrichter den Schluss zu, dass auch 393  Art. 135 der italienischen Verfassung von 1947: Der Verfassungsgerichtshof besteht aus fünfzehn Richtern, die zu einem Drittel vom Präsidenten der Republik, zu einem Drittel vom Parlament in gemeinsamer Sitzung und zu einem Drittel von den obersten ordentlichen Gerichten und Verwaltungsgerichten ernannt werden. Die Richter des Verfassungsgerichtshofes werden aus den, auch im Ruhestand befindlichen, Richtern der obersten ordentlichen Gerichte und Verwaltungsgerichte, aus den ordentlichen Hochschuldozenten der Rechtswissenschaften und aus Rechtsanwälten nach zwanzigjähriger Berufsausübung gewählt. Das Verfassungsgericht wählt aus der Reihe seiner Mitglieder den Präsidenten. Die Richter werden für 12 Jahre ernannt; sie werden teilweise gemäß den vom Gesetz bestimmten Formen erneuert und können nicht sofort wiedergewählt werden. Das Amt eines Richters des Verfassungsgerichtshofes ist unvereinbar mit dem Amt eines Mitgliedes des Parlaments oder eines Regionalrates, mit der Ausübung des Anwaltsberufes und mit allen anderen durch das Gesetz bezeichneten Stellungen oder Ämtern. Bei Anklageverfahren gegen den Präsidenten der Republik und gegen die Minister werden außer den ordentlichen Verfassungsrichtern 16 Mitglieder gewählt, die zu Beginn jeder Legislaturperiode des Parlaments in einer gemeinsamen Sitzung unter den Bürgern gewählt werden, welche die Voraussetzungen zur Wählbarkeit zum Senator besitzen. 394  Protokolle der Abgeordnetenversammlung, Band 4, S. 202.



III. Grundrechte127

diesbezüglich die Verfassung Italiens das Vorbild für die türkischen Verfassungsgeber gewesen ist. Bezüglich der Entscheidungen des Verfassungsgerichts verwies Kommis­ sionssprecher Nurettin Ardıçoğlu darauf, dass die Verfassungskommission das System angenommen hat, dass auch die italienische Bestimmung vorsieht.395 Die italienische Regelung sieht in der Tat wie die türkische Bestimmung vor, dass aus der Verfassungswidrigkeit die Nichtigkeit eines Gesetzes folgt und die Entscheidungen des Verfassungsgerichts unverzüglich zu veröffentlichen sind.396 Die Möglichkeit der Verzögerung der Rechtsfolge der Nichtigkeit durch das Verfassungsgericht sieht die italienische Verfassung aber nicht vor. An dieser Stelle wichen die türkischen Verfassungsgeber aus der bereits dargelegten Sorge vor Regelungslücken vom italienischen Vorbild ab. Im Ergebnis lässt sich daher festhalten, dass die türkischen Verfassungsgeber die Regelungen hinsichtlich des Aufbaus, der Systematik, Funktionen und Kompetenzen des Verfassungsgerichts aus der italienischen Verfassungsordnung übernahmen. Bei einigen Fragen wichen sie jedoch inhaltlich von der italienischen Regelung ab oder nahmen insbesondere noch ausführlichere verfassungsrechtliche Vorgaben und Bestimmungen in den Verfassungstext auf.

III. Grundrechte „Die Anerkennung und der Schutz von Grundrechten […] sind der Wesenskern des politischen Systems der konstitutionellen Demokratie. Sie verkörpern die Machtaufteilung, ohne die die konstitutionelle Demokratie nicht funktionieren kann. Je weitgefasster diese Bereiche und je intensiver ihr Schutz, desto weniger Gefahr besteht für eine Konzentration der Macht“397. Diese Bedeutung der Grundrechte war auch den türkischen Verfassungs­ gebern in besonderer Weise bewusst. Schließlich sollte die Verfassung von 1961 in erster Linie eine Reaktion auf die autoritäre Vorgängerregierung der islamisch-konservativen Demokratischen Partei (DP) darstellen. Daher versuchten die Verfassungsgeber, die Verfassung von 1961 so zu gestalten, dass 395  Protokolle

der Abgeordnetenversammlung, Band 4, S. 224. der italienischen Verfassung von 1947: Wenn der Verfassungsgerichtshof die Verfassungswidrigkeit einer gesetzlichen Bestimmung oder eines Aktes mit Gesetzeskraft erklärt, verliert die Bestimmung ihre Wirksamkeit vom Tage nach der Veröffentlichung der Entscheidung. Die Entscheidung des Gerichtshofes wird veröffentlicht und den Kammern sowie den betroffenen Regionalräten mitgeteilt, damit sie in den verfassungsmäßigen Formen das Weitere veranlassen, falls sie es für notwendig erachten. 397  Loewenstein, Verfassungslehre, S. 335. 396  Art. 136

128 E. Verfassung von 1961 unter Berücksichtigung von Rezeptionsvorgängen

eine zu große Machtfülle und die Entstehung autoritärer Herrschaftsausübung zukünftig verhindert werden kann. Dabei spielten die Grundrechte für die Verfassungsgeber eine entscheidende Rolle. Im Rahmen der Debatten in der Abgeordnetenversammlung bezüglich der Grundrechte verdeutlichte der Abgeordnete Galip Kenan Zaimoğlu, dass sich das türkische Volk seit zwei Jahrhunderten in einem Kampf um die Freiheit befindet und dass insbesondere in den letzten 10 Jahren die Einschränkung und die Abschaffung der Freiheiten zu großem Schmerz und zu großen Opfern geführt haben.398 Die Verfassungskommission führte hierzu aus, dass „die individuellen Rechte der Personen [in dem von ihr ausgearbeiteten Verfassungsentwurf] als ein demokratisches Prinzip fungieren, das die politischen Machtträger beschränkt“399. Folgerichtig enthält die Verfassung von 1961 einen umfassenden Katalog an Grundrechten. Anders als noch in der Verfassung von 1924, entschieden sich die türkischen Verfassungsgeber angesichts der Erfahrungen mit dem autoritären Regime der vorangegangenen Jahre bewusst dafür, Inhalt und Schranken der Grundrechte selbst ausführlich vorzugeben statt dem späteren Gesetzgeber (und damit verbunden auch der Exekutive) weitreichende Entscheidungs- und Dispositionsbefugnisse über Geltung und Umfang der Grundrechte zuzugestehen. In dem einleitenden Abschnitt zu den Grundrechten in der Begründung der Verfassungskommission zu ihrem Verfassungsentwurf heißt es hierzu: „Auch wenn dies ohne Zweifel mit Erleichterungen und praktischem Nutzen einhergeht, erscheint [ein] […] System, das dem Gesetzgebungsorgan sehr weite und flexible Befugnisse zugesteht, […] für den Schutz der Grundrechte als nicht ausreichend. […] Im Lichte der Erfahrungen in unserem Land entstand eine starke Strömung in Richtung einer Festlegung der Grenzen der Grundrechte in umfassender Weise unmittelbar in der Verfassung selbst. […] Da die Entwicklung, die sich seit 1946 zeigte, praktisch bewiesen hat, dass eine Auflistung der Freiheiten mit allgemeinen Formeln […], deren Einzelheiten unbehindert durch Gesetze festgelegt werden können, in keinster Weise ausreichend für den Schutz war und letztendlich die gänzliche Aufhebung der Freiheiten nicht verhindern konnte, sind wir der Auffassung, dass […] es nicht richtig wäre, das gleiche System erneut zu versuchen. Aus diesem Grund finden wir es sowohl für die Bedürfnisse unseres Landes passend als auch der historischen Entwicklung entsprechend, dass die Verfassung alle Grundrechte aufzählt und zugleich […] Grenzen und Einschränkungen festlegt, die auch der Gesetzgeber bei der Regulierung dieser Rechte nicht überwinden kann.“400

Dabei bezieht sich die Verfassungskommission explizit auf das deutsche Grundgesetz und die italienische Verfassung: „Tatsächlich haben viele neue 398  Protokolle

der Abgeordnetenversammlung, Band 3, S. 56. zum Entwurf der Verfassungskommission, S. 6. 400  Begründung zum Entwurf der Verfassungskommission, S. 12. 399  Begründung



III. Grundrechte129

Verfassungen, zum Beispiel die italienische und die deutsche Verfassung auch diesen Weg eingeschlagen.“401 Bereits an dieser Stelle wird deutlich, dass sich auf dem Gebiet der Grundrechte die türkische Verfassungsgeber in erster Linie mit dem deutsche Grundgesetz und der italienische Verfassung als mögliche Vorbilder und damit als Gegenstände der Rezeption beschäftigten. 1. Allgemeine Grundrechtsprinzipien Die Verfassungsgeber sahen in den Grundrechten somit in erster Linie Abwehrrechte gegen den Staat (status negativus). Diese Abwehrrechte sind dabei vornehmlich als Freiheitsrechte konzipiert, mit denen der türkische Grundrechtskatalog beginnt. Vorgeschaltet sind jedoch allgemeine Prinzipien, die für alle folgenden Grundrechte gelten (Art. 10–13 TürkVerf). Der Abschnitt über die allgemeinen Grundrechtsprinzipien beginnt in Art. 10 Abs. 1 TürkVerf gemäß dem Wortlaut der Begründung der Verfassungskommission mit der Bestimmung „der gemeinsamen Charakteristika der [Grund-]Rechte“402. Demnach besitzt jeder „höchstpersönliche, unverletzliche, unübertragbare, unverzichtbare Grundrechte und -freiheiten“ (Art. 10 Abs. 1 TürkVerf). Anders als noch in der Verfassung von 1924403, die die Grundrechte und -freiheiten noch als „natürliche Rechte“ bezeichnete und sich damit auf das Naturrecht als rechtsphilosophische Grundlage der Grundrechte bezog, benennt die Verfassung von 1961 ausdrücklich keine Quelle bzw. keinen Ursprung für die Grundrechte und -freiheiten. Die Verfassungskommission wollte auf diese Weise das Aufkommen von Theoriediskussionen unterbinden: „Um Doktrin-Streitigkeiten keinen Raum zu lassen, wurde nicht, wie es in der alten Verfassung der Fall war, hervorgehoben, dass diese Rechte [d. h. die Grundrechte] auf dem Naturrecht beruhen, jedoch wurde ausdrücklich betont, dass sie Rechte sind, die nicht nach dem Willen und Gutdünken der politischen Machthaber aufgehoben werden können.“404 Aber gerade dieser Umstand führte während der Beratungen der Abgeordnetenversammlungen zu entsprechenden Diskussionen um die rechtsphilosophischen Grundlagen der Grundrechte. Denn einzelne Abgeordnete kritisierten das Fehlen eines Verweises auf naturrechtliche Grundlagen der Grundrechte und -freiheiten. Sie argumentierten, dass man das Recht nicht nur als 401  Begründung

zum Entwurf der Verfassungskommission, S. 12. zum Entwurf der Verfassungskommission, S. 13. 403  Art. 68 Abs. 3 der türkischen Verfassung von 1924: Die Grenze der Freiheit, die zu den natürlichen Rechten gehört, ist für jedermann die Grenze der Freiheit der anderen. Diese Grenze wird nur durch das Gesetz bestimmt. 404  Begründung zum Entwurf der Verfassungskommission, S. 13. 402  Begründung

130 E. Verfassung von 1961 unter Berücksichtigung von Rezeptionsvorgängen

positives Recht begreifen dürfe. Denn bei einem rein positivistischen Rechtsverständnis, das die Geltung der Grundrechte lediglich als Ergebnis einer Rechtsetzung begreift, könnte man schlussfolgern, dass spätere Regierungen durch Gesetze oder Verfassungsänderungen diese Grundrechte aufheben können.405 Muammer Aksoy verteidigte als Sprecher der Verfassungskommission diese Bestimmung unter anderem durch Verweis auf die italienische und deutsche Verfassung: „Dieser Artikel ist eine Bestimmung, der die Freiheiten in vollem Umfang ermöglicht. Ähnliche [Artikel] gibt es in den Verfassungen vieler Länder. Jede Verfassung formuliert dies aber auf eine eigene Weise. […] Wir verleugnen das Naturrecht nicht. Aber wir haben eine Formel geschaffen, die sowohl dem Naturrechtsverständnis entspricht, als auch von denen, die nicht an das Naturrecht glauben, akzeptiert werden kann, […] damit sich alle und alle Theorien bei den Grundrechten einig sind. […] Wir verwenden hier eine objektive Formulierung, die die Naturrechtler und diejenigen, die das Naturrecht nicht anerkennen, zufriedenstellt. Wie in der italienischen und deutschen Verfassung auch.“406

Dies zeigt, dass sich die türkischen Verfassungsgeber auch an dieser Stelle an der italienischen Verfassung und dem deutschen Grundgesetz, genauer an Art. 2 der italienischen Verfassung407 und Art. 1 Abs. 1 und Abs. 2 des deutschen Grundgesetzes408 orientierten. Die jeweiligen Unterschiede bei einer so generellen und abstrakten Norm sind den unterschiedlichen historischen, politischen und sozialen Zielen und Erfahrungen der einzelnen Länder geschuldet, sodass es selbstverständlich ist, dass das Prinzip unteilbarer, unverletzlicher, unverzichtbarer und höchstpersönlicher Grundrechte, wie es die Verfassungskommission ausdrückte, von „jeder Verfassung […] auf eine eigene Weise formuliert [wird].“409 Art. 10 Abs. 2 TürkVerf folgert aus den in Art. 10 Abs. 1 TürkVerf dargelegten Charakteristika der Grundrechte und -freiheiten zwei Aufträge für den Staat. Demnach hat der Staat „alle politischen, wirtschaftlichen und sozialen Hindernisse, die die Grundrechte und -freiheiten der Person in einer 405  Protokolle

der Abgeordnetenversammlung, Band 3, S. 35–36. der Abgeordnetenversammlung, Band 3, S. 39. 407  Art. 2 der italienischen Verfassung: Die Republik anerkennt und gewährleistet die unverletzlichen Rechte des Menschen, sei es als Einzelperson, sei es innerhalb der gesellschaftlichen Gebilde, in denen sich seine Persönlichkeit entfaltet, und fordert die Erfüllung der unabdingbaren Pflichten politischer, wirtschaftlicher und sozialer Verbundenheit. 408  Art. 1 Abs. 1 des deutschen Grundgesetzes: Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt. Art. 1 Abs. 2 des deutschen Grundgesetzes: Das Deutsche Volk bekennt sich darum zu unverletzlichen und unveräußerlichen Menschenrechten als Grundlage jeder menschlichen Gemeinschaft, des Friedens und der Gerechtigkeit in der Welt. 409  Protokolle der Abgeordnetenversammlung, Band 3, S. 39. 406  Protokolle



III. Grundrechte131

mit den Prinzipien der persönlichen Sicherheit, der sozialen Gerechtigkeit und des Rechtsstaates unvereinbaren Weise beschränken, zu beseitigen; er hat die Voraussetzungen zu schaffen, die für die Entwicklung der materiellen und ideellen Existenz des Menschen notwendig sind“. Die Verfassungskommission stellte in ihrer Begründung klar, dass dieser Absatz keinen bindenden Rechtssatz darstellt, sondern den Charakter einer Richtlinie hat. In vielen Artikeln in den Abschnitten über die Freiheitsgrundrechte, sowie über die wirtschaftlichen und sozialen Grundrechte sind laut der Verfassungskommission Bestimmungen bezüglich der Umsetzung dieser Aufgabe enthalten.410 In den Verhandlungen in der Abgeordnetenversammlung diskutierten die Abgeordneten über diese Bestimmung unter Hinzuziehung der Regelungen in der italienischen und deutschen Verfassungen. Dabei verwiesen die Verfassungsgeber explizit auf Art. 3 Abs. 2 der italienischen Verfassung411, die einen vergleichbaren Auftrag an den Staat richtet.412 Insofern erscheint es wahrscheinlich, dass bei der Ausarbeitung des Art. 10 Abs. 2 TürkVerf die italienische Verfassung als Vorbild fungierte. Von großer Bedeutung für die Geltung und Gewährleistung der Grundrechte innerhalb der türkischen Verfassungsordnung ist Art. 11 TürkVerf: „Die Grundrechte und -freiheiten dürfen nur durch Gesetz in Übereinstimmung mit dem Wortlaut und dem Sinn der Verfassung eingeschränkt werden“ (Abs. 1). „Ein Gesetz darf den Kern eines Rechts oder einer Freiheit nicht antasten, selbst nicht aus Gründen wie das öffentliche Wohl, die allgemeinen Sitten, die öffentliche Ordnung, die soziale Gerechtigkeit und die nationale Sicherheit“ (Abs. 2). Diese Verfassungsbestimmung regelt damit die Schranken und SchrankenSchranken aller folgenden Grundrechte, d. h. sie bestimmt die Möglichkeiten und Voraussetzungen der Einschränkung der Grundrechte durch den Staat sowie die dem Staat dabei auferlegten Grenzen. Für die Einschränkung von Grundrechten bestehen demnach drei Voraussetzungen bzw. Bedingungen. Die erste Voraussetzung ist, dass eine Einschränkung nur durch Gesetz geschehen kann, d. h. stets unter Beachtung des Gesetzesvorbehalts. Die Verfassungskommission stellte in der Begründung zu ihrem Verfassungsentwurf ausdrücklich klar, dass gemäß Art. 11 Abs. 1 TürkVerf die Grundrechte nur durch Gesetz und nicht durch Beschlüsse der Verwaltung oder durch Rechts410  Begründung

zum Entwurf der Verfassungskommission, S. 13. Abs. 2 der italienischen Verfassung: Es ist Aufgabe der Republik, die Hindernisse wirtschaftlicher und sozialer Art zu beseitigen, die durch eine tatsäch­ liche Einschränkung der Freiheit und Gleichheit der Staatsbürger der vollen Entfaltung der menschlichen Persönlichkeit und der wirksamen Teilnahme aller Arbeiter an der politischen, wirtschaftlichen und sozialen Gestaltung des Landes im Wege stehen. 412  Protokolle der Abgeordnetenversammlung, Band 3, S. 34. 411  Art. 3

132 E. Verfassung von 1961 unter Berücksichtigung von Rezeptionsvorgängen

verordnungen eingeschränkt werden dürfen. Dabei verwies die Verfassungskommission auf die türkische Verfassung von 1924, die in ihrem Art. 68 den Gesetzesvorbehalt als Voraussetzung für Grundrechtseingriffe festlegte.413 Insofern haben die türkischen Verfassungsgeber an diesem Grundprinzip der Vorgängerverfassung, welches zutreffenderweise von der Verfassungskommission als ein Prinzip des „modernen Verfassungsrechts“ bezeichnet wurde414, beibehalten. Als zweite Voraussetzung muss die durch Gesetz erfolgende Einschränkung des Grundrechts dem Wortlaut und dem Sinn der Verfassung entsprechen, mithin im Einklang mit der Verfassung erfolgen (Art. 11 Abs. 1 TürkVerf). Der Sinn und Zweck der Verfassung kommt dabei insbesondere in der Präambel zum Ausdruck sowie in Art. 2 TürkVerf, der die Wesensmerkmale der Republik festlegt. Des Weiteren ergeben sich Sinn und Zweck aus der Begründung der Verfassungskommission sowie den Verhandlungen in der Abgeordnetenversammlung.415 Als dritte Voraussetzung für Grundrechtseingriffe statuiert Art. 11 Abs. 2 TürkVerf, dass der Kern eines Grundrechts zu keinem Zweck und aus keinem Grund angetastet werden darf. In der Verfassungsbegründung bezeichnet die Verfassungskommission diesen Absatz als „wichtigste Verfassungsbestimmung“ des gesamten Grundrechteteils der Verfassung, da sie verhindern soll, dass „unter dem Vorwand der Regelung von Grundrechten und Grundfreiheiten […] durch Gesetze diese Rechte zerstört werden“416. Aus den Protokollen der Abgeordnetenversammlung geht hervor, dass diese Bestimmung eine Reaktion auf die massiven Grundrechtsverletzungen der autoritären Vorgängerregierung darstellt. Die Abgeordneten verwiesen auf die Erfahrungen der vergangenen Jahre, in denen die islamisch-konservative Regierung unter dem Deckmantel der gesetzlichen Regelung und notwendigen Einschränkung von Grundrechten und Grundfreiheiten letztendlich diese teilweise völlig schleifte, ihre Geltung in ihr willkürlich ausgeübtes Ermessen stellte und damit im Ergebnis abschaffte.417 Diese Bestimmung sollte sicherstellen, dass die Grundrechte und -freiheiten in ihrem Kern und damit im Grundsatz nicht zur Disposition der Regierung oder einer sonstigen Macht im Staat stehen. Aus der Begründung der Verfassungskommission ergibt sich ferner, dass hierfür das unter der neuen Verfassungsordnung zu gründende Verfassungsgericht die Instanz sein soll, die die Beurteilung vornimmt, ob der jeweilige Kern eines Grundrechts im Einzelfall angetastet wird: 413  Begründung

zum Entwurf der Verfassungskommission, S. 13. zum Entwurf der Verfassungskommission, S. 13. 415  Hirsch, Die Verfassung der Türkischen Republik, S. 91. 416  Begründung zum Entwurf der Verfassungskommission, S. 13. 417  Protokolle der Abgeordnetenversammlung, Band 3, S. 48, 56. 414  Begründung



III. Grundrechte133 „Das Verfassungsgericht wird unter Beachtung dieses generellen Maßes [d. h. die Unantastbarkeit des Kerns] darüber entscheiden, ob eine Einschränkung [eines Grundrechts] gegen die Verfassung verstößt oder nicht. Wenn eine Begrenzung in das Wesen eines Grundrechts oder einer Grundfreiheit eingreift, so wird diese wegen Verstoßes gegen die Verfassung als nichtig eingestuft werden.“418

Sowohl die Begründung der Verfassungskommission als auch die Protokolle der Abgeordnetenversammlung bestätigen in diesem Zusammenhang, dass diese Bestimmung eine Rezeption der Wesensgehaltsgarantie aus Art. 19 Abs. 2 des deutschen Grundgesetzes ist.419 In der Begründung heißt es hierzu, dass diese Verfassungsbestimmung „unter der Inspiration von Art. 19 der deutschen Verfassung“ formuliert worden ist.420 In Art. 19 Abs. 2 des deutschen Grundgesetzes ist zwar vom „Wesensgehalt“421 der Grundrechte die Rede und nicht vom „Kern“ wie in Art. 11 Abs. 2 TürkVerf. Hieraus ergeben sich aber keine inhaltlichen Unterschiede, da beide Begriffe an dieser Stelle als Synonyme zu verstehen sind. Denn in der Begründung der Verfassungskommission zu Art. 11 TürkVerf wird neben dem Wort „Kern“ (türk.: „öz“) auch das Wort „Wesen“ (türk.: „cevher“) zur Beschreibung der rechtlichen Bedeutung dieser Bestimmung verwendet.422 Und in Deutschland wiederum fragt das Bundesverfassungsgericht bei der Prüfung des „Wesensgehalts“ eines Grundrechts nach dem „Grundrechtskern“ bzw. „Wesenskern“.423 Art. 12 TürkVerf beinhaltet den Gleichheitsgrundsatz. Demnach sind „alle vor dem Gesetz gleich, ohne Rücksicht auf die Unterschiede in Sprache, Rasse, Geschlecht, politischer Ansicht, philosophischer Überzeugung, Religion und Konfession“ (Abs. 1). Folgerichtig wird statuiert, dass „keiner Person, Familie, Gruppe oder Klasse ein Vorrecht eingeräumt werden darf“ (Abs. 2). Der in Abs. 1 zur Geltung kommende Gleichheitsgrundsatz findet sich in verschiedenen Variationen in nahezu allen Verfassungen der Welt. Daher verweist die Begründung der Verfassungskommission zutreffenderweise da­ rauf, dass dieses Grundprinzip der Verfassungsordnung „in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte, allen Verfassungen und der […] [eigenen] Verfassung aus dem Jahre 1924 enthalten ist“424. Ob und aus welcher Verfassungsordnung diesbezüglich eine Rezeption stattgefunden hat, lässt sich da418  Begründung

zum Entwurf der Verfassungskommission, S. 13–14. der Abgeordnetenversammlung, Band 3, S. 47, 56. 420  Begründung zum Entwurf der Verfassungskommission, S. 13. 421  Art. 19 Abs. 2 des deutschen Grundgesetzes: In keinem Falle darf ein Grundrecht in seinem Wesensgehalt angetastet werden. 422  Begründung zum Entwurf der Verfassungskommission, S. 13–14. 423  Vgl. nur BVerfGE 2, 266, 285. 424  Begründung zum Entwurf der Verfassungskommission, S. 14. 419  Protokolle

134 E. Verfassung von 1961 unter Berücksichtigung von Rezeptionsvorgängen

her nicht eindeutig feststellen. Dennoch gibt es gewichtige Argumente, die dafürsprechen, dass sich die türkischen Verfassungsgeber für diese Bestimmung in erster Linie an der italienischen Verfassung orientierten. Zwar gilt der Gleichheitsgrundsatz des Art. 12 Abs. 1 TürkVerf für alle Menschen und nicht nur für die eigenen Staatsbürger, wie dies jedoch in der türkischen Verfassung von 1924425 und der italienischen Verfassung426 der Fall ist. Aber abgesehen davon ähnelt die türkische Fassung sprachlich und strukturell dem italienischen Gleichheitsgrundsatz. Beide Verfassungen postulieren die Gleichheit und benennen dabei gleichzeitig explizit Merkmale, die nicht Anlass für eine Unterscheidung bzw. Ungleichbehandlung sein dürfen. Dahingegen begnügen sich die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte (AEMR) und auch die türkische Verfassung von 1924 damit, die Gleichheit zu statuieren ohne entsprechende Merkmale aufzuzählen. Und das deutsche Grundgesetz trennt beide Ebenen voneinander, indem es in Art. 3 Abs. 1 die Gleichheit aller Menschen allgemein festlegt und in Art. 3 Abs. 3 die Ungleichbehandlung aufgrund bestimmter Merkmale verbietet. Auch bezüglich der jeweils aufgezählten Merkmale, aufgrund derer keine Ungleichbehandlung erfolgen darf, weist die türkische Verfassung größere Ähnlichkeiten mit der italienischen Verfassung auf427 als zum Beispiel mit dem deutschen Grundgesetz.428 Zudem spricht auch die systematische Stellung des Art. 12 TürkVerf für eine Vorbildfunktion der italienischen Verfassung. Denn anders als in der türkischen Verfassung von 1924, dem deutschen Grundgesetz oder der AEMR, wird der Gleichheitsgrundsatz in der türkischen und in der italienischen Verfassung nicht wie jedes andere Grundrecht im Abschnitt über die Grundrechte aufgezählt, sondern befindet sich in einem allgemeinen Abschnitt, der den einzelnen Grundrechten vorgeschaltet ist. Der Gleichheitsgrundsatz ist damit nicht ein selbstständiges besonderes Grundrecht, sondern eine rechtliche Grundnorm, die für alle staatlichen Gewalten bindend ist, und

425  Art. 69 S. 1 der türkischen Verfassung von 1924: Die Türken sind vor dem Gesetz gleich und ausnahmslos verpflichtet, das Gesetz zu achten. 426  Art. 3 Abs. 1 der italienischen Verfassung: Alle Staatsbürger haben die gleiche gesellschaftliche Würde und sind vor dem Gesetz ohne Unterschied des Geschlechtes, der Rasse, der Sprache, des Glaubens, der politischen Anschauungen, der persön­ lichen und sozialen Verhältnisse gleich. 427  In der türkischen Fassung: Sprache, Rasse, Geschlecht, politische Ansicht, philosophische Überzeugung, Religion und Konfession. In der italienischen Fassung: Geschlecht, Rasse, Sprache, Glauben, politische Anschauung, persönliche und soziale Verhältnisse. 428  In der deutschen Fassung: Geschlecht, Abstammung, Rasse, Sprache, Heimat, Herkunft, Glauben, religiöse und politische Anschauung.



III. Grundrechte135

ein Rechtsprinzip, das den selbstständigen und einzeln aufgezählten Grundrechten immanent ist und deren Auslegung und Anwendung prägt.429 Im Ergebnis ist damit die Rezeption der Bestimmung des Art. 12 Abs. 1 TürkVerf aus der italienischen Verfassungsordnung sehr naheliegend. Hinsichtlich Art. 12 Abs. 2 TürkVerf hingegen geht der Verfasser von einer Übernahme aus der türkischen Verfassung von 1924 aus, da sie, anders als die westeuropäischen Verfassungen dieser Zeit und die AEMR, eine inhaltlich gleiche Bestimmung enthielt.430 Hierauf wird auch in der Begründung der Verfassungskommission hingewiesen.431 Eine Durchbrechung erfährt der Gleichheitsgrundsatz durch Art. 13 TürkVerf, der die Stellung von Ausländern betrifft. Demnach können „die in diesem Teil [über die Grundrechte] vorgesehenen Rechte und Freiheiten für Ausländer in Übereinstimmung mit dem Völkerrecht durch Gesetz begrenzt werden“. Dies bedeutet, dass der Umfang und die Ausgestaltung aller folgenden Grundrechte für Ausländer gesetzlich bestimmt und beschränkt werden können, unabhängig davon, ob das entsprechende Grundrecht lediglich für türkische Staatsbürger oder für jedermann gilt. Eine Grenze bilden dabei die Grundsätze und Bedingungen des Art. 11 TürkVerf, insbesondere die Unantastbarkeit des Kerns der Grundrechte. Die Verfassungskommission begründet diese Bestimmung mit Praktika­ bilitätserwägungen. Sie führt aus, dass es allgemein anerkannt sei, dass ein Staat für Ausländer den Umfang und die Umsetzung bestimmter Grundrechte nicht auf gleiche Weise regeln kann wie für die eigenen Staatsbürger. Beispielhaft nannte die Verfassungskommission hierbei das Versammlungsrecht, die Pressefreiheit und die Freiheit privater Unternehmensgründungen. Statt bei jedem einzelnen Grundrecht die etwaigen Unterschiede in der Geltung zwischen Staatsbürgern und Ausländern aufzuzeigen, sei es praktikabler, dem einfachen Gesetzgeber die Regelung diesbezüglich zu überlassen. Dies könne nicht als Verstoß gegen demokratische Prinzipien eingeordnet werden.432 Während der Verhandlungen in der Abgeordnetenversammlung betonten Abgeordnete, dass auch Ausländern grundsätzlich die Grundrechte und -freiheiten zustehen, alleine aus dem einfachen Grund, dass sie Menschen sind.433 Daher wurde auch die ursprüngliche Fassung verworfen, wonach durch Ge-

429  Hirsch,

Die Verfassung der Türkischen Republik, S. 93. S. 2 der türkischen Verfassung von 1924: Klassen-, Stände-, Familienund Personenvorrechte jeder Art sind abgeschafft und verboten. 431  Begründung zum Entwurf der Verfassungskommission, S. 14. 432  Begründung zum Entwurf der Verfassungskommission, S. 14. 433  Protokolle der Abgeordnetenversammlung, Band 3, S. 62–63. 430  Art. 69

136 E. Verfassung von 1961 unter Berücksichtigung von Rezeptionsvorgängen

setz die Grundrechte für Ausländer nicht nur beschränkt werden konnten, sondern überhaupt erst durch Gesetz anerkannt werden sollten. Daraus wird ersichtlich, dass Art. 13 TürkVerf in ihrer finalen Fassung zwar die verfassungsrechtliche Grundlage für die Begrenzung der Grundrechte für Ausländer schuf, aber damit zumindest mittelbar die grundsätzliche Geltung der Grundrechte für Ausländer durch die türkische Verfassungsordnung anerkannt wurde. Zutreffenderweise wurde in der Abgeordnetenversammlung darauf hingewiesen, dass mit diesem Anerkenntnis die türkische Verfassung besonders fortschrittlich ist und eine entsprechende Bestimmung in kaum einer anderen Verfassung zu finden ist, auch nicht in der türkischen Verfassung von 1924.434 Jedoch fällt auf, dass die italienische Verfassung eine sehr ähnliche Regelung enthält.435 In Anbetracht des Umstandes, dass die türkischen Verfassungsgeber auch an anderen Stellen häufig die italienische Verfassung rezipiert haben und auch bei dieser Frage Wert darauf legten, zu betonen, dass diese Bestimmung zwar besonders fortschrittlich, aber doch gleichzeitig allgemein anerkannt ist, erscheint es wahrscheinlich, dass sie auch keine per se neue Regelung schufen, sondern die italienische Verfassungsbestimmung als Vorbild verwendeten. Hierfür spricht auch, dass die türkische und die italienische Bestimmung die gleiche systematische Stellung besitzen, namentlich nicht etwa als Annex auf die Grundrechte folgen, sondern im Abschnitt über die allgemeinen Regelungen verortet und damit den einzelnen Grundrechten vorgeschaltet sind. 2. Freiheits- und Gleichheitsrechte Die Aufzählung der einzelnen Freiheits- und Gleichheitsgrundrechte beginnt mit der Unverletzlichkeit der Person in Art. 14 TürkVerf. Demnach „besitzt jeder das Recht auf Leben und auf die Entfaltung seiner materiellen und immateriellen Existenz und die Freiheit der Person“ (Abs. 1). „Die Unverletzlichkeit und die Freiheit der Person dürfen nicht beschränkt werden, wenn nicht in den im Gesetz ausdrücklich vorgesehenen Fällen ein ordnungsgemäß ergangener Gerichtsbeschluss vorliegt“ (Abs. 2). „Niemand darf misshandelt oder gefoltert werden“ (Abs. 3). „Es darf keine Strafe verhängt werden, die mit der Würde des Menschen unvereinbar ist“ (Abs. 4). Die türkischen Verfassungsgeber setzten dieses Grundrecht nicht umsonst systematisch an die erste Stelle innerhalb der Auflistung der einzelnen Grundrechte, die den allgemeinen Regelungen über den Grundrechtsschutz 434  Protokolle

der Abgeordnetenversammlung, Band 3, S. 63. Abs. 2 der italienischen Verfassung: Die Rechtsstellung der Ausländer wird in Übereinstimmung mit den völkerrechtlichen Bestimmungen und Verträgen gesetzlich geregelt. 435  Art. 10



III. Grundrechte137

folgt. Denn für die Verfassungsgeber war dieses Grundrecht Anfangs- und Ausgangspunkt des verfassungsrechtlichen Grundrechtsschutzes, da es für sie die Voraussetzung für den Genuss der anderen Grundrechte und -freiheiten bildete. In der Begründung der Verfassungskommission zu ihrem Verfassungsentwurf heißt es hierzu: „An der Spitze aller Grundrechte und -freiheiten steht das Recht einer Person, die er über seinen eigenen Körper besitzt, und die physische Freiheit. Die Sicherheit des Lebens und der Schutz des Körpers sind die ersten Bedingungen für alle Freiheiten. Solange das Leben nicht geschützt ist und die physische Freiheit über den Körper nicht gewährleistet ist, kann ein Individuum keine innere Ruhe finden und von den vielen anderen Freiheiten faktisch keinen Gebrauch machen.“436

Ferner verweist die Begründung auf das „moderne Rechts- und Staatsverständnis“ sowie auf die Übereinstimmung mit „anderen modernen Verfas­ sungen“.437 Während der Beratungen in der Abgeordnetenversammlung wurde ebenfalls auf „moderne“ Verfassungen verwiesen. Einzelne Abgeordnete verglichen die türkische Bestimmung mit den Regelungen der italienischen und der deutschen Verfassung, wobei die Diskussionen über den Inhalt des Art. 2 des deutschen Grundgesetzes und über dessen Bewertung im Vordergrund standen438. Hinsichtlich des Inhalts und der Sprache entspricht Art. 14 TürkVerf denn auch weitgehend dem Art. 2 des deutschen Grundgesetzes und unterscheidet sich nur leicht bezüglich des Aufbaus. Während Art. 14 Abs. 1 TürkVerf alle Schutzbereiche zusammenfasst, sind diese im deutschen Grundgesetz in Art. 2 auf verschiedene Absätze und Sätze verteilt. Beide Verfassungsbestimmungen benennen dabei jedoch grundsätzlich die gleichen Schutzbereiche. Beide Verfassungsbestimmungen garantieren nämlich das Recht auf Leben (Art. 14 Abs. 1 TürkVerf; Art. 2 Abs. 2 S. 1 Grundgesetz), das Recht auf die körperliche Unversehrtheit, die in der türkischen Bestimmung zwar nicht explizit genannt wird, aber laut der bereits zitierten Begründung der Verfassungskommission vom Recht auf Leben umfasst ist (Art. 14 Abs. 1 TürkVerf; Art. 2 Abs. 2 S. 1 Grundgesetz), die Freiheit der Person (Art. 14 Abs. 1 TürkVerf; Art. 2 Abs. 2 S. 2 Grundgesetz) und die freie Entfaltung der Persönlichkeit (Art. 14 Abs. 1 TürkVerf; Art. 2 Abs. 1 Grundgesetz). Sowohl in der türkischen als auch in der deutschen Verfassung finde diese Rechte ihre Schranken in den Gesetzen (Art 14 Abs. 2 TürkVerf; Art. 2 Abs. 1 und Abs. 2 S. 2 Grundgesetz). Zwar benennt das deutsche Grundgesetz für das Recht auf die freie Entfaltung der Persönlichkeit eine besondere Schranke („[…] soweit er nicht die Rechte anderer verletzt und nicht gegen 436  Begründung

zum Entwurf der Verfassungskommission, S. 14. zum Entwurf der Verfassungskommission, S. 14. 438  Protokolle der Abgeordnetenversammlung, Band 3, S. 66–68. 437  Begründung

138 E. Verfassung von 1961 unter Berücksichtigung von Rezeptionsvorgängen

die verfassungsmäßige Ordnung oder das Sittengesetz verstößt“). Aber nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts entspricht dies einem Gesetzesvorbehalt, da die verfassungsmäßige Ordnung die Gesamtheit der Normen meint, die mit der Verfassung im Einklang stehen. Die Rechte anderer und das Sittengesetz wiederum sind auch in der verfassungsmäßigen Ordnung enthalten, sodass ihnen keine eigenständige Bedeutung als Schranke zukommt. Daher entspricht dies weitgehend dem Gesetzesvorbehalt des Art. 14 Abs. 2 TürkVerf. Demgegenüber gibt es weitgehende inhaltliche und sprachliche Unterschiede zwischen Art. 14 TürkVerf und den entsprechenden Bestimmungen anderer Verfassungen, beispielweise die von der Verfassung Italiens. Daher ist bei Art. 14 Abs. 1 und Abs. 2 TürkVerf von einer Übernahme der Regelung des Art. 2 des deutschen Grundgesetzes auszugehen. Art. 14 Abs. 3 und Abs. 4 TürkVerf hingegen sind zusätzliche Bestimmungen, die über Art. 2 des deutschen Grundgesetzes hinausgehen. In der deutschen Verfassungsordnung waren entsprechende Regelungen nicht erforderlich, da dort mit der in Art. 1 Abs. 1 garantierten Menschenwürde bereits Folter, Misshandlung und menschenunwürdige Strafe ausgeschlossen werden. In Anschluss an die Unverletzlichkeit der Person erklärt die türkische Verfassung den Schutz des Privatlebens zum Grundrecht (Art. 15 TürkVerf).439 Gemäß der Begründung der Verfassungskommission umfasst dieses Grundrecht „die Unverletzlichkeit des persönlichen Lebens, welches die Fortsetzung des Individuums auf materieller und immaterieller Ebene darstellt, des Familienlebens, seiner Kleidung und auch seiner Sachen und Papiere“440. Mit anderen Worten bedeutet der Schutz des Privatlebens, wörtlich „die Unverletzlichkeit der Verborgenheit des Privatlebens“, die Gewährleistung der Privat- und Intimsphäre eines jeden Menschen. Diese Unverletzlichkeit des Privatlebens ist ausweislich der Begründung der Verfassungskommission eine Fortsetzung und Konkretisierung der Unverletzlichkeit der Person441, mithin stellt Art. 15 TürkVerf eine Fortführung von Art. 14 TürkVerf dar. Hinsichtlich seines Regelungsgehalts und der Grundrechtsnatur ist Art. 15 TürkVerf somit ein Ausschnitt aus Art. 14 Türk439  Art. 15 Abs. 1 TürkVerf: Die Verborgenheit des Privatlebens ist unverletzlich. Die für die Strafverfolgung notwendigen Ausnahmen bleiben vorbehalten. Art. 15 Abs. 2 TürkVerf: Die Durchsuchung einer Person, ihrer privaten Unterlagen und persönlichen Gegenstände ist unzulässig, wenn nicht in den im Gesetz ausdrücklich vorgesehenen Fällen ein ordnungsgemäß erganger Gerichtsbeschluss und in den Fällen, in denen eine Verspätung eine Gefahr für die nationale Sicherheit oder die öffentliche Ordnung bedeutet, eine Anordnung der gesetzlich zuständigen Behörde vorliegt. 440  Begründung zum Entwurf der Verfassungskommission, S. 15. 441  Begründung zum Entwurf der Verfassungskommission, S. 15.



III. Grundrechte139

Verf, der jedoch gesondert hervorgehoben und als eigenes, selbstständiges Grundrecht ausformuliert wurde. Es verwundert daher nicht, dass dem Verfasser keine „westliche“ Verfassung bekannt ist, die ein entsprechendes Grundrecht explizit benennt. Vielmehr ist in „westlichen“ Verfassungsordnungen regelmäßig von dem Grundrecht, das den Schutz der Person bzw. das allgemeine Persönlichkeitsrecht garantiert, auch der Schutz des Privatlebens bzw. der Privatsphäre umfasst. Zum Beispiel beinhaltet in der deutschen Verfassungsordnung das allgemeine Persönlichkeitsrecht aus Art. 2 Abs. 1 i. V. m. Art. 1 Abs. 1 des deutschen Grundgesetzes nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts auch das Recht der Selbstbewahrung, d. h. den Schutz der Intim- und Privatsphäre.442 Die türkischen Verfassungsgeber maßen dem Schutz des Privatlebens jedoch eine so große Bedeutung zu, dass sie sich diesbezüglich nicht damit begnügten, diesen als Teil des allgemeinen Persönlichkeitsrechts zu begreifen und darunter zu subsumieren, wie das in den „westlichen“ Verfassungsordnungen für gewöhnlich getan wird. Vielmehr gaben sie dem Schutz des Privatlebens ein besonderes Gewicht, indem sie ihn als selbstständiges Grundrecht einordneten. Daher ergaben sich aus den Quellen auch keine Hinweise auf etwaige Rezeptionsvorgänge bzw. Vorbilder aus anderen Verfassungen. Art. 16 Abs. 1 TürkVerf garantiert die Unverletzlichkeit der Wohnung. Art. 16 Abs. 2 TürkVerf bestimmt, dass „eine Wohnung nicht betreten werden darf, eine Durchsuchung nicht vorgenommen werden darf und dort befindliche Gegenstände nicht beschlagnahmt werden dürfen, wenn nicht in den gesetzlich ausdrücklich vorgesehenen Fällen ein ordnungsgemäßer ­Gerichtsbeschluss oder in den Fällen der Gefahr im Verzug betreffend die nationale Sicherheit oder die öffentliche Ordnung eine Anordnung der durch Gesetz für zuständig erklärten Behörde vorliegt“. Auch wenn diese Formulierung den Anschein erweckt, dass Art. 16 Abs. 2 TürkVerf eine weitere Beschränkung staatlicher Eingriffsmöglichkeiten darstellen würde, stellt er vielmehr eine Schranke des Grundrechts auf die Unverletzlichkeit der Wohnung dar. Denn wenn der Eingriff in die Unverletzlichkeit der Wohnung unzulässig ist, wenn nicht die in Abs. 2 genannten Bedingungen erfüllt sind, dann bedeutet dies im Umkehrschluss, dass bei Vorliegen dieser Bedingungen der Eingriff verfassungsrechtlich zulässig und damit rechtmäßig ist. Damit stellt Abs. 2 eine Schranke für das Grundrecht aus Abs. 1 dar. Dies bestätigt auch die Verfassungskommission, die in der Entwurfsbegründung darauf hinweist, dass der zweite Absatz die Ausnahmen von der Unverletzlichkeit der Wohnung darlegt.443 442  BVerfGE

6, 32, 41; BVerfGE 38, 312, 320; BVerfGE 80, 367, 373. zum Entwurf der Verfassungskommission, S. 15.

443  Begründung

140 E. Verfassung von 1961 unter Berücksichtigung von Rezeptionsvorgängen

Bezüglich des Grundsatzes der Unverletzlichkeit der Wohnung in Art. 16 Abs. 1 TürkVerf verweist die Begründung der Verfassungskommission auf Art. 71 der türkischen Verfassung von 1924.444 Diese bezeichnete ebenfalls unter anderem die Wohnung als unverletzlich. Zusätzlich hielt aber Art. 76 der türkischen Verfassung von 1924 fest, dass „außer in den durch Gesetz bestimmten Formen und Fällen niemandes Wohnung betreten werden […] darf“. Anders als die Verfassung von 1961 in Art. 16 Abs. 2 überließ die türkische Verfassung von 1924 damit die Schranken der Unverletzlichkeit der Wohnung vollends dem einfachen Gesetzgeber, verlangte dabei auch keinen richterlichen Beschluss als Grundvoraussetzung für das Betreten einer Wohnung und regelte die Aspekte der Durchsuchung und Beschlagnahme überhaupt nicht. Folgerichtig verweist die Begründung der Verfassungskommission lediglich auf Art. 71, aber nicht auf Art. 76 der türkischen Verfassung von 1924. Das Grundrecht auf die Unverletzlichkeit der Wohnung stellt also eine Übernahme aus der türkischen Verfassung von 1924 dar, nicht jedoch die dazugehörigen Schranken. Diesbezüglich spricht die Verfassungsbegründung im Zusammenhang mit Art. 16 TürkVerf auch davon, dass in „fast allen Verfassungen“ entsprechende Bestimmungen zu finden sind.445 Aus der Quellenlage ergeben sich aber keine weiteren Hinweise auf konkrete Rezeptionsgegenstände. In der Tat sind jedoch inhaltlich und sprachlich vergleichbare Schranken in fast allen westeuropäischen Verfassungen zu finden, insbesondere im deutschen Grundgesetz446 und der italienischen Verfassung447. Daher liegt der Schluss nahe, dass die türkischen Verfassungsgeber an dem bereits in der Verfassung von 1924 gewährten Grundrecht festhielten und dessen Schranken konkretisierten, indem sie sich an den entsprechenden Regelungen der „westlichen“ Verfassungen dieser Zeit und dem darin festgelegten Schutzstandard orientierten, ohne dabei ein konkretes Vorbild zu haben.

444  Begründung

zum Entwurf der Verfassungskommission, S. 15. zum Entwurf der Verfassungskommission, S. 15. 446  Art. 11 Abs. 1 des deutschen Grundgesetzes: Die Wohnung ist unverletzlich. Art. 11 Abs. 2 des deutschen Grundgesetzes: Durchsuchungen dürfen nur durch den Richter, bei Gefahr im Verzuge auch durch die in den Gesetzen vorgesehenen anderen Organe angeordnet und nur in der dort vorgeschriebenen Form durchgeführt werden. 447  Art. 14 Abs. 1 der italienischen Verfassung: Die Wohnung ist unverletzlich. Art 14 Abs. 2 der italienischen Verfassung: Überwachungen, Durchsuchungen oder Beschlagnahmungen dürfen darin nicht vorgenommen werden, außer in den gesetzlich vorgesehenen Fällen und Formen gemäß den zum Schutz der persönlichen Freiheit vorgesehenen Garantien. 445  Begründung



III. Grundrechte141

Entsprechende Schlussfolgerungen lassen sich auch auf Art. 17 TürkVerf übertragen, welcher die Kommunikationsfreiheit448 garantiert: „Jeder besitzt die Kommunikationsfreiheit“ (Abs. 1). „Das Kommunikationsgeheimnis ist gewährleistet. Dieses Geheimnis ist unverletzlich, wenn nicht in den gesetzlich vorgesehenen Fällen ein vom Richter gesetzmäßig erlassener Beschluss vorliegt“ (Abs. 2). Parallel zur Textformulierung und Systematik des Art. 16 TürkVerf, wirkt auch Art. 17 Abs. 2 TürkVerf sprachlich gesehen zwar wie eine weitere Einschränkung staatlicher Eingriffsmöglichkeiten, ist aber inhaltlich eine Schranke des Grundrechts aus Art. 17 Abs. 1 TürkVerf. Die Verfassungskommission nahm in der Verfassungsbegründung zu Art. 17 TürkVerf Bezug auf die türkische Verfassung von 1924 sowie auf die Verfassungen „zivilisierter Länder“449. Art. 81 der türkischen Verfassung von 1924 umfasste aber lediglich das Post- und Briefgeheimnis und hatte damit einen Schutzbereich, der sachlich nicht so weitreichend war wie Art. 17 TürkVerf, der die Freiheit und das Geheimnis der Kommunikation nicht nur bei brieflichem Schriftwechsel, sondern insbesondere auch bei der Nutzung von Fernsprech- und Fernschreibeinrichtungen sowie Telegrafen schützt450. Vor diesem Hintergrund kann man festhalten, dass die türkischen Verfassungsgeber bei der Formulierung des Art. 17 TürkVerf die Regelungen der türkischen Verfassung von 1924 als Ausgangspunkt nahmen und diese hinsichtlich des Schutzbereichs erweiterten und hinsichtlich der Schranken konkretisierten, um dieses Grundrecht an den aktuellen Stand „westlicher“ Verfassungen anzupassen. Denn „zivilisierte Länder“ bedeutete für die türkische Politik seit Mustafa Kemal Atatürk, der die Türkei durch „Verwest­ lichung“ auf den „Stand zeitgenössischer Zivilisationen“ heben wollte, „westliche“ Länder bzw. Länder, die „westlichen“ Werten folgten.451 Die türkischen Verfassungsgeber orientierten sich also auch bei Art. 17 TürkVerf

448  Der dieser Übersetzung zugrundeliegende türkische Ausdruck heißt „haberleşme hürriyeti“. Wörtlich übersetzt bedeutet „haberleşme“ Austausch von Informationen bzw. Austausch von Nachrichten. Obwohl Hirsch diese wörtliche Bedeutung des Wortes „haberleşme“ bekannt gewesen ist, verwendete er für das entsprechende Grundrecht die Bezeichnung „Korrespondenzfreiheit“ (vgl. Hirsch, Die Verfassung der Türkischen Republik, S. 96). Der Verfasser sieht diese Übersetzung als nicht adäquat an, da der Ausdruck Korrespondenz den schriftlich fixierten Austausch von Informationen, insbesondere den Briefwechsel meint, während „haberleşme“ auch den nicht schriftlich fixierten Wechsel von Informationen, mithin den Informationsund Nachrichtenaustausch unabhängig vom verwendeten Medium umfasst. Daher übersetzt der Verfasser den Ausdruck „haberleşme“ mit dem Begriff „Kommunikation“ und folgerichtig „haberleşme hürriyeti“ mit „Kommunikationsfreiheit“. 449  Begründung zum Entwurf der Verfassungskommission, S. 15. 450  Hirsch, Die Verfassung der Türkischen Republik, S. 96. 451  Siehe S.  12 f., 51 ff.

142 E. Verfassung von 1961 unter Berücksichtigung von Rezeptionsvorgängen

an dem Standard, der in vielen „westlichen“ Verfassungen dieser Zeit zu finden war. Art. 18 TürkVerf garantiert die Reise- und Niederlassungsfreiheit. Nach Art. 18 Abs. 1 TürkVerf „besitzt jeder das Recht auf Reisefreiheit; diese Freiheit kann nur durch Gesetz zum Schutze der nationalen Sicherheit und zur Verhütung von Epidemien eingeschränkt werden“. Gemäß der Begründung der Verfassungskommission ist dieser Absatz eine Übernahme der Bestimmung aus Art. 78 der türkischen Verfassung von 1924.452 Inhaltlich entspricht Art. 18 Abs. 1 TürkVerf denn auch dem Art. 78 der türkischen Verfassung von 1924.453 Die Verfassungsgeber haben lediglich den einen der erlaubten beiden Zwecke für grundrechtseinschränkende Gesetze, der in Art. 78 der türkischen Verfassung von 1924 noch „in den Fällen der Mobilmachung und des Belagerungszustandes“ hieß, allgemeiner formuliert, um den Erfordernissen der Zeit gerecht zu werden („zum Schutz der nationale Sicherheit“). Art. 18 Abs. 2 TürkVerf betrifft die Niederlassungsfreiheit: „Jeder besitzt die Freiheit, sich an dem von ihm beliebten Ort niederzulassen; diese Freiheit kann nur durch Gesetz zum Schutze der nationalen Sicherheit, zur Verhütung von Epidemien, zum Schutze des öffentlichen Eigentums [und] wegen der Notwendigkeit der sozialen, wirtschaftlichen und landwirtschaftlichen Entwicklung eingeschränkt werden.“ Die Verfassungsbegründung verweist diesbezüglich darauf, dass diese Schranken Notwendigkeiten darstellen, die „ein moderner Staat nicht ignorieren kann“454. In den Beratungen in der Abgeordnetenversammlung zeigte sich, dass das deutsche Grundgesetz Pate für diese Bestimmung stand. Denn Muammer Aksoy als Sprecher der Verfassungskommission bezog sich explizit auf die Verfassung „Westdeutschlands“.455 Und der Abgeordnete Cemil Sait Barlas kritisierte, dass man die deutschen Verfassungsregelung nicht übernehmen soll, da Deutschland mit dieser Bestimmung der großen Zahl an Flüchtlingen aus den ehemaligen Ostgebieten Deutschlands Rechnung getragen habe, sich die Türkei aber aktuell in keiner vergleichbaren Situation befände.456 Auch diese Kritik zeigt, dass die Bestimmung des deutschen Grundgesetzes Vorbild für die türkische Bestimmung war. Die Schranke des Art. 18 Abs. 2 TürkVerf und des Art. 11 Abs. 2 des deutschen Grundgesetzes sind sich daher inhaltlich sehr ähnlich. Die 452  Begründung

zum Entwurf der Verfassungskommission, S. 15. der türkischen Verfassung von 1924: Das Reisen darf keiner Beschränkung unterworfen werden, abgesehen von den Beschränkungen, die in den Fällen der Mobilmachung und des Belagerungszustandes oder wegen epidemischer Krankheiten nach dem Gesetz als notwendige Maßnahme angeordnet werden dürfen. 454  Begründung zum Entwurf der Verfassungskommission, S. 15. 455  Protokolle der Abgeordnetenversammlung, Band 3, S. 84. 456  Protokolle der Abgeordnetenversammlung, Band 3, S. 88. 453  Art. 78



III. Grundrechte143

Unterschiede sind weitgehend sprachlicher Natur. Das deutsche Grundgesetz benennt die Niederlassungsfreiheit zwar nicht ausdrücklich. Stattdessen gewährt Art. 11 des deutschen Grundgesetzes das Recht auf Freizügigkeit.457 Die Freizügigkeit umfasst dabei aber sowohl die Freiheit der Fortbewegung zwecks Ortswechsels, also das Reisen, als auch die Aufenthalts- und Wohnsitznahme, d. h. die Niederlassung an einem bestimmten Ort,458 wie sie Art. 18 Abs. 2 TürkVerf garantiert. Die türkischen Verfassungsgeber haben also die deutsche Bestimmung in ihrer Auslegung als Niederlassungsfreiheit übernommen. Dies zeigt, dass die türkischen Verfassungsgeber nicht nur den Text der „westlichen“ Verfassungen untersuchten, sondern auch die Auslegung und Umsetzung der Verfassungstexte analysierten. Art. 18 Abs. 3 TürkVerf erklärt, dass „die Türken die Freiheit zur Einreise in das Land und zur Ausreise aus dem Land besitzen. Die Freiheit der Ausreise wird gesetzlich geregelt.“ Als Ergebnis einer systematischen Auslegung des Art. 18 TürkVerf lässt sich hierbei festhalten, dass Art 18 Abs. 1 lediglich die Reisefreiheit im Inland betrifft, auch wenn der Wortlaut allgemein vom „Recht auf Reisefreiheit“ spricht. Denn wenn bereits Art. 18 Abs. 1 TürkVerf auch die Reisefreiheit in und aus dem Ausland umfassen würde, hätte Art. 18 Abs. 3 TürkVerf keinen eigenständigen Anwendungsbereich. Insofern ist Art. 18 Abs. 3 TürkVerf lex specialis, die bezüglich der Ein- und Ausreise dem Art. 18 Abs. 1 TürkVerf vorgeht. Dabei ergibt sich aus der Formulierung des Art. 18 Abs. 3 TürkVerf, dass die Ausreise für Türken aus der Türkei im Gegensatz zur Einreise in die Türkei gesetzlich reglementiert werden kann. Die Verfassungskommission betonte diesbezüglich in ihrer Begründung, dass die gesetzlichen Schranken für die Ausreisefreiheit „demokratischen Grundsätzen entsprechen müssen und den Gebrauch dieser Freiheit nicht völlig ins Ermessen (in die Willkür) der Verwaltungsbehörden stellen dürfen“459. Dabei verweist die Verfassungskommission explizit auf die Unverletzlichkeit des Kerns des Grundrechts aus Art. 11 TürkVerf.460 Aus den Quellen ergeben sich keine Hinweise auf besondere Rezeptionsvorbilder für diese Bestimmung des Art. 18 Abs. 3 TürkVerf. Sie entspricht jedoch inhalt-

457  Art. 11 Abs. 1 des deutschen Grundgesetzes: Alle Deutschen genießen Freizügigkeit im ganzen Bundesgebiet. Art. 11 Abs. 2 des deutschen Grundgesetzes: Dieses Recht darf nur durch Gesetz und nur für die Fälle eingeschränkt werden, in denen eine ausreichende Lebensgrundlage nicht vorhanden ist und der Allgemeinheit daraus besondere Lasten entstehen würden und in denen es zum Schutze der Jugend vor Verwahrlosung, zur Bekämpfung von Seuchengefahr oder um strafbare Handlungen vorzubeugen, erforderlich ist. 458  BVerfGE 2, 266, 273; BVerfGE 80, 137, 150. 459  Begründung zum Entwurf der Verfassungskommission, S. 16. 460  Begründung zum Entwurf der Verfassungskommission, S. 16.

144 E. Verfassung von 1961 unter Berücksichtigung von Rezeptionsvorgängen

lich dem allgemeinen Standard des Grundrechtsschutzes in „westlichen“ Verfassungen. Art. 19 TürkVerf befasst sich mit der Religionsfreiheit. Der Aspekt der Religionsfreiheit und allgemein der Umgang mit der Religion sowie das Verhältnis der Religion zum Staat sind in der Türkei von besonderer Brisanz und von besonderer historischer und gesellschaftlicher Bedeutung. Dies lässt sich zum einen zurückführen auf die tiefe politische und gesellschaftliche Spaltung des Landes in ein laizistisch-westliches und ein islamisch-konservatives Lager und damit verbunden auf die Rolle der Religion als trennendes und spaltendes Element.461 Zum anderen ist diese Bedeutung bedingt durch die religiös-kulturelle Prägung der Türkei als ein Land mit islamischer Tradition und Bevölkerungsmehrheit. Die fehlende „Verkirchlichung“, d. h. der Mangel an struktureller Organisation und Amtlichkeit des Islam als Gegenstück zum Staat, sowie die Herausforderungen im Hinblick auf den politischen und radikalen Islamismus stellen strukturelle Unterschiede zu „westlichen“ Staaten des 20. Jahrhunderts dar, die als Länder mit christlicher Prägung und Bevölkerungsmehrheit nicht oder nur in viel geringerem Umfang vor entsprechenden Herausforderungen standen. Um der Komplexität und der Bedeutung dieser Thematik gerecht zu werden, wird der Aspekt der Religionsfreiheit im Allgemeinen und Art. 19 TürkVerf im Speziellen im Kapitel über die Grenzen der Rezeption gesondert erörtert.462 An dieser Stelle sei aber erwähnt, dass bei der Ausarbeitung der Verfassung von 1961 im Bereich der Religionsfreiheit eine Rezeption „westlicher“ Verfassungsrechte nicht stattgefunden hat. Vielmehr entschieden sich die türkischen Verfassungsgeber bewusst dafür, den bisherigen status quo aus der Verfassungsordnung unter der Verfassung von 1924 beizubehalten. Dies bedeutet insbesondere, dass die individuelle Religionsfreiheit garantiert, die negative Religionsfreiheit in besonderer Weise hervorgehoben und sichergestellt, aber keine kollektive Religionsfreiheit gewährt wird. In Art. 20 TürkVerf garantiert die Verfassung die Gedanken- und Meinungsfreiheit: „Jeder besitzt Gedanken- und Überzeugungsfreiheit; jeder kann allein oder in Gemeinschaft mit anderen seine Gedanken und Überzeugungen in Wort, Schrift, Bild oder auf anderen Wegen äußern und verbreiten“ (Abs. 1). „Niemand darf zur Äußerung seiner Gedanken und Überzeugungen gezwungen werden“ (Abs. 2).

461  Vgl. 462  Vgl.

S.  30 ff. S.  271 ff.



III. Grundrechte145

Der Wortlaut spricht nicht explizit von der Meinungsfreiheit, aber die genannte Freiheit der Äußerung und Verbreitung von Gedanken und Überzeugungen ist ein synonymer Ausdruck für die Meinungsfreiheit. Dies wird durch die Begründung der Verfassungskommission bestätigt, in der es zu Art. 20 TürkVerf heißt: „Für diese […] Verfassungsbestimmung, die die Meinungsfreiheit als Mutter aller individuellen Freiheiten regelt, bedarf es keiner weiteren Erklärung. Im ersten Absatz wird bestimmt, dass die Menschen ihre Meinung und Überzeugungen frei äußern dürfen; im zweiten Absatz wird bestimmt, dass man zur Äußerung dieser nicht verpflichtet werden kann; diese zwei Bestimmungen ergänzen sich gegenseitig. Die eine bringt die positive Seite, die andere die negative Seite [des Grundrechts] zum Ausdruck.“463 Die Verfassungsbestimmung enthält keine ausdrückliche Schranke für die Meinungsfreiheit. Hieraus folgt aber nicht, dass die Meinungsfreiheit laut der türkischen Verfassung absolut und grenzenlos gilt, wie Abadan es behauptet.464 Vielmehr kann die Meinungsfreiheit unter Beachtung der Unantastbarkeit des Kerns der Freiheit gemäß Art. 11 TürkVerf durch Gesetz eingeschränkt werden.465 Dies ergibt sich insbesondere aus den Beratungen in der Abgeordnetenversammlung. Bei der Aussprache zu diesem Verfassungsartikel drehten sich die Diskussionen vornehmlich um die Grenzen der Meinungsfreiheit. Dabei warfen einige Abgeordnete in ihren Redebeiträgen die Frage auf, ob denn das Fehlen des Gesetzesvorbehalts als Schranke der Meinungsfreiheit die Grenzenlosigkeit dieser Freiheit bedeute und damit beispielsweise die Verbreitung und die Propaganda von nationalsozialistischen, kommunistischen und islamistischen Ideen und Überzeugungen erlaubt sein werden.466 Die Verfassungskommission stellte daraufhin klar, dass Art. 20 TürkVerf nach Sinn und Zweck und systematisch im Lichte der gesamten Verfassung ausgelegt werden müsse und im Ergebnis daher Einschränkungen unterliege. Bezüglich der Auslegung nach Sinn und Zweck führte die Verfassungskommission weiter aus, dass es in Demokratien eine Ansicht gäbe, wonach die Freiheiten als grenzenlos betrachtet werden müssten und eine andere Ansicht gäbe, wonach die Freiheiten, allen voran die Meinungs- und Pressefreiheit sowie die Freiheit der Gründung von Parteien, Beschränkung unterliegen müssten, um die freiheitliche Ordnung bewahren zu können. In den anderen „neuen Verfassungen“ anderer Länder gäbe es Einschränkungen in diesem Sinne. Die türkische Verfassung schlage auch diesen Weg ein.467 463  Begründung

zum Entwurf der Verfassungskommission, S. 16. Die türkische Verfassung von 1961, S. 364. 465  So auch Hirsch, Die Verfassung der Türkischen Republik, S. 99. 466  Protokolle der Abgeordnetenversammlung, Band 3, S. 169–170. 467  Protokolle der Abgeordnetenversammlung, Band 3, S. 170–171. 464  Abadan,

146 E. Verfassung von 1961 unter Berücksichtigung von Rezeptionsvorgängen

Im Rahmen einer systematischen Auslegung verwies die Verfassungskommission insbesondere auf Art. 2 TürkVerf, in der die Wesensmerkmale der Republik festgehalten sind. Die Verfassungskommission führte hierzu aus, dass die Gedanken und Meinungen für sich genommen stets frei sind und im Kreis der Familie und des engen Bekanntenkreises frei geäußert werden dürfen. Aber eine öffentliche Meinungsäußerung oder Propaganda, die sich gegen die in Art. 2 TürkVerf festgelegten Prinzipien der Demokratie, der Menschenrechte und der Freiheiten sowie des Rechtsstaates richtet, soll nicht ­erlaubt sein. Namentlich nannte Muammer Aksoy als Sprecher der Verfassungskommission die kommunistische Propaganda, gegen die vorgegangen werden können soll, ohne dass dies als Verletzung der Meinungsfreiheit aus Art. 20 TürkVerf aufzufassen wäre.468 In diesem Zusammenhang nahm Muammer Aksoy explizit Bezug auf Art. 18, 19 und 30 der AEMR469, die die Meinungsfreiheit und ihre Grenzen betreffen, und sagte wörtlich: „Es kann kein Thema sein, dass wir das Recht [auf Meinungsfreiheit in der Weise] anerkennen, dass es über die Charta hinausgeht oder hinter dieser zurückbleibt.“470 Dies zeigt deutlich, dass die türkischen Verfassungsgeber bei der Ausformulierung der Gedankenfreiheit in Art. 20 TürkVerf die entsprechenden Bestimmungen der AEMR zum Vorbild hatten. Auf die Bestimmung zur Meinungsfreiheit folgt die Wissenschafts- und Kunstfreiheit (Art. 21 TürkVerf). Gemäß Art. 21 Abs. 1 TürkVerf besitzt jeder das Recht, „Wissenschaft und Kunst frei zu erlernen, zu lehren, zu veröffentlichen, zu verbreiten und auf diesen Gebieten in jeglicher Art zu forschen“. Aus der Begründung der Verfassungskommission ergibt sich, dass sich die Verfassungsgeber bei der Ausarbeitung dieses Absatzes an den Bestimmungen des deutschen Grundgesetzes471 und der italienischen Verfassung472 orientierten: „Nach den schmerzhaften Erfahrungen, die die westliche Welt mit totalitären Entwicklungen machte, die die Wissenschaft und die Kunst unterjochten, kam vielfach in den neuen Verfassungen das Bedürfnis auf, ausdrücklich festzuschreiben, dass Wissenschaft und Kunst frei sind. 468  Protokolle

der Abgeordnetenversammlung, Band 3, S. 171. der AEMR: Keine Bestimmung dieser Erklärung darf dahin ausgelegt werden, dass sie für einen Staat, eine Gruppe oder eine Person irgendein Recht begründet, eine Tätigkeit auszuüben oder eine Handlung zu begehen, welche die Beseitigung der in dieser Erklärung verkündeten Rechte und Freiheiten zum Ziel hat. 470  Protokolle der Abgeordnetenversammlung, Band 3, S. 171. 471  Art. 5 Abs. 3 des deutschen Grundgesetzes: Kunst und Wissenschaft, Forschung und Lehre sind frei. Die Freiheit der Lehre entbindet nicht von der Treue zur Verfassung. 472  Art. 33 Abs. 1 der italienischen Verfassung: Die Kunst und die Wissenschaft sind frei, und frei ist ihre Lehre. 469  Art. 30



III. Grundrechte147

Wir können hierfür die deutsche und die italienische Verfassung als Beispiel benennen. Wir sind der Ansicht, dass diese Verfassungsbestimmung auch für unser Land nützlich sein wird.“473 Nach Art. 21 Abs. 2 TürkVerf ist „die Erziehung und der Unterricht unter der Aufsicht und der Kontrolle des Staates frei“. Schließlich ermöglicht Art. 21 Abs. 3 TürkVerf unter Bedingungen die Gründung und das Betreiben von Privatschulen: „Die Grundsätze, an welche Privatschulen gebunden sind, werden durch Gesetz in Übereinstimmung mit dem für die staatlichen Schulen geforderten Niveau bestimmt.“ Bezüglich dieser beiden Artikel, die die Erziehung und den Unterricht betreffen, verweist die Begründung der Verfassungskommission darauf, dass es entsprechende Bestimmungen auch in Ländern gäbe, „die im Bereich der Freiheiten und der Demokratie sehr fortschrittlich sind“474. Während der Aussprache in der Abgeordnetenversammlung wurde mehrfach auf das deutsche Grundgesetz verwiesen und als Vergleichsmaßstab verwendet, wobei betont wurde, dass die deutschen Bestimmungen sehr ausführlich sind.475 Daher ist von einer Vorbildfunktion der entsprechenden deutschen Bestimmungen in Art. 7 des Grundgesetzes476 für die Grundsätze des Art. 21 Abs. 2 und Abs. 3 TürkVerf auszugehen. Die türkischen Verfassungsgeber orientierten sich an den Grundsätzen und der Ausrichtung der deutschen Bestimmung, fassten diese aber bewusst kürzer und ließen damit dem einfachen Gesetzgeber einen größeren Spielraum. Art. 21 Abs. 4 TürkVerf bestimmt, dass „Erziehungs- und Unterrichtsstätten, die den zeitgenössischen Grundsätzen und Methoden der Wissenschaft und Erziehung widersprechen, nicht eröffnet werden dürfen“. Dieser Absatz war eine besondere Reaktion auf die Erfahrungen der Jahre 1950 bis 1960, in denen die islamisch-konservative Regierung unter Ministerpräsident Menderes die kemalistischen Bildungsreformen, die die Etablierung eines säkularen, durch westeuropäische Strukturen, Methoden und Bildungsinhalte geprägten Bildungswesens bezweckten, zumindest in Teilen zu konterkarieren versuchte. Dies geschah einerseits durch Schließung der Dorfinstitute (türk.: 473  Begründung

zum Entwurf der Verfassungskommission, S. 16. zum Entwurf der Verfassungskommission, S. 16. 475  Protokolle der Abgeordnetenversammlung, Band 3, S. 174–176. 476  Art. 7 Abs. 4 des deutschen Grundgesetzes: Das Recht zur Errichtung von privaten Schulen wird gewährleistet. Private Schulen als Ersatz für öffentliche Schulen bedürfen der Genehmigung des Staates und unterstehen den Landesgesetzen. Die Genehmigung ist zu erteilen, wenn die privaten Schulen in ihren Lehrzielen und Einrichtungen sowie in der wissenschaftlichen Ausbildung ihrer Lehrkräfte nicht hinter den öffentlichen Schulen zurückstehen und eine Sonderung der Schüler nach den Besitzverhältnissen der Eltern nicht gefördert wird. Die Genehmigung ist zu versagen, wenn die wirtschaftliche und rechtliche Stellung der Lehrkräfte nicht genügend gesichert ist. 474  Begründung

148 E. Verfassung von 1961 unter Berücksichtigung von Rezeptionsvorgängen

„köy entstitüleri“), in denen Grundschulabsolventen in einem Zeitraum von fünf Jahren vornehmlich landwirtschaftliche und handwerkliche Kenntnisse sowie Inhalte der Volksmusik, Gesundheitserziehung und türkischen Dichtung vermittelt wurden. Diese Institute dienten der Ausbildung von Dorflehrern und der flächendeckenden Versorgung mit weiterführenden Schulen in ländlichen Gebieten.477 Zudem bezweckten die Kemalisten mit diesen Instituten die Förderung der Gleichberechtigung von Männern und Frauen, sowie der Aufklärung der ländlichen Bevölkerung und damit der Zurückdrängung von religiösem Aberglauben. Islamische-konservative Kreise warfen diesen Instituten Islamfeindlichkeit und Verbreitung von kommunistischem Gedankengut vor. Die DP-Regierung schloss sie unter dem Vorwand, durch sie würde „hässliches linkes Gedankengut“ verbreitet werden478. Zudem räumte die DP-Regierung auch aktiv der Religion wieder deutlich mehr Raum im Bildungswesen ein, insbesondere durch die Gründung von Imam-Hatip-Schulen, die einen religiösen Unterrichtsschwerpunkt hatten. Diese Schulen waren zwar offiziell lediglich für die Ausbildung von Moschee-Vorbetern und sonstigem religiösen Personal vorgesehen, bildeten faktisch aber einen groß angelegten islamisch-konservativen Gegenentwurf zu den gewöhnlichen säkularen staatlichen Schulen, was sich in den immer weiter ansteigenden Schülerzahlen zeigte.479 Auf diese Entwicklungen seit 1950 bezog sich die Verfassungskommission, wenn sie in der Begründung zu ihrem Verfassungsentwurf festhielt: „Der letzte Absatz [des Art. 21 TürkVerf] ist eine Verfassungsbestimmung, die dem Zweck dient, die Belästigung der Jugend des Landes durch die mittelalterlichen Methoden […] der Vertreter der Reaktion, die seit einiger Zeit versuchen, das Rad der Geschichte zurückdrehen, zu unterbinden.“480 Ähn­ liche Ausführungen und Bemerkungen wurden auch in der Abgeordnetenversammlung getätigt.481 Die Bestimmung des Art. 21 Abs. 4 TürkVerf war also den spezifischen politischen Umständen der Türkei geschuldet und sollte Änderungen des Bildungswesens, die die Verbreitung religiöser Erziehung und Bildung bezwecken, verhindern. Da in „westlichen“ Ländern vergleichbare Herausforderungen in Bezug auf religiös-reaktionäre Bestrebungen im Bildungsbereich nicht zu bewältigen waren, gab es auch keine vergleichbaren 477  Kreiser/Neumann,

Geschichte der Türkei, S. 419. Geschichte der Türkei, S. 419, 427; Karakök, Menderes Dönemi’nde (1950–1960) Türkiye’de Eğitim (Die Erziehung in der Türkei in der Ära von Menderes (1950–1960)), in: Yüksek Öğretim ve Bilim Dergisi (Zeitschrift für Hochschulbildung und Wissenschaft), Band 1, S. 97. 479  Karakök, Menderes Dönemi’nde (1950–1960) Türkiye’de Eğitim (Die Erziehung in der Türkei in der Ära von Menderes (1950–1960)), S. 94. 480  Begründung zum Entwurf der Verfassungskommission, S. 17. 481  Protokolle der Abgeordnetenversammlung, Band 3, S. 175. 478  Kreiser/Neumann,



III. Grundrechte149

Bestimmungen. Dieser Absatz ist also nicht die Folge einer Rezeption, sondern eine bewusste Neuschöpfung durch die türkischen Verfassungsgeber. Auf die Regelungen zur Kunst- und Wissenschaftsfreiheit folgen die Bestimmungen zur Freiheit der Presse, zum Recht auf Herausgabe von Presseerzeugnissen und zur Freiheit der Nutzung von Kommunikationsmitteln. Es fällt auf, dass diese Bestimmungen zum Komplex der Presse- und Kommunikationsfreiheit sehr ausführlich in insgesamt sechs Verfassungsartikeln (Art. 22–27 TürkVerf) geregelt sind. Die Verfassungskommission erläuterte in ihrer Verfassungsbegründung in einer den Ausführungen zu den einzelnen Artikeln vorgeschalteten und einleitenden Begründung, dass die Verfassungsgeber diese Thematik bewusst sehr detailliert regelten, da sie auf diese Weise der besonderen Bedeutung der Pressefreiheit Rechnung tragen wollten. Mit Blick auf die massiven Verletzungen der Pressefreiheit durch die gestürzte, islamisch-konservative Vorgängerregierung unter Ministerpräsident Menderes482, betonte die Verfassungskommission: „Da die ersten Schritte bei Entwicklungen in Richtung eines totalitären Staates Maßnahmen sind, die das Ziel verfolgen, die als vierte Gewalt charakterisierte Presse in einen nichtfunktionsfähigen Zustand zu versetzen, räumen neuere Verfassungen den Vorschriften, die die Pressefreiheit sicherstellen, breiten Raum ein. Als Beispiel sei die griechische Verfassung von 1952 genannt. Auch im Entwurf wurde dieser Weg eingeschlagen.“483 Dies zeigt, dass den türkischen Verfassungsgebern die besondere Bedeutung und Funktion einer funktionierenden und freien Presselandschaft bewusst war und sie sich dabei an „westlichen“ Verfassungsordnungen orientierten. Die Pressefreiheit wird in Art. 22 TürkVerf garantiert. Dieser Verfassungsartikel gehörte zu den Grundrechtsbestimmungen, die am ausführlichsten und längsten in der Abgeordnetenversammlung diskutiert worden sind. Art. 22 Abs. 1 TürkVerf bestimmt, dass „die Presse frei ist; sie darf nicht zensiert werden“. Dies ist die klassische Formel der Pressefreiheit, die sich inhaltlich in allen „westlichen“ Verfassungen wiederfindet und somit dem allgemeinen Standard entspricht. Auch in der türkischen Verfassung von 1924 war sie bereits enthalten.484 Daher ist es nicht verwunderlich, dass für diese Bestimmung in den Quellen keine Hinweise auf Rezeptionsvorgänge vorliegen. Die türkischen Verfassungsgeber statuierten an dieser Stelle den allgemein anerkannten Standard. Art. 22 Abs. 2 TürkVerf legt fest, dass „der Staat Maßnahmen trifft, um die Presse- und Informationsfreiheit sicherzustellen“. Ausweislich der Begrün482  Vgl.

S.  35 ff.

483  Begründung

zum Entwurf der Verfassungskommission, S. 17. der türkischen Verfassung von 1924: Die Presse ist innerhalb der gesetzlichen Grenzen frei und unterliegt keiner Präventivzensur. 484  Art. 77

150 E. Verfassung von 1961 unter Berücksichtigung von Rezeptionsvorgängen

dung der Verfassungskommission ist dieser Absatz ein Ausdruck des Sozialstaatsprinzips auf dem Gebiet der Pressefreiheit.485 Demnach ist es nicht ausreichend, dass der Staat der Presse keine Einschränkungen und Behinderungen auferlegt. Vielmehr soll der Staat darüberhinaus die Entwicklung und Sicherstellung einer funktionierenden Presselandschaft durch positive Maßnahmen unterstützen und fördern.486 Nähere Angaben zur Art und Weise der Förderung und der Unterstützungsmaßnahmen gibt es nicht. Zwar war Art. 22 TürkVerf Gegenstand langer und teils hitziger Diskussionen in der Abgeordnetenversammlung. Dieser Absatz war jedoch von diesen Auseinandersetzungen vollkommen ausgenommen. Aus den Quellen ergeben sich daher keine Hinweise auf bestimmte Rezeptionsvorgänge. Zudem konnte der Verfasser in keiner „westlichen“ Verfassung eine entsprechende Regelung finden. Daher ist davon auszugehen, dass die türkischen Verfassungsgeber diese Bestimmung selbst schufen, weil sie das Bedürfnis sahen, die durch die Unterdrückung der Vorgängerregierung gebeutelte und nur bedingt funktionierende Presselandschaft durch aktive Maßnahmen des Staates wiederaufzubauen. Art. 22 Abs. 3 TürkVerf benennt die Schranken der Pressefreiheit. Demnach kann „die Presse- und Informationsfreiheit nur durch Gesetz zum Schutz der nationalen Sicherheit oder der allgemeinen Sitten, zur Verhinderung von Angriffen auf die Würde, die Ehre und die Rechte einer Person, zur Verhinderung der Aufwiegelung zu Straftaten und zur Sicherstellung der zweckentsprechenden Erfüllung der Aufgaben der Gerichtsbarkeit eingeschränkt werden“. Die Begründung der Verfassungskommission beinhaltet diesbezüglich die Erklärung, dass „die Notwendigkeiten des gesellschaft­ lichen Lebens“ Begrenzungen der Pressefreiheit bedingen. Einen einfachen Gesetzesvorbehalt lehnten die Verfassungsgeber aber ab. Aufgrund der Bedeutung der Pressefreiheit zog es die Verfassungskommission vor, dem Gesetzgeber die Richtung und den Zweck der Grundrechtseinschränkung, mithin konkrete Schranken-Schranken vorzugeben.487 Bezüglich dieser Richtungs- und Zweckbestimmungen enthält die Begründung einen ausdrück­ lichen Verweis auf Art. 10 der Europäischen Menschenrechtskonvention.488 Kommissionssprecher Muammer Aksoy erklärte zudem während der Beratungen in der Abgeordnetenversammlung: „Freunde, wir sind verpflichtet diese Einschränkungen vorzunehmen. […] Artikel 10 Absatz 2 der Europäischen Menschenrechtskonvention enthält genau diese Einschränkungen. Wir haben sie von dort übernommen.“489 Die Gründe, die eine Einschränkung der 485  Begründung

zum Entwurf der Verfassungskommission, S. 17. zum Entwurf der Verfassungskommission, S. 17. 487  Begründung zum Entwurf der Verfassungskommission, S. 17. 488  Begründung zum Entwurf der Verfassungskommission, S. 17. 489  Protokolle der Abgeordnetenversammlung, Band 3, S. 195. 486  Begründung



III. Grundrechte151

Pressefreiheit laut Art. 22 Abs. 3 TürkVerf ermöglichen, entsprechen in der Tat inhaltlich der Bestimmung des Art. 10 Abs. 2 der Europäischen Menschenrechtskonvention. Die vorhandenen Unterschiede sind sprachlicher Natur.490 Daher lässt sich festhalten, dass Art. 22 Abs. 3 TürkVerf das Ergebnis einer Übernahme der Regelung aus Art. 10 Abs. 2 der Europäischen Menschenrechtskonvention ist. Im vierten Absatz des Art. 22 TürkVerf ist die Möglichkeit der Verhängung eines Veröffentlichungsverbots geregelt: „Vorbehaltlich eines innerhalb der gesetzlich bezeichneten Grenzen zur zweckentsprechenden Erfüllung der richterlichen Aufgaben erlassenen richterlichen Beschlusses darf ein Veröffentlichungsverbot für Berichte über bestimmte Geschehnisse nicht angeordnet werden“. In ihrer Begründung verweist die Verfassungskommission auf „zivilisierte Länder“, in denen das Veröffentlichungsverbot als Maßnahme anerkannt sei.491 In den Verhandlungen in der Abgeordnetenversammlung verwiesen die Kommissionmitglieder auf „eines der modernsten Gesetze“492, namentlich auf § 5 der schwedischen Pressefreiheitsverordnung vom 05. ­April 1949, das gemäß Kapitel 1 § 2 der schwedischen Verfassung Verfassungsrang besitzt.493 Daher ist von der Vorbildfunktion dieser Bestimmung aus der schwedischen Verfassungsordnung für Art. 22 Abs. 4 TürkVerf auszugehen. Art. 22 Abs. 5 TürkVerf regelt die Beschlagnahme von Zeitungen. Demnach „kann die Beschlagnahme von Zeitungen und Zeitschriften, die in der Türkei erscheinen, nur im Falle der Begehung von Straftaten, für die ausdrücklich die Anwendung dieser Maßnahme gesetzlich vorgesehen ist, und 490  Art. 10 Abs. 2 der EMRK: Die Ausübung dieser Freiheiten ist mit Pflichten und Verantwortung verbunden; sie kann daher Formvorschriften, Bedingungen, Einschränkungen oder Strafdrohungen unterworfen werden, die gesetzlich vorgesehen und in einer demokratischen Gesellschaft notwendig sind für die nationale Sicherheit, die territoriale Unversehrtheit oder die öffent­liche Sicherheit, zur Aufrechterhaltung der Ordnung oder zur Verhütung von Straf­taten, zum Schutz der Gesundheit oder der Moral, zum Schutz des guten Rufes oder der Rechte anderer, zur Verhinderung der Verbreitung vertraulicher Informationen oder zur Wahrung der Autorität und der Unparteilichkeit der Rechtsprechung. 491  Begründung zum Entwurf der Verfassungskommission, S. 17. 492  Protokolle der Abgeordnetenversammlung, Band 3, S. 186. 493  Kapitel 7, § 5 der schwedischen Pressefreiheitsverordnung: Behördliche Akten, die geheim bleiben sollen, dürfen nicht in einer Druckschrift veröffentlicht werden. In Druckschriften dürfen keine Angaben veröffentlicht werden, deren Bekanntgabe ein Verbrechen gegen die Sicherheit des Reiches gemäß den gesetzlichen Vorschriften beinhaltet. Hierbei spielt es keine Rolle, ob diese Angaben aus behördlichen Akten stammen oder auf andere Weise ermittelt worden sind. Was aufgrund eines gerichtlichen Beschlusses oder einer Anweisung des Untersuchungsführers in einer Strafsache oder aufgrund eines Vorbehalts einer Behörde bei Herausgabe einer behördlichen Akte nicht offenbart werden darf, darf auch nicht in einer Druckschrift veröffentlicht werden.

152 E. Verfassung von 1961 unter Berücksichtigung von Rezeptionsvorgängen

nur durch richterlichen Beschluss erfolgen.“ Aus der Begründung zum Verfassungsentwurf geht hervor, dass die Verfassungskommission die Beschlagnahme von Presseerzeugnissen als schwerwiegenden Eingriff in die Pressefreiheit einstufte, aber dennoch der Ansicht war, dass dieser Eingriff in Ausnahmefällen notwendig sein kann. Daher entschied sie sich dafür, unter den in diesem Absatz genannten Bedingungen, d. h. Schranken-Schranken, die Beschlagnahme zu ermöglichen.494 Hierzu erklärte sie zudem, dass die türkische Regelung zu den „Formeln in modernen Verfassungen“495 passt. Während der Beratungen in der Abgeordnetenversammlung konkretisierte Muammer Aksoy als Sprecher der Verfassungskommissionen diese Formulierung, indem er erklärte, dass in „zwei neuen und freiheitlichen Verfassungen“496, namentlich Art. 21 der italienischen Verfassung497 und Art. 14 der griechischen Verfassung498, die Beschlagnahme von Presseerzeugnisse vorgesehen 494  Begründung

zum Entwurf der Verfassungskommission, S. 18. zum Entwurf der Verfassungskommission, S. 18. 496  Protokolle der Abgeordnetenversammlung, Band 3, S. 196. 497  Art. 21 Abs. 3 der italienischen Verfassung: Eine Beschlagnahme darf nur auf Grund einer begründeten Verfügung der Gerichtsbehörde im Falle von Straftaten, bei denen das Pressegesetz ausdrücklich dazu ermächtigt, vorgenommen werden oder im Falle von Verletzung der Bestimmungen, die das Gesetz selbst für die Bezeichnung der Verantwortlichen vorschreibt. Art. 21 Abs. 4 der italienischen Verfassung: Eine Beschlagnahme darf nur auf Grund einer begründeten Verfügung der Gerichtsbehörde im Falle von Straftaten, bei denen das Pressegesetz ausdrücklich dazu ermächtigt, vorgenommen werden oder im Falle von Verletzung der Bestimmungen, die das Gesetz selbst für die Bezeichnung der Verantwortlichen vorschreibt. 498  Art. 14 Abs. 2 der griechischen Verfassung: Ausnahmsweise ist die Beschlagnahme [von Zeitungen und Zeitschriften] nach der Veröffentlichung erlaubt: a) wegen Angriffs gegen die christliche Religion oder wegen unzüchtiger Veröffentlichungen, welche das öffentliche Schamgefühl offensichtlich verletzen, in den durch das Gesetz bestimmten Fällen; b) wegen Angriffs auf die Person des Königs, des Thronfolgers sowie ihrer Ehegatten und Kinder; c) wenn der Inhalt der Veröffentlichung nach Maßgabe der Gesetze solcherart ist, dass er –  Bewegungen der Streitkräfte von militärischer Bedeutung oder Landesbefestigungen offenbart –  offensichtlich aufständisch ist oder gegen die nationale Integrität gerichtet ist oder eine Aufforderung zur Begehung eines Verbrechens des Hochverrats darstellt. In diesen Fällen jedoch muss der Staatsanwalt binnen vierundzwanzig Stunden nach der Beschlagnahme die Angelegenheit der Gerichtskammer vorlegen und diese muss sich innerhalb von weiteren vierundzwanzig Stunden für die Aufrechterhaltung oder für die Aufhebung der Beschlagnahme aussprechen, andernfalls wird die Beschlagnahme von Rechts wegen aufgehoben. Einspruch gegen den Beschluss ist nur dem Herausgeber der beschlagnahmten Veröffentlichung gestattet. Das Gericht verfügt nach mindestens drei Verurteilungen wegen Pressedelikten, bei denen die Be495  Begründung



III. Grundrechte153

ist. Daher ist davon auszugehen, dass die türkischen Verfassungsgeber bei der Ausarbeitung des Art. 22 Abs. 5 TürkVerf die griechische und italienische Bestimmung als Vorbilder vor Augen hatten. Inhaltlich ähnelt die türkische Bestimmung jedoch mehr der italienischen Regelung, da beide, anders als die griechische Verfassung, keine Vorgaben hinsichtlich Ziel und Schutzzweck des Gesetzes verlangen, welches Grundlage der Beschlagnahme ist, aber die explizite Benennung dieser Maßnahme in diesem Gesetz fordern. Anders als die italienische Bestimmung macht die türkische Bestimmung aber keine Ausnahme vom Richtervorbehalt in den Fällen, in denen Gefahr im Verzug besteht. Die Verfassungskommission begründete dies damit, dass in Eilsituationen der Richtervorbehalt zwar Nachteile mit sich bringen kann, diese aber hinzunehmen sind, da man vor dem Hintergrund der Bedeutung der Pressefreiheit die Entscheidung über die Beschlagnahme nicht den Behörden zugestehen sollte.499 Art. 22 Abs. 6 TürkVerf statuiert, dass „Zeitungen und Zeitschriften, die in der Türkei erscheinen, nur im Falle einer Verurteilung wegen der in Art. 57 aufgeführten Straftaten durch eine gerichtliche Entscheidung geschlossen werden dürfen“. Diese Bestimmung war in den vorbereitenden Entwürfen nicht enthalten und wurde erst während der Beratungen in der Abgeordnetenversammlung eingefügt.500 Mehrere Abgeordnete kritisierten, dass der Entwurf der Verfassungskommission, der diesen Absatz noch nicht enthielt, über Art. 22 Abs. 3 TürkVerf dem einfachen Gesetzgeber die Möglichkeit einräume, ein dauerhaftes Verbot bzw. eine Schließung von Zeitungen und Zeitschriften durchzusetzen. Sie verwiesen in erster Linie auf die Erfahrungen aus der zweiten Hälfte der 1950er Jahre, in denen die islamisch-konservative Regierung ihre Parlamentsmehrheit dazu nutzte, ein Pressegesetz zu verabschieden, das ein Verbot von Zeitungen und Zeitschriften ermöglichte, wovon die Regierung ausgiebig Gebrauch machte, um kritische Stimmen zum Schweigen zu bringen.501 Daraufhin erklärte Muammer Aksoy als Sprecher der Verfassungskommission, dass eine Schließung von Zeitungen und Zeitschriften einer Zerstörung der Pressefreiheit gleichkäme und dies von der Verfassungskommission in keiner Weise beabsichtigt sei. Jedoch könnte es im Zusammenhang mit politischen Parteien Ausnahmesituationen geben, namentlich, wenn eine Partei wegen Verfassungsfeindlichkeit verboten werde. Dann müssten als Konsequenz auch die Presseorgane dieser Partei verboten schlagnahme erlaubt ist, die endgültige oder vorläufige Einstellung der Herausgabe der Druckschrift sowie in schweren Fällen das Verbot der Ausübung des Journalistenberufs durch den Verurteilten. Die Einstellung oder das Verbot treten in Kraft sobald die Verurteilung Rechtskraft erlangt hat. 499  Begründung zum Entwurf der Verfassungskommission, S. 18. 500  Protokolle der Abgeordnetenversammlung, Band 3, S. 200. 501  Protokolle der Abgeordnetenversammlung, Band 3, S. 178–179.

154 E. Verfassung von 1961 unter Berücksichtigung von Rezeptionsvorgängen

werden können.502 Diese Diskussionen führten schließlich zur Formulierung des Art. 22 Abs. 6 TürkVerf. Diese Entstehungsgeschichte zeigt, dass, anders als von Hirsch suggeriert503, Art. 22 Abs. 6 TürkVerf nicht nur eine Bedeutung für die Presse­ organe von politischen Parteien hat und auch keine Privilegierung der Parteipresse darstellt. Im Gegenteil brachten die türkischen Verfassungsgeber mit dieser Regelung zum Ausdruck, dass Zeitungen und Zeitschriften nicht dauerhaft verboten oder geschlossen werden können, es sei denn, es handelt sich um Presseorgane verfassungsfeindlicher und daher vom Verfassungsgericht verbotener Parteien. Wörtlich sagte Muammer Aksoy als Sprecher der Verfassungskommission: „Wir sind der Überzeugung, dass die Aufnahme dieser Bestimmung die Presse zufriedenstellen wird, da hiermit dem Gesetzgeber in allen anderen Fällen […] die Möglichkeit der Schließung [von Zeitungen und Zeitschriften] entzogen wird“504. Daher ist auch der Verweis auf Art. 57 TürkVerf konsequent, der die Grundsätze festlegt, denen politische Parteien folgen müssen, da sie ansonsten vom Verfassungsgericht verboten werden können.505 Eine unmittelbare Rezeption „westlicher“ Verfassungsrechte ist an dieser Stelle nicht ersichtlich. Dieser Absatz ist vielmehr das Ergebnis der Verhandlungen in der Abgeordnetenversammlung und stellt einen spezifischen Kompromiss zwischen den verschiedenen Strömungen in der Abgeordnetenversammlung im Ringen um den Umfang der Pressefreiheit dar. Art. 23 TürkVerf garantiert das Recht auf die Herausgabe von Zeitungen und Zeitschriften.506 Die explizite Benennung des Rechts auf Herausgabe von Zeitungen und Zeitschriften sowie die ausführlichen verfassungsrecht­ lichen Vorgaben in Abs. 2 und Abs. 3 erscheinen im Hinblick auf die Existenz von Art. 22 TürkVerf, welcher die Pressefreiheit allgemein garantiert, 502  Protokolle

der Abgeordnetenversammlung, Band 3, S. 179. Verfassung der Türkischen Republik, S. 103. 504  Protokolle der Abgeordnetenversammlung, Band 3, S. 179. 505  Vgl. S.  189 f. 506  Art. 23 Abs. 1 TürkVerf: Die Herausgabe von Zeitungen und Zeitschriften darf nicht von einer vorherigen Erlaubnis und [auch] nicht von der Hinterlegung einer Sicherheit abhängig gemacht werden. Art. 23 Abs. 2 TürkVerf: Die Bedingungen für die Herausgabe, die Verbreitung [und] bezüglich der Geldquellen von Zeitungen und Zeitschriften sowie für den Journalistenberuf sind gesetzlich zu regeln. Das Gesetz darf keine politischen, wirtschaftlichen, finanziellen oder technischen Bedingungen aufstellen, welche die freie Verbreitung von Nachrichten, Meinungen und Überzeugungen behindern oder erschweren. Art. 23 Abs. 3 TürkVerf: Zeitungen und Zeitschriften können gleichberechtigt von den Mitteln und Möglichkeiten des Staates und der anderen juristischen Personen des öffentlichen Rechts oder der diesen angeschlossenen Einrichtungen Gebrauch machen. 503  Hirsch,



III. Grundrechte155

als nicht zwingend erforderlich.507 Schließlich ist typischerweise die Herausgabe von Zeitungen und Zeitschriften vom Schutzbereich der Pressefreiheit umfasst. Mit anderen Worten ist die Herausgabe von Zeitungen und Zeitschriften als eine bestimmte Art der Verbreitung von Nachrichten und Meinungen bereits durch die Pressefreiheit geschützt. Daher wird sie in den meisten „westlichen“ Verfassungen nicht ausdrücklich aufgezählt, sondern unter die Pressefreiheit subsumiert.508 Die türkischen Verfassungsgeber sahen sich aber in einer Situation, in der sie auf die Maßnahmen der islamisch-konservativen Vorgängerregierung in den 1950er Jahren reagieren mussten, die sich gegen eine freie und regierungskritische Betätigung von Zeitungen richteten. Wie bereits im Kapitel über den historischen Kontext dargelegt, tätigte die DP-Regierung beispielsweise Zahlungen aus dem Staatshaushalt an ihr genehme Zeitungen und verschaffte ihnen damit Wettbewerbsvorteile. Zudem schaltete sie die für Zeitungen finanziell bedeutsamen staatlichen Anzeigen nicht mehr in allen, sondern nur noch in regierungsfreundlichen Zeitungen. Außerdem nutzte sie das staatliche Papiermonopol, um oppositionellen Zeitungen Papierlieferungen vorzuenthalten. Die Regelungen dieses Artikels, insbesondere die Bestimmungen des Abs. 2 und Abs. 3 sollten die Verfassungswidrigkeit entsprechender Maßnahmen klar und deutlich zum Ausdruck bringen und damit in Zukunft ausschließen. In der Begründung der Verfassungskommission kommt dies wie folgt zum Ausdruck: „Dieser Grundsatz [d. h. das Recht auf Herausgabe von Zeitungen und Zeitschriften], der in allen zivilisierten Ländern anerkannt ist, wird im ersten Absatz des Artikels 23 verkündet.“509 Und hinsichtlich der Bestimmungen des Abs. 2 und Abs. 3 liest man in der Begründung: „Die schlechten Beispiele unserer näheren Vergangenheit begründen die Notwendigkeit dieser Bestimmung.“510 Hieraus wird ersichtlich, dass sich die türkischen Verfassungsgeber bewusst waren, dass die Freiheit der Herausgabe von Zeitungen und Zeitschriften im „Westen“ implizit über die Artikel der Pressefreiheit geschützt sind. Jedoch wollten die Verfassungsgeber aufgrund der eigenen Erfahrungen darüber hinaus konkretere Vorgaben an den Gesetzgeber und an die Regierung richteten. Daher stellen Abs. 2 und Abs. 3 dieses Artikels nicht das Ergebnis einer unmittelbaren Rezeption dar, sondern sind speziell ausformulierte Bestimmungen seitens der türkischen Verfassungsgeber. Abs. 1 hingegen enthält die ausdrückliche Bestimmung eines Grundsatzes, der im „Westen“ regelmäßig nicht explizit, sondern über die Pressefreiheit Geltung beansprucht. 507  So

auch Hirsch, Verfassung der Türkischen Republik, S. 103. in Deutschland, vgl. BVerfGE 20, 162, 176; BVerfGE 77, 346,

508  Beispielsweise

354.

509  Begründung 510  Begründung

zum Entwurf der Verfassungskommission, S. 18. zum Entwurf der Verfassungskommission, S. 18.

156 E. Verfassung von 1961 unter Berücksichtigung von Rezeptionsvorgängen

Parallel zu Art. 23 TürkVerf betrifft Art. 24 TürkVerf das Recht auf He­ rausgabe von Büchern und Broschüren. Gemäß Art. 24 Abs. 1 TürkVerf „darf das Veröffentlichen von Büchern und Broschüren nicht von einer Erlaubnis abhängig gemacht werden; sie dürfen nicht zensiert werden.“ Die Begründung der Verfassungskommission verweist darauf, dass Art. 24 Abs. 1 TürkVerf eine speziell auf die Herausgabe von Büchern und Broschüren übertragene Variante der Bestimmungen des Art. 22 Abs. 1 TürkVerf und des Art. 23 Abs. 1 TürkVerf ist.511 Daher sei hier auf die Ausführungen zu Art. 22 und Art. 23 TürkVerf verwiesen. Art. 24 Abs. 2 TürkVerf statuiert, dass „die in der Türkei veröffentlichten Bücher und Broschüren nicht beschlagnahmt werden dürfen, abgesehen von den Bestimmungen des Art. 22 Abs. 5 TürkVerf.“ Daher sei bezüglich dieses Absatzes auf die Ausführungen zu Art. 22 Abs. 5 TürkVerf verwiesen. Art. 25 TürkVerf enthält eine besondere Schutzbestimmung für die Presse im Sinne gedruckter Zeitungen und Zeitschriften: „Druckereien sowie ihre Bestandteile und Druckwerkzeuge dürfen nicht, auch nicht mit Begründung, sie seien Tatwerkzeuge [einer Straftat], beschlagnahmt, eingezogen oder von ihrem Gebrauch abgehalten werden.“ Auch dieser Verfassungsartikel ist eine unmittelbare Antwort auf die Unterdrückung der Presse durch die islamischkonservative Vorgängerregierung. Wie bereits im Rahmen des historischen Kontextes erörtert, verbot die DP-Regierung ab der zweiten Hälfte der 1950er Jahre immer wieder für vorübergehende Zeit den Druck und die Verbreitung von regierungskritischen bzw. oppositionellen Zeitungen und brachte diese damit in große finanzielle Nöte, da notwendige Einnahmen wegbrachen.512 Die vorliegende Bestimmung stellt die Reaktion auf diesen Machtmissbrauch dar. Dies zeigt sich in der Begründung der Verfassungskommission zu ihrem Verfassungsentwurf: „Machthaber, die den Weg in Richtung Totalitarismus einschlagen wollen, haben es nicht versäumt, wenn auch nur vorübergehend, Druckereien von ihrer Tätigkeit abzuhalten und dadurch faktisch die Zeitungen in den Bankrott zu treiben.“513 Ferner ergibt sich aus der Verfassungsbegründung, dass sich die türkischen Verfassungsgeber auch an dieser Stelle an „westlichen“ Verfassungsordnungen orientierten: „Aus diesem Grund bestimmen neue Verfassungen, dass Druckwerkzeuge entweder überhaupt nicht beschlagnahmt und eingezogen und von ihrem Gebrauch abgehalten werden dürfen oder dass eine solche Maßnahme nur in äußersten Ausnahmefällen ergriffen werden darf. Es wurde vorgezogen, dass unser Land, dem durch sehr bittere Erfahrungen die Bedeu511  Begründung

zum Entwurf der Verfassungskommission, S. 18. Ausführungen auf S. 35 ff. 513  Begründung zum Entwurf der Verfassungskommission, S. 19. 512  Vgl.



III. Grundrechte157

tung der Schließung von Druckereien bewusstgemacht wurde, zu den Ländern gehören soll, die diese Mittel auf keinen Fall akzeptieren.“514 Jedoch konnte der Verfasser in keiner „westlichen“ Verfassung dieser Zeit eine solche Bestimmung finden. Diese bedeutet aber nicht, dass die soeben zitierte Verfassungsbegründung diesbezüglich eine falsche Aussage enthält. Denn auch in „westlichen“ Verfassungsordnungen sind der Druck von Presseerzeugnissen und die dazugehörigen technischen und sonstigen Hilfstätigkeiten grundrechtlich geschützt. Dies geschieht dort jedoch regelmäßig als Bestandteil der Pressefreiheit und damit innerhalb der dazugehörigen Grenzen und nicht als eigenes Grundrecht.515 Denn der Schutzbereich der Pressefreiheit umfasst auch das Betreiben von Druckereien und das Verwenden von Druckwerkzeugen. Daher wird eine entsprechende Bestimmung in „westlichen“ Verfassungen nicht explizit erwähnt. Verfassungsdogmatisch gibt es also keine Notwendigkeit, den Schutz der Druckereien und der Druckwerkzeuge ausdrücklich zu statuieren. Die türkischen Verfassungsgeber hingegen normierten diesen Schutz trotzdem als eigenes Grundrecht, der zudem nicht den Schranken der allgemeinen Pressefreiheit516 unterworfen ist. Diese türkische Regelung stellt damit den Versuch dar, den Erfahrungen mit der autoritären Vorgängerregierung in besonderer Weise gerecht zu werden, indem man den Druck von Presserzeugnissen ausdrücklich und über das Maß der allgemeinen Pressefreiheit hinaus schützt. Dies bedeutet, dass sich die türkischen Verfassungsgeber bezüglich des Schutzes mit „westlichen“ Verfassungsordnungen auseinandergesetzt und den allgemeinen Schutzstandard übernommen haben. Sie haben jedoch die Notwendigkeit gesehen, dies ausdrücklich als eigenes Grundrecht festzuhalten und nicht unter die Pressefreiheit zu subsumieren. Art. 26 TürkVerf beinhaltet ebenfalls ein spezielles Grundrecht im Zusammenhang mit Medien, namentlich das Recht auf die Nutzung von nichtpresseartigen Kommunikationsmitteln. Demnach besitzen „Personen und poli­ tische Parteien das Recht, die in der Hand der juristischen Personen des öffentlichen Rechts befindlichen nichtpresseartigen Kommunikations- und ­ Veröffentlichungsmittel zu nutzen. Die Bedingungen und die Verfahren dieser Nutzung werden demokratischen Grundsätzen und Maßstäben der Billigkeit entsprechend durch Gesetz geregelt. Das Gesetz darf keine Einschränkungen festlegen, die den Empfang von Nachrichten durch das Volk, die Information des Volkes über Meinungen und Überzeugungen und die freie Bildung einer öffentlichen Meinung behindern“. 514  Begründung

zum Entwurf der Verfassungskommission, S. 19. in Deutschland, vgl. BVerfGE 97, 125, 144; BVerfGE 77, 346,

515  Beispielsweise

354.

516  Vgl.

Ausführungen zu Art. 22 TürkVerf, S. 149 ff.

158 E. Verfassung von 1961 unter Berücksichtigung von Rezeptionsvorgängen

Aus der Begründung der Verfassungskommission und den Protokollen der Abgeordnetenversammlung wird deutlich, dass diese Bestimmung auf Rundfunk und Fernsehen abzielte.517 Der Verfasser ist in keiner „westlichen“ Verfassung dieser Zeit auf eine entsprechende Bestimmung gestoßen. Weder die italienische Verfassung von 1947, noch die griechische Verfassung von 1952 oder die französische Verfassung von 1956 beinhalten Verfassungsartikel, die ausdrücklich die Nutzung von Rundfunk und Fernsehen thematisieren. Das deutsche Grundgesetz beinhaltet zwar die Rundfunkfreiheit.518 Dies bezog sich aber sowohl auf den öffentlich-rechtlichen als auch auf den privaten Rundfunk. Die türkische Bestimmung hingegen bezieht sich lediglich auf den öffentlich-rechtlichen Rundfunk bzw. das öffentlich-rechtliche Fern­ sehen. Während das deutsche Grundgesetz die Rundfunkfreiheit als Teil der Pressefreiheit begreift und als subjektives Freiheitsrecht der Bürger auf Verbreitung und Empfang von Informationen und Meinungen statuiert, ist Art. 26 TürkVerf vielmehr ein politisches Grundrecht. Die türkischen Verfassungsgeber verfolgten mit diesem Artikel in erster Linie nicht die Garantie der Freiheit der Verbreitung von Nachrichten und Meinungen im Wege des Rundfunks und des Fernsehens, sondern sie beabsichtigten die Sicherstellung der gleichberechtigten Teilhabe und des gerechten Zugangs zur Nutzung dieser Medien als wichtiger Bestandteil der politischen Auseinandersetzung. Dies zeigt sich bereits daran, dass Art. 26 TürkVerf dieses Recht neben natürlichen Personen explizit auch politischen Parteien zugesteht. Dies ist vor dem Hintergrund der türkischen Geschichte nicht verwunderlich. Die gestürzte, autoritäre Vorgängerregierung schnitt die Oppositionsparteien und kritische, oppositionelle Organisationen der Zivilgesellschaft vom Zugang zum Rundfunk ab, der in den 1950ern immer noch das wichtigste Medium der politischen Information und Meinungsbildung darstellte, und nutzte dieses Medium für einseitige Propaganda.519 Sinn und Zweck des Art. 26 TürkVerf war es, solche Methoden zukünftig zu unterbinden. Daher hielt die Verfassungskommission in ihrer Begründung fest, dass eine solche Bestimmung in anderen Verfassungen noch nicht als Grundrecht enthalten sei, aber angesichts der Bedeutung und der großen Einflusssphäre dieser Medien diese Freiheit als Grundrecht ihren Platz in der Verfassung finden sollte.520 Die Verfassungsbegründung betonte auch die politische Natur dieser Bestimmung, indem festgehalten wurde, dass „eine solche Bestim517  Begründung zum Entwurf der Verfassungskommission, S. 19; Protokolle der Abgeordnetenversammlung, Band 3, S. 220–221. 518  Art. 5 Abs. 2 S. 2 des deutschen Grundgesetzes: Die Pressefreiheit und die Freiheit der Berichterstattung durch Rundfunk und Film werden gewährleistet. 519  Vgl. Ausführungen auf S. 33. 520  Begründung zum Entwurf der Verfassungskommission, S. 19.



III. Grundrechte159

mung eine Voraussetzung dafür ist, dass die Gleichheit auf dem Gebiet der Politik verwirklicht wird und Wahlen in einer ordnungsgemäßen Weise stattfinden.“521 Die türkischen Verfassungsgeber haben bei der Ausarbeitung dieses Verfassungsartikels also keine „westliche“ Verfassungsbestimmung rezipiert, sondern bewusst eine eigene Bestimmung geschaffen. Auf Art. 26 TürkVerf folgt das Berichtigungs- und Entgegnungsrecht. Gemäß Art. 27 Abs. 1 TürkVerf wird das Berichtigungs- und Entgegnungsrecht „nur in Fällen der Verletzung der Würde und Ehre von Personen“ und bei „wahrheitswidrigen Veröffentlichungen“ über Personen anerkannt und ist gesetzlich zu regeln. Nach Art. 27 Abs. 2 TürkVerf gilt, dass in den Fällen, in denen die Berichtigung bzw. Entgegnung von den entsprechenden Presseoder Rundfunkorganen nicht veröffentlicht wird, ein Richter darüber entscheidet, ob es eine Pflicht zur Veröffentlichung gibt. In der ursprünglichen Fassung des Art. 27 Abs. 1 TürkVerf im Entwurf der Verfassungskommission war die Einschränkung, wonach das Berichtigungsund Entgegnungsrecht nur bei Verletzung von Würde bzw. Ehre einer Person und wahrheitswidrigen Veröffentlichungen bezüglich einer Person besteht, noch nicht enthalten. Vielmehr hieß es im Entwurf der Verfassungskommission lediglich: „Das Berichtigungs- und Entgegnungsrecht wird gesetzlich geregelt.“ Die Verfassungskommission wollte also ursprünglich dem Gesetzgeber keine einschränkenden Vorgaben hinsichtlich der Umsetzung dieser Verfassungsbestimmung machen. Während der Beratungen in der Abgeordnetenversammlung wurde die genannte Einschränkung jedoch auf Druck einiger Abgeordneter eingeführt. Jene verfolgten damit das Ziel, Missbrauch durch Staat und Regierung zu unterbinden. Denn die bereits im historischen Kontext dargestellte Beschneidung der Pressefreiheit und Unterdrückung freier Berichterstattung in den 1950er geschah auch durch das Mittel der Berichtigung. Kritische Artikel gegen die Regierung wurden als Anlass genommen, das jeweilige Presseorgan zu zwingen, in großem Umfang Propagandameldungen der Regierung als vermeintliche Berichtigung und Entgegnung zu veröffentlichen. Der Abgeordnete Ömer Sami Çoşar erklärte hierzu, dass „in den ersten 9 Monaten des Jahres 1959 die Staatsanwaltschaft Istanbul alleine an die Istanbuler Zeitungen 720 Berichtigungen verschickten. […] Die Regierung zwang die Zeitungen [zur Veröffentlichung] ihrer Propaganda und ihrer gefälschten Statistiken im Wege dieser Berichtigungen.“522 Daher verlangte er die Beschränkung dieses Rechts, um, so wörtlich, „eine Zensur im Wege der Berichtigungen zu vermeiden“523. Durch die in der end521  Begründung

zum Entwurf der Verfassungskommission, S. 19. der Abgeordnetenversammlung, Band 3, S. 206. 523  Protokolle der Abgeordnetenversammlung, Band 3, S. 206. 522  Protokolle

160 E. Verfassung von 1961 unter Berücksichtigung von Rezeptionsvorgängen

gültigen Fassung enthaltene Einschränkung sollte also verhindert werden, dass staatliche Stellen bzw. die Regierung das Berichtigungs- und Entgegnungsrecht gegen die Presse selbst verwenden. Daher können sich laut der endgültigen Fassung des Art. 27 Abs. 1 TürkVerf nur individuell betroffene Personen, aber nicht Parteien, Regierungen oder Behörden auf das Berichtigungsrecht berufen. In der Begründung der Verfassungskommission ist zudem davon die Rede, dass dieses Recht „wie in den Verfassungen vieler Länder“ auch in der türkischen Verfassung enthalten ist, um zu verhindern, dass die Pressefreiheit die Würde und Ehre der Menschen verletzt.524 In Deutschland und in Italien ist jedoch ein solches Recht nicht als Grundrecht in den jeweiligen Verfassungen anerkannt. Die griechische Verfassung von 1952 enthält aber sehr wohl eine Bestimmung, die der Formulierung im ursprünglichen Entwurf der Verfassungskommission entspricht.525 In Anbetracht dessen, dass die Verfassungskommission in der Begründung zu ihrem Verfassungsentwurf bezüglich der Regelungen der verfassungsrechtlichen Grundlagen der freien Presse auf die griechische Verfassung von 1952 verwiesen hat, kann man die Schlussfolgerung ziehen, dass die türkischen Verfassungsgeber die entsprechende Regelung des Berichtigungs- und Entgegnungsrechts aus der griechischen Verfassung übernahmen, jedoch diese aufgrund der Erfahrungen der vergangenen Jahre einschränkten, um den Missbrauch durch Staat und Regierung zu verhindern. Auf die Artikel über die Presse- und Herausgabefreiheiten folgt der Unterabschnitt über die Versammlungsfreiheiten, die das Versammlungs- und Demonstrationsrecht (Art. 28 TürkVerf) und das Vereinigungsrecht (Art. 29 TürkVerf) beinhaltet. Gemäß Art. 28 Abs. 1 TürkVerf „besitzt jeder das Recht, ohne vorherige Erlaubnis unbewaffnet und friedlich Versammlungen abzuhalten oder Demonstrationszüge zu veranstalten“. Nach Art. 28 Abs. 2 TürkVerf kann „dieses Recht nur durch Gesetz zum Schutz der öffentlichen Ordnung eingeschränkt werden“. In der Begründung betonte die Verfassungskommission, dass die Ausübung des Versammlungs- und Demonstrationsrechts nicht von einer Erlaubnis oder Genehmigung abhängig gemacht werden darf. Dabei verwiesen sie auf andere „moderne Verfassungen“526. Während der Beratungen in der Abgeordnetenversammlung erklärten die Verfassungsgeber, dass der ausreichende Schutz dieses Grundrechts gerade angesichts der Erfahrungen mit der gestürzten DP-Regierung von besonderer 524  Begründung

zum Entwurf der Verfassungskommission, S. 18. Abs. 6 der griechischen Verfassung von 1952: Ein Gesetz wird die Art der Berichtigung unrichtiger Veröffentlichungen durch die Presse […] festlegen. 526  Begründung zum Entwurf der Verfassungskommission, S. 19. 525  Art. 14



III. Grundrechte161

Bedeutung ist.527 In der Tat schlug die autoritäre Regierung von Adnan Menderes, wie bereits im Rahmen der Darstellung des historischen Kontextes erörtert, Demonstrationen und Proteste der Opposition gewaltsam nieder. Da die türkische Verfassung von 1924 das Versammlungsrecht nur unzureichend schützte, indem sie dieses Recht völlig ins Ermessen des einfachen Gesetzgebers stellte528, meinte die DP-Regierung 1960 sogar so weit gehen zu können, Versammlungen gänzlich zu verbieten. Eine solche Verletzung und Aushebelung des Versammlungs- und Demonstrationsrechts wollten die Verfassungsgeber zukünftig unterbinden. Dabei erörterten die Abgeordneten die Geltung und den Umfang des Versammlungsrechts, indem sie das deutsche Grundgesetz als Ausgangspunkt ihrer Diskussionen nahmen.529 Einige Abgeordnete forderten die umfassende Übernahme des deutschen Verfassungsartikels und damit der Regelungen, dass Versammlungen nicht nur ohne Genehmigung, sondern auch ohne Anmeldung stattfinden dürfen und dass ein Gesetzesvorbehalt nur für Versammlungen unter freiem Himmel gilt.530 Andere Abgeordnete und die Verfassungskommission setzten sich aber mit dem Argument durch, dass man zwar das Versammlungsrecht angesichts historischer Erfahrungen ausreichend auf Verfassungsebene schützen müsse, aber dies aufgrund der politischen Spannungen und Herausforderungen der Türkei nicht in dem Umfang wie im deutschen Grundgesetz tun könne. Die Frage nach der Notwendigkeit einer Anmeldung und nach der Unterscheidung zwischen Versammlungen unter freiem Himmel und Versammlungen in geschlossenen Räumen müsse man dem einfachen Gesetzgeber überlassen.531 Somit kann man sagen, dass die türkischen Verfassungsgeber zwar das deutsche Grundgesetz als Vergleichsmaßstab herangezogen haben, aber den Schutzumfang des deutschen Grundgesetzes nicht in vollem Umfang übernommen haben. Das Vereinigungsrecht in Art. 29 TürkVerf statuiert, dass „jeder das Recht besitzt, ohne vorherige Erlaubnis Vereine zu gründen. Dieses Recht kann nur durch Gesetz zum Schutz der öffentlichen Ordnung oder der allgemeinen Sitten eingeschränkt werden“. Aus der Systematik der Verfassung ergibt sich, dass Art. 29 TürkVerf keine Anwendung auf Berufsverbände der Arbeitnehmer und Arbeitgeber, also Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände findet, da für diese Art. 46 TürkVerf als lex specialis gilt. Während in Deutschland 527  Protokolle

der Abgeordnetenversammlung, Band 3, S. 223. der türkischen Verfassung von 1924: Die Grenzen der Vertrags-, Arbeits-, Eigentums- und Besitz-, Vereins- und Versammlungsfreiheit sind durch Gesetze näher bstimmt. 529  Protokolle der Abgeordnetenversammlung, Band 3, S. 224–225. 530  Protokolle der Abgeordnetenversammlung, Band 3, S. 222–223. 531  Protokolle der Abgeordnetenversammlung, Band 3, S. 224. 528  Art. 79

162 E. Verfassung von 1961 unter Berücksichtigung von Rezeptionsvorgängen

die Koalitionsfreiheit als Sonderfall der Vereinigungsfreiheit gilt und daher beide gemeinsam in einem Verfassungsartikel geregelt sind532, haben die türkischen Verfassungsgeber diese Rechte bzw. Freiheiten bewusst als zwei verschiedene Grundrechte statuiert. Das Vereinigungsrecht stuften sie als klassisches Freiheitsrecht ein, während sie die Koalitionsfreiheit als soziales Grundrecht verstanden.533 Daher erscheint eine Rezeption der Bestimmung des deutschen Grundgesetzes unwahrscheinlich. Dies gilt umso mehr, als die Schranke in der türkischen Bestimmung inhaltlich nicht der Regelung des deutschen Grundgesetzes entspricht. Während der türkische Gesetzgeber „zum Schutz der öffentlichen Ordnung oder der allgemeinen Sitten“ die Vereinigungsfreiheit einschränken darf, statuiert das deutsche Grundgesetz keinen entsprechenden Gesetzesvorbehalt zur Einschränkung des Grundrechts, sondern verbietet bestimmte Vereinigungen.534 In der Begründung verweist die Verfassungskommission sowohl hinsichtlich der Gewährung dieses Grundrechts als auch hinsichtlich dessen Schranken auf „moderne Verfassungen“535. Nähere Hinweise auf bestimmte Rezeptionsvorbilder gibt es aber nicht. Im Ergebnis liegt der Schluss nahe, dass sich die türkischen Verfassungsgeber auch an dieser Stelle am allgemeinen Standard „westlicher Verfassungen“ orientierten, aber keine bestimmte Verfassungsbestimmung rezipierten. Auffallend ist, dass trotz des großen Umfangs ihres Grundrechtskatalogs die türkische Verfassung von 1961 kein Grundrecht auf Asyl für (politisch) Verfolgte, wie etwa in Art. 16a des deutschen Grundgesetzes, enthält. Die Entwürfe der Juristischen Fakultät der Universität Istanbul und der Fakultät für Politische Wissenschaften der Universität Ankara enthielten beide noch ein entsprechendes Asylrecht.536 Einzelne Stimmen in der Abgeordneten­ versammlung, wie der Abgeordnete Cevdet Aydın forderten ebenfalls die

532  Art. 9 Abs. 1 des deutschen Grundgesetzes: Alle Deutschen haben das Recht, Vereine und Gesellschaften zu bilden. Art. 9 Abs. 3 des deutschen Grundgesetzes: Das Recht, zur Wahrung und Förderung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen Vereinigungen zu bilden, ist für jedermann und für alle Berufe gewährleistet. Abreden, die dieses Recht einschränken oder zu behindern suchen, sind nichtig, hierauf gerichtete Maßnahmen sind rechtswidrig. 533  Protokolle der Abgeordnetenversammlung, Band 3, S. 229. 534  Art. 9 Abs. 2 des deutschen Grundgesetzes: Vereinigungen, deren Zwecke oder deren Tätigkeit den Strafgesetzen zuwiderlaufen oder die sich gegen die verfassungsmäßige Ordnung oder gegen den Gedanken der Völkerverständigung richten, sind verboten. 535  Begründung zum Entwurf der Verfassungskommission, S. 19. 536  Vgl. Artikel 28 Absatz 2 des Verfassungsentwurfs der Fakultät für Politische Wissenschaften der Universität Ankara.



III. Grundrechte163

Aufnahme des Asylrechts in den Grundrechtskatalog der Verfassung.537 Jedoch setzte sich bei der Abstimmung in der Abgeordnetenversammlung die Ansicht der Verfassungskommission durch, wonach Ausländern ein verfassungsrechtlich garantiertes Asylrecht wegen der „politischen und geographischen Gegebenheiten“538 des Landes nicht gewährt werden könne. Muammer Aksoy, Sprecher der Verfassungskommission, erklärte hierzu, dass die Verfassungskommission bei dieser Entscheidung insbesondere „berücksichtigt hat, mit wem […] [die Türkei] die Grenzen teilt“539 und er bat ausdrücklich, auf die Aufnahme dieses Grundrechts nicht zu bestehen. Nähere Ausführungen gab es hierzu nicht, aber der Hintergrund ist offensichtlich. Denn alle Nachbarstaaten der Türkei (Bulgarien, Griechenland, Syrien, Iran, Irak, Sowjetunion) wurden zu dieser Zeit autoritär bis totalitär regiert. Die Verfassungskommission befürchtete wohl eine hohe Zahl an politisch verfolgten und damit grundsätzlich asylberechtigten Menschen aus diesen Staaten und drängte daher die Abgeordnetenversammlung zum Verzicht auf die Gewährung eines solchen Rechts. 3. Soziale und wirtschaftliche Grundrechte und -pflichten Der Abschnitt über die sozialen und wirtschaftlichen Grundrechte und Grundpflichten beginnt mit dem Artikel über den Schutz der Familie. Gemäß Art. 35 Abs. 1 TürkVerf ist die Familie die „Grundlage der türkischen Gesellschaft“. Daher haben nach Art. 35 Abs. 2 TürkVerf der Staat und die anderen juristischen Personen des öffentlichen Rechts die „zum Schutze von Familie, Mutter und Kind erforderlichen Maßnahmen zu treffen und die notwendige Organisation zu schaffen“. Gemäß der Begründung der Verfassungskommission hat diese Bestimmung eine moralisch-ethische, aber auch explizit eine rechtliche Seite. Dabei ist sie sowohl als eine Direktive an den einfachen Gesetzgeber gerichtet, der durch die Verabschiedung entsprechender Gesetze die Umsetzung dieses Grundsatzes und die Gewährleistung des besonderen Schutzes sicherstellen soll, als auch an die Exekutive, die die Bestimmungen und Gesetze zum Schutze der Familie, der Mutter des Kindes in besonderer Weise beachten und damit einen ausreichenden Schutz tatsächlich erreichen soll.540 Die türkischen Verfassungsgeber haben die Regelung dieses Artikels bewusst allgemein gehalten. Dies sollte aber den einfachen Gesetzgeber und 537  Protokolle

der Abgeordnetenversammlung, Band 3, S. 63. der Abgeordnetenversammlung, Band 3, S. 63. 539  Protokolle der Abgeordnetenversammlung, Band 3, S. 63. 540  Begründung zum Entwurf der Verfassungskommission, S. 21. 538  Protokolle

164 E. Verfassung von 1961 unter Berücksichtigung von Rezeptionsvorgängen

die Exekutive nicht von der Gewährleistung eines umfassenden Schutzes entlasten oder diesen Schutz ins Ermessen der staatlichen Organe stellen. Denn in der Begründung der Verfassungskommission heißt es hierzu: „Der Schutz von Kindern, die dem Schutz von Mutter und Vater beraubt sind oder die von diesen in einer materiellen und geistigen Armut verlassen worden sind [d. h. verwahrlost sind] oder die unehelich sind, gehört zu den Aufgaben eines modernen Staates. In vielen Verfassungen gibt es zu diesem Thema detaillierte Bestimmungen. Weil eine solche detaillierte Beschreibung nicht notwendig ist, begnügt sich unsere Verfassung mit der Festsetzung des grundlegenden Prinzips und billigt die Festlegung der näheren Bestimmungen bezüglich des Schutzes durch Gesetze gemäß dieser Direktive.“541 In den Beratungen der Abgeordnetenversammlung verweist der Kommis­ sionssprecher Muammer Aksoy diesbezüglich explizit auf die deutsche und die italienische Verfassung: „Freunde, diese Punkte sind eine Thematik, die in den Verfassungen anderer Länder sehr ausführlich behandelt worden sind. Wir haben die kürzeste Formel gewählt. In der deutschen Verfassung und auch in der italienischen Verfassung wurde dies Absatz für Absatz behandelt. Für Kinder mit Mutter und Vater gibt es eine eigene Bestimmung, für verwahrloste Kinder eine eigene Bestimmung, für uneheliche Kinder eine eigene Bestimmung. […]. Wir haben nicht diesen Weg eingeschlagen, weil wir uns gedacht haben, dass Ihr [d. h. die Abgeordneten] den Vorwurf erheben würdet, dass unnötige Einzelheiten in der Verfassung geregelt werden. Ungeachtet dessen umfasst der Text des von uns behandelten Artikels den Schutz von bedürftigen Waisenkindern und unehelichen Kindern. Auch für Kinder, die Mutter und Vater haben, die aber von diesen nicht versorgt werden, […] ist dieser Schutz notwendig.“542

Es fällt auf, dass der Kommissionssprecher und die Begründung der Verfassungskommission diejenigen Schutzaufträge, die die deutsche543 und ita­ 541  Begründung

zum Entwurf der Verfassungskommission, S. 21. der Abgeordnetenversammlung, Band 3, S. 251. 543  Art. 6 Abs. 1 des deutschen Grundgesetzes: Ehe und Familie stehen unter dem besonderen Schutz der staatlichen Ordnung. Art. 6 Abs. 2 des deutschen Grundgesetzes: Pflege und Erziehung der Kinder sind das natürliche Recht der Eltern und die zuvörderst ihnen obliegende Pflicht. Über ihre Betätigung wacht die staatliche Gemeinschaft. Art. 6 Abs. 3 des deutschen Grundgesetzes: Gegen den Willen der Erziehungsberechtigten dürfen Kinder nur auf Grund eines Gesetzes von der Familie getrennt werden, wenn die Erziehungsberechtigten versagen oder wenn die Kinder aus anderen Gründen zu verwahrlosen drohen. Art. 6 Abs. 4 des deutschen Grundgesetzes: Jede Mutter hat den Anspruch auf den Schutz und die Fürsorge der Gemeinschaft. Art. 6 Abs. 5 des deutschen Grundgesetzes: Den unehelichen Kindern sind durch die Gesetzgebung die gleichen Bedingungen für ihre […] Entwicklung und ihre Stellung in der Gesellschaft zu schaffen wie den ehelichen Kindern. 542  Protokolle



III. Grundrechte165

lienische544 Verfassung im Gegensatz zu Art. 35 TürkVerf jeweils ausdrücklich benennen, auch von der türkischen Regelung umfasst wissen wollen. Dies bedeutet, dass sich die türkischen Verfassungsgeber inhaltlich an den Regelungen des deutschen Grundgesetzes und der italienischen Verfassung orientierten, in der Form jedoch einen anderen Weg beschritten, indem sie auf die Aufzählung der einzelnen Ausprägungen des Schutzes von Familie, Mutter und Kind verzichteten und stattdessen nur allgemein den Grundsatz festsetzten. Nach dem Willen der türkischen Verfassungsgeber entspricht der Regelungsgehalt dieses Artikels aber den entsprechenden Artikeln des deutschen Grundgesetzes und der italienischen Verfassung, sodass auch an dieser Stelle diesbezüglich von einer Rezeption aus diesen beiden Verfassungsordnungen gesprochen werden kann. Die sozialen und wirtschaftlichen Grundrechte umfassen auch das Eigentums- und Erbrecht. Gemäß Art. 36 Abs. 1 TürkVerf hat „jeder das Recht auf Eigentum und Erbe“. Nach Art. 36 Abs. 2 TürkVerf können diese Rechte „nur zum Schutze des Allgemeinwohls durch Gesetz eingeschränkt werden“. Jedoch darf der Gebrauch des Eigentums „nicht gegen das Allgemeinwohl verstoßen“ (Art. 36 Abs. 3 TürkVerf). Das Eigentums- und Erbrecht ist somit für jedermann, auch für Ausländer, verfassungsrechtlich als subjektiv-öffentliches Individualrecht garantiert. Jedoch gilt dieses Recht nicht schrankenlos im Sinne des Liberalismus des 19. Jahrhunderts, sondern es hat auch eine soziale Komponente, die in Abs. 2 als Möglichkeit der Beschränkung durch Gesetz zum Wohle der Allgemeinheit, sowie in Abs. 3 ihren Ausdruck findet.545 Diese beiden Absätze stellen Schranken des Eigentums- und Erbrechts dar, die durch den Sozialstaats­ charakter des Staates und der Verfassung bedingt sind. Dies wird in der Begründung der Verfassungskommission deutlich: „Diese Bestimmung [d. h. die Schranken des Art. 36 Abs. 2 und Abs. 3] ist die Frucht einer Tendenz, die seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts und insbesondere seit Anfang des 20. Jahrhunderts bis heute in den zivilisierten Ländern vorherrschend ist und heute als Allgemeingut verstanden wird. Das Eigentumsrecht 544  Art. 29 Abs. 1 der italienischen Verfassung: Die Republik erkennt die Rechte der Familie als einer natürlichen, auf die Ehe gegründeten Gemeinschaft an. Art. 30 Abs. 1 der italienischen Verfassung: Es ist die Pflicht und das Recht der Eltern, die Kinder, auch die außerhalb der Ehe geborenen, zu erhalten, auszubilden und zu erziehen. Art. 30 Abs. 2 der italienischen Verfassung: In Fällen der Unfähigkeit der Eltern sorgt das Gesetz dafür, dass die Aufgaben derselben erfüllt werden. Art. 30 Abs. 3 der italienischen Verfassung: Das Gesetz gewährleistet den außerehelichen Kindern jeden rechtlichen und sozialen Schutz, soweit dieser mit den Rechten der Mitglieder der ehelichen Familie vereinbar ist. 545  Hirsch, Verfassung der Türkischen Republik, S. 112.

166 E. Verfassung von 1961 unter Berücksichtigung von Rezeptionsvorgängen trägt nicht mehr den Charakter eines Rechts im Sinne des römischen Rechts, das vom Individuum ohne Rücksicht auf die Interessen der Gesellschaft […] genutzt werden kann, nicht mehr den Charakter einer grenzenlosen Freiheit. Das Eigentumsverständnis in Ländern, die zu den Führern der westlichen Zivilisation zählen […] ist auf die Art und Weise ausgeprägt, dass das Eigentum ein Recht ist, das gleichzeitig einen sozialen Charakter besitzt.“546

Der soeben zitierte Ausschnitt aus der Begründung der Verfassungskommission verweist zudem bezüglich des sozialen Charakters des Eigentumsund Erbrechts und der dadurch bedingten Schranken auf Verfassungen „westlicher“ Staaten. Hinweise, welche „westliche“ Staaten damit konkret gemeint sind, enthalten die dem Verfasser vorliegenden Quellen nicht. Aus den Protokollen der Abgeordnetenversammlung geht hervor, dass während der Debatten über diesen Artikel vornehmlich dessen Position in der Verfassung strittig gewesen ist. Einige Abgeordnete wollten diese Norm nicht, wie im Entwurf und schließlich auch in der endgültigen Fassung der Verfassung, im Abschnitt über die sozialen und wirtschaftlichen Grundrechte, sondern im Abschnitt über die Freiheits- und Gleichheitsgrundrechte verorten.547 Sie argumentierten, dass das Eigentumsrecht ein klassisches Freiheitsrecht sei und auch in der AEMR bei den anderen klassischen Freiheitsrechten aufgezählt wird und nicht im Rahmen der sozialen Grundrechte.548 In der Tat wird die Eigentumsfreiheit in der AEMR in Art. 17 zwischen dem Artikel bezüglich der Freiheit der Eheschließung (Art. 16) und den Artikeln betreffend der Reli­ gionsfreiheit (Art. 18) und der Meinungsfreiheit geführt (Art. 19). Die sich aber bei der Abstimmung durchsetzende Argumentation derjenigen, die diesen Artikel im Abschnitt über die sozialen Grundrechte verordnen wollten, folgte der bereits zitierten Begründung der Verfassungskommission und basierte darauf, dass das Eigentum in besonderem Maße einen sozialen Charakter habe. Die Eigentumsfreiheit sei nicht wie beispielsweise das Recht auf die Unverletzlichkeit der Wohnung oder die Meinungsfreiheit ein rein individuelles Recht.549 Zudem seien die inhaltlich und systematisch folgenden Artikel bezüglich der Enteignung und der Verstaatlichung von „vollkommen sozialem Charakter“550. In Anbetracht dieser systematischen Stellung dieses Artikels und der Betonung des sozialen Charakters der Eigentumsfreiheit, erscheint eine Vorbildfunktion der italienischen Verfassung wahrscheinlich. Denn anders als in der AEMR ist die Eigentumsfreiheit in der italienischen Verfassung unter dem 546  Begründung

zum Entwurf der Verfassungskommission, S. 22. der Abgeordnetenversammlung, Band 3, S. 252–253, 257. 548  Protokolle der Abgeordnetenversammlung, Band 3, S. 252. 549  Protokolle der Abgeordnetenversammlung, Band 3, S. 255. 550  Protokolle der Abgeordnetenversammlung, Band 3, S. 255. 547  Protokolle



III. Grundrechte167

Abschnitt „Wirtschaftliche Beziehungen“ eingeordnet, der dem Abschnitt „soziale und wirtschaftliche Grundrechte“ der türkischen Verfassung entspricht. Mit anderen Worten wird in der italienischen Verfassung genauso wie in der türkischen Verfassung die Eigentumsfreiheit unter den sozialen Grundrechten aufgezählt und nicht als klassisches Freiheitsrecht aufgefasst. Anders als in der türkischen Verfassung ist die italienische Verfassung jedoch diesbezüglich ausführlicher. Sie enthält zusätzlich zur türkischen Bestimmung insbesondere eine gesonderte Bestimmung zum Erbrecht und regelt die Möglichkeit der Enteignung auch unmittelbar in diesem Artikel und nicht, wie die türkische Verfassung, in einem gesonderten Artikel.551 Anhang der vorliegenden Quellen ist eine eindeutige Beantwortung dieser Frage nach dem Rezeptionsgegenstand nicht möglich. Bezüglich des Bodeneigentums beinhaltet die türkische Verfassung von 1961 ergänzende Regelungen in Artikel 37 TürkVerf.552 Dieser Artikel begründet keine subjektiv-öffentlichen Rechte, sondern hat die Bedeutung einer Richtlinie im Sinne eines Postulats bzw. einer Direktive.553 Die Verfassungskommission verfolgte mit dieser Bestimmung das Ziel, die Bewohner auf dem Land, die in den 1960ern noch größtenteils Bauern waren, zum Grundbesitz zu verhelfen. Denn ansonsten sei es laut der Begründung der Verfassungskommission unmöglich, Wohlstand zu generieren und den sozialen Frieden zu bewahren.554 In der Begründung verweist die Verfassungskommission zudem darauf, dass auch in anderen Ländern entsprechende Regelungen nicht nur einfachgesetzlich, sondern auf Verfassungsebene zu finden sind, ohne dies näher zu konkretisieren.555 Auch aus den sonstigen Quellen 551  Art. 42 der italienischen Verfassung: Das Eigentum ist öffentlich oder privat. Die wirtschaftlichen Güter gehören dem Staat, Körperschaften oder Einzelpersonen. Das Privateigentum wird durch Gesetz anerkannt und gewährleistet, welches die Arten des Erwerbes, seines Genusses und die Grenzen zu dem Zweck regelt, seine sozialen Aufgaben sicherzustellen und es allen zugänglich zu machen. Das Privateigentum kann in den durch Gesetz vorgesehenen Fällen und gegen Entschädigung aus Gründen des Allgemeinwohles enteignet werden. Das Gesetz bestimmt die Vorschriften und Grenzen der gesetzlichen und testamentarischen Erbfolge und die Rechte des Staates am Nachlass. 552  Art. 37 TürkVerf: Der Staat hat die erforderlichen Maßnahmen zu treffen, um die ertragreiche Bewirtschaftung des Bodens zu gewährleisten und Landwirten Boden zu verschaffen, die keinen oder nicht ausreichenden Boden besitzen. Das Gesetz kann zu diesen Zwecken den Umfang des Bodens abhängig von unterschiedlichen Gebieten und Arten der Landwirtschaft bestimmen. Der Staat hat den Landwirten den Erwerb von Bewirtschaftungsgeräten zu erleichtern. Die Bodenverteilung darf nicht zu einer Verkleinerung der Wälder oder zu einer Verminderung der Bodenschätze führen. 553  Hirsch, Verfassung der Türkischen Republik, S. 113. 554  Begründung zum Entwurf der Verfassungskommission, S. 22. 555  Begründung zum Entwurf der Verfassungskommission, S. 22.

168 E. Verfassung von 1961 unter Berücksichtigung von Rezeptionsvorgängen

ergeben sich bezüglich eines möglichen Vorbildes keine weiteren Hinweise. Jedoch ist auch an dieser Stelle eine Übernahme aus der italienischen Verfassung wahrscheinlich. Denn weder das deutsche Grundgesetz noch die französischen Verfassungen von 1946 und 1958 oder die griechische Verfassung von 1952 enthalten vergleichbare Regelungen. Auch die AEMR und die Europäische Sozialcharta umfassen diese Thematik nicht. Die italienische Verfassung statuiert hingegen in Art. 44 Abs. 1 eine vergleichbare Verfassungsnorm.556 Genauso wie die türkische Verfassung ermöglicht es die Bestimmung der italienischen Verfassung (und beauftragt den einfachen Gesetzgeber dazu), den Landwirten Boden zur eigenständigen Bewirtschaftung zu verschaffen. Beide Verfassungen verfolgen ausweislich der Verfassungstexte den gleichen Zweck. Die italienische Verfassung spricht von der „rationellen Bewirtschaftung des Bodens“ und die türkische Verfassung von der „ertragreichen Bewirtschaftung des Bodens“. Die italienische Verfassung spricht ferner von der Schaffung „gerechter soziale Verhältnisse“, während die türkische Verfassung davon spricht, „Landwirten Boden zu verschaffen, die keinen oder nicht ausreichenden Boden haben“. Beide Verfassungen meinen hierbei aber das Gleiche. Die türkische Verfassung ist an dieser Stelle lediglich etwas konkreter. Denn die Verfassungskommission erklärte in ihrer soeben dargelegten Begründung, dass diese Regelungen eben für den sozialen Frieden notwendig seien. Und die italienische Verfassung konkretisiert ihre Vorstellung von der Schaffung gerechter sozialer Verhältnisse am Ende des Art. 44 Abs. 1, indem sie dort von der Umwandlung des Großgrundbesitzes spricht und die Unterstützung von kleinem und mittlerem Grundbesitz vorschreibt, worunter gerade auch die Verschaffung von Boden an bodenlose Landwirte subsumiert werden kann. Den Verfassungsgebern in beiden Ländern ging es also in erster Linie darum, der Landbevölkerung zum Grundbesitz zu verhelfen. Eine weitere inhaltliche und sprachliche Ähnlichkeit zeigt sich an der Stelle, an der die türkische Verfassung davon spricht, dass „der Umfang des Bodens abhängig von unterschiedlichen Gebieten und Arten der Landwirtschaft bestimmt“ wird. Dies entspricht weitestgehend dem italienischen

556  Art. 44 Abs. 1 der italienischen Verfassung: Um die rationelle Bewirtschaftung des Bodens zu erreichen und um gerechte Verhältnisse zu schaffen, legt das Gesetz dem privaten Grundbesitz Pflichten und Schranken auf, setzt der Ausdehnung derselben je nach Region und landwirtschaftlichen Gebieten Grenzen, fördert und schreibt die Bodenverbesserung vor sowie die Umverwandlung des Grundbesitzes und die Wiederherstellung der Produktionseinheiten; es unterstützt den kleinen und mittleren Grundbesitz. Art. 44 Abs. 2 der italienischen Verfassung: Das Gesetz verfügt Maßnahmen zugunsten der Berggebiete.



III. Grundrechte169

Pendant, wonach der Ausdehnung von Grundbesitz je nach Region und landwirtschaftlichen Gebieten Grenzen zu setzen sind. In Anbetracht dieser inhaltlichen und sprachlichen Parallelen und aufgrund des Umstandes, dass die türkischen Verfassungsgeber die italienische Verfassung auch anderen Stellen als Rezeptionsgegenstand herangezogen haben, kann man von einem Vorbildcharakter des Art. 44 Abs. 1 der italienischen Verfassung für Art. 37 TürkVerf ausgehen. Art. 38 TürkVerf bestimmt eine weitere Beschränkung der Eigentumsfreiheit, namentlich die Enteignung. Gemäß Art. 38 Abs. 1 TürkVerf ist der Staat befugt, „sofern es das öffentliche Wohl erfordert, gegen Bezahlung des wirklichen Gegenwerts in bar, im Privateigentum stehende unbewegliche Sachen nach Maßgabe der gesetzlichen Prinzipien und Verfahren ganz oder teilweise zu enteignen oder diese mit Baulasten zu belasten“. Dieser Absatz entspricht laut der Begründung der Verfassungskommission inhaltlich der bisherigen Regelung des Art. 74 Abs. 1 der türkischen Verfassung von 1924.557 Art. 38 Abs. 2 TürkVerf schafft Sonderregelungen hinsichtlich der Enteignung, die in der türkischen Verfassung von 1924 nicht enthalten waren. Demnach wird bei Enteignungen, „die zu dem Zwecke erfolgt sind, den Landwirten Boden zu verschaffen, Wälder zu verstaatlichen, neue Wälder anzulegen und Siedlungsprojekte umzusetzen“, die Höhe der Entschädigung für den zu enteignenden Boden durch Gesetz bestimmt. In den Fällen, in denen das Gesetz die Zahlung in Raten vorsieht, darf die Tilgungszeit zehn Jahre nicht überschreiten und die Raten sind in jeweils gleicher Höhe zu bezahlen, wobei sie den gesetzlich vorgesehenen Zinssatz beinhalten müssen. Dabei setzt Art. 38 Abs. 3 TürkVerf einen Rahmen für die gesetzliche Bestimmung der Höhe der Entschädigung für Enteignungen von Landwirten, indem es festlegt, dass „auf alle Fälle der Teil des Preises des enteigneten Bodens, der gesetzlich bestimmt wird und für die Existenz des unmittelbar den Boden bewirtschaftenden Landwirts nach Maßstäben der Billigkeit notwendig ist, bar zu zahlen, genauso wie der Preis des enteigneten Bodens von Kleinbauern“. Der dritte Absatz wurde erst während der Beratungen in der Abgeordnetenversammlung auf Druck einiger Abgeordneter eingefügt, die die Enteignungsmöglichkeiten des Staates begrenzen wollten. Der in Art. 38 Abs. 2 TürkVerf aufgezählte Zweck der Landverschaffung für Landwirte ist eine unmittelbare Folge der entsprechenden Direktive aus Art. 37 TürkVerf. Art. 38 Abs. 2 TürkVerf schuf damit die verfassungsrechtlichen Grundlagen zur Erfüllung der Richtlinie aus Art. 37 TürkVerf. Gemäß der Begründung der Verfassungskommission stand diesbezüglich die indische Verfassung Pate: 557  Begründung

zum Entwurf der Verfassungskommission, S. 22.

170 E. Verfassung von 1961 unter Berücksichtigung von Rezeptionsvorgängen „Es kann kein Zweifel daran bestehen, dass diese Bestimmung, für die die indische Verfassung, welche die gleichen Bedürfnisse [wie die Türkei] hat und ihre Entwicklung in Übereinstimmung mit den demokratischen Prinzipien vollzieht, die Inspirationsquelle darstellte, den Bedürfnissen unseres Landes vollends ent­ spricht“558

Die indische Verfassung enthält in Art. 31 Regelungen zur Enteignung. Wie die türkische Verfassung sieht auch sie die Möglichkeit der Ratenzahlung bei der Entschädigung von Enteignungen vor, sofern dies auf gesetz­ licher Grundlage geschieht und das öffentliche Wohl es erfordert. Art. 39 TürkVerf betrifft die Verstaatlichung von Privatunternehmen. Demnach können private Unternehmen, „die öffentliche Aufgaben wahrnehmen, unter der Bedingung der Zahlung des wirklichen Gegenwerts in der gesetzlich bestimmten Weise verstaatlicht werden, wenn es das öffentliche Wohl erfordert. Wenn das Gesetz die Zahlung in Raten vorsieht, darf die Tilgungszeit zehn Jahre nicht überschreiten und die Raten sind in gleicher Höhe zu bezahlen; die Raten haben den gesetzlich vorgesehenen Zinssatz zu beinhalten.“ Art. 39 TürkVerf war wie Art. 38 TürkVerf Gegenstand langer und hitziger Diskussionen in der Abgeordnetenversammlung. Bei beiden Artikeln stand die Auseinandersetzung um die Frage im Vordergrund, wie die wirtschaft­ liche Entwicklung der Türkei schneller und umfassender erfolgen kann und wie dabei das Verhältnis zwischen staatlichen und privaten Investitionen sein soll. Abgeordnete, die die besondere Bedeutung von privaten Investoren für die wirtschaftliche Entwicklung betonten, trugen die Sorge, dass die Verstaatlichung bzw. Enteignung insbesondere gegen eine Entschädigung lediglich auf Raten hinderlich sein könnte für dringend notwendige Investitionen, da insbesondere ausländische Investoren abgeschreckt werden könnten.559 Beispielsweise betonte der Abgeordnete Fethi Çelikbaş: „Die Türkei befindet sich in wirtschaftlicher Entwicklung und ist ein Land, das einer raschen Entwicklung bedarf. Unsere Arbeitsplätze sind wenig, die Arbeitslosigkeit ist hoch. […] In einem solchen Land muss eine Wirtschaftspolitik betrieben werden, die Investitionen fördert. Unsere Kommission hat die Thematik der Investitionen mehr dem Staat aufgebürdet. Aus diesem Grund hat sie privaten Investitionen keine Aufmerksamkeit geschenkt. […] Ich finde es unangebracht, in die Verfassung der Türkei […] eine Verfassungsnorm aufzunehmen, die private Investitionen abschreckt.“560

Der Abgeordnete Ilhami Soysal schlug daher sogar vor, Art. 39 TürkVerf in sein Gegenteil zu verkehren und dahingehend zu ändern, dass eine Ver558  Begründung 559  Protokolle

zum Entwurf der Verfassungskommission, S. 22. der Abgeordnetenversammlung, Band  4, S.  247–267; Band  4,

S. 457–460. 560  Protokolle der Abgeordnetenversammlung, Band 4, S. 460.



III. Grundrechte171

staatlichung auch gegen eine Entschädigung und auch aus Gründen des Allgemeinwohls ausgeschlossen ist.561 Die Sprecher der Verfassungskommission und andere Abgeordnete wiesen die Anschuldigungen von sich, mit dieser Verfassungsbestimmung private Investoren abzuschrecken. Dabei führten sie zwei Argumente ins Feld. Sie stellten zunächst die Regelungen der Enteignung und Verstaatlichung als Mittel staatlichen Handelns dar, die mit dem kemalistischen Prinzip des Etatismus korrespondieren. Staatliche Investitionen und staatliche Eingriffe, die nicht per se den Grundsatz der Marktwirtschaft abschaffen, sind demnach notwendig für die wirtschaftliche Entwicklung der Türkei. Der Abgeordnete Ömer Sami Çoşar verwies diesbezüglich auf Mustafa Kemal Atatürk und erklärte während der Beratungen in der Abgeordnetenversammlung: „Bei manchen Personen, die sich vor dem Begriff ‚sozial‘ schaudern, kommt […] das Schaudern vor dem Konzept des Etatismus hinzu. […] Der türkische Etatismus war zu keiner Zeit ein Etatismus, der privaten Investitionen gegenüber feindlich gesonnen und totalitär war. Der türkische Etatismus entspringt aus der nackten Wahrheit. Es bedarf einer raschen Kompensation der letzten Jahre [bezogen auf die Politik der gestürzten DP-Regierung]. Und zwar unter Anpassung an die Entwicklungen der Welt. Erreichen wir dies, in dem wir uns auf die geringen Ressourcen der Individuen verlassen? Welches rückständige Land hat durch private Investitionen Wohlstand erlangt? […] Alle diese Entwicklungen haben wir vor Augen und bestehen immer noch auf private Investitionen und schaudern vor dem Etatismus. Lasst uns nicht in das 19. Jahrhundert zurückkehren, Freunde.“562

Zudem verwies Turan Güneş als Sprecher der Verfassungskommission auf die Regelungen in Italien und Deutschland. Er bezog sich dabei nicht nur auf die verfassungsrechtlichen Bestimmungen dieser Staaten, sondern auch auf die einfachgesetzliche Rechtslage, die auch eine Enteignung und Verstaatlichung auf Raten ermöglicht. Zum Beispiel verwies er auf das deutsche Landbeschaffungsgesetz vom 23. Februar 1957.563 Er argumentierte in der Folge, dass die türkische Verfassung lediglich die gleiche Rechtslage wie in Italien und Deutschland schaffe und es daher keinen Grund zur Annahme gäbe, ausländische private Investoren könnten abgeschreckt werden: „Nun liebe Freunde, es wurde gesagt, dass das private Kapital abgeschreckt werden könnte. […] Wir sagen Folgendes: Wieso sollte das ausländische Kapital, in dessen eigenen Land eine Enteignung [gegen eine Entschädigung] auf Raten Rechtslage ist und es trotzdem nicht davor zurückschreckt, dort zu investieren, hier davor zurückschrecken? Ich denke, dass das ausländische Kapital keinen Grund haben sollte, wegen diesem Artikel beunruhigt zu sein.“564 561  Protokolle

der Abgeordnetenversammlung, der Abgeordnetenversammlung, 563  Protokolle der Abgeordnetenversammlung, 564  Protokolle der Abgeordnetenversammlung, 562  Protokolle

Band 4, Band 4, Band 4, Band 4,

S. 466. S. 262. S. 265. S. 265.

172 E. Verfassung von 1961 unter Berücksichtigung von Rezeptionsvorgängen

Damit zeigt sich, dass die Verfassungskommission bei der Frage der Enteignung und Verstaatlichung die Rechtslage in Italien und Deutschland studierte und dabei nicht nur die Verfassungslage, sondern auch deren Umsetzung und einfachgesetzliche Ausformung im Blick hatte. Die einfachgesetzlichen Regelungen in Italien und Deutschland fungierten damit als Vorbilder für die türkischen verfassungsrechtlichen Bestimmungen. Art. 40 TürkVerf hat die Arbeits- und Vertragsfreiheit zum Gegenstand: „Jeder besitzt die Freiheit, in einem bestimmten Bereich zu arbeiten und Verträge abzuschließen. Die Gründung von Privatinitiativen [im Sinne von Privatunternehmen] ist frei“ (Art. 40 Abs. 1 TürkVerf). Art. 40 Abs. 2 TürkVerf sieht die Möglichkeit der Begrenzung dieser Freiheiten durch Gesetz nur zu Zwecken des Allgemeinwohls vor. Gemäß Art. 40 Abs. 3 TürkVerf hat der Staat „Maßnahmen zu treffen, damit die privaten Initiativen [d. h. Privatunternehmen] den nationalen Wirtschaftserfordernissen und den sozialen Zielen entsprechend geführt werden, sowie in Sicherheit und Stetigkeit arbeiten“. Art. 40 Abs. 3 TürkVerf ist dabei eine Konkretisierung des Sozialstaatsgedankens und bildet die verfassungsrechtliche Grundlage für staatliche, auch planwirtschaftliche Eingriffe in die private Wirtschaft.565 Damit ist diese Bestimmung auch ein Ausdruck des kemalistischen Prinzips des Etatismus. Die Regelung ermöglicht die vom Etatismus geforderte Steuerung, Leitung und Koordinierung der Wirtschaft durch den Staat, bei grundsätz­ licher Anerkennung von Privateigentum und von Privatinvestitionen.566 Die dem Etatismus zugrundeliegende Überzeugung, wonach der wirtschaftliche Abstand der Türkei zum „Westen“ nur durch eine staatlich gelenkte Wirtschaftspolitik geschlossen werde könne, zeigt sich auch in der Begründung der Verfassungskommission zu Art. 40 Abs. 3 TürkVerf: „In Gesellschaften wie die unseres Landes, die wirtschaftlich wenig entwickelt sind und die Lücke im Wege einer Wirtschaft nach Plan schließen müssen, ist es eine Notwendigkeit, diese Bestimmung als ein Prinzip der Verfassung zu prokla­ mieren“.567 Art. 40 Abs. 1 S. 1 TürkVerf stellt ausweislich der Begründung der Verfassungskommission eine Übernahme aus Art. 79 der türkischen Verfassung von 1924 dar.568 Der Gesetzesvorbehalt des Art. 40 Abs. 2 TürkVerf war ebenfalls in Art. 79 der türkischen Verfassung von 1924 enthalten, dort jedoch ohne die in Art. 40 Abs. 2 TürkVerf explizit erwähnte Schranken-Schranke des Allgemeinwohls. Insofern wurden die Möglichkeiten der Einschränkung des Grundrechts durch den einfachen Gesetzgeber konkretisiert und damit be565  Hirsch,

Verfassung der Türkischen Republik, S. 115–116. S.  58 ff. 567  Begründung zum Entwurf der Verfassungskommission, S. 23. 568  Begründung zum Entwurf der Verfassungskommission, S. 23. 566  Siehe



III. Grundrechte173

grenzt. Art. 40 Abs. 1 S. 1 und Abs. 2 TürkVerf sind daher keine unmittelbare Übernahme „westlicher“ Verfassungsnormen, sondern eine Fortentwicklung der Bestimmungen der türkischen Verfassung von 1924. Die Verfassungskommission verweist in ihrer Begründung darauf, dass die Bestimmung des Absatzes 3 in „modernen Verfassungen“ zu finden ist.569 Nähere Angaben macht die Verfassungskommission nicht und auch aus den sonstigen Quellen lassen sich keine Rückschlüsse diesbezüglich ziehen. Jedoch sprechen zwei Faktoren für eine Vorbildfunktion der italienischen Verfassung für Art. 40 Abs. 1 S. 2 und Abs. 3 TürkVerf. Zunächst einmal ist in Art. 42 der italienischen Verfassung eine inhaltlich und sprachlich ähnliche Regelung enthalten.570 Zudem war auch Italien in der Mitte des 20. Jahrhunderts ähnlich wie die Türkei wirtschaftlich wenig entwickelt und hatte damit vergleichbare Bedürfnisse nach rascher Entwicklung. Daher und auch aufgrund der Tatsache, dass systematisch und inhaltlich die italienische Verfassung vielfach Rezeptionsgegenstand für die türkischen Verfassungsgeber gewesen ist, kann man davon ausgehen, dass auch an dieser Stelle die italienische Verfassung die „moderne“ Verfassung ist, von der in der Begründung die Rede ist. Art. 41 TürkVerf trifft eine Grundsatzentscheidung für den gesamten Abschnitt der sozialen und wirtschaftlichen Grundrechte. Gemäß Art. 41 Abs. 1 TürkVerf ist „das wirtschaftliche und soziale Leben entsprechend der Gerechtigkeit, dem Grundsatz der Vollbeschäftigung und dem Ziel, jedem einen Lebensstandard, der der Würde des Menschen geziemt, zu gewährleisten“. Art. 41 Abs. 2 TürkVerf folgert aus Abs. 1, dass der Staat die Aufgabe hat, „auf demokratischem Wege die wirtschaftliche, soziale und kulturelle Entwicklung zu verwirklichen; zu diesem Zweck die nationalen Ersparnisse zu steigern, die Investitionen entsprechend der Prioritäten, die vom Wohl der Gesellschaft bedingt sind, zu steuern und Entwicklungspläne aufzustellen“. Ausweislich der Begründung der Verfassungskommission hat dieser Verfassungsartikel „die Natur eines Hauptartikels, welcher die Zwecke, denen die Regelungen der in […] diesem Abschnitt befindlichen Artikel dienen, und die Prinzipien, die diese Artikel bestimmen, aufzeigt.“571 Sie ist also ein Postulat und eine Direktive für staatliche Organe und auch eine Grundwertentscheidung.572 Zudem stellt sie, den Aussagen der Kommissionsmitglieder 569  Begründung

zum Entwurf der Verfassungskommission, S. 23. der italienischen Verfassung: Die Privatinitiative in der Wirtschaft ist frei. […] Das Gesetz legt die Wirtschaftsprogramme und geeignete Kontrollen fest, damit die öffentliche und private Wirtschaftstätigkeit nach dem Allgemeinwohl ausgerichtet und abgestimmt werden kann. 571  Begründung zum Entwurf der Verfassungskommission, S. 23. 572  Hirsch, Verfassung der Türkischen Republik, S. 116. 570  Art. 41

174 E. Verfassung von 1961 unter Berücksichtigung von Rezeptionsvorgängen

in der Abgeordnetenversammlung zufolge573, eine Ergänzung und Konkretisierung des Sozialstaatsprinzips aus Art. 2 TürkVerf dar.574 Einige Abgeordnete kritisierten während der Debatten in der Abgeordnetenversammlung diesen Artikel als einerseits in der Sache zu weitgehend und andererseits im Einzelnen als zu ungenau. Sie beklagten daher, dass Regierungen diesen Artikel für ihre jeweiligen politisch-ideologischen Zwecke ausnutzen könnten.575 Aus der gegen diese Kritik gerichteten Erwiderung der Sprecher der Verfassungskommission lässt sich die Vorbildfunktion des deutschen Grundgesetzes herleiten: „Die Ordnung der Wirtschaft des Sozialstaates geschieht innerhalb des Rahmens der sozialen Geisteshaltung. [Aber] welcher Sozialstaat? Ein freiheitlicher, demokratischer, laizistischer Staat, der die Sozialstaatsordnung im westlichen Sinne annimmt. Wir haben mit dieser Verfassungsnorm eine Regelung hervorgebracht, die dem Geist der Verfassung des deutschen Wirtschaftslebens [Hervorhebung durch den Verfasser] entspricht. Ja, in der Adenauer Verfassung befinden sich diese Regelungen. Dieser Position entsprechend, sagte ein westlicher Wissenschaftler, dass der Sozialstaat in besonderer Weise ein System ist, in dem die liberale Wirtschaftsordnung mit der Planwirtschaft vermischt wird. […] Wir haben einen Art. [41] aufgenommen, der von dieser Wirtschaftsordnung spricht.“576

Die türkischen Verfassungsgeber hatten bei der Ausgestaltung des Sozialstaatsprinzips durch Art. 41 TürkVerf also Deutschland zum Vorbild. Nur finden sich im deutschen Grundgesetz keinen entsprechenden Regelungen. Das deutsche Grundgesetz legt das Sozialstaatsprinzip zwar in Art. 20 Abs. 1 fest, aber macht dem Gesetzgeber diesbezüglich keine näheren Vorgaben, etwa wie in Art. 41 TürkVerf. Wenn die Kommissionssprecher also sagen, dass diese Bestimmungen ihren Ursprung in der „Adenauer Verfassung“ haben, dann meinen sie damit nicht, dass diese explizit im deutschen Grund­ gesetz aufgezählt sind. Vielmehr bedeutet dies, dass die türkischen Verfassungsgeber in dieser Frage das deutsche Grundgesetz, aber vor allem die auf dem Boden des Grundgesetzes aufbauende deutsche Wirtschaftsordnung und die in diesem Rahmen stattfindende Wirtschaftspolitik der deutschen Regierung übernehmen wollten. Mit anderen Worten wollten sie die verfassungsrechtliche Grundlage schaffen, um die Soziale Marktwirtschaft, also das deutsche Wirtschaftsmodell mit freiem Markt und aktiver Sozialpolitik, mit freiem Unternehmertum und sozialem Ausgleich, in der Türkei zu etablieren. Dies ist mit dem „Geist der Verfassung des deutschen Wirtschaftslebens“ gemeint. 573  Protokolle

der Abgeordnetenversammlung, Band 3, S. 263–264. Ergebnis so auch Hirsch, Verfassung der Türkischen Republik, S. 116. 575  Protokolle der Abgeordnetenversammlung, Band 3, S. 259–262. 576  Protokolle der Abgeordnetenversammlung, Band 3, S. 263. 574  Im



III. Grundrechte175

Dies ist wenig überraschend, wenn man bedenkt, dass Deutschland ab den 1950ern einen rasanten wirtschaftlichen Aufstieg, das sogenannte Wirtschaftswunder erlebte, der zur Zeit der Ausarbeitung der türkischen Verfassung 1960/1961 noch andauerte und bereits sichtbare Erfolge in Form eines immer größeren Wohlstandes in weiten Teilen der Bevölkerung aufweisen konnte. Dies verblieb den türkischen Verfassungsgebern natürlich nicht verborgen. Sie versuchten mit den Bestimmungen der Verfassung, allen voran mit Art. 41 TürkVerf, den Grundstein für eine Soziale Marktwirtschaft nach deutschem Muster zu legen. Durch die Vorgabe der Erfolge der deutschen Wirtschaftsordnung, wie der Vollbeschäftigung und dem menschenwürdigen Lebensstandard, sollten die späteren türkischen Regierungen und Gesetz­ geber dazu angehalten werden, dem Beispiel Deutschlands zu folgen. Die türkische Bestimmung ist damit das Ergebnis einer Rezeption, bei der versucht wurde, in der türkischen Verfassungsnorm dem Grundsatz des Sozialstaates im deutschen Grundgesetz sowie der Umsetzung und Fortsetzung dieses Grundsatzes in der deutschen Wirtschaftspolitik, d. h. der Sozialen Marktwirtschaft, Ausdruck zu verleihen. Gemäß Art. 42 Abs. 1 TürkVerf ist Arbeiten „für jedermann Recht und Aufgabe“. Dies begründet jedoch kein subjektiv-öffentliches Recht der einzelnen Bürger gegen den Staat, sondern stellt eine Direktive für den Staat dar, die in Art. 42 Abs. 2 TürkVerf konkretisiert wurde.577 Demnach hat nämlich der Staat mit sozialen, wirtschaftlichen und finanziellen Maßnahmen die Arbeitenden zu schützen und die Arbeitstätigkeit zu unterstützen. Zudem muss der Staat Maßnahmen zur Verhinderung von Arbeitslosigkeit ergreifen. Auch bedeutet die in Abs. 1 enthaltene Bezeichnung der Arbeit als Aufgabe der Bürger keine Rechtspflicht, sondern sie stellt lediglich eine moralische Aufforderung dar. In der Begründung heißt es diesbezüglich: „Auf der anderen Seite wird durch die Akzentuierung der Arbeit als eine Aufgabe jedes Einzelnen auf eine wichtige Pflicht des Bürgers gegenüber der Gesellschaft hingewiesen. Die Bestimmung hat vor allem einen moralischen Charakter.“578 Zudem würde eine entsprechende Rechtspflicht im Widerspruch zu Art. 42 Abs. 3 TürkVerf stehen, wonach Zwangsarbeit verboten ist. Art. 42 Abs. 4 TürkVerf hingegen sieht vor, dass „in den Bereichen, in denen die Bedürfnisse des Landes es erfordern, Form und Bedingungen für körperliche oder geistige Arbeit als staatsbürgerliche Pflicht nach demokratischen Grundsätzen durch Gesetz zu regeln sind“. Damit ermöglicht diese Norm dem Gesetzgeber neben der militärischen Dienstpflicht die Bürger im Rahmen der Grenzen des Art. 42 TürkVerf auch zivile Dienstpflichten aufzuerlegen. Die Verfassungskommission begründet dies mit der Notwendigkeit 577  Hirsch,

Verfassung der Türkischen Republik, S. 116. zum Entwurf der Verfassungskommission, S. 23.

578  Begründung

176 E. Verfassung von 1961 unter Berücksichtigung von Rezeptionsvorgängen

einer schnellen Entwicklung der Türkei und bringt für diese zivilen Dienstpflichten auch ein Beispiel: „Es ist die Folge der Notwendigkeiten des gesellschaftlichen Lebens, dass […] manche Verpflichtungen, die von ihrer Natur her als normale Bürgerpflicht zählen (d. h. die ein Individuum mit […] einem Verantwortungsgefühl nicht als erzwungene Arbeit auffassen würde), außerhalb des Geltungsbereichs dieser Bestimmung [des Verbotes der Zwangsarbeit] verbleiben. Aus diesem Grund kann nicht nur die militärische Dienstpflicht den Staatsbürgern auferlegt werden, sondern, soweit es notwendig ist, können [zum Beispiel] Jugendliche für eine kurze Zeit zum Dienst in den Dörfern […] herangezogen werden. Insbesondere die Bedürfnisse unseres Landes und die Notwendigkeit einer raschen kulturellen und sozialen Entwicklung rechtfertigen so eine Ausnahme.“579

Während es für Art. 42 Abs. 1 und Abs. 2 TürkVerf keine Hinweise für die Übernahme bestimmter „westlicher“ Verfassungsnormen gibt, ist bezüglich Art. 42 Abs. 3 und Abs. 4 TürkVerf von der Vorbildfunktion des Art. 4 Nr. 2 und Nr. 3 der Europäischen Menschenrechtskonvention auszugehen. In ihrer Begründung verwies die Verfassungskommission nämlich auf die Europäische Menschenrechtscharta, sowohl hinsichtlich des Verbotes der Zwangs­ arbeit als auch hinsichtlich der engen, aber doch möglichen Ausnahmen, die in Art. 42 Abs. 4 TürkVerf ihren Ausdruck gefunden haben.580 Die Regelungen der Europäischen Menschenrechtskonvention sind auch inhaltlich und sprachlich den türkischen Bestimmungen ähnlich.581 Art. 43 TürkVerf erklärt, dass niemand mit einer Arbeit beschäftigt werden darf, die nicht seinem Alter, seiner Kraft oder seinem Geschlecht entspricht (Abs. 1). Zudem bestimmt die Verfassungsnorm, dass Kinder, Jugendliche und Frauen in Bezug auf die Arbeitsbedingungen besonders geschützt sind (Abs. 2). Die Verfassungskommission verwies darauf, dass die verfassungsrechtliche Verankerung dieser Bestimmung gerade in einem Land wie der Türkei besonders wichtig ist, da hier die Regelungen des Arbeitsrechts nicht hinreichend beachtet werden. Daher sei diese Verfassungsnorm besonders bedeutsam und stelle eine „aufklärende Direktive“582 für den Gesetzgeber dar. In der Begründung der Verfassungskommission wird dabei explizit die AEMR als Quelle für diese Bestimmungen genannt, ohne jedoch bestimmte Artikel der AEMR zu benennen.583 Ein Vergleich mit der AEMR ergibt, dass 579  Begründung

zum Entwurf der Verfassungskommission, S. 24. zum Entwurf der Verfassungskommission, S. 23–24. 581  Art. 4 Nr. 2 der EMRK: Niemand darf gezwungen werden, Zwangs- oder Pflicht­arbeit zu verrichten. Art. 4 Nr. 3 d der EMRK: Nicht als Zwangs- oder Pflichtarbeit im Sinne dieses Artikels gilt eine Arbeit oder Dienstleistung, die zu den üblichen Bürgerpflichten gehört. 582  Begründung zum Entwurf der Verfassungskommission, S. 24. 583  Begründung zum Entwurf der Verfassungskommission, S. 24. 580  Begründung



III. Grundrechte177

Art. 23 Nr. 1 und Art. 25 Nr. 2 der AEMR die entsprechenden Vorbilder gewesen sein müssen. Denn Art. 23 Nr. 1 der AEMR beinhaltet unter anderem das Recht auf „gerechte und befriedigende Arbeitsbedingungen“. Art. 25 Nr. 2 der AEMR begründet einen Anspruch von Müttern und Kindern auf besondere Fürsorge und Unterstützung. Der Kommissionssprecher Muammer Aksoy erklärte in der Abgeordnetenversammlung jedoch, dass diese Verfassungsnorm die Bestimmungen aus den Art. 3, 7, 8 und 17 der Europäischen Sozialcharta584 enthält.585 Daher ist davon auszugehen, dass die türkischen Verfassungsgeber diesbezüglich sowohl die AEMR als auch die Europäische Sozialcharta, die inhaltlich vergleichbare Bestimmungen enthalten, als Vorbild hatten. Die Bestimmungen der Europäischen Sozialcharta sind im Vergleich zur türkischen Verfassungsnorm jedoch ausführlicher. Die türkischen Verfassungsgeber entschieden sich für eine abstraktere Formulierung der Rechte und überließen die Einzelheiten damit dem Gesetzgeber. Art. 44 und 45 TürkVerf behandeln das Recht auf Arbeitsruhe bzw. das Recht auf einen gerechten Arbeitslohn. Demnach hat jeder Arbeitende das Recht auf Arbeitsruhe (Art. 44 Abs. 1 TürkVerf). Das Recht auf bezahlte Wochenenden und Feiertage, sowie auf bezahlten Jahresurlaub ist gesetzlich zu regeln (Art. 44 Abs. 2 TürkVerf). Zudem muss der Staat die notwendigen Maßnahmen treffen, damit die Arbeitenden einen gerechten Lohn erhalten, der ihrer geleisteten Arbeit entspricht und ihnen einen menschenwürdigen Lebensstandard ermöglicht (Art. 45 TürkVerf). Die Verfassungskommission erklärte in ihrer Begründung ausdrücklich, dass diese Bestimmungen aus der AEMR stammen.586 Die thematisch hierzu passenden Regelungen der AEMR (Art. 23 Nr. 3, 24 und 25) entsprechen denn auch inhaltlich den Bestimmungen in der türkischen Verfassung. Die Unterschiede sind vornehmlich sprachlicher Natur. Art. 24 der AEMR spricht vom „Recht auf Erholung und Freizeit“ und einem „regelmäßigen bezahlten Urlaub“, während die türkische Bestimmung von einem „Recht auf Arbeitsruhe“ sowie von „bezahlten Wochenenden und Feiertagen“ und „bezahltem Jahresurlaub“ spricht. Art. 23 Nr. 3 der AEMR verlangt eine „gerechte und befriedigende Entlohnung, die 584  Teil I Nr. 3: Alle Arbeitnehmer haben das Recht auf sichere und gesunde Arbeitsbedingungen; Teil I Nr. 7: Kinder und Jugendliche haben das Recht auf besonderen Schutz gegen körperliche und sittliche Gefahren, denen sie ausgesetzt sind; Teil I Nr. 8: Arbeitnehmerinnen haben im Falle der Mutterschaft und in anderen geeigneten Fällen das Recht auf besonderen Schutz bei der Arbeit; Teil I Nr. 17: Mütter und Kinder haben, unabhängig vom Bestehen einer Ehe und von familienrechtlichen Beziehungen, das Recht auf angemessenen sozialen und wirtschaftlichen Schutz. 585  Protokolle der Abgeordnetenversammlung, Band 3, S. 279. 586  Begründung zum Entwurf der Verfassungskommission, S. 24.

178 E. Verfassung von 1961 unter Berücksichtigung von Rezeptionsvorgängen

[…] eine der menschlichen Würde entsprechende Existenz sichert“. Art. 25 der AEMR zählt zusätzlich ausdrücklich auf, was zum Lebensstandard gehört, auf denen jeder ein Recht hat (Gewährleistung von Nahrung und Kleidung etc.). Die türkischen Verfassungsgeber hingegen entschieden sich gegen eine einzelne Aufzählung und fassten diese Punkte stattdessen unter dem Begriff des „menschenwürdigen“ Standards zusammen. Bei den sozialen und wirtschaftlichen Grundrechten ordneten die türkischen Verfassungsgeber auch das Recht zur Gründung von Gewerkschaften und Arbeitgeberverbänden ein. Demnach besitzen Arbeitnehmer und Arbeitgeber das Recht, ohne vorherige Erlaubnis Verbände zu gründen und diesen aus freien Stücken beizutreten oder aus diesen auszutreten (Koalitionsfreiheit; Art. 46 Abs. 1 TürkVerf). Dabei dürfen die Satzungen dieser Verbände, sowie ihre Leitung und Geschäftsführung nicht gegen demokratische Grundsätze verstoßen (Art. 46 Abs. 3 TürkVerf). Die Frage nach Geltung und Umfang der entsprechenden Rechte für Beamte sind dem Gesetzgeber anheimgestellt (Art. 46 Abs. 2 TürkVerf). Bei der Abfassung dieser Verfassungsnorm hatten die türkischen Verfassungsgeber erneut die AEMR und die Europäische Sozialcharta als Vorbilder. Dies ergibt sich zunächst aus der Begründung der Verfassungskommission, die auch an dieser Stelle auf die AEMR verweist.587 Die AEMR beinhaltet jedoch lediglich das Recht für jedermann, „zum Schutze seiner Interessen Gewerkschaften zu bilden und solchen beizu­ treten“588. Die in Art. 46 Abs. 2 und 3 enthaltenen einschränkenden Bestimmungen enthält die AEMR nicht. Dies war auch Anlass für Kritik seitens einiger Abgeordnete während der Verhandlungen in der Abgeordnetenversammlung, die in den türkischen Bestimmungen einen Verstoß gegen die AEMR sahen.589 Die Verfassungskommission verteidigte die Regelungen aber damit, dass in der Europäischen Sozialcharta die Möglichkeit der Einschränkung dieses Rechts für bestimmte Beamte enthalten sei.590 Daher kann man den Schluss ziehen, dass die türkischen Verfassungsgeber das grundsätzliche Recht auf eine Gewerkschaftsmitgliedschaft aus der AEMR übernommen haben, sich aber bei der konkreten Ausgestaltung dieses Rechts in erster Linie an der Europäischen Sozialcharta orientierten. Korrespondierend mit dem Grundrecht aus Art. 46 TürkVerf beinhaltet die türkische Verfassung in Art. 47 das Recht auf Abschluss von Tarifverträgen und das Streikreicht. Demnach besitzen die Arbeitnehmer das Recht zu Tarifverträgen und zum Streik, „um ihre wirtschaftliche und soziale Lage in ihren 587  Begründung

zum Entwurf der Verfassungskommission, S. 24. Nr. 4 der AEMR. 589  Protokolle der Abgeordnetenversammlung, Band 3, S. 288. 590  Protokolle der Abgeordnetenversammlung, Band 3, S. 291; vgl. Art. 5 der Europäischen Sozialcharta. 588  Art. 23



III. Grundrechte179

Beziehungen mit den Arbeitgebern zu schützen oder zu verbessern“ (Art. 47 Abs. 1 TürkVerf). Dabei sind die Ausübung des Streikrechts, die dazugehörigen Ausnahmen sowie die Rechte der Arbeitgeber vom Gesetzgeber einfachgesetzlich zu regeln (Art. 47 Abs. 2 TürkVerf). Aus der Formulierung des ersten Absatzes, die eine bestimmte Zweckbestimmung für die Streiks vorgibt, folgt, dass politische Streiks nicht vom Schutzbereich des Grundrechts umfasst sind.591 Dies wird auch in der Begründung der Verfassungskommission festgehalten.592 Eine Vorbildfunktion einer bestimmten „westlichen“ Verfassungsnorm ergibt sich aus den Quellen nicht. Bei den Verhandlungen in der Abgeordnetenversammlung kritisierten einige Abgeordnete, dass über Absatz 2 dem einfachen Gesetzgeber die Möglichkeit zur Aushebelung des Streikrechts gegeben wird und dass grundsätzlich nur Arbeitnehmer, aber nicht Beamte in den Schutzbereich fallen.593 Die Verfassungskommission verteidigte die Bestimmung des Absatzes 2 mit dem Hinweis, dass selbst Italien, das bezüglich des Streikrechts sehr liberal eingestellt sei, in Art. 40 seiner Verfassung die Regelung der Einzelheiten des Streikrechts dem einfachen Gesetzgeber überlassen habe.594 Hinsichtlich des Streikrechts der Beamten rechtfertigte sie die Verfassungsnorm damit, dass in anderen „westlichen“ Verfassungen, namentlich der Bundesrepublik Deutschland, Österreich, England, USA, Kanada, Kolumbien und Finnland, Beamte auch nicht in den Genuss des Streikrechts kämen. Kommissionssprecher Muammer Aksoy argumentierte: „Wenn selbst in Ländern, die vor Jahren bereits das Streiken anerkannt und sich an diese gewöhnt haben, dieses Recht den Beamten nicht zugestehen, wie könnten wir es dann in unsere Verfassung aufnehmen.“595 Der Hintergrund ist, dass in der Türkei seit dem Übergang zum Mehrparteiensystem im Jahre 1946 das Recht zum Abschluss von Tarifverträgen und das Streikrecht zwar Gegenstand heftiger politischer Diskussionen gewesen ist, aber bis zur Militärintervention vom 27. Mai 1960 nicht verwirklicht worden war.596 Die Verfassungsgeber wollten ausweislich der Entwurfsbegründung mit der Gewährung dieses Rechts auch die dazugehörigen polarisierenden politischen Auseinandersetzung beenden597, hatten aber diesbezüglich keine Erfahrungswerte. Es liegt deshalb der Schluss nahe, dass bei der Ausformulierung dieses Rechts nicht eine einzelne bestimmte „westliche“ Verfassungsbestimmung als Vorbild fungierte, sondern die türkischen Verfasauch Hirsch, Verfassung der Türkischen Republik, S. 119. zum Entwurf der Verfassungskommission, S. 25. 593  Protokolle der Abgeordnetenversammlung, Band 3, S. 297–298. 594  Protokolle der Abgeordnetenversammlung, Band 3, S. 298. 595  Protokolle der Abgeordnetenversammlung, Band 3, S. 299. 596  Abadan, Die türkische Verfassung von 1961, S. 371. 597  Begründung zum Entwurf der Verfassungskommission, S. 24. 591  So

592  Begründung

180 E. Verfassung von 1961 unter Berücksichtigung von Rezeptionsvorgängen

sungsgeber den in vielen „westlichen“ Verfassungen dargelegten Standard in die türkische Verfassungsordnung übernahmen. Die sozialen Grundrechte umfassen zudem das Recht auf soziale Sicherheit. Zur Gewährleistung dieses Rechts bürdet die Verfassung dem Staat in Art. 48 TürkVerf die Aufgabe auf, Sozialversicherungen und soziale Hilfseinrichtungen zu gründen oder gründen zu lassen. Diese Verfassungsnorm bildete die Grundlage für ein umfassendes Sozialversicherungsgesetz aus dem Jahre 1964. Auch hier war die AEMR Vorbild. Denn die Verfassungskommission erklärte in ihrer Begründung, dass diese Bestimmung das Ergebnis des Sozialstaatskonzeptes ist und „wie in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte“ auch in der türkischen Verfassung ihren Platz haben soll.598 Die AEMR beinhaltet denn auch in ihrem Art. 12 unter anderem das Recht auf soziale Sicherheit. Art. 49 TürkVerf statuiert das Recht auf Gesundheit. Der Staat ist demnach verpflichtet, dafür Sorge zu tragen, „dass jedermann in körperlicher und geistiger Gesundheit leben kann und ärztliche Betreuung findet“ (Art. 49 Abs. 1 TürkVerf). Ferner muss der Staat Maßnahmen ergreifen, „um den Bedarf von armen und einkommensschwachen Familien nach Wohnraum zu decken, die hygienischen Ansprüchen gerecht wird“ (Art. 49 Abs. 2 TürkVerf). Die Verbindung von Gesundheit und Wohnraum in einem Artikel ist kein Zufall. Wenn nicht genügend Wohnraum vorhanden ist, der hygienische und sanitäre Standards ausreichend erfüllt, drohen das Aufkommen gesundheitlicher Probleme in der Bevölkerung und die Verbreitung von ansteckenden Krankheiten. In der Begründung der Verfassungskommission heißt es daher diesbezüglich: „Der Wohnraum als Hauptvoraussetzung der Gesundheit ist […] unmittelbar mit diesem Recht [d. h. dem Recht auf Gesundheit] verbunden. Aus diesem Grund muss der Sozialstaat die Mittel suchen, finden und umsetzen, die jedem eine Wohnstätte verschaffen.“599 Schließlich war diese Thematik in der Türkei der 1950er Jahre sehr virulent. Denn der Wohnungsbau konnte mit dem starken Bevölkerungswachstum dieser Jahre nicht mithalten.600 Dieses Bevölkerungswachstum führte zudem zusammen mit der aufkommenden Maschinisierung der Landwirtschaft und dem damit verbundenen Wegfall von Arbeitsplätzen auf dem Land, sowie der Entstehung von Industriebetrieben in und um die Städte zu einer massiven 598  Begründung

zum Entwurf der Verfassungskommission, S. 25. zum Entwurf der Verfassungskommission, S. 25. 600  Ören/Yüksel, Türkiye’de Konut Sorunu ve Temel Dinamikleri (Das Wohnungsproblem in der Türkei und dessen grundlegende Dynamiken), in: Süleyman Demirel Üniversitesi Sosyal Bilimler Enstitüsü Dergisi (Zeitschrift des Sozialwissenschaft­ lichen Instituts der Süleyman Demirel Universität), Band 18, S. 10f. 599  Begründung



III. Grundrechte181

Binnenmigration in die Städte und verschärfte die Wohnungssituation.601 Im Zuge dieser Entwicklung entstanden ab den 1950ern am Rande der Großstädte, allen voran Istanbul, Ankara und Izmir die sogenannten Gecekondus (wörtlich übersetzt „nachts hingestellt“), d. h. ohne Genehmigung mit ein­ fachen Mitteln gebaute Unterkünfte, die von den Regierungen lange Zeit geduldet worden sind.602 Heutzutage ist das Problem dank eines aktiven Sozialwohnungsbaus seitens der Wohnungsbaubehörde (türk.: „Toplu Konut Idaresi Başkanlığı“; Abk.: TOKI) und dank staatlicher Förderung für private Bauunternehmen seit den 1990er Jahren und insbesondere zwischen 2000 und 2010 nahezu vollständig behoben. Die Gecekondus wurden weitestgehend durch Wohnviertel mit mehrstöckigen Appartementhäusern ersetzt, sodass sich das Bild der türkischen Vorstädte radikal veränderte und diesbezüglich eine Angleichung an Wohngebiete „westlicher“ Städte erfuhr. Gerade auch diese Leistung war lange Zeit ein wichtiger Grund für die Wahlerfolge der islamischkonservativen AKP unter Recep Tayyip Erdoğan. Zur Zeit der Entstehung der Verfassung von 1961 war dies jedoch noch ein drängendes Problem, dem die Verfassungsgeber mit der Aufnahme des Art. 49 TürkVerf Tribut zollten. Dabei verweist die Verfassungskommission in ihrer Begründung abermals auf die AEMR, daneben aber auch auf „manche [andere] Verfassungen“, ohne diese namentlich zu nennen.603 In der Abgeordnetenversammlung macht der Kommissionssprecher Muammer Aksoy darauf aufmerksam, dass diese Verfassungsnorm den Bestimmungen der AEMR und der Europäischen Sozialcharta entspricht.604 Beide Abkommen führen das Recht auf Gesundheit und auch auf Wohnraum auf, ohne diese aber zu verbinden oder aufeinander zu beziehen.605 Die türkischen Verfassungsgeber übernahmen diese Rechte zwar aus diesen Abkommen, die Verbindung dieser Rechte und die konkrete Ausgestaltung aber war nicht das Ergebnis einer Rezeption, sondern war der soeben geschilderten besonderen Situation in der Türkei geschuldet. Art. 50 TürkVerf betrifft das Schulwesen. Demnach gehört es zu den Hauptaufgaben des Staates, den Unterrichts- und Erziehungsbedürfnissen des Volkes nachzukommen (Art. 50 Abs. 1 TürkVerf). Der Grundschulunterricht ist für alle Staatsbürger, Frauen wie Männer, obligatorisch und in den staat­ lichen Schulen unentgeltlich (Art. 50 Abs. 2 TürkVerf). Diese Bestimmung 601  Ören/Yüksel, Türkiye’de Konut Sorunu (Das Wohnungsproblem in der Türkei), S. 3, 15f. 602  Ören/Yüksel, Türkiye’de Konut Sorunu (Das Wohnungsproblem in der Türkei), S. 23. 603  Begründung zum Entwurf der Verfassungskommission, S. 25. 604  Protokolle der Abgeordnetenversammlung, Band 3, S. 305. 605  Vgl. Art. 11 und 16 der Europäischen Sozialcharta und Art. 25 der AEMR.

182 E. Verfassung von 1961 unter Berücksichtigung von Rezeptionsvorgängen

ist ausweislich der Begründung der Verfassungskommission eine Übernahme des Art. 87 der bis dahin geltenden türkischen Verfassung von 1924.606 Art. 50 Abs. 3 TürkVerf statuiert, dass der Staat durch Stipendien und andere Hilfen gewährleistet, dass begabte, aber mittellose Schüler bis zu den obersten Unterrichtsstufen aufsteigen können. Die Begründung der Verfassungskommission verweist diesbezüglich auf Vorbilder in „modernen Verfas­ sungen“607. Während der Aussprache in der Abgeordnetenversammlung konkretisierte dies der Kommissionssprecher Muammer Aksoy und nannte Art. 37 der italienischen Verfassung als Ursprung dieser Bestimmung.608 In der Tat enthält Art. 37 der italienischen Verfassung eine inhaltlich und sprachlich sehr ähnliche Bestimmung, sodass von einer Rezeption dieser Norm auszugehen ist.609 Als Ergänzung enthält Art. 50 Abs. 4 TürkVerf den Auftrag an den Staat, Maßnahmen für diejenigen zu treffen, die aufgrund ihres Zustandes eine besondere Erziehung brauchen, um sie zu nützlichen Mitgliedern der Gesellschaft zu machen. Diese Bestimmung war im Entwurf der Verfassungskommission nicht enthalten und wurde erst im Rahmen der Aussprache in der Abgeordnetenversammlung eingeführt. Aus den Quellen ergeben sich keine Hinweise auf besondere Vorbilder in „westlichen“ Verfassungen. Die italienische Verfassung indes beinhaltet diese Bestimmung nicht. Art. 50 Abs. 5 TürkVerf sieht vor, dass der Staat „für den Schutz der Werke und Denkmäler von geschichtlichem und kulturellem Wert zu sorgen hat“. Auch diese Regelung wurde erst während der Verhandlungen in der Abgeordnetenversammlung eingeführt. Aus den Beratungsprotokollen des Komitees für nationale Einheit geht hervor, dass für diese Regelung die italienische Verfassung einen Vorbildcharakter hatte. Die Beweggründe zur Aufnahme dieser Bestimmung in die Verfassung waren dabei wirtschaftlicher Natur. Einige Komitee-Mitglieder machten nämlich darauf aufmerksam, dass Italien seine historischen Denkmäler besser schütze und präsentiere als die Türkei, daher mehr Touristen als die Türkei anziehe und damit mehr Devisen generiere. Daher müsse die Türkei ihre historischen Denkmäler in gleichem Maße schützen und wertschätzen.610 Tatsächlich beinhaltet die italienische Verfas606  Begründung

zum Entwurf der Verfassungskommission, S. 25. zum Entwurf der Verfassungskommission, S. 25. 608  Protokolle der Abgeordnetenversammlung, Band 3, S. 311. 609  In Art. 37 der italienischen Verfassung heißt es unter anderem: Die fähigen und verdienstvollen Schüler haben, auch wenn sie mittellos sind, das Recht, die höchsten Studiengrade zu erreichen. Die Republik verwirklicht dieses Recht durch Stipendien, Familienbeihilfen und andere Maßnahmen. 610  T. C. Milli Birlik Komitesi Tutanak Dergisi (Protokolle des Komitees für nationale Einheit), Band 6, 82. Zusammenkunft, S. 14. 607  Begründung



III. Grundrechte183

sung mit dem Auftrag an den Staat, „den historischen und künstlerischen Reichtum der Nation zu schützen“611, eine sehr ähnliche Bestimmung, sodass in dieser das Vorbild für die türkische Regelung zu sehen ist. In Art. 51 TürkVerf wird der Staat dazu verpflichtet, Maßnahmen zu ergreifen, um das Genossenschaftswesen zu fördern. Die Verfassungskommission begründete diese Verfassungsnorm damit, dass in wenig entwickelten Ländern die Investitionen und Aktivitäten von Privatunternehmen nicht ausreichen, um große Projekte zu stemmen.612 Die Förderung von Genossenschaften sei mit dem Prinzip des Sozialstaates vereinbar. Dabei verwies die Verfassungskommission auf andere „moderne Verfassungen“613. Im Rahmen der Aussprache in der Abgeordnetenversammlung führte dies Kommissionssprecher Muammer Aksoy weiter aus und erklärte, dass Israel mit Genossenschaften große Erfolge erzielt habe und sich die Verfassungskommission daher an Art. 21 der israelischen Verfassung orientiert habe.614 Laut Muammer Aksoy beauftrage diese Norm nämlich den Staat unter anderem damit, „alle Bestrebungen hinsichtlich Genossenschaften zu fördern und Hilfe dafür bereitzustellen“615. Art. 52 TürkVerf dient dem Schutz der Landwirtschaft und der Bauern. Demnach muss der Staat „die notwendigen Maßnahmen ergreifen, um eine bedarfsgerechte Ernährung des Volkes, eine dem Wohle der Gesellschaft dienende Steigerung der landwirtschaftlichen Produktion sicherzustellen, um Bodenverluste zu verhindern, den Ertrag landwirtschaftlicher Produkte und der Arbeit der in der Landwirtschaft tätigen Personen zu erhöhen“. Diese Bestimmung war im Entwurf der Verfassungskommission nicht enthalten und wurde erst im Rahmen der Aussprache in der Abgeordnetenversammlung in die Verfassung aufgenommen. Eine besondere Vorbildfunktion „westlicher“ Verfassungen lässt sich aus den Quellen nicht herleiten. Entsprechende Verfassungsbestimmungen lassen sich zum Beispiel auch nicht im deutschen Grundgesetz, in der italienischen Verfassung oder der AEMR finden. Dieser Artikel ist vielmehr eine auf die türkischen Bedürfnisse speziell zugeschnittene Bestimmung. Denn die Türkei der 1950er und 1960er Jahre war ein noch von der Landwirtschaft geprägtes Land, das aber mit technisch zurückgebliebenen Produktions- und Absatzverhältnissen, Bodenspekulationen und umweltbezogenen Problemen, wie Erosion zu kämpfen hatte. Politische Programme und Maßnahmen zur Verbesserung dieser Umstände waren dringend vonnöten, wurden aber im Zuge der politischen Krisen unter der DP611  Art. 9

Abs. 2 der italienischen Verfassung. zum Entwurf der Verfassungskommission, S. 25. 613  Begründung zum Entwurf der Verfassungskommission, S. 26. 614  Protokolle der Abgeordnetenversammlung, Band 3, S. 319–320. 615  Protokolle der Abgeordnetenversammlung, Band 3, S. 319. 612  Begründung

184 E. Verfassung von 1961 unter Berücksichtigung von Rezeptionsvorgängen

Regierung weitgehend vernachlässigt.616 Die Verfassungsgeber drängten mit dieser Bestimmung die späteren Regierungen dazu, sich intensiver um diese Probleme zu kümmern. Für den ganzen Abschnitt der wirtschaftlichen und sozialen Grundrechte (Art. 35–52 TürkVerf) ist Art. 53 TürkVerf von besonderer Bedeutung: „Der Staat erfüllt die Aufgaben zur Erreichung der in diesem Abschnitt aufgeführten wirtschaftlichen und sozialen Ziele nur im Rahmen der wirtschaftlichen Entwicklung und der zur Verfügung stehenden finanziellen Mittel.“

Die Verfassungskommission begründete diese Norm damit, dass „die umfangreichen Aufgaben, die der Sozialstaat auf sich nimmt, […] zweifelsohne nicht dazu führen [dürfen], dass er [d. h. der Sozialstaat] alles leisten will, aber dann nichts leisten kann. […] Also bringt diese Bestimmung zum Ausdruck, dass die praktische Umsetzung der prinzipiell anerkannten sozialen und wirtschaftlichen Rechte begrenzt ist auf die Realitäten.“617 Die Verfassungsgeber hatten also die Sorge, dass sich der Staat übernimmt, wenn er alle sozialen Grundrechte zeitgleich in vollem Umfang nachkommen muss. In der Abgeordnetenversammlung verwiesen mehrere Abgeordnete darauf, dass ohne diese Bestimmung der Staat gezwungen wäre über seine Verhältnisse zu leben, was unweigerlich zu einer hohen Inflation führen würde.618 Auch das Komitee für Nationale Einheit diskutierte diesen Artikel ausführlich. Das Komitee-Mitglied Yıldız Ahmet schlug sogar vor, zusätzlich noch den Satz einzufügen, wonach der Rechtsweg zu den Gerichten nicht mit der Begründung eingeschlagen werden kann, die sozialen und wirtschaftlichen Rechte dieses Abschnitts seien nicht verwirklicht.619 Dies wurde jedoch von der Mehrheit des Komitees mit dem Hinweis abgelehnt, dass die oben zitierte endgültige Formulierung ausreichend sei, da der Staat sich entsprechender Ansprüche mit dem Hinweis auf die Beschränktheit der finanziellen Mittel erwehren könne.620 Nach dem Willen der türkischen Verfassungsgeber verhindert also Art. 53 TürkVerf die Entstehung eines Kapazitätenerweiterungsanspruchs der Bürger gegen den Staat gerichtet auf die sozialen und wirtschaftlichen Grundrechte.

616  Hirsch,

Verfassung der Türkischen Republik, S. 121. zum Entwurf der Verfassungskommission, S. 26. 618  Protokolle der Abgeordnetenversammlung, Band 3, S. 324–325. 619  Protokolle des Komitees für nationale Einheit, Band 6, 82. Zusammenkunft, S. 17. 620  Protokolle des Komitees für nationale Einheit, Band 6, 82. Zusammenkunft, S. 18. 617  Begründung



III. Grundrechte185

Diese Regelung stieß während den Verfassungsarbeiten durchaus auf Kritik. Insbesondere der Abgeordnete Bülent Ecevit621 lehnte diesen Artikel während der Aussprache in der Abgeordnetenversammlung mit folgenden Worten ab: „Sehr verehrte Freunde, ich sehe in diesem Artikel die Abschaffung der Grundlage und der Garantien für die Artikel […], die die sozialen und wirtschaftlichen Rechte und Pflichten beinhalten. […] Nach meiner Ansicht zieht […] dieser Artikel diese [sozialen und wirtschaftlichen] Rechte in Zweifel und nimmt diese faktisch wieder zurück. Damit wird Regierungen, die an diese Rechte nicht glauben, die Möglichkeit gegeben, diese zu vernachlässigen.“622 Jedoch folgte die Mehrheit der Abgeordneten dieser Ansicht nicht, sodass die Einschränkung bezüglich der sozialen und wirtschaftlichen Grundrechte bestehen blieb. Auf diesem Wege wurde in der Tat die Realisierung der sozialen und wirtschaftlichen Grundrechte in einem gewissen Umfang ins Ermessen der jeweiligen Regierungen gestellt. Denn welche Mittel wofür zur Verfügung stehen, bestimmt sich nach dem von der Regierung aufgestellten und vom Parlament angenommenen Haushaltsplan. Wie Bülent Ecevit richtig feststellte, konnten Regierungen dadurch diese Rechte bis zu einem gewissen Grad vernachlässigen. Aber anders als von Bülent Ecevit behauptet, war eine faktische Rücknahme der sozialen Rechte damit nicht verbunden. Denn dank der verfassungsrechtlichen Absicherung dieser Rechte mussten Regierungen, auch wenn lediglich im Rahmen der finanziellen Mittel, grundsätzlich an der Durchsetzung dieser Rechte arbeiten und durften insbesondere nicht offen eine entgegenstehende Politik betreiben623. Dies gilt insbesondere auch im Zusammenhang mit Art. 11 Abs. 2 TürkVerf, wonach die Grundrechte in ihrem Kern nicht angetastet werden dürfen. Zudem hatte die Aufnahme der sozialen Rechte in die Verfassung eine weitere Folge. Soweit der Staat nun Verpflichtungen sozialer bzw. wirtschaftlicher Art nachkommt, kann er diejenigen, die grundsätzlich die jeweiligen Voraussetzungen erfüllen, den Genuss dieser Rechte nicht willkürlich oder als Strafmaßnahme verweigern.624 Die Bürger hatten somit zwar keinen Kapazitätenerweiterungsanspruch, aber einen Anspruch auf eine für jedermann gleiche und ermessensfehlerfreie Umsetzung der Rechte.

621  Bülent Ecevit (1925–2006) wurde später Vorsitzender der CHP und mehrmals Ministerpräsident der Türkei (unter anderem von 1978 bis 1979 und von 1999 bis 2002). Unter seiner Führung gewann die CHP insbesondere die Parlamentswahlen im Jahre 1977 mit 41,4 % der abgegebenen Stimmen – bis heute das beste Wahlergebnis der CHP bei freien Wahlen. Nicht nur aus diesem Grund ist Ecevit bis heute eine Ikone für die Anhänger und Mitglieder der CHP. 622  Protokolle der Abgeordnetenversammlung, Band 3, S. 323. 623  Hirsch, Verfassung der Türkischen Republik, S. 121. 624  Hirsch, Verfassung der Türkischen Republik, S. 121.

186 E. Verfassung von 1961 unter Berücksichtigung von Rezeptionsvorgängen

Aus den Quellen geht nicht hervor, ob und ggf. aus welcher Rechtsordnung die türkischen Verfassungsgeber diesen Artikel rezipiert haben. Jedoch erscheint es sehr wahrscheinlich, dass sie sich bei der Ausarbeitung dieser Bestimmung an der AEMR orientierten. Die Bestimmung der AEMR, der die darauffolgenden sozialen Rechte einführt, enthält die Regelung, wonach jeder das Recht darauf hat, in den Genuss der entsprechenden Rechte zu gelangen, aber nur „unter Berücksichtigung der Organisation und der Mittel des Staates“625. Dies entspricht inhaltlich der Bestimmung in Art. 53 TürkVerf, ist lediglich kürzer und prägnanter formuliert. Die Verfasser der AEMR ließen sich dabei ähnlich wie später die türkischen Verfassungsgeber von der Sorge leiten, dass die Umsetzung der sozialen Rechte mehr finanzielle Mittel benötigt als die klassischen Freiheitsgrundrechte.626 Wenn man sich zudem vergegenwärtigt, dass für die türkischen Verfassungsgeber die Artikel der AEMR, auf den sich Art. 22 der AEMR bezieht, nachweislich Gegenstand einer Rezeption gewesen sind, so liegt der Schluss nahe, dass auch die dazugehörige einschränkende Regelung rezipiert worden ist. 4. Politische Grundrechte und -pflichten Der Abschnitt über die politischen Grundrechte und Grundpflichten beginnt mit den Regelungen zur Staatsbürgerschaft, da die türkische Staatsbürgerschaft für den türkischen Verfassungsgeber Voraussetzung für die folgenden politischen Grundrechte ist.627 Im Vergleich zum deutschen Grundgesetz sowie der italienischen und französischen Verfassung beinhaltet die türkische Verfassung in Art. 54 ausführliche Regelungen zum Erwerb und Verlust der Staatsangehörigkeit, die in anderen Staaten regelmäßig in den Gesetzen des Staatsangehörigkeitsrechts geregelt werden.628 Die Kommissionssprecher Muammer Aksoy erklärte in der Abgeordnetenversammlung diesbezüglich,

625  Art. 22

der AEMR. Soziale Menschenrechte. Zwischen Recht und Politik, S. 25. 627  Begründung zum Entwurf der Verfassungskommission, S. 26. 628  Art. 54 TürkVerf: Türke ist jeder, der durch das Band der Staatsangehörigkeit mit dem türkischen Staat verbunden ist. Das Kind eines türkischen Vaters oder einer türkischen Mutter ist Türke. Die Staatsangehörigkeit des Kindes eines ausländischen Vaters und einer türkischen Mutter ist durch Gesetz zu regeln. Die Staatsangehörigkeit wird unter den im Gesetz aufgeführten Voraussetzungen erworben und nur in den gesetzlich vorgesehenen Fällen verloren. Keinem Türken kann die Staatsangehörigkeit entzogen werden, solange er nicht eine mit der Bindung an das Vaterland unvereinbare Handlung begangen hat. Gegen Beschlüsse und Maßnahmen, die sich auf die Entziehung der Staatsangehörigkeit beziehen, kann der Rechtsweg nicht ausgeschlossen werden. 626  Krennerich,



III. Grundrechte187

dass die Verfassungskommission bewusst die Hauptprinzipien des Staatsangehörigkeitsrechts in der Verfassung selbst festschreiben wollte.629 Weder in der Begründung der Verfassungskommission, noch in den Protokollen der Abgeordnetenversammlung oder den Protokollen des Komitees für nationale Einheit lassen sich Hinweise auf eine Vorbildfunktion einer anderen Verfassung für die türkischen Regelungen zur Staatsangehörigkeit bzw. auf eine entsprechende Rezeption aus anderen Verfassungen finden. Vielmehr sind die Regelungen Übernahmen und Weiterentwicklungen der Regelungen des Art. 88 der türkischen Verfassung von 1924, verbunden mit einem grundsätzlichen Verbot des Entzugs der türkischen Staatsangehörigkeit. Dies liegt in der Natur der Sache, d. h. ist bedingt durch die Materie des Staatsangehörigkeitsrechts. Wie im Rahmen der Erörterung des Rezeptionsbegriffs bereits dargelegt, sind Verfassungen auch Ausdruck und Anknüpfungspunkt der kollektiven Identität einer Nation und prägend für das Selbstverständnis von Staat und Gesellschaft. Daher kann Rezeption im Bereich des Verfassungsrechts nur in Form einer selektiven Rezeption erfolgen, um den notwendigen Raum für Regelungen, Bestimmungen und Festlegungen zu geben, die für die jeweilige kollektive Identität und das jeweilige Selbstverständnis einer Gesellschaft notwendig sind. Diesen Raum beansprucht insbesondere das Staatsangehörigkeitsrecht. Denn das Staatsangehörigkeitsrecht betrifft „tatsächlich die Grundlagen des staatlich verfassten Gemeinwesens […]. Bei der Festlegung der Regeln des Erwerbs und des Verlusts der Staatsangehörigkeit geht es um das Selbstverständnis des sich als politische Verantwortungsgemeinschaft verstehenden Volkes“630. Die Definition der Staatsangehörigkeit ist also stets mit dem Selbstverständnis einer Gesellschaft und dem Bewusstsein nationaler Identität verbunden. Regelungen und Änderungen des Staatsangehörigkeitsrechts stehen daher in besonderer Wechselwirkung zum kollektiven Selbstverständnis der Nation und sie brauchen einen besonderen Rückhalt in dieser.631 Rezeptionen fremder Regelungen im Bereich des Staatsangehörigkeitsrechts sind daher zwar nicht unmöglich, aber im politischen Diskurs deutlich schwieriger zu rechtfertigen und zu legitimieren. Zudem müssen Gesetzes- bzw. Verfassungsgeber im Staatsangehörigkeitsrecht in besonderer Weise Lösungen und Bestimmungen finden, die mit dem kollektiven Selbstverständnis korrespondieren. Insofern ist es nicht verwunderlich, dass sich die türkischen Verfassungsgeber bei Fragen des Staatsangehö-

629  Protokolle

der Abgeordnetenversammlung, Band 3, S. 346. Wandel im Staatsangehörigkeitsrecht vor den Herausforderungen moderner Migration, S. 2. 631  Masing, Wandel im Staatsangehörigkeitsrecht vor den Herausforderungen moderner Migration, S. 2, 73. 630  Masing,

188 E. Verfassung von 1961 unter Berücksichtigung von Rezeptionsvorgängen

rigkeitsrechts nicht primär an „westlichen“ Verfassungsregelungen orientierten bzw. diese nicht übernahmen. Auf die Regelungen zur Staatsbürgerschaft folgen die Bestimmungen zum Wahlrecht. Demnach besitzen alle Staatsangehörigen das aktive und passive Wahlrecht nach Maßgabe der im Gesetz vorgesehenen Bedingungen (Art. 55 Abs. 1 TürkVerf). Dies ist selbstverständlich eine absolute Grundvoraussetzung der repräsentativen Demokratie. Vergleichbare Regelungen finden sich daher in nahezu allen „westlichen“ Verfassungen und auch schon bereits in der türkischen Verfassung von 1924.632 Aus der Begründung zum Entwurf der Verfassungskommission ergibt sich, dass man sich diesbezüglich an der eigenen Verfassung von 1924 orientierte und die dortige Regelung beibehielt.633 Nähere Angaben zum aktiven und passiven Wahlrecht enthalten die Art. 68, 71 und 72 TürkVerf, die die Wahlen zur Nationalversammlung und zum Senat behandeln. Zudem müssen die Wahlen frei, gleich, geheim, unmittelbar und allgemein sein (Art. 55 Abs. 2 S. 1 TürkVerf). Richtigerweise verweist die Verfassungskommission in ihrer Begründung darauf, dass diese Grundsätze in allen „neuen Verfassungen“ vorkommen und dementsprechend auch in der türkischen Verfassung auftauchen.634 Bei den Beratungen in der Abgeordnetenversammlung verwies der Abgeordnete Hıfzı Oğuz Bekata auf die entsprechenden Bestimmungen in der italienischen Verfassung und beantragte, die Teilnahme an den Wahlen wie in Italien zur Bürgerpflicht zu erklären. Die Mehrheit der Abgeordneten folgte jedoch der Verfassungskommission, die eine entsprechende Pflicht ablehnte. Die Verfassungskommission erklärte hierzu, dass es mit Ausnahme von ein oder zwei ausländischen Verfassungen die Teilnahme an Wahlen lediglich ein Recht und keine Pflicht sei und man sich diesbezüglich der Mehrheit der „westlichen“ Verfassungen anschließen sollte, wonach die Teilnahme an der Wahl in das Ermessen der Bürger gestellt ist.635 Die italienische Verfassungsnorm war also diesbezüglich nicht Vorbild für die türkischen Verfassungsgeber. Die türkische Regelung ähnelt vielmehr der Bestimmung des Art. 38 Abs. 1 S. 1 des deutschen Grundgesetzes. Zusätzlich gibt die Verfassung explizit vor, dass die Auszählung der Stimmen und die Feststellung des Wahlergebnisses öffentlich sein müssen (Art. 55 Abs. 2 S. 2 TürkVerf). Auch dies ist elementar für eine freie und demokratische Wahl, da nur bei einer öffentlichen Auszählung der abgegebenen Stim632  Vgl.

Art. 9, 10 und 11 der türkischen Verfassung von 1924. zum Entwurf der Verfassungskommission, S. 26. 634  Begründung zum Entwurf der Verfassungskommission, S. 26. 635  Protokolle der Abgeordnetenversammlung, Band 4, S. 516. 633  Begründung



III. Grundrechte189

men eine öffentliche Kontrolle des Wahlprozesses und damit eine Verhinderung von Wahlmanipulationen möglich ist. Dennoch finden sich solche Bestimmungen in „westlichen“ Verfassungen grundsätzlich nicht, da sie meist lediglich einfachgesetzlich festgelegt sind.636 Die türkischen Verfassungsgeber haben dies jedoch explizit in die türkische Verfassung von 1961 aufgenommen. Auch wenn es sich nicht unmittelbar aus den Quellenmaterialien ergibt, dürfte der Grund hierfür in den Parlamentswahlen von 1946 liegen. Denn bei den ersten Parlamentswahlen nach Einführung des Mehrparteiensystems im Jahre 1946 galt noch das Prinzip der öffentlichen Stimmabgabe und der geheimen Stimmenauszählung. Dies führte dazu, dass die damalige islamisch-konservative Opposition die Legitimität der Wahlergebnisse anzweifelte. Daher gilt auch nicht die Wahl von 1946, sondern die Wahl von 1950 als erste freie und faire Wahl in der Türkei, da man 1950 die Grundsätze der geheimen Stimmabgabe und öffentlichen Auszählung befolgte. Es ist davon auszugehen, dass die Verfassungsgeber diese Grundsätze angesichts dieser historischen Erfahrung ausdrücklich in der Verfassung festlegten, um eine Rückkehr zum Wahlprozedere von 1946 zu unterbinden. Die Verfassung gewährt in Art. 56 allen Staatsbürgern das Recht, politische Parteien zu gründen, in Parteien einzutreten und aus diesen auszutreten. Politische Parteien werden ohne vorherige Erlaubnis gegründet und ihre Betätigung ist frei. Die politischen Parteien gelten als unverzichtbare Elemente des politischen Lebens, gleichgültig, ob die Parteien an der Macht sind oder sich in der Opposition befinden. Art. 57 TürkVerf schränkt diese freie Gründung und Betätigung der Parteien ein, indem er bindende Grundsätze für diese festlegt. Demnach müssen die Statuten, Programme und Tätigkeiten der Parteien den Idealen der demokratischen und laizistischen Republik und dem Prinzip der Unteilbarkeit des Staatsgebietes und des Staatsvolkes entsprechen. Parteien, die sich nicht danach richten, werden für immer verboten. Dabei gilt ebenso wie im deutschen Grundgesetz das Parteienprivileg, wonach die Entscheidung über ein Verbot nur dem Verfassungsgericht zusteht. Zudem sind die Parteien dem Verfassungsgericht gegenüber hinsichtlich ihrer Finanzen Rechenschaft schuldig. Diese Regelungen sind eine unmittelbare Folge der Erfahrungen mit der autoritären DP-Regierung von Adnan Menderes, die die Opposition einschüchterte und unterdrückte und letztendlich versuchte eine Einparteienherrschaft zu etablieren. Daher stellt die Verfassung explizit auch Oppositionsparteien als unverzichtbare Elemente des politischen Systems unter Schutz und lässt ein Parteienverbot nur durch das Verfassungsgericht zu, um ihr Schicksal nicht in die Hand der Parlamentsmehrheit oder der Regierung zu legen. In der Begründung zum Entwurf der Verfassungskommission heißt es 636  Vgl.

z. B. § 31 ff. BWahlG in Deutschland.

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hierzu: „Der Umstand, dass politische Parteien nicht durch erstinstanzliche Gerichte, sondern nur durch das höchste Gericht verboten werden können, ist Ausdruck der Bedeutung der ihnen [d. h. den Parteien] zukommt.“637 Das Parteienverbot sollte aber auch ein Mittel sein, mit dem sich der Staat gerade vor Parteien, die gegen die Demokratie und Republik agieren, schützen kann. Diese Bestimmungen dienten also sowohl dem Schutz von oppositionellen Parteien vor einer autoritären Regierung als auch dem Schutz des Staates vor autoritären Parteien. Hierbei nahmen sich die türkischen Verfassungsgeber das deutsche Grundgesetz zum Vorbild, das in Art. 21 inhaltlich und sprachlich sehr ähnliche Bestimmungen beinhaltet. Der „freiheitlich-demokratischen Grundordnung“ und dem „Bestand der Bundesrepublik Deutschland“ als Maßstäbe für ein Parteienverbot gemäß dem deutschen Grundgesetz entsprechen in der türkischen Verfassung die „Ideale der demokratischen und laizistischen Republik“ sowie die „Unteilbarkeit des Staatsgebietes und des Staatsvolkes“. Die Parallelen sind dabei nicht zufällig. Dies ergibt sich insbesondere aus der Begründung zum Entwurf der Verfassungskommission, die sich diesbezüglich explizit auf das deutsche Grundgesetz bezieht: „Es ist offensichtlich, dass der Staat nicht tatenlos zusehen kann, wenn sich politische Parteien […] zu einer zerstörerischen Kraft für die demokratische Ordnung und die Prinzipien der Republik entwickeln und die Gemeinschaft in eine Katastrophe führen. Aus diesem Grund ist im Verfassungsentwurf, wie in der neuen deutschen Verfassung auch [Hervorhebung durch den Verfasser], die Schließung von Parteien vorgesehen, die sich gegen den Staat oder die demokratische Ordnung richten“638. Schließlich bezog sich Kommissionssprecher Muammer Aksoy bei den Beratungen über Art. 22 TürkVerf, der die Pressefreiheit regelt und dabei auf Art. 57 TürkVerf verweist, bezüglich Art. 57 TürkVerf ausdrücklich auf Art. 21 des deutschen Grundgesetzes und erklärte, dass sich die Verfassungskommission diese Bestimmung des Grundgesetzes „angeeignet“ hat.639 Art. 58 Abs. 1 TürkVerf bestimmt, dass jeder Staatsbürger das Recht besitzt, in den öffentlichen Dienst einzutreten. Bei der Einstellung in den öffentlichen Dienst darf außer den für das Amt erforderlichen Eigenschaften keine Unterscheidung vorgenommen werden (Art. 58 Abs. 2 TürkVerf). Auch wenn es ähnliche Bestimmungen in „westlichen“ Verfassungen gibt, wie beispielsweise in Art. 33 des deutschen Grundgesetzes, scheint die türkische Regelung nicht das Ergebnis einer Rezeption zu sein. Denn gemäß der Begründung zum Entwurf der Verfassungskommission ist Art. 58 Abs. 1 TürkVerf eine Übernahme von Art. 92 der türkischen Verfassung von 637  Begründung

zum Entwurf der Verfassungskommission, S. 27. zum Entwurf der Verfassungskommission, S. 27. 639  Protokolle der Abgeordnetenversammlung, Band 3, S. 184. 638  Begründung



III. Grundrechte191

1924.640 Art. 58 Abs. 2 TürkVerf ist für die Verfassungskommission ein Ausdruck und eine Konkretisierung des Gleichheitsgrundsatzes aus Art. 12 TürkVerf.641 In diesem Abschnitt ist ferner die Regelung enthalten, wonach die Abgabe von Vermögenserklärungen von Personen, die in den öffentlichen Dienst treten, durch Gesetz geregelt wird (Art. 59 Abs. 1 TürkVerf). Dabei dürfen diejenigen, die ein Amt in den Organen der Judikative und Exekutive innehaben, d. h. Minister, Abgeordnete und Senatoren, hiervon nicht ausgenommen sein (Art. 59 Abs. 2 TürkVerf). Aus den Quellenmaterialien ergeben sich keine Hinweise auf die Herkunft dieser Bestimmung. Eine entsprechende Bestimmung ist weder in der italienischen Verfassung noch im deutschen Grundgesetz enthalten. Aus der Begründung zum Entwurf der Verfassungskommission ergibt sich, dass die Verfassungsgeber mit dieser Regelung Transparenz schaffen wollten, um effektiv Korruption bekämpfen zu können: „Um auf der einen Seite zu verhindern, dass diejenigen, die ein öffentliches Amt innehaben, ihre Einfluss missbrauchen und um auf der anderen Seite unberechtigte Vorwürfe gegen ehrliche Staatsmänner ausschließen zu können, erscheint es den Bedürfnissen des Landes zu entsprechen, […] den Grundsatz der Abgabe von Vermögenserklärungen auf diese anzuwenden“642. Artikel 60 TürkVerf statuiert, dass es das Recht und die Pflicht jedes Staatsbürgers ist, bei der Landesverteidigung mitzuwirken und dass diese Pflicht sowie die Militärdienstpflicht im Allgemeinen durch Gesetz zu regeln sind. Gemäß der Begründung der Verfassungskommission zu ihrem Verfassungsentwurf gäbe es eine entsprechende Regelung auch in fast allen anderen Verfassungen. Jedoch kann man davon ausgehen, dass nicht das deutsche Grundgesetz für diesen Artikel Pate stand, sondern die entsprechende Bestimmung der italienischen Verfassung. In Deutschland wurde die Wehrpflicht zwar 1956 eingeführt. Jedoch geschah dies lediglich einfachgesetzlich durch das Wehrpflichtgesetz. Die entsprechende verfassungsrechtliche Regelung trat erst 1968 durch Einführung des Art. 12a in Kraft. Somit gab es 1960/1961 in Deutschland noch keine verfassungsrechtliche Verankerung der Wehrpflicht. Das deutsche Grundgesetz enthält aber bereits seit ihrem Inkrafttreten das Recht auf Kriegsdienstverweigerung (Art. 4 Abs. 3 des deutschen Grundgesetzes). Eine Kriegsdienstverweigerung sieht die türkische Verfassung jedoch nicht vor, genauso wenig wie die italienische Verfassung.643 Letztgenannte erklärt zudem, genauso wie die türkische Verfassung, mit einem gewissen Pathos („Die Verteidigung des Vaterlandes ist heilige 640  Begründung

zum Entwurf der Verfassungskommission, S. 27. zum Entwurf der Verfassungskommission, S. 27. 642  Begründung zum Entwurf der Verfassungskommission, S. 27. 643  Das Recht auf Kriegsdienstverweigerung existiert in Italien erst seit 1971. 641  Begründung

192 E. Verfassung von 1961 unter Berücksichtigung von Rezeptionsvorgängen

Pflicht des Staatsbürgers“644) den Militärdienst ausdrücklich zur Pflicht der Bürger. Art. 61 Abs. 1 TürkVerf enthält die Verpflichtung, dass jeder Bürger gemäß seiner finanziellen Kraft zur Steuerzahlung verpflichtet ist. Dies entspricht dem Art. 53 Abs. 1 der italienischen Verfassung. Auch in den Beratungen der Abgeordnetenversammlung wurde auf Italien Bezug genommen. Der Abgeordnete Cemal Reşit Eyüboğlu erklärte, dass die Verfassungskommission diese Bestimmung wohl aus der italienischen Verfassung übernommen habe, wollte aber die Regelung im Abschnitt über die wirtschaftlichen und sozialen Grundrechte und -pflichten verorten.645 Kommissionssprecher Muammer Aksoy erwiderte, dass sich diese Bestimmung in der italienischen Verfassung auch im Abschnitt der politischen Grundrechte und -pflichten befindet und bestätigte damit, dass die Verfassungskommission diese Bestimmung aus der italienischen Verfassung übernommen hat.646 Ferner statuiert Art. 61 Abs. 2 TürkVerf, dass Steuern, Abgaben, Gebühren und ähnliche finanzielle Lasten nur durch Gesetz bestimmt werden können. Diese Bestimmung ist in der italienischen Verfassung nicht enthalten. Vielmehr enthielt bereits Art. 85 der türkischen Verfassung von 1924 eine entsprechende Regelung, auf den auch in der Begründung der Verfassungskommission zu ihrem Verfassungsentwurf verwiesen wird.647 Diese Regelung stellt also eine Übertragung aus der alten Verfassungsordnung dar. Art. 62 TürkVerf beinhaltet das Petitionsrecht. Demnach haben alle Staatsangehörigen das Recht, einzeln oder gemeinschaftlich Bitten oder Beschwerden an die zuständigen Behörden oder an die Türkische Große Nationalversammlung zu richten. Der Wortlaut entspricht weitestgehend dem des Art. 17 des deutschen Grundgesetzes. Die türkische Regelung enthält aber zusätzlich noch die Bestimmung, dass das Ergebnis von Eingaben, das den Antragsteller persönlich betrifft, diesem schriftlich mitzuteilen ist. Aus den Debatten in der Abgeordnetenversammlung geht hervor, dass die türkischen Verfassungsgeber den Art. 17 des deutschen Grundgesetzes als Vorbild hatten. Auf den Einwand, wonach nicht jeder zu jedem Thema und sondern nur zu ihn persönlich betreffenden Problemen Bitten und Beschwerden einreichen können soll, entgegnete der Kommissionssprecher, dass eine entsprechende Einschränkung zwar in der italienischen Verfassung, aber nicht in der griechischen, japanischen und deutschen Verfassung enthalten ist. Es gäbe keinen Grund dafür, eine entsprechende Einschränkung zu machen. Dabei führte er ferner aus, dass es in Deutschland in den ersten vier Jahren nach der Verab644  Vgl.

Art. 52 der italienischen Verfassung von 1947. der Abgeordnetenversammlung, Band 3, S. 355. 646  Protokolle der Abgeordnetenversammlung, Band 3, S. 356–357. 647  Begründung zum Entwurf der Verfassungskommission, S. 28. 645  Protokolle



IV. Fazit193

schiedung des Grundgesetzes 25 000 Petitionen an den Bundestag gegeben habe.648 Dies zeigt, dass sich die Verfassungskommission bezüglich des Petitionsrechts in erster Linie am deutschen Grundgesetz orientierte und hierbei auch dessen praktische Umsetzung im Auge hatte.

IV. Fazit Die türkischen Verfassungsgeber hatten den Willen und die Motivation, mit der Verfassung von 1961 ein „westliches“ Verfassungswerk zu schaffen, mithin eine Verfassung, die den „westlichen“ Standards ihrer Zeit mindestens entspricht. In diesem Rahmen behielten sie zum Teil die Bestimmungen der türkischen Verfassung von 1924 bei, zum Teil veränderten bzw. entwickelten sie die Regelungen der türkischen Verfassung von 1924 weiter, zum Teil schufen sie gänzlich neue Regelungen, zum Teil rezipierten sie Bestimmungen und Regelungen aus verschiedenen „westlichen“ Verfassungsordnungen. Somit schufen sie eine Verfassung, die keine Kopie einer anderen fremden oder der alten türkischen Verfassung ist, sondern die eine Komposition aus verschiedenen Verfassungsordnungen darstellt. Die Verfassung von 1961 ist somit ein Werk, die aus der Vermischung von Artikeln der eigenen Verfassung von 1924 und Übernahmen aus „westlichen“ Verfassungsordnungen im Wege einer selektiven Rezeption entstanden ist. Dabei waren quantitativ, d. h. hinsichtlich der Anzahl der entsprechenden Artikel, als auch qualitativ, d. h. hinsichtlich des Umfangs und der Bedeutung der Regelungsmaterie, die italienische Verfassung von 1947 und das deutsche Grundgesetz von 1949 Hauptgegenstände der Rezeption durch die türkischen Verfassungsgeber. Dabei stand für die Verfassungsgeber bei jeder einzelnen Regelungs­ problematik, bei jeder einzelnen Thematik die Frage im Vordergrund, ob die bisherige Bestimmung aus der Verfassung von 1924, eine Bestimmung aus der Verfassungsordnung eines anderen „westlichen“ Staates oder die Schaffung einer neuen eigenen Regelung als geeignet und passend für die Bedürfnisse und Belange der Türkei ist. Wie immer die Antwort im Einzelfall auch ausfiel, der Anspruch war die Ausarbeitung eines Verfassungswerks, das den „modernen“, „westlichen“ und demokratischen Maßstäben entspricht. Bezüglich der Bestimmungen, die die Ausgestaltung des Parlaments und dessen Kompetenzen betreffen, orientierten sich die türkischen Verfassungsgeber an anderen, „westlichen“ Verfassungen ihrer Zeit. Mitunter bedienten sie sich dem Mittel der Übernahme und Rezeption aus „westlichen“ Verfassungen, meist wahrscheinlich aus der italienischen Verfassung von 1947. Viel häufiger aber übernahmen die Verfassungsgeber die Regelungen aus der türkischen Verfassung von 1924 und änderten bzw. gestalteten sie ihren eige648  Protokolle

der Abgeordnetenversammlung, Band 3, S. 360–361.

194 E. Verfassung von 1961 unter Berücksichtigung von Rezeptionsvorgängen

nen Bedürfnissen entsprechend um, wobei sie dabei immer die „westlichen“ Verfassungsordnungen als Maßstab heranzogen. Bei der Ausarbeitung der Verfassungsbestimmungen, die den Präsidenten der Republik betreffen, orientierten sich die Verfassungsgeber auch in erster Linie an der bisherigen Rechtslage unter der Verfassung von 1924. Insbesondere was die Kompetenzen und die Befugnisse des Staatsoberhaupts angeht, übernahmen die Verfassungsväter und -mütter die Regelungen aus der Verfassungsordnung von 1924. Bezüglich der Wahl und der Stellung des Präsidenten, insbesondere des Verhältnisses zum Parlament, nahmen die Verfassungsgeber eine Kursänderung vor, um die Gewaltenteilung zu gewährleisten und orientierten sich an „westlichen“ Verfassungsordnungen. Auch wenn es sich nicht abschließend belegen lässt, sprechen gewichtige Argumente für eine Vorbildfunktion der italienischen Verfassung von 1947. Bei den Bestimmungen bezüglich der Position und der Rolle der Regierung übernahmen die Verfassungsgeber zum Teil die entsprechenden Regelungen der bisherigen Verfassung von 1924 und veränderten diese inhaltlich oder zumindest sprachlich. Zum Teil schufen sie neue Regelungen und orientierten sich dabei weitgehend an den „westlichen“ Verfassungsstandards dieser Zeit. Für Übernahmen konkreter Verfassungsartikel aus bestimmten Verfassungen gibt es aber keine eindeutigen Nachweise. Für die Bestimmungen der türkischen Verfassung zum Verfassungsgericht fungierte in erster Linie die italienische Verfassung als Vorbild. Die Systematik und die Grundzüge des Besetzungsverfahrens und der Kompetenzen des Verfassungsgerichts wurden aus der italienischen Verfassungsordnung übernommen. Die türkischen Verfassungsgeber entschieden sich aber dafür, Bestimmungen zum Verfahren und zu weiteren Einzelheiten unmittelbar in der Verfassung selbst zu regeln und nicht dem einfachen Gesetzgeber zu überlassen, wie es in der italienischen Verfassung der Fall ist. Die türkischen Verfassungsgeber verfolgten bei der Ausarbeitung und Formulierung der Grundrechte die Arbeitsweise der selektiven Rezeption. Sie haben also nicht die Grundrechtsbestimmungen einer anderen, fremden Verfassung en bloc in die eigene Verfassungsordnung übernommen. Stattdessen haben sie einen Pool mit Verfassungen und Regelwerken gebildet, zu denen die „westlichen“ Verfassungen gehörten, die neueren Datums waren, d. h. die nach dem Zweiten Weltkrieg entstanden und in Kraft getreten sind, sowie die AEMR, die Europäische Sozialcharta und die eigene türkische Verfassung von 1924. Sie haben die Bestimmungen dieser Verfassungen und auch ihre praktische Umsetzung untersucht, miteinander verglichen und im Wege der Rechtsvergleichung diejenigen Normen, Bestimmungen und Verfassungsartikel ausgelesen und übernommen, die sie für ihre jeweiligen Ziele und Bedürfnisse passend und geeignet fanden. In den Fällen, in denen sie die jewei-



IV. Fazit195

lige eigene Regelung aus der bisherigen türkischen Verfassung von 1924 im Vergleich zu den entsprechenden Bestimmungen in „westlichen“ Verfassungen als passender und zielführender einstuften, haben sie diese auch in der Verfassungsordnung von 1961 beibehalten. Das Ergebnis war ein neuer Grundrechtekatalog, der aus Verfassungsartikeln, Bestimmungen und Prinzipien besteht, die zum Teil aus verschiedenen „westlichen“ Verfassungen bzw. Menschenrechtskonventionen übernommen wurden, zum Teil bereits in der türkischen Verfassung von 1924 existierten und zum Teil gänzlich eigenständig formuliert und geschaffen wurden. Zu diesen eigenständig geschaffenen Grundrechtsregelungen gehören im Bereich der Freiheits- und Gleichheitsgrundrechte bestimmte Abschnitte und Teile des Grundrechts über die Unverletzlichkeit der Person (Art. 14 Abs. 3 und Abs. 4 TürkVerf), das Grundrecht auf die Unverletzlichkeit der Privatsphäre (Art. 15 TürkVerf), einige Absätze der Pressefreiheit (Art. 22 Abs. 2 und Abs. 6 TürkVerf) und der Wissenschaftsfreiheit (Art. 21 Abs. 4 TürkVerf), das Grundrecht auf Nutzung nichtpresseartiger Kommunikationsmittel (Art. 26 TürkVerf) und das Recht auf Herausgabe von Zeitungen und Zeitschriften (Art. 23 Abs. 2 und Abs. 3 TürkVerf). Daneben spielte das deutsche Grundgesetz eine wichtige Rolle als Rezeptionsgegenstand für die Freiheits- und Gleichheitsgrundrechte. Denn das deutsche Grundgesetz war Vorbild für den Schutz des Kerns der Grundrechte (Art. 11 Abs. 2 TürkVerf), für bestimmte Aspekte der Reise- und Niederlassungsfreiheit (Art. 18 Abs. 2 TürkVerf), für die Wissenschafts- und Kunstfreiheit (Art. 21 Abs. 2 und Abs. 3 TürkVerf) sowie für das Versammlungsund Demonstrationsrecht (Art. 28 TürkVerf). Bei den Regelungen bezüglich der Unverletzlichkeit der Person (Art. 14 Abs. 1 und Abs. 2 TürkVerf) kann eine Rezeption nicht eindeutig nachgewiesen werden, aber es sprechen dennoch gewichtige Gründe für eine Vorbildfunktion der entsprechenden Bestimmungen des deutschen Grundgesetzes. Außerdem gibt es Freiheitsgrundrechte, bei denen inhaltlich und ausweislich der Quellenlage sowohl die italienische als auch die deutsche Verfassungsbestimmung als Vorbild fungierten. Hierzu gehörten die allgemeine Bestimmung bezüglich der gemeinsamen Charakteristika der Grundrechte (Art. 10 Abs. 1 TürkVerf), die Wissenschafts- und Kunstfreiheit (Art. 21 Abs. 1 TürkVerf) sowie das Recht auf Herausgabe von Büchern und Broschüren (Art. 24 Abs. 1 TürkVerf). Zudem gibt es, auch wenn sich dies nicht zweifelsfrei belegen lässt, wichtige Anhaltspunkte für eine Übernahme der italienischen Verfassungsbestimmungen im Zusammenhang mit dem Gleichheitsgrundsatz (Art. 12 Abs. 1 TürkVerf), der Rechtsstellung der Ausländer (Art. 13 TürkVerf) sowie den allgemeinen Vorgaben an den Staat, die alle Grundrechte betreffen (Art. 10 Abs. 2 TürkVerf).

196 E. Verfassung von 1961 unter Berücksichtigung von Rezeptionsvorgängen

Darüberhinaus waren im Bereich der Pressefreiheit (Art. 22 Abs. 5 TürkVerf) und des Rechts auf Herausgabe von Büchern und Broschüren (Art. 24 Abs. 2 TürkVerf) sowohl die italienische als auch die griechische Verfassungsordnung Vorbild für die türkischen Verfassungsbestimmungen. Außerdem ist es sehr wahrscheinlich, dass die türkischen Verfassungsgeber für die Regelung zum Entgegnungs- und Berichtigungsrechts die entsprechende griechische Bestimmung übernahmen. Ferner ist die türkische Bestimmung zum Veröffentlichungsverbot (Art. 22 Abs. 4) das Ergebnis einer Übernahme aus der schwedischen Verfassungsordnung. Bei der Ausarbeitung des Grundrechtsartikels zur Meinungsfreiheit (Art. 20 TürkVerf) orientierten sich die türkischen Verfassungsgeber an der AEMR. Bei der Benennung der Schranken der Pressefreiheit (Art. 22 Abs. 3 TürkVerf) übernahmen die türkischen Verfassungsgeber die entsprechende Regelung der Europäischen Menschenrechtscharta. Daneben gibt es eine Reihe von Freiheitsgrundrechten, für die sich keine konkreten Rezeptionsvorbilder identifizieren lassen, die jedoch inhaltlich und auch gemäß den Aussagen der türkischen Verfassungsgeber in den vorliegenden Quellen dem Standard „westlicher“ Verfassungsordnungen entsprechen bzw. aus diesen übernommen worden sind. Hierzu gehören bestimmte Regelungen der Reise- und Niederlassungsfreiheit (Art. 18 Abs. 3 TürkVerf), der Pressefreiheit (Art. 22 Abs. 1 TürkVerf), des Rechts auf Herausgabe von Zeitungen und Zeitschriften (Art. 23 Abs. 1 TürkVerf) sowie die Bestimmung zum Schutz von Druckereien und Druckwerkzeugen (Art. 25 TürkVerf) und das Vereinigungsrecht (Art. 29 TürkVerf). Aus der türkischen Verfassung von 1924 übertrugen die türkischen Verfassungsgeber bestimmte Bestimmungen bezüglich des Gleichheitsgrundsatzes (Art. 12 Abs. 2 TürkVerf), der Reise- und Niederlassungsfreiheit (Art. 18 Abs. 1 TürkVerf) sowie die einleitende Bestimmung bezüglich der Schranken der Grundrechte (Art. 11 Abs. 1 TürkVerf). Zudem wurde im Bereich der Religionsfreiheit (Art 19 TürkVerf) der status quo aus der türkischen Verfassung von 1924 beibehalten und unter Berücksichtigung der Besonderheiten der Türkei als ein Land mit islamischer Bevölkerungsmehrheit und Tradition eigenständig weiterentwickelt und konkretisiert. Daneben gab es mit der Unverletzlichkeit der Wohnung (Art. 16 TürkVerf) und der Kommunikationsfreiheit (Art. 17 TürkVerf) Grundrechte, die die türkischen Verfassungsgeber aus der türkischen Verfassung von 1924 übernommen haben, aber hinsichtlich des Schutzbereichs bzw. der Schranken ausbauten und konkretisierten. Konkrete Rezeptionsvorbilder hierfür werden aus den Quellen nicht ersichtlich, jedoch entsprechen diese Fortführungen und Konkretisierungen inhaltlich und auch erklärtermaßen dem Standard „westlicher“ Verfassungen, sodass davon auszugehen ist, dass die türkischen Verfassungsgeber diesen in „westlichen“ Verfassungsordnungen verbreiteten Standard übernahmen.



IV. Fazit197

Der Abschnitt über die sozialen und wirtschaftlichen Grundrechte lässt sich bezüglich der Frage nach der Rezeption in drei Bereiche aufteilen. Eine Gruppe der Verfassungsartikel stellen Übernahmen bzw. Fortentwicklungen von Bestimmungen aus der türkischen Verfassung von 1924 dar. Zu nennen wären hier die Regelungen zum Schulwesen (Art. 50 Abs. 1 und Abs. 2 TürkVerf) und zur Arbeits- und Vertragsfreiheit (Art. 40 TürkVerf) sowie zum Teil auch die Bestimmungen zur Enteignung (Art. 38 TürkVerf). Für eine zweite Gruppe der sozialen und wirtschaftlichen Grundrechte fungierten fremde Verfassungen als Vorbilder, in erster Linie das deutsche Grundgesetz und die italienische Verfassung. Die Regelungen bezüglich der Hochbegabtenförderung sowie des Denkmal- und Kulturschutzes stellten eine Übernahme aus der italienischen Verfassung dar (Art. 50 Abs. 3 und Abs. 5 TürkVerf). Auch wenn es nicht eindeutig zu belegen ist, sprechen gewichtige Gründe dafür, dass auch die Verfassungsbestimmungen zum Eigentumsrecht und zum Bodeneigentum, sowie zu den staatlichen Eingriffsmöglichkeiten bei Privatunternehmen ihrem Inhalt nach aus der italienischen Verfassung stammen (Art. 37, 38, 40 TürkVerf). Zudem hatte das italienische Recht neben dem deutschen Recht eine Vorbildfunktion für den Schutz der Familie und für bestimmte Aspekte der Verstaatlichung. Die deutsche Wirtschaftsordnung stand zudem Pate für Art. 41 TürkVerf, die die Grundprin­ zipien der türkischen Wirtschafts- und Sozialordnung festlegt. Hinzu kommen die Regelungen zum Genossenschaftswesen (Art. 51 TürkVerf), die die Verfassungsväter und -mütter aus der israelischen Verfassung übernahmen und die Bestimmungen zur Enteignung und Verstaatlichung zur Landbeschaffung für Bauern gegen eine Entschädigung auf Raten (Art. 38 TürkVerf), die zum Teil aus der indischen Verfassung stammen. Für den Artikel zum Schutz der Bauern (Art. 52 TürkVerf) lässt sich kein Verfassungsvorbild ausmachen. Für die Regelungen zu Tarifverträgen und zum Streikrecht (Art. 47 TürkVerf) gab es ebenfalls kein konkretes Verfassungsvorbild. Diese stellen aber eine Übernahme des in vielen „westlichen“ Verfassungen dargelegten Standards in die türkische Verfassungsordnung dar. Bezogen auf die sozialen Grundrechte im engeren Sinne als dritte Gruppe standen die Europäische Sozialcharta und die AEMR für die türkischen Verfassungsgeber Pate, wobei Letztere ein besonderes Gewicht innehatte. Bei der Ausarbeitung der Verfassungsartikel über Arbeitsbedingungen (Art. 43 TürkVerf), über das Recht auf Gründung von Gewerkschaften und Arbeitgeberverbänden (Art. 46 TürkVerf) und über das Recht auf Gesundheit (Art. 49 TürkVerf) fungierten die AEMR und die Europäische Sozialcharta als Vorbilder. Die AEMR war zudem Rezeptionsgegenstand für die Artikel der türkischen Verfassung, die das Recht auf Arbeitsruhe und gerechten Arbeitslohn, sowie das Sozialversicherungswesen betreffen (Art. 44, 45, 48 TürkVerf).

198 E. Verfassung von 1961 unter Berücksichtigung von Rezeptionsvorgängen

Dies gilt höchstwahrscheinlich auch für den abschnittsübergreifenden Art. 53 TürkVerf, der die Umsetzung der sozialen Rechte durch die Kriterien der wirtschaftlichen Entwicklung und der für den Staat zur Verfügung stehenden finanziellen Mittel begrenzt. Vor allem durch diese Übernahmen aus der Europäischen Sozialcharta und insbesondere aus der AEMR gelang die türkische Verfassung von 1961 zu einem ausführlichen und umfassenden Katalog an sozialen und wirtschaftlichen Grundrechten, einschließlich der verfassungsrechtlichen Grundlagen für die staatlichen Maßnahmen zur Realisierung dieser Rechte. Damit ist die türkische Verfassung von 1961 bezogen auf die sozialen Grundrechte viel umfassender und weitreichender als die damaligen westeuropäischen Verfassungen. Sie gilt daher in dieser Frage als die fortschrittlichste Verfassung ihrer Zeit.649 Dennoch lässt sich die Übernahme der sozialen Grundrechte aus der AEMR in die türkische Verfassung von 1961 auch als Rezeption „westlicher“ Verfassungsrechte begreifen und einordnen. Zwar ist die AEMR das Ergebnis eines globalen Kompromisses zwischen den Mitgliedern der UN, die sowohl aus Staaten des „Westens“ und des Ostblocks als auch aus blockfreien Staaten bestanden. Inhaltlich setzte sie allen Staaten ein Standard an Grundrechten, die „ein Ausdruck des weltzivilisatorisch erreichten Erwartungshorizonts [war], an dem sich ihre Rechtsetzung und -praxis orientieren und messen lassen sollten“650. Mit diesem Standard, diesem Erwartungshorizont hinsichtlich des Menschenrechtsschutzes ist die AEMR jedoch zeitlich und inhaltlich den entsprechenden innerstaatlichen Regelungen und Verfassungen „west­ licher“ Staaten gefolgt.651 Sie hob damit die Grundrechte, die sich bereits in den westeuropäischen und nordamerikanischen Verfassungen befanden, auf die Ebene des Völkerrechts. Dies gilt in erster Linie für die klassischen Freiheitsgrundrechte. Für die sozialen Grundrechte hingegen lassen sich die ­Regelungen der AEMR durchaus als historischen Meilenstein bezeichnen.652 Bezüglich des Umfangs und des Gehalts der sozialen Grundrechte lässt sich sicher behaupten, dass die AEMR den nationalen Verfassungen zeitlich und inhaltlich vorangegangen ist. Aber die mitunter vertretene Ansicht, wonach die sozialen Grundrechte nur auf Wunsch und Drängen der Ostblockstaaten Eingang in die AEMR gefunden hätten, ist unzutreffend. Vielmehr bestand über die grundsätzliche Notwendigkeit entsprechender Rechte Konsens zwi649  Abadan,

Die türkische Verfassung von 1961, S. 328–329. Idee und Anspruch der Menschenrechte im Völkerrecht, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, Band 46, S. 4. 651  Fassbender, Idee und Anspruch der Menschenrechte im Völkerrecht, S. 5. 652  Krennerich, Soziale Menschenrechte, S. 24. 650  Fassbender,



IV. Fazit199

schen den Staaten des „Westens“ und den Ostblockstaaten.653 Es waren nämlich die bitteren Erfahrungen mit der NS-Zeit und der wirtschaftlichen Not der Kriegs- und Nachkriegszeit, die den Staaten des „Westens“ bewusst machte, wie wichtig das Recht auf freie Bildung, der freien Teilnahme am kulturellen Leben, das Recht auf Arbeit auch im Sinne der freien Berufswahl ist und wie bedeutend die materielle Grundsicherung der Menschen als solche für den gesellschaftlichen Zusammenhalt ist.654 Die sozialen Grundrechte der AEMR knüpften also an die „westlichen Bekenntnisse zur […] sozialen Verantwortung“655 an. Die sozialen Grundrechte entsprachen daher auch nach Maß und Inhalt nicht den eigentlichen Forderungen der kommunistischen Staaten. Für diese sollten soziale Rechte im und durch den Staat erlangt werden und nicht gegen diesen. Die Ausformulierung der sozialen Grundrechte als Individualrechte entsprach daher nicht ihrem Rechtsverständnis.656 Insbesondere auch aus diesem Grund enthielten sich die kommunistischen Staaten bei der Annahme der AEMR durch die UN-Generalversammlung am 10. Dezember 1948.657 Und nicht umsonst erheben einige Staaten und Regierungen den Vorwurf, die AEMR sei grundsätzlich eine „geschichtlich bedingte westliche Idee“658 und ein Produkt der „westlichen“ Ordnung. Praktisch findet dann diese Distanzierung ihren Niederschlag in den Vorbehalten, also Erklärungen der Staaten hinsichtlich des Ausschlusses der Rechtswirkung bestimmter Vertragsbestimmungen.659 Übernahmen aus der AEMR sind also keinesfalls selbstverständlich, sondern korrespondieren vielmehr mit der prinzipiellen Arbeitsweise der türkischen Verfassungsgeber, namentlich der Rezeption „westlicher“ Verfassungsrechte. Bei der Ausarbeitung der politischen Grundrechte fungierten über weite Strecken das deutsche Grundgesetz und die italienische Verfassung als Rezeptionsgegenstände. Hierbei war die italienische Verfassung Vorbild für die Bestimmungen zum Militärdienst (Art. 60 TürkVerf) und zur Steuerpflicht (Art. 61 Abs. 1 TürkVerf). Das deutsche Grundgesetz hingegen war Vorbild für die Regelungen hinsichtlich der Bedeutung, der Stellung und des Verbots 653  Lange, Migration und die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte von 1948, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, Band 46, S. 26–27; Krennerich, Soziale Menschenrechte, S. 27–28. 654  Krennerich, Soziale Menschenrechte, S. 26. 655  Krennerich, Soziale Menschenrechte, S. 27. 656  Krennerich, Soziale Menschenrechte, S. 28. 657  Fassbender, Idee und Anspruch der Menschenrechte im Völkerrecht, S. 3; Krennerich, Soziale Menschenrechte, S. 28. 658  Fassbender, Idee und Anspruch der Menschenrechte im Völkerrecht, S. 6. 659  Fassbender, Idee und Anspruch der Menschenrechte im Völkerrecht, S. 6.

200 E. Verfassung von 1961 unter Berücksichtigung von Rezeptionsvorgängen

von politischen Parteien (Art. 56 und 57 TürkVerf), hinsichtlich des Peti­ tionsrechts (Art. 62 TürkVerf), sowie des Wahlrechts (Art. 55 Abs. 2 S. 1 TürkVerf). Beim Wahlrecht übernahmen die türkischen Verfassungsgeber aber zum Teil auch die Bestimmungen der türkischen Verfassung von 1924 (Art. 55 Abs. 1) oder schufen gänzlich neue Regelungen (Art. 55 Abs. 2 S. 2 TürkVerf), die aus den Erfahrungen des türkischen Mehrparteiensystems ab 1946 resultierten. Bei den Fragen des Zugangs zum öffentlichen Dienst (Art. 58 TürkVerf) und insbesondere des Staatsangehörigkeitsrechts (Art. 54 TürkVerf) gab es ebenfalls keine Rezeption „westlicher“ Verfassungsrechte, sondern Übernahmen aus der türkischen Verfassung von 1924 bzw. originäre Neuregelungen seitens der türkischen Verfassungsgeber.

F. Legitimationen und Gründe für die Rezeption „westlicher“ Verfassungsrechte Für diese Verfassungsentstehung durch die Arbeitsmethode der vergleichenden, zielgerichteten und selektiven Rezeption „westlicher“ Verfassungsrechte lassen sich mehrere Ursachen und Gründe finden. Diese Ursachen beinhalteten zudem die Grundlagen zur Legitimierung und Rechtfertigung der neuen Verfassung, wodurch die türkischen Verfassungsgeber die Annahme und Billigung ihres Werkes sicherstellen konnten.

I. Berufung auf Mustafa Kemal Atatürk und die kemalistische Bewegung Bei der Erarbeitung der neuen Verfassung beriefen sich die Verfassungsgeber in besonderem Maße auf Mustafa Kemal Atatürk und seine kemalistische Bewegung. Sie sahen sich als Erben und Fortführer der kemalistischen Politik der „Verwestlichung“ des Landes. Dies zeigte sich sowohl in der Begründung der Verfassungskommission zu ihrem Verfassungsentwurf als auch in den Debatten in der Abgeordnetenversammlung. Die Verfassungskommission bezeichnete die laizistische, nationalstaatliche Republik in der Begründung zu ihrem Verfassungsentwurf als das „Werk der Türkischen Revolution“660, als „eine historische Notwendigkeit“661 und sah in der „Türkischen Revolution“ unter Mustafa Kemal Atatürk die Grundlage der gesamten staatlichen und gesellschaftlichen Ordnung. Sie warf der Demokratischen Partei (DP) unter Ministerpräsident Adnan Menderes vor, gegen die Grundsätze der „Türkischen Revolution“ verstoßen zu haben, von ihr abgewichen zu sein und sie geleugnet zu haben.662 Die Militärintervention vom 27. Mai 1960 sei daher eine Notwehrhandlung gewesen, die die „Rückkehr zu den Prinzipien der Revolution“663 ermöglicht habe. Auf diese Weise delegitimierte die Verfassungskommission die gestürzte DP-Regierung und legitimierte die Militärintervention, was auch eine Legitimierung ihrer selbst darstellte, da sie eine unmittelbare Folge dieser Militärintervention gewesen 660  Begründung

zum zum 662  Begründung zum 663  Begründung zum 661  Begründung

Entwurf Entwurf Entwurf Entwurf

der der der der

Verfassungskommission, Verfassungskommission, Verfassungskommission, Verfassungskommission,

S. 2. S. 2. S. 2, 3. S. 3.

202

F. Legitimationen und Gründe für die Rezeption

ist. Zudem positionierten sie sich damit als Bewahrer und Fortführer der kemalistischen Ideale Mustafa Kemal Atatürks. Aus ihrer Sicht stehen sie, ganz im Gegensatz zur vorangegangenen Regierung der Demokratischen Partei (DP), für die „Türkischen Revolution“, also für Mustafa Kemal Atatürk und seine Reform- und Modernisierungspolitik. Mehrfach brachten die Kommissionsmitglieder in der Verfassungsbegründung zum Ausdruck, die neue Verfassung bestätige und festige die Grundprinzipien der kemalistischen Politik, namentlich insbesondere den Laizismus, die Souveränität der Nation, die republikanische Staatsform und die Demokratie.664 Auch in den Verhandlungen in der Abgeordnetenversammlung bezogen sich die Redner ausdrücklich auf Mustafa Kemal Atatürk. Sie sahen sich als Vertreter seiner Ideale, Prinzipien und politischen Mission und die Militärintervention gegen die DP-Regierung als notwendigen Akt zur Bewahrung dieser Mission. Für den Abgeordneten Ahmet Demiray verkündete der Verfassungsentwurf „an die ganze Welt die Ewigkeit der Republik, die das heilige Erbe Atatürks ist, und die Bindung an dessen Revolutionen“665. Der Kommissionssprecher Taner Zafer Tunaya erklärte, die Verfassungskommission und die Abgeordnetenversammlung arbeiteten „die atatürkistische Luft einatmend“666. Dabei setzte er auch die Militärintervention vom 27. Mai 1960 in Bezug zum Türkischen Befreiungskrieg unter Mustafa Kemal Atatürk und versuchte so, ähnlich wie in der Begründung der Verfassungskommission, Ersteren zu legitimieren und die gestürzte DP-Regierung zu delegitimieren. Die Republik Türkei sei das revolutionäre Ergebnis des Befreiungskrieges, der die Nation gerettet und zur Erlangung ihrer Rechte geführt habe. Die Bedeutung des 27. Mai 1960 könne nur im Lichte dieser Geschichte richtig beurteilt werden. Die Türken hätten das Widerstandsrecht der Nation gegen einen grenzenlosen Despotismus in Anspruch genommen und so die Freiheit, die sie im Zuge der Gründung der Republik gewonnen hätten, verteidigt.667 Schließlich erklärte der Abgeordnete Şefik Inan: „Diese Revolution […] ist nicht ein militärischer Staatsstreich, sondern eine nationale Bewegung zum Schutz und zur Erreichung des Endziels der vor vierzig Jahren durchgeführten Revolution Atatürks.“668 Diese Bezugnahme und Berufung kamen auch unmittelbar in der Verfassung selbst zum Ausdruck. Gemäß der Präambel gab sich die Türkische Nation diese Verfassung „mit der festen Überzeugung von der Bindung an die Revolutionen Atatürks“. Im Gegensatz zur Bundesrepublik Deutschland, in 664  Begründung

zum Entwurf der Verfassungskommission, S. 3–5, 51. der Abgeordnetenversammlung, Band 2, S. 450. 666  Protokolle der Abgeordnetenversammlung, Band 2, S. 500. 667  Protokolle der Abgeordnetenversammlung, Band 2, S. 500. 668  Protokolle der Abgeordnetenversammlung, Band 2, S. 386. 665  Protokolle



I. Berufung auf Atatürk und die kemalistische Bewegung203

der bis zum KPD-Verbotsurteil des Bundesverfassungsgerichts aus dem Jahre 1956669 ungeklärt war, ob die Präambel integraler Teil des Grundgesetzes ist, war dieser Punkt in der Türkei von vornherein unbestritten, da der türkische Verfassungsgeber diese Frage in der Verfassung selbst beantwortete. Art. 156 Abs. 1 TürkVerf legt fest, dass die Präambel, die „die Grundansichten und Grundprinzipien aufzeigt, die der Verfassung zugrunde liegen“670, Teil des Verfassungstextes ist. Art. 2 TürkVerf geht sogar noch weiter, indem er bei der Festlegung der Wesensmerkmale der Republik auch die in der Präambel zum Ausdruck kommenden Prinzipien einschließt. Somit ist die Präambel unumstritten integraler Bestandteil der Verfassung, die zudem nach fast einhelliger Meinung nicht nur Programm, Richtlinie und Auslegungshilfe ist, sondern unmittelbar anzuwendendes Verfassungsrecht.671 Dies wurde durch das türkische Verfassungsgericht in mehreren Urteilen bestätigt und bekräftigt.672 Somit gilt die „Bindung an die Revolutionen Atatürks“ als ein rechtlich bindendes Prinzip der Verfassung von 1961. Darüber hinaus steht auch Art. 1 TürkVerf („Der Staat der Türkei ist eine Republik“) für die Berufung auf Mustafa Kemal Atatürk und die kemalistische Politik. Er stimmt wörtlich mit dem Art. 1 der türkischen Verfassung von 1924 überein und stellt eine Übernahme dieses Artikels dar.673 Dadurch machten die Verfassungsgeber jedoch nicht nur deutlich, dass die Staatsform der Republik unverändert bleiben soll674, sondern erklärten auch ihre politisch-ideologische Bindung an Mustafa Kemal Atatürk und seine kemalistische Modernisierungs- und Reformpolitik. Denn gemäß der Begründung der Verfassungskommission ist dieser erste Artikel der Verfassung nichts weniger als der „rechtliche Ausdruck der Türkischen Revolution“675. Diese Norm soll „die Bestätigung und Fortführung“676 der republikanischen Ordnung und Prinzipien, die seit 1923 bestehen, dokumentieren. 669  BVerfGE 5, 85, 127: „Der Präambel des Grundgesetzes kommt vor allem politische, aber auch rechtliche Bedeutung zu.“ 670  Artikel 156 Absatz 1 TürkVerf. 671  Siehe zu dieser Frage die Arbeit von Sunay, Türk anayasa hukukunda anayasa başlangıç kısımları (Die Präambeln im türkischen Verfassungsrecht), insbesondere S. 77–79. 672  Siehe für eine Liste aller Urteile des Verfassungsgerichts, in denen auf die Präambel Bezug genommen wird: Önbilgin/Oytan, Öğretide-Uygulamada T. C. Anayasasının İlke Ve Kuralları İle Anayasa Mahkemesi Kararlar Dizini (Die Anwendung von Prinzipien und Regeln der Verfassung und Verzeichnis der Urteile des Verfassungsgerichts), S. 287. 673  Begründung zum Entwurf der Verfassungskommission, S. 9. 674  Hirsch beschränkt sich nur auf diese Bedeutung von Artikel 1 TürkVerf (Hirsch, Verfassung der Türkischen Republik, S. 81). 675  Begründung zum Entwurf der Verfassungskommission, S. 9. 676  Begründung zum Entwurf der Verfassungskommission, S. 9.

204

F. Legitimationen und Gründe für die Rezeption

Schließlich zeigen sich die Auffassung von der Kontinuität zu Mustafa Kemal Atatürk und das Selbstbild der Verfassungsgeber als Fortführer der kemalistischen Revolution ein weiteres Mal gegen Ende der Verfassung in Art. 153 TürkVerf. Dieser Artikel bestimmt, dass die unter der Präsidentschaft Mustafa Kemal Atatürks in den 1920ern und 1930ern erlassenen acht „Revolutionsgesetze“, die „das Ziel verfolgen, die türkische Gesellschaft auf die Höhe der zeitgenössischen Zivilisation zu heben und den Laizismus als Charakter der Republik Türkei zu schützen“677, wiederum selbst durch die Verfassung besonders geschützt sind. Zu diesen Normen gehören das Gesetz Nr. 430 vom 03. März 1924 zur Vereinheitlichung des Unterrichts (staatliche, säkulare Schulen anstelle der religiösen medrese-Schulen), das Gesetz Nr. 671 vom 25. November 1925 über das Tragen von Hüten (Verbot des Fes als traditionelle Kopfbedeckung und das Gebot an Stelle dieser Hüte zu tragen), das Gesetz vom 30. November 1925 über das Verbot und die Schließung religiöser Orden, Klöster und Mausoleen, über das Verbot des Berufs der Mausoleenwärter und der Führung und Verleihung einiger [religiöser] Titel, die Vorschrift des Artikels 110 des Bürgerlichen Gesetzbuches Nr. 743 vom 1. Februar 1926 über das Verfahren bei der Eheschließung (nur staat­ liche Eheschließung hat eine rechtliche Wirkung), das Gesetz Nr. 1288 vom 20. Mai 1928 über die Annahme des internationalen Zahlensystems, das Gesetz Nr. 1353 vom 01. November 1928 über die Annahme und Anwendung des türkischen Alphabets, das Gesetz Nr. 2590 vom 26. November 1934 über die Aufhebung von Titeln und Anreden wie Efendi, Bey oder Pascha sowie das Gesetz Nr. 2596 vom 03. Dezember 1934 über das Verbot, bestimmte Gewänder zu tragen. Der besondere Schutz dieser Gesetze geschieht durch die Regelung des Art. 153 TürkVerf, wonach keine Bestimmung der Verfassung so ausgelegt werden darf, dass die „Revolutionsgesetze“ als verfassungswidrig angesehen werden. Diese Gesetze erhalten damit keinen Verfassungsrang und könnten sogar theoretisch auf dem Wege der parlamentarischen Gesetzgebung geändert oder aufgehoben werden. Jedoch sind sie mit einer Verfassungsfestigkeit versehen, das heißt, sie sind dem Einwand der Verfassungswidrigkeit, insbesondere wegen Verletzung von Grundrechten, entzogen. Einige dieser Gesetze waren bereits 1960/1961 vollständig und erfolgreich umgesetzt. Niemand hinterfragte sie mehr, sodass sie praktisch nicht mehr gebraucht oder geschützt werden mussten. Hierzu gehören vor allem die Gesetze über das türkische Alphabet und über das internationale Zahlensystem. Andere wiederum, wie das Gesetz über das Tragen von Hüten, setzten die Regierungen nicht oder nicht mehr in die Praxis um. Eine dritte Gruppe, insbesondere das

677  Artikel 153

TürkVerf.



I. Berufung auf Atatürk und die kemalistische Bewegung205

Gesetz über das Verbot religiöser Orden, Klöster usw.678, war auch 1960/1961 noch von praktischer Bedeutung und beanspruchte rechtliche Geltung. Das entscheidende Moment an dieser Stelle ist unabhängig vom konkreten Inhalt der jeweiligen Gesetze der Umstand, dass durch die Bestimmung des Art. 153 TürkVerf die politische Mission Mustafa Kemal Atatürks in die Verfassung von 1961 übertragen wurde. Dadurch entstanden ein deutlicher Bezug und eine Verbindungslinie zur kemalistischen Bewegung der 1920er und 1930er Jahre. Mit einer Selbstverständlichkeit begründete die Verfassungskommission diesen Artikel wie folgt: „Die Bedeutung, die den Revolutionen Atatürks im Hinblick auf das Erreichen der zeitgenössischen Zivilisation […] durch die türkische Nation zukommt, ist offenkundig“679. Diese Berufung auf Mustafa Kemal Atatürk durch die Verfassungsgeber ist von entscheidender Bedeutung für die Verfassung. Denn in ihr liegt einer der Gründe, wenn nicht der wichtigste Grund, für die Rezeption „westlicher“ Verfassungsrechte. Denn der Name Mustafa Kemal Atatürks und seine Regierungszeit sind untrennbar verbunden mit der radikalen Reformpolitik der 1920er und 1930er Jahre, die das Ziel verfolgten, eine umfassende „Verwestlichung“ von Staat und Gesellschaft zu erreichen. Die „Verwestlichung“ ist das Hauptelement der „Türkischen Revolution“ und ihr wichtigstes Charakteristikum. Mustafa Kemal Atatürk hat zwar keine in sich geschlossene, starre Ideologie oder ein entsprechendes Weltbild hinterlassen, aber der Prozess der „Verwestlichung“ ist der unbedingte und absolute Kernpunkt seines politischen Werks.680 Aus diesem Grund war es den Verfassungsgebern, die sich dessen politischer Bewegung und ihrer Geschichte verpflichtet fühlten, als dessen Erben sie sich sahen, völlig selbstverständlich, den Weg der „Verwestlichung“ weiterzuverfolgen, mithin Verfassungsrechte aus dem „Westen“ zu rezipieren. Eine andere Methode oder Arbeitsweise als die der Rezeption „westlicher“ Verfassungsrechte kam gar nicht erst in Betracht. Folgerichtig erläuterte der Kommissionssprecher Taner Zafer Tunaya, der wie bereits ­zitiert von der „atatürkistischen Luft“681 sprach, die die Verfassungsgeber einatmen würden, darauffolgend für die Mitglieder der Verfassungskommission, dass es zwar Kommissionsmitglieder aus unterschiedlichen Parteien und politischen Richtungen gegeben habe, aber dennoch keine „doktrinären Unterschiede“682 bestanden hätten: „Wir alle waren uns in dem Punkt einig,

678  Der Verfasser wird im Verlauf der Arbeit auf dieses Gesetz noch besonders eingehen. 679  Begründung zum Entwurf der Verfassungskommission, S. 51. 680  Siehe S. 51 f., 61. 681  Protokolle der Abgeordnetenversammlung, Band 2, S. 500. 682  Protokolle der Abgeordnetenversammlung, Band 2, S. 500.

206

F. Legitimationen und Gründe für die Rezeption

eine Republik Türkei fortzuführen, die auf den Prinzipien der westlichen Demokratie basiert“683. Die Bezugnahme auf den Republikgründer Mustafa Kemal Atatürk stellte zugleich eine kaum hinterfragbare Legitimationsmöglichkeit für die Rezeption „westlicher“ Verfassungsrechte dar. Der Abgeordnete Şefik Inan, der, wie oben erwähnt, die militärische Intervention als eine Revolution „zum Schutz und zur Erreichung des Endziels der […] Revolutionen Atatürks“684 beschrieb, folgerte daraus, dass sie eine Verfassung vorbereiten müssten, die „die grundlegenden Institutionen einer zu 100 % westlichen Staatstruktur regelt“685. Für Alp Kuran ist das Ziel der „Revolution des 27. Mai“ die unumkehrbare Durchsetzung der Revolutionen Atatürks. Daher müssten die Antworten, die sie auf die staatsrechtlichen Fragen geben, „dieselben Antworten sein, die der große Atatürk gegeben hat, sie werden mit diesen gleich sein“686. Mit anderen Worten müssen die Verfassungsgeber aufgrund des Bestrebens, die Revolutionen Atatürks durchzusetzen, die „Verwestlichung“, die sich besonders in der Rezeption „westlichen“ Rechts ausdrückt, weiterführen. Schließlich erklärte Muammer Aksoy in der Abgeordnetenversammlung, dass das Hauptmotiv der kemalistischen Revolution „das Erreichen des Niveaus der zeitgenössischen westlichen Zivilisation und das Fortschreiten in Richtung westlicher Kultur“ gewesen sei, weshalb „die Aneignung von Prinzipien, die das gemeinsame Eigentum der westlichen Zivilisation sind und heute einstimmig als solche Akzeptanz finden, […] die Verwirklichung der Ideen darstellt, die die [kemalistische] Revolution hervorbrachten“687. Es wurde also eine Verbindungslinie ‚Mustafa Kemal Atatürk – Türkische Revolution – „Verwestlichung“ – Verfassungsgeber von 1960/1961 – Rezeption „westlicher“ Verfassungsrechte‘ hergestellt und als Legitimation für den letzten Punkt dieser Linie verwendet. Eine solche Rechtfertigung und Begründung der Rezeption „westlicher“ Verfassungsrechte führte dazu, dass weder im noch außerhalb der Abgeordnetenversammlung jemand dieser Verfassungsentstehung ernsthaft widersprechen konnte, ohne sich dem Vorwurf auszusetzen, ein Gegner Mustafa Kemal Atatürks und der mit ihm identifizierten Republik zu sein. Eine Kritik an der Arbeitsweise der Rezeption kam einer Kritik am Republikgründer, am wichtigsten Bezugspunkt, am politischen Vorbild gleich.

683  Protokolle

der Abgeordnetenversammlung, der Abgeordnetenversammlung, 685  Protokolle der Abgeordnetenversammlung, 686  Protokolle der Abgeordnetenversammlung, 687  Protokolle der Abgeordnetenversammlung, 684  Protokolle

Band 2, Band 2, Band 2, Band 2, Band 2,

S. 500. S. 386. S. 386. S. 386. S. 521.



II. Die Identität der Republik Türkei mit dem Osmanischen Reich207

Aufgrund der Aufnahme der Berufung auf Mustafa Kemal Atatürk und seine Reformen in den Verfassungstext über die Präambel, Art. 1 TürkVerf und Art. 153 TürkVerf enthält die Verfassung zudem ein rechtlich bindendes Bekenntnis zum Republikgründer und damit zugleich zu einer Politik der „Verwestlichung“, die zudem als unabänderliches Wesensmerkmal der Republik gilt.688 Die Verfassungsgeber verpflichteten somit die Politik und die Staatsorgane unter der Verfassung von 1961 zu einer Fortführung der „Verwestlichung“. Denn eine Abkehr von der Politik der „Verwestlichung“ ist gleichzusetzen mit einem Bruch der Verfassung.

II. Die Identität der Republik Türkei mit dem Osmanischen Reich und die Kontinuität der verfassungsrechtlichen Entwicklung „Dieser Entwurf, der der konstituierenden Versammlung zur Annahme und dem freiheitsliebenden türkischen Volk zur Bestätigung vorgelegt wird, stellt das den Grundlagen der zeitgenössischen westlichen Demokratien entsprechende Ergebnis unserer fast zweihundertjährigen demokratischen politischen Entwicklung und die vierte geschriebene Verfassung unserer Verfassungsgeschichte dar.“689

Mit diesem Satz leitete die Verfassungskommission der Abgeordnetenversammlung die Begründung zu ihrem Verfassungsentwurf ein, den sie dem Parlament zur Diskussion und Abstimmung vorlegte. Neben dem Bekenntnis zur „zeitgenössischen westlichen Demokratie“ sah sie die neue Verfassung in der Tradition einer zweihundertjährigen Entwicklung und bezog sich damit auch auf das Osmanische Reich. Die neu zu schaffende Verfassung galt als die vierte Verfassung der eigenen Geschichte, sodass die Verfassung des Osmanischen Reiches von 1876 folgerichtig als erste türkische Verfassung angesehen wurde, der die republikanischen Verfassungen von 1921, 1924 und schließlich 1961 folgten. Der Zeitraum von fast zweihundert Jahren wurde nicht zufällig gewählt. 1789 hatte Selim III., dessen Name in der türkischen Rechtswissenschaft mit den ersten Reformen nach „westlichem“ Vorbild verbunden ist, den osmanischen Thron bestiegen.690 Der türkische Verfassungsgeber ging also von einer stets in dieselbe Richtung fließenden historischen Verfassungsentwicklung aus, der sich innerhalb eines identisch bleibenden Staates abspielt. Diese Auffassung von der Identität der Republik 688  So auch Hirsch, Die Verfassung der Türkischen Republik, S. 81. Er folgert dies schon alleine aus der Präambel. 689  Begründung zum Entwurf der Verfassungskommission, S. 1 (Übersetzung mit Änderungen aus Hirsch, Die Verfassung der Türkischen Republik, S. 23). 690  Tanör, Osmanlı  – Türk anayasal gelişmeleri (Die osmanisch-türkischen Verfassungsentwicklungen), S. 33, 36–40; Jäschke, Osmanischer Verfassungsstaat, S. 6–7; Verweis auf ihn auch in: Protokolle der Abgeordnetenversammlung, Band 2, S. 364–365.

208

F. Legitimationen und Gründe für die Rezeption

Türkei mit dem Osmanischen Reich und von der Kontinuität der verfassungsrechtlichen und politischen Entwicklung in Richtung „westlicher Demokratie“ ist Grund- und Leitgedanke der Verfassungsbildung.691 Nach Ernst Eduard Hirsch sind diese Auffassungen vor allem deswegen so bedeutsam, weil sie über die Präambel Bestandteil der Verfassung geworden seien. Dies folgert Hirsch aus dem ersten Nebensatz der Präambel: „Die Türkische Nation, die während ihrer gesamten Geschichte unabhängig gelebt und für ihre Rechte und Freiheiten gekämpft hat [Hervorhebung durch den Verfasser], […] bewilligt und verkündet diese Verfassung“692. Mit der „gesamten Geschichte“ sei hier auch und vor allem die Zeit des Osmanischen Reiches zu verstehen und der Kampf „für ihre Rechte und Freiheiten“ beziehe sich auch auf die Reform- und Revolutionsbewegungen im Osmanischen Reich.693 Bereits im vorherigen Kapitel wurde ersichtlich, dass die Präambel aufgrund von Art. 2 und Art. 156 Absatz 1 TürkVerf in der Tat ein integraler Bestandteil der Verfassung ist. Ob jedoch der inhaltlichen Interpretation dieses Nebensatzes durch Hirsch zuzustimmen ist, lässt sich weder aus der Begründung der Verfassungskommission noch aus den Protokollen der Abgeordnetenversammlung heraus klären. Denn dem Entwurf fehlte schlichtweg die Präambel. Die Kommission überließ die Formulierung einer Präambel bewusst der Abgeordnetenversammlung und wartete zunächst auf deren Eingaben und Vorschläge.694 Seitens der Abgeordneten gab es dann mehrere Vorschläge, aus denen die Kommission eine Kompromiss-Präambel bildete. Der in dieser Frage entscheidende erste Nebensatz findet sich jedoch in dieser Präambel noch nicht.695 Erst das Komitee der Nationalen Einheit fügte diesen Nebensatz ein. Es lässt sich daher an dieser Stelle ein weiteres Mal die Einwirkung der Armeeführung auf die Verfassungsarbeit beobachten. Neben dem bereits erörterten Einfluss auf die personelle Zusammensetzung der entscheidenden Gremien, wirkten sie zudem auf den Inhalt der Verfassung ein. Die Generäle veränderten in diesem Zusammenhang auch die Präambel. Dies geschah an zwei Stellen. Zur „Verbundenheit mit den Revolu­ tionen Atatürks“ fügten sie noch die „Verbundenheit mit dem Türkentum“ hinzu.696 Zusätzlich stellten sie den hier erörterten Nebensatz an die Spitze. Aus den entsprechenden Protokollen geht dabei hervor, dass diese Änderun691  Hirsch,

Verfassung der Türkischen Republik, S. 23. türkischen Originaltext wird die Präambel mit diesem Nebensatz eingeleitet, wodurch er eine besondere Betonung und Hervorhebung erhält. 693  Hirsch, Verfassung der Türkischen Republik, S. 23, 80. 694  Protokolle der Abgeordnetenversammlung, Band 2, S. 367. 695  Protokolle der Abgeordnetenversammlung, Band 2, S. 367–369, 666–668. 696  Protokolle der Abgeordnetenversammlung, Band 2, S. 438. 692  Im



II. Die Identität der Republik Türkei mit dem Osmanischen Reich209

gen mit Diskussionen verbunden waren, in denen es hauptsächlich um die Legitimierung der Militärintervention (damit verbunden die Frage, ob die Rolle der Armee explizit erwähnt werden sollte oder nicht) und die Betonung Atatürks sowie des Nationalismus ging und nicht um die Zeit des Osmanischen Reiches.697 Jedoch betonte das Komiteemitglied Sami Küçük, dass die türkische Nation einen seit mindestens 120 Jahren stattfindenden Kampf für ihre Rechte und Freiheiten führe und zählte dabei die einzelnen Stationen der Reformen und Revolutionen auf, wobei er auch die Reformbewegungen des Osmanischen Reiches dazu zählte. Diese müssten sich in der Präambel wiederfinden.698 Sein Kollege Haydar Tunçkanat stellte nach der Formulierung der Änderungen schließlich klar, dass die Präambel die vergangenen Kämpfe für die Demokratie verkörpern sollte, aber dafür eine zu lange Aufzählung der Ereignisse der letzten 150 Jahre notwendig wäre und fügte hinzu: „Aus diesem Grund wurde kein Jahr erwähnt, sondern es wurde für passender befunden den Zusatz mit ‚ihrer gesamten Geschichte‘ zu machen“699. In diesem Zusammenhang verglichen schließlich die Komitee-Mitglieder Ahmet Yıldız und Vehbi Ersü den Übergang vom Osmanischen Reich zur Republik Türkei mit dem Übergang vom Regime unter der Verfassung von 1924 zur Verfassung von 1961.700 Der Wechsel vom Osmanischen Reich zur Republik Türkei wurde somit mehr als Regimewechsel und weniger als staatliche Neugründung begriffen. Die Verfassungskommission der Abgeordnetenversammlung schloss sich dieser Ansicht an, indem sie die Änderung mit der Erklärung, dass der Satz dadurch „mehr Farbe und Gehalt“ bekomme, akzeptierte.701 Daher lässt sich in der Tat feststellen, dass das Geschichtsbild von der Identität der Türkei mit dem Osmanischen Reich und der Kontinuität der Entwicklung Bestandteil der Verfassung von 1961 geworden ist. Das besondere Gewicht dieser Auffassungen besteht aber nicht nur darin, dass sie Verfassungsinhalt geworden sind, sondern dass sie darüber hinaus die Grundlage des türkischen Verfassungsdenkens und der Verfassungsentwicklung darstellen. Dieses Geschichtsverständnis ist für die türkische Verfassungswissenschaft des 20. und 21. Jahrhunderts völlig selbstverständlich, sodass sie aus ihrer Sicht keiner eigenen Begründung bedarf. Die gesamte Forschungs- und Lehrliteratur geht übereinstimmend und ohne Begründung von 697  Protokolle des Komitees für nationale Einheit, Band 6, 81. Zusammenkunft, S. 6–7; Band 6, 87. Zusammenkunft, S. 3. 698  Protokolle des Komitees für nationale Einheit, Band 6, 81. Zusammenkunft, S. 7. 699  Protokolle des Komitees für nationale Einheit, Band 6, 87. Zusammenkunft, S. 3. 700  Protokolle des Komitees für nationale Einheit, Band 6, 81. Zusammenkunft, S. 3, 4. 701  Protokolle der Abgeordnetenversammlung, Band 5, S. 438.

210

F. Legitimationen und Gründe für die Rezeption

diesen Einschätzungen als Ausgangspunkt aus. Jedes Werk, das die Verfassungsgeschichte der Türkei darstellt, umfasst auch und vor allem das Osmanische Reich. Dies betrifft nicht nur Werke aus der Zeit der Entstehung der Verfassung von 1961, sondern ist bis heute Basis des türkischen Verfassungsrechts.702 Aus diesem Grund ist es nicht passend, diese Geschichtsauffassungen so wie Hirsch als „Thesen“ der türkischen Verfassungsgeschichte und Rechtswissenschaft zu bezeichnen.703 Eine These ist ein zu beweisender Gedanke oder Satz. Sie wird aufgeworfen, ist Gegenstand einer Debatte, einer wissenschaftlichen Untersuchung und wird anschließend abhängig vom Ergebnis verworfen oder bestätigt. Der Verfechter einer These ist sich in der Regel der Notwendigkeit eines Beweises bewusst und versucht, diesen zu erbringen beziehungsweise seine These vor Gegenbeweisen zu verteidigen.704 Aber für die türkische Rechtswissenschaft und insbesondere auch für den türkischen Verfassungsgeber von 1961 lagen hier keine zu beweisenden Behauptungen vor, weshalb es keine nennenswerte Diskussion darüber gab. Die Auffassung von der Identität von Reich und Republik und der Kontinuität der Entwicklung sind Grundlage der türkischen Rechtsbildung und der Boden, aus dem die türkische Rechtswissenschaft und Rechtspraxis erwuchsen. Sie sind insofern einer Beweisführung nicht zugänglich, weil sie aus türkischer Sicht keines Beweises bedürfen. Die Identität der Republik Türkei mit dem Osmanischen Reich und die Kontinuität der Verfassungsentwicklung sind keine diskutierten „Thesen“ des türkischen Verfassungsgebers und der türkischen Rechtswissenschaft, sondern vielmehr Auffassungen und Bilder von der eigenen Geschichte, mithin Überzeugungen von der eigenen kollektiven Identität und vom Gang der eigenen verfassungsrechtlichen Entwicklung. Die besondere Bedeutung dieser Überzeugung für die vorliegende Arbeit besteht darin, dass sie eine Legitimationsgrundlage für die Rezeption „westlicher“ Verfassungsrechte darstellte. Die Verfassungsgeber verwiesen stets darauf, dass sie Teil einer historischen Entwicklung sind. Sie sahen sich als Vertreter einer politischen Mission, die von der Nizâm-ı Cedîd („neue Ordnung“) im 18. Jahrhundert, über die I. und II. Meşrutiyet (Zeit der konstitu702  Beispielhaft aus einer Fülle von Arbeiten über die Geschichte des türkischen Verfassungsrechts: Abadan/Savci, Türkiye’de Anayasa gelişmelerine bir bakış (Ein Blick auf die Verfassungsentwicklungen in der Türkei); Aldıkaçtı, Anayasa hukukumuzun gelişmesi ve 1961 anayasası (Die Entwicklung unseres Verfassungsrechts und die Verfassung von 1961); Gözübüyük, Açıklamalı Türk anayasaları (Die türkischen Verfassungen mit Erläuterungen); Erdoğan, Türkiye’de anayasalar ve siyaset (Verfassungen und Politik in der Türkei); in deutscher Sprache: Abadan, Die Entstehung der Türkei, S. 353–422. 703  Hirsch, Verfassung der Türkischen Republik, S. 23, 25, 27. 704  Mann, These, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Band 10, Sp. 1175; Sparn, These, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Band 10, Sp. 1178; Eisler, Wörterbuch der philosophischen Begriffe, Band 3, S. 1508.



II. Die Identität der Republik Türkei mit dem Osmanischen Reich211

tionellen und später parlamentarischen Monarchie unter den Jungtürken im 19. Jahrhundert) bis in die Zeit des Verfassungsgebers reicht, mit dem absoluten Höhepunkt dazwischen unter Mustafa Kemal Atatürk.705 Hauptaufgabe dieser Mission ist die Reformierung, die Erneuerung des Landes. Sie wurde dabei vor allem auch als Kampf gegen äußere und innere Gegner verstanden. Für die Zeit von Mustafa Kemal Atatürk waren dies die osmanische Herrscherfamilie und ihre Anhänger sowie die ausländischen Besatzer. Für die Zeit des Verfassungsgebers war dies die abgesetzte autoritäre Regierung der Demokratischen Partei, die insbesondere auch religiöse Gruppierungen umfasste.706 Die Formulierung der Verfassung wurde somit als Fortführung eines Kampfes verstanden. Diese Verbundenheit mit den Reformbewegungen des Osmanischen Reiches führte dazu, dass eine andere Arbeitsweise als die der Übernahme von Normen und Prinzipien aus dem „Westen“ nicht in Frage kam, da dies als eine Abkehr von der Mission und als eine Niederlage verstanden worden wäre. Man war Partei im historischen Kampf um Erneuerung und Säkularisierung, die man als „Verwestlichung“ begriff. Daher war es nicht nur legitim, sondern notwendig, eine „westliche“ Verfassung zu formulieren, mithin „westliche“ Verfassungen als Quelle und Vorbild zu verwenden. Aus der Überzeugung von der Kontinuität der Verfassungsentwicklung seit dem 18. Jahrhundert ergab sich deshalb eine Legitimation für die Übernahme „westlicher“ Verfassungsrechte. Hirsch bemerkt in diesem Zusammenhang, dass die Verfassungskommission den Entwicklungsprozess mit diesem Verfassungsentwurf als abgeschlossen angesehen habe.707 Er kommt zu dieser Schlussfolgerung, weil er in der Übersetzung der oben dargestellten Einleitung zur Begründung des Verfassungsentwurfs die Stelle „das […] Ergebnis unserer […] Entwicklung“ als „das […] Ende unserer […] Entwicklung“ übersetzt.708 Jedoch bedeutet das hier entscheidende türkische Wort „sonuç“ nicht „Ende/Abschluss“ (dies wäre das Wort „son“), sondern muss vielmehr mit „Auswirkung/Folge/Ergebnis“ übersetzt werden. Daher folgt aus diesem Satz nicht, wie Hirsch behauptet, dass die Verfassungskommission die Entwicklung als zum Abschluss gebracht ansah. In der Begründung heißt es an anderer Stelle: „Die Türkei muss auf diesem Weg [das heißt der „Verwestlichung“] weitergehen, damit sie den Erfordernissen einer zeitgenössischen Demokratie entspricht“709. Der Sprecher der Verfassungskommission Tarık Zafer Tunaya sprach in diesem Zusammenhang während der Aussprache über den Entwurf der Verfas705  Protokolle des Komitees für nationale Einheit, Band 6, 81. Zusammenkunft, S. 7; Protokolle der Abgeordnetenversammlung, Band 2, S. 409. 706  Siehe S.  61 ff. 707  Hirsch, Verfassung der Türkischen Republik, S. 23. 708  Hirsch, Verfassung der Türkischen Republik, S. 23. 709  Begründung zum Entwurf der Verfassungskommission, S. 7.

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F. Legitimationen und Gründe für die Rezeption

sungskommission in der Abgeordnetenversammlung davon, dass sie die heutigen Vorkämpfer einer langen Freiheitssuche seien, ein Glied einer langen Reformkette, die nun schon zweihundert Jahre zurückreiche.710 Der Abgeordnete Ilhan Özdil erklärte bei dieser Aussprache: „Diese Verfassung […] hat sich als Ziel gesetzt den demokratischen Raum mit einem revolutionären Verständnis weiter zu entwickeln“711. Die „Verwestlichung“ wurde also als ein fortwährender Gesamtprozess verstanden, der das Verfassungsrecht genauso umfasst wie die Wirtschaft und die Politik. Dieser Gesamtprozess sollte durch diese Verfassung fortgeführt und ermöglicht werden, aber nicht als abgeschlossen gelten. Diese Haltung des Verfassungsgebers lässt sich mit der politischen und wirtschaftlichen Lage der Türkei der 1960er Jahre erklären. Die Defizite des Landes hätten eine Feststellung in der Richtung, dass die demokratische Entwicklung abgeschlossen und beendet sei, euphemistisch erscheinen lassen. Aber diese realistische Einstellung ist auch als ein Ausfluss der kemalistischen Ideologie anzusehen. Denn der Revolutionismus als Prinzip des Kemalismus fordert, wie anderer Stelle bereits erörtert, die immer weiterschreitende Modernisierung, die Anpassung an die moderne Zivilisation, die eine beständige Fortschritts- und Erneuerungsbewegung sein muss, da sich die Zivilisation auch immer ändert. Diese Idee der fortwährenden Reformen führt dazu, dass der Prozess der „Verwestlichung“ gar nicht als abschließbar angesehen werden kann. Denn dieses Verständnis würde gerade einen Widerspruch zu der „Verwestlichung“ im kemalistischen Sinne darstellen. Die Identität der Republik Türkei mit dem Osmanischen Reich und die damit verbundene Kontinuität der Verfassungsentwicklung als immer weiterschreitende „Verwestlichung“ waren bei der Verfassungsentstehung wesentliche Handlungsmotive und Legitimationsgrundlagen für die Arbeitsweise der selektiven Übernahme „westlicher“ Verfassungsrechte. Jedoch wurde mit der neuen Verfassung der Prozess der „Verwestlichung“ nicht als abgeschlossen angesehen, sondern sie galt als dessen Fortführung und Ermöglichung. Dieses Ergebnis mag aus westeuropäischer Sicht überraschen. Gelten doch die Gründung der Republik und deren Entwicklung als radikale Abkehr von der osmanischen Vergangenheit. Mitunter herrscht in heutiger Zeit in Westeuropa sogar die Ansicht vor, dass zwischen dem Osmanischen Reich und der Republik Türkei gar keine Gemeinsamkeiten bestehen würden.712 Für eine Beurteilung des Identitäts- und Kontinuitätsbildes muss man sich vergegenwärtigen, dass kollektive, nationale Identitäten und Kontinuitäten 710  Protokolle

der Abgeordnetenversammlung, Band 2, S. 499. der Abgeordnetenversammlung, Band 2, S. 449. 712  Beispielhaft für viele: Matuz, Das Osmanische Reich, S. 278. 711  Protokolle



II. Die Identität der Republik Türkei mit dem Osmanischen Reich213

Selbsteinschätzungen sind, die auf historischen Erfahrungen basieren. Eine gemeinsame Geschichte mit den gleichen politischen, sozialen und wirtschaftlichen Bedingungen führt zu Gemeinsamkeiten. Entscheidend für die Identitätsstiftung ist dabei, dass diese tatsächlichen oder auch nur vermeintlichen historischen Erfahrungen und Gemeinsamkeiten zur „gemeinsamen Erinnerung“713 werden, also von der Gruppe als kollektive Geschichte erschlossen und empfunden werden.714 Hierbei muss man beachten, dass diese Verbindung zwischen tatsächlicher beziehungsweise vermeintlicher Geschichte und nationaler Identität stets eine Konstruktion ist, die rein theoretisch auch anders hätte geformt sein können, sofern die „gemeinsame Erinnerung“ sich anhand von anderen Gemeinsamkeiten und Differenzen gebildet hätte.715 Die Frage kann deshalb sinnvollerweise nicht sein, ob eine Auffassung von Identität und Kontinuität richtig oder falsch ist.716 Jedoch kann der Frage nachgegangen werden, wie es zu dieser Ansicht von der Identität und Kontinuität gekommen ist, welche Erfahrungen und Gemeinsamkeiten als „gemeinsame Erinnerung“ bestimmend wirkten, um dadurch das Selbstbild für Außenstehende nachvollziehbar zu machen. Zunächst muss man festhalten, dass das Osmanische Reich ein Vielvölkerstaat gewesen ist, in dem einzelnen Gruppen verschiedene Formen der Autonomie gewährt wurde. Dies war eine Folge der millet-Struktur, d. h. der Ordnung der Bevölkerung nach Religionsgemeinschaften. Innerhalb dieser Ordnung genossen als eigene Religionsgemeinschaften insbesondere die christlich-orthodoxen Griechen und Armenier sowie die Juden Autonomie im Bereich des Privatrechts und in kulturellen (einschließlich schulischen) Angelegenheiten.717 Außerhalb der millet-Struktur gab es auch für einen Teil der Kurden in den entlegenen Regionen im Südosten des Reiches eine gewisse faktische Autonomie.718 Das Osmanische Reich war aufgrund dieser Struktur nur im „Rechtssinne ein einheitliches und untrennbares Ganzes“719, aber eben keine Nation. Gemäß Art. 8 der Verfassung des Osmanischen Reiches von 1876 galten alle Untertanen als „Osmanen“ und nicht als „Türken“. Hier 713  Hroch,

Nationales Bewusstsein, S. 48. Nation und Nationalismus, S. 162, 163; Hroch, Nationales Bewusstsein, S. 48. 715  Mommsen, Nation und Nationalismus, S. 164; Strítecký, Identitäten, Identifikationen, Identifikatoren, S. 61; Höpken, Konfession, territoriale Identität und nationales Bewusstsein, S. 235. 716  So auch Höpken, Konfession, territoriale Identität und nationales Bewusstsein, S. 235. 717  Melinz, Vom osmanischen Mosaik zur türkischen Staatsnation, S. 55, 58; Matuz, Das Osmanische Reich, S. 113; Kartal, Rechtsstatus der Kurden, S. 34. 718  Kartal, Rechtsstatus der Kurden, S. 46–47. 719  Hirsch, Verfassung der Türkischen Republik, S. 24. 714  Mommsen,

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F. Legitimationen und Gründe für die Rezeption

kommt das Konzept des Osmanismus zum Ausdruck, der einen osmanischen Patriotismus propagierte und alle millets unter dem Dach eines osmanischen Vaterlandes zusammenbringen wollte. Es sollte für alle Gruppen integrierend wirken und die Unteilbarkeit des Reiches sicherstellen. Es verhinderte, gepaart mit der millet-Struktur, lange die Entstehung einer eigenen, exklusiven Identität der Türken, eines Selbstverständnisses als „Türke“.720 Schließlich tat der Islam als Hauptlegitimitätsquelle der staatlichen Ordnung des Osmanischen Reiches und universelle Staatsreligion das Seinige, da es eine umfassende Trennung von Staat und Religion nicht kennt und wenig Raum für eine Unterscheidung innerhalb der Muslime (in diesem Fall zwischen der türkischen und arabischen Bevölkerungsteilen des Reiches) übrig ließ. Als das Reich tragende, ihm und der Herrscherdynastie gegenüber loyale Schicht war es den Türken somit nicht möglich, eine Nation zu gründen. Denn dies hätte gerade dazu geführt, dass das Reich gesprengt worden wäre. Der osmanische Chronist Ahmet Cevdet Pascha, der im 19. Jahrhundert mehrmals Justizminister des Reiches war, formulierte in einer Denkschrift für den Sultan um 1880, dass die Türken „die eigentliche Kraft hinter dem Erhabenen Staat [sind]. Sie sind […] aufgefordert, ihr Leben für das Haus Osman zu geben, bis sie alle untergegangen sind.“721 Hierin ist der Grund dafür zu suchen, dass die Türken (im Ergebnis ähnlich wie die Deutschen) als „verspätete Nation“ gelten.722 Auch den türkischen Verfassungsgebern war dies bewusst. Vor allem die Generäle im Komitee für nationale Einheit verwiesen auf den Osmanismus und Panislamismus des 19. Jahrhunderts, folgerten hieraus eine besondere Bedeutung des Nationalismus für die Republik Türkei und forderten eine Aufnahme des Nationalismus in die Verfassung als Wesensmerkmal der Republik. Das Mitglied Mehmet Özgüneş erklärte beispielsweise, dass „diese Idee [das heißt der Osmanismus] leider nur die Türken vertröstete. Die anderen Bestandteile [gemeint sind die anderen Volksgruppen des Osmanischen Reiches] gingen weiterhin ihren eigenen Weg. Weder gab der Araber sein Arabersein auf, noch der Albaner sein Albanersein. Schließlich traten die türkischen Intellektuellen in Erscheinung und verteidigten mutig den türkischen Nationalismus. […] Wir können auf den Nationalismus nicht verzichten.“723 Im Rahmen dieser Nationalismus-Debatte stellte der Komitee720  Melinz, Vom osmanischen Mosaik zur türkischen Staatsnation, S. 58; Bolland/ Pritsch, Die türkische Verfassung vom 20. April 1924, S. 206. 721  Zitiert aus Kreiser/Neumann, Geschichte der Türkei, S. 342. 722  Melinz, Vom osmanischen Mosaik zur türkischen Staatsnation, S. 58, 62; Hirsch, Verfassung der Türkischen Republik, S. 24. 723  Protokolle des Komitees für nationale Einheit, Band 6, 87. Zusammenkunft, S. 7.



II. Die Identität der Republik Türkei mit dem Osmanischen Reich215

Präsident Cemal Gürsel fest: „Das größte Element, das unseren Nationalismus ruinierte, war der Panislamismus. Aufgrund der Glaubenssätze des Islam geriet der Nationalismus in Vergessenheit, wegen der religiösen Ignoranz konnte unser Volk nicht in den Besitz eines türkischen Geistes gelangen.“724 Bis hierin erscheint das Bild von der Identität und der Kontinuität weiterhin überraschend und unverständlich, da doch gerade die politische und soziale Struktur das Osmanische Reich hinderlich für die Entwicklung des türkischen Nationalstaats gewesen ist. Aber mit dem Aufkommen der nationalen Trennungsbewegungen der anderen Gruppen und dem damit verbundenen schleichenden Niedergang des Reiches begannen auch bei den Türken die Identitätssuche und die nationale Bewegung. „Bildete dieser nationale Gedanke auf der einen Seite das Sprengmittel für das Osmanische Reich als Nationalitätenstaat, so wurde es auf der anderen Seite zum geistigen und emotionalen Fundament einer türkischen Nation und einer türkischen Staatsgesinnung.“725 Ab dem 19. Jahrhundert wurde die türkische Sprache und Geschichte zum Gegenstand der osmanischen Literatur und Wissenschaft.726 Das Studium der eigenen Sprache, Geschichte, Traditionen und Sitten wird gemeinhin als erster Schritt hin zur nationalen Bewegung aufgefasst, da er Abgrenzungsnormen gegenüber anderen Gruppen schafft und Grundlagen für die Konstruktion einer Identität bereitstellt.727 Hierauf aufbauend begann die nationale Bewegung der Jungtürken ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts mit dem Versuch der Reformierung des Osmanischen Reiches und legte dabei den Grundstein für die spätere türkische Nation aus dem Osmanisch Reich heraus. Das Vaterland-Motiv der Osmanismus-Konzeption bot dabei für die Jungtürken Anknüpfungspunkte.728 Diese Bewegung erreichte ihren Höhepunkt in der Durchsetzung der ersten Verfassung im Osmanischen Reich von 1876. Wie bereits erörtert, herrschte darin zwar die Osmanismus-Konzeption vor, sodass alle Untertanen als „Osmanen“ galten, aber die verfassungsrechtlichen Regelungen insbesondere bezüglich der türkischen Sprache zeigen den Erfolg der nationalen Bewegung. Anders als Hirsch es darlegt729, unterstreichen diese Regelungen hinsichtlich der Sprache gerade nicht den Vielvölkerstaat, sondern sind ein Paradebeispiel für die gemeinsame Entwicklung der Reformierung des Reiches mit dem Entstehen eines türkischen Nationalgefühls. Nach Art. 18 der osmanischen Verfassung 724  Protokolle

S. 8.

725  Hirsch,

des Komitees für nationale Einheit, Band 6, 87. Zusammenkunft,

Verfassung der Türkischen Republik, S. 24. Vom osmanischen Mosaik zur türkischen Staatsnation, S. 61. 727  Hroch, Nationales Bewusstsein, S. 43. 728  Melinz, Vom osmanischen Mosaik zur türkischen Staatsnation, S. 60. 729  Hirsch, Verfassung der Türkischen Republik, S. 24. 726  Melinz,

216

F. Legitimationen und Gründe für die Rezeption

von 1876 ist Türkisch Staatssprache. Daraus resultierend ist die Kenntnis des Türkischen Voraussetzung für den Staatsdienst und für den Genuss des passiven Wahlrechts, sowie Verhandlungssprache im Parlament (Art. 18, 57, 68 der Verfassung des Osmanischen Reiches von 1876). Die Aufnahme des Türkischen als Staatssprache war ein Ergebnis der jungtürkischen Nationalbewegung, die eingebettet war in das System des Osmanischen Reiches. Zugleich ist sie auch als eine Reaktion auf die Unabhängigkeitsbestrebungen der anderen Gruppen zu sehen. Man wurde sich seiner selbst bewusst und begann ein eigenes Nationalempfinden zu entwickeln, ohne jedoch das Türkische den anderen Gruppen aufdrängen zu können. Denn dies hätte die Trennungsbestrebungen noch verstärkt. Deshalb wurden 1876 die Sprachen der anderen Gruppen auch nicht diskriminiert oder gar verboten. Jedoch wurden der osmanische Staat und die türkische Nationalbewegung über diese Verfassungsartikel miteinander verwoben. An diesem Beispiel wird deutlich, dass sich im Osmanischen Reich die Reformbewegung und die nationale Bewegung deckten. Die Reformer des Reiches waren zugleich die Verfechter der türkischen Nationalbewegung. Die türkische Nationalbewegung und die türkische Identität haben sich schon im Osmanischen Reich und aus diesem heraus entwickelt. Sie wurden also nicht erst nach dessen Zerfall gegründet oder konstruiert, sondern waren bereits im Reich angelegt. Anders als bei den anderen Gruppen wie den Griechen, Serben, Bulgaren, Armeniern und später auch Arabern, war die türkische Nationalbewegung in ihrer Entstehung nicht gegen das Reich als Staat gerichtet, sondern sie wollte den Staat reformieren und retten, sodass sie zu diesem Zweck mal mit der Herrscherdynastie und dem Machtzirkel des Palastes zusammenarbeitete, mal diese bekämpfte und ihr so beispielsweise die Verfassung von 1876 oder deren Wiedereinsetzung (1908/1909) abrang. Das Bild der Identität und Kontinuität deckt sich auch mit der historischen Wahrnehmung von außen. Das Osmanische Reich wurde in den Jahrhunderten seiner Existenz sowohl in Westeuropa, als auch auf dem Balkan und im arabischen Raum primär als ein Reich der Türken angesehen und die Republik Türkei in den Jahren ihrer Gründung als Fortführerin dieses Reiches wahrgenommen. Die Kriege des Osmanischen Reiches mit den westeuropäischen Ländern beziehungsweise mit Russland wurden von den Gegnern als „Türkenkriege“ bezeichnet, die Expansion des Osmanischen Reiches nach Europa ab dem 15. Jahrhundert wurde als „Türkengefahr“ wahrgenommen, die die „Türkenfurcht“ nährte.730 Die zweimalige Belagerung Wiens durch osmanische Truppen ging mit dem Ausdruck „Türken vor Wien“ in die westeuropäische Geschichtsschreibung ein. Auch auf dem Balkan wurde die os730  Konrad, Von der ‚Türkengefahr‘ zu Exotismus und Orientalismus: Der Islam als Antithese Europas (1453–1914)?, S. 5.



II. Die Identität der Republik Türkei mit dem Osmanischen Reich217

manische Herrschaft als Herrschaft der Türken angesehen und wahrgenommen. Die „Befreiung“ von der „Türkenherrschaft“ fungierte dann auch im 19. und 20. Jahrhundert als Leitmotiv der Nationalidee und wurde Teil des Gründungsmythos der Nationalstaaten auf dem Balkan.731 Für die Araber bestand eine besondere Verbindung zum Reich, da der osmanische Sultan als Kalif Oberhaupt aller sunnitischen Muslime gewesen ist. Zur Zeit seiner größten Ausdehnung umfasste das Reich zudem ganz Nordafrika und den Nahen Osten, mithin war es der Staat des sunnitischen Islam schlechthin. Die Betonung der gemeinsamen Religion als Verbindungselement durch die Sultane (sogenannter Pan-Islamismus) und die Entwicklung der bereits angesprochenen Osmanismus-Konzeption führten dazu, dass sich die Araber länger und stärker als die christlichen Völker des Balkans mit dem Reich ­verbunden fühlten.732 Mit der Verbreitung der Ideen vom Nationalstaat im arabischen Raum entstanden aber auch dort Nationalbewegungen, die das Osmanische Reich nicht etwa als muslimisches, türkisch-arabisches Reich ansahen, sondern primär als türkische Vorherrschaft empfanden, von der es sich zu lösen galt.733 Zwar wurde eine unmittelbare Auswirkung dieser Fremdkonstruktionen auf das Selbstbild der Türken bisher nicht explizit nachgewiesen. Dies kann auch diese Arbeit nicht leisten, da eine solche Untersuchung ihren Umfang sprengen würde. Es lässt sich jedoch festhalten, dass im Rahmen der Diskussionen um nationale Identitäten und Selbstbilder von Wechselwirkungen zwischen Selbst- und Fremdkonstruktionen von einzelfallabhängiger Intensität ausgegangen wird.734 Für gegenteilige Annahmen besteht aus der Sicht des Verfassers auch hier kein Anlass. Die personelle Kontinuität zwischen der politisch-militärischen Elite des Osmanischen Reich sowie der Republik Türkei stellt einen weiteren Stein im Mosaik des türkischen Bildes von der Identität von Republik und Reich dar. Weite Teile der Elite der Republik Türkei waren vor 1923 Teil der Elite des Osmanischen Reiches gewesen. Alle Offiziere des türkischen Befreiungskrieges hatten zuvor in der Armee des Osmanischen Reiches gedient und für das Reich im Ersten Weltkrieg gekämpft. Namentlich genannt seien hier vor al731  Konrad, Von der ‚Türkengefahr‘ zu Exotismus und Orientalismus: Der Islam als Antithese Europas (1453–1914)?, S. 33; Türkei-Jahrbuch der Stiftung Zentrum für Türkeistudien 2002/2003, S. 69. 732  Soy, Arap Milliyetçiliği: Ortaya Çıkışından 1918’e kadar (Der arabische Nationalismus: Von seiner Entstehung bis 1918), S. 181; Kreiser/Neumann, Geschichte der Türkei, S. 342. 733  Soy, Arap Milliyetçiliği: Ortaya Çıkışından 1918’e kadar (Der arabische Nationalismus: Von seiner Entstehung bis 1918), S. 180, 183. 734  Duve, Von der Europäischen Rechtsgeschichte zu einer Rechtsgeschichte Europas, S. 28, 58.

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F. Legitimationen und Gründe für die Rezeption

lem die Kommandeure der türkischen Befreiungstruppen, Mustafa Kemal Atatürk, Ismet Inönü, Kazım Karabekir, Ali Fuat Cebesoy und Fevzi Çakmak. Mustafa Kemal Atatürk und Ismet Inönü waren es dann auch, die nach 1923 als Politiker durch die umwälzenden Reformen auf allen Ebenen von Staat und Gesellschaft die Republik Türkei bis heute prägten. Die personelle Kontinuität betraf aber nicht nur den Offiziersstand, sondern lässt sich auch auf den Juristenstand, die Verwaltungsbeamtenschaft und teilweise auch auf den Politikerstand übertragen.735 Für die Letztgenannten verdeutlicht folgendes Beispiel diesen Umstand: Nach der Besetzung weiter Teile des Osmanischen Reiches durch die Siegermächte des Ersten Weltkrieges, formierte sich ab Mai 1919 in Anatolien die türkische Widerstandsbewegung unter Mustafa Kemal Atatürk. Der von dieser Bewegung formulierte „Nationalpakt“ forderte die nationale Unabhängigkeit und Souveränität einer türkischen Nation. Das Abgeordnetenhaus des Osmanischen Reiches in ­Istanbul erklärte am 17. Februar 1920 diesen Pakt zum Gesetz und stellte sich somit auf Seiten der Widerstandsbewegung und gegen den Sultan und die Besatzungsmächte. Auf Druck der Letzteren wurde das Parlament besetzt und aufgelöst. Die Abgeordneten, die fliehen konnten, schlossen sich der Nationalbewegung in Anatolien an und traten zum größten Teil der zwischenzeitlich gewählten und in Ankara zusammengetretenen Großen Türkischen Nationalversammlung bei.736 Aus den Abgeordneten der zweiten Kammer des Parlaments des Osmanischen Reiches wurden Abgeordnete des Parlamentes der türkischen Nationalbewegung, das 1923 die Republik ausrief. Die Vorstellung von der Identität von Reich und Republik und der Konti­ nuität der verfassungsrechtlichen Entwicklung basiert auch auf den verfassungsrechtlichen Geschehnissen und Zusammenhängen der Übergangszeit zwischen dem Osmanischen Reich und der Republik Türkei. Das Osmanische Reich, das sich seit 1908 nahezu permanent im Krieg befunden hatte, musste seine Niederlage im Ersten Weltkrieg Ende 1918 eingestehen und den Waffenstillstand von Mudros (30. Oktober 1918) unterzeichnen, der inhaltlich einer bedingungslosen Kapitulation glich. Diesem Waffenstillstand folgte das Friedensdiktat von Sèvres vom 10. August 1920. Dieser sah nicht nur vor, dass das Reich seine arabischen Gebiete und den Balkan vollständig verlieren sollte, sondern umfasste weitere Annexionen und Mandatsgebiete (zugunsten Englands, Frankreichs, Griechenlands, Italiens und Armeniens) im osmanischen Kernland, sodass den Türken nur eine kleiner Raum in Nord- und Zentralanatolien übrig bleiben sollte, der nur circa ein Achtel des türkischen Sprachge735  Gürzumar,

Die Rezeption des westlichen Rechts in der Türkei vor 1926, S. 35. Die türkische Verfassung vom 20. April 1924, S. 171; Hirsch, Verfassung der Türkischen Republik, S. 26. 736  Bolland/Pritsch,



II. Die Identität der Republik Türkei mit dem Osmanischen Reich219

biets umfasste.737 Hinzu kamen eine Ausweitung der Kapitulationen zugunsten der Alliierten und Vorrechte für deren Konsulargerichtsbarkeiten. Dieser Vertrag wurde nur von der sultanstreuen Regierung in Istanbul akzeptiert, die Nationalbewegung in Ankara unter Mustafa Kemal Atatürk lehnte ihn entschieden ab. Daher war der türkische Unabhängigkeitskrieg sowohl nach außen als auch nach innen gerichtet. Die nationale Widerstandsbewegung führte von Anfang an nicht nur einen Kampf gegen die Siegermächte des Ersten Weltkrieges, sondern auch gegen die eigene Monarchie und ihre Anhänger, die zur Rettung der eigenen Machtpositionen mit den Besatzungsmächten gegen die Nationalbewegung in Ankara vorgingen. Diesem Kampf der nationalen Widerstandsbewegung diente auch die Verfassung von 1921, die von der ­Nationalversammlung in Ankara angenommen wurde und am 20. Januar 1921 in Kraft trat. Sie hatte vornehmlich den Zweck die Handlungen der Nationalbewegung in Ankara während des Befreiungskrieges zu legitimieren, staatsrechtliche Organisationsprobleme dieser Übergangszeit zu lösen und somit den Machtwechsel von der osmanischen Monarchie zur türkischen Nationalbewegung vorzubereiten und zu ermöglichen.738 In dieser Verfassung wurde zum ersten Mal in der türkischen Geschichte verkündet, dass „die Staatsgewalt […] uneingeschränkt und bedingungslos der Nation zu[steht]“739. Nicht mehr der Sultan ist der Souverän, sondern das Volk, das seine Geschicke selbst lenken soll und von der Nationalversammlung in Ankara repräsentiert und verkörpert wird. Sowohl die Legislative als auch die Exekutive werden der Nationalversammlung übertragen, wodurch dem Sultanat der Boden entzogen wird.740 Daher gilt dieses Dokument als eines der Gründungsdokumente der Republik Türkei.741 Dennoch stellte diese Verfassung staatsrechtlich gesehen keinen umfassenden Bruch mit dem Osmanischen Reich dar. Denn sie enthält nur 24 Artikel, von denen neun die Staatsorganisation rund um die Nationalversammlung betreffen und 15 die Verwaltung des Staates auf der Grundlage der Selbstverwaltung neu regeln und einer gesetzlichen Umsetzung bedürfen, was aber nie geschehen ist.742 Sowohl Regelungen hinsichtlich der Judikative als auch die 737  Abadan,

Die Entstehung der Türkei, S. 364–365. Die Entstehung der Türkei, S. 364; Hirsch, Verfassung der Türkischen Republik, S. 26; Bolland/Pritsch, Die türkische Verfassung vom 20. April 1924, S. 175. 739  Artikel 1 der Verfassung von 1921. Diese Formulierung findet sich wörtlich in Artikel 4 Absatz 1 TürkVerf. 740  Artikel 1 und 2 der Verfassung von 1921. 741  Gözübüyük, Açıklamalı Türk anayasaları (Die türkischen Verfassungen mit Erläuterungen), S. 41. 742  Gözübüyük, Açıklamalı Türk anayasaları (Die türkischen Verfassungen mit Erläuterungen), S. 42; Bolland/Pritsch, Die türkische Verfassung vom 20. April 1924, S. 180. 738  Abadan,

220

F. Legitimationen und Gründe für die Rezeption

Grundrechte kommen gar nicht vor. Auch über die Frage des Staatsoberhauptes und der Rolle des Sultanats schweigt sich das Dokument aus, genauso wie über das generelle Verhältnis zur Verfassung des Reiches von 1876. Hierdurch und durch die praktische Anwendung lässt sich folgern, dass die Verfassung von 1921 die Verfassung des Osmanischen Reiches von 1876 nicht aufhob. Vielmehr hatten jene Bestimmungen der Verfassung von 1876, die nicht im Widerspruch zu den Regelungen der Verfassung von 1921 standen, weiterhin Geltungskraft, was insbesondere auf die Grundrechte zutraf.743 Daher wohnt der Verfassung von 1921 ein Element eines Provisoriums inne. Die Nationalbewegung hatte 1921 weder die Zeit noch die Gelegenheit beziehungsweise die Macht, eine umfassende Verfassung in ihrem Sinne zu erlassen. Der Befreiungskrieg gegen die Besetzung des Landes genoss oberste Priorität. Zuerst musste dieser gewonnen, innen- und außenpolitische Stabilität hergestellt und damit politischen Handlungsspielraum erobert werden, bevor weitergehende verfassungsrechtliche Veränderungen in die Wege geleitet werden konnten. Es lässt sich daher festhalten, dass die Verfassung von 1921, die als ein Meilenstein auf dem Weg zur Republik Türkei gilt und als eines ihrer Gründungsdokumente angesehen wird, die Verfassung des Osmanischen Reiches von 1876 nicht aufhob, sondern neben und mit dieser galt. Neben der personellen Verflechtung der militärischen und politischen Eliten prägte somit auch die verfassungsrechtliche Verschränkung die Übergangszeit vom Reich zur Republik. Auch auf völkerrechtlicher Ebene findet sich diese Verschränkung wieder. Die Republik Türkei ist nicht nur Rechtsnachfolgerin des Osmanischen Reiches und übernahm einen Großteil der osmanischen Schulden.744 Auch war es die türkische Nationalbewegung unter Mustafa Kemal Atatürk, die nach dem erfolgreichen Befreiungskrieg bei den Friedensverhandlungen in Lausanne im Jahre 1923 das Osmanische Reich vertrat und den Friedensvertrag von Lausanne unterzeichnete, die den Vertrag von Sèvres ersetzte. Die Kapitulationen und Konsulargerichtsbarkeiten, die das Osmanische Reich im Laufe der Jahrzehnte mit den Staaten des „Westens“ durch Verträge zugesichert hatte, galten fort und wurden erst in den Verhandlungen von Lausanne auf Druck der türkischen Seite aufgehoben. Mit anderen Worten war die Republik Türkei an die völkerrechtlichen Verträge, die das Osmanische Reich abgeschlossen hatte, gebunden.

743  Abadan, Die Entstehung der Türkei, S. 364; Abadan/Savci, Türkiye’de Anayasa gelişmelerine bir bakış (Ein Blick auf die Verfassungsentwicklungen in der Türkei), S. 61; Gözübüyük, Açıklamalı Türk anayasaları (Die türkischen Verfassungen mit Erläuterungen), S. 42. 744  Abadan, Die Entstehung der Türkei, S. 376.



II. Die Identität der Republik Türkei mit dem Osmanischen Reich221

Des Weiteren gibt es auch eine ethnisch-sprachliche Verbindung zwischen dem osmanischen Sultanshaus und der Volksgruppe der Türken. Die osmanische Dynastie ist aus dem Volksstamm der Osmanen hervorgegangen. Dieser Stamm ist zusammen mit anderen Turkstämmen ab dem 10. beziehungsweise 11. Jahrhundert aus Mittelasien nach Anatolien, in den Kaukasus und auf den Südbalkan eingewandert.745 Die noch heute bestehende sehr enge kulturelle und sprachliche Nähe zu den asiatischen Turkstaaten, insbesondere zu Aserbaidschan zeugen von dieser Herkunft und der langen Einwanderungsgeschichte. Nach langen kriegerischen Auseinandersetzungen zwischen diesen Stämmen konnten die Osmanen letztendlich die Oberhand gewinnen und sich alle anderen Turkstämme einverleiben.746 Aus dem Stamm der Osmanen, der ursprünglich ein Turkstamm unter vielen gewesen ist, wurde im Laufe dieser Zeit die Dynastie der Osmanen, das Herrscherhaus über alle Türken. Dieser historische Hintergrund erklärt auch den noch im 19. Jahrhundert vorherrschenden Standpunkt der Vertreter des Hauses Osman, das sich im bereits oben wiedergegebenen Zitat wiederfindet, wonach die Türken zum Schutze des Reiches verpflichtet seien. Auch diese ethnisch-sprachliche Verbindung trug zur Konstruktion des Bildes von der Identität des Osmanischen Reiches mit der Republik Türkei bei. So zeigt sich, dass die Vorstellung des türkischen Verfassungsgebers von der Identität von Reich und Republik und der Kontinuität der verfassungsrechtlichen Entwicklung auf verschiedenen historischen Zusammenhängen und Verbindungen beruhte. Dies erklärt, warum dieses Bild so häufig als Begründung für die Rezeption „westlicher“ Rechte im Rahmen der Ausarbeitung der türkischen Verfassung von 1961 herangezogen wurde. Da diese Überzeugung auf so vielen Pfeilern ruhte und fest in der türkischen Gesellschaft verankert gewesen ist, stellte die Verbindung dieser Überzeugung mit der Arbeitsweise der Übernahme „westlicher“ Verfassungsrechte für Letztere eine besonders starke und praktisch kaum hinterfragte Legitimationsquelle dar. Nun könnte man dem Verfassungsgeber einen Widerspruch in seinem Geschichtsbild vorhalten, da er sich einerseits auf die Identität der Republik Türkei mit dem Osmanischen Reich und der Kontinuität der verfassungsrechtlichen Entwicklung berief und andererseits den Kemalismus als die Verfassung prägende und tragende Staatsauffassung begriff und sich als Fortführer der kemalistischen Ideen ansah. Schließlich steht der gerade der Kemalismus wie kaum eine andere politische Ideologie für den Bruch mit der eigenen Vergangenheit. Auf jeden Fall lässt der Kemalismus, trotz aller 745  Kreiser/Neumann, 746  Kreiser/Neumann,

Geschichte der Türkei, S. 51–55. Geschichte der Türkei, S. 65–76.

222

F. Legitimationen und Gründe für die Rezeption

Dynamik und Anpassungsfähigkeit, eine Hinwendung zur osmanischen Staats- und Gesellschaftstradition auf keinen Fall zu.747 Letzteres aber den türkischen Verfassungsgebern von 1961 aufgrund ihrer Identitäts- und Kontinuitätsvorstellung vorzuwerfen, wäre zu weitgehend und inhaltlich auch nicht richtig. Denn Kontinuität (und übertragen auch Identität) ist, um mit Franz Wieacker zu sprechen, „freilich doppeldeutig. Bald meint es Fortleben der Geschichtsträger (der Völker) trotz Wandels ihrer Kulturformen […], bald das Fortleben gerade der Kulturformen im Wandel ihrer Träger.“748 Der kemalistische Bruch mit der Vergangenheit schließt nur die zweite Variante der Kontinuität aus, indem es eine Rückwendung zu den traditionellen, osmanischen Strukturen und Ordnungen des politischen und gesellschaftlichen Lebens verbietet. Die Identitäts- und Kontinuitätsvorstellung der türkischen Verfassungsgeber von 1961 bezogen auf das Osmanische Reich betrafen allerdings die erste Variante der Kontinuität. Sie orientierten sich gerade nicht an den politischen und gesellschaftlichen Strukturen des Osmanischen Reiches, das heißt nicht an ihren „Kulturformen“. Im Gegenteil war die neue Verfassung auch eine Reaktion auf die durch den Staatstreich vom 27. Mai 1960 abgesetzte autoritäre Regierung, der man gerade die Rückwendung zum Osmanischen Reich vorwarf. Der Verfassungsgeber berief sich nicht auf die traditionellen Elemente osmanischer Staats- und Gesellschaftsorganisation, sondern primär darauf, grundsätzlich in der Staatlichkeit und als Volk, als Geschichtsträger identisch zu sein, um so die „Verwestlichung“ als Methode der Rechtsentwicklung in eine historische Kontinuität stellen und legitimieren zu können. Nun könnte man natürlich einwenden, dass gerade die Methode der Rechtsfindung und -entwicklung einen Teil der „Kulturform“ ausmacht. Aber die Übernahme von Recht aus anderen Ländern als Methode der Rechtsentwicklung führt gerade dazu, dass das einheimische Recht als Teil der „Kulturform“ verändert wird. Zudem beriefen sich die Verfassungsgeber gerade auf solche Reformatoren (beispielsweise auf Selim III.) beziehungsweise auf die Reform- und Nationalbewegungen innerhalb des Reiches (vor allem auf die Jungtürken, die die Verfassung von 1876 und deren Wiedereinsetzung 1909 errungen hatten), die sich gegen die jeweils bestehenden Strukturen des Reiches richteten, sich mehr oder weniger von den verkrusteten Formen emanzipieren und loslösen wollten, mithin die „Kulturform“ durch „Verwestlichung“, natürlich in jeweils höchst unterschiedlicher Intensität, verändern wollten. Die Verfassungsgeber förderten somit gerade nicht die Hinwendung zur osmanischen Tradition und deren Normen und Institutionen, sondern ver747  Siehe

S.  51 ff. Privatrechtsgeschichte der Neuzeit, S. 126.

748  Wieacker,



III. Das besondere Verhältnis zum „Westen“223

suchten, der „Verwestlichung“, den sie durch die Verfassung von 1961 betrieben, eine breitere historische Legitimationsbasis zu verschaffen, indem sie diese in eine Reihe mit den radikalen Reformen Mustafa Kemal Atatürks und den Reformen und Reformansätzen im Osmanischen Reich stellten. Es ging also nicht um ein Wiederaufleben der Regeln und Institutionen des ­Osmanischen Reiches, sondern um die Tatsache, dass schon im Reich die Modernisierung und Reformierung durch „Verwestlichung“ angestrebt wurde.

III. Das besondere Verhältnis zum „Westen“ Die Kenntnis und die richtige Einordnung der türkischen Auffassungen vom „Westen“ und ihres Strebens dahin, also der „Verwestlichung“, sind elementar für das Verständnis nicht nur der türkischen Verfassungsgeschichte, sondern generell der politischen und gesellschaftlichen Entwicklung der Türkei. Denn das Verhältnis zum „Westen“ und die Auseinander­ setzungen im Innern über die eigene „Verwestlichung“ kennzeichnen die gesamte türkische Geschichte bis heute. Während der Hochphase des Osmanischen Reiches war der „Westen“ für die Türken Eroberungs- und Ausbreitungsgebiet. Aber mit dem beginnenden Niedergang des Osmanischen Reiches ab dem späten 17. Jahrhundert wurde der „Westen“ zur großen Gefahr. Stück für Stück zerstückelten die Staaten des „Westens“ das ehemals so riesige Imperium, das noch im 16. Jahrhundert zu den stärksten Mächten der Welt zählte.749 Schließlich versuchten sie nach dem Ersten Weltkrieg auch das türkische Kernland unter sich aufzuteilen und die Türkei zu einem unselbstständigen Rumpfstaat in Zentralanatolien zu machen. Nur der Befreiungskrieg in den Jahren 1919 bis 1922 unter Mustafa Kemal Atatürk rettete die Türken vor dem Untergang. Gerade dieser Befreiungskrieg und die sich anschließende Reform- und Modernisierungsperiode nach westlichem Vorbild wurden zum Gründungsmythos der Republik und bildeten die historischen Grundlagen für die türkische Nationalstaatsbildung.750 Deshalb ist auch das türkische Bild vom „Westen“ von einer Ambivalenz geprägt. Der „Westen“ war und ist teilweise bis heute für die Türken sowohl die Quelle für Angst und Misstrauen, als auch Vorbild und Bezugspunkt.751 Denn seit den Reformperioden im Osmanischen Reich begegneten die Türken der Gefahr aus dem „Westen“ stets durch eine Politik der „Verwestlichung“ und sie konnten die Gefahr erst endgültig durch die radikale „Verwestlichung“ unter

auch Matuz, Das Osmanische Reich, S. 85. Vom osmanischen Mosaik zur türkischen Staatsnation, S. 51. 751  So auch Dağı, Batılılaşma Korkusu (Die Angst vor der Verwestlichung), S. 5, 749  So

750  Melinz,

6.

224

F. Legitimationen und Gründe für die Rezeption

Atatürk abwehren.752 Der Prozess der türkischen Modernisierungspolitik lässt sich daher als „Verwestlichung“ trotz des Westens und als Schutz vor dem Westen bezeichnen. Dabei waren die maßgeblichen Begriffe in den türkischen Diskussionen primär der „Westen“ und die „Verwestlichung“ und nicht „Europa“ und „Europäisierung“. Im Rahmen der Untersuchung des Umfangs und des Inhalts der Rezeption wurde gezeigt, dass europäische Verfassungen als Hauptrezeptionsgegenstände herangezogen wurden.753 Daher ist es zwar inhaltlich nicht falsch, von einer „Europäisierung“ des türkischen Verfassungsrechts zu sprechen754, aber diese Bezeichnung passt nicht zum türkischen Selbstverständnis und erfasst die hinter der Rezeption stehende Idee und Motivation nicht ausreichend. In der Begründung der Verfassungskommission zu ihrem Verfassungsentwurf taucht das Wort „Europa“ dreimal auf, davon allerdings zweimal als Teil des Eigennamens der Europäischen Menschenrechtskonvention.755 Hingegen findet sich das Wort „Westen“ in der gleichen Quelle 18 Mal.756 Der als historische Mission empfundene Modernisierungsprozess, der insbesondere auch auf verfassungsrechtlicher Ebene zur Geltung kam, war aus türkischer Sicht keine „Europäisierung“, sondern „Verwestlichung“. Der Bezugspunkt war nicht „Europa“, sondern der „Westen“. 1. Bedeutung des Wortes „Verwestlichung“ Das hier verwendete Wort „Verwestlichung“ ist die wörtliche Übersetzung von „batılılaşma“. Um die mit diesem Wort verbundenen Vorstellungen und Ideen richtig erfassen zu können, müssen die Besonderheiten des türkischen Ausgangswortes im Hinblick auf Semantik und Grammatik erörtert werden. Im Rahmen der Übersetzung ist zunächst festzuhalten, dass das deutsche Wort „Verwestlichung“ vor allem durch sein Präfix „ver-“ eine negative Konnotation erhält.757 Dies ist eine Eigenart der deutschen Übersetzung und nicht im türkischen Ausgangswort angelegt. „Batılılaşma“ ist vielmehr se752  Toynbee,

Die Welt und der Westen, S. 16, 32. S.  193 ff. 754  So beispielsweise Rumpf, Die ‚Europäisierung‘ der türkischen Verfassung; derselbe, Die türkische Verfassungsentwicklung auf dem Weg zur EU-Mitgliedschaft, S. 116. 755  Begründung zum Entwurf der Verfassungskommission, S. 17, 27, 49. 756  Begründung zum Entwurf der Verfassungskommission, S. 1, 2, 3, 7, 9, 16, 20, 22, 30, 37, 44, 49. 757  Siehe zur Verwendung und Bedeutung des Präfixes „ver-“: Grimm, Deutsches Wörterbuch, Band 25, Rn. 51–57. 753  Siehe



III. Das besondere Verhältnis zum „Westen“225

mantisch neutral und kann je nach politischer Gesinnung positiv oder negativ aufgefasst werden. Zudem muss beachtet werden, dass durch die deutsche Übersetzung der Unterschied zwischen dem hier einschlägigen Begriff „batılılaşma“ und dem Wort „batılılaştırma“ nicht zum Ausdruck gebracht werden kann. Beide Worte werden im Deutschen wörtlich mit „Verwestlichung“ übersetzt. Jedoch ist „batılılaşma“ das Substantiv zum reflexiven Verb „batılılaşmak“ („sich verwestlichen“/„westlich werden“), während „batılılaştırma“ das Substantiv zum Verb „batılılaştırmak“ („verwestlichen“ /„westlich machen“) darstellt. Sowohl in politischen Diskussionen und in den Medien, als auch in der ­Wissenschaft und Lehre wird in der Türkei für die Geschichte des eigenen Landes stets das reflexive Substantiv „batılılaşma“ verwendet, niemals „batılılaştırma“. Es liegt also keine zufällige Wortwahl vor, bei der das eine Wort aufgrund von bequemerer Aussprache, größerer Klarheit oder gar wechselnder Modeerscheinungen oder anderer Gründe einfach nur häufiger verwendet wird als das andere Wort. Vielmehr findet eine strenge Unterscheidung statt, als deren Folge in Bezug auf die Geschichte der Türkei nur das Wort „batılılaşma“ zur Anwendung kommt. So wird alleine schon mit der Verwendung dieses Wortes vermittelt, dass die „Verwestlichung“ als ein eigener, innerer Prozess aufgefasst wird, mithin einen Weg darstellt, der freiwillig und eigenständig beschritten und nicht von außen geleitet oder gar aufoktroyiert wurde. Dieses Verständnis vom eigenen Prozess der Reformierung und Modernisierung ist historisch zutreffend. In der Türkei wurde die „Verwestlichung“ stets von der eigenen Elite angestrebt, beschlossen und umgesetzt, insbesondere Offiziere und sonstige Armeeangehörige waren hierbei federführend. Bei der praktischen Umsetzung holte man sich zwar auch vom „Westen“ Unterstützung, insbesondere auf personeller Ebene. Als Beispiele seien hier vor allem die ab 1933 vor der Naziherrschaft fliehenden deutschen Professoren genannt, die in der Türkei wohlwollend empfangen wurden und auf die bereits bei den Ausführungen zum Forschungsstand eingegangen wurde. Bereits aus der Zeit des Osmanischen Reiches seien die deutschen Offiziere erwähnt, die im 19. Jahrhundert und auch noch im Ersten Weltkrieg die osmanischen Truppen ausbildeten und selbst in diesen dienten.758 Aber die Entscheidung über Art, Umfang und Geschwindigkeit der „Verwestlichung“ wurde stets von der Türkei selbst gefällt. Die eigene Schicht der Staatsbeamten und Intellektuellen betrieb die „Verwestlichung“ als Modernisierungsund Reformprogramm, weil sie so das Überleben des Staates sichern woll758  Ergün, Die deutsch-türkischen Erziehungsbeziehungen während des Ersten Weltkrieges, S. 193–194.

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F. Legitimationen und Gründe für die Rezeption

te.759 Zwar gab es im Laufe des Prozesses der „Verwestlichung“ immer wieder auch einen entsprechenden Druck von außen. In diesem Zusammenhang müssen vor allem zwei Verträge erwähnt werden: Nach dem Friedensvertrag von Paris von 1856, der den Krimkrieg beendete, verpflichtete sich das Osmanische Reich zu einem Reformprogramm und bekam im Gegenzug die Zusicherung, dass seine territoriale Integrität unangetastet bleibt.760 Im Friedensvertrag von Lausanne von 1923 verpflichtete sich die Türkei allen Bürgern die elementarsten Grundrechte zu gewähren und alle Bürger rechtlich gleich zu behandeln. Im Gegenzug trafen Griechenland die gleichen Verpflichtungen und die Kapitulationen wurden aufgehoben.761 Jedoch verfolgte der „Westen“ mit solchen Forderungen meist das Ziel, die Rechte der eigenen Bürger und Unternehmen in der Türkei abzusichern und christliche Minderheiten zu schützen (insbesondere sollten diese nicht dem islamischem Recht unterworfen sein). Im Friedensvertrag von Lausanne wurden denn auch die entsprechenden Artikel im Abschnitt „Minderheitenschutz“ behandelt und bezogen sich inhaltlich nur auf die christlichen Minderheiten im Land. In diesem Zusammenhang ist auch die in Artikel 47 des Friedensvertrages von Lausanne festgehaltene Gegenseitigkeitsklausel mit Griechenland zu sehen, die die dortige türkisch-muslimische Minderheit schützen sollte. Die umfassende „Verwestlichung“ von der Abschaffung des Sultanats und Kalifats bis hin zur Einführung des Laizismus, von der Einführung des Gregorianischen Kalenders bis hin zur Übernahme des lateinischen Alphabets, von der Etablierung eines europäischen Schul- und Universitätssystems bis hin zur Übernahme „westlicher“ Gesetzbücher in allen Rechtsgebieten, waren niemals Forderungen des „Westens“, wahrscheinlich wären den „west­ lichen“ Ländern diese nie in den Sinn gekommen. Daher kann man der Einschätzung Hülya Bandaks, wonach der Friedensvertrag von Lausanne „einen wichtigen Ausgangspunkt [für die Rezeptionsbewegung] und somit einen Grund für die Reformierung des damaligen Rechts- und Gerichtswesens“762 darstelle, nicht zustimmen. Sofern diese Behauptung zuträfe, hätte sie, auch wenn sie für den deutschen Betrachter nicht schwerwiegend erscheinen mag, doch weitreichende Bedeutung. Der 759  So auch Gürzumar, Die Rezeption des westlichen Rechts in der Türkei vor 1926, S. 42. 760  Artikel 9 des Friedensvertrages von Paris 1856; Baumgart, Der Friede von Paris, S. 233–234. 761  Siehe Artikel 37–45 des Vertrages von Lausanne (1923) unter der Internetseite der Başkent Universität Ankara: http://sam.baskent.edu.tr/belge/Lozan_TR.pdf, zuletzt aufgerufen am 29.12.2011. 762  Bandak, Rezeption des schweizerischen ZGB in der Türkei, S. 61.



III. Das besondere Verhältnis zum „Westen“227

Höhepunkt der als historische Mission empfundenen „Verwestlichung“ unter Mustafa Kemal Atatürk, der gerade durch seine Radikalität und seinen Umfang für die Unumkehrbarkeit der „Verwestlichung“ steht, wäre gar keine eigene Mission, sondern eine von außen aufgedrängte Veränderung. Dies wäre diametral entgegengesetzt zum Empfinden, nicht nur der Türken heute, sondern auch der historischen Akteure und würde die Legitimation des eingeschlagenen Weges in Frage stellen. Zwar ist es korrekt, dass der Vertrag von Lausanne für die christlichen Minderheiten in der Türkei ein eigenes Recht vorsah, das sich im Einklang mit ihren Gebräuchen befinden sollte. Auch ist es richtig, dass die türkische Seite dies als Souveränitätseinschränkung verstand, insbesondere da die entsprechenden Rechtssätze durch eine Kommission gefunden werden sollten, in der Vertreter der Minderheiten und der Türkei Platz finden und bei Unstimmigkeiten europäische Rechtsgelehrte als Schiedsrichter fungieren sollten.763 Zudem entspricht es der Wahrheit, dass die Türkei durch die Reformierung ihres Rechts diese Vertragsvereinbarungen ins Leere laufen ließ, da die Minderheiten vor allem nach der Einführung des neuen Türkischen Zivilgesetzbuches auf eigenständige Regelungen verzichteten764. Dies jedoch als Hauptgrund für die Rezeption „westlicher“ Gesetze zu sehen, ist zu weitgehend. Zunächst einmal bezogen sich diese Fragen hauptsächlich um zivilrechtliche Fragen, namentlich um das Personalstatut und familienrechtliche Angelegenheiten765, also Rechtsgebiete, die für die einzelne Person in der Praxis besonders wichtig sind und bei denen die soziale Umwelt stark zum Tragen kommt. In diesen Bereichen sollte für Christen auf keinen Fall das islamische Recht gelten. Aber alle anderen Rechtsbereiche waren gar nicht betroffen. Das Strafrecht genauso wenig wie das Verwaltungsrecht. Und insbesondere auf das Gebiet des Verfassungsrechts hatten diese Regelungen keinen Einfluss. Auf dem Gebiet des Zivilrechts, das heißt für die Rezeption des Schweizerischen ZGB 1926 sollte der Einfluss des Lausanner Vertrages nicht verschwiegen, aber auch nicht überschätzt werden. Noch im Jahre 1926 wurde ein Handelsgesetzbuch angenommen, das eine Kompilation aus französischem, belgischem, italienischem, deutschem und chilenischem Recht darstellte, sowie das italienische Strafgesetzbuch von 1889 rezipiert. 1927 wurde die Zivilprozessordnung des Schweizer Kantons Neuenburg übernommen und 1929 die deutsche Strafprozessordnung. Diese Gesetzbücher und auch die Rezeption im Bereich des Verfassungsrechts geschahen ohne völkerrechtliche Vertragsregelungen. Daher lässt sich sagen, dass es zur Rezeption eines 763  Siehe

Artikel 42 des Vertrages von Lausanne (1923). auch Hirsch, Rezeption als sozialer Prozess, S. 36. 765  Siehe Artikel 42 Absatz 1 des Vertrages von Lausanne (1923). 764  So

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F. Legitimationen und Gründe für die Rezeption

„westlichen“ Zivilgesetzbuches auch ohne die entsprechenden Minderheitsschutzvorschriften gekommen wäre. Ansonsten wäre die „Verwestlichung“ nicht komplett gewesen und die Regelungen der einzelnen Rechtsgebiete hätten zu Widersprüchen geführt. Die Rezeption auf dem Gebiet des Zivilrechts erhielt durch den Friedensvertrag eine höhere Priorität. Den Hauptgrund für die Rezeption bildete er aber nicht. Selbst für den Umstand, dass im Zivilrecht die erste Rezeption eines „westlichen“ Gesetzbuches nach der Republikgründung erfolgte, mithin die Reform des Zivilrechts als erstes in Angriff genommen wurde, lässt sich nicht alleine auf den Friedensvertrag zurückführen. Vielmehr liegt der Grund darin, dass das Zivilrecht das Rechtsgebiet war, das am dringendsten reformiert werden musste. In allen anderen Rechtsgebieten gab es schon aus der Zeit des Osmanischen Reiches Gesetzbücher, die zumindest teilweise aus dem „Westen“ rezipiert wurden beziehungsweise nach „westlichem“ Vorbild entstanden. Nur im Zivilrecht galt noch uneingeschränkt das islamische Recht. Hierin ist die Hauptursache für die vorrangige Reformierung des Zivilrechts zu sehen. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass in der Türkei, anders als in den europäischen Kolonien, die Reformen und Veränderungen nicht durch fremde „westliche“ Herrscher veranlasst und durchgeführt wurden766, sondern sie Ausdruck eines bewussten eigenen Entscheidungsprozesses waren. Dass die Türken dabei die Reformen erst einleiteten als sich ihr Niedergang abzeichnete (ab der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts) und die „Verwestlichung“ radikal und umfassend erst umzusetzen begannen als sie am Tiefpunkt ihrer Geschichte standen, an dem sie ihre gesamte Souveränität und Freiheit zu verlieren drohten (nach dem Ersten Weltkrieg), ändert an dieser Einschätzung nichts. Denn oft brauchte es in der Geschichte den Moment der Bedrohung und Demütigung, um die nötige Bereitschaft und Entschlusskraft für Veränderungen hervorzubringen. Arnold J. Toynbee hat daher Recht, wenn er feststellt, dass sich die Türken „nach dem ersten Weltkrieg unausweichlich vor der Wahl zwischen gründlicher Verwestlichung und glatter Vernichtung gesehen [haben]. […] Sie [das heißt die Türkei] rettete sich im letzten Augenblick, indem sie unter der Führung Mustafa Kemal Atatürks entschlossen den Weg bedingungsloser Verwestlichung beschritt.“767 Aber gerade zu dieser Erkenntnis kamen die Türken eben von selbst und nicht auf Drängen des „Westens“ und sie zogen die dazugehörigen Schlussfolgerungen daraus freiwillig und selbstständig. Der Untergang als Weltreich und die Bedrohung der eigenen Existenz wirkte wie ein Katalysator für die radikale „Verwestlichung“. 766  Zu dieser Frage des Kolonialismus: Wendt, Vom Kolonialismus zur Globalisierung, S. 274–279; Hunger, Wer sind wir? Gruppenidentitäten und nationale Einheit, S. 18, 287. 767  Toynbee, Die Welt und der Westen, S. 26–27, 32.



III. Das besondere Verhältnis zum „Westen“229

2. Begriffliche Abgrenzung Für ein umfassendes Verständnis der Bedeutung der „Verwestlichung“ im Sinne des Schlagwortes „batılılaşma“ ist eine Abgrenzung zu anderen Wörtern notwendig, die im deutschen Sprachgebrauch im Zusammenhang mit Reformen nach „westlichem“ Vorbild beziehungsweise mit der Einbindung in den „Westen“ verwendet werden. Zunächst ist „batılılaşma“ vom Begriff der „Westernisierung“ abzugrenzen. Doering-Manteuffel verwendet „Westernisierung“ zur Beschreibung der politischen, wirtschaftlichen und ideellen Einbindung der Bundesrepublik Deutschland in die westliche Staatengemeinschaft nach 1945 und definiert diesen Begriff als „die Formation einer Wertegemeinschaft […], in der wirtschaftliche, politische und gesellschaftliche Ordnungen samt der ihnen zugrundeliegenden ideellen Systeme kompatibel sind“768. Diese Herausbildung einer gemeinsamen Werteordnung sei durch interkulturellen Transfer zwischen Westeuropa und den USA geschehen und hätte ihre Grundlagen bereits in der europäischen Aufklärung und im Liberalismus gehabt.769 DoeringManteuffel grenzt die „Westernisierung“ von der „Verwestlichung“ dadurch ab, indem er hervorhebt, dass „Deutschland schwerlich als ein Land gelten [konnte], welches kulturell niemals zum Westen gehört hatte. […] Deshalb wäre es nicht präzise genug, den Prozess der politisch-ideellen Entwicklung nach 1945 einfach als „Verwestlichung“ zu bezeichnen, denn damit würde Deutschlands Ort in der europäischen Geschichte schlicht ignoriert.“770 Anders formuliert, lässt sich die institutionelle und kulturelle Einbettung der Bundesrepublik Deutschland in den „Westen“ nach 1945 deswegen nicht als „Verwestlichung“ verstehen, weil Deutschland historisch und kulturell schon westlich gewesen ist. „Westernisierung“ ist daher „nur“ die „Homogenisierung des politischen ‚Westens‘ “771, deren einzelne Elemente schon vorher „westlich“ waren. In Fortführung dieser Überlegungen lässt sich für die Türkei sagen, dass deren Reform- und Modernisierungsentwicklung folgerichtig „Verwestlichung“ genannt werden muss und nicht „Westernisierung“. Zwar war die Türkei in Gestalt des Osmanischen Reiches und später in Gestalt der Repu­ blik stets auch ein europäischer Akteur, sodass „die Beschäftigung mit der europäischen Geschichte […] nicht ohne Einbeziehung des Osmanischen

768  Doering-Manteuffel, 769  Doering-Manteuffel,

Wie westlich sind die Deutschen?, S. 71. Wie westlich sind die Deutschen?, S. 13; derselbe, Wester­

nisierung der BRD, S. 314. 770  Doering-Manteuffel, Westernisierung der BRD, S. 316. 771  Doering-Manteuffel, Westernisierung der BRD, S. 314.

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F. Legitimationen und Gründe für die Rezeption

Reiches erfolgen [kann]“772. Spätestens mit dem bereits erwähnten Friedensvertrag von Paris 1856 wurde die Türkei de jure Teil des europäischen Staatensystems, was sie de facto sowieso schon Jahrhunderte lang gewesen ist. Der kulturelle Austausch zwischen Süd- und Westeuropa einerseits und dem Osmanischen Reich andererseits war enorm und prägend für beide Seiten.773 Seit dem 16. Jahrhundert wurde das Reich aufgrund seiner Herrschaft über Südosteuropa sowie über das östliche Mittelmeer und das Schwarze Meer „zu einem regelrechten Bestandteil der Politik der europäischen Staaten. Stillschweigend wurde es als europäische Macht anerkannt, mit der man sich verbünden und den europäischen Kontrahenten gegenüber rechnen konnte“774. Daher ist der, vor allem in der politischen Diskussion um einen möglichen EU-Beitritt der Türkei zu Sprache kommenden Behauptung, dass die Türken historisch nie zu Europa gehört hätten und ausschließlich asiatisch wären, nicht zuzustimmen.775 Jedoch wäre es verfehlt, das Reich und später die Republik historischkulturell auch als „westlich“ zu bezeichnen. Zur Beschreibung der Entwicklung, der Merkmale und des Wesens des „Westens“ ließe sich eine ganze Sammlung von Büchern schreiben, sodass dieses weite Thema hier nur gestreift werden kann.776 Als Kernelemente des kulturellen „Westens“ lassen sich aber zusammenfassend folgende Punkte festhalten: Einerseits die griechische Antike mit ihrer Philosophie und Wissenschaft, andererseits die ­römische Welt, hier insbesondere das römische Recht, welches über die Rezeption des Corpus Juris Civilis und den usus modernus zur Grundlage des gesamten Rechts der „westlichen“ Welt wurde. Zentral und konstitutiv war zudem das Christentum, das als gemeinsamer Glaube verbindend wirkte.777 Der historisch-kulturelle „Westen“ lässt sich daher auch als „lateinische Christenheit“ bezeichnen, welches seinen spirituellen Mittelpunkt bis zum Mittelalter in Rom hatte und geprägt wurde von der Renaissance, der Reformation und der Aufklärung (weshalb die orthodoxe Christenheit, also Ostund Südosteuropa, namentlich vor allem Russland, Bulgarien, Rumänien, Griechenland nicht zum „Westen“ zählen778).

772  Matuz,

Das Osmanische Reich, S. XI (Vorwort von Şen). des Friedensvertrages von Paris 1856; Baumgart, Der Friede von Paris, S. 233; Burgdorf, Zur türkischen Geschichte innerhalb Europas, S. 45–46. 774  Matuz, Das Osmanische Reich, S. 129. 775  So auch Burgdorf, Zur türkischen Geschichte innerhalb Europas, S. 39, 46. 776  Siehe zu diesem Thema vor allem Nemo, Was ist der Westen?; Winkler, Geschichte des Westens. Band 1: Von den Anfängen in der Antike bis zum 20. Jahrhundert. 777  Nemo, Was ist der Westen?, S. 3; Winkler, Geschichte des Westens, Band 1, S. 19–21. 773  Art. 7



III. Das besondere Verhältnis zum „Westen“231

Diese Elemente waren für die Türken aufgrund des starken Austausches mit den „westlichen“ Staaten im europäischen Kontext zwar nicht unbedingt fremd, aber dennoch bis ins 20. Jahrhundert hinein nicht prägend und bestimmend. Auf den Karten Europas waren die Türken fast immer zu finden, jedoch waren sie historisch nicht Teil der „westlichen“ Kultur. Eben deshalb kam es ab dem Ende des 18. Jahrhunderts zu Reform- und Modernisierungsbewegungen, die 1923 und in den Folgejahren ihre Kulmination unter Mustafa Kemal Atatürk fanden. Rezeption, Übernahme, Aufnahme kommen nur in Betracht, wenn man selbst den rezipierten, übernommenen, aufgenommenen Gegenstand noch nicht besitzt. Daher passt der Ausdruck „Verwest­ lichung“ nicht zur Entwicklung Deutschlands, aber doch zur Entwicklung der Türkei. Dies schließt jedoch nicht aus, dass die Türkei zumindest in einem gewissen Rahmen auch Teil des Prozesses der „Westernisierung“ gewesen sein könnte. Denn der „Westernisierung“ im Sinne Doering-Manteuffels wohnt nicht nur der oben geschilderte Begriff von einem historisch gewachsenen, kulturellen „Westen“ inne, sondern auch der Westbegriff des Kalten Krieges. Letzterer ist geprägt durch die Blockbildung nach 1945. Die marktwirtschaftliche Welt des „Westens“ unter Führung der USA einerseits und die kommunistische Welt des „Ostens“ unter Führung der Sowjetunion andererseits standen sich feindlich gesinnt gegenüber. Die ideologische Klammer des „Westens“ im Sinne der „Westernisierung“ sei nach Doering-Manteuffel gerade der Antitotalitarismus und dabei insbesondere der Antikommunismus gewesen.779 „Die räumliche Ausdehnung dieses Westens wurde vom Marshallplan umschrieben und erstreckte sich […] neben den USA und Großbritannien auf die Länder, die an der westeuropäischen und nordatlantischen Bündnispolitik partizipierten.“780 Der Marshallplan umfasste auch die Türkei, die zudem 1952 noch vor Westdeutschland der NATO beitrat. Daher war die Türkei auch Teil des Prozesses der Herausbildung beziehungsweise der Formation einer gemeinsamen Werteordnung und der gemeinsamen Abwehr des Kommunismus. Nicht umsonst ist der Kalte Krieg der Zeitraum in der Geschichte, in der die Türkei auf den Karten der Welt als Teil des „Westens“ eingezeichnet ist.781 Sowohl geographisch als auch kulturell-historisch betrachtet, ist die Türkei das „östlichste“ Mitglied des „westlichen“ Staatenbündnisses. 778  Nemo, Was ist der Westen?, S. 115; Winkler, Geschichte des Westens, Band 1, S. 19, 40–44. 779  Doering-Manteuffel, Wie westlich sind die Deutschen?, S. 76; derselbe, Westernisierung der BRD, S. 322. 780  Doering-Manteuffel, Wie westlich sind die Deutschen?, S. 16. 781  Winkler, Geschichte des Westens, Band 1, S. 18.

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F. Legitimationen und Gründe für die Rezeption

Es schadet dabei nicht, dass, wie bereits angesprochen, die Grundlagen der „Westernisierung“ im 18. und 19. Jahrhundert lägen, da dieser Prozess gerade nach dem Zweiten Weltkrieg in seine entscheidende Phase getreten sei, mithin die gegenseitige Bezugnahme der „westlichen“ Staaten und deren bereits zitierte Homogenisierung erst nach 1945 an Fahrt gewonnen habe782, also zu einer Zeit, als die Türkei mehrere Jahrzehnte radikale „Verwest­ lichung“ hinter sich hatte, die gerade dazu dienen sollte, die verpassten Grundlagen aufzuholen. So konnte die Türkei auf den fahrenden Zug noch aufspringen. Ein Beispiel soll dies verdeutlichen. Mit der Eroberung Istanbuls 1453 besiegelten die Türken unter Sultan Mehmet II.783 (1451–1481) das Ende des Byzantinischen Reiches. Damit einher ging auch das Ende des Corpus Juris Civilis als geltendes Recht dieses Gebietes. Das islamische Recht beanspruchte nun seine Geltung. Die anerkannten, christlich-orthodoxen Minderheiten konnten jedoch ihre inneren Angelegenheiten autonom regeln. Daher war der Corpus Juris Civilis im Reich nicht völlig verschwunden, sondern durchaus präsent. Aber er war nur für die internen Angelegenheiten der Minderheiten maßgebend und galt nicht als das Recht des Reiches, sodass er in Rechtsfällen, die einen staatlichen Bezug hatten oder in denen Muslime (Türken, Kurden, Araber) involviert waren, nicht zur Anwendung kam. Auch die Rezeption des römischen Rechts im „Westen“ hatte keinen unmittelbaren Einfluss auf das Osmanische Reich.784 Aber mit den Reformbewegungen ab dem 18. Jahrhundert kam über die Rezeption „westlicher“ Gesetzbücher das römische Recht zu den Türken. Und mit der Gründung der Republik wurde das islamische Recht als Grundlage der Ordnung gänzlich aufgegeben und das „westliche“ Recht als ebendiese angenommen. Insbesondere nach der Rezeption des Schweizer ZGB im Jahre 1926 nahm das Interesse am römischen Recht in der Türkei stark zu. Nach der Neugründung der Universitäten nach „westlichem“ Vorbild wurde das römische Recht zum Pflichtfach für alle Jurastudenten. Durch diese Entwicklungen wurde die Türkei zwar nicht Teil des historisch-kulturell verstandenen „Westens“, aber es ermöglichte ihr die Grundlagen zu bilden, um an den „westlichen“ Allianzen nach 1945 teilzuhaben. „Verwestlichung“ im Sinne der „batılılaşma“ und „Westernisierung“ sind also nicht identisch, schließen sich aber auch nicht aus. Vielmehr ist die Erstere eine Voraussetzung für die Letztere. Zumindest gilt dies für die Türkei, 782  Doering-Manteuffel,

Westernisierung der BRD, S. 315. seit dem 18. Jahrhundert in Anspielung auf die Eroberung Istanbuls Fatih Sultan Mehmet (Sultan Mehmet, der Eroberer) genannt wird. 784  So auch Velidedeoğlu, Die Rezeption in der Türkei und in Europa, S. 387. 783  Der



III. Das besondere Verhältnis zum „Westen“233

die kulturell-historisch gesehen nicht „westlich“ ist und deshalb die „Verwestlichung“ brauchte, um Teil der „Westernisierung“ sein zu können.785 Des Weiteren ist festzuhalten, dass der vor allem von Ismail Ermağan verwendete Ausdruck „Westausrichtung“786 als Übersetzung für „batılılaşma“ nicht adäquat ist. Ermağan führt aus, dass diese Übersetzung besser sei als „Verwestlichung“, da die Türkei in der Hauptphase der „batılılaşma“ in den 1920er Jahren viele verschiedene Vorbilder gehabt hätte, unter anderem auch ein faschistisches Land (gemeint ist hier Italien).787 Unabhängig von der Frage nach der inhaltlichen Richtigkeit dieser These, ist auf jeden Fall die Schlussfolgerung für die Übersetzung nicht nachvollziehbar. Warum sollte der Umstand, dass es nicht nur ein „westliches“ Vorbild gab, sondern mehrere verschiedene Länder als Vorbild fungierten, dafürsprechen, dass „Westausrichtung“ die bessere Übersetzung wäre? Das Wort „Westausrichtung“ bringt diesen Punkt keineswegs klarer hervor als das Wort „Verwestlichung“. Zudem ist „Westausrichtung“ begrifflich zu schwach, um als angemessene Übersetzung für „batılılaşma“ zu dienen. Denn „Westausrichtung“ bringt lediglich zum Ausdruck, dass sich die Türkei am Westen orientiert. Dies ist zwar korrekt, aber erfasst den Topos der „batılılaşma“ nicht ausreichend. Wenn man ein Teleskop nach einem anderen Universum ausrichtet, dann kann man diesen beobachten, sich an diesem orientieren und seine eigene Lage bestimmen und danach ausrichten, aber man bleibt in seinem Universum und in seiner Umgebung. Die eigene Bewegung ändert sich dadurch nicht. Aber die Türkei blieb nicht in ihrer Umgebung, sondern machte sich auf den Weg gen „Westen“. Sie orientierte sich nicht nur am „Westen“, sondern wollte „westlich“ werden. Diesen Punkt bringt die wörtliche Übersetzung „Verwestlichung“ besser zur Geltung, sofern man sich, wie oben bereits ausgeführt, vergegenwärtigt, dass das türkische Wort semantisch keine negative Konnotation hat und das Nomen zum reflexiven Verb „sich verwest­ lichen“ darstellt. 3. Bestimmung des „Westens“ und die Frage der Zugehörigkeit Entscheidend für die Entstehung der Verfassung von 1961 ist in diesem Zusammenhang der Bezugspunkt der „Verwestlichung“, das heißt die Vorstellung und das Verständnis des Verfassungsgebers vom „Westen“. Denn über die Bestimmung des „Westens“ gelangt man zur Antwort des türkischen Verfassungsgebers auf die Frage nach der Zugehörigkeit der Türkei zum 785  Zu diesem Thema scheint eine weitergehende Forschung lohnenswert, die den Rahmen dieser Arbeit sprengen würde. 786  Ermağan, EU-Skeptizismus in der Türkei, S. 28. 787  Ermağan, EU-Skeptizismus in der Türkei, S. 28.

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F. Legitimationen und Gründe für die Rezeption

„Westen“, welche wiederum zu einem weiteren Grund und zu einer weiteren Legitimation für die Arbeitsweise der Rezeption „westlicher“ Verfassungsrechte führt. Eine Diskussion oder politische Auseinandersetzung darüber, was der „Westen“ ist und welche Merkmale den „Westen“ ausmachen, fand während der Arbeiten an der Verfassung nicht statt. Dies ist umso erstaunlicher, wenn man bedenkt, dass die Rezeption von Rechten aus dem „Westen“ schon seit dem Osmanischen Reich als ein Mittel zur Reform angesehen wurde, unter Mustafa Kemal Atatürk in den 1920ern und 1930ern zur umfassenden Erneuerung des Rechtssystems führte und auch vom Verfassungsgeber von 1960/1961 als vorrangige Arbeitsweise zur Geltung kam. In Betracht kommen insbesondere zwei Vorstellungen vom „Westen“, die im Rahmen der begrifflichen Abgrenzung zur „Westernisierung“ bereits dargestellt wurden.788 Zum einen gibt es den marktwirtschaftlich und antikommunistisch verstandenen, vom Marshall-Plan und der NATO umrissenen „Westen“ als eine Seite der Blockbildung des Kalten Krieges nach 1945, zum anderen den historischkulturell verstandenen „Westen“, das Abendland. Diese Vorstellungen vom „Westen“ schließen sich zwar nicht gegenseitig aus, ganz im Gegenteil muss von gegenseitigen Wechselwirkungen ausgegangen werden, aber ihre Bezugs- und Abgrenzungspunkte sind unterschiedlich. Der „Westen“ des Kalten Krieges verstand sich als militärisches Bündnis, das zwar getragen wurde von gemeinsamen Werten wie der freien Marktwirtschaft und demokratischen, freien Wahlen, aber seine primäre Ausrichtung war die eines Verteidigungsbündnisses, das ein klar umrissenes Feindbild vom sowjetisch dominierten Ostblock hatte. Der „Westen“ im historisch-kulturellen Sinne wird als historisch gewachsener Raum verstanden, der neben vielen anderen Zivili­ sationen auf der Welt besteht und geprägt ist von der griechischen und ­römischen Antike und dem Christentum Roms. Bezüglich des Kreises der dazugehörigen Länder überschneiden sich beide Räume nur partiell. Insbesondere gehören die Türkei und Griechenland zur NATO und somit zum „Westen“ im Sinne der Blockbildung des Kalten Krieges, wohingegen sie in der „westlichen“ Wissenschaft nicht zum abendländisch, kulturell-historisch aufgefassten „Westen“ gezählt werden.789 Auch wenn es diesbezüglich nicht zu Aussprachen in den Gremien kam, gab die Verfassungskommission der Abgeordnetenversammlung in ihrer Begründung zu ihrem Verfassungsentwurf zumindest eine knappe Definition dessen, was sie als „westliche“ Demokratie verstand: „Die westliche Demokratie ist das Regime, das auf freiheitlichen Wegen noch mehr Freiheit 788  Siehe

S.  229 ff. Was ist der Westen?, S. 115, 116; Winkler, Geschichte des Westens, Band 1, S. 40–44. 789  Nemo,



III. Das besondere Verhältnis zum „Westen“235

erzeugt“.790 Die „Freiheit“ erscheint hier als konstitutives Merkmal des „Westens“, die sowohl Mittel, als auch Zweck der Staatlichkeit sein soll. Aber mit dieser Definition könnten beide Vorstellungen vom „Westen“ gemeint sein. Der „Westen“ des Kalten Krieges verstand sich gerade als „freie Welt“, die für freie Marktwirtschaft und freie, demokratische Wahlen stehe und das Gegenstück zum Totalitarismus darstelle. Dem historisch-kulturellen „Westen“ wohnt vor allem durch seine Prägung durch die Aufklärung und den Liberalismus auch ein Freiheitselement inne. Es lässt sich daher der Schluss ziehen, dass dem türkischen Verfassungsgeber nicht ein klares Bild von einem dieser beiden Vorstellungen vom „Westen“ vorschwebte, sondern beide Auffassungen zur Geltung kamen. Dieser Schluss bestätigt sich dadurch, dass in allen Organen, die bei der Verfassungsentstehung beteiligt waren, Anhaltspunkte für und Verweise auf jeweils beide Begriffe vom „Westen“ zu finden sind. Dabei ist zu beobachten, dass immer dann, wenn der „Westen“ des Kalten Krieges gemeint war, die Türkei vom Verfassungsgeber stets als Teil des „Westens“ angesehen wurde. Beispielsweise stellt die Verfassungskommission in ihrer Begründung zu Art. 63 Absatz 4 TürkVerf ihres Verfassungsentwurfs (in der endgültigen Verfassung Art. 65 Absatz 3 TürkVerf), in dem festgehalten wird, dass Verwaltungsabkommen, die der Umsetzung bereits ratifizierter völkerrechtliche Verträge dienen, nicht der Nationalversammlung zur Abstimmung vorgelegt werden müssen, fest: „So wird sichergestellt, dass die […] Anordnungen des Verteidigungsbündnisses der freien Welt, in das wir, um unsere Überlebensfähigkeit als eine unabhängige Nation und die Ideale der westlichen Zivilisation, der wir angehören [Hervorhebungen durch den Verfasser], die Prinzipien der Freiheit und der Demokratie zu schützen, unserem eigenen Wunsch gemäß und mit unserer eigenen Zustimmung eingetreten sind und in der wir eine sehr wichtige und ehrenvolle Rolle einnehmen, so wie notwendig durchgeführt werden können.“791

Diese Haltung findet sich nicht nur in der Begründung zum Verfassungsentwurf, sondern trat auch bei den Verhandlungen in der Abgeordnetenversammlung hervor. Der Abgeordnete Şefik Inan erklärte im Rahmen der Aussprache über den Verfassungsentwurf, dass es nach dem Zweiten Weltkrieg zwei politische Richtungen gäbe, die individualistische Richtung, die das Individuum an die erste Stelle setze und dem Staat kaum Betätigungsspielraum gewähre, und die sozialistische Richtung, die den Staat in die Pflicht nähme und das Individuum in die zweite Reihe versetze. Weiter führte er aus, dass „heute die Bedeutung des westlichen Staates in dem Ausdruck eines […] Kompromisses zwischen diesen zwei Ansichten liegt, wobei den 790  Begründung 791  Begründung

zum Entwurf der Verfassungskommission, S. 7. zum Entwurf der Verfassungskommission, S. 30.

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F. Legitimationen und Gründe für die Rezeption

Rechten und Freiheiten des Individuums ein größerer Anteil beigemessen wird“792. Somit wird auch hier die besondere Ost-West-Konfrontation des Jahres 1961 als Bestimmungsmerkmal für den „Westen“ verstanden. Auch beim Abgeordneten Behçet Kemal Çağlar kommt diese Vorstellung vom „Westen“ als eine Seite des Kalten Krieges zum Ausdruck: „Freunde! Auf der gesamten Welt prallen gerade zwei Gruppen aufeinander. Beide Seiten versuchen die Überlegenheit ihres eigenen Regimes und ihrer eigenen Arbeitsweise unter Beweis zu stellen. Wir haben unsere Entscheidung gefällt. Unsere Seite ist klar.“793 Die Vorstellung von der Zugehörigkeit zu diesem „Westen“ verwendeten die Abgeordneten auch als Argument und Rechtfertigung im Ringen um die Erarbeitung einzelner Verfassungsnormen. Als Beispiel seien die Verhandlungen um Art. 110 Absatz 3 Satz 2 TürkVerf genannt. Diese regelt, dass der Generalstabschef dem Ministerpräsidenten gegenüber verantwortlich ist. Die Abgeordnetenversammlung diskutierte sehr ausführlich, wie der General­ stabschef mit der Regierung verbunden werden sollte. Einige Abgeordnete vertraten dabei die Meinung, dass der Generalstabschef dem Verteidigungsminister unterstellt sein sollte und nicht dem Ministerpräsidenten. Dabei verwiesen sie häufig auf die anderen „westlichen“ Staaten, auf die NATOPartner, in denen dies so sei. Der Abgeordnete Kenan Esengin etwa fragte rhetorisch, in wie vielen anderen „westlichen Ländern, die mit uns zusammen Teil des Kreises der NATO sind“794, der Generalstabschef denn dem Ministerpräsidenten unterstellt sei. Des Weiteren erklärten die Abgeordneten Fahri Belen und Ferda Güley, dass der „westliche Platz“795 des Generalstabschefs beim Verteidigungsminister sei und dies im Kreise der NATO, zu dem auch die Türkei gehöre, stets so gehandhabt werde.796 Auch der Abgeordnete Cemil Sait Barlas forderte die Bindung des Generalstabschefs an den Verteidigungsminister und appellierte dabei an die Abgeordnetenversammlung: „Wir sind verpflichtet, einen Weg einzuschlagen, der der Revolution vom 27. Mai entspricht. Wir können den Weg des Westens nicht verlassen.“797 Zwar konnten sich solche Forderungen in diesem Fall nicht durchsetzen, sodass der Generalstabschef auch nach der in Kraft getretenen Fassung der Verfassung dem Ministerpräsidenten gegenüber verantwortlich ist. Jedoch zeigen die Diskussionen hierüber, dass die Vorstellung von der Zugehörigkeit der Tür-

792  Protokolle 793  Protokolle 794  Protokolle 795  Protokolle 796  Protokolle 797  Protokolle

der Abgeordnetenversammlung, der Abgeordnetenversammlung, der Abgeordnetenversammlung, der Abgeordnetenversammlung, der Abgeordnetenversammlung, der Abgeordnetenversammlung,

Band 2, Band 2, Band 3, Band 3, Band 3, Band 3,

S. 489. S. 469. S. 545. S. 548. S. 546. S. 548.



III. Das besondere Verhältnis zum „Westen“237

kei zum „Westen“, der als NATO-Block verstanden wurde, die Erarbeitung der Verfassung beeinflusste und prägte. Diese Prägung basierte aber nicht nur darauf, dass die Auffassung von der Zugehörigkeit zum „Westen“ bei der Erarbeitung von bestimmten Artikeln als Argument herangezogen wurde. Vielmehr stellte diese Vorstellung auch Grund und Legitimation für die generelle Arbeitsweise der Rezeption „westlicher“ Verfassungsrechte dar. Denn die Vorstellung von der Zugehörigkeit zum „Westen“ hatte zur Folge, dass die Rezeption von Verfassungsrechten aus diesem „Westen“ als etwas Natürliches und Selbstverständliches erschien und als solche gegenüber Kritikern verteidigt werden konnte. Wenn die Türkei ein Teil des „Westens“ ist, dann stellt die Rezeption von Normen und Prinzipien aus anderen Ländern dieses „Westens“ keine Übernahme von etwas gänzlich Andersartigem, Fremden dar und kann daher ohne größere Bedenken übernommen werden. Mit der Rezeption „westlicher“ Verfassungsrechte wird nicht ein anderer, unbekannter Weg eingeschlagen, sondern auf dem eigenen Weg vorangeschritten. Diese Begründung für die Rezeption wurde zwar nicht ausdrücklich erwähnt oder hervorgehoben, aber durch die Betonung der Zugehörigkeit wird auf diese indirekt abgestellt. Sie lässt sich sozusagen zwischen den Zeilen finden und wirkt daher mittelbar, aber dadurch nicht weniger stark. Insbesondere beim zweiten Zitat dieses Kapitels, in der es um internationale Verwaltungsabkommen geht, wird auch in der deutschen Übersetzung deutlich, dass die Zugehörigkeit zur „westlichen Zivilisation“ als indirekte Legitimation für diesen Artikel diente. Neben dem „Westen“ im Sinne des Systemgegensatzes des Kalten Krieges wurde der „Westen“ aber auch als historisch-kultureller, abendländischer Raum begriffen. Dieses ältere Verständnis vom „Westen“ überwiegt sogar in den Quellen. Im Hinblick auf das Thema der Zugehörigkeit der Türkei finden sich unterschiedliche Schlussfolgerungen. Zum einen gab es die Auffassung, wonach die Türkei nach Jahrhunderten der Reformen und nach Jahrzehnten der kemalistischen, radikalen „Verwestlichung“ mittlerweile auch Teil dieses historisch-kulturellen „Westens“ geworden sei. Nach Enver Ziya Karal, dem Vorsitzenden der Verfassungskommission, seien mit dem Beginn der Gründung demokratischer Systeme in den „westlichen“ Staaten im 18. Jahrhundert entsprechende Prinzipien auch in der Türkei artikuliert und diskutiert worden. Die Volkssouveränität als Hauptprinzip des „Westens“ sei auch in der Türkei schon früh angenommen worden.798 Nach dieser Auffassung folgerichtig ist es dann, wenn Karal von der „westlichen Welt“ sprach, „der wir angehören“799. 798  Protokolle 799  Protokolle

der Abgeordnetenversammlung, Band 2, S. 364, 365. der Abgeordnetenversammlung, Band 2, S. 366.

238

F. Legitimationen und Gründe für die Rezeption

Auch der Sprecher der Verfassungskommission, Tarık Zafer Tunaya, brachte diese Haltung zum Ausdruck: „Wie wir alle wissen haben die Türken seit Jahrhunderten an den demokratischen Bestrebungen des Westens teilgenommen. Das Leben hat uns zur Teilnahme an der westlichen Zivilisation und am westlichen demokratischen Leben gezwungen“800. Der Hinweis, dass das Leben die Türken zur „Verwestlichung“ gezwungen habe, bezieht sich auf den bereits dargelegten Umstand, dass die Türken aufgrund der „west­ lichen“ Überlegenheit ab dem 18. Jahrhundert und insbesondere nach dem Ersten Weltkrieg vor der Wahl zwischen „Verwestlichung“ und Untergang als souveräner Staat standen.801 Dennoch bestand für Tunaya kein Zweifel, dass die Türkei gerade wegen dieser Entwicklung Mitglied der „westlichen“ Welt ist. Das Wesen dieses historisch-kulturellen Verständnisses vom „Westen“ bestehe nach dem türkischen Verfassungsgeber in individuellen Freiheitsrechten, Volkssouveränität und demokratischer Staatsorganisation und auch materiellem und wirtschaftlichem Wohlstand durch Technik und Industrialisierung. Als historisch entscheidendes und prägendes Ereignis für diesen „Westen“ wird die Französische Revolution von 1789 aufgefasst.802 Interessant dabei ist, dass die Bedeutung des Christentums, die im historisch-kulturellen „Westen“ als eines der konstitutiven Bestandteile der eigenen Kultur verstanden wird803, dieser Haltung nicht entgegen zu stehen scheint. Generell wurden die Rolle und das Gewicht der Religion verdrängt. Für den Verfassungsgeber waren die christliche Prägung des historisch-kulturellen „Westens“ und die islamische Prägung der Türkei nicht von Belang. Diese wurden nicht als bestimmende Merkmale aufgefasst, die die Zugehörigkeit der Türkei zum „Westen“ in Frage stellen würden, sie kamen noch nicht einmal zur Sprache. Der Grund für diese Haltung ist im Laizismusverständnis des Verfassungsgebers zu finden. Laizismus bedeutet die strikte Trennung von Staat und Religion. Dabei lag der Schwerpunkt in der Türkei stets auf der Freiheit von der Religion und nicht auf der Freiheit der Religion oder zur Religion. Nach dem türkischen Laizismusverständnis darf die Religion keinen Einfluss auf den Staat und auch nicht auf das gesellschaftlich-öffentliche Leben ausüben. Wie bereits teilweise erörtert wurde, war und ist dieses Prinzip bis heute eines der Hauptprinzipien der Republik und wird als eines der Hauptmerkmale der „Verwestlichung“ betrachtet.804 Wenn dem aber so ist und die Verfassung 800  Protokolle

der Abgeordnetenversammlung, Band 2, S. 501. S. 228. 802  Protokolle der Abgeordnetenversammlung, Band 2, S. 364. 803  Nemo, Was ist der Westen?, S. 3; Winkler, Geschichte des Westens, Band 1, S. 21. 804  Siehe S. 54. 801  Vgl.



III. Das besondere Verhältnis zum „Westen“239

den Bereich des Staates und des gesellschaftlichen Lebens statuiert, auf den die Religion keinen Einfluss haben darf, dann ist es nur folgerichtig, dass bei der Frage der Zugehörigkeit der Türkei zum „Westen“ die Bedeutung der Religion unbeachtet blieb. Denn dem Verfassungsgeber ging es nicht um die Religion, sondern um den Bereich des Staates und des öffentlichen Raumes. So kann die islamische Türkei ein Teil des christlichen „Westens“ sein, da Islam und Christentum keine Kategorien oder Kriterien für den politischen und rechtlichen, generell öffentlichen Bereich sind. Aus der Sicht des Verfassungsgebers sind die Errungenschaften des „Westens“, die diesen kennzeichnen, wie Demokratie, Freiheitsrechte und Gewaltenteilung, aber auch Gleichstellung von Mann und Frau und das moderne Bildungswesen, unabhängig von der Religion und teilweise gegen sie errungen worden und fest verbunden mit der Trennung von Staat und Religion. Die Republik Türkei trennt aber auch den Staat von der Religion und drängt die Religion ins Private. Dann spielt es keine Rolle, welche Religion die Bevölkerung im Privaten hat, da diese für Gesellschaft und Staat bedeutungslos ist beziehungsweise sein soll. Das heißt, das Bild des türkischen Verfassungsgebers vom historisch-kulturellen „Westen“ war frei von jeglichen religiösen Komponenten, sodass es in dieser Hinsicht kein Hindernis für die Türkei gab, Teil des „Westens“ zu sein. Im diesem Zusammenhang ist die Aussage von Suphi Karaman, Mitglied des Komitees für Nationale Einheit zu sehen, der die türkische Reform- und Nationalbewegung und den Befreiungskrieg wie folgt würdigte: „Die Ideen, die vor 55 Jahren ‚Ich bin Teil der türkischen Nation, der islamischen Gemeinschaft, der westlichen Zivilisation‘ propagierten, bewahrten im Ersten Weltkrieg diese Nation vor dem Untergang. Das Blut, das im Befreiungskrieg geflossen ist, floss für dieses Prinzip.“805 Aus türkischer Sicht liegt kein Widerspruch vor, gleichzeitig Teil der islamischen Glaubenswelt und der „westlichen“ Zivilisation zu sein, da diese aufgrund des Laizismusverständnisses als voneinander getrennte Ebenen erscheinen. Die Religion soll nur im Privaten eines jeden Menschen von Belang sein, die „westliche“ Zivilisation bezieht sich auf den öffentlichen, das heißt politischen, rechtlichen und gesellschaftlichen Raum. Auch die Vorstellung von der Zugehörigkeit zu diesem „Westen“ stellte Grund und Legitimation für die Rezeption „westlicher“ Verfassungsrechte dar. Die Übernahme von Normen, Prinzipien und Institutionen fand ihre Rechtfertigung in der Überzeugung von der Verbundenheit mit dem „Westen“. Der Zusammenhang der oben dargelegten Zitate zeigt dies sehr klar. Wenn Tarık Zafer Tunaya betonte, dass das Leben die Türkei zur Teilnahme am „Westen“ gezwungen habe und die Türkei nunmehr seit Jahrhun805  Protokolle

S. 6.

des Komitees für nationale Einheit, Band 6, 87. Zusammenkunft,

240

F. Legitimationen und Gründe für die Rezeption

derten auf diesem Weg gehe, zog er daraus die Schlussfolgerung, dass „die Verfassungen der Staaten der westlichen Demokratien, trotz ihrer Unterschiede zwischen Ländern und Flaggen, in großem Umfang die gleichen Probleme lösen müssen. […] Weil die Türkei nun in der Welt der westlichen Demokratien eine Verfassung in Kraft setzen will, die auf den Prinzipien der westlichen Demokratien basieren soll, ist es natürlich, dass sie dabei Bestimmungen formuliert, die mit vielen anderen Verfassungen, die die westliche Demokratie ausdrücken, gemein sind. Daher müssen die Gründe, die die Verfassung der Türkei mit den anderen Verfassungen verbinden, als ein natürliches Ergebnis unserer Verbundenheit mit der westlichen Demokratie, unserer Zugehörigkeit zu dieser gesehen werden.“806 Wenn Enver Ziya Karal von der Zugehörigkeit der Türkei zur „westlichen“ Zivilisation ausging, dann diente dies auch ihm als Legitimation der Arbeitsweise der selektiven Übernahme „westlicher“ Verfassungsrechte: „Die letzten Verfassungsbewegungen der westlichen Welt, der wir angehören, […] wurden von unseren sehr verehrten Freunden untersucht und ihre Natur, ihre historische Entwicklung und Ausrichtung berücksichtigt.“807 Jedoch gab es unter den Vertretern in der Abgeordnetenversammlung Stimmen, die den historisch-kulturellen „Westen“ als Abendland in seinem Antagonismus zum Morgenland begriffen und die Türkei zum Letzteren zählten. Auch in der Begründung der Verfassungskommission zum Verfassungsentwurf lassen sich solche Konnotationen finden. Zum einen wurden damit nur auf die Unterschiede zwischen den „westlichen“ Staaten und der Türkei aufmerksam gemacht, ohne damit die Rezeption von „westlichen“ Verfassungsrechten in Frage zu stellen. Im Gegenteil sollte vielmehr dadurch auf den Reformbedarf der Türkei nach „westlichem“ Vorbild hingewiesen werden, um den Abstand zum „Westen“ zu schließen. Für den Abgeordneten Muhittin Gürün beispielsweise lag die Notwendigkeit für eine zweite Parlamentskammer nicht nur in den allgemeinen Gründen, die global und unabhängig vom konkreten Land gelten, wie erweiterte Kontroll- und bessere Repräsentationsmöglichkeiten, sondern auch in der Tat­ sache, dass „in unserem Land, das sich insbesondere im Vergleich zu den westlichen Staaten [Hervorhebung durch den Verfasser] bei der Installierung eines demokratischen Regimes […] verspätet hat, ein zweites Parlament als Sicherungseinrichtung solange unbedingt notwendig ist, bis die Grundlagen der Demokratie im westlichen Sinne in den Seelen und Gedanken unserer Bürger angekommen ist“808. Die Verfassungskommission schließt sich dem 806  Protokolle

der Abgeordnetenversammlung, Band 2, S. 501. der Abgeordnetenversammlung, Band 2, S. 366. 808  Protokolle der Abgeordnetenversammlung, Band 2, S. 416. 807  Protokolle



III. Das besondere Verhältnis zum „Westen“241

an, in dem sie zu Beginn ihrer Begründung zu ihrem Entwurf hervorhebt, dass „die Versuche der Begrenzung der absoluten Souveränität des Herrschers bei uns im Vergleich zum Westen [Hervorhebung durch den Verfasser] erst spät begannen“809 und daher immer wieder von Rückschlägen betroffen gewesen sei, auch wenn sie sich im Ergebnis immer weiterentwickelt habe. Zum anderen verfolgten einzelne Abgeordnete mit dem Hinweis auf die Nichtzugehörigkeit der Türkei zum „Westen“ aber auch das Ziel, dadurch Kritik an der generellen Arbeitsweise der Rezeption „westlicher“ Verfassungsrechte zu üben und diese in Frage zu stellen. Besonders beim Redebeitrag des Abgeordneten Mehmet Altınsoy kam dies deutlich zur Geltung. Er kritisierte, dass sich der Entwurf der Verfassungskommission zu sehr an Verfassungen anderer, „westlicher“ Länder orientiere, allen voran nennt er Italien und Deutschland. Die Kommission habe es versäumt, die Wirklichkeiten der Türkei zu untersuchen und dementsprechend eine Verfassung auszuarbeiten. Dem Entwurf fehle ein nationaler Geist und könne nur sehr eingeschränkt als nationale Verfassung bezeichnet werden.810 Bezeichnet dabei ist, dass er die Türkei nicht als Teil des „Westens“ ansah, den er historisch-kulturell auffasste. Ohne dass er dies explizit erklärt hätte, ergibt sich dies bereits aus den von ihm benutzten Worten. Um den „Osten“ und den „Westen“ zu benennen, verwendete er nicht nur die neutürkischen Bezeichnungen „doğu“ und „batı“, sondern auch die alttürkisch-osmanischen Worte „şark“ und „garp“.811 Diese alttürkisch-osmanischen Worte für „Ost“ und „West“ drücken gerade den historischen Antagonismus zwischen Morgenland und Abendland aus, der sich in den Beziehungen und insbesondere auch kriegerischen Auseinandersetzungen zwischen Europa und dem Osmanischen Reich ausdrückte. Durch das Hervorholen der „alten“, die historische Gegnerschaft symbolisierenden Worte sollte zum Ausdruck gebracht werden, dass die Türkei nicht Teil des „Westens“ ist und somit die Übernahme von „westlichem“ Recht nicht geeignet ist für die Formulierung einer türkischen Verfassung. Im Ergebnis blieb diese Kritik zwar weitestgehend folgenlos. Dies erkennt man vor allem daran, dass sich der kritisierte Entwurf der Verfassungskommission zum großen Teil in der endgültigen, in Kraft getretenen Fassung der Verfassung wiederfindet. Jedoch zeigt auch dieses Beispiel den Zusammenhang zwischen der Haltung zur Frage der Zugehörigkeit der Türkei zum „Westen“ und der Haltung zur Rezeption „westlicher“ Verfassungsrechte.

809  Begründung

zum Entwurf der Verfassungskommission, S. 1. der Abgeordnetenversammlung, Band 2, S. 398–400. 811  Protokolle der Abgeordnetenversammlung, Band 2, S. 397, 399. 810  Protokolle

242

F. Legitimationen und Gründe für die Rezeption

Zusammenfassend muss man festhalten, dass der türkische Verfassungsgeber bei der „Verwestlichung“ des türkischen Verfassungsrechts im Rahmen der Entstehung der Verfassung von 1961 von zwei, sich nur partiell überschneidenden Vorstellungen vom „Westen“ ausging, was zur Folge hatte, dass die Frage nach der Zugehörigkeit der Türkei zum „Westen“ unterschiedlich beantwortet wurde. In den untersuchten Quellen finden sich sowohl Bezugnahmen und Verweise auf ein Verständnis des „Westens“ im Sinne des Kalten Krieges, als auch auf das Bild vom historisch-kulturell aufgefassten, abendländischen „Westen“. Im ersteren Fall wurde die Türkei stets als Teil des „Westens“ betrachtet. Im letzteren Fall gab es einige, die die Türkei mittlerweile als Bestandteil auch dieses „Westens“ sahen, andere wiederum nicht. Diese Vorstellungen über die Zugehörigkeit wirkten sich auch auf die Rezeption „westlicher“ Verfassungsrechte aus. Die Personen, die die Türkei nicht als Teil des „Westens“ ansahen, betonten die Unterschiede zwischen der Türkei und dem „Westen“ und standen der Rezeption „westlicher“ Verfassungsrechte reserviert bis ablehnend gegenüber. Die Gegenüberstellung der aus ihrer Sicht „nichtwestlichen“ Türkei und des „Westens“ benutzten sie zur Kritik an der Rezeption. Die große Mehrheit der Abgeordneten und die Verfassungskommission, die die Türkei als ein Teil des „Westens“ betrachteten, sahen in der Rezeption „westlicher“ Verfassungsrechte nicht die Übernahme von fremdem Gedankengut und fremden Rechtssätzen, sondern einen natür­lichen und selbstverständlichen Vorgang. Diese Haltung, die sich letztendlich durchsetzte, war ein weiterer Grund für die Rezeption „westlicher“ Verfassungsrechte und fungierte gleichzeitig als Legitimation für diese Arbeitsweise. Somit war die Frage der Zugehörigkeit der Türkei zum „Westen“ ein Mittel der politischen Auseinandersetzung um die Rolle der Rezeption „westlicher“ Verfassungsrechte.

IV. Fazit Die Arbeitsweise der türkischen Verfassungsautoren, die neue türkische Verfassung durch vergleichende und selektive Übernahmen aus „westlichen“ Verfassungen zu erarbeiten, hatte mehrere Gründe. Hierzu gehörten die Berufung auf Mustafa Kemal Atatürk und seine Politik der „Verwestlichung“, das historische Bild von der Kontinuität der verfassungsrechtlichen Entwicklung seit dem Osmanischen Reich bis zu den Verfassungsgebern von 1960/1961 und die Vorstellung von der Zugehörigkeit der Türkei zum „Westen“. Diese Gründe stellten zugleich Legitimationsgrundlagen für diese Arbeitsmethode der Verfassungsausarbeitung dar. Sie dienten der Rechtfertigung der Rezeption „westlicher“ Verfassungsrechte und der Abwehr von Kritik und Missbilligung.

G. Motive und Ursachen für die Wahl der italienischen Verfassung von 1947/1948 und des deutschen Grundgesetzes von 1949 als Hauptgegenstände der Rezeption Die Gründe und Legitimationen für die allgemeine Arbeitsweise der Rezeption westlicher Verfassungsrechte liefern jedoch noch keine Erklärung für das Ergebnis dieser Verfassungsarbeiten, nämlich die Funktion der italienischen Verfassung von 1947/1948 und des deutschen Grundgesetzes von 1949 als Hauptgegenstände der Rezeption. Es wäre zu kurz gegriffen, dieses Ergebnis als zufällige Folge der Arbeitsweise der türkischen Verfassungsgeber zu sehen, die aus dem Kreis der „westlichen“ und eigenen Verfassungen für ihre konkreten Regelungsprobleme zielgerichtet diejenigen Bestimmungen, Prinzipien oder Institutionen in ihre Verfassung übertrugen, die sie am besten und am passendsten für ihre konkreten Bedürfnisse, Absichten und Pläne hielten. Vielmehr trugen zu diesem Ergebnis zum einen auch die Motive und Ziele der türkischen Machthaber und Verfassungsautoren, zum anderen auch die Eigenheiten der italienischen und deutschen Verfassungen bei. Diese waren der Anspruch der türkischen Verfassungsgeber auf Modernität, die Verarbeitung der Erfahrungen aus diktatorischen Regimen in den Verfassungen Italiens und der Bundesrepublik Deutschland sowie der Antikommunismus in der Türkei.

I. Anspruch auf Modernität Eine der Ursachen für die Rolle der italienischen Verfassung von 1947/1948 und des deutschen Grundgesetzes von 1949 als Hauptgegenstände der Rezeption war der Anspruch der türkischen Verfassungsgeber auf Modernität. Die Verfassungsautoren strebten eine „moderne“ Verfassung an und orientierten sich daher vornehmlich an Verfassungen, die in ihren ­Augen „modern“ waren. Dies war eines der Hauptkriterien für die Verfassungsarbeiten. Das Wort „modern“ ist in der Begründung der Verfassungskommission zu ihrem Verfassungsentwurf insgesamt 21-mal zu finden und stellt somit das mit Abstand häufigste Adjektiv dar, das die Verfassungskommission zur Beschreibung der zu ihrer Arbeit herangezogenen „west­ lichen“ Verfassungen und der Artikel ihres Verfassungsentwurfs verwende-

244

G. Motive und Ursachen für die Wahl der Rezeptionsgegenstände

te.812 Die Artikel in ihrem Entwurf begründete die Verfassungskommission damit, dass diese oder jene Regelung beziehungsweise Bestimmung „in (­allen) modernen Verfassungen“813 enthalten sei, den Anforderungen „moderner parlamentarischer Arbeit“814 gerecht werde, „modernen Verfassungen entsprechend“815 verfasst worden sei oder in „modernen Staaten“816 die ­Regel sei. Modernität bedeutete für die türkischen Verfassungsgeber in erster Linie zeitliche Aktualität, also Neuheit. Denn in der Begründung zum Verfassungsentwurf verwendete die Verfassungskommission die Worte „neu“ (türk.: „yeni“), „letzte(r,s)“ (türk.: „son“) und „zeitgenössisch“ (türk.: „çağdaş“) als Synonyme für die Bezeichnung „modern“.817 Dieser Anspruch auf eine als Aktualität und Neuheit verstandene Modernität korrespondierte mit den Gründen für die Erarbeitung einer neuen Verfassung. Die neue Verfassung wurde unter anderem deshalb in Angriff genommen, weil die Streitkräfte und die kemalistischen Eliten der Meinung waren, auf die weltweite Verfassungswelle, die nach 1945 eingesetzt hatte, reagieren und ebenfalls eine neue Verfassung erarbeiten zu müssen, um den Anforderungen der Zeit gerecht werden zu können.818 Diese Vorstellung und Motivation lenkte den Blick der Verfassungsautoren auf die Verfassungen des „Westens“, die nach dem Zweiten Weltkrieg erlassen worden waren und damit als neu und aktuell gegolten haben, wozu insbesondere das deutsche Grund­ gesetz von 1949 und die italienische Verfassung von 1947/1948 gehörten. Außerdem spielte die vom Kemalismus geprägte Haltung der türkischen Verfassungsgeber, hier vor allem das Prinzip des Revolutionismus, eine entscheidende Rolle für den Anspruch auf Modernität und damit für die Funktion der italienischen und der deutschen Verfassungen als Hauptgegenstände der Rezeption. Denn der Revolutionismus drückt sich in einem permanenten Streben nach einer immer weiterschreitenden Modernisierung aus. Er ist ein Fortschrittsdenken, welches sich mit dem gegenwärtigen Stand nicht abgibt, sondern immerzu die Erneuerung und weitergehende Entwicklung einfordert.819 Der Blick zurück auf ältere Verfassungen kam daher für die türkischen Verfassungsgeber nicht in Betracht, sondern nur der Blick nach vorne auf die neuesten und aktuellsten Verfassungen des „Westens“. 812  Begründung zum Entwurf der Verfassungskommission, S. 14, 17, 18, 19, 23, 25, 26, 28, 31, 32, 33, 36, 37, 39, 40, 42. 813  Begründung zum Entwurf der Verfassungskommission, S. 19, 28. 814  Begründung zum Entwurf der Verfassungskommission, S. 31. 815  Begründung zum Entwurf der Verfassungskommission, S. 25. 816  Begründung zum Entwurf der Verfassungskommission, S. 36. 817  Begründung zum Entwurf der Verfassungskommission, S. 1, 12, 17, 26, 27, 47. 818  Siehe S.  63 ff. 819  Siehe S.  60 f.



I. Anspruch auf Modernität245

Trotz der Konzentration der türkischen Verfassungsgeber auf die Modernität im Sinne von Aktualität und Neuheit spielte für ihre Verfassungsarbeiten die französische Verfassung von 1958 eine nur sehr untergeordnete Rolle, obwohl diese 1960 gerade zwei Jahre alt gewesen ist und somit die neueste und aktuellste Verfassung in der „westlichen“ Welt darstellte. Dies hängt mit dem Inhalt und der Ausrichtung der französischen Verfassung zusammen. Die französische Verfassung von 1958 war ganz auf ihren Initiator Charles de Gaulle ausgerichtet und sah eine zentrale, verfassungsgerichtlich oder parlamentarisch kaum kontrollierte Machtstellung des Präsidenten vor, dem dadurch die wesentliche Rolle im politischen Prozess zukam.820 Das gewünschte Ziel und das praktische Ergebnis dieser Ausrichtung war die deutliche Stärkung der Exekutive in Gestalt des Präsidenten, der verbunden mit der Autorität und Beliebtheit von Charles de Gaulle als ersten Präsidenten der V. Republik, zur zentralen Figur der französischen Verfassung wurde.821 Politische Beobachter und Rechtswissenschaftler bezeichnen daher die französische Verfassungsordnung als ein semi-präsidentielles System, einige sehen darin sogar ein Präsidialsystem.822 Diese Ausgestaltung der französischen Verfassung schreckte die türkischen Verfassungsgeber förmlich davon ab, sich französische Regelungen und Bestimmungen zum Vorbild zu nehmen. Denn die französische Verfassung entsprach in ihrer Gesamtheit genau dem Bild, das die Verfassungsgeber in der Türkei für ihr Land unbedingt vermeiden wollten, und stand in Widerspruch zu einem der Hauptmotive für die neue Verfassung. Neben der Antwort auf die neuen Verfassungsentwicklungen im Ausland und einer Auseinandersetzung mit diesen, stellte die neue Verfassung eine Reaktion auf die gestürzte autoritäre Regierung der Demokratischen Partei (DP) unter dem Ministerpräsidenten Adnan Menderes dar. Wie bereits erörtert, versuchten die an der Entstehung der Verfassung beteiligten Gruppen aufgrund der gemachten Erfahrungen Mittel und Wege zu finden und zu etablieren, die eine Konzentration der Macht in den Händen einer Person oder eines Organs, insbesondere der Exekutive, verhindern sollten. Der Zweck der Verfassung war die Neuordnung der politischen Machtbeziehungen mit dem Ziel, die Macht auf verschiedene Organe und Institutionen zu verteilen und deren gegen­ seitige Kontrolle zu gewährleisten.823 Die französische Verfassung von 1958 mit ihrer bewussten und gewollten Konzentrierung des Verfassungslebens auf den Präsidenten war daher trotz ihrer Neuheit als Rezeptionsgegenstand 820  Schild/Uterwedde, Frankreich. Politik, Wirtschaft, Gesellschaft, S. 70; Vogel, Frankreichs Verfassung 1958–2008, S. 15. 821  Vogel, Frankreichs Verfassung 1958–2008, S. 15. 822  Schild/Uterwedde, Frankreich. Politik, Wirtschaft, Gesellschaft, S. 69–70. 823  Siehe S.  61 ff.

246

G. Motive und Ursachen für die Wahl der Rezeptionsgegenstände

nur sehr bedingt geeignet. In den Verhandlungen in der Abgeordnetenversammlung kommt diese Einschätzung einige Male zum Ausdruck. Der Abgeordnete Alp Kuran bezeichnete die französische Verfassung von 1958 in Anspielung auf ihren Urheber und ihren Zuschnitt auf diese Person als „De Gaulle Verfassung“824. Sie sei eine Reaktion auf die Unregierbarkeit des französischen Staates in den frühen 1950ern und auf die Anarchie im Land gewesen und habe daher sogar einen „autoritären Charakter“825. Der Abgeordnete Sadık Aldoğan setzte den französischen Präsidenten sogar mit einem Monarchen gleich. Für ihn war Frankreich aufgrund der stark auf den Präsidenten zugeschnittenen Verfassung „einem royalistischen Regime unterworfen. Das heißt im Wesentlichen ist es ein Regime der Monarchie.“826 Eine größere Distanzierung von einer Verfassung als deren Charakterisierung als monarchisch oder royalistisch kann es für eine konstituierende Versammlung, deren Mitglieder sich als Erben Mustafa Kemal Atatürks ansahen und Anhänger des kemalistischen Prinzips des Republikanismus waren, gar nicht geben.

II. Erfahrungen mit Diktaturen Der Grund für die Distanzierung von der französischen Verfassung von 1958, das heißt das Ziel durch die neue Verfassung die politischen Machtbeziehungen neu zu ordnen, eine große politische Machtansammlung in der Hand eines Organs oder gar einer Person und eine autoritäre Herrschaftsausübung unmöglich zu machen, lenkte auch den Blick der türkischen Verfassungsautoren auf die Verfassungen Italiens und der Bundesrepublik Deutschland. Die Verfassung der Republik Türkei von 1961 war eine Reaktion auf die vorangegangene autoritäre, quasidiktatorische Herrschaft der Demokratischen Partei (DP). Die türkischen Verfassungsgeber wollten mit der neuen Verfassung eine Wiederholung entsprechender Herrschaftsausübung unmöglich machen. Daher entschieden sich sie bewusst dafür, besonders diejenigen „westlichen“ Verfassungen als Vorbilder zu nehmen, die ebenfalls eine Reaktion auf autoritäre oder gar totalitäre Regime darstellten und daher geprägt waren von dem Versuch, Machtkonzentration, Machtmissbrauch und diktatorische Bestrebungen zu verhindern. In der Begründung der Verfassungskommission zum Verfassungsentwurf heißt es hierzu: „Insbesondere wurden Verfassungen von Staaten ausgewertet, die sich wie Italien oder Westdeutschland gerade erst von diktatorischen Regimen befreiten [Hervorhebung durch

824  Protokolle

der Abgeordnetenversammlung, Band 2, S. 413. der Abgeordnetenversammlung, Band 2, S. 413. 826  Protokolle der Abgeordnetenversammlung, Band 2, S. 573. 825  Protokolle



II. Erfahrungen mit Diktaturen247

den Verfasser] und ein Regime gründeten, welches auf der westlichen Demokratie basiert.“827 In der Tat waren das deutsche Grundgesetz von 1949 und die italienische Verfassung von 1947/1948 die Verfassungen des „Westens“, die in besonderem Maße von den Erfahrungen mit den unmittelbar vorangegangenen Diktaturen geformt wurden und daher der Abwehr und der Vorbeugung von autoritären und totalitären Regierungsformen einen außerordentlichen Stellenwert einräumten. In Deutschland entstand das Grundgesetz von 1949 als eine direkte Reaktion auf die Ereignisse und Erfahrungen während des Nationalsozialismus. Alle an der Verfassungsentstehung beteiligten Akteure beabsichtigten die deutliche Distanzierung und die unumkehrbare Abkehr von der Unrechtsherrschaft des Nationalsozialismus.828 Die Abwehrhaltung gegenüber dem Nationalsozialismus war ein konstituierendes Element bei der Gründung der Bundesrepublik Deutschland. Die totalitäre Diktatur hatte eine „gegenbildlich identitätsprägende Bedeutung“829 für die verfassungsrecht­ liche Ordnung der Bundesrepublik Deutschland. Daher steht das deutsche Grundgesetz „in diametralem Gegensatz zur nationalsozialistischen Ord­ nung“830. Der grausame Schrecken und das grenzenlose Unrecht im Deutschland der Jahre 1933 bis 1945 prägten insbesondere den Grundrechtsteil, den der Parlamentarische Rat als Verfasser des deutschen Grundgesetzes zu einem umfassenden und effektiven Bollwerk zum Schutze des Individuums gegen Verletzungen seiner Rechte und Freiheiten aufbaute.831 Die zum Teil negativen Erfahrungen mit der Weimarer Reichsverfassung, welche die politische Instabilität und die wirtschaftlichen und sozialen Krisen der 1920er und frühen 1930er wenn nicht bedingte, so doch nicht abwenden konnte und die Institutionen und Verfahren zur Verhinderung der Machtergreifung durch die Nationalsozialisten nicht in ausreichendem Maße bereitgestellt hatte, bestimmten vorrangig die Regelungen im Bereich der Staatsorganisation.832 Das deutsche Grundgesetz von 1949 sollte eine zu große Machtfülle in der Hand eines Organs verhindern und gleichzeitig die verfassungsrechtlichen Grundlagen für funktionsfähige und stabile Regierungen sicherstellen. Der Parlamentarische Rat beabsichtigte mit seinem Werk eine Wiederholung der nationalsozialistischen Diktatur auszuschließen und insbesondere eine et­ waige Aushebelung und Aufhebung der verfassungsmäßigen Ordnung auf 827  Begründung 828  Unruh,

zum Entwurf der Verfassungskommission, S. 3. Der Verfassungsbegriff des Grundgesetzes, S. 34, 337; BVerfGE 124,

300, 328–329. 829  BVerfGE 124, 300, 328. 830  Unruh, Der Verfassungsbegriff des Grundgesetzes, S. 337. 831  Unruh, Der Verfassungsbegriff des Grundgesetzes, S. 336. 832  Unruh, Der Verfassungsbegriff des Grundgesetzes, S. 336.

248

G. Motive und Ursachen für die Wahl der Rezeptionsgegenstände

formal legalem und daher scheinbar legitimem Wege für die Zukunft unbedingt zu verhindern.833 Das Ziel war der „(erneute) Anschluss an die west­ liche Tradition des demokratischen Verfassungsstaates“834 nach der totalitären Unrechtsherrschaft des Nationalsozialismus. Italien ist seit der Vollendung der Vereinigung zu einem Staat im Jahre 1870 politisch stets tief gespalten gewesen. Daher bestimmten häufig die Zersplitterung in viele verschiedene Gruppen und gegenseitige Blockaden den italienischen Staat und dessen Politik. Auch nach dem Faschismus unter Benito Mussolini und dem verlorenen Zweiten Weltkrieg blieb diese politische Spaltung bestehen. Dies zeigte sich sehr deutlich 1946 bei der Volksabstimmung über die zukünftige Staatsform des Landes, in der sich die Repu­ blik mit 51 % aller abgegebenen Stimmen nur knapp gegen die Monarchie durchsetzen konnte.835 Eine genaue Analyse der Abstimmung bestätigte auch die traditionelle, neben der kulturellen und wirtschaftlichen auch die politische Nord-Süd-Spaltung des Landes, da der Norden mit großer Mehrheit für die Republik gestimmt hatte, während die Präferenz des Südens mit großer Mehrheit auf Seiten der Monarchie gewesen ist.836 Dennoch waren sich alle maßgeblichen politischen Kräfte, von den Kommunisten über die Sozialisten und die Liberalen bis zu den Christlich-Konservativen, in der Ablehnung des vorangegangenen Faschismus unter Benito Mussolini einig. Der in der Er­ innerung überhöhte und sakralisierte Widerstand (ital.: „Resistenza“) gegen den Faschismus und den deutschen Nationalsozialismus avancierte unmittelbar nach 1945 zum Gründungsmythos der neuen Republik Italien.837 Ausgehend hiervon erarbeiteten die politischen Kräfte der Nachkriegszeit die ita­ lienische Verfassung von 1947/1948, die aufgrund der politisch-ideologischen Spaltung des Landes einen Kompromisscharakter hatte.838 Kompromisslos waren die italienischen Verfassungsgeber jedoch in dem Bestreben, „jeden Ansatz zu einer neuen totalitären Diktatur im Keim zu ersticken“839. Denn die Erfahrungen mit der unmittelbaren Vergangenheit und die daraus stammende Ablehnung des Faschismus bildeten das einzig einigende Band um die ansonsten divergierenden politischen Lager. Daher versuchten die italie833  Unruh,

328.

834  Unruh,

Der Verfassungsbegriff des Grundgesetzes, S. 336; BVerfGE 124, 300,

Der Verfassungsbegriff des Grundgesetzes, S. 337. Italien seit 1945, S. 22–23. 836  Jansen, Italien seit 1945, S. 22–23. 837  König, Faschismus: Entstehung, Konsolidierung, Zusammenbruch und Aufarbeitung, S. 149. 838  Jansen, Italien seit 1945, S. 29; König, Faschismus: Entstehung, Konsolidierung, Zusammenbruch und Aufarbeitung, S. 149. 839  Ritterspach, Die italienische Verfassung – nach vierzig Jahren, in: JöR, Band 37, S. 75. 835  Jansen,



III. Der Antikommunismus in der Türkei249

nischen Verfassungsautoren durch eine „konsequente Durchführung der Gewaltenteilung und die Verteilung der Befugnisse der drei Gewalten auf voneinander unabhängige, aber sich gegenseitig kontrollierende Verfassungs­ organe“840 einem Wiederaufleben eines autoritären oder gar totalitären Re­ gimes einen Riegel vorzuschieben.

III. Der Antikommunismus in der Türkei Sowohl in der türkischsprachigen als auch in der deutschsprachigen Forschung über die türkische Verfassung von 1961 ist bisher die außenpolitische Situation der Zeit und die durch diese mitbedingte politische Atmosphäre in der Türkei gänzlich unbeachtet geblieben. Für ein umfassendes Verständnis der Entstehung der Verfassung ist aber auch der außenpolitische Kontext der damaligen Zeit, namentlich die Situation des Kalten Krieges, und der damit zusammenhängende Antikommunismus zu beachten. Denn diese bestimmten maßgeblich die Verfassungsentstehung, insbesondere den Kreis der rezipierbaren Vorbilder für die Verfassung von 1961 mit und erklären auch die besondere Vorbildfunktion der italienischen und deutschen Verfassungen. 1. Die außenpolitische Situation des Kalten Krieges Auch wenn die Türkei vom Ost-West-Konflikt nicht in dieser Intensität betroffen war wie das geteilte Deutschland, gab es auch für die Türkei eine „kommunistische Bedrohung“. Anders als beispielsweise beim damals strukturell ähnlich verfassten Nachbarn Griechenland existierten zwar in der Türkei Anfang der 1960er keine starken kommunistischen Parteien. Ihren größten Erfolg feierte die prosowjetische Türkische Arbeiterpartei erst bei den Parlamentswahlen 1965, als sie landesweit 3 % der Wählerstimmen bekam und 15 Abgeordnete stellte.841 Besonders gefährlich für die Türkei war aber ab 1945 die sowjetische Expansionspolitik, da sie sich genauso wie Deutschland in direkter Nachbarschaft zum sowjetischen Herrschaftsbereich befand. Die Gegnerschaft zwischen Russen und Türken knüpfte dabei an eine lange Tradition an. Mit dem Balkan und dem Kaukasus gab es gleich zwei große Territorien, die im Macht- beziehungsweise Interessenbereich beider 840  Ritterspach,

S. 75.

Die italienische Verfassung – nach vierzig Jahren, in: JöR, Band 37,

841  Deutschsprachige Werke über die Türkische Arbeiterpartei sind dem Autor nicht bekannt. Verwiesen werden soll daher auf türkischsprachige Werke, darunter vor allem: Nida, Yarın Biz Konuşacağız. TİP Tarihi ve Anılar. (Morgen werden wir reden. Die Geschichte der TIP und Erinnerungen) und Aybar, Marksizm ve Sosyalizm Üzerine Düşünceler (Überlegungen über Marxismus und Sozialismus).

250

G. Motive und Ursachen für die Wahl der Rezeptionsgegenstände

Seiten lagen. Hinzu kam das russische Streben nach den beiden Meerengen zwischen dem Schwarzen Meer und dem Mittelmeer (Bosporus und Dardanellen). Als Folge gab es zwischen dem 16. und 19. Jahrhundert nicht weniger als 11 Kriege zwischen dem Osmanischen Reich und dem russischen Zarentum beziehungsweise Kaiserreich. Und auch im Ersten Weltkrieg standen beide Länder jeweils auf der anderen Kriegsseite. Dennoch war das Wiederaufleben der türkisch-russischen Gegnerschaft nach 1945 keineswegs zu erwarten oder gar selbstverständlich. Schließlich pflegten beide Seiten seit den 1920ern ein sehr partnerschaftliches Verhältnis. Die Bolschewisten und die Kemalisten hatten während der frühen 1920er die gleichen Feinde, nämlich vor allem Großbritannien und Frankreich und agierten getreu dem Motto „Der Feind meines Feindes ist mein Freund“. Auch eine gewisse gegenseitige Empathie, um nicht zu sagen Sympathie, lag vor. Beide Seiten kämpften gegen den „imperialistischen Westen“ und gegen die eigene Monarchie. Und beide Seiten schickten sich an, ihr Land revolutionär umzugestalten, auch wenn Art und Ziel der Umgestaltung höchst unterschiedlich waren.842 Die Beziehungen mündeten daher in den „Vertrag über Freundschaft und Brüderlichkeit“ vom 16. März 1921 und in den Vertrag von Kars vom 13. Oktober 1921. Durch diese wurden die Kemalisten von den Bolschewisten als einzig legitime Vertreterin der Türkei anerkannt und die Grenzen zwischen beiden Staaten festgelegt. 1925 einigten sich beide Seiten schließlich auf einen „Nichtangriffs- und Neutralitätspakt“, in dem sich die Türkei und die Sowjet­ union dazu verpflichteten, keinem Bündnissystem beizutreten, welches ihre Beziehungen gefährden könnte. Nach 1945 verschlechterten sich die Beziehungen jedoch rapide. Die als Siegerin aus dem Zweiten Weltkrieg hervorgegangene Sowjetunion erklärte 1946, den „Nichtangriffs- und Neutralitätspakt“ nicht verlängern zu wollen. Zudem kündigte Stalin den Vertrag von Montreux aus dem Jahre 1936 auf, durch den die Türkei die volle Souveränität über die Meerengen erhalten hatte. Die Sowjetunion forderte ein Recht auf Mitverwaltung der Meerengen und die Abtretung türkischen Territoriums im Kaukasus. Diese sowjetische Bedrohung trieb die Türkei förmlich in die Arme des „Westens“. Noch unter der Regierung der Demokratischen Partei von Ministerpräsident Adnan Menderes nahm die Türkei mit über 5000 Soldaten auf Seiten des „Westens“ am Korea-Krieg teil und erhielt dafür wie bereits angesprochen 1952 die Eintrittskarte in die NATO. Die Verfassungsentstehung im Jahre 1961 muss im Lichte dieser außenpolitischen Lage gesehen werden. Der scharfe Ost-West-Gegensatz führte dazu, dass jedes Land klar Stellung beziehen musste, sofern es nicht die Möglichkeit oder den Willen hatte, blockfrei zu bleiben, was beispielsweise für die 842  So

auch Rill, Kemal Atatürk, S. 61–63.



III. Der Antikommunismus in der Türkei251

Bundesrepublik Deutschland wegen der Teilung des Nationalstaats schon nicht möglich war.843 Damit verbunden war, dass man Teil des Systems des eigenen Blocks werden musste, sich in diese Ordnung einfügen musste. Die Folge war, dass eine Orientierung an anderen Ordnungen oder eigenen Traditionen sowohl in wirtschaftlicher und politischer als auch in rechtlicher Hinsicht nicht möglich war. Der deutsche Historiker Doering-Manteuffel schreibt bezüglich der Westernisierung der Bundesrepublik Deutschland, dass „die Logik des Systemgegensatzes […] nur die Alternative ‚West‘ oder ‚Ost‘ [kannte] und […] einen ‚dritten Weg‘ der Deutschen oder die Vorstellung von ihrer Brückenfunktion nicht zu[ließ]“844. Dies lässt sich auch auf die Türkei übertragen. Wegen ihrer geostrategischen Bedeutung und der sowjetischen Bedrohung konnte sie im Kalten Krieg nicht unparteiisch sein. Diese außenpolitische Situation drängte die Türkei besonders auch im Jahre 1961, also im Jahr des Mauerbaus in Berlin und ein Jahr vor der Kuba-Krise, dazu, weiterhin Teil des „westlichen“ Staatenbündnisses zu sein, was wiederum bedeutete, dass nur eine „westliche“ Verfassung im Sinne von Marktwirtschaft und Antikommunismus möglich war. Ein Blick über den Tellerrand des eigenen Bündnisses hinaus war nicht möglich, ohne sich als Verfassungsgeber dem Vorwurf beziehungsweise dem Verdacht von innen wie von außen auszusetzen, man würde die Bündnistreue verraten und sich dem kommunistischen Feind annähern. 2. Die eigene antikommunistische Tradition Der Antikommunismus als ideologische Klammer des „westlichen“ Bündnisses war in der Türkei fest verankert. Hierbei fiel die von den USA ausgehende Propaganda, dass die „westliche“, liberale Demokratie nur mit der freien Marktwirtschaft als Wirtschaftsform und logisch nur antikommunistisch gedacht werden könne845, in der Türkei auf fruchtbaren Boden. Die Bedrohung durch die Sowjetunion und die Propaganda der USA begründeten nämlich den Antikommunismus in der Türkei nicht, sondern verstärkten diesen nur, da dieser in der türkischen Gesellschaft bereits angelegt war. Denn schon vorher war der Kommunismus für einen Großteil der türkischen Elite (sowohl der religiös-konservativen als auch der kemalistischen Seite) wegen seiner Religionsfeindlichkeit und wegen seines nationalstaatsfeindlichen Internationalismus ein rotes Tuch. Eine Gruppe von in Russland geschulten türkischen Kommunisten versuchte bereits 1921 an der türkischen Schwarzmeerküste Fuß zu fassen und für ihre Propaganda Gehör zu finden. Sie wurden je843  Doering-Manteuffel,

Westernisierung der BRD, S. 340. Wie westlich sind die Deutschen?, S. 95. 845  Doering-Manteuffel, Wie westlich sind die Deutschen?, S. 94. 844  Doering-Manteuffel,

252

G. Motive und Ursachen für die Wahl der Rezeptionsgegenstände

doch von der türkischen Bevölkerung vertrieben, ohne dass staatliche Kräfte eingreifen mussten.846 Dabei ist dies nicht so zu verstehen, dass für die religiösen Kräfte nur die Religionsfeindlichkeit und für die Kemalisten nur die Nationalstaatsfeindlichkeit die Ablehnung des Kommunismus begründete, es waren vielmehr für beide Seiten beide Gründe ausschlaggebend, wenn auch in unterschiedlicher Intensität. Zwar wird den Kemalisten wegen ihrer dezidiert laizistischen Haltung mitunter Religionsfeindlichkeit vorgeworfen.847 Aber selbst den Kemalisten ging die Aversion der Kommunisten gegenüber der Religion zu weit. Ihr Laizismusverständnis wollte der Religion die Kontrolle über den Staat entziehen und die Religion durch den Staat kontrollieren und für die nationale Sache nutzbar machen. Jedoch sahen sie die Religion nicht als Feind, der als Ganzes zu bekämpfen sei, was bei einer konservativen und religiösen Bevölkerung wie die der Türkei der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts auch nicht möglich gewesen wäre. Und die religiösen Kräfte konnten sich der Welle der nationalen Gefühle, die seit dem Befreiungskrieg über das Land schwappte, auch nicht entziehen, sodass bei ihnen religiöse und nationale Elemente miteinander verschmolzen, was man übrigens bis heute bei den konservativ-religiösen Parteien, einschließlich der derzeitigen Regierungspartei AKP beobachten kann.848 Niemand Geringeres als Mustafa Kemal Atatürk selbst brachte diese Haltung bereits 1921, also zu einer Zeit, als man die Partnerschaft mit den Bolschewisten in Russland noch brauchte und pflegte, in einem Interview mit der türkischen Zeitung Hâkimiyet-i Millîye (Ausgabe vom 06. Februar 1921) klar zu Ausdruck: „Der Kommunismus ist eine soziale Angelegenheit. Der Lage unseres Landes, die Erfordernisse unseres Landes, die Kraft seiner religiösen und nationalen Traditionen [Hervorhebung durch den Verfasser] bestärken den Gedanken, dass der Kommunismus in Russland nicht zur Umsetzung bei uns geeignet ist.“849

Fast zwei Jahre später verdeutlichte er diese Ansicht noch einmal in einem Interview mit der französischen Zeitung Petit Parisien (Ausgabe vom 02. November 1922): „Man darf nicht vergessen, dass diese Regierungsform [gemeint ist hier die Regierungsform der Türkei] kein bolschewistisches System ist. Denn wir sind weder Bolschewisten, noch Kommunisten; wir können weder das eine, noch das andere 846  Rill,

Kemal Atatürk, S. 63. beispielsweise Rill, Kemal Atatürk, S. 80. 848  Ermağan, EU-Skeptizismus, S. 158–159. 849  Atatürk Araştırma Merkezi Başkanlığı (Präsidium des Zentrums für AtatürkForschung) (Hrsg.), Atatürk’ün Söylev ve Demeçleri (Atatürks Reden und Erklärungen), Band 3, S. 20. 847  So



III. Der Antikommunismus in der Türkei253 sein. Denn wir sind Nationalisten und respektieren unsere Religion [Hervorhebung durch den Verfasser]. Kurz gesagt ist unsere Regierungsform genau die einer demokratischen Regierung. Und in unserer Sprache wird diese Regierung als ‚Volksregierung‘ bezeichnet.“850

Und vorausschauend bezeichnete er am 27. September 1932 in einem Gespräch mit dem damaligen ranghöchsten Offizier der USA, dem United States Army Generalstabschef des Heeres, Douglas MacArthur den Kommunismus als größte Gefahr für die ganze Welt: „Heute erscheint im Osten Europas eine neue Kraft, die alle Zivilisationen und sogar die ganze Menschheit bedroht. Diese schreckliche Kraft, die alle seine gesamten materiellen und geistigen Möglichkeiten für die Weltrevolution mobilisiert, verwendet brandneue politische Methoden, welche außerdem den Europäern und Amerikanern noch nicht bekannt sind, und weiß selbst die kleinsten Fehler seiner Gegner einwandfrei auszunutzen. Der wichtigste Gewinner eines in Europa ausbrechenden Krieges wird weder England, noch Frankreich, noch Deutschland sein. Es wird nur der Bolschewismus sein. Wir Türken als unmittelbare Nachbarn der Russen und als ein Volk, dass mit diesem Land am aller meisten Krieg geführt hat, verfolgen die dort auftretenden Ereignisse sehr genau und sehen die Gefahr in all seiner Klarheit. Die Bolschewisten, die die Denkweise der aufwachenden Völker des Ostens auf perfekte Weise ausbeuten, die deren nationale Empfindsamkeiten ansprechen und wissen, wie man ihren Hass heraufbeschwört, haben sich zur größten Kraft entwickelt, die nicht nur Europa, sondern auch Asien bedroht.“851

3. Folgen für die Verfassungsentstehung Während der Verhandlungen über die neue Verfassung knüpften die Verfassungsgeber von 1961 an diese Haltung an. Der Abgeordnete Alp Kuran berichtete im Plenum der Abgeordnetenversammlung, dass nach dem Befreiungskrieg 1923 die Türkei vor der Wahl gestanden habe, nach „Osten“ oder nach „Westen“ zu schreiten. Der „Westen“ sei damals der Feind, das kommunistische Russland als Teil des „Ostens“ hingegen sei der einzige Staat gewesen, der den ums Überleben kämpfenden Türken geholfen habe. Daher sei der eingeschlagene Weg damals umso bedeutender und beachtlicher: „Der große Atatürk hat nicht versucht in der Türkei das politische Regime des Staates zu verwirklichen, der die Hand der Freundschaft ausgestreckt hatte, sondern das politische Regime des Feindes, der unsere Nation vernichten wollte. Warum hat er diesen Weg eingeschlagen? Nachdem wir die imperialistischen Bestre850  Atatürk Araştırma Merkezi Başkanlığı (Präsidium des Zentrums für AtatürkForschung) (Hrsg.), Atatürk’ün Söylev ve Demeçleri (Atatürks Reden und Erklärungen), Band 3, S. 20. 851  Atatürk Araştırma Merkezi Başkanlığı (Präsidium des Zentrums für AtatürkForschung) (Hrsg.), Atatürk’ün Söylev ve Demeçleri (Atatürks Reden und Erklärungen), Band 3, S. 94–95.

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G. Motive und Ursachen für die Wahl der Rezeptionsgegenstände

bungen des heutigen Bolschewismus gesehen haben, ist die Antwort auf diese Frage sehr einfach. Wenn man die Ereignisse in Ungarn sieht, dann ist die Antwort auf diese Frage sehr einfach. […] . All dies und der wahre Kern des Regimes haben gezeigt, dass es im Osten keinen Demokratieanspruch gibt. Verehrte Freunde, man sieht, dass wir heute wieder auf dem Weg, auf dem Atatürk gegangen ist, fortschreiten und in der Türkei die Demokratie des Westens verwirklichen müssen.“852

So verwundert es nicht, dass bei der Verfassungsentstehung die Auseinandersetzung mit dem Kommunismus eine große Rolle spielte. Im Komitee der Nationalen Einheit wurde im Zusammenhang mit den Beschränkungen der Grundrechte immer wieder das Ausnutzen von Grundrechten durch religiöse Fundamentalisten und Kommunisten diskutiert und die Möglichkeiten erörtert, diesem Einhalt zu gebieten.853 Aus Sicht des Komitees stellte der Kommunismus neben dem reaktionären religiösen Fundamentalismus die Hauptgefahr für die Türkei dar. Das Komitee-Mitglied Suphi Karaman schlug sogar vor, in Art. 2 TürkVerf den Satz aufzunehmen, dass Rassismus, Turanismus und Kommunismus nicht mit dem Wesen der Republik vereinbar sind. Zwar wurde der Vorschlag nicht angenommen, aber dieses Beispiel zeigt wie weit die Ablehnung und die Abgrenzungsversuche gegenüber dem Kommunismus gingen. Hervorzuheben ist außerdem, dass die bereits angesprochene historische Feindschaft zwischen der Türkei und Russland überraschenderweise keinen nachweisbaren Beitrag zu dieser antikommunistischen Haltung des Verfassungsgebers von 1961 geleistet hat. Der primäre Gegenstand der Ablehnung und Abgrenzung war die politische Idee des Kommunismus und deren praktische Umsetzung, nicht eine andere Nation. Dies zeigt sich schon an den verwendeten Worten. Die Abgrenzung erfolgte stets gegenüber dem „Kommunismus“ und dem „Bolschewismus“. Diese wurden als Gefahr angesehen und fungierten als Feindbild, vor denen sich die Türkei schützen müsse. Begrifflich wurden in diesem Zusammenhang „Russland“ oder die „Russen“ nicht erwähnt. Außerdem wurde die traditionelle Gegnerschaft beider Länder in den Verfassungsdiskussionen, soweit vom Verfasser überprüfbar, gar nicht thematisiert. Die Ablehnung des Kommunismus begründete der Verfassungsgeber nicht mit der langen militärischen Gegnerschaft oder mit einer Abgrenzung oder gar Aversion gegenüber Russland. Vielmehr verwies man, wie es beim obigen Zitat von Alp Kuran auch zur Geltung kommt, darauf, dass der Kommunismus mit dem türkischen Anspruch der Verwirklichung einer De-

852  Protokolle 853  Protokolle

S. 19.

der Abgeordnetenversammlung, Band 2, S. 410. des Komitees für nationale Einheit, Band 6, 81. Zusammenkunft,



III. Der Antikommunismus in der Türkei255

mokratie nicht in Einklang zu bringen sei.854 Zudem sah der Verfassungsgeber, ähnlich wie bereits die Kemalisten in den 1920ern, im kommunistischen Internationalismus eine Gefahr für den türkischen Nationalstaat und diesen als nicht vereinbar mit dem türkischen Nationalismus.855 Die historischen Beziehungen waren in diesem Rahmen nur insofern von Bedeutung, dass in der Abgeordnetenversammlung auf die bolschewistische Unterstützung für die Türkei während des Befreiungskrieges verwiesen wurde und eben nicht auf die davorliegende traditionelle Gegnerschaft. Trotz dieser Partnerschaft könne man aus den erörterten Gründen den kommunistischen Weg nicht einschlagen. Der Verfassungsgeber empfand also wegen der freundschaftlichen Beziehungen in den 1920ern einen besonderen Rechtfertigungsdruck für seine dezidiert antikommunistische Haltung. Auch hier sei auf das zu Beginn dieses Abschnitts wiedergegebene Zitat von Alp Kuran verwiesen. Für die Verfassungskommission der Abgeordnetenversammlung spielte die Auseinandersetzung mit dem Kommunismus ebenfalls eine wichtige Rolle. Die Verfassungskommission versuchte im Rahmen der neuen Verfassung, den Sozialstaat und soziale Grundrechte in der Türkei erstmals zu etablieren. Ausschlaggebend hierfür war die Überzeugung, dass die Sozialstaatlichkeit einen Kern einer „modernen“ und „westlichen“ Verfassung in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts darstelle. Die Aufnahme und Umsetzung des Sozialstaates in der Türkei diene daher der Verwirklichung des Zieles, mit der neuen Verfassung auf die aktuellen Verfassungsentwicklungen im Ausland zu reagieren. Daneben ist die Sozialstaatlichkeit aber auch ein Ergebnis der Bemühungen, eventuellen kommunistischen Bewegungen das Wasser abzugraben und ihnen keine Angriffsfläche zu bieten. Die Abschnitte der Begründung der Verfassungskommission der Abgeordnetenversammlung zu ihrem Verfassungsentwurf, die die Einführung des Sozialstaatsprinzips als neues Wesensmerkmal der Republik in Art. 2 TürkVerf behandeln, bestätigen beide Gesichtspunkte: „Der ‚Sozialstaat‘ ist der Staat, der sich nicht damit begnügt, den Individuen nur die klassischen Freiheiten zu gewähren, sondern sich gleichzeitig dazu verpflichtet, ihre materiellen Bedürfnisse, die für ein menschenwürdiges Leben notwendig sind, zu decken. Entsprechend der Rechts- und Politikwissenschaft und den Staatsgrundlagen unserer Zeit [Hervorhebung durch den Verfasser], die anerkennen, dass eine Person, dem das Minimum an Existenzmitteln, ärztliche Fürsorge, Bildungsmög854  Neben dem Beitrag von Alp Kuran kommt auch an anderen Stellen zum Ausdruck, dass der Kommunismus als totalitäre Diktatur eingestuft wurde, als Gegenstück zur Demokratie; Beispiel: Begründung zum Entwurf der Verfassungskommission, S. 10. 855  Protokolle der Abgeordnetenversammlung, Band 2, S. 457, 526; Protokolle des Komitees für nationale Einheit, Band 6, 81. Zusammenkunft, S. 8, 10, 11.

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G. Motive und Ursachen für die Wahl der Rezeptionsgegenstände

lichkeiten und vor allem ein Dach über dem Kopf fehlt, nicht frei sein kann, muss eine moderne Verfassung den Individuen und Bürgern eine Anzahl von sozialen Rechten zugestehen. […] . Schließlich muss noch darauf hingewiesen werden, dass die Staaten, die gegenüber der sozialen Gerechtigkeit gleichgültig sind, es nicht verhindern können, dass das gesellschaftliche Leben von extremen Strömungen von links und rechts erfasst und in eine totalitäre Richtung getrieben werden. In den zivilisierten Ländern unserer Zeit zeigt sich fast vollkommen übereinstimmend die Tendenz in Richtung ‚Sozialstaatlichkeit‘856. Eine Demokratie, die nicht sozial ist, ist dazu verdammt, gegenüber den Wirklichkeiten des Gesellschaftslebens ihren Wesenskern zu verlieren und als Folge daraus zerstört zu werden. Aus diesem Grund ist eine ‚soziale Haltung‘ nicht nur ein Unterpfand für den Wohlstand und das Glück eines jeden ­Einzelnen, sondern gleichzeitig unter dem Gesichtspunkt der Zukunft des gesellschaftlichen Lebens die unfehlbarste Garantie für die Demokratie. Denn das wirkungsvollste Schutzschild gegenüber dem Kommunismus [Hervorhebung durch den Verfasser] ist die Verwirklichung der ihn entbehrlich machenden sozialen Gerech­ tigkeit.“857

Die verfassungsrechtliche Konkretisierung der Sozialstaatlichkeit findet sich in den Artikeln 35 bis 53 TürkVerf, welche als eigener Abschnitt unter der Überschrift „Soziale und wirtschaftliche Rechte und Pflichten“ zusammengefasst sind. Der Inhalt dieser Artikel und die Rezeptionsvorgänge bei deren Entstehung wurden bereits dargelegt.858 An dieser Stelle interessant sind jedoch die Bemühungen der Verfassungskommission, bei der Konkretisierung der „sozialen Haltung“ nicht den Verdacht von „kommunistischen Intentionen“ oder „kommunistischen Umtrieben“ aufkommen zu lassen. Insbesondere bei den Begründungen zu Art. 36 und zu Art. 37 TürkVerf wird dies besonders deutlich. Wie bereits erörtert, statuiert Art. 36 Absatz 1 TürkVerf die Eigentumsfreiheit und das Erbrecht. Gemäß Abs. 2 darf jedoch der Gebrauch des Eigen856  Das dieser Übersetzung zugrundeliegende türkische Wort ist „sosyallik“. Hirsch übersetzt „sosyallik“ fälschlicherweise mit „Sozialismus“ (vgl. Hirsch, Die Verfassung der Türkischen Republik, S. 85). „Sozialismus“ ist aber die Übersetzung von „sosyalizm“. Dass „sosyallik“ und „sosyalizm“ nicht dieselbe Bedeutung haben, zeigt sich bei den Verfassungsdiskussionen im Plenum der Abgeordnetenversammlung, bei denen Muammer Aksoy, der Sprecher der Verfassungskommission, klarstellt, dass der Entwurf weder vom Liberalismus (türk.: „liberalizm“) noch vom Sozialismus (türk.: „sosyalizm“) geprägt ist, aber eben sozial (türk.: „sosyal“) ist (siehe: Protokolle der Abgeordnetenversammlung, Band 2, S. 494). „Sosyallik“ ist das Substantiv zu „sosyal“. Im Deutschen gibt es kein entsprechendes Substantiv zum Adjektiv „sozial“. Im verfassungsrechtlichen Sinne ist mit einem sozialen Staat aber nichts anderes gemeint als ein Sozialstaat, sodass hier die Übersetzung „Sozialstaatlichkeit“ gewählt wurde. 857  Begründung zum Entwurf der Verfassungskommission, S. 9–10 (Übersetzung mit Änderungen aus Hirsch, Die Verfassung der Türkischen Republik, S. 84–85). 858  Siehe S.  163 ff.



III. Der Antikommunismus in der Türkei257

tums nicht gegen das Allgemeinwohl verstoßen. Art. 37 TürkVerf bestimmt, dass es Aufgabe des Staates ist, den Bauern Boden zu verschaffen und für eine ertragreiche Landwirtschaft zu sorgen, wozu sie Gesetze erlassen kann, die die Bodennutzung und den Bodenumfang bestimmen. Gemäß der Begründung der Verfassungskommission zum Verfassungsentwurf ist Art. 37 TürkVerf als Direktive, als Richtlinie aufzufassen (türk.: „direktif“) und begründet keine subjektiven Rechte gegenüber dem Staat.859 Zu Art. 36 Abs. 2 TürkVerf hält die Verfassungskommission in ihrer Begründung zusätzlich fest, dass „das Eigentumsverständnis in Ländern, die zu den Führern der westlichen Zivilisation zählen und sich sehr fern von jeglichen Tendenzen der Kollektivwirtschaft befinden [Hervorhebung durch den Verfasser], […] auf die Art und Weise ausgeprägt ist, dass das Eigentum ein Recht ist, das gleichzeitig einen sozialen Charakter besitzt“860. Art. 37 TürkVerf wird unter anderem auf folgende Weise begründet: „Die Regelungen im ersten und zweiten Abschnitt komplettieren sich gegenseitig und diese Begrenzungen [gemeint sind damit die der Freiheit bezüglich des Grundeigentums] haben keinen totalitären Charakter und sind nicht zulässig, wenn mit ihnen das Ziel verfolgt wird, Staatsbauernhöfe zu erschaffen und eine Kollektivwirtschaft zu errichten [Hervorhebung durch den Verfasser]; sie sind nur zulässig, wenn sie bezwecken, den Bauern zum Bodeneigen­ tümer zu machen (die soziale Gerechtigkeit herzustellen)“.861 Sowohl Art. 36 Abs. 2 TürkVerf als auch Art. 37 TürkVerf sind Ausprägungen des Sozialstaatsgedankens und sollen der wirtschaftlichen Entwicklung und sozialen Gerechtigkeit dienen. In der Begründung zu diesen Normen fallen die ausdrückliche Abgrenzung zum Kommunismus und der damit verbundene besondere Rechtfertigungsaufwand auf, um die Aufnahme von sozialen Gesichtspunkten in die Verfassung nicht dem Vorwurf des Kommunismus auszusetzen. Trotz dieser und weiterer Klarstellungen und Abgrenzungen in der Begründung der Verfassungskommission zum Verfassungsentwurf fanden insbesondere zu diesen Artikeln, aber auch darüber hinaus hitzige Debatten im Plenum der Abgeordnetenversammlung statt, in denen politisch wirtschafts­ liberal eingestellte Abgeordnete teilweise unterschwellig, teilweise direkt der Verfassungskommission vorwarfen, dem Kommunismus nachzueifern, was diese wiederum vehement ablehnte.862

859  Begründung

zum Entwurf der Verfassungskommission, S. 22. zum Entwurf der Verfassungskommission, S. 22. 861  Begründung zum Entwurf der Verfassungskommission, S. 22. 862  Protokolle der Abgeordnetenversammlung, Band 2, S. 400, 489–495, 505–506. 860  Begründung

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G. Motive und Ursachen für die Wahl der Rezeptionsgegenstände

Im Ergebnis konnte sich die Verfassungskommission mit ihrem Entwurf prinzipiell durchsetzen, auch wenn sie in einigen Punkten Zugeständnisse an den wirtschaftsliberalen Teil der Abgeordneten machen musste, wie beispielsweise beim bereits mehrfach angesprochenen Art. 36 TürkVerf, in der die Begrenzungsmöglichkeit des Eigentums durch Gesetz den Zusatz erhielt, dass dies nur zu Zwecken des Allgemeinwohls erfolgen darf. Es lässt sich daher sagen, dass die Auseinandersetzung mit dem Kommunismus während der Verfassungsdiskussionen gegenwärtig und mitbestimmend war. Man grenzte sich vom Kommunismus ab und versuchte sich durch den Aufbau eines Sozialstaates vor der Entstehung von kommunistischen Bewegungen und damit verbunden vor sowjetischem Einfluss zu schützen. Zudem war der Vorwurf des Kommunismus ein Mittel der politischen Auseinandersetzung während der Verhandlungen über die neue Verfassung in der Abgeordnetenversammlung. Die Bedeutung des Kalten Krieges für die Entstehung der Verfassung von 1961 ging aber noch weiter. Denn der Kreis der möglichen Vorbilder wurde durch die außenpolitische Situation und den durch sie mitbedingten Antikommunismus eingegrenzt. Nur die Verfassungen der Mitglieder des „westlichen“ Staatenbündnisses der NATO konnten zur Rezeption herangezogen werden. Wenn man von der jeweils einmaligen Nennung von Japan und ­Indien absieht863, werden in der Begründung zum Entwurf der Verfassungskommission der Abgeordnetenversammlung vom 09. März 1961 nur Staaten erwähnt, die 1961 Mitglied der NATO waren. In unterschiedlicher Häufigkeit tauchen namentlich die Verfassungen Italiens, Deutschlands, Frankreichs, Großbritanniens und Griechenlands auf. Während noch für die türkische Verfassung von 1924 neben der französischen Verfassung von 1875 auch die polnische Verfassung von 1921 als 863  Die Tatsache, dass Japan und Indien jeweils einmal Erwähnung finden, ändert an dem erörterten Grundsatz nichts. Japan war sehr eng mit den USA und damit der NATO verbündet und ebenfalls dezidiert marktwirtschaftlich sowie antikommunistisch ausgerichtet. Indien war zwar eines der bedeutendsten Länder der blockfreien Staaten und grundsätzlich nicht Teil des „westlichen“ Blocks, aber eben auch nicht kommunistisch. Zudem spielte die indische Verfassung in den Verhandlungen der Abgeordnetenversammlung und in den sonstigen Quellen keine Rolle mehr, sodass davon auszugehen ist, dass sie keine nennenswerte Bedeutung für die türkische Verfassung hatte. Sie wird einmalig im Zusammenhang mit Artikel 38 Absatz 2 genannt, in dem es um die Verstaatlichung zwecks Erfüllung des Entwicklungsplans geht. Es wird festgehalten, dass man zu dieser Regelung von der indischen Verfassung inspiriert wurde. Indien habe die gleichen Bedürfnisse und verfolge seine Entwicklung auch auf demokratischem (d. h. nicht kommunistischem) Wege (siehe: Begründung zum Entwurf der Verfassungskommission, S. 22). Die Rolle der indischen Verfassung beschränkt sich auf diese eine Norm.



III. Der Antikommunismus in der Türkei259

Vorbild fungierte864, tauchen 1961 in den Protokollen der konstituierenden Versammlung und in den sonstigen Quellen zur Verfassung keine ost- beziehungsweise mittelosteuropäischen Verfassungen als rezipierte oder zumindest dahingehend untersuchte Texte auf. Wenn entsprechende Verfassungen eine Erwähnung fanden, dann nur als negative, abschreckende Beispiele. Im Rahmen der Diskussion in der Abgeordnetenversammlung um die Frage, ob das Erbrecht explizit in die Verfassung aufgenommen werden soll, erklärte der Kommissionssprecher Muammer Aksoy, dass das Erbrecht Teil des Eigentumsrechts sei und daher nicht ausdrücklich festgehalten werden müsse und ergänzte, dass insbesondere kommunistische Staaten wie Ungarn und Weißrussland diese explizit und separat von der Eigentumsfreiheit erwähnen würden, ohne sich freilich daran zu halten.865 Er versuchte damit, den Vorschlag, gegen den er opponierte, mithilfe des Verweises auf die kommunistischen Staaten zu kompromittieren. Zwar wurde im Ergebnis das Erbrecht in der Verfassung doch ausdrücklich genannt, aber dies geschah unter besonderem Hinweis darauf, dass dies auch in den Verfassungen der Bundesrepublik Deutschland und Italiens so formuliert sei.866 Die Zugehörigkeit eines Landes zum Ostblock oder zu den blockfreien Staaten hatte also zur Folge, dass dieses Land vom türkischen Verfassungsgeber bei der Suche nach Verfassungsvorbildern aussortiert wurde und dessen Verfassung als Rezeptionsgegenstand ausschied. Das Auftreten einer Norm oder Regelung in der Verfassung eines kommunistischen Staates führte sogar dazu, dass dieser Umstand als Indiz oder Argument gegen diese Norm oder Regelung angesehen wurde und man sich gegen sie entschied, es sei denn, die Norm oder Regelung fand sich auch in der Verfassung eines NATOPartners. Im Rahmen der Erarbeitung der neuen türkischen Verfassung konnten das deutsche Grundgesetz von 1949 und die italienische Verfassung von 1947/1948 nur deshalb als Hauptgegenstände der Rezeption herangezogen werden, weil diese beiden Staaten Teil des „westlichen“ Staatenbündnisses der NATO waren. Dies war eine Grundvoraussetzung für ihre Vorbildfunktion. Die Rolle des Antikommunismus für die Rezeption „westlicher“ Verfassungsrechte beschränkte sich jedoch nicht nur auf den soeben geschilderten Umstand, dass der Kreis der rezipierbaren Verfassungen grundsätzlich auf 864  Aldıkaçtı, Anayasa hukukumuzun gelişmesi ve 1961 anayasası (Die Entwicklung unseres Verfassungsrechts und die Verfassung von 1961), S. 87; Erdoğan, Türkiye’de Anayasalar ve Siyaset (Verfassungen und Politik in der Türkei), S. 55; Rumpf, Die „Europäisierung“ der türkischen Verfassung, S. 64. 865  Protokolle der Abgeordnetenversammlung, Band 2, S. 520. 866  Protokolle der Abgeordnetenversammlung, Band 2, S. 520.

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G. Motive und Ursachen für die Wahl der Rezeptionsgegenstände

die Staaten des „westlichen“ NATO-Bündnisses begrenzt gewesen ist. Darüberhinausgehend ist im Antikommunismus ein weiterer Grund für die besondere Vorbildrolle der italienischen Verfassung von 1947/1948 und des deutschen Grundgesetzes von 1949 zu sehen. Wie bereits erörtert, hatten diese Verfassungen Normen gesetzt und Einrichtungen geschaffen, die sich aus ihren historischen Erfahrungen mit faschistischen Diktatoren speisten und die Demokratie schützen sollten. Dies war, wie bereits nachgewiesen, eines der wichtigsten Motive für ihre Vorbildfunktion für die türkische Verfassung von 1961. Die entsprechenden Merkmale dieser Verfassungen wie die Einrichtung eines Verfassungsgerichts, die Möglichkeit der Parteiverbote und der Grundrechtsverwirkung, die sich auch in der türkischen Verfassung von 1961 wiederfinden, sind aber nicht nur Sicherungen gegen den Faschismus, sondern gegen jede autoritäre bis totalitäre Bewegung, also auch gegen den Kommunismus.867 Dies zeigte sich in der Bundesrepublik Deutschland beispielsweise 1956, als das Bundesverfassungsgericht die KPD verbot. Es ist bezeichnend, dass bei der Aussprache in der Abgeordnetenversammlung bezüglich Artikel 57 TürkVerf (Gründung von Parteien und Parteiverbote) darauf verwiesen wird, dass dank dieses Artikels kommunistische Parteien in der Türkei verboten werden können.868 In der Begründung der Verfassungskommission sieht man, dass gerade das deutsche Grundgesetz von 1949 für diesen Artikel Pate stand.869 Die antitotalitäre Ausrichtung der italienischen und deutschen Verfassungen, die nicht nur antifaschistisch, sondern auch antikommunistisch ausgelegt werden kann, ist daher eine weitere Erklärung für ihre besondere Vorbildfunktion für den türkischen Verfassungsgeber.

IV. Fazit Die Untersuchungen des Quellenmaterials zeigen, dass die bedeutende Rolle der italienischen Verfassung von 1947/1948 und des deutschen Grundgesetzes von 1949 bei der Erarbeitung der türkischen Verfassung von 1961 nicht ein Zufallsprodukt der Arbeitsweise der zielgerichteten und selektiven Rezeption „westlicher“ Verfassungsrechte ist. Zwar erarbeiteten die türki867  Zwar wirkten in Italien, anders als in Westdeutschland, auch die Kommunisten an der Ausarbeitung der italienischen Verfassung von 1947/1948 mit. Jedoch änderte dies nichts daran, dass die, aus den Erfahrungen mit dem Faschismus Benito Mussolinis gespeisten Vorkehrungen gegen die Errichtung eines autoritären oder totalitären Regimes auch gegen Bestrebungen zur Etablierung einer dem Sowjetkommunismus vergleichbaren totalitären Staatsordnung Anwendung finden konnten. Die Mitwirkung der Kommunisten an der Verfassung Italiens widerspricht daher nicht der an dieser Stelle dargelegten Einordnung. 868  Protokolle der Abgeordnetenversammlung, Band 2, S. 457. 869  Begründung zum Entwurf der Verfassungskommission, S. 27.



IV. Fazit261

schen Verfassungsautoren die neue Verfassung dadurch, dass sie die Bestimmungen, Prinzipien und Institutionen aus einem bestimmten, dennoch sehr weiten Kreis von „westlichen“ Verfassungen miteinander verglichen und diejenige in ihr Verfassungswerk übernahmen und gegebenenfalls anpassten, die sie für ihre konkreten Regelungsprobleme am passendsten und geeignetsten hielten. Dennoch ist die hervorstechende Vorbildfunktion der italienischen und der deutschen Verfassung nicht einfach die Folge einer unbewussten und zufälligen Häufung von Übernahmen im Rahmen dieser Methode der Verfassungserarbeitung. Vielmehr lagen ihr eigene und selbstständige Ursachen zugrunde. Diese lenkten den Blick der türkischen Verfassungsgeber bei den Verfassungsarbeiten immer zuerst und besonders intensiv auf die italienische Verfassung von 1947/1948 und auf das deutsche Grundgesetz von 1949. Zu diesen Ursachen gehörte die Einordnung der italienischen und der deutschen Verfassung als neu und aktuell, mithin als modern. Dies war für die türkischen Verfassungsautoren ein wichtiges Kriterium, da einer der Antriebe für den Erlass einer neuen Verfassung die Überzeugung war, auf die weltweite Verfassungswelle nach dem Zweiten Weltkrieg und der damit einhergehenden neuen Verfassungsentwicklungen reagieren und eine Antwort geben zu müssen. Zudem entsprach dies der kemalistischen Prägung der Verfassungsgeber. Denn das kemalistische Prinzip des Revolutionismus, das ein Fortschrittsdenken und eine fortdauernde Modernisierung postuliert, führte zu einem stetigen Verlangen und einem Drang nach dem jeweils Neuen und Aktuellen. Entscheidend war zudem das Ziel der türkischen Verfassungsgeber durch die neue Verfassung ein Wiederaufleben einer autoritären, quasidiktatorischen Herrschaft zu unterbinden, indem sie verfassungsrechtliche Bestimmungen, Prinzipien und Institutionen einführen, die einer zu großen Machtkonzentration und einer autoritären Herrschaftsausübung einen Riegel vorschieben. Dadurch rückten die Verfassungen derjenigen Länder besonders in den Fokus, die Erfahrungen mit diktatorischen Regimen gemacht hatten und deren Verfassungsordnungen daher von der Distanzierung und von der Abwehr von diktatorischer Herrschaft bestimmt waren. Diese Länder waren in erster Linie die Bundesrepublik Deutschland und Italien. Daneben bekräftigte der Antikommunismus in der Türkei die Funktion der italienischen und der deutschen Verfassung als Hauptgegenstände der Rezeption, da er den Kreis der rezipierbaren Vorbilder auf die „westlichen“ NATOStaaten einengte und der Etablierung von Schutzmechanismen gegen die Errichtung eines totalitären Systems in den Augen der an den Verfassungs­ arbeiten beteiligten Personen eine zusätzliche Bedeutung und Brisanz verlieh.

H. Grenzen der Rezeption Jeder Rezeption von fremdem Recht sind Grenzen gesetzt, die sich durch die Besonderheiten und Eigenheiten des rezipierenden Landes und seiner Gesellschaft ergeben. Dies führt einerseits dazu, dass bei der Übernahme und Aneignung von fremdem Recht regelmäßig eine Absonderung des Teils, der als nicht rezipierbar gilt, vom rezipierbaren Teil des Rechts stattfindet. Andererseits wird zudem das Übernommene an die Gegebenheiten und Strukturen des aufnehmenden Landes angepasst. Auch Hirsch bestätigt, dass „nicht ein fremdes Recht als Ganzes rezipiert werden kann, weil dieses mit einem bestimmten Gesellschaftsintegrat unlösbar verbunden ist“870. Dies gilt auf der Ebene des Verfassungsrechts in besonderem Maße. Denn die Verfassung ist das Ergebnis der politischen Beziehungen und Machtprozesse des jeweiligen Staates, die wiederum selbst durch die Verfassung geprägt und gelenkt werden. Die Verfassung ist der Ausdruck und die Statuierung der Regeln und Verfahren bezüglich der Ausübung der politischen Macht.871 Diese politischen Beziehungen und Machtprozesse sind aber durch die spezifischen historischen, wirtschaftlichen und sozialen Bezüge und Gegebenheiten des jeweiligen Landes bedingt, sodass es nahezu ausgeschlossen ist, dass sie in zwei verschiedenen Ländern vollkommen identisch sind. Zudem symbolisiert die Verfassung zumindest seit der Herausbildung der Nationalstaaten die eigene nationale Identität. Sie muss getragen werden von einer Identität der Bürger und dient zugleich der Konstruktion dieser Identität. Die Verfassung ist deshalb auch ein Ausdruck der spezifischen Geschichte und Kultur des Landes. Die Türkei bildet in diesem Zusammenhang keine Ausnahme. Der Rezeption „westlicher“ Verfassungsrechte waren aufgrund der türkischen Geschichte und der politischen und gesellschaftlichen Strukturen der Türkei Grenzen gesetzt. Als Schranken fungierten dabei insbesondere der türkische Nationalismus, die Besonderheiten des Islam und hauptsächlich hieraus resultierend des Verhältnisses von Staat und Religion sowie die Rolle des türkischen Militärs.

870  Hirsch,

Rezeption als sozialer Prozess, S. 15. Verfassungslehre, S. 127, 129.

871  Loewenstein,



I. Der türkische Nationalismus263

I. Der türkische Nationalismus Der türkische Nationalismus, wie er von den Verfassungsgebern 1961 verstanden wurde, bildete während der Erarbeitung der Verfassung einen Rahmen, der nicht überschritten werden konnte. Er setzte der Übernahme „westlicher“ Normen und Prinzipien Grenzen. Dies galt vor allem im Zusammenhang mit der Frage nach der strukturellen Staatsordnung der Türkei. Das türkische Nationalismus-Verständnis ist als ein Prinzip des Kemalismus Teil der staatsbegründenden und staatstragenden Ideologie. Bereits in die Präambel schrieben die Verfassungsgeber, dass die türkische Nation „begeistert und beseelt vom türkischen Nationalismus [ist], der alle Einzelnen, die im Schicksal, im Glanz und im Elend geeint sind, zu einem unteilbaren Ganzen um das nationale Bewusstsein und um die nationalen Ideale schart und das Ziel verfolgt, unsere Nation als gleichberechtigtes Mitglied der Völkerfamilie der Welt im Geiste der nationalen Einheit zu erhöhen“. In Art. 2 TürkVerf ist unter anderem vom „nationalen Staat“ die Rede, wodurch der Nationalismus als eines der Wesensmerkmale der Republik statuiert wird. In der Folge erklärt Art. 3 Absatz 1 TürkVerf: „Der Staat der Türkei bildet mit seinem Territorium und seinem Volk ein unteilbares Ganzes“. Aus den Verhandlungsprotokollen der Abgeordnetenversammlung geht hervor, dass Art. 3 TürkVerf als Konkretisierung und Umsetzung des türkischen Nationalismus aus Art. 2 TürkVerf verstanden wurde.872 Diese Verfassungsbestimmung war einerseits aus den historischen Erfahrungen während des Befreiungskrieges entstanden, als weite Teile der Türkei von den Siegerstaaten des Ersten Weltkrieges besetzt waren und annektiert werden sollten. Andererseits ist sie auch ein Ausdruck der Ablehnung von Separatismus jeglicher Couleur. Sie ist somit sowohl nach innen als auch nach außen gerichtet. Mit der Präambel und Art. 3 TürkVerf ist darüberhinausgehend aber auch eine Grundentscheidung bezüglich der politischen Strukturprinzipien des Staates verbunden. Denn aus der unteilbaren Ganzheit des Territoriums und des Volkes folgt nach türkischem Verständnis eine strikt zentralistische Organisation des Staates. Zentralismus meint dabei eine Staatsordnung, in der „alle Kompetenzen der Souveränität von einem einzigen Zentrum des Territoriums her organisiert [sind], das sie unmittelbar, durch direkte Verwaltung, oder indirekt, durch periphere Verwaltung, ausübt“873. Jegliche nichtzentralistischen Strukturprinzipien wie Autonomie, Regionalismus oder gar Föderalismus im Sinne der Verteilung der „Souveränitätskompetenzen auf unter-

872  Protokolle 873  Schiera,

der Abgeordnetenversammlung, Band 2, S. 704. Zentralismus und Föderalismus, S. 32.

264

H. Grenzen der Rezeption

schiedliche territoriale Gebiete [innerhalb eines Staates] […], unbeschadet […] der politischen Einheit“874 sind ausgeschlossen. Dieser Zusammenhang und diese Schlussfolgerung werden in den Quellen nicht direkt zum Ausdruck gebracht. Während der Verhandlungen in der Abgeordnetenversammlung gab es im Zusammenhang mit Art. 3 TürkVerf nur Diskussionen darüber, ob Art. 3 mit Art. 2 TürkVerf zusammengelegt werden soll und ob die türkische Flagge an dieser Stelle Erwähnung finden soll.875 Im Komitee für Nationale Einheit wurde der Art. 3 sogar ganz ohne Diskussion und Aussprache einstimmig bestätigt.876 In der Begründung zum Verfassungsentwurf der Kommission wurde lediglich festgehalten, dass „die Unteilbarkeit und Einheit des türkischen Volkes und Gebietes eine historische Tatsache und rechtliche Grundlage ist, die keiner Erklärung bedarf“877. Immerhin lässt sich aus der Formulierung, dass die Unteilbarkeit und die Einheit eine „rechtliche Grundlage“ darstellen, erkennen, dass der Nationalismus nicht nur politische Überzeugung und Richtlinie ist, sondern ihm auch eine konkrete verfassungsrechtliche Bedeutung zukommt. Dieser Mangel an Erörterung und Klarstellung des Zentralismus und ihres Zusammenhangs mit dem Nationalismus lässt sich durch dessen Selbstverständlichkeit für den türkischen Verfassungsgeber erklären. Der Nationalismus und der mit diesem verbundene und aus diesem gefolgerte zentralistische Staatsaufbau wurden von keiner Person und keiner Kraft, die an der Verfassungsentwicklung beteiligt gewesen ist, in Frage gestellt. Denn diese waren für die Personen und Organisationen, die an der Verfassungsarbeit mitwirkten, völlig selbstredend und selbstverständlich, sodass eine Diskussion darüber als obsolet erschien. Daher ist es auch nur folgerichtig, dass in der Verfassung von 1961 nicht die geringste Spur von Autonomie, Regionalismus oder Föderalismus zu finden ist. Die gesamte Macht befindet sich auf der Ebene des Nationalstaats und konzentriert sich in der Hauptstadt Ankara. Die einzige Körperschaft mit Gesetzgebungsbefugnis ist die Große Nationalversammlung der Türkei. Diese besteht zwar gemäß Art. 63 Abs. 1 TürkVerf aus der Nationalversammlung und dem Senat, wodurch sie den Charakter eines Zwei-Kammer-Parlaments hat. Wie bereits erörtert stellt der Senat jedoch kein Element der Dezentralisierung oder gar des Föderalismus dar. Vielmehr fällt ihr die Aufgabe zu, die Machtkonzentration durch Vermeidung von Einparteienregierungen 874  Schiera,

Zentralismus und Föderalismus, S. 32. der Abgeordnetenversammlung, Band 2, S. 704, 705. 876  Protokolle des Komitees für nationale Einheit, Band 6, 81. Zusammenkunft, S. 13. 877  Begründung zum Entwurf der Verfassungskommission, S. 10. 875  Protokolle



I. Der türkische Nationalismus265

zu verhindern.878 Auf dem Gebiet der Verwaltung gibt es gemäß Art. 115 und 116 TürkVerf eine Zentralverwaltung und eine örtliche Verwaltung, die für die unmittelbare und mittelbare, also periphere Verwaltungsausübung im Rahmen des Zentralismus stehen. Zwar gehören zur örtlichen Verwaltung auch Beschlussorgane, die direkt vom Volk gewählt werden (Art. 116 Abs. 1 TürkVerf). Deren Aufgaben und Befugnisse werden aber durch Gesetz geregelt, sodass sie weiterhin dem Parlament in Ankara unterstellt sind und keine verfassungsmäßige Absicherung ihrer Kompetenzen vorliegt (Art. 116 Abs. 3 TürkVerf). Im Ergebnis blieben somit die Gliederung und Verwaltung der örtlichen Einheiten seit fast einem Jahrhundert unverändert.879 Daneben wird der Zentralismus im Bereich der Exekutive auch durch Art. 112 Abs. 2 TürkVerf sichergestellt, wonach die Verwaltung hinsichtlich ihres Aufbaus und ihrer Aufgaben eine Einheit bildet. Somit lässt sich festhalten, dass Übernahmen und Aneignungen „westlicher“ Verfassungsrechte in Hinblick auf Regelungen von Autonomie oder gar Föderalismus nicht stattgefunden haben. Mögliche Vorbilder diesbezüglich wurden gar nicht gesucht, da man an der eigenen zentralistischen Staatsstruktur festgehalten hat. Autonomie, Regionalismus und Föderalismus wurden nicht diskutiert, sie wurden nicht einmal in Betracht gezogen. Im Gegenteil wurde ein Zusammenhang oder eine Wechselwirkung einer Norm, eines Prinzips oder einer Kompetenz mit dem Föderalismus als Zeichen dafür angesehen, dass eine Rezeption nicht in Frage kommt. Ein Beispiel hierfür stellen die Verhandlungen über die Gestaltung und Befugnisse des Verfassungsgerichts dar. Von einigen Abgeordneten wurde dabei zur Diskussion gestellt, ob in der Verfassung ausdrücklich die Befugnis des Verfassungs­ gerichts zur Gesetzesauslegung erwähnt werden sollte. Dies wurde von der Verfassungskommission mit dem Hinweis verneint, dass dies nur im deutschen Grundgesetz von 1949 zum Schutze der Bundesländer so sei (gemeint ist hier das Organstreitverfahren aus Art. 93 Abs. 1 Nr. 1 GG), mithin für die Türkei unnötig sei. Der entsprechende Vorschlag wurde daraufhin zurückgezogen. Des Weiteren wurde von einigen Abgeordneten die Befugnis des Verfassungsgerichts kritisiert, Gesetze wegen Verfassungswidrigkeit für nichtig erklären zu können, ohne dass das Parlament eingreifen kann. Dabei behaupteten einige Abgeordnete, eine solche Befugnis liege nur in föderalistischen Staaten vor, was als Argument gegen diese Regelung verstanden werden sollte. Diesem Einwand traten die Sprecher der Verfassungskommission entgegen und erwiderten, dass kein Zusammenhang zum Föderalismus bestehe, da die entsprechende Kompetenz die klassische Befugnis eines Verfassungsgerichts sei, die auch die Gerichte in zentralistischen Staaten wie Italien 878  Siehe 879  So

S.  83 ff. auch Hirsch, Verfassung der Türkischen Republik, S. 157.

266

H. Grenzen der Rezeption

hätten, wodurch sie eine Mehrheit der Abgeordneten auf ihre Seite ziehen konnten.880 Durch diese Beispiele wird ersichtlich, dass die Ablehnung jeglicher nichtzentralistischen Strukturen so klar und umfassend war, dass der Bezug zum Föderalismus als Argument und Indiz gegen die Übernahme bestimmter Normen und Regelungen gebraucht und angesehen wurde, ganz ähnlich wie das Auftreten einer Norm oder Regelung in kommunistischen Verfassungen. Diese Haltung des türkischen Verfassungsgebers ist zumindest in ihrer Bestimmtheit und Starrheit überraschend. Denn eine der wichtigsten Gründe für die Erarbeitung einer neuen Verfassung war das Bedürfnis nach politischer und rechtlicher Kontrolle und Begrenzung der politischen Macht.881 Dieses Bedürfnis schlug sich auch in der Auswahl der Rezeptionsgegenstände nieder. Der Verfassungsgeber nahmen sich hauptsächlich die Verfassungen Italiens und der Bundesrepublik Deutschland zu Vorbildern, da diese Länder leidvolle Erfahrungen mit autoritären oder totalitären Regimen machen mussten und daher entsprechende Vorkehrungen und Schutzmechanismen auf verfassungsrechtlicher Ebene installierten.882 Nun sind jedoch autonome beziehungsweise regionale Strukturen innerhalb eines Staates und vor allem der Föderalismus auch Mittel zur Verteilung, Begrenzung und somit Kontrolle von Macht.883 Loewenstein beschreibt den Föderalismus zutreffend als „die Gegenüberstellung zweier territorial von­ einander verschiedener Reihen von Staatssouveränitäten, die sich gegenseitig die Waage halten. Die Existenz föderativer Schranken begrenzt die Macht des Oberstaats gegenüber den Gliedstaaten und umgekehrt“884. Daher war beispielsweise in der Bundesrepublik Deutschland die Struktur der Bundesstaatlichkeit auch eine Reaktion auf den Nationalsozialismus. Sowohl die Alliierten als auch die Repräsentanten der deutschen Politik sahen im Abbau des Zentralismus ein Schutzmittel gegen Diktaturen. Der föderative Staatsaufbau sollte gerade dazu dienen, die Konzentration von Macht zu verhindern. Die politische Dezentralisierung im Sinne eines ausgeprägten Föderalismus war Teil der sogenannten „strukturellen Entnazifizierung“.885 Wenn also die Begrenzung und Kontrolle der politischen Macht ein Motiv des türkischen Verfassungsgebers gewesen ist, dann hätte man erwarten kön880  Protokolle

der Abgeordnetenversammlung, Band 4, S. 211. der Abgeordnetenversammlung, Band 4, S. 215–217. 882  Siehe S.  246 ff. 883  Loewenstein, Verfassungslehre, S. 296, 327. 884  Loewenstein, Verfassungslehre, S. 295. 885  Möckl, Föderalismus und Regionalismus im Europa des 19. und 20. Jahrhunderts, S. 541; Kleßmann, Zentralismus und Föderalismus in der Bundesrepublik und in der DDR, S. 263, 266; Unruh, Der Verfassungsbegriff des Grundgesetzes, S. 558. 881  Protokolle



I. Der türkische Nationalismus267

nen, dass föderative Ansätze zumindest diskutiert oder in Erwägung gezogen werden. Natürlich gibt es auch gewichtige Gründe, die für einen zentralistisch organisierten Staat sprechen. Dazu gehört, dass für eine erfolgreiche Umsetzung des Föderalismus in der Regel eine entsprechende historische Grundlage vorhanden sein muss, die zu einem Regionalbewusstsein führt, die die Gliedstaaten trägt.886 Auch in der Bundesrepublik Deutschland war nach dem Zweiten Weltkrieg die nahezu unbestrittene Einführung der Bundesstaatlichkeit nur aufgrund der festen Verankerung der föderalen Idee in der deutschen Staatstradition möglich.887 In der Türkei hingegen, deren Zentralismus aus der Endphase des Osmanischen Reiches sowie der Gründungsphase der Republik stammt und so mit dem Gründungsmythos verschmolz und zur staatsrechtlichen Tradition wurde, war ein entsprechendes Bewusstsein und eine entsprechender historischer Ansatz nur sehr begrenzt vorhanden.888 Außerdem verspricht der Zentralismus eine effektivere und leistungsfähigere Verwaltung und Umsetzung politischer Entscheidungen, sodass „das zentralistische Lösungsmodell am besten geeignet zu sein scheint, weit voneinander entfernte und differenzierte Teile eines Menschen- und Territorialverbandes, der nach Einheit strebt, zusammenzuschließen und vom Zentrum aus die Schwachstellen […] auszugleichen“889. Zudem ist der Föderalismus für die Begrenzung und Kontrolle der politischen Macht nicht zwingend notwendig, erst recht nicht hinreichend. Schließlich konnte auch die föderative Tradition Deutschlands vor 1933 den Nationalsozialismus nicht verhindern, wohingegen das zentralistische Frankreich nie einen mit dem italienischen Faschismus oder dem deutschen Nationalsozialismus vergleichbaren Totalitarismus hervorbrachte, auch wenn es mitunter in seiner Geschichte autoritär regiert wurde. Aber gerade diese Argumente und Abwägungen hätten während der Verfassungsdiskussionen stattfinden müssen. Vor allem wenn man bedenkt, dass andere Mittel und Wege der Kontrolle und Begrenzung von politischer Macht, wie die Einrichtung des Zwei-Kammer-Parlaments oder die Gründung des Verfassungsgerichts, erschöpfend diskutiert und aus dem „Westen“ 886  Möckl, Föderalismus und Regionalismus im Europa des 19. und 20. Jahrhunderts, S. 544, 546; Schiera, Zentralismus und Föderalismus, S. 32. 887  Unruh, Der Verfassungsbegriff des Grundgesetzes, S. 558. 888  Eine Ausnahme bilden in diesem Punkt die Kurden, die schon in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts ein eigenes politisches Bewusstsein entwickelten. Jedoch ergab sich diesbezüglich die Problematik, dass trotz des Umstandes, dass die Kurden ein traditionelles Siedlungsgebiet haben, die Bevölkerungsstrukturen aufgrund des Charakters des Osmanischen Reiches als Vielvölkerstaat und der Binnenwanderung innerhalb der Republik Türkei so durchmischt wurden, dass kein geschlossenes kurdisches Bevölkerungsgebiet vorhanden ist. 889  Schiera, Zentralismus und Föderalismus, S. 32.

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H. Grenzen der Rezeption

rezipierend in die türkische Verfassung übertragen wurden, fällt die Lücke an dieser Stelle besonders auf. Dies zeigt, dass die Beibehaltung des zentralistischen Staatsaufbaus und die klare Ablehnung jeglicher föderativen Ansätze nicht auf Bedürfnisse und Zweckmäßigkeitserwägungen zurückzuführen waren. Vielmehr sind sie ideologisch begründet und bedingt. Der Nationalismus, der sich vor allem in der Einheit und Unteilbarkeit des Landes und des Volkes ausdrückt, führte dazu, dass alle Überlegungen hinsichtlich der Rezeption von Autonomieregelungen, Regionalismus- oder Föderalismuskonzeptionen von vornherein ausschieden, trotz der Möglichkeit, durch diese zur Kontrolle und Begrenzung der politischen Macht beizutragen. Erschwerend kam hinzu, dass der Siegeszug der türkischen Nationalbewegung in den 1920ern zusammenfiel mit der akuten Gefahr des Verlustes der Souveränität und der Aufteilung des Landes. Daher wohnt dem türkischen Nationalismus ein Element der Furcht vor der Aufteilung und vor dem Verlust der Einheit inne, sodass ein Aufweichen der zentralistischen Staatsstruktur stets als Gefahr für die Nation und deren Unteilbarkeit aufgefasst wurde. Der Nationalismus begrenzte aber nicht nur die Rezeption „westlicher“ Verfassungsrechte, sondern lenkte diese auch. Denn dadurch, dass er den zentralistischen Staat bedingte, führte er nicht nur dazu, dass als Staatsorganisationsprinzip der Zentralismus der vorherigen türkischen Verfassung von 1924 ohne tiefgehende Überprüfung oder Diskussion beibehalten wurde, sondern er bestimmte darüberhinausgehend die Rezeptionsgegenstände mit. Wie oben dargelegt, fungierten insbesondere das deutsche Grundgesetz von 1949 und die italienische Verfassung von 1947/1948 als Gegenstände der Rezeption für die Verfassung von 1961. Dabei wurde ersichtlich, dass im Bereich der Staatsorganisation die italienische Verfassung als Rezeptionsgegenstand besonders in den Vordergrund trat, wohingegen beim Grundrechtekatalog die Bedeutung des deutschen Grundgesetzes als rezipierte Verfassung größer gewesen ist als die der Verfassung Italiens.890 Die Gründe hierfür liegen zum einen bei den konkreten Normen und Prinzipien, die vom türkischen Verfassungsgeber jeweils für gut oder schlecht, zur Rezeption geeignet oder nicht geeignet befunden wurden.891 Zum anderen ist die Ursache aber gerade auch in der Staatsstruktur der Länder der beiden rezipierten Verfassungen zu suchen. Die Bundesrepublik Deutschland hat eine dezidiert föderalistische Struktur. Die Bundesstaatlichkeit ist ein Wesensmerkmal des Staates (Artikel 20 Absatz 1 GG). Aus diesem Charakter als Bundesstaat ergeben sich selbstverständlich Auswirkungen auf verschiedene Bereiche der Staatsorganisation. Dadurch wurden die entsprechenden Normen und Strukturen für den türkischen Verfassungsgeber nur sehr schwierig in die türkische 890  Siehe 891  Siehe

S.  127 ff., S.  194 ff. S.  127 ff.



I. Der türkische Nationalismus269

Verfassungswelt übertragbar, da die Türkei strikt zentralistisch organisiert und strukturiert war und weiterhin sein sollte. Beispielsweise wird der Bundespräsident in Deutschland von der Bundesversammlung gewählt, in die auch die einzelnen Bundesländer ihre Vertreter entsenden (Art. 54 GG). Die Gesetzgebungsbefugnis obliegt prinzipiell den Bundesländern und nicht dem Bund (Art. 70 GG). Und auch wenn der Bund zuständig ist, erfolgt die Gesetzgebung unter Beteiligung des Bundesrates, der eine Mitwirkung der Bundesländer sicherstellen soll (Art. 77 ff. GG). Das Bundesverfassungsgericht hat auch die Funktion im Falle von Bund-Länder-Streitigkeiten durch Verfassungsauslegung zu einer Lösung zu gelangen (Art. 93 Absatz 1 Nr. 1, Nr. 3 GG). All dies sind Punkte, die sich auf einen zentralistisch verfassten Staat kaum übertragen lassen. Die Republik Italien hingegen ist wie die Türkei ein zentralistischer Staat. Ähnlich wie Art. 3 Abs. 1 TürkVerf statuiert Art. 5 der italienischen Verfassung von 1947/1948 die „eine, unteilbare Republik“ und erteilt somit einer föderalen Staatsorganisation genauso wie die Türkei eine Absage. Aus der Sicht sowohl des türkischen als auch des italienischen Verfassungsgebers kann es die für sie so wichtige „Einheit“ nur in einem zentralistischen Staat geben. Der italienische Verfassungsrechtler Umberto Allegretti bringt es für Italien auf den Punkt, wenn er sagt, dass „die Auffassung, dass der Bundesstaat eine Form der Einheit ist, […] der Denkweise der Verfassungsväter fremd [war]“892. Gleiches galt auch für die türkischen Verfassungsgeber.893 Zwar kennt die italienische Verfassung Regionen, die eine gewisse Autonomie genießen sollten, aber deren Gründung erfolgte mit Ausnahme der Regionen mit Sonderstatut erst 1970, das heißt nach der Erarbeitung und dem Inkrafttreten der türkischen Verfassung von 1961. Und auch nach 1970 hat das Einheitsprinzip zu weitgehenden Beschränkungen der Regionalisierung in Italien geführt, sodass sich „das Raster des Zentralismus“894 über die Regionen geschoben hat. „Tatsächlich ändert[e] sich unter allgemein recht­ lichem wie auch unter politischem Gesichtspunkt der Zentralisierungsgrad kaum.“895 Dieser zentralistische Charakter Italiens mit einem weitestgehend auf dem Papier verbliebenen Regionalismus war auch dem türkischen Verfassungsgeber von 1961 bewusst. Der Kommissionssprecher Muammer Aksoy erklärte während der Diskussionen um die Gestaltung des durch die Verfassung von 1961 neu zu gründenden Verfassungsgerichts, dass Italien trotz der Aufnahme eines gewissen Regionalismus in die Verfassung nicht 892  Allegretti,

Zentralismus und Föderalismus im republikanischen Italien, S. 254. auch Rumpf, Nationalismusprinzip, S. 439. 894  Allegretti, Zentralismus und Föderalismus im republikanischen Italien, S. 255. 895  Allegretti, Zentralismus und Föderalismus im republikanischen Italien, S. 255. 893  So

270

H. Grenzen der Rezeption

föderal geworden, sondern zentralistisch geblieben sei.896 Eine Übertragbarkeit der italienischen Normen und Prinzipien war daher unproblematischer und erschien geeigneter, da es im italienischen Verfassungsrecht keine Wechselwirkungen mit einem föderalen Staatsaufbau gab, die eine Übernahme in die türkische Verfassung erschweren hätten können. Darüberhinausgehend sind die ideologischen Hintergründe der Zentralismen der Türkei und Italiens ähnlich. In beiden Ländern ist das Nationalbewusstsein stark ausgeprägt, was das Entstehen eines „regionalen Empfindens“ weitgehend verhinderte.897 In beiden Ländern erfolgten die Einheit und die Nationalstaatsgründung auf zentralistischer Basis. Zudem war und ist teilweise bis heute in beiden Staaten eine aus der Geschichte begründete Furcht vor dem Zerfall und der Aufteilung vorherrschend. Föderalistische Tendenzen werden als Gefahr für die Einheit angesehen und nicht selten als „Separatismus“ oder „Verrat“ diskreditiert.898 Es gab daher zwischen der Türkei und Italien nicht nur eine vergleichbare zentralistische Staatsstruktur, sondern auch eine als ähnlich empfundene ideologische Untermauerung dieser Struktur. Aufgrund dieser Vergleichbarkeit in der zentralistischen Staatsordnung und des dazugehörigen ideologischen Hintergrundes wurde die italienische Verfassung von 1947 im Bereich der Staatsorganisation zum wichtigsten Rezeptionsgegenstand für den türkischen Verfassungsgeber. Bei der Frage nach der Ausgestaltung der Grundrechte hingegen konnte an das Vorbild des deutschen Grundgesetzes viel einfacher angeknüpft werden, da zu diesem Bereich der Verfassung der föderative Staatsaufbau der Bundesrepublik Deutschland keinen direkten Bezug hat. Schließlich besteht zwischen dem Grundrechtekatalog und dem Föderalismus kein Zusammenhang. Beide dienen zwar der Beschränkung und Begrenzung von politischer Macht, wobei die Grundrechte diesbezüglich als elementarer und bedeutender einzustufen sind als der Föderalismus, aber sie wirken verschieden und unabhängig voneinander. Beide erfüllen, um mit den Worten Loewensteins zu sprechen, die „Funktion eines Puffers oder Stoßdämpfers innerhalb des Machtprozesses“ und sind somit „als Beschränkung des Leviathans Staat gedacht“, wobei jedoch eine „strukturelle Wesensverschiedenheit“ zwischen ihnen liegt.899 Trotz der vergleichbaren Wirkung hinsichtlich der Begrenzung 896  Protokolle

der Abgeordnetenversammlung, Band 4, S. 217. Italien: Allegretti, Zentralismus und Föderalismus im republikanischen Italien, S. 262. 898  Für Italien: Schiera, Zentralismus und Föderalismus, S. 35; Allegretti, Zentralismus und Föderalismus im republikanischen Italien, S. 253; für die Türkei: Rumpf, Nationalismusprinzip, S. 439. 899  Loewenstein, Verfassungslehre, S. 296. 897  Für



II. Rolle des Islam und das Verhältnis zwischen Staat und Religion271

der zentralen Staatsmacht liegen zwischen den Grundrechten und einem föderalen Staatsaufbau keine Wechselwirkungen oder gar Abhängigkeiten vor. Anders als im Bereich der Staatsorganisation stand daher der Rezeption der Grundrechte aus dem deutschen Grundgesetz der föderale Charakter des deutschen Staates nicht entgegen.

II. Rolle des Islam und das Verhältnis zwischen Staat und Religion Eine weitere Besonderheit der Türkei ist ihre religiös-kulturelle Prägung als ein Land mit einer islamischen Bevölkerungsmehrheit und Tradition. Die strukturellen Unterschiede zwischen dem Islam und dem Christentum führten dazu, dass bei der Auffassung vom Laizismus und dessen praktischer Umsetzung, also bei der Ausgestaltung des Verhältnisses zwischen Staat und Religion, eine Rezeption „westlicher“ Konzepte und Regelungen nicht stattfand. Vielmehr sahen sich die türkischen Verfassungsgeber durch die strukturellen Eigenheiten des Islam vor ganz eigene Herausforderungen gestellt, die die Verfassungsgeber im „Westen“ des 20. Jahrhunderts so nicht zu meistern hatten. Hierzu gehörten die Auseinandersetzung mit dem politischen Islamismus, der einen Universalitäts- und Totalitätsanspruch des Islam propagiert, und die fehlende Amtlichkeit, der Mangel an struktureller Organisation im Islam. In westeuropäischen Debatten wird der Islam meist pauschal als eine Religion dargestellt, der eine Trennung von Staat und Religion, von Politik und Religion, von Recht und Religion gänzlich fremd sei. Der Islam sei stets auf die Errichtung eines „Gottesstaates“ gerichtet, sodass er sich kaum in ein säkulares Staatswesen einbinden lasse.900 Diese Annahmen sind sehr vereinfachend und werden in ihrer Überzeichnung der Komplexität der Thematik nicht gerecht. Ohne auf Einzelheiten eingehen zu können, die den Rahmen dieser Arbeit sprengen würden, kann doch festgehalten werden, dass dem Islam sehr wohl eine Differenzierung und Distinktion von Religion auf der einen Seite sowie Staat und Politik auf der anderen Seite bekannt sind. Der Islam gibt weder eine Herrschaftsform vor noch kennt er eine eindeutige Verpflichtung zu einem bestimmten isla­ mischen Staat.901 Der Islamwissenschaftler Baber Johansen fasst zusammen, dass der Islam „nicht einmal auf der Ebene der orthodoxen scholastischen 900  Vgl. z. B. Isensee, Die christliche Identität Europas, S. 54–55 oder Chang, Inte­ gration und Migration, S. 96. 901  Siehe zu dieser Problematik Johansen, Staat, Recht und Religion im sunnitischen Islam, S. 13–32; Matyssek, Zum Problem der Trennung von Religion und Politik im Islam, S. 158–178.

272

H. Grenzen der Rezeption

Tradition, die das islamische Recht vertritt, […] jene[n] monolithische Block aus Religion und Staat [darstellt], den islamische Fundamentalisten ebenso gerne beschwören wie europäische Publizisten.“902 Nichtsdestotrotz ist im Islam ein engeres Verhältnis zwischen Staat, Politik und Religion als im Christentum angelegt, sodass er als Rechtfertigung für deren Verbindung dienen kann, „einer solchen Verbindung also jedenfalls nicht entgegenstehen muss – wenngleich die insoweit vertretenen Auffassungen […] ausnahmslos sehr umstritten sind“903. Diese engere Verbindung zeigt sich auch in der Geschichte des Islam. Der Islam kennt zwar eine Unterscheidung von Staat und Religion, aber diese geschah bis ins 19. Jahrhundert stets auf der Grundlage des Letzteren, sodass die Staatlichkeit und das Recht durch die Religion legitimiert waren. Eine Einteilung in eine geistige und weltliche Sphäre als per se voneinander getrennte Bereiche ist der Geschichte des Islam fremd.904 Zwar war auch im „Westen“ die säkularisierte Ordnung nicht von Anbeginn an vorgegeben. Sie musste erst gegen die christlichen Kirchen erkämpft und diesen abgerungen werden. Aber gerade diesen Kampf hat es in der Geschichte des Islam in vergleichbarer Weise zumindest bis zum späten 19. Jahrhundert nicht gegeben. Bis zum Zeitpunkt der Ausrufung der Republik Türkei im Jahre 1923 war die weltliche und geistliche Macht im Osmanischen Reich in der Hand des Sultan-Kalifen, des weltlichen Herrschers, der zugleich der „Schatten Gottes“ auf Erden gewesen ist.905 Mit der Aufnahme des Laizismus in die Verfassung im Jahre 1928 wurde die Türkei der einzige muslimisch geprägte, säkulare Staat dieser Zeit und überhaupt erst der zweite entsprechende Staat in der Geschichte der muslimischen Welt.906 Hinzu kommt, dass die christliche Unterscheidung zwischen weltlich und geistlich, zwischen profan und sakral („Gebt dem Kaiser, was des Kaisers ist“) nach einhelliger Meinung die Säkularisierung gefördert hat und dazu führte, dass sich das Christentum mit der säkularisierten Ordnung arrangieren konnte. Aber gerade diese Unterscheidung ist dem Islam in dieser Klar902  Johansen,

903  Matyssek,

Staat, Recht und Religion im sunnitischen Islam, S. 53. Zum Problem der Trennung von Religion und Politik im Islam,

S. 178. 904  Loschelder, Der Islam und die religionsrechtliche Ordnung des Grundgesetzes, S. 149; Rumpf, Das Laizismus-Prinzip in der Rechtsordnung der Republik Türkei, in: JöR, Band 36, S. 186. 905  Spuler-Stegemann, Der Islam in ausgewählten Staaten – Türkei, S. 231. 906  1918 wurde die Demokratische Republik Aserbaidschan gegründet, die als erster säkularer (und zugleich als erster demokratischer) Staat in der muslimischen Welt gilt. 1920 annektierte Sowjetrussland die Republik. Siehe hierzu Rau, Islam und Demokratie. Der erste Versuch. Die Aserbaidschanische Demokratische Republik.



II. Rolle des Islam und das Verhältnis zwischen Staat und Religion273

heit nicht eigen.907 Daher war er auch offen für eine Ideologisierung zu einem politischen Islamismus, der insbesondere seit dem Ende des 19. beziehungsweise dem Anfang des 20. Jahrhunderts die Geschichte des Islam mitbestimmt und dabei einen Universalitäts- und Totalitätsanspruch für das gesamte öffentliche und private Leben erhebt und die Einheit von Staat und Religion einfordert.908 Eine weitere Herausforderung für die Regelung des Verhältnisses zwischen Staat und Religion ist die weitgehend fehlende „Verkirchlichung“ im Islam. Dies bedeutet, dass sich im Islam keine repräsentative Gemeindestruktur außerhalb der staatlichen Organisation entwickelt hat, die mit der des Christentums vergleichbar wäre. Daher kennt er keine „Instanzen mit amtlicher Autorität in Glaubensdingen“909. Somit ist der Islam für die staatlichen Akteure kaum fassbar und folglich weniger kalkulierbar und einschätzbar. Es fehlt für die konkrete Regelung des Verhältnisses von Staat und Religion das organisierte Gegenüber zum Staat, welches verbindlich und mit „Vertretungsmacht“ diesem als „Widerpart mit einer Stimme entgegentritt“910 und für die Situation in den Staaten des „Westens“ so typisch ist.911 Die Gründe hierfür können an dieser Stelle nur angedeutet werden. Zum einen liegt es daran, dass der besonders strenge Monotheismus des Islam nur wenig Raum lässt für Instanzen zwischen Gott und Mensch. Zum anderen liegt der Grund auch in der Geschichte des Islam. Aufgrund dessen, dass bis ins 20. Jahrhundert keine durchgreifende Separierung der weltlichen von der religiösen Sphäre stattgefunden hatte (trotz aller Distinktionen zwischen Staat und Religion), stellte der Islam seine Autorität und Amtlichkeit traditionell über und durch den Staat sicher, sodass er keine vom Staat losgelösten Strukturen zu errichten brauchte. Aufgrund dieser Umstände sahen sich die Verfassungsgeber nicht in der Lage, Regelungen und Grundsätze, die „westliche“ Staaten für ihr Verhältnis zwischen Staat und Religion aufgestellt haben, auf die Türkei zu übertragen. Die Verfassungsmütter und -väter rezipierten keine Bestimmungen aus „west­ lichen“ Verfassungen, sondern griffen auf die bestehenden Vorstellungen, 907  Johansen, Staat, Recht und Religion im sunnitischen Islam, S. 13; Loschelder, Der Islam und die religionsrechtliche Ordnung des Grundgesetzes, S. 149. 908  Matyssek, Zum Problem der Trennung von Religion und Politik im Islam, S. 178; Steinberg/Hartung, Islamistische Gruppen und Bewegungen, S. 681; Rumpf, Laizismus und Religionsfreiheit in der Türkei, S. 11, 22. 909  Loschelder, Der Islam und die religionsrechtliche Ordnung des Grundgesetzes, S. 168. 910  Loschelder, Der Islam und die religionsrechtliche Ordnung des Grundgesetzes, S. 150. 911  Rumpf, Laizismus und Religionsfreiheit in der Türkei, S. 11, 22; Loschelder, Der Islam und die religionsrechtliche Ordnung des Grundgesetzes, S. 150.

274

H. Grenzen der Rezeption

Grundsätze und Normen zurück, führten diese fort und bestärkten sie noch. Im Namen der Verfassungskommission erläuterte Nurettin Ardıçoğlu, dass sich diese dazu entschieden habe, im Zusammenhang mit der Religionsfreiheit grundsätzlich „den heutigen Status quo zu bewahren“912. Die Bewahrung des Status quo zeigte sich vor allem an Art. 19 TürkVerf, der die Religionsfreiheit zum Gegenstand hat: „Jeder besitzt die Freiheit des Gewissens, des religiösen Glaubens und der religiösen Überzeugung. Gottesdienste, religiöse Zeremonien und Feiern, die nicht gegen die öffentliche Ordnung oder die allgemeinen Sitten oder gegen die zum Zwecke der Aufrecht­ erhaltung dieser erlassenen Gesetze verstoßen, sind frei. Niemand darf zur Teilnahme an Gottesdiensten, religiösen Zeremonien und Feiern, zur Offenbarung seines religiösen Glaubens und seiner religiösen Überzeugung gezwungen werden. Niemandem darf sein religiöser Glauben und seine religiöse Überzeugung zum Vorwurf gemacht werden. Die religiöse Erziehung und der Religionsunterricht sind einzig an den eigenen Willen der Person und bei Minderjährigen an den Willen der gesetzlichen Vertreter gebunden. Niemand darf in der Absicht, die sozialen, wirtschaftlichen, politischen oder rechtlichen Grundlagen des Staates, sei es auch nur teilweise, auf religiösen Regeln basieren zu lassen oder politischen oder persönlichen Vorteil oder Einfluss zu erlangen, auf welche Art und Weise auch immer, die Religion oder religiöse Gefühle oder Dinge, die religiös für heilig gehalten werden, ausbeuten oder missbrauchen. Wer gegen dieses Verbot verstößt oder andere dazu aufhetzt, wird gemäß dem Gesetz bestraft; Vereine werden durch die zuständigen Gerichte und politische Parteien durch das Verfassungsgericht für immer verboten.“

Art. 19 Abs. 1, 2 und 3 S. 2 TürkVerf ließen sich bereits in der türkischen Verfassung von 1924 finden. Art. 19 Abs. 1 war inhaltlich in den Artikeln 70 und 75 der Verfassung von 1924 enthalten. Art. 19 Abs. 2 TürkVerf ist eine sprachlich modernisierte Form des Art. 75 S. 2 der Verfassung von 1924 mit der Änderung, dass statt eines einfachen Gesetzesvorbehaltes nun ein qualifizierter Gesetzesvorbehalt („zum Zwecke der Aufrechterhaltung dieser erlassenen Gesetze“) als Schranke der Religionsausübungsfreiheit fungiert. Art. 19 Abs. 3 S. 2 TürkVerf schließlich entspricht Art. 75 S. 1 der Verfassung von 1924. Art. 19 Abs. 1 TürkVerf schützt die Freiheit, Glauben und Gewissen zu bilden und zu haben, das heißt er schützt das sogenannte forum internum. Art. 19 Abs. 2 TürkVerf statuiert die Freiheit der Religionsausübung, also des glaubensgeleiteten Handelns (forum externum). Die Freiheit, seine Religion frei zu äußern und sich zu ihr zu bekennen, erwähnt Art. 19 TürkVerf, anders 912  Protokolle

der Abgeordnetenversammlung, Band 3, S. 128.



II. Rolle des Islam und das Verhältnis zwischen Staat und Religion275

als beispielsweise Art. 4 Abs. 1 des deutschen Grundgesetzes von 1949, Art. 19 der italienischen Verfassung von 1947/1948 oder Art. 14 der belgischen Verfassung von 1831, nicht explizit. Jedoch ergibt sich der entsprechende Schutz aus Art. 19 Abs. 3 Satz 2 TürkVerf. Wenn niemand aufgrund seiner Religion verurteilt oder benachteiligt werden darf, dann impliziert dies die Freiheit, seine Religion frei äußern zu können.913 Denn die Äußerung des Glaubens beziehungsweise der Religion ermöglicht die Kenntnisnahme anderer davon, die für eine verfassungsrechtlich verbotene Benachteiligung praktisch notwendig ist. Außerdem liegt die Äußerung des Glaubens auf der Ebene zwischen dem forum internum und dem forum externum. Wenn die öffentliche Religionsausübung, die eine besonders starke Form der Äußerung des Glaubens darstellt, grundrechtlich geschützt ist, dann muss sich dies auch auf die Äußerung als solche beziehen. Die Schranken in Art. 19 Abs. 2 TürkVerf (öffentliche Ordnung; allgemeine Sitten; zum Zwecke der Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung oder der allgemeinen Sitten erlassene Gesetze) sind ebenfalls nicht außergewöhnlich. Auch Art. 19 der italienischen Verfassung von 1947/1948 beschränkt die Ausübung der Religionsfreiheit durch die „allgemeinen Sitten“. Die „öffentliche Ordnung“ als Schranke der Religionsausübungsfreiheit findet sich auch in Art. 9 Abs. 2 der Europäischen Menschenrechtserklärung von 1950 und in der französischen Verfassungsordnung (Art. 10 der Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte von 1789 in Verbindung mit der Präambel der französischen Verfassung von 1958, die die Erklärung von 1789 zum geltenden Verfassungsrecht in Frankreich erklärt). Es lässt sich daher festhalten, dass die individuelle positive Religionsfreiheit in vergleichbarer Weise gesichert und gewährleistet ist wie in „westlichen“ Verfassungen, auch wenn keine ausdrückliche Rezeption „westlicher“ Verfassungsnormen vorlag. Art. 19 Abs. 3 TürkVerf statuiert die negative Religionsfreiheit, also die Freiheit, keinen Glauben zu haben, diesen nicht zu offenbaren und religionsgeleitete Handlungen zu unterlassen. Zwar gibt es auch „westliche“ Verfassungen, die die negative Religionsfreiheit ausdrücklich festhalten, wie zum Beispiel die belgische Verfassung von 1831.914 Für gewöhnlich impliziert jedoch die positive Formulierung der Religionsfreiheit auch die entsprechende negative Freiheit, wie beispielsweise in dem bereits erwähnten Art. 19 der italienischen Verfassung von 1947/1948. Insofern ist die explizite Nennung nicht üblich, da sie aus dogmatischer Sicht nicht zwingend notwendig ist. Auch in der Begründung zum Verfassungsentwurf heißt es hierzu: „Die auch Özek, Türkiyede Laiklik (Der Laizismus in der Türkei), S. 66. der belgischen Verfassung von 1831: Niemand kann gezwungen werden, in irgendeiner Weise an Handlungen und Feierlichkeiten eines Glaubensbekenntnisses mitzuwirken oder seine Ruhetage einzuhalten. 913  So

914  Artikel 15

276

H. Grenzen der Rezeption

Bestimmung im dritten Absatz ist eine natürliche Folge der Gewis­ sensfreiheit.“915 Dennoch erwähnten sie die Verfassungsgeber explizit in der Verfassung, woraus man auf ein besonderes Bedürfnis diesbezüglich schließen kann, insbesondere wenn man sich vor Augen führt, dass in der türkischen Verfassung bei allen anderen Grundrechten deren negative Ausrichtung nicht eigenständig statuiert wurde. Laut Hirsch ist dieses „ausdrückliche Verbot des Gewissenszwanges in Anbetracht der durch Herkommen und Mentalität eines […] Teiles der Bevölkerung geprägten besonderen […] Lebensverhältnisse eine keineswegs überflüssige Bestimmung.“916 Mit anderen Worten besteht in der Türkei aufgrund des Totalitätsanspruchs, der in der ­islamischen Religion angelegt ist, und aufgrund der durch diesen geprägten religiösen Traditionen eine größere Gefahr durch gesellschaftlichen Druck zu religiösen Handlungen und Lebensweisen gezwungen zu werden als in den Staaten des „Westens“. Dies bedeutet, dass die in Art. 19 Abs. 3 TürkVerf normierte negative Religionsfreiheit vor allem zwei Stoßrichtungen hat. ­Einerseits ist sie als Teil des Abschnitts B (Die Rechte und Pflichten der Person) vor allem in ihrer Funktion als status negativus als Abwehrrecht gegen den Staat gerichtet.917 Ihr wohnt aber auch ein Element der status positivus-Funktion der Grundrechte inne. Art. 19 Abs. 3 Satz 1 und vor allem auch Satz 2 richten sich auch an den Staat, der dafür Sorge tragen soll, dass die Bürger von anderen Bürgern oder Gruppen nicht zu religiösen Handlungen und Lebensweisen gezwungen werden oder wegen ihres Glaubens benachteiligt werden. Hierzu erklärten die Mitglieder des Komitees für nationale Einheit, dass diese Bestimmungen nicht nur dem Schutz der Nichtgläubigen, sondern auch dem Schutz von religiösen Minderheiten wie den Aleviten dienen sollen.918 Art. 19 Abs. 5 TürkVerf verbietet den Missbrauch der Religion zu politischen Zwecken beziehungsweise zum Zwecke, Staat und Gesellschaft religiösen Regeln zu unterwerfen. Sie ermöglicht die Bestrafung entsprechender Handlungen und sieht ein Verbot von politischen Parteien, die gegen dieses Verbot verstoßen, durch das Verfassungsgericht vor. Die Verfassungskommission begründet diesen Absatz wie folgt: „Die Bestimmung […] bringt zum Ausdruck, dass die Gewissensfreiheit nicht missbraucht und nicht zu einer Quelle der Ausbeutung gemacht werden darf, was auf den bitteren Erfahrungen, die unser Land gemacht hat, beruht und einem lebenswichtigen Bedürfnis entspricht. Da das Ziel der Anerkennung der Religionsund Gewissensfreiheit zu keiner Zeit darin besteht, die Möglichkeit zu schaffen, 915  Begründung

zum Entwurf der Verfassungskommission, S. 16. Verfassung der Türkischen Republik, S. 98. 917  Abadan, Die türkische Verfassung von 1961, S. 361–362. 918  Protokolle des Komitees für nationale Einheit, Band 6, 87. Zusammenkunft, S. 39–40. 916  Hirsch,



II. Rolle des Islam und das Verhältnis zwischen Staat und Religion277 religiöse Gefühle zu einem Mittel der Täuschung und des Betruges auf dem Gebiet der Politik zu machen und die Religion durch die Hände von Religionsschacherern zu verschmutzen, darf man die Anerkennung eines solchen Verbotes nicht als ein Verstoß gegen die Religions- und Gewissensfreiheit ansehen, sondern im Gegenteil als eine der grundlegenden Voraussetzungen für ihren Schutz und ihre Stärkung“919.

Die Verfassungskommission verwies damit insbesondere auf die Zeit der autoritären Regierung der Demokratischen Partei (DP) unter Adnan Menderes. Dieser Absatz ist somit eine Reaktion auf die Vorgängerregierung, die sehr stark mit religiösen Befindlichkeiten und Polarisierungen Politik machte und insbesondere im Wahlkampf auf religiöse Gefühle und Ressentiments setzte, um so eine Mehrheit der Stimmen zu erlangen.920 Diese Bestimmung soll daher den politischen Raum frei von Religion und Glauben halten. Eine solche Notwendigkeit sahen die Verfassungsgeber „westlicher“ Verfassungen nicht. Aus dem Verbot der Ausnutzung der Religion mit dem Zweck die Grundlagen des Staates religiösen Regeln zu unterwerfen ergibt sich ein zweiter Aspekt dieses Absatzes. Es ging den Verfassungsgebern nicht nur um eine Reaktion auf die Erfahrungen der Jahre 1950–1960, sondern auch um eine Auseinandersetzung mit Bewegungen und Parteien, die einen Universalitätsund Totalitätsanspruch der Religion vertreten und die säkulare Ordnung ablehnen. Während im „Westen“ Parteienverbote im Zusammenhang mit kommunistischen oder faschistischen Parteien eine Rolle spielen, liegt der Schwerpunkt in der Türkei vor allem auf islamistisch-fundamentalistischen Parteien. Daher wird das Parteienverbot, ganz anders als im „Westen“, auch im Rahmen der Religionsfreiheit thematisiert. Jedoch kann man insofern von einer „Verwestlichung“ sprechen, dass die Parteien nur noch vom Verfassungsgericht und nicht mehr durch das Parlament verboten werden können. Dies ergab sich für die Verfassungsgeber aus der „für das Leben der demokratischen Gesellschaft sehr wichtigen Position der politischen Parteien“921. Ein entscheidender Unterschied zwischen der türkischen Verfassung von 1961 und den „westlichen“ Verfassungen der damaligen Zeit liegt im Bereich der kollektiven Religionsfreiheit (auch korporative Religionsfreiheit genannt). Die kollektive Religionsfreiheit ist die Freiheit, die einer Reli­ gionsgemeinschaft als „Vereinigung mit einem religiösen […] Sinnbezug, der den Menschen und die Welt als Ganzes erfasst und nicht nur Teilaspekte davon“922, als solcher zukommt. Zu dieser Freiheit gehört die Möglichkeit durch Erwerb der Rechtsfähigkeit am Rechtsverkehr teilzunehmen, nach au919  Begründung

zum Entwurf der Verfassungskommission, S. 16. S. 32, 45. 921  Begründung zum Entwurf der Verfassungskommission, S. 16. 922  Czermak, Religions- und Weltanschauungsrecht, Rn. 55. 920  Siehe

278

H. Grenzen der Rezeption

ßen als Religionsgemeinschaft tätig werden zu können (Bau von Gebets­ häusern, Missionarstätigkeit) und das Selbstbestimmungsrecht, wodurch die Religionsgemeinschaften die Freiheit der Bestimmung über die eigene Verwaltung, Organisation und interne Normsetzung erlangen.923 Die „westlichen“ Verfassungen berücksichtigen regelmäßig auch diesen Aspekt der Religionsfreiheit. Die italienische Verfassung von 1947/1948 gewährt die Religionsfreiheit in ihrem Art. 19 ausdrücklich nicht nur in der Form, dass sie dem Individuum als Einzelnen zukommt, sondern auch gemeinschaftlich mit anderen. Zusätzlich hält Art. 20 der italienischen Verfassung von 1947/1948 fest, dass der religiöse Charakter einer Vereinigung dieser nicht zum Nachteil gereichen darf. Das deutsche Grundgesetz gewährleistet die kollektive Religionsfreiheit durch eine Inkorporation der entsprechenden Artikel aus der Weimarer Reichsverfassung (Art. 136, 137 der Weimarer Reichsverfassung von 1919 in Verbindung mit Art. 140 des deutschen Grundgesetzes von 1949), wobei in der deutschen Rechtswissenschaft auch die Ansicht weit verbreitet ist, Art. 4 Absatz 1 und 2 des deutschen Grundgesetzes impliziere bereits die kollektive Religionsfreiheit.924 Hier kommt die zweite Möglichkeit der verfassungsrechtlichen Absicherung der kollektiven Religionsfreiheit zum Vorschein. Wenn die kollektive Religionsfreiheit in den „westlichen“ Verfassungen nicht eigenständig erwähnt wird, dann beinhalten regelmäßig die allgemeinen Bestimmungen über die Religionsfreiheit auch deren kollektive Ausformung. Die belgische Verfassung von 1831 etwa verkündet in ihrem Art. 14 die Freiheit der Glaubensbekenntnisse, womit sie sowohl die individuelle als auch die kollektive Religionsfreiheit umfasst.925 Die türkische Verfassung von 1961 hingegen gewährt diese kollektive Religionsfreiheit nicht. Weder gibt es Bestimmungen, die wie Art. 136, 137 der Weimarer Reichsverfassung von 1919 in Verbindung mit Art. 140 des deutschen Grundgesetzes von 1949, die kollektive Religionsfreiheit explizit garantieren, noch kann man davon ausgehen, dass Art. 19 Abs. 1 und Abs. 2 TürkVerf die kollektive Religionsfreiheit als natürlichen Teil der Religionsfreiheit betrachtet, diese daher impliziert und mit der individuellen Reli­ gionsfreiheit zusammen sicherstellt. Denn die Verfassungsgeber brachten während der Debatte um Art. 19 TürkVerf wiederholt zum Ausdruck, dass 923  Huber, Die korporative Religionsfreiheit und das Selbstbestimmungsrecht nach Art. 137 Abs. 3 WRV einschließlich ihrer Schranken, S. 167; Czermak, Religionsund Weltanschauungsrecht, Rn. 178. 924  Czermak, Religions- und Weltanschauungsrecht, Rn. 55, 178. 925  Dies zeigt sich insbesondere in Artikel 16 der belgischen Verfassung von 1831, in der von der „Ernennung […] der Diener irgendeines Glaubensbekenntnisses“ die Rede ist, woraus ersichtlich wird, dass mit Glaubensbekenntnissen auch die Reli­ gionsgemeinschaften als solche gemeint sind.



II. Rolle des Islam und das Verhältnis zwischen Staat und Religion279

dieser Artikel im Besonderen und die Verfassung im Allgemeinen die kollektive Religionsfreiheit als Freiheit, die den Religionsgemeinschaften als solche zukommt, nicht beinhaltet.926 Darüber hinaus ergibt sich das Fehlen der kollektiven Religionsfreiheit auch aus Art. 153 Nr. 3 und Art. 154 TürkVerf. Denn zu den besonders geschützten Revolutionsgesetzen, die unter der Präsidentschaft Mustafa Kemal Atatürks erlassen worden sind, zählt gemäß Art. 153 Nr. 3 TürkVerf auch das Gesetz Nummer 677 vom 30.11.1925. Dieses Gesetz trägt den ausführlichen und den Inhalt bereits aufzeigenden Zusatz „über das Verbot und die Schließung religiöser Orden, Klöster und Mausoleen, über das Verbot des Berufs der Mausoleenwärter und der Führung und Verleihung einiger [religiöser] Titel“. Es erlangt durch Art. 153 TürkVerf eine Verfassungsfestigkeit, die es dem Vorwurf der Verfassungswidrigkeit, insbesondere wegen etwaiger Grund­ rechtsverletzungen, entzieht und stellt somit eine Begrenzung der Religionsfreiheit dar. Die Kemalisten sahen in den religiösen Orden, Klöstern und Mausoleen ein gefährliches Bollwerk religiös-reaktionärer Kreise gegen die Politik der „Verwestlichung“. Sie waren für sie eine Konkurrenz sowohl in geistig-ideologischer Hinsicht als auch auf der Ebene der Politik. Für Mustafa Kemal Atatürk persönlich waren diese religiösen Einrichtungen „Orte, an denen sich Müßiggang mit Aberglauben als besonders abstoßende Kennzeichen des Ancien Régime verbanden. Die kemalistische Formel ‚Die einzig wahre Rechtleitung (mürşid) im Leben ist die Wissenschaft‘ war eine unmittelbare Anspielung auf den Titel mürşid, den die islamischen Ordensmeister […] beanspruchten.“927 Die von den Orden ausgehenden Aufstände und Unruhen, die sich gegen die kemalistischen Reformen richteten und mit Forderungen nach einer Rückkehr zur alten Ordnung mit der Scharia und mit der Institution des Kalifen verbunden waren, erschütterten die junge Republik in den frühen 1920er Jahren, sodass sich die Regierung 1925 entschloss, diese zu verbieten.928 Die Aufnahme dieses Gesetzes in die neue Verfassungsordnung von 1961 symbolisiert einerseits den bereits dargelegten Anspruch der Verfassungsgeber, Fortführer der kemalistischen Revolution zu sein und in einer Kontinuität zu Mustafa Kemal Atatürk und seiner Mission zu stehen. Sie bringt andererseits aber auch zum Ausdruck, dass die Verfassungsgeber einer Organisierung und Selbstverwaltung der Religion in Glaubensgemeinschaften weiterhin misstrauten und als Gefahr für den säkularen Staat empfanden. Die Entscheidung für dieses Gesetz bedeutete zwangsläufig die Ablehnung der 926  Protokolle

der Abgeordnetenversammlung, Band 3, S. 121, 122, 127, 140. Geschichte der Türkei, S. 412. 928  Kreiser/Neumann, Geschichte der Türkei, S. 412–413; Ozankaya, Atatürk ve Laiklik (Atatürk und der Laizismus), S. 257. 927  Kreiser/Neumann,

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H. Grenzen der Rezeption

Freiheit, sich zu entsprechenden Gemeinschaften zusammenzuschließen und sich als solche zu artikulieren, religiös zu betätigen und selbst zu verwalten. Folgerichtig sieht die Verfassung in seinem 154. Artikel die Existenz einer staatlichen Religionsbehörde (türk.: „Diyanet Işleri Başkanlığı“) vor: „Das Präsidium für religiöse Angelegenheiten, welches Teil der allgemeinen Verwaltung ist, erfüllt die in einem speziellen Gesetz aufgezeigten Aufgaben.“ Diese Aufgaben legte das Gesetz Nummer 633 vom 02.07.1965 fest: „Erledigung aller Angelegenheiten, welche sich auf die Glaubenssätze, den Gottesdienst und die sittlichen Grundsätze der Islamischen Religion beziehen; Aufklärung der Bevölkerung über Religionsfragen; Verwaltung der Gotteshäuser“929. Man sieht, dass das Gesetz dem Präsidium für religiöse Angelegenheiten Aufgaben zuwies, die im „Westen“ regelmäßig von den Glaubensgemeinschaften, allen voran von den Kirchen erfüllt werden. Die Verfassungsgeber schlossen mit Art. 154 TürkVerf somit die Lücke, die aufgrund des Fehlens von hierarchischen, repräsentativen „kirchlichen“ Strukturen und des Verbotes religiöser Orden bestand, indem sie es mit einer staatlichen Institution füllten. Das Präsidium für religiöse Angelegenheiten war nicht das Ergebnis einer Rezeption aus dem „Westen“, was nicht verwunderlich ist, da es eine entsprechende Behörde mit Verfassungsrang in „westlichen“ Verfassungen nicht gibt. Die Funktionen dieser Institution erfüllen im „Westen“ die kirchlichen Einrichtungen. Auch war sie keine neue Einrichtung. Sie existierte bereits seit 1924, jedoch ohne Verfassungsrang zu besitzen und war dem Ministerpräsidentenamt zugewiesen. Letzteres änderte sich auch 1961 nicht. Das Präsidium für religiöse Angelegenheiten erhielt keinen autonomen Status innerhalb der Staatsorganisation, sondern blieb dem Ministerpräsidentenamt zugewiesen und diesem unterstellt. Dies ergibt sich aus der Begründung der Verfassungskommission zu ihrem Verfassungsentwurf. Demnach sollte mit Art. 154 TürkVerf das Präsidium für religiöse Angelegenheiten Verfassungsrang erhalten, jedoch keine Änderung der Struktur oder des Zwecks dieser Einrichtung einhergehen, sondern vielmehr der Status quo beibehalten werden: „Es wurde für […] notwendig angesehen, dass das Präsidium für religiöse Angelegenheiten aufgrund der Bedeutung, die die Religion als eine soziale Institution inne hat, in der Verfassung, die die Freiheit des religiösen Glaubens und der religiösen Überzeugung innerhalb der Grundrechte und Grundfreiheiten proklamiert und die Freiheit der Religionsausübung […] garantiert, wie bis zu diesem Tage auch schon innerhalb der allgemeinen Verwaltung seinen Platz einnimmt. Aus diesem Grund […] wird der Grundsatz, wonach das Präsidium für religiöse Angelegenheiten die

929  Zitiert

aus Hirsch, Verfassung der Türkischen Republik, S. 187.



II. Rolle des Islam und das Verhältnis zwischen Staat und Religion281 Aufgaben, die im durch ein spezielles Gesetz zugewiesen werden, zu erfüllen hat, unverändert aufrechterhalten.“930

Statt, wie in Verfassungen des „Westens“ üblich, einer Garantie der kollektiven Religionsfreiheit und Verfassungsbestimmungen, die das Verhältnis zwischen den Religionsgemeinschaften (die aufgrund der kollektiven Reli­ gionsfreiheit existieren und tätig sind) und dem Staat zum Gegenstand haben, enthält die türkische Verfassung von 1961 Regelungen, die eine staatliche Religionsbehörde verfassungsrechtlich absichern und damit an die Stelle der Religionsgemeinschaften stellen. Dadurch sicherten die Verfassungsgeber den Einfluss und die Kontrolle des Staates über den Teil des religiösen Lebens, der im Kollektiv ausgeübt und gelebt wird. Einige Abgeordnete kritisierten diese Regelungen und plädierten für mehr positive Religionsfreiheit, insbesondere im Hinblick auf die kollektive Religionsfreiheit. Eine deutliche und starke Ablehnung erfuhren die Verfassungsbestimmungen vor allem von den drei Abgeordneten Kadircan Kaflı, Sadettin Tokbey und Ahmet Oğuz. Letzterer vertrat die Auffassung, dass sich Art. 2 TürkVerf und Art. 19 TürkVerf widersprächen. Art. 2 TürkVerf statuiere den Laizismus, jedoch verstoße Art. 19 TürkVerf dagegen, indem er die Freiheit, sich zu Religionsgemeinschaften zusammenzuschließen, und die Freiheit religiöser Lehre und Erziehung nicht gewährleiste und diese Bereiche der staatlichen Kontrolle unterwerfe.931 Sadettin Tokbey bezeichnete die Verfassung als „halb-laizistisch“932, da zu einem laizistischen Staat nicht nur die Nichteinmischung der Religion in den Staat, sondern auch die Nichteinmischung des Staates in die Religion gehöre. Letzteres sei durch die Verfassung nicht erfüllt, da vor allem Art. 19 TürkVerf dem Staat indirekt die Möglichkeit einräume, auf die Religionen einzuwirken und sich in diese einzumischen. Die Verfassungsnorm sei insofern nicht geeignet, die religiösen Rechte der Menschen zu schützen.933 Zudem bedauerte er das Fehlen der Freiheit, sich in Religionsgemeinschaften zu organisieren, über diese seine Religion zu verbreiten und zu lehren. Solange diese Rechte fehlten, würde die Religion stets ein Kristallisationspunkt politischer Auseinandersetzungen sein und es könne zu einem Auseinanderdriften von religiösen und nichtreligiösen Bevölkerungsschichten kommen.934 Schließlich erklärte Kadircan Kaflı, er habe keine Möglichkeit Art. 19 TürkVerf in dieser Fassung zuzustimmen. Die Religionsfreiheit sei nicht 930  Begründung

zum Entwurf der Verfassungskommission, S. 51. der Abgeordnetenversammlung, Band 3, S. 102, 130. 932  Protokolle der Abgeordnetenversammlung, Band 3, S. 94. 933  Protokolle der Abgeordnetenversammlung, Band 3, S. 93. 934  Protokolle der Abgeordnetenversammlung, Band 3, S. 94–95. 931  Protokolle

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H. Grenzen der Rezeption

vollständig garantiert. Er beklagte sich über die Islamfeindlichkeit weiter Teile des politischen und intellektuellen Establishments und forderte die Abgeordnetenversammlung auf, sicherzustellen, dass der Staat keinen Druck auf die Religion ausüben kann.935 Bei ihrer Kritik vertraten diese Abgeordneten einen Laizismus, die sich mit der klassischen Laizismusvorstellung des „Westens“ deckt, wonach der Laizismus eine strikte und strenge Trennung von Staat und Religion bedeutet und zur Folge hat, dass sich einerseits der Staat nicht in die Belange der Religion einmischt und andererseits die Religion nicht in die Belange des Staates. Es ist kein Zufall, dass alle drei Abgeordnete über das Kontingent der Republikanisch-nationalen Bauernpartei (CKMP) in die Abgeordnetenversammlung eingezogen waren. Die Republikanisch-nationale Bauernpartei (CKMP) war die Nachfolgepartei der Nationspartei (MILLET), die wiederum aus einer Abspaltung des „nationalkonservativen bis rechtsextremen“936 Flügels der islamisch-konservativen Demokratischen Partei (DP) hervorgegangen war. Die Nationspartei (MILLET) wurde wegen „Ausnutzung der Religion zu politischen Zwecken“937 1954 verboten. Ein weiterer Grund für das Verbot lag jedoch darin, dass die damals regierende Demokratische Partei (DP) in dieser politischen Organisation eine ernstzunehmende Konkurrenz sah und sich dieser entledigen wollte.938 Die Republikanisch-nationale Bauernpartei (CKMP) galt als Vertreterin des nationalistischen Spektrums, welches gleichzeitig auch islamisch-konservative bis islamistische Strömungen umfasste.939 Das Fehlen der Demokratischen Partei (DP) in der konstituierenden Versammlung gab der Republikanisch-nationalen Bauernpartei (CKMP) die Möglichkeit, sich als Vertreterin der islamisch-religiösen Inte­ ressen zu profilieren. Dieser politische Hintergrund erklärt auch ihr vehementes Eintreten für mehr Religionsfreiheit. Einen entsprechenden Einsatz für andere Grundrechte und Freiheiten zeigten der CKMP-Abgeordneten sehr selten. Hier kommt ein Charakteristikum der Türkei zum Vorschein, das noch bis heute kennzeichnend ist für ihre politische Landschaft. Liberale und linke Parteien und entsprechende gesellschaftliche und politische Kreise, die sich regelmäßig für größere Meinungs-, Presse-, Versammlungsfreiheit und Gewerkschaftsrechte einsetzen, sind aufgrund der Sorge vor islamistischen Bewegungen und Strömungen sehr reserviert gegenüber größerer Religionsfreiheit. Konservative und rechte Parteien und Strömungen hingegen plädieren 935  Protokolle

der Abgeordnetenversammlung, Band 3, S. 132. Die Türkei im Schatten des Nationalismus, S. 96. 937  Schröder, Die Türkei im Schatten des Nationalismus, S. 97. 938  Çakır, Die Milliyetçi Hareket Partisi (MHP) und ihre Sicht der EU-Mitgliedschaft der Türkei, S. 77. 939  Schröder, Die Türkei im Schatten des Nationalismus, S. 96–97. 936  Schröder,



II. Rolle des Islam und das Verhältnis zwischen Staat und Religion283

meist für eine Ausweitung der Religionsfreiheit, vielfach unter Bezugnahme der klassischen Laizismusdefinition des „Westens“, der eine Einmischung des Staates in die Religion nicht erlaube.940 Im Hinblick auf sonstige Grundrechte und Grundfreiheiten, aber auch Minderheiten- und Gewerkschaftsrechte, sind sie jedoch häufig sehr restriktiv.941 Daher passt es auch sehr gut in das Bild, wenn die anderen Mitglieder der Abgeordnetenversammlung und auch die Kommissionsmitglieder gewisse Zweifel an der Authentizität der CKMP-Abgeordneten im Zusammenhang mit der Debatte um Laizismus und Religionsfreiheit hegten. Der Kommis­ sionssprecher Muammer Aksoy etwa reagierte auf die Kritik mit einem Rückblick auf die Geschichte, der sich auch als eine Anspielung auf die ­aktuelle Situation verstehen lässt: „Einige Personen, die den Anschein erwecken westlich zu sein, traten hinter der Schutzmaske des angeblich ‚echten Laizismus‘ mit der Parole in Erscheinung, Religion und Staat vollständig voneinander zu trennen; in Wahrheit wollten sie den Staat unter die […] Kontrolle der Religion bringen.“942 Die Verfechter dieser von den CKMP-Abgeordneten kritisierten Ausgestaltung des Verhältnisses von Staat und Religion sahen darin eine Umsetzung des Laizismus. Diese Überzeugung rührte aus einem eigenen Laizismusverständnis her, welches sich nur teilweise mit der Laizismusdefinition im „Westen“ deckt. Bahri Savcı, Mitglied der Verfassungskommission, fasste den Laizismus in vier Punkten zusammen. Die erste Anforderung des Laizismus sei es, dass der Staat keine Religion habe dürfe. Zudem dürfe es innerhalb der Staatsorganisation keine religiösen Autoritäten oder Organe geben. Als Beispiele führte er die Institutionen des Kalifen, des Scheichülislam943 und des orthodoxen Patriarchen auf. Als drittes Element gehöre zum Laizismus, dass es keine Kontrolle des politischen oder sozialen Lebens durch die Religionen geben dürfe. Schließlich dürfe es keine Kontrolle des wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Lebens (wie im Bereich der Kunst oder der Musik) durch die Religion geben, diese dürften nicht den Regeln der Religion unterworfen werden. Da die Verfassung diese Erfordernisse beachte und versuche, diese zu verwirklichen, sei die gesamte Verfassung und besonders Artikel 19 TürkVerf vollkommen laizistisch.944 940  Özek,

Türkiyede Laiklik (Der Laizismus in der Türkei), S. 114–116. zeigt dies am Beispiel des Kopftuchverbotes in staatlichen Einrichtungen auf: Rumpf, Laizismus und Religionsfreiheit in der Türkei, S. 120. 942  Protokolle der Abgeordnetenversammlung, Band 3, S. 122. 943  Der Scheichülislam war im Osmanischen Reich der oberste Religionsgelehrte und als oberster Leiter der Verwaltung für religiöse Angelegenheiten zuständig für das Bildungs- und Erziehungswesen und für die Rechtsprechung. Protokollarisch war er der zweite Mann im Staat nach dem Sultan. 944  Protokolle der Abgeordnetenversammlung, Band 3, S. 112–113. 941  Rumpf

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H. Grenzen der Rezeption

Der Vorsitzende der Verfassungskommission Enver Ziya Karal führte dies weiter aus und erklärte, der Laizismus sei für die Türkei nicht nur die Trennung von Religion und Staat, sondern „auch die Trennung von Religion und Wissenschaft, von Religion und Kunst, von Religion und Recht und Wirtschaft. Er ist für diese die Erlangung der Freiheit.“945 Aus der Satzstruktur im Türkischen ergibt sich, dass mit „diese“ im zweiten Satz jeweils die Zweitgenannten in der davor dargelegten Aufzählung gemeint sind. Für K ­ aral ist das Wesen des Laizismus daher die Freiheit der Wirtschaft, des Rechts, der Kunst, der Wissenschaft und des Staates von der Religion. In Rahmen der Debatte um Artikel 19 TürkVerf legte Nurettin Ardıçoğlu die Vorstellungen der Verfassungskommission über das Verhältnis von Religionsfreiheit und Laizismus dar. Demnach bestehe die Religionsfreiheit aus der Freiheit des Glaubens (türk.: „itikat hürriyeti“), der Freiheit der Religions­ ausübung (türk.: „ibadet hürriyeti“), der Freiheit der Organisation in Reli­ gionsgemeinschaften (türk.: „teşkilatlanma hürriyeti“) sowie die Freiheit der religiösen Lehre und Erziehung, insbesondere durch die Religionsgemeinschaften (türk.: „tedris hürriyeti“).946 Die türkische Verfassung gewährleiste durch Art. 19 TürkVerf die ersten beiden Freiheiten, die anderen beiden, also insbesondere die kollektive Religionsfreiheit, jedoch bewusst nicht. Die Gewährleistung einer kollektiven Religionsfreiheit sei nicht kompatibel mit dem Laizismus der türkischen Revolution und der Verfassung.947 Der Sprecher der Verfassungskommission, Muammer Aksoy, erläuterte ganz unmissverständlich, dass die Verfassungskommission einen Laizismus wie im „Westen“, also im Sinne einer vollständigen Separierung von Staat und Religion voneinander, wodurch die Religion nicht vom Staat kontrolliert werden kann, als schlichtweg unpassend für die Türkei ansehe. Weiter führte er aus: „Die Kommission hat in ihren Entwurf keinen Laizismus in diesem Sinne aufgenommen. Aktivitäten, die zu einem Teil des gesellschaftlichen Lebens werden, indem sie über das Gewissen des Individuums und über die Religionsausübung zu Hause oder im Gotteshaus hinausgehen, werden unter Kontrolle stehen.“948 Zum Wesen des Laizismus gehöre in erster Linie die Befreiung des Staates von der Abhängigkeit gegenüber der Religion. Diese Freiheit des Staates von der Religion stelle das zweite Element des Laizismus, nämlich die individuelle Gewissens- und Glaubensfreiheit, sicher. Diese bedeute, dass „jeder die vollständige Freiheit in Gewissens- und Glaubensangelegenheiten besitzt und seine Religion wie es ihm beliebt ausüben kann“949. 945  Protokolle

der Abgeordnetenversammlung, der Abgeordnetenversammlung, 947  Protokolle der Abgeordnetenversammlung, 948  Protokolle der Abgeordnetenversammlung, 949  Protokolle der Abgeordnetenversammlung, 946  Protokolle

Band 3, Band 3, Band 3, Band 3, Band 3,

S. 119. S. 127. S. 128, 140. S. 125. S. 123.



II. Rolle des Islam und das Verhältnis zwischen Staat und Religion285

Der Laizismus, den die verschiedenen Kommissionsmitglieder beschrieben, befand sich im Einklang mit den Vorstellungen des Komitees für nationale Einheit und einer Mehrheit der Mitglieder der Abgeordnetenversammlung und deckte sich mit dem Laizismusverständnis, welches die kemalistische Bewegung und der Großteil der von ihr geprägten Staatsrechtslehre seit der Aufnahme des Laizismusprinzips in die Verfassung 1928 vertraten.950 Genauso wie im „Westen“ definierten auch diese türkischen Juristen und Politiker den Laizismus als strikte Trennung von Staat und Religion, aber sie verstehen und interpretieren diese Trennung nicht genauso wie ihre Kollegen im „Westen“. Wie aus den zitierten Redebeiträgen hervorgeht, liegt der Schwerpunkt der türkischen Laizismuskonzeption auf der Freiheit von der Religion und nicht auf der Freiheit der Religion oder zur Religion. Unter Laizismus verstehen die Verfassungsgeber die nichtreligiöse Legitimierung des Staates, eine Nichteinmischung der Religion in die staatlichen und gesellschaftlichen Belange und eine Verhinderung des Missbrauchs der Religion für politische Zwecke.951 Einer staatlichen Kontrolle und Aufsicht über die Religion steht dieser Laizismus nicht hingegen, im Gegenteil können zur Sicherstellung seiner Ziele diese sogar als notwendig erscheinen. Die Freiheit der Religion vom Staat spielt daher nur eine sehr untergeordnete Rolle. Er existiert teilweise als individuelle, aber nicht als kollektive Freiheit. Somit entspricht er weder dem Laizismus in Frankreich, noch dem säkularen Verhältnis von Staat und Religion in Deutschland, Italien oder den USA.952 Christian Rumpf spricht daher von einem „modifizierten Laizismus“953. Es erscheint jedoch angebracht für diesen Laizismus türkischer Art einen neuen Terminus einzuführen, den des „asymmetrischen Laizismus“. Diese Bezeichnung bringt das Wesen des türkischen Laizismus am deutlichsten zum Ausdruck. Der Laizismus so wie er im „Westen“ für gewöhnlich verstanden wird, steht für die Trennung von Staat und Religion mit der Folge, dass der Staat sich nicht in die Angelegenheiten der Religion einmischt und die Religion sich nicht in die Angelegenheiten des Staates. Dies soll die Freiheit des Staates von der Religion und die Freiheit der Religion vor staatlichen Einflüssen und Kontrollen gewährleisten. Der Laizismus dient somit beiden Seiten in gleichen Maßen. Der Freiraum, den die eine Seite gewinnt, entspricht dem Spiegelbild des Freiraumes, den die andere Seite erhält. Bildlich 950  Özek, Türkiyede Laiklik (Der Laizismus in der Türkei), S. 40, 51; Ozankaya, Atatürk ve Laiklik (Atatürk und der Laizismus), S. 168–169, 171. 951  Rumpf, Laizismus und Religionsfreiheit in der Türkei, S. 18; Hirsch, Verfassung der Türkischen Republik, S. 84. 952  So auch Rumpf, Laizismus und Religionsfreiheit in der Türkei, S. 10. 953  Rumpf, Laizismus und Religionsfreiheit in der Türkei, S. 10, 21.

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H. Grenzen der Rezeption

gesprochen kann man von einer Symmetrie sprechen, die in der klassischen Konzeption des Laizismus angelegt ist. Der Laizismus in der Türkei hingegen stellt die Freiheit des Staates von der Religion über die Freiheit der Religion vom Staat. Er wurde mit der historischen Mission aufgeladen, Staat und Gesellschaft von der übermächtigen Religion zu befreien. Er dient daher zuerst und hauptsächlich der Freiheit des Staates und generell des öffentlichen Raumes von der Religion, aber nicht in gleicher Weise auch der Freiheit der Religion vor dem Staat. Der Freiraum, den die Verfassungsgeber für den Staat beanspruchten, ist ungemein größer als der Freiraum, den sie der Religion zustanden. Daher lässt sich diese Laizismuskonzeption als „asymmetrisch“ bezeichnen. Dieses Verständnis vom Laizismus und dessen konkrete verfassungsrechtliche Folgen erklärten die Verfassungsgeber mit dem zu Anfang dieses Kapitels dargestellten Eigenheiten des Islam, das heißt mit den Herausforderungen, die sich aus dem Universalitäts- und Totalitätsanspruch islamistischer Strömungen und dem Fehlen amtlicher, repräsentativer Instanzen und Gemeindestrukturen ergeben. Enver Ziya Karal führte hierzu aus, die Geschichte der islamischen Staaten zeige, dass „der Islam nicht nur ein Glaubenssystem ist, sondern gleichzeitig eine Lebensart, eine Gesellschaftsordnung, ein Bildungssystem, eine politische Ideologie […]. In allen islamischen Staaten war dies so. Auch im Osmanischen Reich, das ein islamischer Staat gewesen ist, war dies so.“954 Im „Westen“ habe die Trennung von Staat und Religion durch eine Reform der Religion stattgefunden, während es in der islamischen Welt etwas Entsprechendes nicht gegeben habe. Die Revolution unter Mustafa Kemal Atatürk habe daher den modernen Staat durch Absonderung jener Teile von der Religion, die den Staat betreffen, und der Zuweisung dieser Elemente zum Staat erreicht. Dies müsse geschützt werden.955 Muammer Aksoy als Sprecher der Verfassungskommission pflichtete dem bei und rechtfertigte die Verfassungsbestimmungen durch einen Vergleich der Geschichte der Türkei mit der des „Westens“: „Wenn wir […] den Laizismusbegriff der westlichen Welt, die auf diesem Gebiet ganz andere soziale und politische Entwicklungen und Bedingungen besitzt, bei uns zu hundert Prozent übernehmen, dann wird dies nicht zu positiven, sondern zu gänzlich negativen Folgen führen. Die vollständige Trennung von Religion und Staat ist im Westen ausreichend dafür, dass der Laizismus sein Ziel erreicht. Jedoch kann er so bei uns niemals für seinen Zweck dienlich sein. Wenn die Religion sogar dann außerhalb der Kontrolle des Staates bleibt, wenn sie sich organisiert, dann […] kann bei uns die Religion zu einer politischen Kraft werden und von 954  Protokolle 955  Protokolle

der Abgeordnetenversammlung, Band 3, S. 120. der Abgeordnetenversammlung, Band 3, S. 120.



II. Rolle des Islam und das Verhältnis zwischen Staat und Religion287 Zeit zu Zeit wurde sie es bereits. […] Im Ergebnis können dann die Gewissensfreiheit und der Grundsatz des Laizismus vollständig aufgehoben werden. […] Denn bei uns waren Religion und Staat über Jahrhunderte hinweg und noch bis gestern miteinander verwoben. […] Im Westen ist mittlerweile eine Religion, die über ihre eigene Sphäre schwappt und den Staat unter ihre Autorität zwingt, kein Thema, nicht einmal als eine kleine Gefahr. […] Wir jedoch waren unsere gesamte Geschichte hindurch ein Staat, der sich religiösen Regeln fügte, dessen wichtigste Gesetze aus der Scharia bestanden. […] Das Prinzip des Laizismus ist dort bereits fest verankert. Bei uns jedoch bedienen sich immer noch Tendenzen, die auf verschiedenen Gebieten das Rad der Zeit zurückdrehen möchten, also die politische Reaktion, die soziale Reaktion, jede Art von Reaktion, des Bündnisses mit der religiösen Reaktion.“956

Der „Westen“ taugt in den Augen der Verfassungsgeber in diesem Regelungsgebiet nicht als Vorbild. Sie sei aufgrund ihrer Geschichte diesbezüglich „weiter“ als die Türkei. Das heißt die Trennung zwischen Staat und Religion sei im Westen unumkehrbar gesichert, es gäbe keine Gefahr einer religiösen Reaktion. Aufgrund der Geschichte des Islam, in der Staat, Gesellschaft und Religion bis ins 20. Jahrhundert miteinander verwoben waren, gäbe es in der Türkei immer noch die Gefahr einer Umkehr, einer religiösen Reaktion. Die säkulare Staats- und Gesellschaftsordnung war für die Verfassungsgeber in der Türkei noch nicht endgültig gesichert, sodass sie sie als schutzbedürftig gegenüber islamistischen Bewegungen ansahen. Hinzu kommt der Universalitäts- und Totalitätsanspruch, der im Islam angelegt ist und der dazu benutzt werden kann, alle Bereiche des öffentlichen Lebens religiösen Regeln zu unterwerfen. Die Kontrolle der Religion durch den Staat verteidigten die Verfassungsgeber also mit dem Hinweis auf die Gefahren, die von islamistisch-reaktionären Bewegungen drohen und die ­säkulare Ordnung des Staates und der Gesellschaft gefährden. Diese Gefahr für den Laizismus wiegt umso schwerer, weil der Laizismus in der Türkei untrennbar mit der Gründung der Republik, mit dem Bruch mit der osmanischen Staats- und Gesellschaftstradition, mit dem Ideal der „Verwestlichung“ verbunden ist und daher eine staatstragende und prägende Bedeutung innehat.957 Er wird als Kern und Grundlage der kemalistischen Reformen angesehen.958 Daher sahen die Verfassungsgeber die Notwendigkeit, das religiöse Leben, sofern sie über das Individuum hinausgeht, zu organisieren und zu kontrollieren. Hiermit korrespondieren die Aufrechterhaltung des Verbotes von religiösen Orden und Mausoleen, die besondere Betonung und Garantie der negativen Religionsfreiheit, der staatlich organisierte Reli956  Protokolle

der Abgeordnetenversammlung, Band 3, S. 122. Türkiyede Laiklik (Der Laizismus in der Türkei), S. 146, 152; Rumpf, Laizismus und Religionsfreiheit in der Türkei, S. 7. 958  Ozankaya, Atatürk ve Laiklik (Atatürk und der Laizismus), S. 295. 957  Özek,

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H. Grenzen der Rezeption

gionsunterricht und die Aufwertung des Präsidiums für religiöse Angelegenheiten. Letzteres versuchten die Verfassungsgeber auch mit dem Fehlen von amtlichen Instanzen und repräsentativen Organen im Islam, die sich der säkularen Staats- und Gesellschaftsordnung angepasst haben, zu legitimieren. Es gäbe, laut Enver Ziya Karal, in der Türkei keine traditionelle Geistlichkeit wie im „Westen“ (wörtlich spricht er von „geistlichen Klassen“; türk.: „ruhan sınıfları“959). Daher könne man nicht „ein paar Personen, die zusammen­ kommen“960, die Gründung von Religionsgemeinschaften zugestehen und brauche daher das Präsidium für religiöse Angelegenheiten. Bahri Savcı erklärte, das Präsidium für religiöse Angelegenheiten diene der „Kanalisierung einiger Angelegenheiten religiöser Art durch Zentralisierung, um sie vor Durcheinander und Unordnung zu retten“961, womit er auch auf die fehlenden festen Strukturen im Islam anspielte. Dabei vertraten die Befürworter des Präsidiums für religiöse Angelegenheiten die Auffassung, dass die Existenz dieser Institution den Laizismus nicht verletze, da in ihr primär keine religiöse Einrichtung zu sehen sei. Durch sie werde keine Religion indoktriniert. Sie sei nicht der Teil der politischen Organisation, kein politischer Akteur, noch nicht einmal ein öffentlicher Dienst des Staates (türk.: „âmme hizmeti“), sondern sie diene als eine Verwaltungsinstitution für religiöse Belange dazu, die religiösen Angelegenheiten zu ordnen.962 Auch der staatliche Religionsunterricht wird in diesem Zusammenhang bewertet. Es gehe nicht um eine Indoktrination einer Religion, sondern darum, die reinen, unverfälschten Prinzipien der Religion den Kindern beizubringen, deren Eltern dies möchten. Dies müsse staatlicherseits geschehen, weil weltweit eine islamische Religion vorherrsche, die „im Aberglauben und Falschglauben ersoffen ist“963. Rumpf erfasst den Regelungsgehalt der Verfassung von 1961 zutreffend, wenn er feststellt, dass die Verfassungsgeber keinen radikalen Laizismus verfolgten, sondern „einen Ausgleich zwischen den säkularistischen Staatszielen und den religiösen Individualinteressen“964 anstrebten. In der Tat waren die Bestimmungen, die die Religionen und ihre Ausübung betrafen, nicht von einer Religionsfeindlichkeit oder der Propagierung einer Gottlosigkeit geprägt. Die Verfassung versuchte nicht dem Individuum die religiösen Überzeugungen oder die traditionellen Vorstellungen auszutreiben. Sie ach959  Protokolle

der Abgeordnetenversammlung, Band 3, S. 121. der Abgeordnetenversammlung, Band 3, S. 121. 961  Protokolle der Abgeordnetenversammlung, Band 3, S. 121. 962  Protokolle der Abgeordnetenversammlung, Band 3, S. 114, 121. 963  Protokolle der Abgeordnetenversammlung, Band 3, S. 114. 964  Rumpf, Laizismus und Religionsfreiheit in der Türkei, S. 19, 20. 960  Protokolle



II. Rolle des Islam und das Verhältnis zwischen Staat und Religion289

tete die religiösen Vorstellungen des Einzelnen und die Ausübung des Glaubens und die Ausrichtung des Lebens nach diesem und versuchte diese in Einklang zu bringen mit dem staatlichen Streben nach Modernisierung und „Verwestlichung“. Insbesondere die Bestimmungen zur negativen Religionsfreiheit boten bei entsprechender Umsetzung die Möglichkeit, religiöse Minderheiten zu schützen und religiöse Gleichberechtigung zu gewährleisten. Des Weiteren hat der Verfasser ein großes Verständnis gegenüber den Sorgen der Verfassungsgeber vor dem politischen Islamismus und vor den Gefahren, die von einer fundamentalistischen, den Universalitäts- und Totalitätsanspruch umfassenden Auslegung des Islam für die freie Gesellschaft und den säkularen Staat ausgehen. Nichtsdestotrotz wiegt das Fehlen der kollektiven Religionsfreiheit schwer. Denn die individuelle Religionsfreiheit ist ohne die kollektive Religionsfreiheit nicht umsetzbar. Es ist ein Teil des Wesens der Religion, dass sie nicht nur allein und einzeln, sondern in einer Gemeinschaft gelebt wird. „Die individuelle Freiheit des Glaubens und des religiösen Bekenntnisses [vermag sich] erst in der Gemeinschaft mit anderen zu entfalten […] und insofern [setzt sie] einen gemeinsam geteilten Glauben und gemeinsame Wertvorstellungen voraus. Einer Religion als einem personell geteilten Sinnsystem hängt man nicht alleine an.“965 Diese Verschränkung von individueller und kollektiver Religionsfreiheit zeigt sich auch daran, dass der Mangel an Freiheit für die Religionsgemeinschaften als solche einhergeht mit einer unvollständigen Garantie der individuellen Religionsfreiheit. Denn mit der Ablehnung der Freiheit für Religionsgemeinschaften als solche, außerhalb staatlicher Kontrolle und in Selbstbestimmung zu existieren, verbindet sich die Ablehnung der Freiheit, sich zu solchen Reli­ gionsgemeinschaften zusammenzuschließen.966 Das Recht zum Zusammenschluss zu Religionsgemeinschaften gilt jedoch gemeinhin als eine Ausprägung der individuellen Religionsfreiheit.967 Indem die türkische Verfassung die Freiheit der Religionsgemeinschaften als solche ablehnt, fehlt ihr somit auch ein Teil der individuellen Religionsfreiheit, obwohl die türkischen Verfassungsgeber diese als gewährleistet vorgaben. Zudem stellt sich die Frage, ob die verfassungsrechtlich ermöglichte und gewollte staatliche Kontrolle über die Religionsgemeinschaften gerade über eine Einrichtung wie die des Präsidiums für religiöse Angelegenheiten verbunden mit einem Verbot von religiösen Orden und Klöstern nicht dazu beiträgt, dass sich keine amtlichen, repräsentativen Gemeindestrukturen au965  Huber,

Die korporative Religionsfreiheit, S. 167. oben auf S. 288 die bereits zitierten Äußerungen des Vorsitzenden der Verfassungskommission, Enver Ziya Karal, wonach man nicht ein paar Zusammenkommende gleich das Recht zur Gründung von Religionsgemeinschaften geben könne. 967  Czermak, Religions- und Weltanschauungsrecht, Rn. 108. 966  Siehe

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H. Grenzen der Rezeption

ßerhalb des Staates entwickeln. Die Frage gleicht der nach der Henne und dem Ei. Übernimmt der Staat die Leitung und Aufsicht religiöser Angelegenheiten, weil es keine außerstaatlichen religiösen Instanzen gibt, die dies mit „Vertretungsmacht“ und vor allem die säkulare Staatsordnung achtend und respektierend, erledigen können? Oder bilden sich keine entsprechenden repräsentativen Instanzen außerhalb der staatlichen Ordnung, weil der Staat auch den Bereich der Religion kontrolliert? Beides ist in gewisser Weise zutreffend, was die Komplexität des Regelungsgegenstandes besonders verdeutlicht. Einerseits gab und gibt es im Islam, wie bereits erörtert, keine der „Verkirchlichung“ im Christentum entsprechende, also eine vom Staat losgelöste hierarchische, repräsentative Amtlichkeit, die sich gleichzeitig der säkularen Grundordnung unterwirft. Zwar gab es zur Gründungszeit des Präsidiums für religiöse Angelegenheiten in den 1920er Jahren religiösen Gemeinschaften, Orden und Klöster, diese waren jedoch entweder mit den staatlichen Einrichtungen verwoben, oder vertraten den Anspruch auch im Bereich der Staatlichkeit eine Rolle spielen zu müssen. Dann wiederum gab es Gruppierungen, insbesondere Orden, die zwar keinen Anspruch auf die staatliche Macht erhoben, aber für ihre Mitglieder und/oder für ihr Herrschaftsgebiet die Geltung staatlicher Rechte und das Gewaltmonopol des Staates ablehnten. Es gab also in der Tat kaum religiöse Strukturen, die bereit gewesen wären, dem säkularen Staat den Kompetenzraum zu gewähren, den die Staaten im „Westen“ innehaben.968 Daher erschienen sie nicht mit dem Verständnis einen modernen Nationalstaates vereinbar. Andererseits verhindert das Verbot von religiösen Orden und Klöstern eine mögliche Entwicklung von religiöser Amtlichkeit aus diesen Orden und Klöstern heraus, die die säkulare Staatsordnung achtet und im Rahmen des ihr zugewiesenen Bereichs das religiöse Leben organisiert. Die Existenz eines staatlichen Präsidiums für religiöse Angelegenheiten verhindert ebenfalls eine entsprechende Entwicklung, indem sie den religiösen Raum füllt und die Notwendigkeit für eine außerstaatliche Organisation reduziert. Erwähnenswert ist jedoch die Tatsache, dass die Verfassungsgeber die staatliche Kontrolle des religiösen Lebens und die mangelnde kollektive Religionsfreiheit nicht als einen endgültigen Zustand ansahen, sondern vielmehr darauf bauten, dass mit der fortschreitenden Modernisierung und „Verwest­ lichung“ des Landes die Notwendigkeit staatlicher Kontrolle über das religiö­se Leben eines Tages obsolet werden würde. Die Verfassungsgeber vertraten nicht die These, dass die gesellschaftlichen und politischen Bedingungen der Türkei vom Grundsatz her per se anders sind als im „Westen“ und so bleiben 968  Rumpf,

Laizismus und Religionsfreiheit in der Türkei, S. 22.



III. Das Militär als politischer Faktor291

werden, sodass in diesem Bereich stets andere Regelungen gelten müssten. Der Grundtenor lautete nicht „der Westen ist anders“, sondern „der Westen ist weiter“. Nurettin Ardıçoğlu erklärte im Namen der Verfassungskommission, er hoffe, dass die Bedingungen des Landes es irgendwann erlauben, die Regeln, die die Kontrolle des Staates über die Religion ermöglichen, zu ändern und den Religionsgemeinschaften zu ermöglichen, sich wie im „Westen“ selbst zu verwalten. Insbesondere verwies er auf die Möglichkeit, in der Zukunft das Verbot der religiösen Orden und das Präsidium für religiöse Angelegenheiten aufzuheben, sofern dies dann „aus der Sicht des geistigen und kulturellen Niveaus des Landes keinerlei Gefahr mehr mit sich bringt“969. Inwieweit die Redner diese Aussagen wirklich ernst meinten oder doch nur zur Beschwichtigung der politischen Gegner benutzten, um eine Annahme der entsprechenden Verfassungsnormen zu erreichen, lässt sich nicht mit letzter Gewissheit feststellen. Zur Sicherung einer parlamentarischen Mehrheit war eine Beschwichtigungs- oder Vertröstungstaktik jedenfalls nicht notwendig. Denn sowohl die große Mehrheit der Abgeordneten als auch das Komitee für nationale Einheit teilten die Sorgen vor dem politischen Islamismus und waren sich der Herausforderungen, die sich aus der Geschichte des Landes und des Islam ergaben, bewusst. Die Mehrheit in der Abgeordnetenversammlung sowohl für Art. 19 TürkVerf als auch Art. 153 und Art. 154 TürkVerf war daher zu keinem Zeitpunkt gefährdet. Aus taktischer Perspektive waren entsprechende Äußerungen daher nicht zwingend erforderlich. Zudem passen diese Äußerungen auch zum Geschichts- und Weltbild der Verfassungsgeber, das geprägt war von einer Fortschritts- und Entwicklungsvorstellung, die, ideologisch untermauert durch den Revolutionismus als einer der kemalistischen Prinzipien, von einer immer weiterschreitenden Moder­nisierung und „Verwestlichung“ ausging, bis die Türkei die von Mustafa Kemal Atatürk propagierte „Höhe der zeitgenössischen Zivilisationen“ erreicht.970

III. Das Militär als politischer Faktor Neben den besonderen Herausforderungen im Umgang mit der Religion und den ideologisch bedingten Schranken des Nationalismus bewirkte auch die historisch gewachsene besondere Machtposition der Streitkräfte eine Begrenzung der Übernahme „westlicher“ Verfassungsbestimmungen. Das Militär besaß in der Türkei seit jeher eine politisch dominante und prägende 969  Protokolle 970  Siehe

der Abgeordnetenversammlung, Band 3, S. 129. S. 60.

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H. Grenzen der Rezeption

Stellung. Schon 1908/1909 waren es die Stabsoffiziere um Enver Pascha, die eine Opposition gegen den absolutistisch regierenden Sultan Abdülhamid II. (1876–1909) formierten und durch einen Aufstand die Wiedereinsetzung der zwischenzeitlich aufgehobenen Verfassung von 1876 erreichten. Ab 1919 waren es die Offiziere um Mustafa Kemal Atatürk, die die Geschicke des Landes in die Hand nahmen, 1923 die Republik ausriefen und die umfassende „Verwestlichung“ der Türkei im Sinne einer radikalen Modernisierung durchführten. Am 27. Mai 1960 waren es schließlich die jüngeren Mitglieder des Offizierskorps, die das autoritäre Regierungshandeln der Demokratischen Partei (DP) von Ministerpräsident Adnan Menderes und die damit verbundenen politischen Unruhen als Anlass zu einer Militärintervention nahmen.971 Im Zusammenhang mit der Verfassung von 1961 zeigte sich die politische Wirkung und Bedeutung der Streitkräfte in zweifacher Hinsicht. Zum einen wäre der Einfluss der Streitkräfte bei der Erarbeitung der Verfassung selbst zu nennen, zum anderen die besondere Position, die die Streitkräfte im Anschluss an die Verfassungsgebung 1960/1961 durch die Regelungen dieser Verfassung erhielten. Im Rahmen der Erörterung der Entstehungsumstände der Verfassung wurde bereits darauf hingewiesen, dass diese Verfassung nach einer Intervention seitens der Streitkräfte unter einer Militärregierung erarbeitet worden ist. Die Folge war, dass die militärische Führung insbesondere durch das Komitee für nationale Einheit aktiv in die Verfassungsentstehung eingriff und diese mitprägte. Dies wurde insbesondere bei der inhaltlichen Untersuchung der Verfassung an verschiedenen Stellen dieser Arbeit dargelegt. An dieser Stelle maßgeblich ist die Rolle des Militärs im politischen System der Verfassung von 1961. Denn die traditionell dominante Stellung des Militärs als politischer Faktor schlug sich in den Artikeln der Verfassung von 1961 nieder, insbesondere in denen, die die Streitkräfte unmittelbar betrafen. Dadurch wirkte sie in diesem Regelungsbereich als Bremse und Begrenzung für die Rezeption „westlicher“ Verfassungsrechte. Der politischen Dominanz der Streitkräfte wurde insbesondere im Bereich der Staatsorganisation Rechnung getragen. Der Verfassungsgeber schuf Regelungen, die dem Militär Möglichkeiten der Einflussnahme auf und der Kontrolle über die Exekutive und Legislative geben. Zu diesen Regelungen gehört insbesondere Artikel 111 TürkVerf. Gemäß diesem Artikel wurde ein Nationaler Sicherheitsrat (türk.: „Milli Güvenlik Kurulu“) gegründet, der aus den zuständigen Ministern, dem Generalstabschef und den obersten Generälen des Heeres, der Luftwaffe und der Marine besteht (Artikel 111 Absatz 1 TürkVerf). Den Vorsitz hat der Staatspräsident inne, der vom Ministerpräsidenten vertreten werden kann (Artikel 111 Absatz 2 TürkVerf). Dieser Rat 971  Hirsch, Verfassung der Türkischen Republik, S. 34; Toynbee, Die Welt und der Westen, S. 29.



III. Das Militär als politischer Faktor293

hat die Aufgabe „im Bereich der nationalen Sicherheit seine Ansichten dem Regierungskabinett mitzuteilen, um bei der Entscheidungsfindung und Gewährleistung der Koordination behilflich zu sein“ (Artikel 111 Absatz 3 TürkVerf). Nun ist ein Gremium, in dem die dafür verantwortlichen Personen die Verteidigungslage des Landes analysieren und daraus entsprechende politische Rückschlüsse ziehen, nicht außergewöhnlich. Die Verfassungskommission hielt in der Begründung zu ihrem Verfassungsentwurf zutreffend fest, dass es entsprechende Institutionen in fast allen „modernen Staaten“ gibt.972 In den Verhandlungen in der Abgeordnetenversammlung trug der Abgeordnete Abdülkadir Okyay vor, dass es entsprechende Organe auch in Großbritannien, den USA, Japan oder Italien gibt.973 Ähnliche Gremien existierten auch in der Türkei mit wechselnden Kompetenzen und unter verschiedenen Namen bereits seit 1933, ohne jedoch Verfassungsrang zu besitzen. Auf den ersten Blick könnte man daher zu dem Schluss kommen, dass hier lediglich eine auch im „Westen“ weit verbreitete Institution unter Bezugnahme auf „westliche“ Verfassungsvorbilder nun mit Verfassungsrang versehen wurde. Auf den zweiten Blick erkennt man aber, dass hier nicht einfach ein Organ zur verteidigungspolitischen Beratung und Analyse in der Verfassung Erwähnung findet, welches im Verantwortungs- und Gestaltungsbereich der Regierung oder des Parlamentes steht, wie dies in einigen „westlichen“ Verfassungen der Fall ist. Der türkische Verfassungsgeber ging weiter und gab dadurch dem Nationalen Sicherheitsrat eine andere Qualität als sie äquivalente Gremien im „Westen“ haben. Schon die Erhebung eines solchen Gremiums in den Rang eines Verfassungsorgans ist keine Selbstverständlichkeit. Bereits dadurch wird ihr ein höherer Stellenwert zugesprochen und zumindest in der Frage ihrer grundsätzlichen Existenz dem einfachen Gesetzgeber entzogen. Wie bereits gesagt, ist es zwar richtig, dass fast jedes Land eine entsprechende Institution besitzt, aber in vielen Staaten ist sie nicht verfassungsrechtlich legitimiert und abgesichert. Beispielsweise im deutschen Grundgesetz von 1949, in der griechischen Verfassung von 1952 oder in der japanischen Verfassung von 1947 findet ein solches Gremium keine Erwähnung. Die Einrichtung und Ausgestaltung einer solchen Institution liegt in diesen Staaten im Ermessen des einfachen Gesetzgebers. Auch im Vergleich mit den Ländern, in denen dieses Gremium in der Verfassung eine Erwähnung findet, ergeben sich entscheidende Unterschiede zur türkischen Gestaltung. Die italienische Verfassung von 1947/1948 erwähnt den „Obersten Verteidigungsrat“ in Artikel 87 im Rahmen der Kompetenzen 972  Begründung 973  Protokolle

zum Entwurf der Verfassungskommission, S. 40. der Abgeordnetenversammlung, Band 3, S. 567.

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H. Grenzen der Rezeption

des Präsidenten. Demnach hat der Präsident im „Obersten Verteidigungsrat“ den Vorsitz inne. Die genaue Gestaltung des Rates im Hinblick auf Mitgliedschaft beziehungsweise Zugehörigkeit, Funktion und Zuständigkeit bleiben anders als in der türkischen Verfassung von 1961 dem einfachen Gesetzgeber und dem Präsidenten der Republik überlassen. Auch die französischen Verfassungen von 1946 und von 1958 nennen das „Komitee für Nationale Verteidigung“ nur im Kontext mit den Kompetenzen des Präsidenten beziehungsweise Premierministers, die dort den Vorsitz beziehungsweise stellvertretenden Vorsitz innehaben (Artikel 33 der französischen Verfassung von 1946; Artikel 15 und 21 der französischen Verfassung von 1958), und machen keine Vorgaben bezüglich Aufgabe und konkreter Ausgestaltung. Allen „westlichen“ Demokratien ist in diesem Punkt gemein, dass sie Gestaltung, Funktion und Aufgabe von solchen Institutionen dem einfachen Gesetzgeber überlassen. Diese Gremien dienen dort der verteidigungspolitischen Absprache und dem informationellen Austausch über die militärische und außenpolitische Lage. Sie haben eine für die Regierung dienende, genauer beratende Funktion. Um das deutsche Beispiel wieder aufzugreifen, gibt es in Deutschland einen „Bundessicherheitsrat“, der nur aus Ministern besteht. Der Generalinspekteur der Bundeswehr kann von den Ministern beratend herangezogen werden. Der „Bundessicherheitsrat“ fällt in den Gestaltungsraum der Bundesregierung und des Bundestages und dient der Entscheidungsvorbereitung in verteidigungspolitischen Fragen durch regierungsinterne Information und Absprache.974 Artikel 111 TürkVerf hingegen legt fest, dass der Generalstabschef und die obersten Generäle nicht nur beratend herangezogen werden können, sondern gleichrangig mit den Ministern im Nationalen Sicherheitsrat vertreten sind. Sowohl die Zugehörigkeit als auch die Funktion und der Zweck dieses Rates gab der Verfassungsgeber vor und entzog sie der Disposition des einfachen Gesetzgebers. Zudem beschränkt sich ihre Funktion nicht nur auf außenpolitische und militärische Verteidigungsfragen, sondern sie kann in allen Bereichen Stellungnahmen abgeben, die die „nationale Sicherheit“ betreffen beziehungsweise von ihren Mitgliedern als Angelegenheit der „nationalen Sicherheit“ betrachtet werden. Hier muss besonders auf den Unterschied zwischen der „nationalen Verteidigung“ und der „nationalen Sicherheit“ verwiesen werden. In den meisten Staaten ist im Zusammenhang mit diesem Gremium von „Verteidigung“ die Rede und nicht von „Sicher­ heit“.975 Genauso wie im Deutschen gibt es auch im Türkischen einen semantischen Unterschied zwischen „Verteidigung“ (türk.: „savunma“) und „Sicherheit“ (türk.: „güvenlik“). Während „Verteidigung“ (türk.: „savunma“) im politischen Sprachgebrauch primär die Abwehr der militärischen Bedro974  Steinberg, Abrüstungs- und Rüstungskontrollverwaltung in der Bundesrepublik Deutschland, S. 106, 107. 975  Eine Ausnahme bildet Deutschland mit seinem „Bundessicherheitsrat“.



III. Das Militär als politischer Faktor295

hung von außen bezeichnet, ist „Sicherheit“ (türk.: „güvenlik“) viel umfassender und auch der Auslegung zugänglicher. Je nach Deutung kann die nationale Sicherheit nicht nur durch fremde Armeen als bedroht angesehen werden, sondern auch durch Kriminalität, durch Ideologien, durch politische Bewegungen im Innern, durch Regierungs- oder Wirtschaftskrisen. Somit kann die militärische Führung zu Themen aus verschiedenen Politikbereichen den Nationalen Sicherheitsrat für zuständig ansehen und über diesen Druck auf die Regierung ausüben. Dass dies auch dem türkischen Verfassungsgeber bewusst war, zeigt sich daran, dass die Verfassungskommission gemäß ihrem Verfassungsentwurf ursprünglich die Bezeichnung „Hoher nationaler Verteidigungsrat“ (türk.: „Milli Savunma Yüksek Kurulu“) vorsah und den Zuständigkeitsbereich dieses Gremiums auf die Landesverteidigung (türk.: „yurt müdafaası“) begrenzt wissen wollte.976 Die eingangs erwähnte Berufung der Verfassungskommission und einiger Abgeordneter auf Vorbilder im „Westen“ bezog sich auf diese ursprünglich vorgesehene Fassung dieses Artikels. Aber auf Wunsch des Komitees für nationale Einheit wurden Bezeichnung und Funktionsbeschreibung im Laufe der Verfassungsberatungen geändert.977 Mit der endgültigen Fassung von Artikel 111 TürkVerf schuf der Verfassungs­ geber eine Institution, in der die militärische Führung unmittelbar Einfluss auf die Regierung ausüben kann und die in Form und Ausgestaltung keine Übernahme aus dem „Westen“ darstellt. Eine weitere politische Einflussmöglichkeit für das Militär ergibt sich aus Artikel 70 Absatz 2 TürkVerf. Demnach gehören der neu eingeführten zweiten Kammer des türkischen Parlaments, dem Senat der Republik, zusätzlich zu den durch allgemeine Wahlen bestimmten Mitgliedern auch die ehemaligen Staatspräsidenten und die Mitglieder des Komitees für nationale Einheit an. Dabei gelten die Staatspräsidenten, die nach ihrer Amtszeit in den Senat einziehen, und die Mitglieder des Komitees für nationale Einheit als „natürliche“ (türk.: „tabii“) Mitglieder. Dies bedeutet, dass sie auf Lebenszeit und ohne sich einer Wahl beziehungsweise einer Wiederwahl stellen zu müssen Mitglieder des Senats sind. Nun ist es für „westliche“ Demokratien nicht außergewöhnlich, dass in einem Zweikammersystem in der zweiten Kammer des Parlaments Mitglieder auf Lebenszeit existieren. Beispielsweise sieht auch Artikel 59 der italienischen Verfassung von 1947/1948 vor, dass die Staatspräsidenten nach ihrem Ausscheiden aus dem Amt zu Senatoren auf Lebenszeit werden. Zudem darf der italienische Staatspräsident bis zu fünf Staatsbürger, die sich Verdienste um das Vaterland erworben haben, zu Senatoren auf Lebenszeit ernennen. In Großbritannien haben gar sämtliche weltlichen Mitglieder des House of Lords einen Sitz auf Lebenszeit. Meistens 976  Begründung 977  Protokolle

zum Entwurf der Verfassungskommission, S. 40. der Abgeordnetenversammlung, Band 5, S. 490.

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H. Grenzen der Rezeption

versprechen sich die Verfassungsgeber mit solchen Regelungen eine von Wahlen und Wahlkämpfen unabhängige politische Kontinuität und erfahrenen, überparteilichen Sachverstand, da regelmäßig Persönlichkeiten zu Senatoren auf Lebenszeit ernannt werden, die sich durch besondere Verdienste im wissenschaftlichen, künstlerischen, sozialen oder politischen Bereich ausgezeichnet haben. Die Verfassungskommission begründete diese Regelung bezogen auf die Staatspräsidenten, die nach ihrer Amtszeit auf Lebenszeit in den Senat einziehen sollen, denn auch damit, dass sie der Ansicht ist, dass der Einzug von Persönlichkeiten, die eine „aus dem Wissen und der Erfahrung vermittelte Reife besitzen, den Nutzen, den man von der zweiten Kammer erwartet, vergrößern wird“978. Das Besondere an der türkischen Verfassung ist deshalb nicht die grundsätzliche Existenz von Senatsmitgliedern auf Lebenszeit, sondern die Besetzung eines Teils dieser Sitze mit den Generälen des Komitees für nationale Einheit. Die Komitee-Mitglieder werden bezüglich der Senatsmitgliedschaft genauso behandelt wie die zukünftigen Staatspräsidenten, die aus dem Amt scheiden werden. Im Zuge dieser Regelung zogen 22 Generäle aus dem Komitee für nationale Einheit in den Senat der Republik ein. Diese Zahl ist mit Blick auf die Gesamtgröße des Senats, der neben den Senatoren auf Lebenszeit aus 150 gewählten und 15 vom Staatspräsidenten ernannten Mitgliedern besteht, nicht zu unterschätzen. Die 22 Generäle entsprechen 11,76 % der gesamten Senatsmandate, wodurch sie bei etwas knapperen Wahlausgängen die entscheidende Position der Mehrheitsbeschaffer innehaben. Zwar verlieren die Komiteemitglieder durch den Einzug in den Senat ihren Status als Militärangehörige, sodass sie nicht gleichzeitig Generäle und Senatsmitglieder werden, mithin keine Mitgliedschaft von aktiven Militärangehörigen in der Legislative vorliegt. Dennoch wird somit die Militärregierung als eines der Gremien der Verfassungsgebung zu einem nicht zu unterschätzenden Bestandteil der Legislative der durch die Verfassung von 1961 neu konstituierten Ordnung. Die Verfassungskommission begründete dies wie folgt: „Es besteht kein Zweifel, dass der Vorsitzende des Komitees für nationale Einheit und dessen Mitglieder wie bereits bei der Gründung der demokratischen Ordnung […] auch bei deren Durchsetzung wertvolle Dienste leisten können“979. Verweise auf entsprechende Vorbilder in „westlichen“ Verfassungen gibt es hierfür in den Quellen nicht, da sich eine vergleichbare Regelung in den „westlichen“ Demokratien auch nicht finden lässt. Dieser Einfluss der Generäle auf die Legislative sollte ursprünglich sogar noch größer sein. Denn im Komitee für nationale Einheit kam während der Verfassungsberatungen die Idee auf, allen Generalstabschefs die Möglichkeit 978  Begründung 979  Begründung

zum Entwurf der Verfassungskommission, S. 33. zum Entwurf der Verfassungskommission, S. 52.



III. Das Militär als politischer Faktor297

zu geben, nach ihrer aktiven Zeit als Kommandanten der Streitkräfte zu Senatoren auf Lebenszeit zu werden. Dies wurde nicht umgesetzt, da die Verfassungskommission und eine große Mehrheit der Abgeordnetenversammlung eine solche Regelung ablehnten. Sie brachten deutlich zum Ausdruck, dass sie um die demokratische Legitimation des Senats fürchten. Hierbei argumentierten sie nicht mit konkreten „westlichen“ Verfassungsvorbildern, sondern allgemein mit den Erfordernissen einer Demokratie. Der Abgeordnete Fahri Belen sprach davon, dass „die zweiten Kammern, die ihre Quellen von der [staatlichen] Autorität erlangen, eine Bremse für die Demokratie und Volkssouveränität sind, wohingegen die zweiten Kammern, die sich auf den Volkswillen stützen, der Demokratie den Weg weisen“980. Daher müsse die Zahl der Senatsmitglieder, die nicht durch Wahlen vom Volk bestimmt werden, stark begrenzt werden.981 Der Abgeordnete Cemil Sait Barlas nahm dies auf und erklärte, dass der Senat nicht die „Aufgabe eines Sicherheitsventils“982 habe, also nicht der Begrenzung der Volkssouveränität, sondern ihrer Durchsetzung diene. Deshalb müsse der Senat in seiner großen Mehrheit vom Volk gewählt werden. Zudem müsste, wenn man den Generalstabschefs nach ihrer Amtszeit den automatischen Zugang zum Senat gewährt, der Gerechtigkeitswillen dieser Zugang auch anderen Personen in gesellschaftlich wichtigen Positionen zustehen, zum Beispiel Universitätsrektoren. Dies würde zu einer großen Aufblähung des Senats führen.983 Die Verfassungskommission verwies zudem auf die Möglichkeit, dass Generalstabschefs, die besondere Verdienste um das Vaterland erworben haben, über das Kontingent des Staatspräsidenten, welcher gemäß Art. 70 Abs. 1 TürkVerf 15 Senatsmitglieder ernennen darf, Eingang in den Senat finden können, und versuchte so die Situation zu entschärfen.984 Im Ergebnis konnten sich Abgeordnetenversammlung und Verfassungskommission in diesem Punkt durchsetzen und die Aufnahme dieser Bestimmung in die Verfassung verhindern. Die Diskussion über diesen Vorschlag im Komitee für nationale Einheit illustriert jedoch die Vorstellung der militärischen Führung von ihrer Rolle im politischen System und führt zu einem zweiten Aspekt des Verhältnisses zwischen den Streitkräften und den zivilen Verfassungsorganen. Denn bei den Verhandlungen über diese Bestimmung im Komitee für nationale Einheit kam es vor allem zu Diskussionen darüber, ob eine bestimmte Amtszeit als Generalstabschef zur Voraussetzung für dessen eventuelle Mitgliedschaft im Senat gemacht werden soll und wie lang diese Amtszeit gegebenenfalls sein 980  Protokolle

der Abgeordnetenversammlung, der Abgeordnetenversammlung, 982  Protokolle der Abgeordnetenversammlung, 983  Protokolle der Abgeordnetenversammlung, 984  Protokolle der Abgeordnetenversammlung, 981  Protokolle

Band 5, Band 5, Band 5, Band 5, Band 5,

S. 476. S. 476. S. 477. S. 477. S. 475.

298

H. Grenzen der Rezeption

soll. Dabei argumentierten mehrere Mitglieder des Komitees für nationale Einheit, dass eine Anknüpfung an eine bestimmte Amtszeit als Generalstabschefs für die Mitgliedschaft im Senat dazu führen könnte, dass Regierungen unliebsamen Generalstabschefs den Zugang zum Senat verwehren könnten, indem sie versuchen deren Amtszeit zu verkürzen. Dies müsse vermieden werden.985 Das Komitee-Mitglied Mehmet Özgüneş sprach ganz offen davon, dass der Generalstabschef, dessen späterer Sitz im Senat sicher sei, „freier und kämpferischer“986 wäre. Die Gedankenwelt, die hinter diesen Redebeiträgen steckt, zeigt, dass die Komitee-Mitglieder ein Verständnis vom Verhältnis zwischen Militär und zivilen Institutionen haben, das nicht nur, wie oben bereits gezeigt, geprägt ist von politischen Kontroll- und Einflussmöglichkeiten für die militärische Führung, sondern auch von einer Autonomie der Streitkräfte im Innern gegenüber den zivilen Verfassungs­ institutionen. In „westlichen“ Demokratien ist es selbstverständlich, dass ein der Regierung unliebsamer Generalstabschef gar nicht Generalstabschef werden beziehungsweise bleiben kann, da er dieser unterstellt und von dieser abhängig ist. Schon die Tatsache, dass das Komitee von der Existenz eines der Regierung unerwünschten Generalstabschefs ausging, zeigt, dass sie nicht von einer übergeordneten Rolle der Regierung gegenüber den Streitkräften ausging. Eine Unterordnung der militärischen Führung unter die Exe­ kutive sowie eine Kontrolle dieser durch die Legislative und durch zivile Gerichte ist in dieser Vorstellung nicht enthalten. Auch wenn diese Ansichten hier nicht zum Tragen kamen, da die Abgeordnetenversammlung generell die Senatsmitgliedschaft von ehemaligen Generalstabschefs auf Lebenszeit ablehnte, war sie dennoch für die Verfassung von 1961 prägend. Denn die Komitee-Mitglieder trugen auch an anderen Stellen der Verfassung Sorge dafür, dass das Ziel einer weitgehenden Unabhängigkeit der Streitkräfte von zivilen Institutionen erreicht wurde. Zu diesen Stellen gehören Artikel 138 und 141 TürkVerf, in denen der Verfassungsgeber ausführlich die Militärgerichtsbarkeit normierte. Gemäß Artikel 138 Absatz 1 TürkVerf sind Militärgerichte zuständig für Strafverfahren gegen Soldaten im Zusammenhang mit Militärstraftaten, mit Straftaten, die gegen andere Soldaten oder auf militärischem Boden begangen werden, sowie für Straftaten, die im Zusammenhang mit dem Militärdienst und sonstigen militärischen Pflichten stehen. Eine darüberhinausgehende Zuständigkeit in Kriegs- und Notstandsfällen soll einfachgesetzlich geregelt werden (Artikel 138 Absatz 3 TürkVerf). Daneben können die Militärgerichte 985  Protokolle

des Komitees für nationale Einheit, Band 6, 83. Zusammenkunft,

986  Protokolle

des Komitees für nationale Einheit, Band 6, 83. Zusammenkunft,

S. 11.

S. 12.



III. Das Militär als politischer Faktor299

nach Artikel 138 Absatz 2 TürkVerf auch in Friedenszeiten Zivilisten aburteilen, sofern sie vom Gesetzgeber dazu ermächtigt werden (Artikel 138 Absatz 2 TürkVerf). Gründung und Verfahren der Militärgerichtsbarkeit werden gemäß Artikel 138 Absatz 5 TürkVerf gesetzlich geregelt. Die Verfassungskommission erklärte in der Begründung zu ihrem Verfassungsentwurf zu diesem Artikel, der auch in der endgültigen Verfassung inhaltlich unverändert blieb, dass in diesem, „wie in vielen Verfassungen auch“987, die Gründung und die Aufgaben der Militärgerichte geregelt werden. Dies ist insofern richtig, dass in der Tat viele „westliche“ Verfassungen die Militärgerichtsbarkeit ansprechen, wobei es auch Gegenbeispiele gibt, wie zum Beispiel die französischen Verfassungen von 1946 und 1958, die diesen Bereich ganz dem einfachen Gesetzgeber überlassen. Aber auch der Vergleich mit den Verfassungen, die Bestimmungen über die Militärgerichtsbarkeit enthalten, zeigt, dass hier keine Rezeption einer „westlichen“ Regelung stattgefunden hat. Die türkische Bestimmung ist ausführlicher und in seiner Bedeutung weitgehender als man es von entsprechenden Artikeln in Verfassungen des „Westens“ gewohnt ist. Konkret entzieht Artikel 138 Absatz 1 TürkVerf auch in Friedenszeiten die Soldaten weitgehend der Gerichtsbarkeit ziviler Strafgerichte, indem er die Militärgerichte nicht nur für Militärstraftaten zuständig erklärt, sondern generell für Straftaten, die gegen andere Soldaten, auf militärischem Boden oder im Zusammenhang mit dem Militärdienst und sonstigen militärischen Pflichten begangen werden. Dies führt dazu, dass Soldaten praktisch stets vor Militärgerichten angeklagt werden müssen, da man sehr häufig Anknüpfungspunkte zu einem der Fallgruppen konstruieren kann. In dieser weitgehenden Form gibt es eine solche Regelung in keiner „westlichen“ Verfassung. Die italienische Verfassung von 1947/1948 erklärt Militärgerichte nur für Militärstraftaten zuständig (Artikel 103 Absatz 3), das deutsche Grundgesetz von 1949 erlaubt die Ausübung der Gerichtsbarkeit durch Militärgerichte in Friedenszeiten nur über Angehörige der Streitkräfte, die in das Ausland entsandt oder an Bord von Kriegsschiffen eingeschifft sind (Artikel 96a Absatz 1). Andere Verfassungen überlassen die Kompetenzabgrenzung zwischen zivilen und Militärgerichten dem einfachen Gesetzgeber (beispielsweise Artikel 97 Absatz 1 der griechischen Verfassung von 1952). Keine „westliche“ Verfassung gesteht den Militärgerichten einen so großen Kompetenzbereich zu wie die türkische Verfassung von 1961. Flankiert wird Artikel 138 TürkVerf von Artikel 141 TürkVerf, der einen Militärkassationshof (türk.: „Askeri Yargıtay“) vorsieht, welcher gemäß Absatz 1 Satz 1 letztinstanzlich für Militärstrafverfahren zuständig ist. Gemäß Absatz 1 Satz 3 können zu Mitgliedern des Militärkassationshofs nur solche Personen berufen werden, die mindestens zehn Jahre als Militärrichter oder 987  Begründung

zum Entwurf der Verfassungskommission, S. 47.

300

H. Grenzen der Rezeption

Militärstaatsanwalt tätig gewesen sind. Dieser Militärkassationshof steht unter dem Titel „Hohe Gerichte“ (türk.: „Yüksek Mahkemeler“) neben dem Staatsrat als oberstes Verwaltungsgericht (türk.: „Daniştay“) und dem Kassationshof als oberstes Gericht in Zivil- und Strafsachen (türk.: „Yargıtay“) und hat somit in der türkischen Gerichtsorganisation den gleichen Rang wie diese und ist diesen nicht unterstellt. Auf diesem Wege ist garantiert, dass Militärstrafverfahren durchgängig im Rahmen der militärischen Gerichtsbarkeit behandelt werden und nicht der ordentlichen Gerichtsbarkeit zugänglich sind. Verstärkt wird die Autonomie der Streitkräfte durch die Methode der Besetzung der Richterstellen im Militärkassationshof. Zwar überlässt die Verfassung nach Artikel 141 Absatz 2 TürkVerf die Gründung und die Festlegung des Gerichtsverfahrens dem Gesetzgeber. Jedoch bestimmt das einmal gegründete Gericht danach seine Richter selbst. Für jede freigewordene Richterstelle benennen die amtierenden Richter mit absoluter Mehrheit des Plenums drei Kandidaten, aus denen der Staatspräsident einen auswählen und zum Richter des Militärkassationshofs berufen muss (Artikel 141 Absatz 1 Satz 2 TürkVerf). In keiner anderen vom Verfasser untersuchten Verfassung findet sich ein oberster militärischer Kassationshof, der für Berufungen oder Revisionen gegen Urteile der Militärgerichtsbarkeit zuständig ist. In den allermeisten Staaten wird die Regelung des militärgerichtlichen Verfahrens dem einfachen Gesetzgeber überlassen, einige Verfassungen benennen das zivile oberste Gericht als letzte Instanz für Militärverfahren (zum Beispiel ist in Deutschland gemäß 96a Absatz 3 Grundgesetz der Bundesgerichtshof oberste Instanz für Verfahren vor den Wehrstrafgerichten). Ein dem obersten Verwaltungsgericht und dem obersten Gerichtshof der ordentlichen Gerichtsbarkeit als gleichrangig zur Seite gestelltes Militärgericht ist in keiner „westlichen“ Verfassungsordnung des 20. Jahrhunderts vorhanden. Daher ist es nur folgerichtig, dass sich in den Quellen keine Nachweise hinsichtlich einer Rezeption „westlicher“ Verfassungsnormen befinden. Mit den Bestimmungen zu den Militärgerichten und dem Militärkassa­ tionshof schuf der Verfassungsgeber einen verfassungsrechtlich gesicherten militärischen Rechtsweg und entzog die Streitkräfte weitgehend der zivilen Strafgerichtsbarkeit. Aus den Protokollen der Verfassungsverhandlungen im Komitee für nationale Einheit geht hervor, dass die Generäle sicherstellen wollten, dass nur Soldaten über Soldaten urteilen.988 Somit erhielten die Streitkräfte eine Autonomie gegenüber zivilen Institutionen und waren vor der justiziellen Kontrolle durch zivile Strafgerichte weitgehend geschützt.

988  Protokolle des Komitees für nationale Einheit, Band 6, 86. Zusammenkunft, S. 15–16.



III. Das Militär als politischer Faktor301

In eine Reihe mit diesen Verfassungsnormen lassen sich die Bestimmungen über den Generalstabschef stellen. Art. 110 Abs. 4 S. 2 TürkVerf legt fest, dass der Generalstabschef dem Ministerpräsidenten gegenüber verantwortlich ist und nicht dem Verteidigungsminister, wie es in „westlichen“ Verfassungen üblich ist und wie es auch unter der türkischen Verfassung von 1924 noch gehandhabt wurde. Die Zuweisung des Generalstabschefs an das Verteidigungsministerium stellt die rechtliche Grundlage für die tatsächliche Unterordnung des Generalstabschefs unter den zivilen Verteidigungsminister dar und gilt als eines der Hauptkriterien für die Kontrolle der zivilen Verfassungsorgane über die Streitkräfte.989 In der Abgeordnetenversammlung gab es daher zu diesem Punkt große Diskussionen. Einige Abgeordnete vertraten die Ansicht, dass der Generalstabschef weiterhin dem Verteidigungsminister gegenüber verantwortlich sein müsse und dem Verteidigungsministerium angegliedert werden sollte. Zutreffend argumentierten sie, dass dies in allen anderen NATO-Staaten so gehandhabt werde. Die Türkei als Teil der NATO solle sich daran orientieren und den Generalstabschef dem Verteidigungsminister, seinem „westlichen Platz“990 zuweisen. Auch die Verfassungskommission vertrat diese Ansicht und fand die vom Komitee für nationale Einheit geforderte Bindung an den Ministerpräsidenten „aus der Sicht der Grundsätze des Staatsrechts als nicht passend“991. Die Mehrheit der Abgeordneten war jedoch anderer Meinung und folgte dem Wunsch des Komitees für nationale Einheit. Sie entschied sich dafür, den Generalstabschef dem Ministerpräsidenten zuzuweisen und diesem gegenüber für verantwortlich zu erklären. Als Gründe für diese Verlagerung der Verantwortlichkeit des Generalstabschefs von der Ebene des Verteidigungsministers auf die Ebene des Ministerpräsidenten treten in den Verhandlungen in der Abgeordnetenversammlung zwei Aspekte hervor. Zum einen argumentierten einige Redner, dass sie damit eine symbolische Aufwertung des Generalstabschefs verbinden, mit der dann auch ein größerer Einfluss einhergeht. Muammer Aksoy sprach in diesem Zusammenhang von einem „psychologischen Nutzen“992. Der Abgeordnete Abdülkadir Okyay erklärte, dass der Generalstabschef alleine durch die verfassungsrechtliche Bindung an das Amt des Ministerpräsidenten innerhalb der Staatsorganisation an Statur und an Einfluss gewinnen würde und ihn dadurch andere Stellen im verwaltungstechnischen Alltag zuvorkommend behandeln müssten.993 989  Jenkins,

The Turkish Military, S. 44. der Abgeordnetenversammlung, 991  Protokolle der Abgeordnetenversammlung, 992  Protokolle der Abgeordnetenversammlung, 993  Protokolle der Abgeordnetenversammlung, 990  Protokolle

Band 3, Band 5, Band 3, Band 3,

S. 548. S. 488. S. 559. S. 554.

302

H. Grenzen der Rezeption

Zum anderen wollten die Befürworter der Bindung an den Ministerpräsidenten dadurch erreichen, dass der Generalstabschef nicht einem Minister und somit nicht der Kontrolle durch eine Ministerialbürokratie unterstellt wird. Insbesondere verwiesen viele Abgeordnete auf die Erfahrungen der Vergangenheit. Das Verteidigungsministerium unter der quasidiktatorischen Regierung von Adnan Menderes habe Parteipolitik in die Streitkräfte hineingetragen und sich in alle Belange des Militärs, von Beförderungen bis Materialbeschaffung eingemischt.994 Bei Beibehaltung der alten Regelung drohe nach Meinung von Fahri Belen eine Situation, in der sich der Verteidigungsminister einen „zu ihm passenden, fügsamen Generalstabschef“995 suchen werde. Der Abgeordnete Hüseyin Atman erklärte, den türkischen Streitkräften sei durch die Vorgängerregierung metaphorisch gesprochen „sämtliche Waffen geraubt wurden“996. Das Ziel müsse es sein, das Militär außerhalb des Einflussbereiches der Politik zu halten.997 Die Sorge der Verfassungsgeber vor einem Hineintragen von parteipolitischen Interessen in die Streitkräfte kann man verstehen und teilen, gerade im Lichte der Vergangenheit. Die Durchdringung der Streitkräfte durch Parteipolitik ist sowohl für das Militär als auch für die Politik schädlich. Die Schlussfolgerung jedoch, die die Verfassungsgeber daraus gezogen haben, führt zu einer Schwächung des Primats der Politik über das Militär. Mit anderen Worten lehnten die Mehrheit der Abgeordneten und das Komitee für nationale Einheit die politische Vormachtstellung des aus zivilen Politikern besetzten beziehungsweise gelenkten Verteidigungsministeriums über den Generalstab ab. Die in „westlichen“ Demokratien übliche Unterordnung des Generalstabes unter das Verteidigungsministerium und die politische Abhängigkeit von dieser sahen sie als unerwünschte Politisierung der Streitkräfte. Sie befürworteten eine autonomere Stellung des Generalstabs. In der Bindung des Generalstabschefs an den Ministerpräsidenten sahen sie eine Möglichkeit dies verfassungsrechtlich zu fördern, da der Generalstab dadurch keinem Minister und keiner gewachsenen Bürokratie unterstellt ist. Es gab im Rahmen der Verfassungsentstehung sogar Überlegungen den Streitkräften eine noch größere Autonomie zuzugestehen. Der Entwurf der Juristischen Fakultät der Universität Istanbul sah für die Wahl des General­ stabschefs vor, dass ein aus höheren Generälen bestehender Militärrat drei Kandidaten bestimmen soll, aus denen der Staatspräsident einen zum Generalstabschef ernennen muss. Dies lehnte sowohl die Verfassungskommission als auch die Abgeordnetenversammlung ab. Die Verfassungsgeber sahen 994  Protokolle

der Abgeordnetenversammlung, der Abgeordnetenversammlung, 996  Protokolle der Abgeordnetenversammlung, 997  Protokolle der Abgeordnetenversammlung, 995  Protokolle

Band 3, Band 5, Band 3, Band 3,

S. 550, 563. S. 489. S. 550. S. 563.



III. Das Militär als politischer Faktor303

durch diesen Vorschlag die demokratische Legitimation der staatlichen Institutionen gefährdet. Der Kommissionssprecher Muammer Aksoy erklärte, dass die vom Parlament völlig unabhängige Berufung des Generalstabschefs durch die Streitkräfte nicht mit der „demokratischen Ordnung in Einklang zu bringen ist“998. Auch das Komitee für nationale Einheit setzte sich nicht für diese Lösung ein. Daher entschieden sich die Verfassungsgeber dafür, dass der Generalstabschef vom Regierungskabinett vorgeschlagen und vom Staatspräsidenten ernannt wird und somit für eine Art der Wahl des Generalstabschefs, die formaljuristisch demokratischen Ansprüchen genügt (Artikel 110 Absatz 4 TürkVerf). Es zeigt sich, dass die Rolle der Streitkräfte im politischen System der Verfassung von 1961 von zwei sich gegenseitig bedingenden Elementen geprägt ist. Hierzu gehört der Umstand, dass die militärische Führung Kontrollund Einflussmöglichkeiten auf die Legislative und Exekutive erhält, womit eine Grundlage für eine weiterhin wichtige Rolle der militärischen Führung im politischen Raum gelegt wird. Der zweite Punkt ist die Sicherstellung einer im Vergleich zu den Verfassungsordnungen im „Westen“ relativ großen Autonomie der Streitkräfte im Innern. Sie entziehen sich einer effektiven Kontrolle durch die zivilen Institutionen, insbesondere durch die zivilen Gerichte. Denn nur durch diese Autonomie können sie sicherstellen, dass sie ihre Einfluss- und Kontrollmöglichkeiten tatsächlich nutzen können. Dieser Einfluss auf die politischen Akteure stellt wiederum sicher, dass die zivilen Institutionen die Autonomie der Streitkräfte achten und diese nicht ihrem Primat unterstellen. Der Grund für diese besondere Rolle des Militärs ist in der historischen Entwicklung der Türkei zu finden. Ähnlich wie in Russland war auch in der Türkei das Offizierskorps der Ausgangspunkt und Antreiber der Modernisierung und Veränderung.999 Toynbee bemerkt zutreffend, dass anders als in Westeuropa, wo das Militär fast immer ein Hort des Konservatismus oder sogar der Reaktion gewesen ist, in der Türkei und in Russland die Offiziere „die typischen Vertreter der revolutionären Verwestlichung“1000 gewesen sind. In der Türkei ist laut Toynbee eine der Hauptursachen hierfür der Umstand, dass im 19. Jahrhundert die türkischen Offiziere Zugang zur Sprache und Kultur des „Westens“ hatten und hierüber auch die politischen Ideen und Prinzipien des „Westens“ verinnerlichten.1001 Die Überlegenheit, die die 998  Protokolle

der Abgeordnetenversammlung, Band 3, S. 559. Türk Siyasal Sisteminde 1960 Müdahalesi Üzerine Bir Analiz Denemesi (Ein Analyseversuch über die Intervention von 1960 im türkischen Politiksystem), S. 94; Toynbee, Die Welt und der Westen, S. 28. 1000  Toynbee, Die Welt und der Westen, S. 28. 1001  Toynbee, Die Welt und der Westen, S. 29–30. 999  Eser/Baltacı/Arslan,

304

H. Grenzen der Rezeption

„westlichen“ Großmächte im Laufe des 18. Jahrhunderts gegenüber dem Osmanischen Reich errungen hatten, zeigte sich am deutlichsten und folgenreichsten auf den Schlachtfeldern, auf denen das einst zu den mächtigsten Staaten der Welt zählende Osmanische Reich zunehmend in die Defensive gedrängt wurde und teilweise schmerzhafte Niederlagen erlitt. Deshalb lagen die Schwerpunkte der Modernisierungs- und Reformbestrebungen im Osmanischen Reich vor allem im militärischen Bereich und breiteten sich von dort auf die übrige staatliche Bürokratie aus.1002 Zu Zeiten von besonders absolutistisch herrschenden Sultanen konzentrierten sich etwaige Reformbemühungen fast gänzlich auf den Sektor der Streitkräfte. Insbesondere Sultan Abdülhamid II. regierte das Land von 1876 bis 1908 über 30 Jahre lang mit eiserner Hand. Seine Herrschaftszeit war geprägt von einer rücksichtslosen Unterdrückung aller oppositionellen Bewegungen, einer strengen Zensur der Presse und einem Verbot von politisch „gefährlichen“ Büchern, insbesondere von solchen aus Westeuropa. Die Hohe Pforte versuchte zu dieser Zeit politische und kulturelle Einflüsse aus dem „Westen“ zu unterbinden. Aber für die ­Offiziere gab es Ausnahmen. Da die militärische Schwäche gegenüber West­ europa und Russland überwunden werden sollte, ließ der Sultan innerhalb der Armee Reformen und Modernisierungsbestrebungen nach „westlichem“ Vorbild zu. Offiziersanwärter absolvierten einen Teil ihrer Ausbildung im Ausland, lernten westeuropäischen Sprachen und hatten Zugang zur „westlichen“ Literatur.1003 Es liegt auf der Hand, dass Offiziere, die „westliche“ Werke über militärische Technik und Taktik lasen, irgendwann begannen, auch Rousseau, Montesquieu oder Kant zu lesen. Der exklusive Zugang zur „westlichen“ Sprache und Literatur führte zwangsläufig auch zu einer Beschäftigung mit den politischen Ideen, Theorien und Systemen des „Westens“. Daher wurden die militärischen Kreise und Eliten zu den Vorreitern und Antreibern der „Verwestlichung“ in der Türkei.1004 Seitdem sahen sich die türkischen Streitkräfte stets als Hüter und Wächter des republikanischen, laizistischen und nach „Westen“ strebenden, mithin kemalistischen Nationalstaates und nahmen sich das Recht heraus, sich in die Politik einmischen zu können, wenn sie das Erbe Mustafa Kemal Atatürks gefährdet sahen. Diese aus der türkischen Geschichte erwachsene Rolle führte auch innerhalb der türkischen Bevölkerung zu einer breiten Akzeptanz und Anerkennung für die besondere Stellung und den Einfluss der Streitkräfte in der türkischen Politik. Die Tatsache, dass die Konstituierung als Nation und die 1002  Eser/Baltacı/Arslan, Türk Siyasal Sisteminde 1960 Müdahalesi Üzerine Bir Analiz Denemesi (Ein Analyseversuch über die Intervention von 1960 im türkischen Politiksystem), S. 93; Toynbee, Die Welt und der Westen, S. 31. 1003  Toynbee, Die Welt und der Westen, S. 29–30. 1004  Jenkins, The Turkish Military, S. 18; Bolland/Pritsch, Die türkische Verfassung vom 20. April 1924, S. 250.



III. Das Militär als politischer Faktor305

Erlangung der Nationalstaatlichkeit durch und über die Streitkräfte erfolgte, insbesondere über das Offizierskorps, sodass die meisten Türken das Militär als die „Verkörperung der Nation“1005 schlechthin begriffen und weitgehend bis heute so begreifen, verstärkte diese Anerkennung noch zusätzlich. Die Rolle, die die türkischen Streitkräfte einnahmen, war nicht nur das Ergebnis einer Selbstzuschreibung, sondern auch einer Zuweisung von weiten Teilen der Bevölkerung, egal aus welcher Schicht sie stammen. Die Streitkräfte genossen und genießen bis heute beim Volk das größte Prestige und das größte Vertrauen unter allen staatlichen Institutionen.1006 Für einen Großteil der Bevölkerung war es selbstverständlich, dass die Streitkräfte das Land nicht nur gegen militärische Bedrohungen von außen schützen sollen. Vielmehr kann und muss aus ihrer Sicht das Militär auch eingreifen, wenn die staatliche Ordnung oder die kemalistische Staatsideologie von innen durch politische Krisen, korrupte oder unfähige Regierungen oder islamistischen Bewegungen gefährdet ist.1007 Gerade die historische Rolle der Streitkräfte als Antreiber und Verfechter der „Verwestlichung“ ist auch eine Erklärung für die Tatsache, dass es in der Türkei trotz mehreren Militärinterventionen seitens der Streitkräfte nie lange unmittelbare Militärherrschaften gab. Nach der Militärintervention vom 27. Mai 1960 übergab das Komitee für nationale Einheit durch die freien Parlamentswahlen am 15. Oktober 1961 die Macht nach nicht ganz 17 Monaten wieder in zivile Hände, freilich erst, nachdem die neue Verfassung ausgearbeitet wurde und am 20. Juli 1961 in Kraft trat. Ursprünglich sollten die Parlamentswahlen und die damit verbundene Rückgabe der Regierungsmacht an zivile Politiker bereits drei Monate nach der Militärintervention stattfinden. Dies ergibt sich aus den Äußerungen des Vorsitzenden des Komitees für nationale Einheit, General Cemal Gürsel. Noch am Abend des 27. Mai 1960 lud er eine Gruppe von Professoren zu sich ein und beauftragte diese mit der Ausarbeitung einer neuen Verfassung: „Wir vertrauen der [In­ stitution] Universität. Wir vertrauen ihr nicht nur, sondern glauben fest an sie. Der Grund, weswegen ich Sie eingeladen habe ist folgender: Erarbeiten Sie uns unverzüglich eine neue Verfassung. Ich bitte Sie ausdrücklich darum, dies in kürzester Zeit zu schaffen. Denn wir sind entschlossen, innerhalb von drei Monaten Wahlen abzustatten und die Macht an die zivile Administration zu übergeben.“1008 Die Ausarbeitung der neuen Verfassung dauerte jedoch deutlich länger, sodass sich die Übergabe der Regierungsgeschäfte an die 1005  Jenkins,

The Turkish Military, S. 17. The Turkish Military, S. 16. 1007  Jenkins, The Turkish Military, S. 9, 18. 1008  Zitiert aus Çavdar, Türkiye’nin Demokrasi Tarihi. 1950’den Günümüze (Die Demokratiegeschichte der Türkei. Von 1950 bis heute), S. 87. 1006  Jenkins,

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H. Grenzen der Rezeption

gewählte, zivile Politik verzögerte. Dennoch zeigt diese Unterredung, dass die Führung der Streitkräfte bereits am Tag des Sturzes der zivilen Regierung die Rückkehr zur parlamentarischen Demokratie plante. Auch in den nächsten Jahrzehnten ließen sich vergleichbare Verhaltensweisen und Abläufe beobachten. Am 12. März 1971 zwang das Militär durch ein Memorandum die islamisch-konservative Regierung der Gerechtigkeitspartei (AP) zum Rücktritt, ohne die Kontrolle über die Regierungsgeschäfte selbst zu übernehmen. Dem Putsch vom 12. September 1980 folgte ebenfalls die Ausarbeitung einer neuen Verfassung, die am 18. Oktober 1982 in Kraft trat. Am 6. November 1983 fanden nach etwas mehr als drei Jahren wieder die ersten freien Parlamentswahlen statt. Anders als beispielsweise die Staaten Südamerikas oder der iberischen Halbinsel, wo Spanien 26 Jahre lang (1939–1975) unter der Militärherrschaft von General Franco stand und Portugal über 40 Jahre (1933–1974) der Militärdiktatur Salazars ausgesetzt war, blieb die Republik Türkei von lange andauernden Militärdiktaturen verschont. Denn das türkische Militär sah, anders als die Streitkräfte in Europa, ihre traditionelle Aufgabe und Mission in der „Verwestlichung“ des Landes. Daher konnte sie nicht lange an der Macht bleiben, da der Zustand der Militärherrschaft gerade dem Ideal des „westlichen“ Staates widerspricht. Denn zum Wesen eines „westlichen“ Staates gehörte aus türkischer Sicht vor allem die Volkssouveränität im Sinne einer zivilen Regierung und die demokratische Legitimierung der staatlichen Akteure, insbesondere durch eine frei gewählte parlamentarische Volksvertretung. Die türkischen Streitkräfte sahen sich als Vorreiter der „Verwestlichung“ und als Wächter des Kemalismus, des nach „Verwestlichung“ strebenden, laizistischen Nationalstaates. Wenn sie die „Verwestlichung“ und den Laizismus (vor allem von religiös-konservativen Kreisen beziehungsweise Islamisten) oder die türkische Nationalstaatlichkeit (vor allem von kurdischen Autonomiebestrebungen oder vom kurdischen Separatismus) gefährdet sahen, dann mischten sie sich in die Politik ein. Zu ihren Mitteln gehörten Druck auf die Politik und andere verfassungsrechtliche Institutionen, öffentliche Warnungen und Memoranden und die unmittelbare Machtübernahme als schwerste Form der Einmischung. Hierbei darf nicht unterschlagen werden, dass die Zeiten direkter Militärherrschaft auch geprägt waren von politischer Unterdrückung und Pressezensur, die der Militärdiktatur 1980–1982 sogar von Folter und der Verhängung der Todesstrafe.1009 Jedoch übergaben die Militärs nach Ordnung und Neugestaltung der politischen und verfassungsrechtlichen Beziehungen in ihrem Sinne die konkrete Regierungsmacht wieder in zivile, durch freie Wahlen demokratisch legitimierte Hände. Zwar gab es innerhalb der Streitkräfte mitunter Gruppen, die 1009  Jenkins,

The Turkish Military, S. 20.



III. Das Militär als politischer Faktor307

für eine länger andauernde Militärherrschaft eintraten. Diese blieben aber in der klaren Minderheit und gelangten nicht in ausreichender Stärke in entscheidende Positionen zur Umsetzung ihrer Pläne. Nach der Militärintervention vom 27. Mai 1960 beispielsweise gab es innerhalb des Komitees für nationale Einheit Stimmen, die die Militärregierung nicht sofort nach der Ausarbeitung einer neuen Verfassung beenden, sondern auf unbestimmte Zeit beibehalten wollten, um selbst die für notwendig erachteten politischen, wirtschaftlichen und sozialen Reformen zu tätigen.1010 Cemal Gürsel als die Spitze des Komitees und die Mehrheit der Komiteemitglieder sperrten sich gegen diese Pläne und wussten auch die große Mehrheit des Offizierskorps auf ihrer Seite. Auf Anweisung von Cemal Gürsel entledigten sich die Streitkräfte der 14 Komiteemitglieder, die sich für eine längere Militärherrschaft einsetzten, indem man sie als Regierungsberater ins Ausland schickte.1011 Dies bedeutet, dass eventuelle Gefahren einer dauerhaften, unmittelbaren Militärdiktatur von den Streitkräften selbst gebannt wurden. Die türkischen Streitkräfte in ihrer Gesamtheit waren seit der Gründung der Republik 1923 nicht dazu geneigt, unmittelbare politische Herrschaft lange auszuüben und die Alltagspolitik des Landes aktiv zu bestimmen. Vielmehr sahen sie ihre Aufgabe darin, sicherzustellen, dass sich die Politik innerhalb der Parameter Laizismus, Nationalismus und „Verwestlichung“ abspielt und diese nicht verletzt, wobei die Streitkräfte selbst festlegten, was sie als Verletzung ansahen.1012 Der britische Türkei- und Islamwissenschaftler Gareth Jenkins beschreibt dies als „ein System, in dem die zivile Autorität vorrangig und eben nicht uneingeschränkt ist“1013. Die Funktion der Streitkräfte ist nicht die eines Herrschers, sondern die eines Wächters. Diese Wächterrolle sicherten sich die Streitkräfte durch die Verfassung von 1961 ab, die unter ihrer Aufsicht und Leitung entstanden ist. Durch deren Regelungen entzogen sie sich einer effektiven Kontrolle durch die zivilen Einrichtungen der Verfassung und richteten Institutionen ein, mit denen sie ihren Einfluss über die Politik sicherstellten. Mit diesem durch die eigene Geschichte begründenden Selbstverständnis des Militärs als Verfechter und Antreiber der „Verwestlichung“ lässt sich auch der bereits dargelegte1014 hohe Aufwand bei dem Versuch der Legitimierung der Militärintervention erklären. Da die Streitkräfte ihre Aufgabe 1010  Çavdar, Türkiye’nin Demokrasi Tarihi. 1950’den Günümüze (Die Demokratiegeschichte der Türkei. Von 1950 bis heute), S. 92. 1011  Çavdar, Türkiye’nin Demokrasi Tarihi. 1950’den Günümüze (Die Demokratiegeschichte der Türkei. Von 1950 bis heute), S. 94–95. 1012  Jenkins, The Turkish Military, S. 20, 33–35. 1013  Jenkins, The Turkish Military, S. 34. 1014  Siehe S. 65.

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H. Grenzen der Rezeption

und ihre Mission in der „Verwestlichung“, in der Errichtung eines „west­ lichen“ Staatswesens sahen, zu dessen Merkmalen eine durch demokratische Wahlen legitimierte zivile Regierung gehört, mussten sie den Sturz einer solchen Regierung und die Errichtung einer auch nur vorübergehenden Militärherrschaft besonders begründen und rechtfertigen. Hirsch hingegen sieht den besonderen Legitimierungsdruck im islamisch-religiösen Rechtsdenken, das die Idee von der normativen Kraft des Faktischen, wonach jede Revolution allein durch ihr Gelingen legitimiert ist, nicht gelten lasse und daher die militärische Führung zu einer ausdrücklichen und besonderen Legitimierung der Militärintervention zwinge: „Vielmehr kommt hier […] ein nationaler Charakterzug zum Ausdruck, der vielleicht als das Ergebnis der jahrtausendealten Tradition eines religiös verwurzelten Gesetzesdenkens anzusprechen ist. […] Nach der strengen Auffassung [des Islam] kann keine Verhaltensnorm als rechtlich bindend angesehen werden, wenn sie nicht unmittelbar aus dem geistlichen Bereich stammt […]. Jede revolutionäre Bewegung ist […] per se ein Verstoß gegen das Recht und eine gelungene Revolution nur dann nicht rechtswidrig, wenn sie als solche rechtlich legitimiert werden kann.“1015

Jedoch lässt sich dieser These Hirschs nicht zustimmen. Die Streitkräfte waren stets die Verfechter eines strikten antiklerikalen Laizismus. Die Religion sollte gerade in den Privatbereich der Menschen gedrängt werden und ihren Einfluss auf den staatlichen und öffentlich-gesellschaftlichen Bereich verlieren. Es finden sich in den Quellen keine Anhaltspunkte dafür, dass ein strenges Gesetzesdenken vorgeherrscht haben könnte, das die Militärführung zu einer besonderen Legitimierung gezwungen hätte. Zudem wurden die Militärintervention und auch die neue Verfassung gerade nicht religiös begründet. Nun könnte man vorbringen, dass die islamische Rechtstradition womöglich so tief verwurzelt ist, dass sie unbewusst im politischen Alltag und in den Köpfen der Politiker und Generäle eine Rolle spielte. Aber auch dies lässt sich nicht nachweisen. Ganz im Gegenteil wollten die Verfechter der „Verwestlichung“ gerade die Denkverbote und Denkschemata der Religion durchbrechen.1016 Daher ist nicht davon auszugehen, dass die türkischen Streitkräfte mit den ausführlichen Legitimierungsversuchen für die Militärintervention der islamischen Rechtstradition Tribut zollten, gegen die sie sich seit dem Ende des 19. Jahrhunderts wendeten. Vielmehr sind diese auf den Umstand zurückzuführen, dass eine unmittelbare Militärherrschaft grundsätzlich nicht mit dem Wesen eines „westlichen“ Staates zu vereinbaren ist. Es klingt paradox, aber die historisch gewachsene Rolle des Militärs als politischer Faktor ist nicht ein Ausdruck eines Mangels an „Verwestlichung“ 1015  Hirsch, 1016  Siehe

Verfassung der Türkischen Republik, S. 35. S. 54.



III. Das Militär als politischer Faktor309

und Modernisierung, sondern entstand aus dem Prozess der „Verwestlichung“ und Modernisierung heraus, entstand für sie und wegen dieser. Nichtsdestotrotz geht mit diesem Umstand natürlich ein Demokratiedefizit einher. Der Primat der Politik über die Streitkräfte ist nicht gewährleistet, im Gegenteil beeinflusst und kontrolliert das Militär die zivile, demokratisch legitimierte Politik. Die Verfassung von 1961 änderte diese Situation nicht, sondern verstärkte sie noch. Eine Rezeption „westlicher“ Regelungen und Lösungs­ ansätze für die Frage des Verhältnisses zwischen Militär und zivilen Politik­ akteuren hat nicht stattgefunden.

I. Zusammenfassung, Bewertung und Ausblick Die türkische Verfassung von 1961 ist zum Teil das Ergebnis einer Rezeption „westlicher“ Verfassungsrechte. Die Grundprinzipien und Grundausrichtung der türkischen Verfassung von 1924, für die wiederum die französische Verfassung von 1875 und die polnische Verfassung von 1921 als Vorbilder dienten, wurden beibehalten. Aber sowohl vom Umfang als auch von der Regelungsweite her ist die Verfassung von 1961 von einem neuen Charakter. Die Verfassung von 1924 war noch geprägt von den besonderen Bedingungen des Befreiungskrieges und hatte vornehmlich den Zweck, die rechtliche Grundlage für die umwälzenden und weitreichenden Reformen unter Mustafa Kemal Atatürk zu bilden.1017 Die Verfassung von 1961 hingegen sollte eine Antwort auf die autoritären Bestrebungen der islamisch-konservativen Vorgängerregierung sein, deren Sturz durch die Streitkräfte legitimieren sowie die neuen Verfassungsentwicklungen im „westlichen“ Ausland berücksichtigen. Daher wendeten die Verfassungsgeber bei der Ausarbeitung der Verfassung eine Arbeitsmethode der vergleichenden, zielgerichteten und selektiven Rezeption „westlicher“ Verfassungsrechte an. Aus den aktuellen und neuen Verfassungen der „westlichen“, grundsätzlich durch die Grenzen der NATO festgelegten Staatenwelt wurden Normen, Prinzipien und Institutionen übernommen, die man als gelungen und passend für die Türkei ansah. Zur Legitimation dieser Rezeption beriefen sich die Verfassungsgeber in erster Linie auf Mustafa Kemal Atatürk und die kemalistische Bewegung. Sie sahen sich als Erben Mustafa Kemal Atatürks und als Fortführer seiner Politik der „Verwestlichung“. Der Prozess der Modernisierung durch „Verwestlichung“ ist der unbedingte und absolute Kernpunkt kemalistischen Denkens, dem sich die Verfassungsgeber verpflichtet sahen. Zusätzlich zogen sie die Kontinuitätslinie noch weiter zurück bis zum Osmanischen Reich, beriefen sich damit auch auf die Reform- und Modernisierungsbewegungen des späten 18. und 19. Jahrhunderts und erweiterten so die historische Legitimationsbasis für die Rezeption. Untermauert wurde diese Argumentation durch eine Vorstellung vom „Westen“, zu der nach Ansicht der Verfassungsgeber auch die Türkei gehörte. Für die Verfassungsgeber handelte es sich bei der Rezeption „westlicher“ Verfassungsrechte also nicht um eine Übernahme von etwas per se Fremdem, sondern sie erschien als Fortführung des bereits vor Jahrhunderten eingeschlagenen Weges und als Anpassung an den aktuel1017  Abadan,

Die türkische Verfassung von 1961, S. 326.



I. Zusammenfassung, Bewertung und Ausblick311

len Stand der Verfassungsrechte des „westlichen“ Nationenkreises, zu der man sich selbst auch zählte. Die Übernahme von Normen, Prinzipien und Institutionen aus dem „Westen“ fand also ihre Rechtfertigung unter anderem in der Überzeugung von der Zugehörigkeit der Türkei zum „Westen“. In diesem Rahmen waren vor allem die italienische Verfassung von 1947/1948 und das deutsche Grundgesetz von 1949 die Hauptgegenstände der Rezeption für die türkische Verfassung von 1961. Die Gründe hierfür waren vielfach. Zunächst einmal gab es in der Türkei den Anspruch, eine moderne, d. h. aktuelle, neue und zeitgenössische Verfassung zu erarbeiten, die den Anforderungen der Zeit gerecht werden kann. Daher kamen als Rezeptionsgegenstände nur Verfassungen in Betracht, die im Zuge der Verfassungswelle nach 1945 entstanden sind. Des Weiteren war die politische Atmosphäre in der Türkei der frühen 1960er Jahre geprägt vom Kalten Krieg, der die im Land bereits bestehende antikommunistische Stimmung und Haltung verstärkte. Dies bewirkte, dass nur Verfassungen von verbündeten Staaten innerhalb der NATO als Vorbilder herangezogen werden konnten und Verfassungen der blockfreien Staaten oder gar der Staaten des Warschauer Paktes als untauglich für eine Rezeption eingestuft wurden. Zudem sollte die neue türkische Verfassung eine Antwort und Reaktion auf die autoritäre Vorgängerregierung sein. Es galt die Machtverhältnisse und die staatlichen Gewalten neu zu gestalten, um eine erneute Machtkonzentration und einen Machtmissbrauch zukünftig zu verhindern. Daher spielte die französische Verfassung von 1958 trotz ihrer Aktualität für die Verfassungsarbeiten in der Türkei keine entscheidende Rolle. Denn die französische Verfassung sah eine starke Exekutive in einem semi-präsidentiellen bzw. präsidialen System vor, in dem der Präsident die zentrale Machtposition innehat und nur sehr eingeschränkt einer Kontrolle unterworfen ist. Die italienische Verfassung und das deutsche Grundgesetz hingegen waren geprägt von Erfahrungen mit vorangegangenen Diktaturen und darauf ausgerichtet, ein erneutes Abgleiten in autoritäre oder gar totalitäre Verhältnisse zu verhindern. Jedoch begrenzten die Besonderheiten der türkischen Gesellschaft und Geschichte, insbesondere die islamische Prägung und entsprechende Tradi­ tionen des Landes sowie die historisch bedingte Machtposition und das sich hieraus ergebende Selbstverständnis der Streitkräfte, die Verfassungsgeber bei der Rezeption „westlicher“ Verfassungsrechte. Dies führte zu Regelungen und Normen in der Verfassung, die in „westlichen“ Verfassungen in dieser Weise nicht zu finden sind. Hierzu gehören in erster Linie die verfassungsrechtlichen Normen, die eine Einflussnahme der Streitkräfte auf die zivile Regierung ermöglichen und eine Autonomie der Streitkräfte für ihre inneren Angelegenheiten sicherstellen. Der Primat der Politik über das Militär wird nicht umfassend durchgesetzt. Zudem verlangte das spezifische türkische Verständnis von Nation einen strikten Zentralismus, weshalb es keine Rezep-

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I. Zusammenfassung, Bewertung und Ausblick

tion von Regelungen geben konnte, die im Zusammenhang mit Föderalismus oder Autonomie stehen. Die Herausforderungen, die sich im Hinblick auf den Islam ergaben, führten schließlich zu einem bewussten Verzicht auf die Gewährleistung der kollektiven Religionsfreiheit. Stattdessen wurde die staatliche Kontrolle der Gebetshäuser und der kollektiven Religionsausübung über das Präsidium für religiöse Angelegenheiten (türk.: „Diyanet Işleri Başkanlığı“) sichergestellt, das mit der Verfassung von 1961 zum ersten Mal mit Verfassungsrang ausgestattet worden ist. Diese Regelungen verstärkten in diesem Bereich den seit der Gründung der Republik unter Führung von Mustafa Kemal Atatürk bestehenden Status quo. Dies ging einher mit einem besonderen Laizismus-Verständnis, das anders als im „Westen“ mit der Trennung von Staat und Religion in erster Linie die Befreiung des Staates, des Rechts und der Wissenschaft von der Religion bezweckte. Innerhalb dieser Grenzen fanden im Wege der Rezeption „westlicher“ Verfassungsrechte Normen, Prinzipien und Institutionen Eingang in die türkische Verfassung von 1961, die die Türkei in den folgenden Jahrzehnten prägten. Die türkische Verfassung von 1961 musste sich hinsichtlich der Gewaltenteilung innerhalb der Staatsorganisation, der Kontrolle staatlicher Gewalt sowie der Gewährung und des Schutzes von Grundrechten (mit Ausnahme der kollektiven Religionsfreiheit) keinen Vergleich mit „westlichen“ Verfassungen scheuen, im Gegenteil war sie in bestimmten Bereichen wie den sozialen Grundrechten sogar eine der fortschrittlichsten Verfassungen ihrer Zeit. Der Teil der Verfassung betreffend die Staatsorganisation sah insbesondere vor, dass in einem parlamentarischen System die Türkische Große Nationalversammlung (TGNV) als Legislative die zentrale Position innehatte und den unmittelbaren Ausdruck der Volkssouveränität darstellte. Eine Machtkonzentration in den Händen eines Organs oder gar einer Person sollte hierbei aber unterbunden werden. Daher wurde ein Zwei-Kammer-System eingeführt, sodass die TGNV aus der Nationalversammlung und dem Senat bestand, die beide zusammen für den Erlass der Gesetze verantwortlich waren, deren Wahlperioden aber unterschiedlich getaktet waren. Die Regierung war vom Vertrauen der Nationalversammlung abhängig. Diese konnte die Regierung durch ein einfaches Misstrauensvotum jederzeit stürzen und hatte weitere Kontroll- und Überwachungsinstrumente gegenüber der Regierung. Die TGNV wählte aus ihrer Mitte den Staatspräsidenten, der kaum unmittelbare politische Macht, sondern vornehmlich repräsentative Funktionen hatte. Weder war die Regierung vom Vertrauen des Staatspräsidenten abhängig, noch hatte dieser ein absolutes Vetorecht gegen Gesetzesvorlagen des TGNV. Er konnte Vorlagen lediglich zur nochmaligen Beratung an das Parlament zurückschicken. Wenn die TGNV das Gesetz mit einfacher Mehrheit bestätigte, musste der Präsident dieses aber verkünden. Direktdemokratische Elemente waren in der Verfassung nicht vorgesehen. Die Verfassung enthielt einen



I. Zusammenfassung, Bewertung und Ausblick313

umfassenden Grundrechtekatalog, dem vornehmlich das deutsche Grundgesetz und die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte als Vorbilder dienten. Das in der Türkei erstmalig eingeführte Verfassungsgericht wachte über die Verfassungsmäßigkeit der Gesetze und staatlichen Handelns. Durch die Regelungen hinsichtlich der Zusammensetzung und Arbeitsweise des Verfassungsgerichts sollte dessen Unabhängigkeit gewährleistet werden. In der öffentlichen Beurteilung der türkischen Verfassung von 1961 in der heutigen Türkei spielen diese inhaltlichen Charakteristika jedoch keine entscheidende Rolle. Alleine die Tatsache, dass die Verfassung von 1961 unter einer Militärherrschaft nach einer Militärintervention gegen eine zivile Regierung entstanden ist, reicht aus, um sie in Teilen der türkischen Öffentlichkeit von heute zu diskreditieren. Dabei wird übersehen, dass Verfassungen sehr häufig nach Zeiten der politischen Instabilität, wie Krieg, Revolution oder Staatsstreichen entstehen und dass für die Frage, ob eine Verfassung eine funktionsfähige Grundlage für einen demokratischen Staat und für eine pluralistische Gesellschaft darstellen kann, in erster Linie deren Inhalt entscheidend ist und nicht unter wessen Regie diese Verfassung erarbeitet worden ist. Dies zeigt auch und gerade das deutsche Grundgesetz. Auch wenn die Voraussetzungen nach 1945 in Deutschland natürlich andere waren als nach 1960 in der Türkei, entstand im Ergebnis auch das deutsche Grundgesetz unter der Kontrolle von Militärs. Schließlich wurde das deutsche Grundgesetz auf Drängen der alliierten Westmächte in Angriff genommen. Maßgeblichen Einfluss auf die Entstehung des deutschen Grundgesetzes hatten in erster Linie die Negativerfahrungen mit der nationalsozialistischen Diktatur und die Mängel der Weimarer Reichsverfassung, aber eben auch „der sachlich-inhaltliche Druck der Alliierten“1018. Dabei machten die alliierten Westmächte Vorgaben sowohl hinsichtlich des Verfahrens der Ausarbeitung der Verfassung als auch hinsichtlich des Inhalts des Grundgesetzes. Während der Arbeiten des Parlamentarischen Rates am Grundgesetz kam es sogar zu Einmischungen seitens der Alliierten, die den Föderalismus noch mehr zur Geltung bringen wollten.1019 Aber es gibt heute in Deutschland weder in der Wissenschaft noch in der Politik nennenswerte Stimmen, die aus diesem Grund das deutsche Grundgesetz kritisieren oder gar in Frage stellen würden. In der Türkei hingegen stand die politische Rechte, die die religiösen und konservativen Teile des Landes repräsentiert, der Verfassung von 1961 schon alleine wegen ihrer Entstehungsgeschichte stets ablehnend gegenüber. Hierzu gehört insbesondere auch die heutige islamisch-konservative Regierung der AKP unter dem Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan, die sich als Erbe der DP-Regierung von Ministerpräsident Menderes sieht. In ihrem Geschichts1018  Unruh, 1019  Unruh,

Der Verfassungsbegriff des Grundgesetzes, S. 332. Der Verfassungsbegriff des Grundgesetzes, S. 329, 333.

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I. Zusammenfassung, Bewertung und Ausblick

bild und nach ihrem Demokratieverständnis ist der im Vorfeld der Verfassungserarbeitung gestürzte autoritäre Ministerpräsident Menderes ein Märtyrer und ein Held der Demokratie, die im Anschluss an seinen Sturz ausgearbeitete Verfassung daher nichts anderes als ein Ausdruck der Bevormundung (türk.: „vesayet“) des Volkes durch die Eliten und der Missachtung des vermeintlichen „Willens der Nation“ (türk.: „milli irade“). Dieses von der aktuellen Regierung propagierte Geschichtsbild prägt in den letzten Jahren immer mehr die türkische Öffentlichkeit. Selbst die säkularen, kemalistischen Kreise und Schichten in Politik, Medien und Wissenschaft können sich dieser Betrachtung nicht vollends entziehen aus Sorge, dem Vorwurf ausgesetzt zu werden, Anhänger und Verteidiger von Putschisten zu sein. Der Druck der jetzigen Regierung auf die Medien und die Wissenschaft ist enorm und lässt kritische Stellungnahmen kaum noch zu. Eine offene, von politischen Vorgaben und den Vorlieben der aktuellen politischen Führung unbeeinflusste Auseinandersetzung mit der Entstehung und dem Inhalt der Verfassung von 1961 kann daher aktuell kaum stattfinden. Dies ist umso bedauerlicher, da die Türkei gerade heute eine offene Diskussion über ihre gesellschaftlichen und politischen Grundlagen und damit auch ihre Verfassung dringend benötigt. Die Regelungen und Normen, aber auch Ideen und Diskussionen, die mit der Verfassung von 1961 verbunden waren, wären dafür ein ergiebiger Anknüpfungspunkt. Das aktuelle System unter der Verfassung von 1982 scheint keine zufriedenstellenden Antworten und Lösungen zu bieten, um die gesellschaftliche Spaltung zu überwinden und die inneren Spannungen abzubauen. Trotz des Umstandes, dass beide Verfassungen nach einer Militärintervention unter einer Militärherrschaft entstanden sind, hat die Verfassung von 1982 eine andere Zielrichtung und einen anderen Charakter als die von 1961.1020 Die Verfassung von 1982 stärkte, bedingt durch die Erfahrungen mit den bürgerkriegsähnlichen Zuständen Ende der 1970er Jahre, die Exekutive, d. h. sowohl den Ministerrat als auch den Staatspräsidenten1021, um dadurch die verloren geglaubte „staatliche Autorität“1022 wiederherzustellen. In diesem Rahmen wurde auch der Senat, der mit der Verfassung von 1961 als zweite Parlamentskammer und damit als Intra-Organ-Kontrolle gegenüber der Na­ tionalversammlung sowie als zusätzliche Inter-Organ-Kontrolle gegenüber der Regierung eingeführt wurde, abgeschafft.

1020  Rumpf,

Rezeption und Verfassungsordnung, S. 18. Açıklamalı Türk anayasaları. 1876, 1921, 1924, 1961, 1982 (Die türkischen Verfassungen mit Erläuterungen. 1876, 1921, 1924, 1961, 1982), S. 191; Gözler, Türk Anayasa hukuku (Türkisches Verfassungsrecht), S. 219. 1022  Gözler, Türk Anayasa hukuku (Türkisches Verfassungsrecht), S. 219. 1021  Gözübüyük,



I. Zusammenfassung, Bewertung und Ausblick315

Die Verfassung von 1982 gilt weithin als „autoritärer“ und „weniger freiheitlich“ als die Verfassung 1961.1023 Dies gilt trotz des Umstandes, dass sich die Struktur und zum Teil sogar der Wortlaut beider Verfassungen ähnlich sind.1024 So zeigt bereits der unmittelbare Vergleich beider Verfassungen, dass insbesondere das unter der Verfassung von 1961 neu gegründete Verfassungsgericht mit seinen Aufgaben und Funktionen unter der Verfassungsordnung von 1982 zunächst weitgehend erhalten geblieben ist. Der Einfluss der obersten Gerichte bei der Wahl der Verfassungsrichter nahm jedoch dahingehend ab, dass sie nicht mehr unmittelbar die Verfassungsrichter wählten, sondern Kandidaten bestimmten, aus deren Kreis der Staatspräsident die Verfassungsrichter auszuwählen hatte.1025 Auch die Grundrechtskataloge beider Verfassungen zeigen Parallelen hinsichtlich des Aufbaus, der Struktur und der Wortwahl auf. Allerdings ist die Verfassung von 1982 hinsichtlich der Schranken der Grundrechte deutlich ausführlicher und damit der Grundrechtsschutz im Ergebnis schwächer. Hierbei muss jedoch festgehalten werden, dass bereits unter der Verfassungsordnung von 1961 erste Einschränkungen des Grundrechtsschutzes durch die Verfassungsänderungen von 1971 vorgenommen wurden, insbesondere im Bereich der Pressefreiheit.1026 Durch den Übergang zum Präsidialsystem im Wege weitreichender Verfassungsänderungen im Jahre 2017 hat sich die aktuelle Verfassungsordnung noch weiter von der Verfassung von 1961 entfernt. Die nun mit dem Präsidialsystem einhergehende Ausrichtung des staatlichen Systems auf das Staatsoberhaupt steht im Widerspruch sowohl zum Ziel als auch zum Inhalt der Verfassung von 1961. Zum Abschluss sei darauf hingewiesen, dass die Entwicklung der türkischen Gesellschaft, der türkischen Politik und des türkischen Staates nicht nur für die Türkei von Bedeutung ist. Denn die Türkei ist die Brücke und die Verbindung zwischen Orient und Okzident, zwischen Islam und Christentum, zwischen Ost und West. Sie ist aber auch die Schnittstelle zwischen Nord und Süd, also zwischen den Industrienationen und den Entwicklungsländern. Denn mit den tiefgreifenden Reformen unter Mustafa Kemal Atatürk wurde auch der Grundstein dafür gelegt, dass es der Türkei im Laufe des 20. Jahrhunderts gelang, sich von einem agrarisch geprägten Entwicklungsland in die Liga der zwanzig größten Wirtschaftsnationen (G20) zu katapultieren. Daher ist das Verhältnis der Türkei zum Okzident, zum Christentum, zum Westen, 1023  Gözler, Türk Anayasa hukuku (Türkisches Verfassungsrecht), S. 219; Çavdar, Türkiye’nin Demokrasi Tarihi. 1950’den Günümüze (Die Demokratiegeschichte der Türkei. Von 1950 bis heute), S. 270. 1024  Rumpf, Rezeption und Verfassungsordnung, S. 18. 1025  Vgl. Art. 146 ff. der türkischen Verfassung von 1982. 1026  Rumpf, Das türkische Verfassungssystem, S. 77.

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I. Zusammenfassung, Bewertung und Ausblick

zum Norden auch von großer Bedeutung für das Verhältnis zwischen Orient und Okzident, zwischen Islam und Christentum, zwischen Ost und West, zwischen Nord und Süd. Diese Beziehungen der Türkei wiederum hängen maßgeblich von ihrer inneren Verfasstheit, also von ihrem Gesellschaftsmodell und von ihrem Staatsmodell, von ihrem Verständnis von Staat und Religion, von ihrem Selbstbild sowie von der Organisation und Regelung der Machtbeziehungen und Machtprozesse zwischen ihren politischen Akteuren und staatlichen Organen ab. Spiegelbild und Ausgangspunkt für all das ist auch und vor allem die Verfassung und das Verfassungsrecht. Nicht nur daher ist es ein großer Wunsch des Verfassers, dass die Türkei ihre innere Spaltung überwindet, auf den Weg der Demokratie und der Rechtsstaatlichkeit zurückfindet und an die Errungenschaften sowie an die Ziele der Verfassung von 1961 anknüpft.

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Quellenverzeichnis327 – Band 3: 48. Zusammenkunft, Seiten 420–443, 444–494, 497–499; – Band 4: 49. Zusammenkunft, Seiten 504–574; – Band 4: 50. Zusammenkunft, Seiten 2–64; – Band 4: 51. Zusammenkunft, Seiten 69–92; – Band 4: 52. Zusammenkunft, Seiten 94, 118–177; – Band 4: 53. Zusammenkunft, Seiten 181–257; – Band 4: 54. Zusammenkunft, Seiten 261–309, 311, 320–322; – Band 4: 55. Zusammenkunft, Seiten 329–352, 383; – Band 4: 56. Zusammenkunft, Seiten 389–444, 447–452; – Band 4: 57. Zusammenkunft, Seiten 457–472; – Band 4: 58. Zusammenkunft, Seiten 477–506, 532–533, 535; – Band 4: 59. Zusammenkunft, Seiten 539–602; – Band 4: 60. Zusammenkunft, Seiten 607–673, 677–679; – Band 5: 70. Zusammenkunft, Seiten 437–510. Türkische Verfassung von 1921: Gözübüyük, Şeref: Açıklamalı Türk anayasaları. 1876, 1921, 1924, 1961, 1982 (Die türkischen Verfassungen mit Erläuterungen. 1876, 1921, 1924, 1961, 1982), Ankara 1995, S. 44–46. In der Arbeit wiedergegebene deutsche Übersetzung: Bolland, Wilhelm/Pritsch, Erich: Die türkische Verfassung vom 20. April 1924, in: Mittwoch, Eugen (Hrsg.), Mitteilungen des Seminars für Orientalische Sprachen, Zweite Abteilung, Westasia-tische Studien, Jahrgang XXVI und XXVII, Berlin 1924, S. 175–178. Türkische Verfassung von 1924: Gözübüyük, Şeref: Açıklamalı Türk anayasaları. 1876, 1921, 1924, 1961, 1982 (Die türkischen Verfassungen mit Erläuterungen. 1876, 1921, 1924, 1961, 1982), Ankara 1995, S. 56–81.

In der Arbeit wiedergegebene deutsche Übersetzung (zum Teil geändert durch eigene Übersetzung/Interpretation des türkischen Normtextes): Bolland, Wilhelm/ Pritsch, Erich: Die türkische Verfassung vom 20. April 1924, in: Mittwoch, Eugen (Hrsg.), Mitteilungen des Seminars für Orientalische Sprachen, Zweite Abteilung, West­asiatische Studien, Jahrgang XXVI und XXVII, Berlin 1924, S. 137–163.

Türkische Verfassung von 1961: https://www.tbmm.gov.tr/anayasa/anayasa61.htm (zuletzt aufgerufen am 13.09.2011).

In der Arbeit wiedergegebene deutsche Übersetzung (zum Teil geändert durch eigene Übersetzung/Interpretation des türkischen Normtextes): www.verfassungen. eu/tr/verf61.htm (zuletzt aufgerufen am 06.05.2018) sowie Hirsch, Ernst Eduard: Die Verfassung der Türkischen Republik, Frankfurt am Main/Berlin 1966.

Türkische Verfassung von 1982: https://www.resmigazete.gov.tr/arsiv/17844.pdf (zuletzt aufgerufen am 19.04.2020). Verfassungsentwurf der Fakultät für Politische Wissenschaften der Universität Ankara: Ankara Üniversitesi Siyasi Bilgiler Fakültesi Yayınları (Veröffentlichungen der

328 Quellenverzeichnis Fakultät für Politische Wissenschaften der Universität Ankara): Siyasal Bilgiler Fakültesi, Idari Ilimler Enstitüsü’nün gerekçeli Anayasa tasarısı ve seçim sistemi hakkındaki görüşü (Verfassungsentwurf des Instituts für Verwaltungswissenschaften der Fakultät für Politische Wissenschaften mitsamt Begründung und Bemerkung bezüglich des Wahlsystems), Band 37. Verfassungsentwurf der Juristischen Fakultät der Universität Istanbul: Aybay, Rona: Karşılaştırmalı 1961 Anayasası. Metin Kitabı (Die Verfassung von 1961 im Vergleich. Textbuch), Istanbul 1963.

Sachwortverzeichnis Abgeordnetenversammlung  26, 47 ff. Aleviten  56 f., 276 Arbeitgeberverband  161 f., 178 Arbeitsfreiheit  172 f., 197 Arbeitslohn, Recht auf gerechten  177 f., 197 Arbeitsruhe, Recht auf  177 f., 197 Asylrecht  162 f. Ausländer, Stellung der  135 f. Autonomie  213, 263 ff., 298 ff., 311 f.

Generalstabschef  77, 236 f., 292, 294, 296 ff., 301 ff. Genossenschaftswesen  183, 197 Gesetzgebungsverfahren  75 f., 87 f., 91 ff., 97, 102, 114 Gesundheit, Recht auf  180 f., 197 Gewerkschaft  47, 49, 161 f., 178, 197, 282 f. Gleichheitsgrundsatz  133 ff., 195 Große Anfrage  88 ff., 106

Berichtigungsrecht  159 f. Bundesstaatlichkeit  266 ff.

Haushalt  75, 85, 94 ff., 103, 185

Christentum  230, 234, 238 f., 271 ff., 290, 315 f. Demokratische Partei (DP)  28 ff., 41 ff., 47 ff., 61 ff., 64, 66, 68, 201 f., 277, 282 f. Demonstrationsrecht  160 f., 195 Denkmal  182 f., 197 Dienst, öffentlicher  190 f., 200, 216, 288 Eigentumsfreiheit  165 ff., 197, 257 ff. –– Enteignung  166 f., 169 ff., 197 –– Verstaatlichung  166, 170 ff., 197 Entgegnungsrecht siehe Berichtigungsrecht Erbrecht  13, 165 ff., 259 Etatismus  51, 58 ff., 171 f. Expansion  18, 21 f., 216, 249 Familie, Schutz der  163 ff., 197 Föderalismus  263 ff., 312 f. Generaldebatte  88, 91, 96

Innenminister  109 f. Interpellation siehe Große Anfrage Islam  31 f., 55, 144, 214 f., 217, 238 f., 262, 271 ff., 315 f. Justizminister  109 f. Kassationshof  116 ff., 300 Kemalismus  51 ff., 68, 212, 221 f., 263, 306 Kleine Anfrage  88 Koalitionsfreiheit  60, 162, 178, 197 Komitee für nationale Einheit  46 ff., 292, 296 Kommunikationsfreiheit  141 f., 149, 196 Kunstfreiheit  146 f., 195 Kurden  57, 213, 232, 267 Laizismus  51, 54 f., 202, 204, 238 f., 252, 271 f., 281 ff. Landwirtschaft, Schutz der  183 f. Meinungsfreiheit  68, 144 ff., 166, 196 Militärdienst  191 f., 199

330 Sachwortverzeichnis Militärgericht  298 ff. Militärkassationshof  117 ff., 299 f. Millet-Partei  282 Ministerpräsident  74 f., 77 f., 81, 83, 88, 103 f., 106 f., 110 ff., 126, 236, 280, 292, 301 f. Ministerrat  69 f., 73 ff., 77 f., 81 ff., 88 ff., 93, 95 ff., 101 ff., 126, 132, 160, 184 f., 194, 294 f., 298, 303, 311 ff. Misstrauensvotum  74, 88 ff., 106 f., 312 Nationalismus  51, 54 ff., 214 ff., 255, 263 ff. Nationalversammlung (erste Kammer des Parlaments)  71, 73 ff., 81, 84 ff., 104 ff., 109 f., 116, 118, 120, 235, 264, 312, 314 –– Auflösung der Nationalversammlung  74 f., 81, 105, 109 –– Befugnisse und Kompetenzen der Nationalversammlung  71, 88 ff., 116, 118 –– Zusammensetzung der Nationalversammlung  85 f., 100 f. Niederlassungsfreiheit  142 f., 195 f. Parlament siehe Nationalversammlung und Senat Parlamentarische Prüfung  88 f. Parlamentarische Untersuchung  88 f. Partei, politische  27 ff., 48, 122, 153 f., 157 f., 160, 189 f., 199 f., 260, 274, 276 f., 282 f. –– Gründung und Betätigung  189 f., 199 f. –– Parteiverbot  189 f., 199 f., 260, 274, 276 f. Person, Unverletzlichkeit der  136 ff., 195 Petitionsrecht  192 f., 200 Populismus  51, 57 f. Präsident der Nationalversammlung  74, 78, 81 Präsident des Senats  74, 78, 81 Pressefreiheit  28, 33 ff., 94, 135, 145, 149 ff., 190, 195 f., 282, 315

Privatsphäre, Unverletzlichkeit der  138 f., 195  Rechnungshof  116 ff., 121   Rechtsverordnung  108, 113 Regierung siehe Ministerrat Regionalismus  125, 263 ff., 269 f. Reisefreiheit  142 f. Religionsfreiheit  144, 196, 274 ff. –– individuelle Religionsfreiheit  144, 275, 278, 284 f., 289 –– kollektive Religionsfreiheit  144, 277 ff., 281, 284 f., 289 ff. –– negative Religionsfreiheit  144, 275 f., 287, 289 –– Präsidium für religiöse Angelegenheiten (Diyanet)  280 f., 288 ff. Republikanisch-nationale Bauernpartei (CKMP)  48 f., 282 f. Republikanische Volkspartei (CHP)  27 ff., 48 ff., 59, 61, 64, 67 f., 185 Republikanismus  51, 53 f., 246 Revolutionismus  51, 60 f., 65, 68, 212, 244, 261, 291 Rezeption  11 ff., 16 ff. –– selektive Rezeption  19 f. –– Vollrezeption  19 f. Schulwesen  13, 181 f., 197 Senat (zweite Kammer des Parlaments)  71, 73 f., 84, 86 ff., 100 f., 104, 116, 118, 120, 264 f., 295 ff., 312, 314 –– Auflösung des Senats  74 f., 86 f. –– Befugnisse und Kompetenzen des Senats  71, 88 ff., 104, 116, 118  –– Zusammensetzung des Senats  86 f., 100 f., 295 ff. Sozialstaat  70, 150, 165 f., 172 ff., 180, 183 f., 255 ff. Staatsangehörigkeit  186 ff. Staatsdienst siehe Dienst, öffentlicher Staatspräsident  71 ff., 83, 87, 101, 117 ff., 121, 126, 292, 295 ff., 300, 302 f., 312, 314 f.

Sachwortverzeichnis331 –– Amtszeit des Staatspräsidenten  72 f., 79 f. –– Vetorecht des Staatspräsidenten  75 f., 82, 312 –– Wahl des Staatspräsidenten  72 f., 79 f. Staatsrat  108, 113, 116 f., 120 f. Steuerzahlung  192 Streikrecht  178 ff., 197 Tarifvertrag  178 ff., 197 Transfer  21 f., 229 Urlaub, Recht auf  177 f. Vereinigungsfreiheit  28, 60, 161 f., 196 Verfassungsänderung  64, 75, 96, 315 Verfassungsgericht  39 f., 67, 70, 76, 88 f., 96 ff., 113 ff., 132 f., 154, 189 f., 194, 203, 260, 265 f., 269 f., 274, 276 f., 313, 315 –– abstrakte Normenkontrolle  76 f., 119 ff., 125 –– Besetzung des Verfassungsgerichts  116 ff., 126 f. –– Entscheidungen des Verfassungsgerichts  120, 122 ff., 127 –– Individualverfassungsbeschwerde  120 f.

–– konkrete Normenkontrolle  119 ff., 123, 125 –– Staatsgerichtshof  88 f., 107, 121 f., 125 Verfassungskommission  26, 47 Verkehrsminister  109 Vermögenserklärung  191 Versammlungsrecht  68, 114, 135, 160 f., 195, 282 Verteidigungsminister  236, 301 f. Vertragsfreiheit  172, 197 Vertrauensvotum  103 ff., 109, 111 Verwestlichung  55, 205 ff., 211 f., 222 f., 224 ff., 237 ff., 242 Wahlrecht  13, 33, 42, 64, 85 ff., 188 f., 200, 216 –– aktives Wahlrecht  13, 85 f., 188 –– passives Wahlrecht  13, 85 ff., 188, 216 Westausrichtung  233 Westernisierung  229 ff., 251 Wissenschaftsfreiheit  146 f., 195 Wohnung, Unverletzlichkeit der  139 f., 166, 196 Zentralismus  31, 263 ff., 311 f.